Untitled - Sandro Bocola

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Untitled - Sandro Bocola
Familien Schär und Bocola
Unsere Familiengeschichte 1846-1947
in Bildern und Texten, herausgegeben von
Sandro Bocola und Heidy Lambelet-Bocola.
Mit Beiträgen von Johann Friedrich Schär,
Oskar Schär, Sandro Bocola, Hans Kissling, Heidy
Lambelet-Bocola, Theodor Brogle, Eugen Dietschi,
Henry Faucherre, Hans Handschin, Werner Kellerhals,
Ruedi Kunzmann, R. Munding, u.a..
Redaktion und Gestaltung von Sandro Bocola.
4
5
Inhaltsverzeichnis
6 Vorwort
8
138
Erste Jahre in Basel
140
Spiritistische Sitzungen um Willy Bocola 1939-1941
Familie Schär-Werren
142
Die Basler Grossfamilie 1939-1947
10
Ein geschichtlicher Überblick 1800-1870
154
Familienferien in Italien 1940-1943
12
J.F.Schärs Jugendzeit 1846-1862
156
Religionsunterrischt Sandro und Heidy 1940-1942
14
J.F.Schär als Dorfschulmeister in Wattenwil 1865-1868
158
Kinderheim Mümliswil 1940-1941
18
J.F.Schär Hauptlehrer am Lehrerseminar Münchenbuchsee 1868-1870
160
Sandro Bocolas Lesewut und ihre Folgen 1940-1941
20
J.F.Schär als Sekundarlehrer in Bischofszell 1874-1880
162
Sandro Bocolas Gymnasialzeit 1941-1947
22
J.F.Schär als Handelslehrer in Basel 1882-1903
164
Sandro Bocolas Selbstfindung 1944 -1946
32
J.F.Schär als Genossenschafter 1882-1903
168
Sandro Bocolas Ausweisung aus dem Gymnasium 1947
42
J.F.Schär als Sozialreformer 1882-1919
170
Heidy Bocola und die Grossfamilie 1940-1947
44
J.F.Schär als Professor an der Universität Zürich 1903-1906
174
Tod von Oskar Schär 1947
46
J.F.Schär als Wissenschafter 1903-1919
176
Epilog
50
J.F.Schär als Professor an der Handelshochschule Berlin 1906-1919
56
J.F.Schärs letzte Jahre in Basel Freidorf 1919-1924
180
Anhang
181
Transkriptionen
60
Familie Schär-Haller
203
Bibliographie
62
Oskar Schär - Strafrecht und politische Tätigkeit 1868-1909
205
Bildrechte
65
Oskar Schär als Genossenschafter und Politiker 1909-1945
206
Chronologie
72
Oskar Schär in der St.Jakobs Loge des Odd Fellow Bundes
208
Register
74
Oskar Schär an der Basler Fasnacht
209
Herausgeber und Mitarbeiter
76
Oskar Schär als Pater Familias 1910-1947
84
Familie Bocola-Schär
86
Das junge Paar bis zur Geburt von Sandro Bocola 1929-1931
96
Die italienische Familie und die italienischen Grosseltern
100
Geburt und frühe Kindheit von Sandro Bocola 1931-1935
106
Willy Bocola als Pilot
110
Geburt von Heidy Bocola 1935
112
Grossfamilie Schär-Bocola 1935-1936
118
Umzug nach Libyen und Tod von Willy Bocola 1936
130
Letzte Jahre in Libyen, Umzug nach Basel 1936-1939
6
Vorwort
Vorwort
Zwei Jahre nach dem Tod unseres Vaters kehrte unsere Mutter mit uns nach
Basel, ins Haus ihrer Eltern zurück. Ich, Sandro, war damals siebenjährig und
wuchs, zusammen mit meiner um vier Jahre jüngeren Schwester Heidy, im Haus
unserer Grosseltern auf, wo wir täglich, bei jedem Essen, dem grossen, eindrücklichen Bildnis eines alten Mannes gegenübersassen, der mit seinem langen, spitz
zulaufenden, weissen Bart wie ein zeitgenössischer Moses wirkte. Dies war unser Urgrossvater, der von allen verehrte Johann Friedrich Schär, dessen bedeutende Leistungen, vor allem sein Aufstieg vom „Sennebueb“ zum Rektor der
Handelsuniversität Berlin, immer wieder erzählt und uns als leuchtendes Vorbild
vor Augen geführt wurden. Weit interessanter fand ich die abenteurlichen Geschichten aus dem Leben seines Sohnes Arnold, der zum Teil als Tramper grosse
Teile Amerikas bereist, die unterschiedlichsten Berufe ausgeübt, Unternehmen
gegründet und schliesslich eine grosse Farm betrieben hatte, in der wilde Pferde
eingeritten und gezähmt wurden. Vom Grossvater selbst, bei dem wir wohnten,
wurde kaum je etwas erzählt; wir wussten zwar, dass er Präsident des VSK (Verband Schweizerischer Konsumvereine, der 1969 in Coop Schweiz umbenannt
wurde) und auch sonst in vielen Ämtern tätig war, doch interessierten wir uns
damals nicht sonderlich dafür. Ich selbst habe mich auch später kaum je mit der
Geschichte meiner illustren Vorfahren beschäftigt.
Dies begann sich erst zu ändern, als meine Schwester vor einigen Jahren alte
Aktenschränke unseres Grossvaters, die im Estrich des Familienhauses standen,
durchsah, die vielen Dokumente, Briefe und Fotografien, die sich darin befanden,
sortierte und mich dazu einlud, ihre Funde anzusehen und mit ihr zu entscheiden, was damit geschehen solle. In welcher Weise könnte man diese Zeugnisse
unserer Familiengeschichte (darunter auch viele Briefe und Fotografien der Familie Bocola-Schär) für unsere direkten Nachkommen und Enkel aufbewahren
und zugänglich machen? Nach Erörterung anderer Möglichkeiten sahen wir die
Lösung in einem Text-Buch, das man in kleiner Zahl vervielfältigen und allen
Interessierten abgeben konnte. Doch wurde uns bald klar, dass sich unsere Enkel
und Enkelinnen auch in dieser Form kaum durch all dieses schriftliche Material
durcharbeiten würden, ohne dass wir ihnen dazu einen zusätzlichen, visuellen
Anreiz bieten würden. So entschieden wir uns, nach dem Modell des Suhrkamp
Bandes Sigmund Freud – Sein Leben in Bildern und Texten die Berichte und
Darstellungen unserer Familiengeschichte, die Auszüge aus Briefen, Texten, Artikeln und Büchern wo immer möglich mit entsprechenden Abbildungen zu verbinden, um das Interesse und die Neugierde der jungen Leser zu wecken. Diese
mosaikartige Zusammenstellung von kurzen Texten und Bildern sollte von Zeit
zu Zeit durch etwas längere, den grossen Zusammenhang herstellende Texte unterbrochen werden.
Damit begann für uns beide die Durchsicht des umfangreichen Materials,
das uns in zunehmendem Mass gefangen nahm. Wir begannen, in Archiven, Bibliotheken und im Internet zu recherchieren und lernten dabei die Geschichte
der damaligen sozialen Entwicklung und der schweizerischen Genossenschaftsbewegung kennen, in der die beiden Schärs eine wegweisende Rolle gespielt
hatten, was uns bewog, auch diese in unseren Band aufzunehmen.
7
Dessen erster Teil behandelt die Person und das Werk von Johann Friedrich
Schär, umfasst die Zeit von 1846-1919 und stützt sich zwangsläufig auf bestehende Dokumente. Es handelt sich dabei vor allem um Auszüge aus Texten von
Johann Friedrich Schär, Oskar Schär, Henry Faucherre, Theodor Brogle, Robert
Flatt, Hans Handschin, R. Munding, Ruedi Kunzmann, Werner Kellerhals, Hans
Berner u.a., die in Büchern, Broschüren und Zeitungen erschienen sind und die
wir zum Teil zusammengefasst und gekürzt wiedergegeben haben.
Der zweite Teil gilt der Person und der Familie unseres Grossvaters, Oskar
Schär, also einer Zeit, die wir zum Teil selbst miterlebt haben und von der wir
auch persönliche Erinnerungen berichten konnten.
Dieser Teil überschneidet sich mit dem dritten, der mit dem Auftritt unseres
Vaters, Willy Bocola, beginnt, die Geschichte der Familie Bocola-Schär verfolgt
und 1947 mit dem Tod unseres Grossvaters Oskar Schär endet. Es ist klar, dass
dieses letzte Kapitel zum grossen Teil unsere eigenen Erinnerungen wiedergibt,
und damit nicht nur vom Leben unserer Vorfahren, sondern auch von unseren
frühen Kinder- und Jugendjahren erzählt.
Im Anhang finden sich Transkriptionen einschlägiger Texte, Bibliographie,
Angaben zu den Quellen und Reproduktionsrechten der verwendeten Abbildungen, Chronologie, Register und Angaben über die Herausgeber und Mitarbeiter.
Im Text sind die Hinweise auf Transkriptionen mit T1, T2, T3 etc. nummeriert, die Quellen zitierter Texte mit Autor und Jahr angegeben.
Sandro Bocola und Heidy Lambelet - Bocola
Dezember 2009
Dank
Bei der Ausarbeitung unserer Familiengeschichte konnten wir auf die Hilfe
vieler Freunde, Bekannte und Mitarbeiter zählen. Justo Barragan übernahm das
Scannen unseres Fotomaterials; Susanne Schnurrenberger erstellte die digitalen
Abschriften der verwendeten Texte und übernahm das Lektorat; Mike Gosteli unternahm ausgedehnte Recherchen, Ruedi Brändle, Sabine Brändle, Oscar
Burlet, Werner Gallusser, Gerhard Gasser und Stefan Scherrer, Leiter des Coop
Zentralarchivs, vermittelten wertvolle Informationen, Dokumente, Fotografien
oder Kontakte; Augusto Mozetti übernahm den Druck. Ihnen allen sei herzlich
gedankt.
Ein besonderer Dank gilt Marcos Davi Carvalho dos Santos, der während
Wochen mit unermüdlichem Eifer und seiner grossen digitalen Kompetenz Sandro Bocola bei der Gestaltung des Buches als Assistent zur Seite stand.
Und last but not least danken wir dem Buchverlag Coop Schweiz, dem DRW
Verlag, Leinfelden-Echterlingen, dem H.Gietl Verlag, Regentauf, und der Tamedia AG (Das Magazin), für die Erlaubnis, Textpassagen und Abbildungen aus
ihren Publikationen zu zitieren und zu übernehmen.
8
9
Familie Schär-Werren
1. Johann Friedrich Schär im
Kreis seiner Familie, um
1906.
Von hinten nach vorne, links
nach rechts: unbekannte Frau,
Fritz junior, Oskar Schär, unser
Grossvater, seine Brüder Fritz
und Erwin, Oskars Tochter
Lisy. Sitzend: Anna SchärHaller, unsere Grossmutter,
unbekannte
Frau, evtl. die zweite
Ehefrau Johann Friedrichs,
Johann Friedrich Schär, unser
Urgrossvater und seine Tochter
Alwine. Erste Reihe, stehend:
unbekannte Frau, am Boden
sitzend: Wahrscheinlich zwei
Söhne der zweiten Ehefrau
Johann
Friedrichs, unsere Mutter
Marty und Hanny.
10
Ein geschichtlicher
Überblick
Ein geschichtlicher Überblick
Bevor wir diese Familiengeschichte mit dem Leben unseres Urgrossvaters,
Johann Friedrich Schär, beginnen, wollen wir in einem kurzen Überblick das
sozialgeschichtliche Umfeld skizzieren, das seine Laufbahn als Lehrer, Genossenschaftler, Wissenschaftler und Reformator bestimmte.
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts lebte der überwiegende Teil der schweizerischen Bevölkerung in Dörfern und vereinzelten Gehöften. Um 1850, zur
Zeit von Schärs Geburt in Ursellen, Emmental, gab es in der Schweiz nur acht
städtische Gemeinden mit mehr als 10’000 Einwohnern, die zusammen etwa
6,5 Prozent der damaligen Gesamtbevölkerung ausmachten. Die meisten Einwohner lebten von der Landwirtschaft und ernährten sich weitgehend von den
eigenen wenigen Produkten. Die geringen Erträge und die wenigen Überschüsse
verkaufte man über den traditionellen Handel auf Wochenmärkten oder an den
Frühjahrs- und Herbstmessen. Ladenlokale gab es nur in den grösseren Städten,
und die herumziehenden Wanderhändler genossen einen wenig vertrauenswürdigen Ruf. Der grösste Teil der Einwohner hatte kaum Geld, betrieb Tauschhandel, liess häufig anschreiben und verschuldete sich in aussergewöhnlichen
Lebenssituationen für Jahre. (Kellerhals, 1990, S.15 ff)
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts veränderte der wissenschaftlichtechnische Fortschritt innert weniger Jahrzehnte die gesellschaftlichen Strukturen. Während die bisherige Warenproduktion auf menschliche oder tierische
Arbeitskraft angewiesen war, wurde die industrielle Produktion durch Dampf
oder Elektrizität angetrieben. Die neuen Energiequellen führten zu einer weitreichenden Veränderung der Arbeitsweise. Der Wechsel von der heimischen Handarbeit zur fabrikorganisierten Produktion verlangte nach Arbeitern, welche nun
nicht mehr im eigenen Betrieb landwirtschaftlich tätig waren, sondern weg von
zu Hause arbeiten mussten. Die dadurch geänderten Familienstrukturen erlaubten nicht mehr, dass die kleinen Bauernbetriebe überdauerten. Eine Verarmung
der Bevölkerung und die Entstehung eines Fabrikproletariats waren die negative
Folge, Kinderarbeit eine häufige Notwendigkeit zum Überleben der Sippe. Die
Arbeiterschaft selber lebte in unwürdigen Wohnverhältnissen und unter traurigen Arbeitsbedingungen, ohne jeglichen Tarif- oder Kündigungsschutz.
Eingekauft wurde bei Krämern, deren Produkte häufig minderwertig waren.
Man warf ihnen Schwindelgeschäfte vor. Es häuften sich die Klagen, dass nicht
ordentlich abgewogen, Mehl mit Gips, gemahlener Kaffee mit feinem Sand vermischt und Milch mit Wasser gestreckt würde.
Viele Produkte waren nur gerade für die Oberschicht der Bevölkerung erschwinglich, verteuert durch lange Handelswege, Zollschranken und Monopole,
welche sich die Gewerbetreibenden und Kaufleute gesichert hielten. (Kunzmann,
2005, S. 8)
Modern denkende Bürger unternahmen erste Schritte zu einer gerechteren
Gesellschaft. Schon 1838 hatten Appenzeller und Glarner in der Stadt Genf den
“Grütliverein” gegründet, in welchem man heftig politisierte und der später
schweizweit imitiert wurde. Er stellt einen ersten Versuch einer nationalen Ar-
1800 - 1870
beiterbewegung dar. Die Schaffung von Ersparniskassen und Versicherungen,
Gesellschaften zur Beschaffung verbilligter Brennmaterialien, Volksküchen und
die neuen Fruchtvereine zur verbesserten Beschaffung von Getreide und Mehl,
stellten die ersten wirtschaftlichen Schritte der allgemeinen sozialen Umwälzungen dar. Aus diesen Fruchtvereinen, gemeinsame Einkaufsvereinigungen, die
man als eigentliche konsumgenossenschaftliche Vorboten bezeichnen kann, sind
später auch etliche Konsumvereine entstanden. (Kunzmann, 2005, S. 9)
Schärs berufliche Anfänge wurden nicht nur durch dieses erste genossenschaftliche Gedankengut, sondern vor allem auch durch die damaligen Reformen der Volksschulbildung bestimmt. In seinen Lebenserinnerungen beschreibt
Schär die Auswirkungen der politischen Entwicklung, die mit der Schaffung der
neuen Bundesverfassung 1848 den bisherigen Staatenbund in einen Bundesstaat,
wie er heute noch besteht, umwandelte: „Das Volk erwachte, eroberte sich die
Rechte seiner Souveränität. In den meisten Kantonen, so auch im Kanton Bern,
siegte der Freisinn. Der freisinnige grosse Rat wählte eine fortschrittliche Regierung, die mit Feuereifer an die Umgestaltung der Verfassung und damit auch
an einen neuen Aufbau aller staatlichen Institutionen, vor allem an die gründliche Reform der Volksschulbildung, ging. Das staatliche Lehrerseminar wurde
gegründet, die bisherigen Lehrer mussten sich einer Patentprüfung unterziehen;
wer sie nicht bestand, musste den Schuldienst verlassen. Der Staat unterstützte
die Gemeinden bei der Einführung der allgemeinen unentgeltlichen obligatorischen Volksschule durch Subvention beim Bau von Schulhäusern, durch Staatsbeiträge an die Lehrergehälter. Die Herrschaft der Geistlichen über die Schule
und ihrer Lehrer wurde gebrochen; jede Schulgemeinde konnte eine Schulkommission frei aus der Zahl ihrer Mitglieder wählen. Das neugegründete Lehrerseminar pflanzte einen neuen Geist in die jungen Lehrer, die sich erfolgreich
dagegen wehrten, weiter Diener der Kirche, bwz. der Geistlichen, und quasi nur
im Nebenamt Lehrer zu sein. (J.F.Schär, 1924, S.183).
Diese Reformen bildeten die Voraussetzung für Schärs Ausbildung als Lehrer
und seine pädagogische und wissenschaftliche Laufbahn, die um die Jahrhundertwende mit seiner Berufung als ordentlicher Professor an die Universität Zürich, nachher an die Handelshochschule in Berlin, ihren Höhepunkt erreichte.
11
2. Bauernhaus aus dem
Appenzell
Es war ein grosses Glück für
den jungen Johann Friedrich
Schär, dass er die Sekundarschule von Zollbrück besuchen
und nachher in das Lehrerseminar Münchenbuchsee
eintreten durfte.
(Zum 70. Geburtstag von
J.F.Schär, Autor unbekannt)
3. Lehrerpatent von
J.F.Schär, vom 21.3.1846
J.F.Schär, 1924: Die meisten
meiner zahlreichen Vettern
und weiteren Nachkommen
der Geschwister meines Vaters
übten und üben noch heute den
Käserberuf aus, viele in der
Schweiz, andere in Russland,
in Frankreich, in Amerika usw..
Überhaupt bin ich der einzige
Nachkomme meines Grossvaters, der aus der Art geschlagen
hat und nicht Käser, sondern
Schulmeister geworden ist.
Daher galt ich auch in meiner
Jugend bei meinen Verwandten
als “a grüseli gschide Bueb”.
12
J.F.Schärs Jugendzeit
1846 - 1862
13
Aus J.F.Schärs Lebenserinnerungen: Der Name Schär ist eine Abkürzung
von Scherer, der den Beruf eines Feldscherers andeutet. Da man jedoch in meiner Heimat bis in das 19. Jahrhundert selbst die gebildeten Aerzte allgemein
Scherer oder Schär benannte, so muss man sich unter diesem Namen einen Beruf vorstellen, der sich neben dem Bartscheren nicht nur mit dem Heilen von
Menschen und Vieh abgab, sondern auch Chirurg war, der Medikamente, Salben
und Heilmittel selber zubereitete. In der Tat ist mein Urgrosssvater ein derartiger Heilkünstler gewesen; er hat neben dieser seiner Kunst auch noch ander
Dinge gekonnt, wie z.B. die bösen Geister bannen. (J.F.Schär, 1924, S 15)
4. Johann Friedrich Schär,
Lebenserinnerungen, 1924,
VSK, Basel
Nebst vielen anderen Zeugnissen bilden die Lebenserinnerungen, die Johann Friedrich
Schärs kurz vor seinem Tod
verfasste, eine der wichtigsten
literarischen Quellen unserer
Darstellung.
Diese Aufzeichnungen, die
leider mit seiner Bieler Zeit,
1880-82, enden, schildern
seine frühe Jugend und seinen
Weg als Lehrer und geben mit
grösster Vollständigkeit den
beeindruckenden Umfang seiner ausseramtlichen Tätigkeiten im Dienst der Allgemeinheit wieder.
Alle seine autobiographischen
Aufzeichnungen (siehe auch
Genossenschaftliche Reden
und Schriften), vermitteln
nebst vielen lebendigen und
interessanten Darstellungen
auch den Eindruck eines
überhöhten und überbordenden
Selbstbewusstseins. Insbesondere in seiner Rolle als
Sozialreformer entpuppt sich
Johann Friedrich Schär als eine
messianische Persönlichkeit
im Sinn Kohuts, die sich mit
ihren Idealen gleichsetzt, mit
ihnen verschmilzt und damit
die nötige Distanz verliert, um
diese einer kritischen Prüfung
zu unterziehen.
Die Herausgeber
Entscheidend für mein ganzes Leben war der Entschluss, den ich schon im
elften Lebensjahr gefasst habe, der nämlich, mich dem Lehrerstand zu widmen.
Diese Wahl meines Lebensberufes scheint umso auffälliger, als er in so jungen
Jahren gefasst worden ist, wo man sich sonst keine Rechenschaft über das Kommende zu geben vermag, insbesondere auch keine Berechnungen anstellt über
die Chancen, die ein Beruf gewährt. Viel erklärlicher wäre es, wenn ich wie fast
alle meine männlichen Verwandten den Beruf meines Vaters, den eines Käsers,
oder den meines Grossvaters, eines «Schärers» (Arztes) gewählt hätte.
Gleichwohl liegen die Gründe auch für diese meine Berufswahl klar zu Tage.
Es sind die Einflüsse meiner Mutter, von der ich die geistigen Gaben, die Lust
und Liebe zum Lernen, die Freude an geistiger Arbeit im Gegensatz zur körperlichen geerbt habe. Von da an war meiner ganzen Jugend die feste Richtung
gegeben. All mein Sinnen und Denken war auf das eine Ziel gerichtet, mich auf
den Eintritt ins Lehrerseminar vorzubereiten, um nachher den Lehrerberuf auszuüben. Darum habe ich die Erlaubnis erbeten, in Landiswil bei meinem Lehrer
Privatstunden zu nehmen. Ich habe es auch trotz aller Hindernisse durchzusetzen gewusst, dass ich die Sekundarschule besuchen konnte; der beschwerliche
Schulweg von anderthalb Stunden, den ich auch im Winter bei tiefem Schnee,
wie im heissen Sommer zweimal täglich zurücklegen musste, war mir nicht zu
viel; wusste ich doch, dass der Besuch der Sekundarschule mich meinem Ziele
näherbrachte. (J.F.Schär, 1924, S. 316/317)
In beruflicher Beziehung war meine Mutter eine gewandte und kluge Geschäftsfrau, konnte sehr gut schreiben und rechnen, so dass sie meinen Vater, der
darin weniger bewandert war, in allen geschäftlichen Angelegenheiten erfolgreich unterstützen konnte. Sie schrieb nicht nur alle Geschäfts- und Familienbriefe, sondern führte auch die Milchlieferungskontrolle und fertigte die Gesellschafts- und Verteilungsrechnung der Käsereigenossenschaft. Schon frühzeitig
führte sie mich in alle ihre Künste ein, so dass ich insbesondere während der
langen Zeit ihrer Krankheit, schon von meinem 12. Lebensjahre an, selbständig
die Geschäfts- und Familienbriefe schreiben musste. (J.F.Schär, 1924, S.29)
Sie starb nach langem Krankenlager von dem aus sie noch immer den Haushalt und die geschäftlichen Angelegenheiten dirigierte, an einem unheilbaren
Gebärmutterleiden im Jahre 1871, leider viel zu früh für meine Geschwister, für
mich, besonders für meinen Vater. (J.F.Schär, 1924, S.34)
5. Johann Friedrich Schär
Mein Lebenswerk, Typoscript,
1924a
Schärs Lebenserinnerungen
werden unter dem Titel Mein
Lebenswerk durch ein ebenfalls in hohem Alter erstelltes
Verzeichnis seiner Arbeiten ergänzt, das jede seiner öffentlichen Äusserungen festhält und
alle seine Ämter, Anstellungen,
Bücher, Artikel, Vorträge und
Briefe chronologisch aufführt.
Obwohl die eingestreuten,
biographischen Selbstdarstellungen oft in die Verherrlichung der eigenen Person und
der eigenen Motive verfallen,
dokumentieren sie ein beeindruckendes Lebenswerk. Sie
sind anregend und lesenswert,
wie wir mit zahlreichen und
umfangreichen Zitaten deutlich
zu machen hoffen.
Die Herausgeber
J.F.Schär: Ich bin ein Freigeist.
Das Studium der Religionsgeschichte, der Philosophie und
der Naturwissenschaften haben
mich von den Fesseln des
Kirchenglaubens und von der
Beschränktheit der Auffassung
des Verhältnisses zwischen
Gott und Mensch befreit.
Aber trotzdem ist mir wahre
Frömmigkeit und Gottvertrauen geblieben, und ich finde in
schweren Stunden immer wieder den Weg zu meinem Gott
- jeder Mensch hat doch seinen
eigenen Gott. Auch diese
Eigenschaft ist ein Erbteil, ein
Produkt meiner Erziehung.
Vater und Mutter waren fromm,
trotzdem sie nur höchst selten
in die Kirche gingen; (...) Aber
im elterlichen Hause herrschte
eine stille Frömmigkeit.
(J.F.Schär, 1924, S 22)
6. Schär um 1820, zur Zeit,
als er seine „Lebenserinnerungen“ niederschrieb.
14
7. Johann Friedrich Schär
1865
Vor der Uberreichung des
Lehrerpatents: Meine Eltern
brachten mir dafür ein neues,
schwarzes Kleid nach städtischem Schnitt, in dem ich
aussah wie ein Pfarrvikar. Auf
diese Ausstattung war ich nicht
wenig stolz.
(J.F.Schär, 1924, S.153)
J.F.Schär als Dorfschulmeister in Wattenwil
Aus einem Artikel zum 70. Geburtstag von J.F.Schär, Autor unbekannt:
Johann Friedrich Schär wurde geboren am 21. März 1846. Sein Vater war
damals Käser der Käsereigenossenschaft Goldbach im Emmenthal. Der Knabe
wurde früh zu straffer Arbeit angehalten; so musste er regelmässig, schon im
vorschulpflichtigen Alter, alle Morgen zwischen 5 und 6 Uhr das Butterfass drehen helfen und vom weit entfernten Brunnen für die Käserei das Wasser holen.
Es war ein grosses Glück für den aufgeweckten Jungen, dass er die Sekundarschule von Zollbrück besuchen und nachher in das Lehrerseminar Münchenbuchsee eintreten durfte.
Mit 19 Jahren wurde Schär auf die besondere Empfehlung von Seminardirektor Rüegg zum Lehrer an der gemeinsamen Oberschule in Wattenwil bei
Thun gewählt. Es ist unglaublich, was der junge Oberlehrer während der 3 1/2
jährigen Wirksamkeit in diesem Dorfe geleistet hat. Wie sein Vorbild «Oswald»
in Zschokkes «Goldmacherdorf» wollte er seiner Gemeinde ein Reformator
werden. Seine Schüler wusste er derart zu fesseln, dass sie noch jetzt als alte
Leute mit Begeisterung von Schär erzählen. Erstaunlich ist, was der junge Mann
ausser der Schulzeit geleistet hat. Er gründete und leitete einen Gesangverein
und einen Turnverein und holte mit beiden an den oberländischen Bezirksfesten erste Lorbeerkränze. Im Winter bildeten die beiden Vereine zusammen ein
Liebhaber Theater, und von weit her strömte das Volk zu den vaterländischen
Schauspielen in Wattenwil.
Um seine Gemeinde wirtschaftlich fördern zu können, gründete er einen gemeinnützigen Verein und veranstaltete darin regelmässige Vorträge und Kurse
über Agrikulturchemie, Obstbaumzucht, Strassen- und Verkehrswesen, Forstwirtschaft, Armenwesen, Gürbetalentsumpfung, Bekämpfung der Schnapsseuche etc. Um dem Schnapsgenuss auf den Leib zur rücken, gründete er eine
genossenschaftliche Mosterei, in der er selbst fleissig mitarbeitete. Als Schärs
Werke bezeichnet man noch jetzt in Wattenwil u.a. die Strasse zu der Eisenbahnstation in Uttigen und die schönen Obstbaumalleen längs der Srassen. Auch
mitten auf dem Dorfplatz steht ein grosser, alljährlich reichtragender Birnbaum,
den Schär mit seinen Oberschülern gepflanzt hat und der jetzt allgemein “Schärs
Birnbaum” heisst. Auf Schärs Anregung hin hat Wattenwil, als erste bernische
Gemeinde, die Speisung armer Schüler eingeführt.
Trotz seiner vielseitigen öffentlichen Betätigung arbeitete Schär auch eifrig
an seiner wissenschaftlichen Fortbildung. Jeden zweiten Samstag Nachmittag
versammelten sich in seiner Wohnung einige jüngere Lehrer der Umgebung.
Der Reihe nach trug jeder eine wohl vorbereitete Arbeit über deutsche Literatur,
Geschichte, Naturwissenschaften etc. vor. Schär vermittelte die Quellenliteratur
und studierte auch die Themata der Kollegen stets so gut, dass er jeden Vortragenden berichtigen und ergänzen konnte. Darum verehrten alle Kursteilnehmer
ihn neidlos als ihren Meister. Was Wunder, dass Schär mit 22 Jahren an der
Universität Bern das Examen zur Erlangung des Sekundar- und Gymnasiallehrerpatentes bestehen konnte und dass ihn die bernische Regierung als Lehrer am
Lehrerseminar Münchenbuchsee berief, an dem er selbst ausgebildet worden
war.
1865 - 1868
15
8. Rechts: Das Bernische
Lehrerseminar in Münchenbuchsee, 1833-1883
Aus J.F.Schärs Lebenserinnerungen: Um fünf Uhr war
Tagwacht. Für das Ankleiden,
Bettmachen und Waschen hatten wir zwanzig Minuten Zeit,
denn um fünf Uhr musste jeder
an seinem Platz an der Arbeit
sein. Für das Waschen gab
es nirgendwo im Hause eine
Gelegenheit. Alle hundertundzwanzig Zöglinge mussten
mit Waschtuch und Seife zum
Brunnen, der sich ausserhalb
der Klostermauer befand.
Die damit verbundene Unbequemlichkeit wurde reichlich
belohnt. Hinaus aus der Stickluft der Schlafsäle – in zwei
schliefen je zwanzig, im dritten
achtzig Zöglinge – in die
frische Morgenluft; körperliche
Bewegung, Kopf und Hände
mit kaltem, frischem Wasser
abkühlen, das weckte unsere
Lebensgeister.
(J.F.Schär, 1924, S 119)
9. Unten: Kirche und Schulhaus in Wattenwil. Hier war
Schär von seinem 19. bis 22.
Lebensjahr als Lehrer tätig.
J.F.Schär als Dorfschulmeister in Wattenwil
16
Aus J.F.Schärs Lebenserinnerungen (J.F.Schär, 1924, S 22):
10. Henrich Zschokke, Basel,
um 1800
Aus J.F.Schär, 1920, S.52:
Von Anfang an fasste ich den
Lehrerberuf von einer höheren
Warte aus auf; meine Wirksamkeit sollte nicht auf den
engen Raum des Schulzimmers
begrenzt sein; ich wollte meine
Ideale in das Volk hinaustragen. Dazu gab mir ein wunderbares Buch den entscheidenden
Anstoss; Zschokkes «Goldmacherdorf», das mir aus der neu
gegründeten Schulbibliothek
in die Hände fiel. Den Helden
dieses einzigartigen Buches,
Oswald, wollte ich nachahmen,
das um so mehr, als ich den
Zustand, wie ihn Zschokke als
Schauplatz der Tätigkeit des
Reformators Oswald geschildert hat, genau in meinem Dorf
wieder zu finden glaubte.
Ohne ergänzenden Zuschuss
von der Mitgift meines
Schwiegervaters hätte ich auf
das Studium für das Sekundarund Gymnasiallehrerpatent
verzichten müssen. So steht
auch diese Wendung meines
Werdeganges mit meiner
Heirat in ursächlichem Zusammenhang. Denn es ist sicher,
dass ich erst auf Grund meines
Diploms ein Jahr nachher zum
Hauptlehrer an das Lehrerseminar gewählt wurde.
1865 - 1868
13. Anna Schär-Werren,
1845-1888
Aus J.F.Schärs Lebenserinnerungen: Sobald ich definitif
als Lehrer angestellt war und
glaubte, eine Familie ernähren
zu können, sah ich mich nach
einer Lebensgefährtin um. Ich
wollte eine Liebesheirat, und
die Rechte fand sich ungesucht
und ungewollt unter den Töchtern des Gemischten Chors. Sie
war im Herbst 1865 als Mitglied eingetreten und fesselte
sofort meine Augen und mein
Herz. Sie hatte blonde Haare,
blaue Augen, ein liebreizendes
Gesicht, war körperlich wohlgestaltet, einfach und doch
sauber gekleidet, von gesundem und frischem Aussehen.
Sie war die Tochter des Amtsrichters Werren. Wir heirateten
1866. Eine eigentliche Aussteuer hatte meine Braut nicht
erhalten; der Schwiegervater
übergab mir als Heiratsgut
zweitausend Franken in bar,
mit dem Bemerken, dass ich
das Notwendige zur Ergänzung meines Haushaltes selbst
anschaffen sollte. Aus ökonomischen Gründen beschlossen
wir, den Winter über noch
getrennt zu bleiben, meine
Anna Elisabeth im Elternhaus,
ich im Schulhaus und bei
meinem bisherigen Kostgeber.
Das eigentliche Familienleben
begann daher erst im Frühjahr
1867. Bald kam zu unserer
grossen Freude ein Knäblein
und wurde auf den Namen
Wilhelm Friedrich getauft,
Rufname war Fritzli. Schon
nach einem Jahr schenkte mir
meine Frau den zweiten Knaben, der auf den Namen Karl
Oskar getauft wurde. Er war
in seinen jungen Jahren ein
sehr liebes und auch schönes
Kind, der Liebling seiner ihn
pflegenden Urgrossmutter.
(J.F.Schär, 1924, S. 228)
11. Heinrich Zschokke, Das
Goldmacherdorf
Umschlag der ersten Auflage,
1817.
12. Abschluss Zeugnis von
J.F.Schär
als Hauptlehrer am Lehrerseminar Münchenbuchsee
17
18
J.F.Schär als Hauptlehrer am Bernischen Lehrerseminar
1868 -1870
19
15. Johann Friedrich Schär
in seinem 26. Lebensjahr
Trotz seines Erfolges und
seiner grossen Beliebtheit entschloss sich Schär 1870, kurz
nach Ausbruch des deutschfranzösischen Krieges, seine
Stellung als Seminarlehrer
aufzugeben, um Kaufmann zu
werden. Er betrieb trotz seiner
Unerfahrenheit verschiedene
Geschäfte, als Gastwirt, Käsehändler und schliesslich als Papierfabrikant. Infolge mehrerer
Misserfolge und Zerwürfnissen
mit seinem letzten Associé
trat Schär nach vier Jahren,
also 1874, aus seinem letzten
Geschäft, der Firma Harder
& Schär aus und kehrte zu
seinem ursprünglichen Beruf
zurück, indem er eine Sekundarlehrerstelle in Bischofszell
übernahm.
14. Urkunde des Kantons
Bern zur Ernennung von
Johann Friedrich Schär als
Hauptlehrer am Lehrerseminar von Münchenbuchsee
Aus J.F.Schärs Lebenserinnerungen: Schon dreieinhalb Jahre, nachdem ich das Seminar
als Zögling verlassen, sollte
ich dort wieder einziehen, jetzt
als neugewählter Hauptlehrer
für Physik, Chemie, Mathematik und Turnen.
Nicht ohne Bedenken und
Opposition hatte mich die
Seminarkommission dem Regierungsrat in erster Linie zur
Wahl vorgeschlagen. Ich wäre
zu jung, hiess es; hätte eine
zu grosse Einbildung von mir
selbst; Beweis dafür: Kaum
hätte ich das Patentexamen
als Sekundarlehrer bestanden,
so sei an der Türe meines
Wohnzimmers schon die Anschrift gestanden: J.F. Schär,
patentierter Sekundarlehrer;
ich hätte nur schreiben dürfen:
Patentierter SekundarlehramtsKandidat.
Wichtiger als diese kleinlichen
Aussetzungen war der Mangel
an einer abgeschlossenen akademischen Bildung. Direktor
Rüegg bevorzugte mich, weil
ich einer seiner besten Schüler
gewesen und er daher versichert sein konnte, dass ich in
seinem Sinn und Geist arbeiten
würde. Er hat sich darin nicht
getäuscht.
(J.F.Schär, 1924, S. 234/235)
(Vergl. J.F.Schär, 1924, S. 247
-278).
Aus J.F.Schärs Lebenserinnerungen: Am 10. September 1868 wurde ich als
Seminarlehrer feierlich installiert. Unter und mit meinen hundertundzwanzig
Zöglingen war ich in meinem Element. Auf den Glockenschlag hatte ich schon
die Türklinke des Lehrsaales in der Hand. Die Zeit von der Tür zum Pult dauerte
mir zu lang; deshalb hatte ich schon den Namen eines Zöglings aufgerufen und
an ihn die Frage gestellt: “Was haben wir in der letzten Stunde behandelt?” bis
ich an meinem Pult stand; ich wiederhole stand, denn niemals habe ich meinen
Unterricht sitzend erteilt, auch im Katheder der Hochschule habe ich immer
stehend vorgetragen. Mein Temperament gab es mir nicht zu; das haben auch
meine Seminarzöglinge erfahren müssen; ich war in diesen jungen Jahren im
Unterricht ein Feuergeist, durch meine Rasch- und Barschheit habe ich ihnen
das Gähnen, das gedankenlose Zuhören oder Dasitzen abgewöhnt. Nicht Herumspazieren während des Unterrichts, sondern an einem Punkte stehen bleiben,
von da aus die ganze Klasse überblicken, die Unachtsamen aufrufen, beim Gebrauch der Wandtafel die Zöglinge zur Mitarbeit anhalten, ihnen nicht viertelstundenlang den Rücken zukehren. Feuer, Leben und wieder Leben während der
ganzen Stunde, das ist eine Lust und Freude für Lehrer und Schüler; man könnte
sagen: das ist taylorisierter Schulbetrieb. Es war aber auch nötig, dass ein anderer Geist in den Betrieb der mir anvertrauten Fächer kam. Mein Vorgänger
war an Geist und Energie derart gelähmt gewesen, dass in diesen Fächern die
Zöglinge gänzlich auf sich angewiesen waren. (J.F.Schär, 1924, S 236)
J.F.Schär als Sekundarlehrer in Bischofszell
20
1874 übernahm Schär eine
Sekundarlehrerstelle in Bischofszell.
Seine gemeinnützige Tätigkeit
war dort wenn möglich noch
intensiver als in Wattenwil.
Ueberdies wurde
er Gründer und Direktor
einer Verkaufsgenossenschaft
Schweizerischer Käser. Als
solcher hatte er neben der
Schule die Annahme der Käse
in den Käsereien der Genossenschafter, die Aufsicht
über das Lager, die gesamten Schreibarbeiten und die
Geschäftsreisen zu besorgen.
Auf Ersuchen des Arbeitervereins gründete er im Jahre
1875 auch den Konsumverein
Bischofszell und besorgte
ehrenamtlich die Buchhaltung
und Kassaführung desselben,
bis zu seinem Wegzug.
Aus J.F.Schärs Lebenserinnerungen: Ich will gestehen, dass mich bei meinem
Entschluss, den Lehrerberuf
zu verlassen und Kaufmann
zu werden, auch finanzielle
Sorgen drückten. Ich war
vier Jahre verheiratet und
erhielt jedes Jahr ein neues
Kind. Das erhöhte wohl mein
Familienglück, vermehrte
aber auch meine Sorgen. Ich
hatte eine Besoldung von 2000
Franken, und auf absehbare
Zeit war eine Erhöhung nicht
zu gewärtigen. Es schien mir
nicht schwierig, als Kaufmann
in wenigen Jahren so viel zu
erübrigen, dass ich nachher
ohne Familiensorgen in den
Lehrerberuf zurückkehren
könnte.
Doch ohne meine kaufmännische Praxis wäre ich nicht
nach Basel berufen worden
und hätte in der nun folgenden Lebensperiode auch nicht
leisten können, was mir heute
allgemein als Verdienst angerechnet wird.
(J.F.Schär, 1924, S. 248)
16. Oben: Die ersten Kinder
von Johann Friedrich Schär,
ça 1872: Fritz, Oskar, Arnold
und die Tochter Alwine
Das Jahr 1880 brachte Schär
als Direktor an die Mädchensekundarschule in Biel und
das Jahr 1882 als Lehrer der
Handelswissenschaften an die
Obere Realschule in Basel.
17. Unten: Bischofszell von
der Thurbrücke aus.
1874 - 1880
Aus J.F.Schärs Lebenserinnerungen: 1874 habe ich die vierte Periode meines Lebens in dem schönen Landstädtchen Bischofszell als Lehrer der dortigen
Sekundarschule angetreten und dort mein achtundzwanzigstes bis vierunddreissigstes Lebensjahr verbracht. Von all meinen ausseramtlichen Pflichten, Würden und Bürden, die ich samt und sonders ehrenamtlich in Bischofszell versah,
will ich einige aufzählen: Direktor des Frauenchors, Präsident des Männerchors,
Organist, Leiter des Turnvereins, Präsident der Literaria, desgleichen des volkswirtschaftlichen Vereins Ober-Thurgau, des interkantonalen Lehrervereins,
Mitglied des Vorstandes der thurgauischen Schulsynode, Leiter der obligatorischen Fortbildungsschule, Redaktor der Wochenzeitung «Wächter an der Thur
und Sitter», Mitarbeiter an Rüeggs schweizerischen Schulbüchern, Sekretär des
Schutzaufsichtsvereins für entlassene Sträflinge, Vorstand des thurgauischen
kantonalen Turnvereins, Bettelvogt u.a.m..
Aber das alles gehört nicht zu meinem Werdegang zum Genossenschafter;
die Hauptsache kommt noch. Im Jahre 1874 wurde ich Gründer und Direktor
der Assoziation schweizerischer Käser. Schon waren die Statuten von einigen
vierzig Käsern angenommen; da scheiterte das ganze an der leidigen Finanzfrage. Die Banken wollten den notwendigen Kredit nicht bewilligen. Schliesslich
schlossen sich noch acht finanzkräftige Mitglieder zu einer Genossenschaft zusammen. Da ich Fachmann war, wurde mir die ganze Leitung übertragen.
Am Abend nach der Schule fuhr ich, wenn nötig, zum Ausziehen der Käse in
die Käsereien, in der Nacht besorgte ich die Korrespondenz und Buchhaltung;
in den Ferien reiste ich ins Ausland, um Kunden zu gewinnen. Weil ich keinen
Angestellten hatte, musste ich den ganzen kaufmännischen Betrieb und Vertrieb
besorgen. Für diese verantwortungsvolle Tätigkeit bezog ich ein Gehalt von
2000 Franken. Unstimmigkeiten in der Genossenschaft selbst, Bedenken gegen
meine starke Nebenbeschäftigung seitens der Schulbehörde und das Uebermass
von Arbeit veranlassten mich nach vier Jahren, die Leitung der Assoziation niederzulegen.
Im Jahre 1875 teilte mir eine Abordnung des Arbeitervereins Bischofszell
mit, dass sie die Absicht hätten, einen Konsumverein zu gründen, und baten
mich um meine Mitwirkung. Der Direktor der grossen Jaquard-Fabrik, Niederer,
erbot sich an, die etwa nötigen Geldmittel zu beschaffen. Ich sagte zu, arbeitete
die Statuten nach Muster des Konsumvereins Uzwil und Umgebung aus, wurde
von der konstituierenden Versammlung zum Präsidenten des Verwaltungsrates
gewählt, und 1876 begann der Konsumverein Bischofszell seine Tätigkeit. Ich
musste dabei die Buchhaltung und das Amt eines Kassiers übernehmen und besorgte diese Arbeiten ehrenamtlich bis zu meinem Weggang von Bischofszell.
Nach sechseinhalbjähriger Wirksamkeit verliess ich Bischofszell, das mir zu
einer zweiten Heimat geworden war, um einem Ruf als Direktor der MädchenSekundarschule in Biel zu folgen. (J.F.Schär, 1924, S 12)
Das Jahr 1880 brachte dann Schär als Lehrer der Handelswissenschaften an
die Obere Realschule in Basel.
21
Urkunde der Ernennung
18. zum Sekundarlehrer in
Bischofszell, 1874
22
J.F.Schär als Handelslehrer in Basel
1882 - 1903
23
J.F.Schär an der Oberen
Realschule in Basel
Das Jahr 1882 brachte Schär
als Lehrer der Handelswissenschaften an die Obere Realschule in Basel.
Hier war nun Schär auf die
Bahn gekommen, auf welcher
er vermöge seiner hervorragenden Intelligenz und Arbeitskraft sowie seiner reichen
Erfahrung als Lehrer und als
Geschäftsmann von Erfolg zu
Erfolg gelangen sollte.
Um seine kaufmännischen
Erfahrungen zu erweitern und
zugleich der Genossenschaftsbewegung zu dienen, die er
als eines der sichersten Mittel
erkannt hatte, um den untern
Volksklassen aufzuhelfen,
schloss er sich mit Eifer der
Konsumgenossenschaftsbewegung an.
Nach kurzer Zeit wurde er
Mitglied der Verwaltung des
Allgemeinen Konsumvereins
Basel. Er half den Verband
schweizerischer Konsumvereine gründen und wurde dessen
Präsident. Der Name “Konsum
Schär”, den seine Widersacher
ihm beilegten, war redlich
verdient und er ist ihm zu
einem der liebsten Ehrentitel
geworden.
(Zum 70. Geburtstag von
J.F.Schär, Autor unbekannt)
20. Stadtplan von Basel 1888
Aus: Tschudi, 1888
24
J.F.Schär als Handelslehrer in Basel
1882 - 1903
21. Die Anlagen der chemischen Fabrik Geigy um 1900
an der Riehentorstrasse, am
heutigen Standort des Hotel
Plaza.
(http://www.novartis.ch)
Wirtschaftlicher Wandel und
soziale Frage
1839 begann der Seidenfärber
Alexander CIavel mit der Herstellung synthetischer Farben.
Clavel folgten weitere Unternehmer wie Rudolf Geigy und
Edouard Sandoz. Aus dem
Werk Clavels erwuchs 1884
die Gesellschaft für chemische
Industrie Basel (Ciba). 1897
gründete Fritz Hoffmann die
heutige Roche.
Im Zuge der Industrialisierung
wurde die soziale Frage immer
wichtiger. 1869 wurde ein
Fabrikgesetz erlassen, das den
Zwölfstundentag, ein Nachtarbeitsverbot, ein Verbot der
Fabrikarbeit schulpflichtiger
Kinder sowie eine 14-tägige
Kündigungsfrist brachte.
Die Lebenshaltungskosten vieler Arbeiterfamilien ließen sich
oft nur durch die Einkommen
mehrerer Familienmitglieder
decken, dennoch reichte es bei
etwa der Hälfte der Familien
nicht einmal für eine ausreichende Ernährung, vor allem
dann, wenn die zu versorgenden Kinder noch nicht selber
mitverdienen konnten. So
lebten noch um 1900 rund
zwei Drittel der Bevölkerung
in ärmlichen Verhältnissen.
(Berner Hans u.a., 2008,
S.194-195)
25
22. Blick auf den Birsig
zwischen Rüdengasse und
Barfüsserplatz (an der Stelle
befindet sich heute die Falknerstrasse). Der kleine Fluss diente der Stadt als Abwasserkanal.
Abb. Staatsarchiv Basel-Stadt.
Ein geschichtlicher Überblick (Auszüge aus Berner Hans u.a., 2008) : Nach
der Schaffung des neuen Bundesstaates 1848 blieben die staatlichen Institutionen Basels zunächst relativ schwach, was die Steuern niedrig und die städtischen
Ausgaben gering hielt. So blieb z. B. die soziale Fürsorge im wesentlichen privat
organisiert und das Vormundschaftswesen Aufgabe der Zünfte. Eine besondere Rolle spielte die Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige (GGG), die
sich seit 1844 in den Bereichen Kranken- und Arbeitslosenfürsorge sowie Wohnungsbau hervortat. Das verweist auf eine Besonderheit des Basler Bürgertums,
nämlich sein großes gesellschaftliches und soziales Engagement. Dieses speiste
sich aus der Identifikation mit der städtischen Gesellschaft, als deren eigentlicher Kern man sich sah, und der christlich-reformierten Vorstellung, dass die
Reichen auch Verantwortung für das Wohlergehen ihrer armen Mitbürger tragen
müssen. Seinen Reichtum und Wohlstand stellte man nicht zur Schau. Vielmehr
unterstützte man unzählige soziale Vereine und Organisationen durch finanzielle Beiträge und tatkräftige Mithilfe. Selbstverständlich diente diese fürsorglich
patriarchalische Haltung auch dem Zweck, die sozialen Probleme wie Armut,
Arbeitslosigkeit und Krankheit zu entschärfen und die eigene Vorrangstellung
zu legitimieren. (Berner Hans u.a., 2008, S.179)
Die Kantonsverfassung von 1875 setzte dem Ratsherrenregiment ein Ende.
An die Stelle des Kleinen Rates trat ein Regierungsrat, dem sieben Mitglieder
angehörten. Alle Regierungsräte waren besoldet, eine Regelung, die die Konservativen bis zuletzt bekämpften. (...) Letzte Reste des Zunftzwanges hatte bereits
die Bundesverfassung beseitigt, nun führte auch Basel endgültig die Gewerbefreiheit ein. Hinzu kamen mit Gesetzesinitiative und Referendum direktdemokratische Instrumente. 1889 folgte noch eine Verfassungsrevision, welche die
Volkswahl von Regierungs- und Ständerat einführte. Zudem übertrug man dem
Kanton mit dem Armenwesen erste sozialpolitische Aufgaben, die von der Bürgergemeinde nicht mehr allein zu bewältigen waren.
Politisch dominierte der Freisinn, der sich im Wesentlichen auf zugewanderte Bürger anderer Kantone und die städtische Mittelschicht stützte. Während 10
Jahren verfügte er - mit einer Ausnahme - über die absolute Mehrheit im Grossen
Die unhaltbaren hygienischen
Zustände, die immer wieder
zu Cholera- und Typhuserkrankungen führten, bedurften
einer nachhaltigen Verbesserung. Ein erstes Kanalisationsgesetz scheiterte aber 1876
in einer Volksabstimmung am
Widerstand der Hausbesitzer.
Erst in den 1880er und 1890er
Jahren folgte die schrittweise
Überdeckung des Birsig im
Innenstadtbereich. 1896 wurde
per Gesetz ein Kanalisationsanschluss für jedes Haus
verpflichtend. Nun begann ein
rascher Ausbau des Abwassernetzes in der Stadt.
(Berner Hans u.a., 2008,
S.183)
Rat. Ihm gegenüber standen die Konservativen, welche die alteingesessene Bürgerschaft repräsentierten. Damit verlor Basel langsam sein konservatives Image.
In den 1880er Jahren entstanden Arbeitervereine, die Sozialdemokratische Partei wurde 1890 gegründet. Sie vertrat die neue Industriearbeiterschaft, sofern
diese nicht katholisch gebunden war. Die zugewanderten Katholiken schlossen
sich in verschiedenen politischen Vereinen zusammen.
Bereits 1875 übernahm der Kanton die zuvor privat organisierte Wasserversorgung, die seit 1866 die Bevölkerung mit frischem Wasser aus dem Jura versorgte. 1882 wurde Grundwasser in den Langen Erlen erschlossen, um den steigenden Bedarf zu decken. Auch die seit 1852 bestehende Gasversorgung, die im
Wesentlichen der öffentlichen Beleuchtung der Stadt diente, wurde schrittweise
vom Kanton übernommen. 1879 fusionierten Gas- und Wasserwerk zu einem
staatlichen Regiebetrieb, der Basel auch mit der neu aufkommenden Elektrizität
versorgte. 1900 folgte die Umstellung der Straßenbeleuchtung auf Elektrizität.
1912 wurde außerhalb des Kantons in Augst das erste große Wasserkraftwerk
am Rhein in Betrieb genommen.
Von zentraler Bedeutung war die Sanierung des Abwassers, das man jahrhundertelang über Gruben und Dolen in den Birsig oder direkt in den Rhein
abgeleitet hatte. (Berner Hans u.a., 2008, S.181-183)
23. Kleine Geschichte der
Stadt Basel, (Berner Hans
u.a., 2008)
Eine anregende, gut strukturierte Dokumentation, aus
der wir auf den Seiten 22-25
ausgiebig zitiert haben.
J.F.Schär als Handelslehrer in Basel
26
1882 - 1903
Die freisinnige Ära war von einem gewaltigen Ausbau der öffentlichen Leistungen begleitet. Der „Gemeindesozialismus“ der Freisinnigen hatte auch ein
Zurückdrängen der alten Oberschicht zum Ziel. Im Zentrum standen der Ausbau
der Stadt (kommunaler Wohnungsbau, Strassenbau, Gas-, Wasser- und Elektrizitätsversorgung), die Gesundheitspolitik sowie das Bildungswesen.
24. Oben: Der Steinenberg
vor dem Neubau des Stadttheaters und der Kunsthalle
(Abb. rechts).
25. Oben: Stadttheater und
Kunsthalle, 1872 - 1875
Der seit 1840 aktive private
Kunstverein nutzte die neue
Kunsthalle für eine regelmässige Ausstellungstätigkeit.
Ein besonderes Anliegen der Freisinnigen war der Ausbau der staatlichen
Schule. Ziel war einerseits die Erhöhung der Chancengleichheit durch Bildung,
und die Ausformung des Staatsbürgers als Grundpfeiler des bürgerlich demokratischen Staates. Es brachte die Erhöhung der bereits 1838 eingeführten Schulpflicht von sechs auf acht Jahre und die Abschaffung des Schulgeldes.
Bildung war eine zentrale Aufgabe des Staates geworden. Dies unterstrichen
die zahlreichen Schulneubauten. Zwar waren sie auch wegen der stark wachsenden Schülerzahlen unumgänglich, aber die Gestaltung der architektonisch
repräsentativen und mit allem Komfort (Elektrizität, Wasser, Zentralheizung)
ausgestatteten Schulhäuser verweist auf ihren tieferen Zweck: Sie sollten als
»Paläste« der Bildung das neue Bildungsideal, aber auch den Anspruch des freisinnigen Staates an seine Bürger geradezu symbolisch verkörpern.
(Berner Hans u.a., 2008, S 185)
27
Basels internationale kulturelle Bedeutung im 19. Jhdt.
wird durch eine grosse Anzahl
illustrer Namen und entscheidender historischer Anlässe
belegt.
28. Jacob Burckhardt 18181897 lehrte an der Universität
Basel Geschichte und Kunstgeschichte. Hauptwerk: Die
Cultur der Renaissance in
Italien, 1860
26. Rechts: Blick auf das
Basler Ratshaus nach dem
Ausbau 1903. Abb.Staatsarchiv Basel-Stadt
Bedeutsam für Basels Entwicklung im 19. Jahrhundert
war auch die ausgeprägte
Ausformung bürgerlicher
Kultur. Bildungsvereine
spielten eine wichtige Rolle im
öffentlichen Leben. Zu nennen
ist beispielsweise die bis heute
existierende Lesegesellschaft
am Münsterplatz.Träger
des gesellschaftlichen Musiklebens waren die privaten
Musik- und Gesangvereine.
1876 entstand die Allgemeine
Musikgesellschaft, welche das
Orchester trug. 1867 richtet die
Gesellschaft für das Gute und
Gemeinnützige die Musikschule ein, die man um 1905 um
ein Konservatorium ergänzte.
1849 wurde das Museum an
der Augustinergasse eröffnet.
Mit dem Historischen Museum
wurde 1894 in der renovierten
Barfüsserkirche ein zweites
öffentliches Museum eröffnet.
(Berner Hans u.a., 2008,
S.203-205)
29. Theodor Herzl, 1860-1904
Begründer des Zionismus.
27. Oben: Das 1904 erbaute
deWette Schulhaus, in dem
Schär als Handelslehrer unterrichtete und das später Sitz des
MNG wurde.
Vom 29. bis 31. August 1897
tagte im Basler Stadtcasino
der erste Zionistenkongress. In
seiner Eröffnungsrede skizzierte Theodor Herzl das Ziel der
zionistischen Bewegung: »Wir
wollen den Grundstein legen
zu dem Haus, das dereinst die
jüdische Nation beherbergen
wird.«
Damit hatte die zionistische
Bewegung erstmals ein weltweites Echo erreicht.(Berner
Hans u.a., 2008, S. 190-191)
28
Professor Johann Friedrich
Schär als Lehrer der Handelsfächer an der Oberen
Realschule zu Basel
von 1882 bis 1903.
Schärs Programm:
In seinem Unterricht in der
I., II. & III. Handelsklasse
behandelteSchär nachstehende
Stoffgebiete:
A. Kaufmännisches Rechnen.
B. Buchhaltung und Kontorarbeiten
C. Handelslehre.
J.F.Schär als Handelslehrer in Basel
1882 - 1903
Aus J.F.Schär, 1924, S.12/13: Ein neues Leben mit ganz neuen Lebensaufgaben begann, als ich 1882 als Lehrer der Handelswissenschaften an die neu
gegründete Handelsabteilung der Oberen Realschule in Basel berufen wurde.
Hier kam ich erst in das richtige Fahrwasser, indem ich den Doppelstrom meiner
Berufsbildung, den pädagogischen und kaufmännischen, in einen einzigen zusammenfassen konnte. Im Frühling dieses Jahres, als sechsunddreissigjähriger
Mann, siedelte ich mit meiner achtköpfigen Familie nach Basel über und warf
mich mit aller Kraft und Begeisterung auf die neuen Fächer, in denen ich die vierzehn bis siebzehn Jahre alten Schüler zu unterrichten hatte. Nicht aus Büchern,
sondern aus dem Leben, aus der Praxis des kaufmännischen Betriebes wollte
ich meine Weisheit schöpfen, um auch die Schüler zu gründlich vorgebildeten,
anpassungsfähigen und praktisch tüchtigen Jüngern Merkurs heranzubilden. Zu
diesem Zwecke und in dieser Absicht setzte ich mich in Verbindung mit den gut
geleiteten kaufmännischen Betrieben der Stadt Basel, um von ihnen zu lernen
und meine Kenntnisse des praktischen Geschäftslebens zu bereichern.
Aus Robert Flatt, 1916, T4: Der Unterricht von J. F. Schär war getragen von
einem väterlichen Wohlwollen gegenüber seinen Schülern & fruchtbar gestaltet durch Klarheit der Darbietungen durch Anlehnung an konkrete Beispiele aus
dem praktischen Leben. Im Verkehr mit den Schülern kam nicht nur sein pädagogisches Geschick & seine Theorie & Praxis gut verbindende klare Einsicht,
sondern auch seine ideale Gesinnung & sein reiches Gemüt zur Geltung, so dass
er seinen Schülern auch nach der Seite der Charakter- & Gemütsbildung & der
idealen Lebensauffassung ein wertvolles Stück Erziehung auf den Lebensweg
mitgegeben hat. (Robert Flatt war damals Rektor der ‘Oberen Realschule’ in Basel und einer der
ersten Verfechter reformpädagogischer Grundsätze in den Schweizer Schulen).
30. Der Eingang zum deWette Schulhaus, in dem
die Obere Realschule (jetzt
“Mathematisch-naturwiss.
Gymnasium” genannt) untergebracht war.
Schär hat vom Schuljahr
1882/83 bis zum Ende des
Schuljahres 1902/03 in der
dreiklassigen Handelsabteilung der Oberen Realschule
zu Basel eine äusserst fruchtbare Lehrtätigkeit entfaltet &
während dieser 21-jährigen
Wirksamkeit auch wertvolle
Lehr- & Übungsbücher für den
handelswissenschaftlichen Unterricht geschaffen. (Flatt, T4)
31. Johann Friedrich Schär
um 1882
29
J.F.Schär als Handelslehrer in Basel
30
1882 - 1903
31
34.
35.
36.
37.
32. Ansicht der Bachlettenstrasse um 1930
33. Haus Bachlettenstrasse
60
J.F.Schär, 1924a, S.44: Am 6.
Januar 1888 starb meine liebe
Frau nach kurzer Krankheit an
der Lungenentzündung.
Nach fast vierjährigem Witwerstand verheiratete ich mich
mit Frau Witwe Olga Matile,
geb. von Seeger, deren zwei
Töchter und ein Sohn aus
erster Ehe ich auch erziehen
musste.
Bis 1890 wohnte ich zu Miete
in einem drei Zimmerlogis.
Die Wohnstube war auch mein
Studierzimmer. Die grösseren Kinder schliefen in den
Mansarden. 1890 bezog ich
ein eigenes Haus, Bachlettenstrasse 60, wo ich ein eigenes
Studierzimmer hatte.
(Siehe dazu auch T9).
Besitzer des Hauses Bachlettenstrasse 60:
1890 J. F. Schär-Werren,
1891-1903 J. F. Schär-Seeger,
1903 Dr. jur. Oskar Schär,
ab 1959 Heidy und Louis
Lambelet-Bocola
Rechte Seite: die vier Söhne
Johann Friedrich Schärs:
34. Arnold Schär (oben links),
der dritte Sohn von JFS, war
der Abenteurer der Familie. Ende des 19. Jhdts nach
Amerika ausgewandert, übte
er alle möglichen Berufe aus.
Von New York bis zum „Wilden
Westen“. Er fuhr als Tramper, wie die Figuren von Jack
Londons „Abenteuer auf dem
Schienenstrang“, auf Zügen
am Chasis der Wagen. Später
hatte er eine eigene Farm, auf
der er wilde Pferde zähmte,
die er mit dem Lasso fing.
Einmal zähmte er mit Erfolg
einen wilden Hengst, an den
sich niemand gewagt hatte.
Ein Indianerhäuptling, der
dies mit angesehen hatte, war
so beeindruckt, dass er ihm
den Namen „Weisser Adler“
verlieh und ihm seine Tochter
als Frau anbot, was Arnold
schliesslich ausschlug, da er in
der Schweiz schon verheiratet
war.
35. Oskar Schär
Der zweite Sohn, dem das
nächste Kapitel unserer Darstellung gewidmet ist.
36. Fritz Schär
Der älteste Sohn Johann Friedrichs war Orthopäde.
37. Erwin Schär
Der jüngste Sohn Johann
Friedrichs war Buchhalter.
Er übernahm das von Rudolf,
dann von Arnold geerbten
Käsereiunternehmen, die er in
den Bankrott führte.
32
Zum Stand der Genossenschaftsbewegung, die Schär
in Basel vorfand
Rückvergütung und Konsumgeld.
Das System der im Voraus
bezahlten Beträge war für die
Konsumvereine eine willkommene zinsfreie Vorfinanzierung. Gleichzeitig sorgte
man dafür, dass die Einkäufe
der Mitglieder nicht andernorts stattfanden, eine ideale
Kundenbindung. Gleichzeitig
war das System auch für die
Mitglieder von Vorteil. Es
konnte ein gewisser Sparbatzen erwirtschaftet werden, und
die Hausfrau wusste jeweils
genau, wie viel Geld ihr für
eine bestimmte Zeitspanne
zur Verfügung stand, denn das
bereits investierte Haushaltgeld
konnte vom Partner nicht
andernorts, sprich etwa in einer
Kneipe, verbraucht werden.
(Kunzmann, 2005, S.13))
38. Konsumgeld des Allgemeinen Consumvereins
beider Basel.
Durchmesser 25 mm.
(Kunzmann, 2005, S.46,52,57)
J.F.Schär als Genossenschafter
Auszüge aus Kunzmann, 2005: Die 1848 erfolgte Gründung der modernen
Schweizerischen Eidgenossenschaft und die in der Verfassung verankerte Vereinheitlichung des Geldes, waren gute Voraussetzungen für ein organisiertes
Verbraucher-, bzw. Konsumenteninteresse in der Schweiz. In den folgenden
Jahren entstanden im ganzen Land viele erste Konsumvereinigungen, welche
jedoch teilweise nur für kurze Zeit existierten.
Der 1864 gegründete Fabrikarbeiterverein Schwanden übernahm als erster
Konsumverein der Schweiz die Satzungen der englischen “Redlichen Pioniere
von Rochdale” und damit auch das System der Rückvergütung aus den Erträgen,
entsprechend den getätigten Besorgungen. Diese Jahreseinkäufe wurden, gemäß
dem englischen Vorbild, mittels Blechmarken abgerechnet.
Diese “Dividende”, welche für viele Familien, insbesondere für die Hausfrau, ein willkommenes Sackgeld bedeutete, bewährte sich derart, dass in kurzer
Folge die meisten Konsumvereine unseres Landes ebenfalls die Rückvergütung
einführten. Auch die Satzungen des VSK (Verband Schweizerischer Konsumvereine) übernahm später dieses wichtige Gedankengut. Welche Beträge die
einzelnen Konsumvereine zurückgaben, hing nur vom Erfolg ihrer Tätigkeit ab
und konnte auch von Jahr zu Jahr stark variieren. So zahlte 1894 die Société de
Consommation von Fleurier ganze 15%, der Lebensmittelverein Zürich “nur”
5% Rückvergütung. Seite 12
Der 1865 gegründete Allgemeine Consumverein Basel (A.C.V.) scheint einer der Ersten gewesen zu sein, welcher seinen Mitgliedern Marken in der Höhe
des zuvor bezahlten Betrags aushändigte, mit welchen diese im konsumeigenen
Laden oder bei unter Vertrag stehenden Lieferanten die Waren beziehen konnten. Diese ersten Marken waren vermutlich aus bedrucktem, unterschiedlich gefärbten Papier oder Karton. Bereits 1880 führte der A.C.V. Basel einheitliche
und auf Centimes und Franken lautende Marken aus Messing und aus Kupfer
ein, welche sich für viele Jahrzehnte bewähren sollten.
Zusehends wurde diese besondere Geldform durch Registrierkassen verdrängt, die nun gleichzeitig Klebemarken aus Papier auswarfen, welche die Mitglieder in ein Markenbüchlein einklebten. Mit der Abschaffung der einzuklebenden Rabattmarken im Jahr 1974 wurde auch das System der Rückvergütung
nach über 130 Jahren aufgegeben und durch Nettopreise in den Läden ersetzt.
Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass auch viele andere Branchen, also Konkurrenten der Konsumvereine, ebenfalls Wertmarken ausgegeben haben, oft verbunden mit dem Gedanken, dass damit eine ähnliche Kundenbindung, wie es ja
bei den Konsumvereinen der Fall war, entstehen würde. Überhaupt können die
Jahrzehnte zwischen 1880 und etwa 1950 als eine Zeit der Jetons und Marken
bezeichnet werden.
(Kunzmann, 2005, S. 12-14)
1882 - 1903
33
39. Das erste Verkaufslokal
des ACV (Allgemeiner Consum Verein) am Spalenberg
16 in Basel
Etwa zwei Monate nach der
Gründungsversammlung des
Allgemeinen Konsumvereins
in Basel, am 9. September
1865, wurde das erste Verkaufslokal am Spalenberg 16
mit einem Betriebskapital von
1090 Franken eröffnet. Neben
Spezereiwaren wurden auch
Brot und Wein angeboten.
Bereits kurz darauf sollen erste
papierene/kartonierte Marken
für den Verkauf von Fleisch
(gelbe Farbe) und Brot (weisse
Farbe) angewendet worden
sein. Weitere solche Marken
gab es offenbar auch für den
Bezug von Holz und Bier.
Übrigens erzielte der A.C.V.
Basel während vielen Jahren
zwei Drittel seines Umsatzes
durch den Verkauf von Brot
und Mehl.
(Handschin, 1954)
40. Hans Handschin, Der
Verband Schweizerischer
Konsumvereine, 1954
Eine gut dokumentierte Darstellung der Entwicklung des
VSK bis 1953
J.F.Schär als Genossenschafter
34
1882 - 1903
35
41. Dreizehn der ursprünglichen Mitglieder der «Rochdale Equitable Pioneers
Society», 1865
(The Rochdale Pioneers Museum),
Die Satzungen und das Rückvergütungssystem der Rochdaler Pioniere:
Als bedeutendste Errungenschaft in der Entwicklung des
Konsumwesens der Schweiz
gilt die Einführung vieler
Satzungen und eines Rückvergütungssystems, welche die für
den europäischen Raum Beispiel gebende, 1844 gegründete, Konsumgenossenschaft moderner Prägung, die englische
Vereinigung der “Rochdale
Society of Equitabie Pioneers”
(Rochdaler Genossenschaft der
redlichen Pioniere) als Leitgedanken formuliert hatte.
Es waren dies:
- Jedes Mitglied hat nur eine
Stimme, unabhängig von der
Höhe der Einzahlung;
- Jedermann hat Zutritt zu der
Genossenschaft.
- Der Verkauf der Waren erfolgt nur gegen Barzahlung.
- Es werden nur unverfälschte Waren in vollem Gewicht
geliefert.
- Die Genossenschaft ist politisch und konfessionell neutral.
Mann und Frau sind gleichberechtigt und
- Je mehr ein Mitglied bei der
Genossenschaft kauft, desto
grösser soll seine Beteiligung
am Überschuss in Form einer
Rückvergütung sein.
(Kunzmann, 2005, S.11)
“Als die Rochdaler Pioniere
ihre glückliche Methode, den
Gewinn im Verhältnis des Einkaufs zu verteilen, einführten,
setzten sie ein Prinzip, welches
die Kraft und den Wert eines
sozialen Gesetzes in sich
schliesst.” (Thomas Twedell,
Leeds Co-operative Record
1908, Nr. 8, p. 134).
“Dieses neue Prinzip der
Gewinnbeteiligung im Verhältnis des Einkaufes gab den
Genossenschafts-Riesen die
Kraft, sich fremder Leitseile zu
entledigen und allein zu gehen.
Es hat Leben und Stärke in das
gebracht, was sonst eine träge
und leblose Masse geblieben
wäre.” (“What is Co-operati
on”, The Co-operative News
1871, Nr 7, p. 67 )
“The greatest idea in modern English life.” (Charles
Edward Russel, The Uprising
of the Many - Der Aufstieg der
Masse).
J.F.Schär als Genossenschafter
36
1882 - 1903
37
Aus Schär,1920, S 12/13: Von meinem unvergesslichen Freund Christian
Gass, den ich heute noch als den geistigen Vater des A.C.V. (Allgemeiner Consum Verein) verehre, der tatkräftig alle seine freie Zeit in den Dienst der Genossenschaft gestellt hat, wurde ich in die Verwaltung eingeführt, indem mich
1884 die Generalversammlung zu ihrem Sekretär wählte. Von dieser Zeit an war
ich unzertrennlich mit dem A.C.V. verwachsen; das Wohl und Wehe desselben
empfand ich als mein eigenes. Nach und nach rückte ich zum Präsidenten der
Generalversammlung, von diesem zum Verwaltungsrat und schliesslich zum Präsidenten des Verbandes Schweiz. Konsumvereine auf.
Aus Handschin, 1954, S.38-40: Als im Februar 1886 der ACV Basel, der schon
seit Jahren unter allen schweizerischen Konsumvereinen das grösste Ansehen
genoss, von den Basler Spezierern heftig angegriffen wurde, benutzte Edmond
Pictet den Anlass, um dem ACV seine Lieblingsidee der Schaffung eines engeren
Zusammenschlusses der schweizerischen Konsumvereine vorzutragen und ihn
darum zu ersuchen, als repräsentativster von allen, die Initiative zur Verwirklichung seines Gedankens zu ergreifen: «Was den Konsumvereinen der Schweiz
fehlt,» schrieb er an den Verwaltungsrat des ACV, « ist ein Band zwischen ihnen,
ein Verband, der sie zusammenfasst ähnlich demjenigen, der in Grossbritannien
besteht, und dem die grosse Mehrzahl aller dortigen Konsumvereine angeschlossen ist. »
Am 12. März nahm der Verwaltungsrat des ACV vom Schreiben Pictets
Kenntnis und beschloss, grundsätzlich auf den Vorschlag einzugehen und andere
Konsumvereine zu Besprechungen einzuladen. Der vorberatenden Versammlung
vom 11.Januar 1890 in Olten wohnten 16 Delegierte bei. Ihre Arbeit beschränkte
sich auf die Behandlung des Statutenentwurfes. Mit nur unbeträchtlichen Änderungen fand dieser die Zustimmung der Beteiligten.
Obwohl das Interesse, das der Gründung eines Verbandes entgegengebracht
wurde, nicht sonderlich gross war, erklärten wenigstens 10 Vereine ihren Beitritt.
Der Allgemeine Consumverein in Basel wurde als Vorort bestimmt. Im übrigen
enthalten die - sehr kurz gefassten - Statuten folgende wesentlichsten Bestimmungen über Zweck und Aufgaben des Verbandes: Die Pflege und Förderung
der wirtschaftlichen Interessen der verbundenen Vereine, sowie den gegenseitigen Austausch von Erfahrungen; Sammlung und Zusammenstellung statistischer
Erhebungen; Verbreitung wichtiger genossenschaftlicher Grundsätze; Belehrung
über Alles was im Interesse des Verbands und der einzelnen Vereine liegt.
42. Edmond Pictet, Vizepräsident des Verbandsvorstandes
des VSK 1890-1892.
Edmond Pictet, der innerhalb
des VSK von dessen Gründung
bis zu seinem Tode eine hervorragende Stellung einnahm,
entstammte einer alten Genfer
Familie und hatte während
eines sich über vierzehn Jahre
erstreckenden Aufenthaltes in
England nicht nur englische
Verhältnisse im Allgemeinen,
sondern auch das englische
Genossenschaftswesen kennen
und schätzen gelernt. Bald
nach seiner Rückkehr in die
Heimat wurde er an die Spitze
der kurz zuvor gegründeten
Société Coopérative Suisse
de Consommation de Genève
berufen. Mit sozusagen allen
bekannteren Genossenschaften
und Genossenschaftern der
Schweiz und des Auslandes
unterhielt er mehr oder weniger nahe Beziehungen.
Am 22. Dezember 1883 unterbreitete er allen registrierten
Schweizerischen Konsumvereinen sein grösstes Anliegen,
die Gründung eines Verbandes.
(Handschin, 1954, S.37).
43. Aufruf zum
Genossenschaftskongress
vom 19. Februar 1899.
Noch am gleichen Tage versammelten sich auch die vom Verwaltungsrat des
ACV Erkorenen zur ersten Sitzung des Verbandsvorstandes und wählten aus
ihren Reihen als Präsidenten Cölestin Stadelmann, als Vizepräsidenten Johann
Friedrich Schär und als Aktuar und Rechnungsführer Christian Gass. Am 18.
Februar, da der Verbandsvorstand sein zweites Zirkularschreiben an die schweizerischen Konsumvereine ergehen liess, war die Zahl der Anmeldungen bereits
auf 21 angestiegen. Damit hatte der Verband Schweizerischer Konsumvereine
(VSK) nun feste Gestalt angenommen.
(Handschin, 1954, S.49).
44. J.Fr.Schär, Genossenschaftliche Reden und
Schriften, 1920, Band I der
Reihe “Pioniere und Theoretiker des Genossenschaftswesens”, Verlag Verband Schweizerischer Konsumvereine.
45. Christian Gass,
seit 1890 Mitglied und Aktuar,
1898-1907 Vizepräsident des
des Verbands Schweizer Konsumvereine.
38
J.F.Schär als Genossenschafter
Rechts: 46. Johann Friedrich
Schär um 1905
Schaffung der Zentralstelle. An der Delegiertenversammlung vom 19. Juni
1892 in Bern teilte der Sohn Johann Friedrich Schärs, Dr. Oskar Schär, die Ergebnisse der von ihm verarbeiteten Statistik über die von den Verbandsvereinen
verkauften Waren mit, die ganz merkliche Unterschiede in den Ankaufspreisen
aufwiesen. Den einleitenden Ausführungen des Sohnes folgte ein einlässliches
Referat des Vaters, Johann Friedrich Schär, das die Wünschbarkeit gemeinsamer
Einkäufe betonte und die Errichtung einer Agentur als den einzigen dazu gangbaren Weg bezeichnete. Der Vorschlag Johann Friedrich Schärs wurde ohne gros
ses Für und Wider mit allen 37 Stimmen der an der Delegiertenversammlung
vertretenen 26 Vereine angenommen.
Die Anhandnahme der Warenvermittlung erforderte zwangsläufig eine straffere Organisation, als sie der bisherige, sehr lose Verband gehabt hatte, und
ebenso zwangsläufig auch die Eintragung ins Handelsregister. (Handschin,
1954, S.53-54)
Seit 1884 entwickelte Schär
eine überaus fruchtbringende
Tätigkeit als Behördenmitglied
des A.C.V. beider Basel, und
1890 war er Mitbegründer des
V.S.K., seit 1892 Präsident
desselben bis zum Jahre 1903,
als Johann Friedrich Schär
nach Zürich übersiedelte, um
an der Universität Zürich sein
Lehramt als Professor der Handelswissenschaften anzutreten.
Schärs besondere Leistungen liegen in der führenden
Mitarbeit bei der Gründung des
Verbandes schweiz. Konsumvereine und dessen Leitung als
Präsident von 1892-1903. Er
gab dem Verband die erste grosse Note, den nationalen und
den weltwirtschaftlichen Beruf,
er gab ihm aber auch die rationalen Normen dieses Berufs,
das rechnerische Richtmass
des werdenden Grossbetriebes.
Er führte die Bewegung aus
der engen Sphäre der dürftigen
Anfänge heraus und brachte sie
über die kleinen Sorgen und
Angelegenheiten hinweg in die
Richtung der grossen Ziele. Sie
nahm mit ihm gewissermassen
den vorwärts- und aufwärtsdrängenden Lauf, den er in der
Entwicklung seines eigenen
Lebens beschrieb: aus der
Dürftigkeit durch Auswirkung
eigener Kraft zur Fülle, aus
den Niederungen zur Höhe,
aus der Enge zur Weite.
Aus Faucherre “Schär als
Genossenschafter”, T1.
Rechts: 47. Dr. Rudolf Kündig, 1857 - 1923
Präsident des Verbandsvorstandes und der Verbandsdirektion
1882 - 1903
Die Schaffung von Normalstatuten. Kurz nach Annahme der Statuten von
1893 machte sich Schär ans Werk und arbeitete Normalstatuten und als Kommentar dazu «Thesen über die Bedeutung, Organisation und Gründung von Konsumvereinen» aus. Diese Thesen legen deutlich dafür Zeugnis ab, dass Schär die
genossenschaftlichen Theoretiker, die damals stärker hervorzutreten begannen,
gründlich studiert und sich zu eigen gemacht hatte. Mit Ausnahme der parteipolitischen und konfessionellen Neutralität enthalten seine Normalstatuten bereits
alles, was heute der VSK von einem Konsumverein, der sich um die Mitgliedschaft bewirbt, verlangt. Von diesen Normalstatuten ausgehend, haben zuerst
Johann Friedrich Schär, dann Dr. Hans Müller und schliesslich Johann Friedrich Schärs Sohn, Dr. Oskar Schär, die grosse Mehrheit der schweizerischen
Konsumvereine, die sich dem VSK zuwandten, auf die in den 1890er Jahren
anerkannten, einheitlichen genossenschaftlichen Grundsätze verpflichtet und
damit erst eine schweizerische Konsumgenossenschaftsbewegung in des Wortes
eigentlichem Sinne geschaffen. (Handschin, 1954, S.64)
48. Links:
Dr. Henry Faucherre,
Vizepräsident der Verbandskommission des VSK von
1939-1943.
Faucherre verfasste zum 100.
Geburtstag von Johann Friedrich Schär den Artikel Schär
als Genossenschafter, T1
Demission Schärs. An der Sitzung des Verbandsvorstandes vom 21. Dezember 1902 erklärte Johann Friedrich Schär, dass er sich infolge von «Vorstellungen seitens der ihm vorgesetzten Schulbehörde » veranlasst sehe, auf die nächste
Delegiertenversammlung seinen Rücktritt zu erklären. Damit schied, wenn er
dessen Entwicklung auch bis zu seinem Tod im Jahre 1924 mit grossem Interesse weiter verfolgte, aus der aktiven Betätigung innerhalb des VSK der Mann aus,
der auf diesen in seinen ersten 12 Jahren unbedingt den entscheidensten Einfluss
ausgeübt hatte. Da der Entschluss nicht rückgängig zu machen war und Gass
eine Wahl aus Altersrücksichten ablehnte, ersetzte ihn die Delegiertenversammlung in Vevey vom 25./26.Juli 1903 als Präsidenten des Verbandsvorstandes und
der Verbandsdirektion durch Dr. Rudolf Kündig. (Handschin, 1954, S.99)
Der Verbandsvorstand beschloss in seiner Sitzung vom 6. März 1909, Dr.
Oskar Schär an die Stelle eines dritten Verbandssekretärs zu wählen. (Handschin, 1954, S.101)
39
Die Bedeutung der Zentralstelle: 1903 umschrieb J.F. Schär
die Bedeutung der Zentralstelle: «Der Ausbau der Zentralstelle des Konsumverbandes
ist der allerwichtigste und bedeutendste Fortschritt, den die
Konsumvereine der Schweiz
seit ihrem Bestehen erreicht
haben. Ich betrachte daher das
Jahr 1890, das Gründungsjahr
des Verbandes, dann aber
namentlich 1892, das Eröffnungsjahr der Zentralstelle, als
den Wendepunkt in der Entwicklung der schweizerischen
Konsumgenossenschaften.“
(Handschin, 1954, S.23)
49. Georg Meyrin, der erste
hauptamtliche Funktionär
des VSK überhaupt.
Am 1. September 1892 wählte
der Verbandsvorstand als
Verwalter der Zentralstelle
Georg Meyrin. Wie bescheiden
der Anfang war, erhellt daraus,
dass sich Meyrin zunächst
seinem neuen Amte nur etwa
halbtagsweise widmete und
daneben noch Käsehändler und
Buchhalter des Basler Pferdetrams war.
(Handschin, 1954 )
40
J.F.Schär als Genossenschafter
1882 - 1903
50. Die Familie Schär-Werren um 1903
41
Von links nach rechts, hinten:
Die Brüder Rudolf und Johann
Friedrich, dessen Söhne Fritz,
Arnold, Oskar und Erwin.
Vorne: Die Ehefrauen von Oskar, Fritz, Rudolf und Arnold
Schär, sowie Schärs Tochter
Alwina
J.F. Schär als Sozialreformer
42
51. Oben links und rechts:
Zeitungsanzeige und Verwaltungsgebäude der Basler
Kantonalbank an der Schifflände in Basel. Um 1902.
(Heute Hotel Drei Könige).
Aus J.F.Schär, 1922:
Die Bank wurde am 1. Oktober
1899 eröffnet: ich amtete im
Bankausschuss bis 1901; durch
Los musste ich nach dem Gesetz austreten.
Im Auftrag des Bankrates fiel
mir die Revision der Jahresrechnung und die Kontrolle
der Buchhaltung zu, welche
Funktion ich bis 1903, meinem
Wegzug von Basel, verrichtete.
Heute können wir auf eine
zwanzigjährige Entwicklung
der Basler Kantonalbank
zurückblicken. Sicher hat sie
der Gesamtheit der Basler Bevölkerung, der Volkswohlfahrt
grosse Dienste geleistet. Aber
mit Bezug auf die FreilandIdeale hat sie den Erwartungen
der Gründer nicht entsprochen.
Die Revision des Bankgesetzes
von 1920, wonach die Hälfte
des reinen Betriebsüberschusses als Beitrag an den Staatshaushalt abgeführt werden soll,
verstösst gegen die Prinzipien,
die nach hartem Kampf bei der
Gründung aufgestellt wurden:
Die Kantonalbank wurde
nach den Grundsätzen der
geschäftlichen Selbsterhaltung
betrieben; sie beabsichtigt
keinen Gewinn. Nun hat man
die Bank zur Milchkuh des
Staates erniedrigt und dadurch
die Funktion als Organ des
Staates zur Förderung der
Volkswohlfahrt nach § 11 der
Staatsverfassung, wenn nicht
gänzlich unterbunden, so doch
Beteiligung von Johann
Friedrich Schär an der kantonalen und eidgenössischen
Politik:
wesentlich beeinträchtigt.
Schär, J.F., 1922, S.36-37.
1896-1903 Wiedergewähltes
Mitglied des Grossen Rates.
Präsident des Freisinnigen
Grossratsvereins (1901-1903).
Wiederaufnahme des Kampfes
für die Kantonalbank und
endlicher Sieg (1899).
1891-1893 Mitglied des Grossen Rates als Angehöriger der
Freisinnigen Partei, gewählt
vom Steinenquartier. Verteidigung der Freilandpostulate:
Kantonalbank, Vermehrung des
staatlichen Grundbesitz, Wertzuwachssteuer, Erbauung von
Wohnhäusern durch den Staat
etc. Kandidat als Mitglied des
Regierungsrates. Durchfall bei
den Wahlen im Frühling 1893.
1901 Denkschrift an den
Grütliverein: Begründung
meines Austrittes wegen
dessen Uebertritt zur Sozialdemokratie.
1882 - 1903
Johann Friedrich Schär als Sozialreformer - Auszüge aus dem Nachruf
seines Sohnes Oskar Schär: Schär war neben seiner Tätigkeit als Lehrer und
Kaufmann einer der ersten Sozialreformer und trat für wirtschaftliche Reformen
ein zu einer Zeit, als das Manchestertum und der Erwerbskapitalismus das Feld
noch weithin beherrschten und ein Angriff auf deren Grundlagen starke Opposition und persönliche Gegnerschaft aus einflussreichen Kreisen hervorrief, denen
J. Fr. Schär sich aber mutig aussetzte. Er hatte in den ersten Jahren seiner Basler
Wirksamkeit auch das Studium der damaligen grundlegenden nationalökonomischen Literatur aufgenommen. Am meisten beeinflusste ihn Henry George‘s
Arbeit „Fortschritt und Armut“, das ihn zu einem begeisterten Anhänger der
Bodenreform oder besser ausgedrückt der Bodenrechtsreform machte.
Aus seiner Basler Tätigkeit ist hier neben seinem Wirken für die Konsumgenossenschaft die Gründung der Gesellschaft „Freiland“ zu erwähnen, in welcher er die Freunde der Bodenrechtsreform aus Basel und der ganzen Schweiz
zusammenführte und eine rege Tätigkeit entfaltete. Theoretisch waren die Postulate der „Freiland“-Bewegung durchaus begrüssenswert, doch eine völlige
Ueberführung der Grundrente in das Gemeineigentum, welche die „Freiland“Bewegung postulierte, erwies sich als nicht realisierbar; sie stiess auch auf den
Widerstand gerade derjenigen Kreise, der armen Landwirte, die man durch eine
Verstaatlichung der Grundrente von immer drückender werdenden Hypothekarzinsen und vor weiterer Bodenverschuldung bewahren wollte.
Neben den Endzielen der Bodenreform vertrat J. Fr. Schär eine grosse
Zahl von leichter durchzuführenden Postulaten und warb durch Zeitungsartikel,
Broschüren, Vorträge und Anträge in den Behörden für deren Verwirklichung.
Sie lauteten unter anderem: Vermehrung des öffentlichen Grundbesitzes, Bau
von Arbeiterwohnungen durch den Staat und Verstaatlichung der Wasserkräfte.
Schär ergriff auch die Initiative zur Gründung der Basler Kantonalbank. Auch
hier waren viele Widerstände zu überwinden. Während der Periode von 1893 bis
1896, da Schär dem Grossen Rate nicht mehr angehörte, blieb seine Motion in
den Schubladen des Regierungsrates liegen. Die Vorberatungen wurden erst mit
dem Wiedereintritt Schärs in den Grossen Rat aufgenommen und unter seiner
tatkräftigen Mitwirkung zu Ende geführt. Heute ist die Basler Kantonalbank eine der jüngsten unter den 27 Kantonalbanken - eine der stärksten im Kranze
der Schweizer Kantonalbanken.
Eine ganz wichtige Angelegenheit, die ebenfalls von der „Freiland“-Bewegung in die Hand genommen wurde, war die Frage der Verwertung der schweizerischen Wasserkräfte. 1891 veröffentlichte Schär einen packenden Aufruf an
das Schweizervolk, in dem er auf die Gefahren einer privatkapitalistischen und
zugleich unsystematischen Ausbeutung der Wasserkräfte hinwies. Kurz darauf
reichte die Gesellschaft „Freiland“ eine ausführlich motivierte Petition an die
Bundesversammlung ein. Die Eingabe wurde zwar abgelehnt, blieb dann doch
nicht ganz erfolglos. Die meisten Kantone errichteten eigene Wasserkraftwerke
oder stellten schützende Bestimmungen auf, so dass heute in der Schweiz die
gemeinwirtschaftliche Ausbeutung der Wasserkräfte überwiegt.
O.Schär, 1945. Siehe Transkription des gesamten Textes: T 2
43
52. Titelseite Die Bank im
Dienste des Kaufmanns, von
J.F.Schär, 1922
52a. Titelseite Maier-Rothschild, Handbuch der gesamten Handelswissenschaften,
Hrsg. J.F.Schär, 154. Tausend, 1919.
44
J.F. Schär als Professor an der Universität Zürich
1903 - 1906
45
Die grössten Erfolge waren Schär auf wissenschaftlichem Gebiet vorbehalten. Im Jahre 1903 berief ihn die Universität Zürich als ordentlichen Professor
auf den neu errichteten Lehrstuhl für Handelswissenschaften. Sie promovierte ihn auch zum Dr. jur. h.c. für seine Verdienste und die Förderung der Handelswissenschaften und die Entwicklung des Konsumvereinswesens. Trotzdem
folgte Schär im Jahre 1906 einem verlockenden Rufe als Professor an die Handelshochschule in Berlin, wo ihm neben handelswissenschaftlichen Vorlesungen
besonders die methodische Ausbildung der Handelslehrer obliegt. (Aus dem Artikel «Zum 70. Geburtstag von Johann Friedrich Schär», Autor unbekannt).
53. Johann Friedrich Schär
Berufliches Pflichtpensum von
J.F.Schär als ordentlicher Professor der Handelswissenschaften an der staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität
in Zürich 1903-1906:
Verpflichtung zu 10-12 wöchentlichen Stunden Vorlesung
und Seminarien über sämtliche
Gebiete der Handelswissenschaft.
J.F.Schär, 1924a, S.45: Meine Nebenbeschäftigungen trugen mir herzlich
wenig ein. Ein kleines Absatzhonorar für meine fachwissenschaftlichen Werke, für meine Gutachten und Privatstunden, im ferneren ein ganz bescheidenes
Sitzungsgeld für meine Mitarbeit in der Verwaltung der Genossenschaften und
der Aktiengesellschaften, machten auf die Basler Jahre verteilt an Durchschnitt
per Jahr kaum Fr. 500.- aus. Alles andere, auch die Zeitungsartikel, brachten mir
nichts ein als Kampf, Verkennung, Feindschaft, sogar Verleumdung.
Wie wenig die Oeffentlichkeit an eine selbstlose, uneigennützige Hingabe
für das Volkswohl gewöhnt ist, dafür einige Beispiele. Im Kampf um die Kantonalbank unterstellte mir Burckhardt-Bischoff im Grossen Rat, ich strebe nach
der Bankdirektorstelle und warnte den Grossen Rat vor mir, als einer, der aus den
Basler Finanzen ein zweites Panama machen könnte. Bei meiner Propaganda für
die Verstaatlichung der Wasserkräfte betitelte die Allgemeine Schweizerzeitung
mich als «Eidgenössischer Wasserkraftdirektor in spe». Auch meine Bemühungen um die Handelshochschule wurden offen in Wort und Schrift bekämpft als
dem persönlichen Strebertum des Agitatoren Schär, der Direktor dieser Anstalt
werden möchte, entsprungen. So war alles, was ich mit Feuereifer anstrebte,
Kantonalbank, Freiland, Verstaatlichung der Wasserkräfte, der Eisenbahnen, die
Grundrente, insbesondere auch meine exponierte Betätigung im Konsumverein,
im Verband schweiz. Konsumvereine usw. der Anlass der Gegnerschaft seitens
aller derjenigen, die dadurch in ihren Privatinteressen geschädigt wurden oder
die sich den angestrebten Sozialreformen widersetzten.
54. Zürich, die Gemüsebrücke um 1900
Aus dem Bildband Zürich um
1900
Kein Wunder, dass der Erziehungsdirektor, Dr. Burckhardt, 1902 eine Erhebung über meine Nebenbeschäftigungen machte und mich 1903 nötigen wollte, als Präsident des Verbandes schweiz. Konsumvereine zu demissionieren und
auch im A.C.V. nicht mehr zu arbeiten. Ich versprach, dem Begehren zu entsprechen. Da kam für mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel die Berufung an die
Universität in Zürich. (J.F.Schär, 1924a, S.45)
55. Das Verzeichnis sämtlicher in Buchform erschienenen Werke von Dr. Joh.
Friedrich, Schär
(Schär, 1924a)
Das vollständige Verzeichnis
seiner Publikationen findet sich
im Anhang (Bibliographie).
46
56. Schär, Johann Friedrich,
1911: Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Berlin
1911, Neuauflage 1981, Nikon
Shoseki Ltd.
57. J.F.Schär, Der Soziale
Handel, Berlin 1919.
Eine Ansprache, in der Schär
zur Feier des Geburtstages des
Deutschen Kaisers 1916, in
der Aula der Handelshoschule
Berlin, seine Theorie umriss.
J.F. Schär als Wissenschafter
1903 - 1919
Th. Brogle: Namentlich aber bleibt der Name Schär für immer verbunden
mit der Entwicklung der Beriebswirtschaftslehre, die sich innerhalb vierzig Jahren aus einem rein technischen Fache zu einer nach systematischer Vollkommenheit strebenden Hochschuldisziplin entwickelt hat. Die Schriften Schärs
wirkten bahnbrechend, zumal sie aus der Feder des gereiften Mannes flossen,
der eigentlich erst mit 60 Jahren - zuerst als Professor an der Universität Zürich,
nachher an der Handelshochschule Berlin - seine wirtschaftswissenschaftliche
Forschungsarbeit begann. In diesem Alter aber ist das Weltbild in fachwissenschaftlicher und weltanschaulicher Beziehung abgeschlossen, und die äusserst
fruchtbare Forscherarbeit, die Schär während 12 Jahren in Berlin entfaltet, trägt
überall das Gepräge des auch in wissenschaftlicher Hinsicht ausgereiften Mannes, der klärend und ordnend in die oft stürmischen fachwissenschaftlichen Debatten eingreift und der manch entscheidendes Wort namentlich in der brennend
gewordenen Fage über den Wirtschaftscharakter der von ihm vertretenen jungen
Disziplin zu sagen hat. (Th. Brogle, 1947, T3)
J.F.Schär - Der soziale Handel: Unter sozialem Handel, dessen Begriff ich
zuerst in die Literatur eingeführt habe, verstehe ich jede Art von Handelsgewerbe, Industrie, Geld- und Kreditverkehr inbegriffen, das lediglich im Interesse
des Staats- oder Gemeindehaushaltes oder Konsumgenossenschaften betrieben
wird. Auch der soziale Handel muss, wie der private Handel, von Kaufleuten geleitet werden; aber die ausführenden Kaufleute sind nicht Unternehmer, sondern
Angestellte (Treuhänder) der Gesellschaft, des Staates, der Gemeinden oder der
freien Genossenschaften ... Wie niemand an sich selbst verdienen oder gewinnen
kann, so ist auch im sozialen Handel das Gewinnprinzip vollständig ausgeschaltet.
Der Grundgedanke des sozialen Handels ist nicht, Reichtum zu Handen der
Unternehmer oder Kapitalisten anzuhäufen, sondern Reichtum zu Handen der
Gesamtheit zu erzeugen und die Wohlfahrt des Ganzen zu begründen und zu fördern. Ich habe eben den Handel von einer höheren Warte aus aufgefasst. Nicht
nur muss der soziale Handel als ein notwendiges Glied in den Handelsbegriff
einbezogen werden, sondern auch die Unternehmer des privaten Handels müssen sich bewusst werden, dass sie nur dann existenzberechtigt und existenzfähig
sind, wenn sie sich als nützliches Glied dem Organismus der Volkswirtschaft
ein- und unterordnen. Der echte Kaufmann muss ein Diener der Volkswirtschaft
werden, dessen Gehalt in einer Tantieme des Nutzens besteht, den er leistet ...
Unter der Herrschaft der Konkurrenz, der Grossbetriebe, unter dem Einfluss des
sozialen Handels hat auch der private Handel der Neuzeit sich neu orientieren
müssen, so dass für ihn die Definition gilt: der Handel ist der nach Grundsätzen
der Wirtschaftlichkeit und Zweckmässigkeit organisierte Güteraustausch zwischen den Endgliedern der Wirtschaft. (J.F.Schär, 1920, S.18)
J.F.Schär: Dass diese Aufgabe des Handels, insbesondere in dem Umfange
der Versorgung der Massen mit den notwendigen Bedarfsgütern, vom sozialen
Handel am besten gelöst wird, bedarf keines besonderen Beweises, da der soziale Handel nach dem Prinzip der Selbstkosten unter Ausschaltung des Unternehmergewinnes organisiert ist. (J.F.Schär, 1920, S.17)
58. Lithographie von C.Oslik, 1916
47
48
J.F. Schär als Wissenschafter
1903 - 1919
49
Kritische Einwände eines
ehemaligen Schülers:
Wenn ich - einst der begeisterte
und immer dankbare Schüler
Schärs - heute Schärs fachwissenschaftliche Leistung
kritisch überprüfe, so vermag
ich vieles von dem, was vor 20
Jahren noch mir unantastbares
Lehrgut bedeutete, nicht mehr
mit Ueberzeugung zu vertreten. Vor allem steht fest, dass
den Betriebsgrundsätzen, die
die Grundpfeiler seiner Theorie
bilden, keine wissenschaftliche
Objektivität zukommt.
59. J.F.Schär, Schematische
Darstelluung seiner Theorie
des „Sozialen Handels“.
Datum unbekannt.
Schär hat seine persönliche,
ethisch fundierte Weltanschauung dazu benützt,ein Lehrsystem zu schaffen, in dem der
Wirtschafter, vor allem der
Kaufmann, als Idealbegriff
figuriert und in dem ferner das
wirtschaftliche Handeln nicht
als ökonomische Erscheinung,
sondern als kategorischer
Imperativ der Pflicht, als neues
Evangelium zur Erreichung
des sozialen Ausgleichs seinen
Platz erhält.
Für eine wissenschaftliche, das
heisst von allen praktischen
Gesichtspunkten freie Darstellung, wie sie die moderne
Betriebswirtschaftslehre sein
will, aber verlieren Schärs
Argumente an Bedeutung.
59a. Schär, Johann Friedrich, 1922: Buchhaltung
und Bilanz.
Neuauflage 1995, Edition
“Classic”, VDM Verlag
Dr.Müller
60. Prof. Dr. Th. Brogle,
1893-1959
Ein einstiger Schüler von
J.F.Schär, war Brogle 19261931 Professor an der
Handelshochschule St.Gallen,
, 1947-51 Nationalrat, 1931-38
Rektor der Kantonalen Handelsschule Basel, 1951 Prof.
für Betriebswirtschaftslehre an
der Universitär Basel.
Solche kritischen Einwände - sie liessen sich noch
vermehren - aber vermögen
nicht, Schärs Verdienste um
die Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre irgendwie herabzusetzen. Johann Friedrich
Schär bleibt der Begründer der
modernen Betriebswirtschaftslehre, weil er es als Erster
unternommen hat, aus einem
Konglomerat von überlieferten
und übernommenen Wissenschaften und Techniken jenen
gehaltvollen Rest herauszufinden und auszuscheiden, aus
dem seine Nachfolger an den
verschiedensten Hochschulen
der Welt die Betriebswirtschaftslehre als selbständige
Wissenschaft zu stabilisieren
vermochten.
(Prof. Dr. Th. Brogle, T3)
50
J.F. Schär als Professor an der Handelshochschule Berlin
1906 - 1919
51
Professor der Handelswissenschaften an der Handelshochschule Berlin
Ende Mai schlugen mir die Ältesten der Handelshochschule
Berlin vor, auf ihre Kosten eine
zweimonatige Studienreise
durch Deutschland zu machen.
Ich reiste acht Wochen durch
Deutschland, besuchte alle
grösseren Handelsstädte, kaufmännische, industrielle und
Transportunternehmungen, um
ihre Organisation, den kaufmännischen Betrieb und das
Rechnungswesen kennen zu
lernen und mir ein gutes Bild
der Volks- und Privatwirtschaft
Deutschlands zu verschaffen.
Das war entschieden die beste
Vorbereitung auf mein neues
Lehramt.
Ich vollzog meine Uebersiedlung nach Berlin Ende August
1906, wo ich eine Villa in
Gross-Lichterfelde Ost bezog
und Anfang September meine
schriftstellerische Arbeit aufnahm.
Schär, J.F., 1924, S.57
Abfassung und Drucklegung
neuer Werke:
Die Bank im Dienste des
Kaufmanns. Verlag bei G.A.
Gloeckner in Leipzig, 1908.
Kalkulation & Statistik im
genossenschaftlichen Grossbetrieb, Verband schweiz.
Konsumvereine. 1910.
Allgemeine Handelsbetriebslehre (verfasst auf Grund
jahrzehntelanger Studien, Vorlesungen, Erfahrungen). Verlag
G.A. Gloeckner, Leipzig 1911.
61. Handelshochschule Berlin 1906 (aus Deutsche Bauzeitung Nr. 86 vom 27.10.1906)
1904 beschloss die Berliner
Kaufmannschaft, auf dem
Grundstück zwischen Spandauer Straße, Neue Friedrichstraße
(heute: Anna-Louisa-KarschStraße) und Heilig-Geist-Gasse
ein Gebäude für eine neu zu
gründende Handelshochschule
zu errichten. Am 27. Oktober
1906 wurde die Berliner Handelshochschule feierlich eröff-
net. Zu den Dozenten zählten
renommierte Wirtschafts- und
Sozialwissenschaftler wie
Friedrich Leitner, Konrad Mellerowicz, Willi Prion, Johann
Friedrich Schär und Werner
Sombart.
52
J.F. Schär als Professor an der Handelshochschule Berlin
1906 - 1919
62. Linke Seite: J.F.Schär mit
den Kindern seiner zweiten Frau Olga und seinen
Enkelinnen Lisy, Marty und
Hanny.
Das Schicksal hat mich in
Berlin in härtester Weise heimgesucht. Am 21.Mai 1907, also
weniger als ein Jahr nachdem
ich nach Berlin kam, starb meine zweite Frau Olga plötzlich
an einem Herzschlag.
(Schär, J.F., 1924a, S.82)
1908 starb sein dritter Sohn
Otto, 1909 sein vierter Sohn
Arnold.
63. Rechts: Schärs Berliner
Wohnsitz, die Villa Helvetia.
Im Herbst 1909 erwarb ich
die bisher gemietete Villa
zu Eigentum und taufte sie
„Helvetia“ zum Wahrzeichen
für meine mich besuchenden
Landsleute, dass dort ein echter Schweizer zum Willkomm
bereit sei.
(Schär, J.F., 1924a, S.83-84)
64. Rechts: Johann Frierich
Schär, in Berlin-Lichterfelde,
mit, von links nach rechts:
Edith Stillmann, Privatsekretärin und zugleich Studentin
von Johann Friedrich Schär,
Hertha, Annabelle Krebs (ein
Besuch aus Amerike) und
Alwine.
Aufnahme von Ingenieur Grab,
bei der sich (nach handschriftlichen Angaben auf der
Rückseite des Fotos) die abgelichteten Personen während
20 Minuten nicht bewegen
durften.
53
54
J.F. Schär als Professor an der Handelshochschule Berlin
1906 - 1919
55
J.F.Schär, 1924a - Tod des Sohnes Arnold, Schlaganfall, Tochter Alwine und
Abschied von Berlin: Im Jahre 1909 war ich kaum aus den Herbstferien von der
Schweiz nach Berlin heimgekehrt, so erreichte mich die Schreckensnachricht,
dass mein vierter Sohn Arnold am Typhus erkrankt sei; er hatte bei seiner letzten Geschäftsreise nach Italien Austern gegessen, die, wie es sich herausstellte,
typhusvergiftet waren. Am 13. Dezember reiste ich auf die schlimmsten Nachrichten mit meiner Tochter von Berlin nach Winterthur, und morgens um 6 Uhr,
bei Nacht und Nebel, kam ich dort an. Welch trauriger Empfang; mein lieber
Arnold war in der Nacht um 3 Uhr gestorben; ich traf den gesündesten, grössten
und stärksten meiner Söhne, eine wahre Siegfriedgestalt, nur noch als Leiche an.
Er hinterliess eine trauernde Witwe und zwei kleine Kinder, Knaben im vierten
und zweiten Lebensjahr, und einen untröstlichen Vater, den der Seelenschmerz
fast überwältigte. Zum Glück war meine einzige Tochter unverheiratet. Sie kam
zu mir, gab ihren Beuf als Konzertsängerin auf, widmete sich mir und meinem
Hauswesen, wurde mein Trost im Alter und eine richtige Studentenmutter, die
als solche auch von meinen Schülern gefeiert war. Ich selbst versuchte es mit
dem einzigen Heilmittel, das gegen derartige tiefe Seelenschmerzen Linderung
und Heilung verschafft; ich stürzte mich in die Arbeit. Deswegen gehören auch
die Jahre 1907-1911 zu den früchtereichsten meines Lebens.
In den Sommerferien 1911 erlitt ich in Meiringen einen Schlaganfall, der
mir die Sprache und die Fertigkeit im Rechnen raubte; ich musste daher ein
halbes Semester meine Vorlesungen aussetzen, wurde aber mit der Zeit meiner
Sprache wieder mächtig. Im Herbst 1909 erwarb ich die bisher gemietete Villa
zu Eigentum und taufte sie «Helvetia» zum Wahrzeichen für meine mich besuchenden Landsleute, dass dort ein echter Schweizer zum Willkomm bereit sei.
Im Sommersemester 1916 wurde ich einstimmig vom Kollegium zum «Rector
magnificus» der Handelshochschule gewählt und von dem preussischen Ministerium bestätigt, trotzdem ich Ausländer war.
Nachdem der Waffenstillstand beschlossen, der Friede in Sicht war und meine Kollegen, die im Heeresdienst waren, ihre während des Krieges unterbrochene Tätigkeit wieder aufnehmen konnten, gab ich im November 1918 auf Ende
des Wintersemesters 1919 meine Demission ein und liess mich in den Ruhestand
versetzen; ich stand damals im 73. Lebensjahr und hatte 54 Dienstjahre, 108
Semester hinter mir. Im Einverständnis mit meinen Angehörigen verkaufte ich
meine Villa in Berlin und siedelte am 15. Februar nach Basel über. Der Abschied
von Berlin war mir schwer; ich erhielt ungezählte Beweise der Dankbarkeit und
der Anhänglichkeit seitens meiner Schüler, Kollegen und Freunde. Am 15. Februar reisten wir über München nach Basel. Schär, J.F., 1924a, S.82-84.
65. Linke Seite: Alwine
Schär, die ledige, dauernd
unglücklich verliebte Tochter
von Johann Friedrich, war eine
Sängerin klassischer Musik.
Wenn sie als Gast im Hause
unseres Grossvaters auftauchte, kam es immer zu heftigen
Streitereien. Mit ihrem behand-
schuhten Finger strich sie
jeweils über die Möbel um zu
prüfen, ob diese auch tadellos
abgestaubt waren. Am Tisch
las sie jeweils ihre Liebesbriefe
vor, während die ganze Familie
in ehrfürchtigem Schweigen
zuhörte. (Aus „Le livre d’omi“
von Oscar Burlet).
66. Johann Friedrich Schär
66a. J.F.Schär mit Herthas
Sohn
56
J.F.Schärs letzte Jahre in Basel Freidorf
1919 - 1924
57
Ehrungen: 1904, kaum ein Jahr nach der Aufnahme seiner Vorlesungen an
der Universität Zürich, wurde Schär von der staatswissenschaftlichen Fakultät
der Ehrendoktor verliehen mit folgender Begründung: «Wegen der hervorragenden Verdienste um die Förderung der Handels- wissenschaften und um die Entwicklung des Verbandes schweiz. Konsumvereine». Das Diplom datiert vom 28.
Februar 1904 und ist unterschrieben vom Rektor Prof. Dr. Haab; Dekan Prof. Dr.
Zürcher; Aktuar Dr. Max Huber.
Für seine Verdienste um die Handelswissenschaften wurden Johann Friedrich
Schär im Sommer 1923, viereinhalb Jahre nach seiner Rückkehr in die Schweiz,
von der Wirtschaftlichen und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität
Köln die Würde und die Rechte eines Doktors der Staatswissenschaften, Doktor rer. pol. honoris causa, verliehen mit folgender Würdigung, die wohl am
prägnantesten Schärs Verdienste um die Handelswissenschaften hervorhebt: «...
der die Handelswissenschaft zu neuem Leben erweckt und sie während eines
halben Jahrhunderts in Lehre und Forschung erfolgreich ausgebaut, der der Handelshochschulpädagogik bedeutsame Anregungen gegeben, der in weitverbreiteten Lehrbüchern dem kaufmännischen Nachwuchs gründliches systematisches
Fach- wissen vermittelt hat, der seinen Studierenden zugleich ein warmherziger
Berater und väterlicher Freund war.» (Prof. Dr. Th. Brogle, T3)
67. Johann Friedrich Schär
mit seiner Tochter Alwine in
Berlin, um 1910
Übersiedlung nach Basel: Auf Ende Wintersemester 1919 habe ich die Brücken in Berlin abgebrochen, von der Handels-Hochschule und von meiner Lehrtätigkeit Abschied genommen und bin in meine Heimat zurückgekehrt. Meine
Villa «Helvetia» in Berlin habe ich mit einem neuen Heim der Siedlungsgenossenschaft Freidorf bei Basel vertauscht. (Schär, J.F., 1924a, S. 84)
70. Modell des Standbildes
von Johann Friedrich Schär,
das sich laut National-Zeitung
vom 5.6.1923 in der Handelshochschule in Berlin befinden
sollte.
68. Das Haus in Basel/Freidorf, in dem Schär seine
letzten Jahre verbrachte.
2009, Foto Mike Gosteli.
69. Zeichnung J.F.Schär bei
der Arbeit, um 1922.
Rückseitige Notiz von Alwine Schär: Kopfstudie von
unserem lieben Vater Johann
Friedrich Schär, gezeichnet bei
einem Besuch in Freidorf, Basel, von meiner Freundin, der
Künstlerin Charlotte Wallinek.
J.F.Schärs letzte Jahre in Basel Freidorf
58
71. Die Ausgabe des Organs
des VSK vom 23. März 1946
zum 100-jährigen Jubiläum
von Johann Friedrich Schär.
Die darin erschienenen Nachrufe von Dr. Henry Faucherre,
Dr. Oskar Schär und Prof. Dr.
Theo Brogle sind im Anhang
unseres Bandes vollständig
wiedergegeben. (T1-T3)
72. Rechte Seite: Das Familiengrab Schär im Friedhof
Hörnli in Basel.
2009, Foto Mike Gosteli
Johann Friedrich Schär
verstarb am 25. Sept. 1924 in
Freidorf
1919 - 1924
59
60
61
Familie Schär-Haller
73. Unsere Grosseltern Anna
Haller und Oskar Schär
Anna Haller, die zusammen
mit ihren beiden Brüdern Otti
und Ruedi in Genf aufwuchs,
heiratete 1900 mit 18 Jahren
den um 16 Jahre älteren Oskar
Schär und zog zu ihm nach
Basel.
62
Alt-Nationalrat Dr.
Oskar Schärs Lebenswerk
Aus dem Nachruf von Eugen
Dietschi in der Basler National-Zeitung Nr. 216 vom
Mittwoch, 14.Mai 1947, den
wir auf den folgenden Seiten
(bis zur Seite 80) vollständig
wiedergeben.
Siehe auch im Anhang die
Transkription T5
Oskar Schär Strafrecht und politische Tätigkeit
Mit eiserner Energie hat Dr. Oskar Schär, körperlich gebrochen, geistig aber
frisch und beweglich, seit Monaten dem Tode getrotzt. Das schwere Leiden
schwächte immer mehr die Kräfte des Neunundsiebzigjährigen, hinderte ihn
aber nicht, bis in die letzten Tage wach und kritisch das öffentliche Geschehen
zu verfolgen, immer wieder zur Feder zu greifen, um sich besonders mit Wirtschafts- und Finanzfragen konstruktiv auseinanderzusetzen. Noch vor wenigen
Tagen nahm er in einem Artikel scharf pointiert zu den neuen Wirtschaftsartikeln Stellung und verlangte klärende Zusicherungen für die Genossenschaften; noch vor zwei Wochen sass er im Bankausschuss der Basler Kantonalbank,
deren Entwicklung und Gedeihen ihm sehr am Herzen lag, nachdem er eben
noch an der Neuredaktion des Bankgesetzes, das zur Zeit vor dem Grossen Rate
liegt, entscheidenden Anteil genommen hatte. Eine bewundernswerte Vitalität
zeichnete Oskar Schär aus, die aber schliesslich doch zur Kapitulation gezwungen wurde. Der Zerfall der körperlichen Kräfte des Schwerkranken machte in
den letzten Tagen so rasche Fortschritte, dass seine Ueberführung in das Spital
notwenig wurde, wo dieser unentwegte Kämpfer am Mittwochvormittag seine
hellen Augen für immer schloss.
Mit Dr. Oskar Schär verliert Basel eine starke und einmalige Persönlichkeit,
die während Jahrzehnten nicht nur auf der politischen Bühne der Stadt und der
Eidgenossenschaft eine hervorragende und führende Rolle spielte, sondern vor
allem in der Wirtschaftspolitik neue Wege wies. Oskar Schär hat sich für die Erstarkung des Genossenschaftswesens und den Aufschwung des schweizerischen
Konsumgenossenschaftswesens ein Leben lang kompromisslos eingesetzt und
Pionierarbeit geleistet. Familientradition, persönliche Eigenart und politische
Anschauung, verstärkt und geklärt durch ein aus der Rechtswissenschaft gezogenes scharfes und gradliniges Denken waren die inneren Grundlagen seines
Wirkens. Seine Kraft kam aus dem Denken, aus der Ueberlegung, und sein
Schaffen war konstruktiv, aufbauend und klärend. (Dietschi, 1947, T5)
74. Links: Der bereits schwer
kranke Oskar Schär um
1946/47, kurz vor seinem Tod
75. Rechte Seite: Oskar
Schär auf seinem Weg zur
Arbeit.
Er pflegte den Weg von der
Bachlettenstrasse zum Verwaltungsgebäude des V.S.K. an
der Thiersteinerallee immer zu
Fuss zurückzulegen.
1868 - 1909
63
64
Oskar Schär als Genossenschafter und Politiker
1909-1945
76. Rechts: Das Diplom zum
Doktorexamen von Oskar
Schär
1909 wurde Oskar Schär vor die Alternative gestellt, seine Stellung weiter
auszuüben oder aber sich aktiv im Genossenschaftswesen zu betätigen. Er resignierte als Strafgerichtspräsident und trat als Vizepräsident und Sekretär an die
Spitze des V..S.K., an dessen Aufstieg zum genossenschaftlichen Grossbetrieb
er mit aller Energie und seinen reichen Fähigkeiten mitarbeitete.
Oskar Schär wurde am 7. Juni
1868 im bernischen Wattenwil geboren und ist, bis zur
Gymnasialzeit in Biel, dort
aufgewachsen.
Nach Absolvierung der oberen
Klassen des Basler Gymnasiums studierte Oskar Schär
Jurisprudenz an der Basler und
an deutschen Universitäten und
war, seiner politischen Gesinnung entsprechend, ein prominentes Mitglied der Helvetia.
Bald nach dem Doktorexamen
und einem kurzen Volontariate
im Bureau Dr. Paul Scherrers
wurd er Staatsanwalt und am
25. November 1895 zum Strafgerichtspräsidenten gewählt,
ein Amt, das er als tüchtiger
Kriminalist und sozial gesinnter Richter beinahe anderthalb
Jahrzehnte - bis Ende Mai
1909 - verwaltete.
Er war nicht nur ein Mann der Aktivität, sondern auch ein Wächter. Ein
Wächter über die Genossenschaftsidee an sich, die er bis in die letzten Konsequenzen vertrat, aber auch ein Wächter über die richtige Handhabung der aus der
Genossenschaftsidee entwickelten Tathandlungen, herrührend aus einer festumrissenen liberalen Weltauffassung. Sein Tun war Geradheit und Konsequenz.
Es verging keine Session der Bundesversammlung, ohne dass Oskar Schär dem
Schreibenden in ausführlichen, hervorragend dokumentierten Briefen seine
Stellungnahme zu aktuellen Wirtschafts- und Finanzfragen übermittelte. Immer
wieder kam darin zum Ausdruck, dass er die Freiheit als der Güter höchstes betrachtete. Diese Hochschätzung der Freiheit befähigte ihn, in jeder Frage einen
sichern Standpunkt zu finden. Mit Autorität trat er auch immer für die Wahrung
der politischen Neutralität in der Konsumgenossenschaftsbewegung ein, in der
er nicht eine Partei- oder Klassenbewegung, sondern eine Volksbewegung erblickte.
Nach dem Rücktritt von Dr. Bernhard Jaeggi trat Dr. Oskar Schär als Präsident an die Spitze des V.S.K.. Bis Ende Juni 1939 hielt Oskar Schär das Steuer
des V.S.K. mit Ueberzeugung und Geschick in festen Händen. Insbesondere auf
dem Gebiete des Rechtswesens und der Gesetzgebung, soweit sie das Genossenschaftswesen berührten, hat er, durch seine ausgezeichneten juristischen Kenntnisse und seinen praktischen Sinn für die Erfordernisse der Zeit der schweizerischen Genossenschaftsbewegung grosse und unvergängliche Dienste geleistet.
Dietschi, 1947, T5
Dietschi, 1947, T5
65
78. Eugen Dietschi-Amberg
(1896-1986). Foto André
Muelhaupt.
Eugen Dietschi war 1921 und
1967 Redaktor der „NationalZeitung“, 1929-1968 Grossrat, 1941-1960 Nationalrat,
1960 Ständerat. 1954 - 1960
Präsident der Freisinnig-demokratischen Partei der Schweiz.
Weitere Präsidien: Basler
Orchestergesellschaft, Schweizerischer Presseverein, Bankrat
der Basler Kantonalbank.
Er war Mitbegründer der
Balair und gründete 1928 die
Sektion Basel des Aero Club,
die er bis 1942 präsidierte.
Heidy: Dietschi war ein guter
Freund unseres Grossvaters.
Seine Frau, die wir Tante Gret
nannten, war eine begabte
Pianistin, eine herbe, aber humorvolle, kluge Frau, die sich
mit Omi und unserer Mama
gut verstand.
77. Porträt Oskar Schär, in
jungen Jahren. Autor unbekannt.
79. Links: Die Verwaltungskommission des V.S.K. von
1930-1934.
Von links nach rechts: Otto
Zellweger, Maurice Maire, Dr.
Bernhard Jaeggi, Präsident; Dr.
Oskar Schär, Vizepräsident.
66
Oskar Schär als Genossenschafter und Politiker
1909-1945
Gleich seinem Vater trat Oskar Schär in die Freisinnige Partei, um hier eine
ausgesprochene Linksrichtung zu verfechten. Die Kämpfe blieben nicht aus.
Sie führten sogar zur vorübergehenden Trennung, indem Oskar Schär eine eigene Linkspartei, die demokratische, gründete, die aber im Jahre 1917 sich wieder
mit der Freisinnigen zur Radikal-Demokratischen Partei zusammenschloss.
Dem Grossen Rate gehörte Dr. Schär von 1905, mit Unterbruch einer Wahlperiode, bis im Frühjahr 1938 an. Er präsidierte den Rat 1935/36 und meisterte
in zahlreichen Kommissionen ein gewaltiges Arbeitsmass. Während mehreren
Jahren präsidierte er die Rechnungskommission; er arbeitete bestimmend am
Zustandekommen des neuen Beamtengesetzes als Präsident der grossrätlichen
Kommission; auch war er der Verfasser des Grossratsreglementes, das er, aus
reicher parlamentarischer Erfahrung schöpfend, grosszügig und arbeitsrationell
ausgestaltete. Schär marschierte auch in der vordersten Front bei der Einführung der durch die Radikalen lancierten Altersfürsorge. Von 1913 bis 1917 war
er Mitglied der Justizkommission, gehörte von 1927 an während mehr als 20
Jahren als Richter dem Appellationsgericht an, widmete sich aber auch Erziehungsfragen, wo er als langjähriges Mitglied der Inspektion der Knabensekundarschule und später des Gymnasiums sowie als Mitglied des Erziehungsrates
sich grosse Vedienste um die Förderung des Schulwesens erworben hatte. Er
war auch Präsident der Kommission für das neue Schulgesetz.
Von 1917 bis zum Herbst 1929 gehörte Oskar Schär dem Nationalrate an und
hat seine in Basel bekannten und geschätzten Eigenschaften und sein umfassendes Wissen auch in der Bundesversammlung betätigt.
Mit seinem Vater setzte sich Oskar Schär für die Verstaatlichung der Wasserkräfte ein; und als Kriminalist wirkte er an der Ausarbeitung des neuen Strafgesetzes entscheidend mit. (Dietschi, 1947, T5)
67
81. Dr.Oskar Schär Die
Verstaatlichung der schweizerischen Wasserkräfte, Basel
1904
82. Anfrage von Oskar Schär
an den Nationalrat vom 26.
Juni 1921.
Als Mitglied der Finanzkommission und der Finanzdelegation war er von der Verwaltung
gefürchtet; seine Gewissenhaftigkeit in der Ausübung der
Kontrolltätigkeit des Parlamentes war sprichwörtlich. Ihm
entging nichts, Stück für Stück
ging er die Belege durch, die in
vielen Bänden vor ihm lagen;
er sah alles, griff ein, und es
war nicht ein restloses Vergnügen für eine Verwaltung,
wenn sie in sein Referat fiel.
(Dietschi, 1947, T5)
80. Linke Seite: Oskar Schär
im Gespräch mit einem uns
unbekannten Herrn
68
83. Oben: Oskar Schär bei
einer Ansprache.
Anlass, Ort und Datum unbekannt.
Oskar Schär als Genossenachafter und Politiker
Bis in die letzten Tage seines Lebens hat Dr. Oskar Schär der Basler Kantonalbank seine Dienste zur Verfügung gestellt. Als Vizepräsident des Bankrates
und Präsident des Schweiz. Kantonalbankenverbandes nahm er unermüdlich
Anteil an der Entwicklung des Instituts, und als Präsident der Baukommission
darf ihm ein wesentlicher Anteil am Neubau des Bankgebäudes zugeschrieben
werden. Neben dem vollgerüttelten Tageswerk fand Schär immer noch Zeit,
sich schriftstellerisch zu betätgen. Zahllos sind seine Abhandlungen und Aufsätze über Wirtschaftsprobleme, über Genossenschaftsrecht, Verwaltungs- und
Steuerfragen, die in der Tages- und Fachpresse und in Broschürenform erschienen sind. (Dietschi, 1947, T5)
84. Rechts: Oskar Schär im
Gespräch mit einem Vertreter des Lebensmittelvereins
Zürich
85. Rechte Seite: Oskar
Schär, ça. 1940, in seinem
Arbeitszimmer an der Bachlettenstrasse 60 in Basel.
1909-1945
69
70
Oskar Schär als Genossenachafter und Politiker
1909-1945
86. Linke Seite, oben: Das
Verwaltungsgebäude des
V.S.K. an der Thiersteinerallee 24 in Basel
71
88. Ein Verkaufswagen der
Migros,
die damit die ursprünglich von
Pferden gezogenen Verkaufswagen des Consumvereins
kopierten.
Schlussendlich sei noch
erwähnt, dass es nicht nur die
Konsumvereine der Schweiz
waren, welche sich genossenschaftliches Gedankengut
zur Maxime machten. Auch
andere Institutionen bildeten
sich in jenen Zeiten. 1860 bis
1870 entstanden vor allem in
der Ostschweiz viele landwirtschaftliche Vereinigungen
und Genossenschaften, welche
1886 mehrheitlich im Verband
landwirtschaftlicher Genossenschaften VOLG aufgingen.
89. Rechts: Gottlieb Duttweiler mit seiner Frau.
Nachdem Gottlieb Duttweiler Anfang der vierziger Jahre seinen Migros-Unternehmungen die Rechtsform der Genossenschaft gegeben hatte, suchte er eine
Annäherung an die V.S.K.-Bewegung, in erster Linie an den Allgemeinen Consumverein beider Basel. Doch lehnte der Aufsichtsrat des V.S.K. in seiner Sitzung vom 22.März 1941 eine Zusammenarbeit mit Duttweiler ab. Er unterstellte
ihm (ohne konkrete Belege) die Absicht, die genossenschaftlichen Organisationen den Zielen einzelner Personen oder politischen Strebungen (...) dienstbar zu
machen oder aus anderen Gründen Uneinigkeit und Verwirrung in die Reihen
der Genossenschaftsbewegung hineinzutragen. (Handschin, 1954, S.290-291)
In Gesprächen während unseren Mahlzeiten galt die Migros als Erzfeind des
A.C.V., den wir alle zu meiden hatten. Es wäre für unsere Familie undenkbar
gewesen, dort etwas einzukaufen. (Die Herausgeber)
87. Linke Seite unten: Zwei
Räume des Verwaltungsgebäudes des V.S.K. am 4.März
1945, nach dem Bombardement der Stadt Basel durch
amerikanische Bomber, die
annahmen, sich über einer
deutschen Stadt zu befinden.
1925 gründete Gottlieb Duttweiler eine Verkaufsorganisation, die MIGROS, welche
ebenfalls den Zwischenhandel
auszuschliessen versuchte.
EPA, DENNER, WARO,
SPAR und andere Organisationen wurden viele Jahre später
zu weiteren Konkurrenten der
COOP.
(Handschin, 1954, S.17)
Oskar Schär in der St.Jakobs Loge des Odd Fellow Bundes
72
90. Besuchskarte der
St.Jakobs Loge des Odd
Fellows-Bundes für ihr Mitglied Oskar Schär.
Aus «In Memoriam Karl Oskar
Schär» : Ansprache Emil
Schmidlin. (T6)
Im Jahre 1893 ist Oskar Schär
als junger Jurist und schon
gereifter Charakter der St.
Jakobsloge der Odd Fellows
beigetreten. Im dritten Jahre
berief ihn das Vertrauen seiner
Brüder als Sekretär in das
Logenbüro. 1897 amtete er
als Untermeister, 1898 als
Obermeister der St. Jakobsloge. 1900 delegierte ihn unsere
Loge als Repräsentanten in
die Schweiz. Grossloge. 1904
bis 1910 hatte er das hohe und
verantwortungsvolle Amt eines
Gross-Sires des schweizerischen Ordenszweiges inne, das
höchste Amt, das eine LandesGrossloge zu vergeben hat.
91. Rechte Seite: Oskar
Schär um 1930.
1893 - 1947
73
74
92. An einer Fasnacht unbekannten Datums wurde
Oskar Schär von einem Tambourmajor verkörpert.
Es gilt als ausgesprochene
Ehre, an der Fasnacht durch
Cliquen mit Laternen, Masken
oder Schnitzelbänken repräsentiert zu werden, auch wenn
dabei vor allem Spott oder
Kritik zum Zuge kommen.
Durch seine Tätigkeit als
Strafgerichtspräsident und als
Vertreter des V.S.K. wurde
Oskar Schär immer wieder als
Fasnachts-Sujet gewählt.
Oskar Schär an der Basler Fasnacht
Die Fasnacht ist das Volksfest der Stadt. Ihre Anfänge reichen weit zurück,
die moderne Ausprägung entwickelte sich aber erst langsam im 19. Jahrhundert. Frühe Formen der Strassenfasnacht sind in den 1830er Jahren erkennbar,
auch der Morgenstrtreich geht auf diese Zeit zurück, hatte zunächst aber eher
einen militärischen Charakter. Mitte des 19. Jahrhunderts tauchten die ersten
grossen Laternen auf. Ab den 1870er Jahren existieren Fasnachtscliquen mit ihren typischen Pfeifern und Trommlern sowie den charakteristischen Laternen.
1911 übernahm das neu gegründete Fasnachts-Comité die Organisation der Fasnacht. Seit den 1930er Jahren bereichern Guggenmusiken mit Blechblas- und
Schlaginstrumenten sowie Waggiswagen das fasnächtliche Treiben, wie denn
überhaupt die Fasnacht in der Zwischenkriegszeit ihr heutiges Gesicht erhielt.
Zum Brauch gehören auch die Schnitzelbänke, in denebn das lokale und Weltgeschehen kommentiert wird. (Berner u.a., 2008, S.205).
93. Eine Laterne, die an einer
Fasnacht unter dem Motto
“A.C.V. – leider Gfasel”
Oskar Schär darstellt, der
irgendwelche Würdenträger wie Marionetten an den
Fäden hält.
75
76
Oskar Schär als Pater Familias
1910 - 1947
94. Linke Seite: Anna Haller
im Sonntagsstaat.
95. Oben: Opa und Oma als
junges Paar.
96. Rechts: Unsere Oma,
Anna Haller, wahrscheinlich
noch vor ihrer Heirat.
Sie stammte aus einer wohlhabenden Familie und war eine
ausgesprochen schöne Frau.
77
78
Oskar Schär als Pater Familias
99. Rechte Seite: Opa und
Oma mit ihrer ersten, 1903
geborenen Tochter Lisy.
97. Rechts: Die drei Töchter
Schär.
Von oben nach unten: Marty,
geb. 1905, Lisy, geb. 1903, und
Hanny, geb. 1911.
98. Otti Haller, der Bruder unserer Oma (Mitte),
in seiner Genfer Villa
als Gastgeber von Pierre
Mendès-France, französischer Premierminister von
1954-55 (zweiter von links),
und anderen französischen
Würdenträgern.
Als Besitzer eines bedeutenden Transportunternehmens in
Genf, war Otti Haller ein sehr
reicher Mann und wurde für
seine Frankreich geleisteten
Dienste mit dem Kreuz der
Ehrenlegion dekoriert.
Er hatte keine Nachkommen
und vermachte bei seinem
1953 erfolgten Tod sein gesamtes Vermögen den Kindern
unserer Tante Hanny Burlet.
1910 - 1947
79
80
Oskar Schär als Pater Familias
Oskar Schär war das gütige Haupt einer grossen Familie, der er alles bedeutete und die mit ihm in tiefer Liebe und Ehrfurcht eng verbunden war.
100. Unten: Anna Schär mit
ihren drei Töchtern Hanny,
Lisy und Marty, um 1915.
Auszug aus dem Brief, mit dem Oskar Schär auf die Bewerbung seines künftigen Schwiegersohns um die Hand seiner Tochter antwortete: Ich habe meine
drei Töchter in Freiheit erzogen und mehr Wert darauf gelegt, ihnen durch unser
Beispiel eine richtige Lebensführung als erstrebenswert zu machen, als durch
viel Gebote oder Verbote. (...) Nach dem Beispiel meines Vaters betrachtete ich
es als meine Pflicht, meinen Töchtern eine gute Erziehung zu geben, sie dasjenige lernen zu lassen, wozu sie Neigung hatten. Die älteste Tochter hat bis zum
25. Lebensjahr studiert, das Staatsexamen als Apothekerin bestanden. Marty
war zum Teil auf eigene Kosten in Frankreich, England und Italien, da sie auf
das Ergreifen eines akademischen Berufes verzichtete. Die jüngste Tochter geht
noch in die Schule. (Vollständiger Text im Anhang, T7)
101. Rechte Seite: unsere
Mutter Marty Schär.
1910 - 1947
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82
Oskar Schär als Pater Familias
1910 - 1947
102. Linke Seite: Opa vor
dem Erechteion-Tempel in
Athen
103. Rechts: Opa und Oma
in Griechenland
83
Heidy: Solange ich mich
erinnern kann, war unser Opi
immer perfekt gekleidet. Ob zu
Hause an seinem Schreibtisch
oder im heissen Libyen, am
Strand am Meer, auf seiner
Griechenlandreise und auch
in den Sommerferien, mit uns
Kindern im Heu: Gestärktes
Hemd, Kravatte, Gilet mit
Taschenuhr an einer Goldkette
und Jacke.
Auch unsere Oma war immer
elegant gekleidet.
Zur damaligen Zeit waren Reisen beschwerlicher und unendlich länger als heute. Opi hatte
immer alles minutiös vorbereitet und auch für die jeweiligen
Reisen unserer Eltern in die
Schweiz alles perfekt, bis zur
Feststellung der Wechselkurse,
organisiert, wohlverstanden
ohne Internet.
104. Unten: Opa und Oma in
Bengasi, Datum unbekannt.
84
85
Familie Bocola - Schär
105. Unsere Eltern, Marty
und Willy, zu Beginn ihrer
Beziehung in Mailand, um
1929
86
Das junge Paar bis zur Geburt von Sandro Bocola
106. Oben: Die Fontana di
Trevi in Rom.
107. Rechts: Opa und Oma
zusammen mit unserem Vater in Como, um 1929.
Unsere Mutter lebte Ende
der zwanziger Jahre während
einiger Monate in Mailand, um
dort Italienisch zu lernen. Zu
dieser Zeit kamen ihre Eltern
auf Besuch, um zusammen mit
ihr eine Ferienreise nach Rom
zu unternehmen. Dort logierten
sie in einem Hotel, in dessen
Speisesaal ihr Nachbartisch
von einem jungen, gut aussehenden italienischen Fliegeroffizier besetzt war.
Am nächsten Tag unternahm
Grossvater mit Frau und
Tochter eine Exkursion entlang
der Via Appia. Als er sich
dabei hoffnungslos verirrte,
wies er die Proteste seiner
beiden Frauen, die meinten,
kein vernünftiger Mensch
würde diesen Weg einschlagen,
dadurch zurück, dass er auf
den jungen Mann hinwies, der
in etwa 300 Meter Entfernung
den gleichen Weg zu verfolgen schien wie sie. Beim
Betreffenden handelte es sich
natürlich um unseren Vater, der
seiner Auserwählten folgte.
108. Rechte Seite: Unsere
Mutter Marty Schär um 1928
1929 - 1931
87
88
Das junge Paar bis zur Geburt von Sandro Bocola
1929 - 1931
89
109. Linke Seite: Willy Bocola, um 1929.
Man kann verstehen, dass
dieser gut aussehende, elegante
Südländer das Herz unserer
schweizerischen Mutter höher
schlagen liess.
110. Marty Schär, um 1929.
Man kann ebenfalls verstehen,
dass diese romantische, geheimnisvoll wirkende, fremde
Schönheit unserem Vater den
Kopf verdrehte.
Im Frühjahr 1929 lernte die damals 22-jährige Marty Schär (unsere spätere
Mutter) auf einer Ferienreise mit ihren Eltern in Rom den um zwei Jahre älteren italienischen Fliegeroffizier Willy Bocola kennen. Ihrer Begegnung muss einen gegenseitigen „Coup de foudre“ ausgelöst haben, denn nach nur drei Tagen
bewarb sich der junge Mann beim Vater seiner Auserwählten um deren Hand.
Dieser antwortete mit einem längeren Brief, in dem er über sich und seine Familie, seine berufliche Laufbahn, sein politisches Engagement und seine religiösen
Überzeugungen berichtete, und seinen Schwiegersohn in spe um entsprechende
Auskünfte bat (Siehe nächste Doppelseite).
Nach dessen befriedigender Antwort und der Einwilligung unseres Grossvaters war das Liebespaar zwar verlobt, eine Heirat lag jedoch noch in weiter
Ferne, denn als Militärpilot war es unserem Vater nicht gestattet, vor seinem
dreissigsten Altersjahr zu heiraten. Während der Wartezeit konnten sie sich nur
selten sehen: er war in Udine stationiert und sie lebte weiterhin bei ihren Eltern
in Basel, sodass sich ihre Kontakte auf regelmässigen Briefwechsel und sporadische gegenseitige Besuche beschränkten.
90
Das junge Paar bis zur Geburt von Sandro Bocola
1929 - 1931
91
112. Oskar Schär, um 1929.
Auszüge aus Opas Brief:
Ich habe in Basel, München
und Heidelberg studiert, 1892
den Doktor gemacht, war
ein Jahr Anwalt, 2 3/4 Jahre
schweizerischer Staatsanwalt
und dann zehn Jahre lang
Straf-gerichtspräsident in
Basel-Stadt, zuletzt Vorsitzender des
Gerichts für Strafsachen in
Basel. 1909, d.h. gerade vor
20 Jahren, trat ich als Direktionsmitglied in den Dienst des
Verbandes schweizerischer
Konsumvereine.
111. Oben: Die erste Seite
des Briefes, mit dem unser
Grossvater die Bewerbung
des jungen Italieners um die
Hand seiner Tochter beantwortete.
Transkription der beiden Briefe im Anhang unter T7 und T8
(...) Politisch war ich tätig als
Mitglied der schweizerischen
radikaldemokratischen Partei,
zeitweise hatte ich eine eigene
links-bürgerliche Partei gegründet und geleitet.
In Basel bin ich seit 1905
mit drei Jahren Unterbruch
Mitglied des Grossen Rates
und noch am 26. April mit der
höchsten Stimmenzahl meiner
Parteiliste wieder gewählt
worden.
(...) Seit Oktober 1917 gehöre
ich dem schweizerischen
Nationalrat an und bin vier
Mal bestätigt worden, gedenke
jedoch auf Ende Juni dieses
Jahres dieses Mandat niederzulegen, da ich meine Zeit für
wichtigere Sachen reservieren
muss.
(...) Politisch stehe ich also
bei einer Gruppe, die in Italien
nicht existiert. In der Schweiz
würden wir das System des
Faschismus bekämpfen, während ich mich in die Verhältnisse anderer Länder nicht
einmische. (Vergl. T7)
113. Oben: Siro Cuneo
dell‘Acqua (Mitte), der „Dok
tor“, auf den sich der Brief
unseres Vaters bezieht.
114. Links: Willy Bocola um
1929
Auszüge aus Vaters Brief:
...Ich wusste, dass sie vielleicht
einen in Basel wohnenden
Doktor geheiratet hätte. (...)
Der einzige Ausweg hier war
der Egoismus, und ich habe
kein Mittel gescheut, um Ihre
Marty an mich zu binden.
(...)Ich bin am 23. November
1905 geboren. Alles in allem
habe ich 16 Jahre studiert, davon 10 Jahre fern von meiner
Familie, da meine Geburtsstadt
nicht die Schulen besass, die
ich besuchen wollte. Im Juli
1925 hatte ich das Diplom als
Kapitän des langen corso beim
Istituto nautico von Piano di
Sorrento.
Ich hätte mich ohne weiteres eingeschifft, wenn nicht
damals die grosse Leidenschaft
für die Aeronautica begonnen
hätte, mich nicht in seiner ganzen Schönheit gelockt hätte.
Ich machte die Wettbewerbe
mit, um zugelassen zu werden,
und es ging mir gut. Ich besuchte dort die 3 Jahre des Studiums und Anwendung, bis ich
letzten Juni daraus als Leutnant
hervorging. Vor einigen Tagen
am 11. Mai wurde ich zum
Oberleutnant ernannt. In etwa
3 bis 4 Jahren werde ich glaube
ich Kapitän sein, denn ich sehe
meine Carriere wird sehr rapid
vorangehen ( Prosit).
(...) Es gibt unruhige Karaktere, Liebende der Freiheit,
leidenschaftlich für alles was
schön ist und Risiko darstellt.
Gefährlich oder in Gefahr leben könnte mein Leitwort sein.
Ich bin nicht der Mann dazu,
ein Bureauleben zu führen, ich
würde zu sehr leiden und das
Leben würde jede Anziehung
verlieren. Ich bin zu enthusiastisch für das Fliegen, um es
verlassen zu können. (T8)
92
115. und 116. Beide Abbildungen: Vater und Mutter
als junges Liebespaar. Um
1929.
Das junge Paar bis zur Geburt von Sandro Bocola
Erst als unsere Mutter im April 1930 mit Sandro schwanger wurde, entschloss
sich das junge Paar, das Heiratsverbot zu umgehen und sich in Italien zwar nicht
standesamtlich, doch in einer geheimen Zeremonie wenigstens kirchlich trauen
zu lassen.
Unsere Mutter zog zusammen mit ihrer engsten Freundin, Nelly Enderle,
(für uns später „Tante Nelly“), nach Udine, wo unser Vater stationiert war, und
wo die beiden unter ihrem Namen eine Wohnung mieteten, die sie anschliessend
mit unserem Vater teilten. Den Umständen entsprechend war dabei höchste Vorsicht geboten: um gefährlichem Gerede vorzubeugen, vermied das frisch getraute Paar, sich in der Öffentlichkeit zusammen zu zeigen; wollten sie gemeinsam
einen Film ansehen, so betraten sie das Kino unabhängig voneinander. Für die
bevorstehende Geburt reisten sie deshalb in das nahe gelegene Triest, wo Sandro
am 19. Januar 1931 in einem Hotelzimmer zur Welt kam. Den wenigen Personen, die den Neugeborenen später zusammen mit seinem Vater sahen, erklärte
dieser, Sandro sei der uneheliche Sohn seines Bruders. Bei der beruflich bedingten Übersiedlung der Familie nach Gorizia wurde ähnlich vorgegangen.
Während dieser Zeit war die junge Familie immer in engem Kontakt mit den
Grosseltern, mit denen sie die Ferien am Meer, in Riccione, oder in der Schweiz,
in Lenzerheide oder Adelboden verbrachte.
Als sie schliesslich nach Turin zogen, wo am 26. April 1935 Heidy geboren
wurde, hatte unser Vater sein dreissigstes Altersjahr endlich erreicht und konnte
nun unsere Mutter auch legal, d.h. standesamtlich, heiraten.
1929 - 1931
93
94
117. Oben: Das abgestürzte
Flugzeug unseres Vaters
Das junge Paar bis zur Geburt von Sandro Bocola
118. Links: Willy Bocola in
seiner Leutnants-Uniform,
um 1928.
Noch während seiner Verlobung mit unserer Mutter
stürzte unser Vater auf einem
Übungsflug mit seiner Maschine, einem Doppeldecker, ab.
Überraschenderweise erlitt er,
ausser einigen Schrammen am
Kinn und unter dem rechten
Auge, keinerlei Verletzungen.
Um die Narben an seinem
Kinn zu verdecken, liess er
sich einen Bart wachsen.
Leider verfügen wir über keine
weiteren Daten über diesen
Unfall.
119. Rechte Seite: Willy Bocola mit Bart, um 1929.
Unter dem rechten Auge sind
noch deutlich die Schrammen
zu sehen, die er sich bei seinem
Unfall zugezogen hatte.
1929 - 1931
95
96
Die italienische Familie
97
120. Die Familie BocolaParisi. Von links nach rechts:
Der jüngste Sohn Toto, der
Vater Alessandro Bocola, die
Tochter Eva, unsere Grossmutter, Maria Parisi, unser Vater
Willy und sein um zwei Jahre
ältere Bruder Manfredo.
Die italienische Familie
98
99
123. Der Grossvater Alessandro Bocola.
121. Oben: Eine Strasse in
San Severo, dem Sitz der Familie Bocola und Geburtsort
unseres Vaters. Um 1956.
122. Rechts: Die Pächter der
Farm, die unsere Mutter von
ihrem verstorbenen Mann
geerbt hatte.
Der Grossvater Alessandro Bocola war der Sohn eines reichen, doch verschwenderischen Vaters, der das ererbte Familienvermögen an Häusern und Farmen nach und nach versilberte und in Pferden, Frauen und herrschaftlichen Einladungen und gesellschaftlichen Auftritten ausgab, bis nichts mehr da war. Als
sein Sohn, unser Grossvater Alessandro, sich um die Hand Marias, der Tochter
der begüterten Familie Parisi, bewarb, widersetzte sich diese kategorisch seinem
Begehren und untersagte ihrer Tochter jeden weiteren Kontakt mit dem jungen
Bewerber. Doch war sie in diesen verliebt und entschloss sich, zusammen mit
ihrem Geliebten, das Dekret der Eltern zu missachten. Mit ihrer Einwilligung
„entführte“ er sie an einen versteckten Ort, ohne jede Angabe zu hinterlassen,
ausser der Erklärung ihrer beider Absicht, zu heiraten. Dies zwang die Parisis
nachzugeben, denn sollte die Entführung publik werden, wäre ihre Tochter entehrt. So waren sie schliesslich bereit, in die Heirat einzuwilligen.
Als Mitgift überliessen die Parisis dem jungen Paar ein repräsentatives Haus
in San Severo. Doch gelang es dem alten Vater Bocola durch Vorspiegelung
falscher Tatsachen, das Haus der jungen Familie zu verpfänden, um mit dem
ertrogenen Geld seine finanziellen Löcher zu stopfen. Unser Grosssvater Alessandro verfiel darauf in eine tiefe Depression, von der er sich nicht mehr erholen
sollte. Er sandte die beiden älteren Söhne, unseren Vater und dessen Bruder
Manfredo, zur weiteren Ausbildung in fremde Städte und zog sich völlig in sich
zurück. Er nahm zwar weiterhin an den gemeinsamen Mahlzeiten der Familie
teil, sprach jedoch dabei kein Wort. Möglicherweise litt er auch an einer schweren Krankheit. Jedenfalls trat er eines Tages nach dem Essen auf den Balkon und
schoss sich mit seiner Pistole eine Kugel in den Kopf, worauf er augenblicklich
tot war.
100
Geburt und frühe Kindheit von Sandro Bocola
1931 - 1935
101
124. Rechts: Der Geburtsschein von Sandro Bocola
Sandro: Mein Geburtstag
wurde immer am 19. Januar
gefeiert, obwohl in meinem
Pass der 15. Januar vermerkt
ist, was meine Mutter damit
erklärte, dass der Verwaltung
ein Fehler unterlaufen sei.
Ich ahnte schon seit langem
den wahren Sachverhalt: Da
ich vor der kirchlichen Heirat
meiner Eltern gezeugt wurde,
versuchte meine Mutter offensichtlich, mein reales Geburtsdatum, den 15. Januar, mit dem
des 19. Januar zu ersetzen, um
mich als ein „Sieben-MonateKind“ ausgeben zu können.
Bei der Recherche zu unserem
Buch entdeckte ich meinen
Geburtsschein, auf dem man
deutlich sehen kann, wie jemand das Datum umgeschrieben hat, was später mit Rotstift
korrigiert wurde.
126. Links: Nelly Enderle in
jungen Jahren.
Sandro: Nelly Enderle war die
beste Freundin meiner Mutter.
Als diese mit mir schwanger
war, reiste Nelly nach Udine,
um ihr bei der Geburt und
der Pflege des Neugeborenen
beizustehen.
125. Oben: Nelly Enderle mit
ihrem Gottenkind Sandro.
Aus dieser Zeit bewahrte
sie mir gegenüber während
ihres ganzen Lebens eine tiefe
Zuneigung, die unsere bis zu
ihrem Tod dauernde Beziehung
nährte.
Mit ihrer Tochter Margrit und
deren Ehemann Ruedi Brändle
sind meine Schwester und
ich bis heute freundschaftlich
verbunden.
127. Oben: Unsere Mutter
(rechts) mit ihrer Freundin
Nelly Enderle, die ihr später
in Udine mit der Pflege von
Sandro beistand.
128. Links: Marty Schär mit
ihrem neugeborenen Sohn
Sandro in Udine.
102
Geburt und frühe Kindheit von Sandro Bocola
1931 - 1935
129. Linke Seite: Sandro
mit seinem Grossvater am
Strand von Bengasi
130. Oben: Sandro in Riccione, um 1934
131. Rechts: Sandro, um
1935 in Turin.
103
Sandro: Ich habe praktisch
keinerlei Erinnerungen an
meine frühen Kinderjahre.
Auf den Fotografien jener Zeit
sieht man einen strahlenden,
selbstbewussten, der Welt
zugewandten, von der ganzen
Familie geliebten und behüteten Knaben.
104
Geburt und frühe Kindheit von Sandro Bocola
1931 - 1935
105
132. Linke Seite: Sandro mit
seinem Vater in Lenzerheide,
um 1935.
Sandro: Dieses Bild zeigt die
Kraft und Selbstsicherheit, die
ich als 4-5-jähriger Knabe aus
der Identifikation mit meinem
Vater schöpfte.
133. Rechts: Sandro in Basel,
um 1935, von Grossvatrer
und Vater flankiert.
134. Unten: Sandro in Basel,
von Eltern und Grosseltern
umgeben.
Sandro: In ihrem Schutz ver
brachte ich die ersten, glücklichen Jahre meines Lebens.
Deren Liebe sollte auch in
späteren, schwierigen Zeiten,
eine entscheidende Grundlage meines Selbstwertgefühls
bilden.
106
Willy Bocola als Pilot
107
135. Linke Seite: Die italienische Akrobatikstaffel, am
28. 9. 1932 in Udine/Campoformido.
Ohne jegliche elektronische
Navigationshilfe waren die
Flugzeuge jeweils nur
1 Meter voneinander getrennt.
136. Oben: Die Piloten der
italienischen Akrobatikstaffel. Am internationalen Flugmeeting in Zürich/Dübendorf
1932. Unser Vater steht ganz
aussen links.
137. Links: Die Staffel im
Rückenflug
Vaters Flugzeug – das vierte
von rechts - ist handschriftlich mit Bleistift markiert.
Unser Vater war ein hervorragender Pilot, Mitglied
der berühmten italienischen
Akrobatik-Staffel „La squadriglia folle“, die 1932 am internationalen Flugmeeting von
Dübendorf grösstes Aufsehen
erregt hatte.
1933 gewann er den Weltrekord für den längsten Rückenflug (1 Stunde und 6 Minuten).
Willy Bocola als Pilot
108
138. Drei Freunde und Kollegen beglückwünschen Vater
zu seinem Weltrekord im
Rückenflug, 1933.
109
139. Ausschnitt aus einer
Schweizer Zeitung.
Vaters Weltrekord wurde in
zahlreichen Beiträgen, vor
allem in der italienischen und
der schweizerischen Presse,
gewürdigt.
110
Geburt von Heidy Bocola
1935
111
142. Oben: Nach Heidys
Geburt am 26. April 1935 in
Turin. Unsere Mutter mit der
Neugeborenen.
140. Oben: Die Geburtsanzeige für Heidy Annemarie
Bocola
143. Rechts: Die vierköpfige
Familie kurz nach der Geburt Heidy‘s in Turin.
141. Linke Seite: Heidy mit
unserem Grossvater in Basel,
auf der Terrasse des Hauses
Bachlettenstrasse 60.
Heidy: Aus den Erzählungen
unserer Mama weiss ich,
dass sie mit mir eine relativ
schwierige Geburt hatte - dies
veranlasste unseren Vater, der
bei der Geburt anwesend war,
zu sagen „Mai più bambini“,
was zu einem geflügelten
Wort wurde. Später wurde mir
auch erzählt, dass ich als Baby
einmal so böse geschaut hätte,
dass unser Vater beim Eintreten lachend sagte „Alto le
mani!“ und dabei die Hände in
die Luft streckte“.
112
Grossfamilie Schär-Bocola
144. Links: Unser Vater mit
Heidy und Sandro in Turin,
um 1935.
Man spürt Sandros Missvergnügen ob der neuen Konstellation. Dies gilt auch für
die Aufnahme auf der rechten
Seite.
145. Rechte Seite: Sandro,
Heidy und Ruedi, der Sohn
von Tante Lisy, mit den
Grosseltern in Türnen. Um
1935.
Die letzten Jahre in
Italien
Sandro: Nach Heidys Geburt waren wir oft, besonders in den Sommermonaten, für längere Zeit in der Schweiz, wo wir zusammen mit Opa und Oma in
Lenzerheide oder Türnen die Ferien verbrachten. Wahrscheinlich litt ich während dieser Zeit unter der Eifersucht auf meine neugeborene Schwester, jedenfalls tendierte ich dazu, das Bett zu nässen, was mir den Übernahmen “Sandrino
Brünzeli” einbrachte.
Doch offensichtlich überwiegten die positiven Erfahrungen und das Bewusstsein meiner privilegierten Stellung als Erstgeborener: so durfte ich zum
Beispiel auf Ausflügen und Reisen, die wir mit unserem „Balilla“, einem der
ersten Kleinwagen der Fiat Werke, in die Schweiz oder zu unseren italienischen
Verwandten in San Severo unternahmen, oft auf Vaters Knien sitzen, das Steuerrad halten und auf ungefährlichen Strecken (natürlich unter seiner Kontrolle)
den Wagen allein steuern.
Wenige Monate nach der Geburt Heidys mussten wir von Turin wegziehen,
denn unser Vater war erneut versetzt worden, diesmal nach Bengasi, der zweitgrössten Stadt Libyens (damals noch italienische Kolonie), die wir Ende des
Jahres von Syrakus aus auf dem Seeweg erreichten.
146. Oben: Vater und Sohn
Bocola in Lenzerheide, um
1935-36.
1935 - 1936
113
Grossfamilie Schär-Bocola
114
1935 - 1936
115
147. Unser letzter Besuch
in San Severo vor unserer
Übersiedlung nach Bengasi,
Libyen.
Dieses um 1935 aufgenommene Bild zeigt die Mitglieder der
engeren Familie Bocola-Parisi
vollzählig.
Von hinten nach vorne, links
nach rechts: Manfredo und
Willy, Nonna Maria, Marty
Bocola, unsere Mutter und
Eva, die einzige Schwester
unter den drei Brüderrn. Dann
Toto, der jüngste Bruder, Tittina, die Frau Manfredos, und
ihr Sohn Sandro, dann Sandro
„svizzero“, der Sohn Willys
und Martys.
Die Familie Bocola-Parisi in
San Severo, um 1936
116
Grossfamilie Schär-Bocola
1935 - 1936
117
149. Oben: Manfredo Bocola
mit seiner späteren Frau
Tittina.
150. Links: Nonna Maria
148. Linke Seite: Unser Vater
mit seiner Jagdbeute in der
Umgebung von San Severo.
Vater war ein leidenschaftlicher Jäger und fuhr auch in
Bengasi jede Woche mit seinen
Freunden auf die Jagd.
118
Umzug nach Libyen und Tod von Willy Bocola
1936
151. Bengasi, eine Strasse mit
einer Moschee, um 1930.
Bild einer alten Postkarte.
In Libyen wohnten wir in
Berca, einem Vorort Bengasis,
direkt gegenüber dem Flugplatz, am äussersten Rand des
europäischen Stadtteils.
119
120
Umzug nach Libyen und Tod von Willy Bocola
152. Rechts: Zusammen mit
der befreundeten Familie
Bonfiglio, 1936
153. Unten: Marechal Bonfiglio, ein Freund und Kollege
unseres Vaters
154. Oben: Sandro Cerutti,
einer der besten Freunde
unseres Vaters und, zusammen mit seiner schönen Frau
Mimma ein häufiger Gasst
in unserem Hause
Sandro: Unsere Wohnung lag nicht in Bengasi selbst, sondern in Berca,
einem Vorort am äussersten Rand der europäischen Stadt, direkt gegenüber dem
dortigen Militärflugplatz, dem mein Vater als „Comandante“ vorstand.
Ich verbrachte täglich viele Stunden auf dem Flugplatz, wo ich als Sohn
des Comandante überall gern gesehen war. Wenn ich morgens auf meinem kleinen roten Velo durch das grosse Tor fuhr, schlugen die links und rechts davor
postierten Wachsoldaten wie beim Durchgang eines Offiziers die Hacken zusammen und präsentierten das Gewehr, während ich zum Gruss meine Hand
zur Stirne hob. Ich hielt mich oft in der Offizierskantine (-messe) auf, in der
Piloten und Kaderpersonal während ihren Arbeitspausen oder zwischen Flugeinsätzen schwatzend, rauchend und trinkend beisammensassen. Einer der Piloten,
der für seine Karikaturen bekannt war, brachte mir bei, Flugzeuge, Automobile
und Gesichter im Profil zu zeichnen, eine Kunst, die ich in kürzester Zeit so
gut beherrschte, dass ich diesbezüglich bei Familie und Bekannten bald als ein
Wunderkind galt.
Manchmal durfte ich zusammen mit meinem Vater in ein Jagdflugzeug steigen oder zusehen, wie er in seiner Maschine zu einem Flug startete. Wenn ich
mich mit meiner Mutter und Schwester im Garten unseres Hauses aufhielt, kam
es vor, dass er unter ohrenbetäubendem Larm ganz tief über diesen hinwegflog
und uns aus dem offenen Pilotensitz zuwinkte. Diese Erfahrung, die Vorstellung
des Vaters, der aus seinem Flugzug die unter ihm liegende Welt überblicken,
alles sehen konnte, hat mich unbewusst tief geprägt.
155. Rechte Seite: Sandro mit
Vater in einem Jagdflugzeug
1936
121
122
Umzug nach Libyen und Tod von Willy Bocola
1936
123
156. Vater und seine Kollegen
mit ihrer Jagdbeute, Bengasi,
1936.
Sandro: Manchmal fuhr unser
Vater übers Wochenende mit
Freunden in einem Militärfahrzeug zur Jagd, von der er meist
mit reicher Beute, Fasanen und
anderen Vögeln, manchmal
sogar mit einer ganzen Gazelle, zurückkehrte, die er unter
unseren staunenden Blicken
vor uns ausbreitete. Er war der
bewunderte Held, das idealisierte Vorbild meiner Kindheit.
Umzug nach Libyen und Tod von Willy Bocola
124
1936
125
158. Italo Balbo (* 6. Juni
1896 in Ferrara; † 28. Juni
1940 bei Tobruk)
Schon vor der Machtübernahme Mussolinis trat Balbo
der faschistischen Partei bei
und organisierte als Ortsgruppenleiter den Kampf gegen
Kommunisten und Sozialisten.
Bereits beim Marsch auf Rom
war er einer der Parteiführer, 1924 wurde er Chef der
faschistischen Miliz, 1925
Staatssekretär im Wirtschaftsministerium.
157. Eine von Italo Balbo
eigenhändig unterschriebene
Fotografie, die anlässlich
eines Besuchs des Duce in
Libyen aufgenommen wurde.
Balbo und Mussolini sind von
Fliegeroffizieren, darunter
auch unser Vater, umringt
(siehe Pfeile).
1926 absolvierte er eine
Schnellausbildung zum Piloten
und war die zentrale Figur
beim Aufbau der italienischen
Luftwaffe. 1929 wurde er mit
nur 33 Jahren Luftfahrtminister. Berühmtheit erlangte er
dank seiner Atlantiküberquerungen mit großen Flugzeugformationen. 1930 flog Balbo
mit 12 Savoia-Marchetti von
Orbetello nach Rio de Janeiro,
1933 mit 24 Wasserflugzeugen
von Rom nach New York und
Chicago.In New York wurde
eine Strasse in Balbo Avenue,
in Chicago die Seventh Street
in Balbo Drive umbenannt,
und Präsident Roosevelt lud
ihn zum Essen ein. In Italien
beförderte ihn Mussolini zum
Luftmarschall. Möglicherweise nahm unser Vater 1933 an
der zweiten Atlantiküberquerung teil.
Sein Erfolg brachte Italo Balbo
bald viel Neid und Missgunst
ein. Aus diesem Grund wurde
er 1934 nach Libyen versetzt,
wohin ihn seine engsten
Gefährten, darunter auch mein
Vater, begleiteten. Als Gene-
ralgouverneur setzte er sich für
die Verbesserung der dortigen
Verkehrsinfrastruktur ein, bemühte sich, italienische Siedler
für die Kolonie zu gewinnen
und verfolgte gegenüber der
musulmanischen Bevölkerung
eine Politik der Pazifizierung
und Integration. Nach der
deutschen Invasion Polens
wandte er sich vehement
gegen Mussolinis Bündnis mit
Hitler und befürwortete einen
Kriegseintritt Italiens an der
Seite Großbritanniens. Am 28.
Juni 1940 wurde er nach offizieller Darstellung über Tobruk
versehentlich durch Friendly
Fire von der italienischen
Flugabwehr abgeschossen. Bis
heute wird darüber spekuliert,
ob es sich dabei wirklich um
ein Versehen handelte.
(Wikipedia)
Umzug nach Libyen und Tod von Willy Bocola
126
1936
127
Der Tod des Vaters
Sandro: 1937 sollte unser
Vater nach Tripolis, der Hauptstadt der Kolonie, versetzt
werden und begab sich deshalb
im Dezember 1936 zur Vorbereitung dieses Umzugs für
einige Tage in die etwa tausend
Kilometer entfernte Stadt. Wir
erwarteten ihn zur Weihnacht
zurück. Während seiner Abwesenheit genoss ich meine Rolle
als der einzige „Mann“ im
Hause und die erhöhte Zuwendung meiner alleingelassenen
Mutter, die mich, wie schon
so oft, dazu anhielt, in mein
tägliches Abendgebet die Bitte
einzuschliessen, dass meinem
Vater nichts zustossen und dass
er heil zurückkommen solle.
Doch diesmal ging der Wunsch
nicht in Erfüllung - Vater kam
nicht. Die Transportmaschine,
die ihn und seine Kollegen
nach Bengasi hätte bringen
sollen, war auf dem Rückflug
abgestürzt.
Statt seiner erschienen am
22.Dezember, dem Tag, an
dem wir ihn zurückerwarteten,
zwei Vertreter der Luftwaffe
und zwei Frauen befreundeter
Offiziere, die meiner Mutter
die Todesnachricht überbrachten. Das Weihnachtsfest
verbrachten wir bei unseren
Nachbarn.
159. Das Begräbnis unseres
Vaters in seiner Geburtsstadt
San Severo
Oskar Schär: Der Tod Willy
Bocolas wurde in Kreisen
der italienischen Flugwaffe
schmerzlich empfunden. Das
beweisen (...) die grossartigen
Trauerfeierlichkeiten, die in
San Severo, der Geburtsstadt
des Verstorbenen, stattfanden.
(...)Während der Trauerfeierlichkeiten hatten sämtliche
Geschäfte geschlossen. (T10)
128
Umzug nach Libyen und Tod von Willy Bocola
1936
129
162. Das Telegramm, mit
dem unsere Mutter den Tod
Willys ihren Eltern schonend
mitzuteilen versuchte.
160. Unsere Mutter am
12.10.1937 bei der Einweihung des zu Ehren unseres
Vaters in Aeroporto Capitano
Willy Bocola umbenannten
Flugplatzes von Benina.
161. Der als Broschüre herausgegebene Nachruf Oskar
Schärs auf seinen Schwiegersohn (T13)
Sandro: Ich habe praktisch jede konkrete Erinnerung an den Tod des Vaters
und an die meiste Zeit, die wir noch in Bengasi verbrachten, verloren, doch
weiss ich - unter anderem auch aus mehreren fremden, verlässlichen Quellen dass mir der Tod des Vaters verheimlicht und erst etwa zwei Jahre später in Basel
durch meinen Grossvater mitgeteilt wurde.
Vierzig Jahre später erzählte mir „Zia Tittina“, die Witwe Manfredos, vom
Staatsbegräbnis meines Vaters in seiner Heimatstadt San Severo, zu dem ich und
meine Mutter sowie unsere libyschen Nachbarn und befreundete Offiziersfrauen
eine Woche nach dem tödlichen Unfall aus Bengasi angereist waren, und an dem
auch alle italienischen Familienmitglieder teilnahmen. Die ganze Stadt war in
Trauer um ihren berühmten Sohn und neben den faschistischen Würdenträgern
und den Vertretern der Luftwaffe folgten auch tausende Bürger dem Sarg. Zum
allgemeinen Erstaunen der nächsten Familienmitglieder überliess mich meine
Mutter während der Beerdigung der Obhut eines Dienstmädchens und legte allen nahe, mir den eigentlichen Grund unserer Reise, der schwarzen Kleidung
fast aller Anwesenden und der im ganzen Hause herrschenden Bedrücktheit also den Tod meines Vaters - unter allen Umständen zu verschweigen.
Mein Grossvater, der nach dem Unfall zusammen mit seiner Frau unverzüglich nach Bengasi gereist war, um der trauernden Tochter beizustehen, hält dieses Schweigegebot im Text fest, den er für den Nachruf auf meinen Vater schrieb
(siehe Transkription dieses Textes im Anhang, T13).
163. Zeitungsartikel zum Tod
unseres Vaters
130
Letzte Jahre in Libyen, Umzug nach Basel
1936 - 1939
131
Sandros erste Liebe
Sandro: Zu Beginn dieser
Zeit war ich zum ersten Mal
verliebt. Sie hiess Marisa,
war die Tochter der mit uns
befreundeten Meys und nur
wenige Monate älter als ich.
Ich war unwiderstehlich von
ihr angezogen und benutzte
jede Gelegenheit, um in ihrer
Nähe zu sein. Sehe ich mir die
wenigen Fotos an, die von ihr
erhalten sind, kann ich meine
damaligen Empfindungen auch
heute noch nachvollziehen,
denn sie strahlt trotz ihres
jungen Alters eigentlichen Sex
appeal aus.
164. Sandro, Heidy und Marisa um 1937 in Bengasi.
132
165. Von links nach rechts:
unsere Mutter, Heidy, Nonna
Maria, Frau Mey, Marisas
Mutter, Marisa und Sandro,
um 1937 in Bengasi.
166. Rechte Seite: Ein Selbstporträt Sandros vom 24.
März 1937.
Letzte Jahre in Libyen, Umzug nach Basel
Eines Abends - meine Mutter war wie so oft mit befreundeten Offiziersfrauen
bei Meys eingeladen - traf ich vor dem Hause Marisa in Begleitung einer Freundin und lockte die beiden auf ein nahe gelegenes Feld, wo ich Marisa mehrere
Male leidenschaftlich auf den Hals küsste. Für ihre völlig missachtete Freundin
war dies zuviel. Mit empörten Ausrufen meldete sie den Vorfall meiner Mutter,
die mir zwei schallende Ohrfeigen verabreichte. Diese Strafe minderte in keiner Weise das leidenschaftliche Interesse und die Zuneigung, die ich für Marisa
empfand, doch nahm sie meiner Werbung die bisherige Unbeschwertheit. Im
Laufe der Zeit führte zudem unser Altersunterschied dazu, dass meine frühreife
Geliebte das Interesse an mir verlor und sich älteren Jungen zuwandte.
Ich habe Marisa nicht vergessen. Meine letzte Erinnerung an sie - eine Velofahrt, bei der sie auf der Lenkstange meines Fahrrads sass und ich das Gewicht
und die Wärme ihres Körpers auf meiner Brust spürte - hat bis heute nichts von
ihrem Zauber verloren.
1936 - 1939
133
134
Letzte Jahre in Libyen, Umzug nach Basel
1936 - 1939
168. Links: Opa und Oma,
die uns nach dem Tod unseres Vaters in Libyen besuchten, zusammen mit Sandro
und zio Toto, der in Derna
unsere und seine Ländereien
verwaltete.
Sandro: Wenn man bedenkt, in welchem Mass sich das Verhalten unserer
Mutter und unserer Umgebung seit dem unerwarteten Fernbleiben des Vaters
drastisch verändert hatte, ist es schwer vorstellbar, dass ich nicht trotz der Einhaltung des allgemeinen Schweigegebots die wahre Ursache der Reise nach San
Severo und des feierlichen Familientreffens, wenn nicht rational erfasste, so
doch zum mindesten erahnte.
Nach der Rückkehr aus San Severo blieben wir, ausser wenigen kurzen Reisen nach Italien oder in die Schweiz, für weitere zwei Jahre in Bengasi. Wahrscheinlich litten sowohl ich als auch meine Schwester während der letzten Jahre
in Libyen unter der rätselhaften Abwesenheit meines Vaters und der manifesten
Depression meiner Mutter, jedenfalls waren wir immer öfter krank. Heidy war
monatelang von eiternden Ausschlägen befallen, während ich 1938 von einer
lebensgefährlichen, Nephritis genannten Nierenkrankheit befallen wurde, die
mich für fast vier Monate ans Bett fesselte .
167. Unten: Eine Reihe Bücher der „Scala d‘oro“.
Aus einem Brief unserer Mutter
an ihre Eltern, Weihnachten
1938: In der Bücherserie hat
es die Nibelungen und Parsifal
und Lohengrin und die Ritter
von König Artur, und wir lesen
alles zusammen und es gefällt
mir so unendlich gut, ich
wünschte, selbst wieder Kind
zu werden und alles abzuwerfen und nur in der schönen
idealen Sagenwelt zu leben.
Auch die schönen Sagen von
Merlin und Lancelot etc., sind
so schön und Sandrino ist ganz
hin darein.
Man hatte mir über dem Bett eine Art Tischplatte installiert, auf der ich während meinen fieberfreien Zeiten mit Zinnsoldaten spielen, zeichnen oder Bilderbücher ansehen konnte. Meine Vorliebe galt dabei den Bänden der „Scala d‘oro“,
einer Buchreihe, in der die wichtigsten europäischen Mythen, die Ilias und die
Odysee, die Sagen des griechischen Altertums, die deutschen Heldensagen, König Artus Tafelrunde, die Suche nach dem Gral und das Lied der Nibelungen mit
guten Illustrationen in einer vereinfachten, gekürzten Fassung für Kinder von 6 12 Jahren nacherzählt wurden. Meine Mutter musste mir täglich daraus vorlesen
und half mir damit, aus meiner leidvollen, bedrückenden und beschämenden
Gefangenschaft in die grenzenlose Weite einer wunderbaren, imaginären Welt
zu entfliehen, in der ich die Abenteuer überlebensgrosser, furchtloser Helden
bestand, Siege errang und Niederlagen erlitt. Der Edelmut, die Tapferkeit und
die Treue dieser grossen Gestalten, ihre beharrliche Verfolgung ferner, erhabener Ziele hinterliessen in mir einen unauslöschlichen Eindruck und verdichteten
sich zur idealisierten Vorstellung grosser, in ihrer Vollkommenheit unerreichbarer Heldenfiguren, die mich auf nachhaltige, bis auf den heutigen Tag wirksame
Weise prägte.
135
Heidy: Gegen meine „Hitzebibeli“ sollte ich Spritzen bekommen, gegen die
ich mich immer wehrte. Als mir dann gesagt wurde, dass mich die „donna nera“
holen würde, wenn ich nicht aufhöre mich zu wehren, sah ich dann tatsächlich
eine schwarz verhüllte „Donna nera“ an unserem Parterrefenster vorbeigehen
und wurde aus lauter Angst auch gefügig. Später erfuhr ich, dass meine nonna,
Nonna Maria, die „Donna nera“ jeweils spielen musste !
169. Oben rechts: Heidy am
Strand von Bengasi, um 1938
170. Der Passierschein, den
die Polizei für Heidy ausstellte, damit sie unser Grossvater 1938 von Bengasi nach
Basel mitnehmen konnte.
Heidi: Ich war auch öfters bei
Oma und Opa in der Schweiz,
weil ich anscheinend allergisch auf die Hitze in Bengasi
reagierte. Ich durfte immer
zwischen Oma und Opa im
„Gräbli“ schlafen, und in der
Nacht streichelte ich anscheinend liebevoll Opas Gesicht
und sagte: „Ooopapa“. Zurück
in Bengasi liess sich unser
Vater zum zweiten Mal einen
Bart wachsen, damit ich ihn in
der Nacht wie Opapa streicheln
sollte.
136
171. Oben: Unsere Grosseltern auf Besuch in Derna.
Stehend, von links nach rechts:
Opa, Oma, zia Tittina, zio
Manfredo, ein unbekannter
Offizier. Sitzend, von links
nach rechts: Manfredos Sohn
Sandro, Pinuccia, Sandro
„svizzero“.
172. Rechts: Manfredo Bocola (zio Manfredo), der ältere
Bruder unseres Vaters.
Manfredo war seinen Brüdern
nach Libyen gefolgt und arbeite dort im Dienst der Regierung als Veterinär.
Letzte Jahre in Libyen, Umzug nach Basel
Sandro: Während der letzten Jahre in Bengasi verkehrten wir viel mit der
Familie Manfredos, des Bruders unseres Vaters, der als Veterinär der Armee in
Derna, einer nahegelegenen Ortschaft, wohnte. Unsere Basler Grosseltern kamen uns auch besuchen. Da unsere Mutter während dieser Zeit nicht wirklich
ansprechbar war und sich vollständig hinter ihrer Trauer verbarrikadiert hatte,
suchte und fand ich die mir fehlende affektive Wärme bei meiner väterlichen
Grossmutter, der Nonna Maria.
173. Links: Antonio Bocola
(zio Toto), der jüngste Bruder unseres Vaters.
Toto war seinem Bruder nach
Libyen gefolgt und bebaute
dort, in Derna, das Farmland seines Bruders und sein
eigenes.
174. Rechte Seite: Nonna
Maria mit Sandro,
wahrscheinlich vor Vaters
Tod aufgenommen
1936 - 1939
137
138
Beginn eines neuen
Lebensabschnittes im
Haus Bachlettenstrasse
60 in Basel
175. Heidy und Sandro auf
dem Balkon der Bachlettenstrasse 60, um 1939.
Erste Jahre in Basel
Sandro: Ursprünglich hatte sich unsere Mutter vorgenommen, Ende 1939
Libyen zu verlassen und nach Italien, eventuell nach Udine, zu ziehen, wo noch
einige früher mit uns befreundete Familien wohnten. Doch als mein Zustand
von weiteren Ärzten, die meine Mutter zugezogen hatte, als aussichtslos erklärt
wurde, entschloss sie sich, schon Anfang des Jahres zurück in die Schweiz zu
reisen. Damit begann für uns alle ein neuer Lebensabschnitt.
Wir trafen im Frühjahr 1939 in Basel ein und wohnten im Haus unserer
Grosseltern, ein schmales, dreistöckiges Gebäude an der Bachlettenstrasse 60,
dessen obere Fenster einen weiten, unverbauten Blick auf die vielen Bäume und
die parkähnliche Anlage des gegenüberliegenden Zoologischen Garten frei gaben. Im Rücken des Hauses führte eine Türe in einen kleinen, verwilderten Garten. Im Parterre wohnten Tante Hanny, die jüngere Schwester unserer Mutter,
mit ihrem Mann, Onkel Ernst; wir wohnten bei den Grosseltern im ersten und
zweiten Stock. Im dritten Stock befanden sich vier Mansarden, die von Male,
unserer Haushalthilfe, und zwei Mietern, Fräulein Völlmy, eine alte Jungfer, und
Herr Reichel, ein alter, mittelloser Geiger, bewohnt wurden, während die letzte
als Gästezimmer diente.
Kurz nach unserer Ankunft klärte mich unser Grossvater über Vaters Tod
auf. Ich erinnere mich nur noch, wie ich darauf, in Tränen aufgelöst, auf ihn losging und mit Fäusten auf ihn einschlug. Seine Mitteilung muss mein Selbstbild
und mein psychisches Gleichgewicht schwer erschüttert haben. Die prägenden Erfahrungen der letzten Jahre - das plötzliche Verschwinden des Vaters, die
kränkende Empfindung , von ihm verlassen worden zu sein, hatten ihre bisherige Bedeutung verloren und erschienen plötzlich in einem neuen Licht.
Die durch den Grossvater verbürgte Lösung des bisherigen Rätsels und das
nun gesicherte Wissen über den wirklichen Absturz meines Helden hätte vielleicht eine rationale Verarbeitung meiner Erfahrungen und einen Wandel meines Selbstverständnisses einleiten können. Doch kaum gewonnen, wurde die
neu erworbene Klarheit durch das irrealistische Verhalten meiner Mutter getrübt. Dank der anthroposophischen Lehren Rudolf Steiners war es ihr schon in
Bengasi gelungen, den Tod ihres Mannes bis zu einem gewissen Grad zu verFortsetzung S.140
175a. Aussicht aus einem
Mansardenfenster der
Bachlettenstrasse 60 auf den
Zoologischen Garten, 2009.
Fotos 175a und 176 Mike
Gosteli.
176. Rechte Seite: Das Haus
Bachlettenstrasse in seinem
heutigen Zustand.
Nach dem Tod unserer Grossmutter erbten ihre Enkel das
Haus. Heidy und ihr Ehemann,
Louis Lambelet, zahlten ihre
Miterben aus und übernahmen
das Haus. Sie liessen einen
zweiten Balkon einfügen und
belebten die Fassada durch
eine wunderschöne Glycinie.
Später liess Heidy auch im
Innern Vieles verändern.
139
140
Spiritistische Sitzungen um Willy Bocola
1939 - 1941
141
180. Rechte Seite: Das von
Rudolf Steiner entworfene
Goetheanum in Dornach bei
Basel.
Der Sitz der anthroposophischen Bewegung, von Westen
aufgenommem (Bagradian,
de.Wikipedia GNU-FDL).
177. Rechts: Willy Bocola in
seiner Galauniform.
178. Unten: Rudolf Steiner,
der Begründer der Anthroposophie.
leugnen, indem sie mit einem spiritistischen Medium verkehrte, das ihr Grüsse
und Botschaften des Verstorbenen überbrachte. Basel bot ihr nun durch das
nahe gelegene Dornach, dem Sitz der Anthroposophischen Gesellschaft, weit
mehr Gelegenheiten, sich in diese esotherische Gedankenwelt zu vertiefen. Ein
weibliches Medium überbrachte uns bei regelmässigen Besuchen immer wieder
Nachrichten und Mitteilungen meines Vaters, die zum Teil auch direkt an mich
gerichtet waren. Untenstehend Auszüge aus dem Protokoll einer Sitzung:
179. Friedrich Nietzscher
Sein berühmtes Werk,
Also sprach Zarathustra, war
eines der Lieblingsbücher
unserer Mutter.
Andachtsstunde am 11. Februar 1940 in St. Gallen (Alwin, Marty B., Emmy)
Emmy nimmt den Führer von Willy auf: Zum erstenmal trete ich, der Führer
Deines Gatten zu Dir und halte Deine Hände in den Meinen. Bei Dir steht Dein
Dual. Seine Liebe schwingt von ihm durch mich hindurch so stark zu Dir hin!
(...) Die Schwester, deren Körper mir als Werkzeug dient, hat heute Nachmittag
schon die Schwingung aufgenommen und Dir mitgeteilt, so dass mir nur bleibt,
dies zu bestätigen: Der höher entwickelte Geist ist nicht gebunden mehr an irdische Sprache. Um nun die Verbindung, die Kundgebung leichter zu gestalten,
formen wir Führergeister seine Schwingungen um in das Werkzeug der Sprache.
Dennoch ist ihm freigestellt, auch in seiner irdischen Sprache Dir einiges zu sagen: (...) Willy: Marty! - Cara mia! --- È la gioia, l`amore. Dammi la forza! (...)
lasciami parlare come ti ho parlato sempre, senza che mi trovi così bene perché
non va come ho parlato d`abitudine, lo so bene. (Frage) Felice? Sono contento,
lavoro ma è und lavoro che non ti posso spiegare così bene. (...) è diventato molto più chiaro intorno di me. Il dolore che mi aveva strazziato non è più.
(Frage: Perché non me lo fai comprendere?) Io ti faccio sentire. Ma il contatto è fatto da te a me ma non cammina ancora bene. Senti - sarà il nostro lavoro
in tempi che verranno, che tu ogni lunedì ... jeden ersten Montag im aufsteigenden Mond sollst Du abends Dich mit mir verbinden. Ma ogni giorno, cara, non
è possibile, non sarebbe possibile per me di essere sempre vicino di te. (...) Io
vedo la luce proprio splendida che vi è intorno. Talvolta mi è permesso di fare
uno sguardo più lontano. Non lo vedo chiaro quel lontano, ma so che ci viene
preparato un futuro, un essere insieme. (...)
Emmy sieht: Ich sehe wiederum den Raum ganz im Licht. Er steht im Licht,
ich sehe seine Geistgestalt hell und licht. Nun wendet er sich noch einmal zurück, sein Blick gilt Dir, Marty. - Er ist schon weit weg. - Dort entschwindet er.
Ich sehe nichts mehr. (T10)
Sandro: Nachdem ich endlich seinen realen Tod erfahren hatte, wurde ich
nun plötzlich mit seiner allgegenwärtigen Seele konfrontiert und konnte seiner
geistigen Präsenz nicht mehr entfliehen.
Sandro: Zu nebenstehendem
Protokoll:
Ich erinnere mich derart vage
an diese Sitzungen, dass ich oft
nicht sicher war, ob sie je stattgefunden hatten. Glücklicherweise fand meine Schwester
bei den Recherchen zu diesem
Buch das Protokoll einer
solchen Sitzunge, die 1940 (ich
war damals neun Jahre alt) in
St.Gallen stattgefunden hatte.
Die genaue Abschrift des
ganzen Protokolls, aus dem wir
hier nur wenige Sätze zitieren,
findet sich im Anhang.
Ganz offensichtlich hatte der
Geist unseres verstorbenen
Vaters seiner Witwe nichts
Wesentliches mitzuteilen und
antwortete auf ihre Fragen nur
mit ausweichenden Floskeln.
142
Die Basler Grossfamilie
1939-1947
181. Linke Seite, und
182. oben: Unsere Mutter,
ein Jahr nach Vaters Tod,
mit ihren Kindern.
143
Sandro: Man kann auf diesen,
an unterschiedlichen Tagen
aufgenommenen Fotos, am Gesichtsausdruck unserer Mutter
erkennen, in welch ausserordentlichen Ausmass sie sich
in ihr Leid zurückgezogen, ja,
in ihrer Trauer verbarrikadiert
hatte.
144
Die Basler Grossfamilie
183. Porträt von Heidy Bocola, das als Titelblatt der Coop
Zeitschrift No. X vom XY
verwendet wurde.
184. Rechte Seite: Sandro
Bocola vor der Haustür der
Familie Burlet, um 1937
1939-1947
145
Die Basler Grossfamilie
146
186. Links: Opa und Oma
mit ihren drei Töchtern
und Ernst Burlet, Hannys
Ehemann
185. Ganz oben: Lisy Scheitlin, die ältere Schwester
unserer Mutter.
Sie heiratete Donald Scheitlin,
einen Elektrotechniker, mit
dem sie einen Sohn, Ruedi,
hatte. Donald starb schon wenige Jahre nach seiner Hochzeit an einem Herzversagen.
Aus einem Brief von Oskar
Schär an seinen Freund
F.Finger, 1946: Wie Du weisst,
bin ich seit 44 Jahren glücklich
verheiratet, habe 3 Töchter
und 6 Enkel, wovon 5 bei mir
in meinem Hause wohnen.
Leider sind 2 Schwiegersöhne
in jungem Alter verstorben.
Der eine, ein berühmter italienischer Fliegerakrobat und
Hauptmann, verunglückte vor
10 Jahren in Tripolis, der andere erlag vor 3 Jahren einem
plötzlichen Herzkrampf.
187. Oben: Die Hochzeit von
Hanny, der jüngeren Schwester, mit Ernst Burlet.
Heidy und Sandro als eher
unglückliche „Brautjungfern“.
Ernst Burlet war Chemiker
bei der Hoffman LaRoche. Er
starb 1949 an einer Blutvergiftung, die er sich bei seiner
Arbeit zugezogen hatte.
Er war der letzte der früh
verstorbenen Schwiegersöhne
unseres Grosvaters.
Auch keiner der Brüder
unseres Vaters, weder Manfredo noch Toto, erreichten das
vierzigste Altersjahr.
188. Rechts: Sandro und
Heidy mit Oma und Opa an
der Bachlettenstrasse.
1939-1947
147
148
Die Basler Grossfamilie
1939-1947
Heidy: Unsere wundervolle Kinderfrau und Omi-Hilfe Male erleichterte und
verschönerte unser Kinderdasein jeden Tag. Males eine Gesichtshälfte war durch
einen Schlaganfall, den sie als Kind erlitten hatte, ganz „schief“. Doch wir sahen
das gar nicht, sie war der liebste Mensch und liebte Sandro und mich innig.
Sandro: Da ich bei meiner Ankunft kaum Deutsch sprach, hatte mich meine
Mutter in eine einfache, von vielen ausländischen Kindern besuchte Privatschule eingeschrieben, deren Leiterin und einzige Lehrkraft, Frau Degen, ihre
in vier Altersgruppen unterteilten Schüler und Schülerinnen im selben Raum als
vier getrennte Primarschulklassen unterrichtete. Ihr liebenswürdiges, ruhiges
und verständnisvolles Auftreten verbreitete eine familiäre Atmosphäre, in der
sich alle wohlfühlten. Das Schulpensum umfasste nur die für den Übertritt in
eine höhere Schule erforderlichen Fächer, sodass ich vom verhassten Turnunterricht befreit war. Obwohl ich ein guter und beliebter Schüler war, hatte ich unter
meinen Klassenkameraden keinen engeren Freund. Diese Rolle war Elio Lurati,
dem gleichaltrigen Sohn unserer italienischen Waschfrau vorbehalten, der während den folgenden Jahren mein ständiger Begleiter wurde.
189. Linke Seite: Sandro und
Heidy mit Male
149
190. Oben: Sandro, Heidy
und Ruedi, der Sohn von
Tante Lisy, der Schwester der
Mutter, mit unserer Haushalthilfe, Male. Um 1935.
190a. Unten: Heidy mit Male.
Um 1935.
150
191. Heidy mit Tante Alwine.
Die Basler Grossfamilie
1939-1947
Heidy: Die Erinnerungen an meine ersten Jahre beginnen eigentlich erst mit
der Uebersiedlung nach Basel ins grosselterliche Haus. Dort wuchsen wir in
einer Art Grossfamilie auf, mit einer liebevollen, doch immer irgendwie abwesenden Mama und starken, präsenten Grosseltern . Ich war Opis Lieblingsenkelin und spielte stundenlang unter seinem Schreibtisch, und er liess mich einfach
gewähren. Es folgte eine glückliche Kindergartenzeit bei Frau Jaccard an der
Birsigstrasse. Später ging ich auch zu Frau Degen in die Primarschule, wo ich
nicht so glücklich war, weil es auch Klassenkameradinnen aus reichen Familien
gab, und das mit allem zum Ausdruck kam, schöne Kleider, grossartige Einladungen, etc. und wir ja sogenannt nicht reich waren und ich damals die Kultur
im Grosselternhaus noch nicht in die Waagschale werfen konnte.
Obwohl Sandro und ich der gleichen Familie entstammen, waren mein Aufwachsen und auch meine Beziehung zur Familie und zur Umwelt völlig anders.
Ich war oft in der Schweiz bei unseren Grosseltern, es war meine zweite Heimat,
und beim Tod unseres Vaters war ich erst zwanzig Monate alt. Die bodenlose Trauer unserer Mutter war für mich nicht so einschneidend wie für Sandro.
Mit meinem Namen „Heidy“ wurde ich, meiner späteren Meinung nach, nicht
so beschenkt wie mein Bruder mit seinem wunderschönen Namen Alessandro.
Als ich mich einmal beklagte, wurde mir gesagt, dass ich auf der Lenzerheide
gezeugt worden sei und deshalb der Name «Heidy“ eine schöne Erinnerung bedeute. Damit war ich dann auch ganz zufrieden.
192. Heidy an der Bachletten
strasse.
Heidy: Während der Rationierung wurden wir jeden Monat vor eine Entscheidung gestellt: „Die Schoggimärggli abgeben, so dass Opi viel Schokolade
bekam und wir bezahlte hundert Gramm. Natürlich gaben wir die Marken ab.
Sandro hatte seine hundert Gramm ganz schnell gegessen und bettelte mir
jeden Monat sicher die Hälfte meiner Ration ab. Mama, Sandro und ich hatten
am Anfang ein gemeinsames Schlafzimmer, und Sandro erzählte mir jeden
Abend ganz tolle, selbst erfundene Fortsetzungsgeschichten. Als Gegenleistung musste ich mich schlafend stellen, wenn Mama, als Überprüfung, ob wir
wirklich schliefen, uns ein Stück Schokolade vor den Mund hielt. Sandro biss
natürlich zu, während ich scheinbar schlafend darauf verzichten musste.
Ich bewunderte meinen grossen Sandro-Bruder sehr, wurde von ihm aber,
besonders wenn er mit seinen Freunden zusammen war, als lästig empfunden.
Nur wenn wir allein waren, änderte sich sein Verhalten mir gegenüber, und er
war fürsorglich und lieb. Viel später wurde mir klar, dass die Hierarchie der Geschwister das Leben beeinflusst.
192a. Sandro an der Bachlettenstrasse.
193. Anna Schär-Haller, unsere Grossmutter, um 1945
151
152
Die Basler Grossfamilie
1939-1947
153
194. Linke Seite: Heidy und
Sandro im Garten der Eltern
Burlet
Sandro: Heidy und ich waren
während der ersten Basler Jahre sehr aufeinander angewiesen
und waren viel zussammen.
Dabei übernahm Heidy mir gegenüber, der ich leicht depressiv war, oft eine aufmunternde
Haltung ein, wie dies im Bild
auf der nebenstehenden Seite
zum Ausdruck kommt.
196. Rechts: Heidy in Türnen, 1938
Um es ihrem grossen Bruder
gleichzutun, erhebt auch sie
den Arm zum Faschisten Gruss
195. Oben: Sandro, in seiner
Balilla-Uniform, mit Heidy
(neben Opa) und den Grosseltern während den Ferien in
Türnen, um 1938
Heidy: Türnen war ein Kinderparadies für uns,weil auch Omi
und Opi ¨mit dabei waren , ich
kein Heimweh haben musste und Opi nicht an seinem
Schreibtisch war. Omi konnte
auch für Stunden ihr Oberherrschaft abgeben und ganz entspannt und interessiert Zeitung
lesen. Sie war eine politisch
sehr interessierte Frau, auch
allem Musischen zugewandt
und ging mit ihren 3 Töchtern
schon damals viel ins Theater.
Sandro: 1939, bei unserer
letzten Ausreise aus Italien ermahnten mich alle männlichen
Verwandten, ja nie zu vergessen, dass ich ein Italiener sei.
Als Zeichen meiner „Treue
zum Vaterland“, trug ich in
Türnen mit Stolz die Uniform
der „Balillas“, der damaligen
faschisctischen Jugendorganisation, der ich in Wirklichkeit
nie angehört hatte.
So wie ich, übte sich auch
meine Schwester Heidy im
faschistischen Gruss.
154
Familienferien in Italien
1940-1943
155
197. Linke Seite, oben: 1941
verbrachten wir unsere
Ferien, zusammen mit den
Familien von Zia Tittina und
Meys, am Adriatischen Meer
in Pescara Pineta.
Von links nach rechts: Sandro,
Marisa, seine einstige grosse
Liebe, die ihm inzwischen unwiderruflich entwachsen war,
Sandro von Manfredo, Heidy,
Pinuccia, Willy, Cicillo, und
ein unbekanntes Mädchen,
vielleicht die ältere Schwester
Cicillos.
.
199. Marisa, die mit ihrer Familie zur selben Zeit wie wir,
in der Pineta von Pescara
ihre Ferien verbrachte.
198. Linke Seite, unten: Die
jungen Bocolas am Strand
von Pescara, 1941
Von links nach rechts : Heidy,
Sandro, Sandro svizzero,
Pinuccia und Willy.
Vorne: Cicillo und seine
Schwester.
Heidy: Unsere Familienferien in Italien mit allen italienischen Grossmüttern, Müttern, Cousinen, Cousins und Tanten waren so unbeschwert und wunderschön wie etwa Pipi Langstrumpf-Bücher. Die Fotos strahlen das auch jetzt
noch aus. Sandro und ich fühlten uns so geborgen, so „italienisch“, und in dem
Gewusel waren wir auch kaum mehr überwacht; die sprichwörtliche italienische
Liebe zu den Kindern verwöhnte uns gewaltig!!! Wir liebten auch unsere Nonna,
die Zie und Zii, einfach die südliche Grossfamilienkultur. Wir wohnten in einem
gemieteten Haus, wo natürlich auch gekocht und gegessen wurde. Ich sehe und
höre immer noch Nonna Maria, wie sie mit einer weissen Porzellanschüssel und
einem Schwingbesen lange umherging und aus Eigelb und Zucker einen grossen
Zabaglione hervorzauberte, den wir dann mit kleinen Löffeln essen durften. Sie
stand auch jeden Morgen gegen fünf Uhr auf, sass in der Küche und rüstete Gemüse für eine grosse Minestrone.
Tittinas Mann, Manfredo, fehlte, denn nach Italiens Kriegseintritt war er in
Mogadiscio, Italienisch Somalia, Militär-Veterinär.
156
Religionsunterrischt Sandro und Heidy
1940 - 1942
157
Sandros Religionsunterricht:
Sandro: Um seinen Darlegngen Nachdruck zu verschaffen,
zeigte mir der Priester immer
wieder Bildbände, in denen
alle Höllenqualen in ganzseitigen Kupferstichen dargestellt
waren: aufgespiesste, brennende oder bei lebendigem
Leibe in dampfenden Kochtöpfen schmorende Menschen,
Männer, Frauen und Kinder,
die auf anderen Bildern von
schrecklichen, grausamen
Ungeheuern bedrängt, gequält
oder gefressen wurden.
Da ich diese Bilder nicht
mehr finden kann, zeige ich
entsprechende Darstellungen
von Hieronymus Bosch und
Gustave Dorée.
202. Rechte Seite: Sandro mit
Mutter anlässlich seiner ersten Kommunion, und
200. Rechts: Hieronymus
Bosch, Die Hölle, Ausschnitt.
Museo del Prado.
201. Rechts unten: Gustave
Dorée, Illustration für den
3. Salm der Divina Commedia
von Dante Alighieri.
Sandro: Dies war die Art der
Illustrationen, mit denen mir
der Priester Angst vor der
Hölle einzuimpfen versuchte
203. rechts aussen: Heidy
und Sandro bei Heidys erster
Kommunion.
Sandro: Bei ihrer Heirat war unsere Mutter notgedrungen der katholischen
Konfession beigetreten, sodass ich und meine Schwester beide katholisch getauft wurden. Trotzdem hatte man mir den für Katholiken üblichen Religionsunterricht - die Vorbereitung auf die erste Kommunion - bisher erspart. Dies sollte
nun in Basel nachgeholt werden. Als Zehnjähriger musste ich jede Woche in
die nahegelegene Missione Cattolica Italiana, wo mich ein alter Priester in die
Glaubenssätze und Rituale der katholischen Kirche einführte. Er warnte mich
vor der Sünde, beschrieb mir Paradies, Fegefeuer und Hölle, und wurde nicht
müde, mich vor der Verheimlichung auch der kleinsten Sünden zu warnen, denn
„befleckt“, d.h. mit ungebeichteten Sünden die Kommunion zu empfangen und
die Hostie einzunehmen, sei ein Sakrileg, für das man mit ewigen Höllenqualen
büssen müsste.
Woche für Woche gestand ich dieselben Sünden: Flüche, Schimpfworte,
Streitigkeiten mit meiner Schwester, Ungehorsam, kleine Diebereien und immer
wieder, immer zuletzt, die „atti impuri“, die sogenannten „unreinen Handlungen“. Darauf ermahnte mich der Priester, solches in Zukunft zu unterlassen und
erteilte mir Segen und Absolution. Es blieb lediglich noch die immer gleiche
Busse zu entrichten - das Beten von zehn Vaterunser und zwanzig Ave Maria und ich war wieder frei.
Heidy: Trotz atheistischem
Grossvater bestand unsere
Mutter darauf, uns zum Religionsunterricht in die Missione
Cattolica zu schicken.
Ich wurdeda sehr bevorzugt
behandelt und den mehrheitlich italienischen Kindern
vorgezogen.
Doch nach meiner Firmung
verbot mir Sandro am Sonntag den Kirchenbesuch in der
Missione Cattolica und erklärte
mir, dass wir nur der Form
halber während dem Glögglilüte (Präsenz Gottes) anwesend
sein müssten und nachher guten Gewissens, natürlich ohne
das Geld in den Opferstock zu
legen, wieder über unsere Zeit
verfügen könnten.
158
Das Kinderheim Mümliswil
1940 - 1941
159
Heidy: Sandro und ich wurden in den Schulferien ein- bis zweimal pro Jahr
ins Coop-Kinderheim Mümliswil geschickt. Es ging uns dort gut, und wir wurden auch als Grosskinder von Oskar Schär bevorzugt behandelt und sassen bei
den Mahlzeiten neben der Leiterin, genannt Tante Marti. In diesem Kinderheim
waren auch viele später bekannte Basler Persönlichkeiten. Ich jedoch hatte immer sehr Heimweh, wollte aber meine Mama nicht enttäuschen. So kam ich
auf die Idee, Fieber und Angina vorzutäuschen, wurde natürlich zu Dr. Eugen
Labhart, einem mit uns befreundeten Arzt geschickt, der jedes Mal meine Finte
durchschaute, mich aber stillschweigend als krank erklärte und Mama eröffnete,
dass ich nicht ins Kinderheim könne.
204. Oben: Bernhard JaeggiBüttiker (1869 – 1944)
Der 1869 geborene Bernhard
Jaeggi stand schon als junger
Mann in engem Kontakt mit
der Bewegung für genossenschaftliche Selbsthilfe um Stephan Gschwind und Prof. Dr.
J. Fr. Schär und und trat 1900
als Revisor in den Verband
Schweizerischer Konsumvereine V.S.K. ein.
Jaeggis Hauptverdienst war es,
nach der Aera J.F.Schär den
Ausbau des Verbandes Schweizerischer Konsumvereine
wesentlich vorangetrieben und
gefestigt zu haben. Zwischen
1919 und 1921 gründete Jaeggi
die Siedlungsgenossenschaft
«Freidorf» bei Muttenz. Sein
Traum war eine Art Modellsiedlung genossenschaftlicher
Lebensform. Die Siedlung mit
Gemeinschaftsräumen bot 150
Familien Wohnungen. Jaeggi
nahm Wohnsitz im Freidorf.
207. Oben: Heidy Bocola
trägt Bernhard Jaeggi bei
dessen Besuch im Kinderheim ein Lied vor.
208. Links: Heidy und
Sandro im Kinderheim
Mümliswil.
Jaeggis 1900 mit Pauline
Büttiker geschlossene Ehe
blieb kinderlos, doch mit der
Gründung des Kinderheims
Mümliswil (1937) erfüllte sich
das Ehepaar im Alter einen
lange gehegten Wunsch.
1929 wurde Jaeggi durch die
Universität Basel für seine
Leistungen im Dienst der Wirtschaft die Ehrendoktorwürde
verliehen.
Am 13. April 1944 starb Bernhard Jaeggi in seinem geliebten
Freidorf bei Muttenz.
205. Linke Seite, ganz oben:
Das Kinderheim Mümliswil.
206. Linke Seite, unten: Der
Speisesaal des Kinderheims.
Heidy und Sandro sind mit
Pfeilen bezeichnet.
160
Sandro Bocolas Lesewut und Eintritt ins Gymnasium
210. Links: Die Art Bücher,
die Sandro um 1941 las.
209. Oben: Otti Haller, der
Bruder unserer Grossmutter.
Sandro: Durch den Tod unseres Mieters war 1941 seine Mansarde frei geworden, sodass ich nun in unserem Haus über ein eigenes Zimmer verfügte, das
einen weiten Blick auf den Zoologischen Garten freigab.
Die ursprünglich aus der Beziehung zu meinem bewunderten Vater entwickelten Ambitionen und Ideale waren durch seinen Tod und dessen Verleugnung
abgespalten worden. Durch den Umzug in das fremde soziale Umfeld Basels
hatten sie zudem alle bisherigen, realen Referenzpunkte verloren und einen illusionären Charakter angenommen. So suchte ich meine innere Leere mit der
suchtartigen Lektüre von Indianer- und Abenteuerromanen abzuwehren, von denen ich während den Ferien oft eines pro Tag las. Ich lebte in einer imaginären
Welt. Meine einzige sichtbare kreative Leistung bestand in den vielen Zeichnungen, in denen ich damals auf grossen Blättern alle möglichen Schlachten
unterschiedlichster Gegner darstellte.
Meine Lesewut hatte schlimme Folgen. Unser «Erb-Onkel» Otti lud mich
für zwei Wochen in seine Villa am Genfersee ein. Mit dem Sackgeld, das er mir
aushändigte, erstand ich sechs Bücher von Karl May. Statt mich im Garten zu
vergnügen und meine Gastgeber mit kindlichem Charme zu erfreuen, verbrachte
ich die ganzen Ferien in meinem Schlafzimmer, wo ich, auf dem Bett liegend,
einen nach dem anderen dieser Bände verschlang. Diese Enttäuschung veranlasste Onkel Otti dazu, sein gesamtes Erbe der Familie Burlet zu vermachen.
1940 - 1941
Sandro: Nach dem Abschluss der Primarschule trat ich in das Mathematisch-Naturwissenschaftliche Gymnasium ein, in dem ich mir von Anfang an
völlig deplaziert vorkam. Im Gegensatz zur Primarschule, die durch die Beziehungen zu vielen fremdländischen und unkonventionellen Schülern und Schülerinnen geprägt war, musste ich mich jetzt in einer homogenen, nur aus Knaben
gebildeten Klasse behaupten, in der ich mich als ausgesprochenen Aussenseiter empfand. Auf Grund meiner Nationalität war ich zudem dauernden Anfeindungen ausgesetzt. 1940 hatte Italien an der Seite Deutschlands den Alliierten
den Krieg erklärt, womit sich dieser auf Nordafrika ausdehnte und Libyen zum
Hauptschauplatz des Afrikafeldzugs wurde. Anfang 1941 hatten die Briten die
gesamte Region erobert, die zwei Monate später durch das Eingreifen des deutschen Afrika-Korps unter General Rommel von den Achsenmächten wieder
zurückgewonnen wurde. Nach der Ernennung Montgomerys zum Oberbefehlshaber der alliierten Truppen geriet die Front in dauernde Bewegung. Auf jeden
Vorstoss folgte ein Rückzug. Im Januar 1942 stiessen die deutsch-italienischen
Truppen erneut bis zur ägyptischen Grenze vor, mussten aber nach der Niederlage von El Alamein im November 1942 ganz Libyen endgültig räumen.
Das wechselnde Kriegsglück färbte mein Auftreten in der Schule: entweder
verkündete ich triumphierend deutsch-italienische Erfolge, insbesondere die
jeweiligen Eroberungen von Bengasi, das immer wieder die Hand wechselte,
oder ich musste mir den Spott und Hohn meiner Kameraden anhören, wenn die
britischen Truppen wieder die Oberhand gewonnen hatten.
Ich weiss nicht mehr, wie sich meine Haltung durch die Kapitulation Italiens veränderte. Wahrscheinlich verlor das Kriegsgeschehen mit dem Ende des
Libyen Feldzugs seine bisherige Bedeutung für mein Selbstwertgefühl. Dieses
wurde nun immer stärker durch meine schlechten Schulleistungen, die dauernden Vorwürfe und Klagen meiner Mutter und eine durchgehende Desorientiertheit meines Denkens und Fühlens bestimmt.
161
Das Kriegsgeschehen wirkte sich auch auf das Leben
unserer Familie in Libyen aus.
Während Tittina, Manfredos
Frau, mit ihren Kindern nach
Italien geflüchtet war, wurde
ihr Mann von den Engländern
gefangen genommen und bis
zum Kriegsende als Veterinär
eingesetzt.
211. Unten: Sandro Bocola,
um 1941.
211a. Links: Nonna Maria
mit ihrem Sohn Toto an
einem Strand Libyens, um
1943.
Toto, der mit Nonna Maria in
Derna geblieben war, wo er
seine und unsere Ländereien
verwaltete, starb 1944 bei
einem Bombardament durch
die englische Luftwaffe.
162
Sandro Bocolas Gymnasialzeit
212. Die Klasse 6 B des
Mathematisch Naturwissenschaftlichen Gymnasiums,
1942
1941 - 1947
Sandro: In der neuen Schule
kam ich mir von Anfang an
völlig deplaziert vor. Man sieht
es an der träumerischen Abwe-
163
senheit, mit der ich mich von
meinen Kameraden abgrenze –
ich lebte in einer anderen Welt.
164
213. Paul de Kruifs Männer die den Tod besiegen,
1938.
214. Oben: Ein Roman des
amerikanischen Autors Upton Sinclair über die amerikanische Genossenschaftsbewegung.
Sandro: Obwohl ich dieses
spezifische Buch nicht gelesen
hatte, war ich ein begeisterter
Befürworter der sozialkritischen Gedanken Upton
Sinclairs und entwickelte
später selbst den Entwurf eines
utopistischen Gesellschaftssystems.
Sandro Bocolas Selbstfindung
Sandro: Meine erste Selbstfindung. Im Gymnasium zeichnete ich mich durch
undiszipliniertes Verhalten, miserable schulische Leistungen und durch ständige Störungen des Unterrichts aus. Unter den Schulkameraden galt ich nichts
und wurde nur auf Grund meines zeichnerischen Talents ein wenig bewundert.
Dies begann sich erst in der fünften Gymnasialklasse zu ändern. Um diese
Zeit wurde im Geschichtsunterricht die Reformation durchgenommen. Um uns
den Sinn und die Argumente der damaligen Kontroversen näher zu bringen,
hielt uns unser Lehrer Werner Humm während mehreren Stunden dazu an, diese
Auseinandersetzungen unter Beteiligung der ganzen Klasse nachzuvollziehen.
Die katholischen Schüler mussten dabei die Rolle der Reformatoren, die protestantischen diejenige der Katholiken übernehmen. Ich hatte zwar nach meiner
Ankunft in der Schweiz katholischen Religionsunterricht genossen, doch drehte
sich dieser ausschliesslich um meine Sünden und um die Verpflichtung, diese
jeden Sonntag zu beichten. Mit sonstigen religiösen Fragen hatte ich mich nie
beschäftigt und die Existenz von zwei unterschiedlichen christlichen Konfessionen kaum je wahrgenommen. Umso erstaunter und betroffener war ich, als
unser Lehrer die sozialgeschichtliche Entwicklung schilderte, die zur Reformation führte, und damit die Dogmen der katholischen Kirche ihres absoluten
Geltungsanspruchs beraubte. Als Katholik musste ich in die Haut der Reformatoren schlüpfen und vertrat im Lauf dieses Experiments deren Auffassungen mit
zunehmender Begeisterung. Dabei entwickelte ich mich zum unnachgiebigsten
Gegner der römischen Kirche und zum eigentlichen Star dieser Streitgespräche.
Unter meinen Mitschülern gewann ich plötzlich ein neues Ansehen und schwor
mir, fortan keine Autorität mehr ungeprüft anzuerkennen. Mit Erreichung des
sechzehnten Altersjahres machte ich von dem damit gewonnenen Recht Gebrauch, aus der katholischen Kirche auszutreten.
1944 - 1946
Einen weiteren Schritt meiner Selbstfindung vollzog ich mit der Entdeckung
des Jazz. Meine musikalischen Interessen waren bisher auf die Operetten von
Johann Strauss und Franz Léhar beschränkt, die ich als Fünfzehnjähriger in Begleitung meiner Mutter in Aufführungen des Basler Stadttheaters kennen gelernt
hatte. Ich wollte selbst Opernsänger werden und hatte mir mit Hilfe von Schallplattenaufnahmen des berühmten Tenors Richard Tauber meine Lieblingsarien
aus Léhars „Land des Lächelns“, darunter Taubers grössten Hit, „Dein ist mein
ganzes Herz“, soweit einverleibt, dass ich sie fehlerfrei und mit grösstem Aplomb bei jeder Gelegenheit - vor allem dann, wenn ich nach dem Essen das
gewaschene Geschirr abzutrocknen hatte - vortrug.
Das änderte sich, als mein Onkel Ernst, der in seiner Wohnung in unregelmässigen Abständen Studentenabende zu organisieren pflegte, bei denen jeweils
einer der acht bis zehn Teilnehmer über ein bestimmtes, selbst gewähltes Thema
einen Vortrag hielt, mich ein Mal dazu einlud, an seiner Veranstaltung teilzunehmen. Der Vortrag jenes Abends galt der Entwicklung des Jazz von seinen
Anfängen bis zum Jazz von New Orleans, mit den grossen Blues Sängerinnen,
den Orchestern von King Oliver, Fletcher Henderson und Louis Armstrong. Die
Schallplatten, die der Vortragende, ein junger Student, zur Veranschaulichung
seiner Darlegungen auf einem Grammophon vorführte, änderte schlagartig meine bisherigen Präferenzen und die damit verbundene Vorstellung meiner selbst.
Franz Léhars „Land des Lächelns“ entpuppte sich als Edelkitsch, mit dem ich
nichts mehr gemein haben wollte.
In der triebhaften Kraft und im unbeschreibbaren, durch keine Definition
fassbaren Phänomen des „swing“, der besonderen Synkopierung dieser Musik,
glaubte ich plötzlich mein eigentliches und wahres, auch Sexualität und Triebhaftigkeit umfassendes Selbst zu erkennen.
165
216. Ernst Burlet, der Ehemann von Tante Hanny.
Heidy: Onkel Ernst war ein
liebevoller, präsenter Vater
für seine Familie, sportlich,
auch streng und sehr aktiv. Ich
durfte unter seinen Fittichen in
den Old Boys Schwimmclub
eintreten, wo ich die Jüngste
war und oft mit den Grossen
im Eglisee auf dem Affenfelsen dabei sein durfte. An den
Trainigstagen kam ich relativ
spät nach Hause und war sehr
stolz darauf. Er baute in unserem Keller eine Sauna ein und
benutzte sie jede Woche mit
seinen Freunden, anschliessend
jassten sie und tranken Bier.
Etwa sechs Monate nach der Besprechung der Reformation erklärte uns derselbe Lehrer, in welcher Weise viele der uns vertrauten und bisher nie hinterfragten Utensilien, wie z.B. ein ledernes Schüleretui, von schlecht bezahlten
Arbeitern Tag für Tag mit den immer gleichen Handgriffen am Fliessband hergestellt wurden, und konfrontierte uns damit nicht nur mit den ökonomischen,
sozialen und psychischen Bedingungen geisttötender, ungelernter Fabrikarbeit,
sondern mit einer sozialen Wirklichkeit, die ich - analog zu den früher erörterten
religiösen Fragen - bisher noch nie wahrgenommen hatte.
Für meine bisherige Lektüre – die Abenteuerromane von Karl May, Zane
Gray und Emilio Salgari, - hatte ich nun jedes Interesse verloren; stattdessen las
ich mit Begeisterung Paul de Kruifs Männer, die den Tod besiegen, eine Sammlung von Aufsätzen über die Entdeckungen von Pasteur, Semmelweis, Röntgen
oder das Ehepaar Curie; Remarques Im Westen nichts Neues, die sozialkritischen Romane von Upton Sinclair und Ernst Haeckels Welträtsel.
215. Rechte Seite unten:
King Oliver and his Creole
Jazz Band, 1923.
(www.britannica.com)
216a. Rolf Dreyfus, ein
Freund aus der MNG-Klasse,
in die man mich zurückversetzt
hatte. Er teilte meine Liebe
zum Jazz und wir trafen uns
jeden Mittwoch Nachmittag,
um gemeinsam, Jazzplatten
anzuhören.
166
Sandro Bocolas Selbstfindung
1944 - 1946
167
217. Rechts: Piet Mondrian,
Rhythmus aus schwarzen
Linien, 1935/42, Öl auf Leinwand, 68,9x71cm, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen,
Düsseldorf.
219. Katalog der Ausstellung
Vincent van Gogh, 1947, in
der Kunsthalle Basel
Sandro: Im Herbst desselben Jahres erfuhr meine neu
gefundene Begeisterung für
die sogenannte moderne Kunst
durch eine Ausstellung Vincent
VanGoghs eine wesentliche
und entscheidende Erweiterung.
Auch diesmal war es Georg
Schmidt, der mir mit einer
Führung durch die wiederum
in der Kunsthalle Basel gezeigten Ausstellung die Augen
für die geistige Haltung Van
Goghs und für die Kühnheit
und Bedeutung des von ihm
vollzogenen Entwicklungsschrittes öffnete, indem er die
einzigartige Verbindung von
farbig-formaler, bildnerischer
Strenge und leidenschaftlicher,
expressiver Intensität seiner
Werke zur Lebensgeschichte
des Künstlers in Beziehung
setzte und den kunstgeschichtlichen Bedingungen seiner Zeit
gegenüberstellte.
218. Georg Schmidt, 18961965, Direktor des Basler
Kunstmuseums. Foto Maria
Netter, Basel.
Sandro: Der im Geschichtsunterricht durch Werner Humm
eingeleitete Prozess der religiösen und sozialgeschichtlichen
Aufklärung hatte mit Georg
Schmidts Vortrag über Mondrians Umwertung aller bildnerischen Werte seine ästhetische
Entsprechung gefunden. Die
Kriterien dessen, was schön
sei, hatten einen fundamentalen Wandel erfahren. Ich sah
wiederum die Welt - diesmal
die Welt der Kunst - mit neuen
Augen.
Sandro: Während meines letzten Schuljahres, das ich, da zurückversetzt, in
einer neuen Klasse absolvierte, lernte ich zum ersten Mal moderne Kunst kennen. Meine Grossmutter besuchte regelmässig die grossartigen Vorlesungen, in
denen Georg Schmidt, der damalige Direktor des Basler Kunstmuseums, das
Wesen und die Enwicklung der modernen Kunst sowohl den Schülern der Gewerbeschule als auch einem breiten, kunstinteressierten Publikum näher zu bringen versuchte. Im Februar 1947 veranstaltete er für seine Hörer eine Führung
durch die eben eröffnete Ausstellung Piet Mondrians in der Basler Kunsthalle,
zu der mich meine Grosssmutter mitnahm.
Ich war von der Ausstellung und von Schmidts Vortrag, in dem er die künstlerische Entwicklung Mondrians von seinen ersten symbolistischen und gegenständlichen Darstellungen zu den zunehmend abstrakten Gestaltungen seiner
kubistischen Bilder bis zur totalen Gegenstandslosigkeit seines reifen Werkes
- der sogenannten „Neuen Gestaltung“ - verfolgte und erläuterte, restlos hingerissen. Unter dem Eindruck dieser Ausstellung begann ich alsbald, auf grossen weissen Kartonbogen meine eigenen «Mondrians» zu malen, die ich in die
Schulklasse mitnahm und die dort an der Wand aufgehängt wurden.
Ich sah in seinem Leben und
seinem Werk eine überhöhte
Entsprechung zu meinem
eigenen Liebesbedürfnis und
meinen eigenen Sehnsüchten
und Hoffnungen, die künstlerische Gestaltung eines Selbstund Weltbildes, mit dem ich
mich vorbehaltlos identifizieren konnte.
Ich hatte über die Kunst eine
neue Identität, die Grundlage
meiner zukünftigen Entwicklung, gefunden.
220. Links: Unsere Grossmutter
Sandro: Sie wurde durch
die Vorlesungen von Georg
Schmidt zu einer begeisterten
Anhängerin der modernen
Kunst. Sie nahm mich oft ins
Museum oder in bestimmte
Ausstellungen mit, um mich
mit der neuen Kunst vertraut
zu machen.
Heidy: Die Kunstvorlesungen
von Georg Schmidt, wo Omi
und Mama immer zu Fuss
hingingen, um das Tramgeld
zu sparen, waren Tradition,
und ich wurde als Zehn- bis
Zwölfjährige mitgenommen,
langweilte mich jedoch und
schlief oft im Vortragssaal des
Kunstmuseums ein.
168
Sandro Bocolas Ausweisung aus dem Gymnasium
1947
169
223. Links: Umschlag der
Schülerzeitung Nase
221. Oben: Die Klasse 6b des
MNG, aus der ich 1946 in die
5b zurückversetzt wurde
222. Dr. R. Buchner, während meiner Zeit Rektor des
MNG
Sandro: In der Schule war ich (1946) inzwischen auf Grund meiner ungenügenden Leistungen zurückversetzt worden. Statt die Gelegenheit zu nutzen, bei
diesem zweiten Durchgang des Lehrstoffs das bisher Verpasste nachzuholen
und mir die noch fehlenden Kenntnisse anzueignen, hatte ich jeden Versuch, in
der Schule mitzuhalten, aufgegeben und trachtete lediglich danach, mich durch
ungewöhnliche Auftritte, undiszipliniertes Verhalten und jede Art von Bubenstreichen hervorzutun, um aus dem erdrückenden und für mich beschämernden
Alltag des Schulbetriebs auszubrechen. Der gravierendste und folgenschwerste
Verstoss dieser Art (gegen die Schulordnung) bestand in der Herausgabe der
Nase, einer kleinen, durch Anzeigen finanzierten Schülerzeitung, die ich zusammen mit einem Klassenkameraden redigiert hatte und in verschiedenen
Schulhäusern gratis verteilte. Nach Auffassung des Rektors, der mich schon am
folgenden Tag auf sein Büro zitierte, hätte ich mein Projekt der Schulleitung
vorlegen und um eine Bewilligung nachsuchen müssen, die ich angesichts des
Inhalts meines Blattes nie erhalten hätte.
Mein letztes Vergehen, bei dem ich vor einem Schulzimmer einen Explosionskörper entzündete, führte schliesslich zum Ausschluss aus dem MNG. Die
Versuche meines Grossvaters und Onkel Ernsts, das drohende Unheil abzuwenden, konnten lediglich erreichen, dass ich noch das laufende Schuljahr abschliessen durfte, um darauf „freiwillig“ aus dem Gymnasium auszutreten.
Mein Grossvater sollte diesen Austritt nicht mehr erleben, denn er starb im
Mai 1947 an seinem langjährigen Krebsleiden.
Sandro: Den grössten Anstoss
erregte die Nase mit meinem
Artikel Über das Verhältnis zwischen Knaben und
Mädchen, in dem ich für die
Koedukation in der Schule und
eine liberalere Auffassung der
Beziehungen zwischen Jugendlichen eintrat. Meine Forderungen waren äusserst bescheidene wie zum Beispiel: „Es ist
falsch, dass Eltern erschrocken
sind, wenn ihre 16-jährige
Tochter mit einem Jüngling
ins Kino geht, oder wenn sie
durchs Fenster sehen, wie dieser ihre Tochter vor dem Hause
küsst. Deshalb ist das Mädchen
noch lange nicht verdorben.
Im Gegenteil, von einer solche
Freundschaft profitiert sie bestimmt mehr, als wenn sie ihre
Mutter um Aufklärung über bestimmte Probleme bitten würde
und diese ihr ausweichen
oder sie mit nichtssagenden
Erklärungen abspeisen würde.“
Doch trotz der Naivität und
Harmlosigkeit meines Artikels
bezeichnete ihn der aufgebrachte Rektor mir gegenüber
als „schmutziges, pornographisches Elaborat“, das strengste
Strafmassnahmen zur Folge
haben werde.
Aus dem Brief des Rektors an
die Eltern der Herausgeber
der Nase: Ihre Söhne haben
es unternommen eine Schülerzeitung heraus zu geben und
haben damit die Schuldisziplin
in gröblichster Weise verletzt.
Sie haben ihr schmutziges Elaborat den Schülern eigenmächtig verteilt. Wie zu erwarten
war, haben zahlreiche Eltern
bei Herrn Rektor Dr. Langbein
Protest erhoben, dass ihren
Kindern derartige Schundliteratur in der Schule ausgehändigt würde.
Wir werden aber von diesem
Disziplinarverstoss - der nun
insbesondere bei Bocola das
Mass vollmacht - die Inspektion in Kenntnis setzen und sie
ersuchen, die Schulausweisung
in Erwägung zu ziehen.
(T11 und T12)
224. Oskar Schär um 1947.
Sandro: Sowohl unser Grossvater als auch Onkel Ernst
setzten sich
gegenüber dem Rektor
des MNG, Dr. Buchner, vergeblich für mich ein.
170
Heidy Bocola und die Grossfamilie
225. Rechts: Die Apotheke
des V.S.K. an der Ahornstrasse in Basel.
1940-1947
Sette e mezzo, eine Art Poker. Oder dann das Französischkränzli von Omi am
Mittwoch. Oder der Geiger Reischl, der Hauskonzerte gab. Auch die anthroposophischen Vorträge und Zusammenkünfte bei uns zu Hause fanden wir spannend und doch auch fremdartig. Unvergesslich sind die Sonntagnachmittage,
wenn Omi Bricelets machte. Das ganze Haus duftete nach Vanilleteig und wir
durften die abgebrochenen Ränder des hauchdünnen Briceletgebäcks behalten.
Die Apotheke wurde von unserer Tante Lisy Scheitlin-Schär
geleitet; auch unsere Mutter
arbeitete dort.
Opi praesidierte in seiner würdigen Art immer die Tischrunde, Omi rannte zwischen Küche und Esszimmer hin und her und Sandro und ich sollten nach dem
Essen beim Abwaschen helfen. Sandro verzog sich aber immer auf die Toilette
und kam erst wieder raus, wenn natürlich alles schon abgetrocknet war.
Jeden Sonntag kochte Omi Kalbfleischkügeli an weisser Sauce mit Kartoffelstock, und Opi bekam so lange ich mich erinnern kann, immer das gleiche
Menü: dreimal Kalbfleischplätzli, einmal Beefsteak Tartar und einmal Fondue.
In die Sauce der Kalbfleischplätzli durften wir unser Brot tunken, vom Beefsteak Tartar bekamen wir die Garnitur, Gürkli und Tomaten, und vom Fondue
durften wir die Fäden angeln. Dazu gab es für Opi immer zwei Flaschen Bier
und eine Flasche Rotwein; letztere nahm er dann mit an seinen Schreibtisch,
wo er bis in die Nacht arbeitete. Für den Rest der Familie gab es oft Rösti und
Milchkaffe. Ich war aber vollkommen zufrieden und glücklich. Vielleicht oder
sehr wahrscheinlich weil ich mir auch oft (mit gestohlenem Geld), bei unserem
Metzger, der ja Omi bediente, einen Klöpfer und eine Salzgurke kaufte. Herr
Holderegger (so hiess der Metzger) hat mich nie verraten, was ich im Nachhinein als ausserordentlich und grossartig empfinde.
Heidy: Mama liebte ihre Ahornapotheke mit Tante Lisy, doch
sie war auch oft müde von der
Doppelbelastung, Apotheke
und Sandro und mich und
unseren Hund Lumpi, der
immer zwischen Apotheke und
Bachlettenstrasse hin und her
pendelte.
Sandro und ich waren auch oft
in der Apotheke,wir liebten
das Hinterzimmer, in dem sich
immer alle Mitarbeitenden
versammelten, den Geruch der
Medikamente und die Vielfalt
der Waren. Später haben wir
uns natürlich auch ab und zu
selbst bedient - d.h.gestohlen !
227. Rechts: Ein Brief, den
Heidy aus den Ferien an
Opa schrieb, um 1943
Heidy in einem Brief an unsere
Mutter (inkl. allen ortographischen Fehlern):
Liebe Mutter wir haben nicht
gehendelt, und haben keinen
krach gemach. Und ich danke
dir fil fil mal für die Defelein
wo du mir gegeben hast. Fiele
grüsse an Mamma von deinem
lieben und kleines II Klass
Mädche das Heidi Bocola heist
und die Aufgaben macht.
226. Oben: Tante Lisy und
unsere Mutter, um 1945
171
Heidy: Ich glaube, dass ich – zu meinem Glück – in der Familie viel weniger
beachtet wurde, als mein sehr fordernder und unberechenbarer Bruder Sandro.
Ich wollte auch lieb sein, um Mama glücklicher zu machen. Nach der DegenPrimarschule kam ich mühelos ins Mädchengymnasium und lebte eigentlich
frei und sehr unabhängig. Wenn ich wild mit unserem Cousin Ruedi Scheitlin
und Sandro mitspielen durfte, war ich immer sehr glücklich und stolz.
Sandro wuchs der Familie einfach etwas über den Kopf, und ich bemühte
mich deshalb „lieb“ zu sein, weil Mama ja auch oft müde von der Arbeit in
der Ahorn-Apotheke heimkam. Für mein Gefühl hatten wir ein wundervolles
Leben im Bachlettenhaus, eine Grossfamilie und so viele unterschiedliche Einflüsse. Mit unseren Freunden Barblan spielten wir an Sonntagen stundenlang
228. Heidy um 1943
228a. Lumpi, der Hund unserer Mutter.
Heidy: Für mich war Opi der
geduldigste Grossvater, den
man sich vorstellen kann. Er
arbeitete ruhig weiter während
dem ich stundenlang unter
seinem Schreibtisch spielte. Er
war für uns Kinder der gütige,
grosszügige Patriarch, den wir
liebten und vor dem wir gleichzeitig immer grossen Respekt
hatten. Ich glaube, dass ich
dank Opi meinen Vater wenig
vermisste.
Heidy: Als wir dem Kinderheim Mümliswil entwachsen
waren,wurden wir in den
Ferien in die damals bekannte
Rudinkolonie geschickt.Auch
in der Rudinkolonie hatte
ich immer Heimweh,und so
schreibe ich in meinen Briefen immer wie lieb ich sein
möchte, vielleicht aus dem
Gefühl heraus, ich würde zur
Strafe weggeschickt, oder ich
würde unsere Mutter zu sehr
belasten.
172
Heidy Bocola und die Grossfamilie
229. Rechts:Zwei Seiten
eines Briefes von Heidy an
Opi und Omi und an unsere
Mutter, Mai 1946.
1940-1947
Heidy: Opas Krankheit. Als Opi so um 1945 krank wurde und einen künstlichen Darmausgang bekam, wurde ich seine kleine Krankenschwester, die seine
Blechschale entfernte, entsorgte, auswusch und seinen künstlichen Darmausgang bedeckte. Es hiess dann :“Opi het wieder e Explosion gha.“ Ich spürte wie
Opi mir sehr dankbar war und meine Hilfe auch annehmen konnte. Ich weiss
noch heute, dass es mir erstaunlicherweise überhaupt nichts ausgemacht hat.
Im Mai 1947 starb Opi, den ich bis zum Schluss gepflegt hatte, und Tante
Biba (eine reiche Freundin des Hauses) organisierte die grosse Beerdigung. Ich
wurde schwarz eingekleidet und bekam ein Portemonnaie mit Einfranken- und
Fünfzigrappenstücken; ich musste die vielen Blumen und Kränze entgegennehmen und den Ausläufern einen Franken Trinkgeld geben. Doch nach einer
Weile fand ich, dass fünfzig Rappen auch genug seien und behielt den Rest für
mich und hatte dann auch jahrelang deswegen ein schlechtes Gewissen!!! Nach
Males Fortgang und Opis Tod und auch bald darauffolgenden Tod von Onkel
Ernst wurde Vieles anders in der Bachletten, und es begann eine eher schwierige
Zeit für mich, bis ich dann Loulou kennen lernte. Doch davon in einem andern
Band.
Oskar Schär in einem Brief an
seinen Freund F.Finger, 22.
10. 1946: Plötzlich entdeckte
man einen Mastdarmkrebs, der
nicht zu operieren war. Man
hat nun durch eine Operation
einen Anus praeter geschaffen
und den Krebs unschädlich gemacht. Doch leide ich seither
unter der Willkür meiner beiden Därme, die machen, was
und wann sie wollen, so dass
ich selten mit Sicherheit über
meine Zeit verfügen kann.
173
232. Oben: unsere langjährige Haushalthilfe Male
231. Todes Anzeige Opa
230. Oben: Heidy, um 1946
Heidy: Omi hat mich als
Mädchen in Allem bestärkt,
mutig zu sein, zu kämpfen,
Ideale zu vefolgen und mich
nie unterkriegen zu lassen. In
den vielen, oft fast gewalttätigen Kämpfen, die Sandro und
ich miteinander austrugen, hat
sie manchmal zugeschaut ohn
einzugreifen, mich aber mit
Zurufen wie „Hopp Heidy“
gestärkt, nicht aufzugeben.
Sie überwachte auch mein
Klavierüben, sass neben mir
und zählte mit dem Metronom
die Takte! Noch heute habe ich
das „eine, zweie“ im Ohr.
Heidy: Die Bachlettenstrasse war ein Frauenhaus ,und ich bin mit dem Zauberwort von Omi und Mama aufgewachsen:“lönd mir das Mädeli in Rueh,das
Mädeli isch scho rächt“. Diese kraftvolle Unterstützung, die später natürlich von
mir an Michelle und jetzt an Armelle weitergegeben wurde, war und ist sicher
ein Schlüssel zu meiner Lebenskraft.
Omi war eigentlich die heimliche Herrscherin, die Königin, in der Bachlettenstrasse, und Mama war froh, dass sie nicht so viel Verantwortung übernehmen musste; Opi, die graue Eminenz im Hintergrund, die eben viel am Schreibtisch sass, hatte aber dann doch manchmal das Schlusswort. Dem Treiben seiner
Frauen mit ihren Geheimzirkeln und Schwärmereien sah er gelassen zu; daran
teilgenommen hätte er aber nie und nimmer.
Heidy: Sandro und ich haben
beschlossen, unsere Erinnerungen in dieser Familiengeschichte bis ungefähr zu Opis
Tod aufzuschreiben.
Ich spüre noch jetzt die Trauer
um Males Fortgang.
Bei meiner Firmung 1944 war
Male, als ich von der Kirche
nach Hause kam, “verschwunden“. Wieder einmal hatte
unsere Familie beschlossen,
Komplikationen, Wut und Unverständnis zu vermeiden und
Males Fortgehen listigerweise
so zu legen, dass ich nicht zu
Hause war und abgelenkt wurde durch das Fest und die Geschenke meiner Firmung. Ich
war todunglücklich und habe
nur noch geweint; ich konnte
mich über nichts mehr freuen,
und irgendwie ging für mich
die Kinderzeit da zu Ende.
174
233. Eine Broschüre zur Erinnerung an Oskar Schär,
mit Beiträgen von Ernst Burlet,
Emil Schmidlin, Eugen Dietschi u.a.
234. Werner Kellerhals, 100
Jahre Coop Schweiz, 18901990.
Diese Schlagzeile steht für
viel mehr als für die immerhin
beachtliche Tatsache, dass der
Verband schweiz. Konsumvereine (V.S.K.) sich im Lauf von
hundert Jahren zur heutigen
Coop Schweiz entwickelt hat.
Dahinter verbirgt sich nicht nur
ein grosses Kapitel schweizerischer Wirtschaftsgeschichte,
sondern auch ein Teil der
Geschichte unserer Familie,
der Lebensgeschichte unseres
Urgrossvaters und unseres
Grossvaters, die mit grossem
persönlichem Einsatz einen
entscheidenden Beitrag dazu
geleistet haben.
(Vgl. Kellerhals, 1990, S.15.)
Tod von Oskar Schär
1947
236. Oskar Schär, um 1945
Ernst Burlet: Der liebe Verstorbene - Dr. Oskar Schär Haller - hat mich als
Schwiegersohn mit der Aufgabe beehrt, mit der Bekanntgabe einiger von ihm
niedergelegten Gedanken die heutige Trauerfeier zu eröffnen. Hören wir einige
letzte Notizen des Verstorbenen:
Oskar Schär: «Wenn ich sterbe, habe ich mein Tagewerk erfüllt und mein
Leben nach bestem Willen und besten Kräften zugunsten meiner lieben Familie
und der Allgemeinheit, insbesondere der minderbemittelten Bevölkerung, ausgenützt. Ein Grund zu übermässiger Trauer für meine Angehörigen liegt nicht
vor, und ich wünsche denn auch nicht, dass nach meinem Tode Trauer getragen
wird. Wenn einem ein Verwandter in jugendlichem oder mittlerem Alter wegstirbt, ohne dass er sich auswirken und für seine Familie sorgen konnte, wie
meine Brüder Otto und Arnold und meine Schwiegersöhne Donald Scheitlin und
Willy Bocola, ist die Trauer berechtigt und angezeigt. Wenn jemand jedoch ein
so hohes Alter erreicht wie ich und sein Pensum mehr als erfüllt hat, muss man
danken und nicht klagen.
Ich war mein ganzes Leben lang ein «Eigener›, vielleicht auch etwas ein
«Tröchni». Ich war, abgesehen von meinem Mitleid mit den materiell benachteiligten Volksgenossen und dem daraus entspringenden humanen Denken und
Wirken, stets nur durch Erwägungen der Vernunft geleitet. Ich habe nie einer anderen menschlichen oder übermenschlichen Autorität, die mit meiner Vernunft
nicht übereinstimmte, mich gebeugt, selbst nicht in der Politik, wo ich parteiliche Entscheidungen, die meiner Überzeugung widersprachen, nie befolgte, wohl
aber - durch Erfahrungen gewitzigt - mich dem Grundsatz des kleineren Übels
unterwarf. Ich war jedoch nie Fanatiker. Ganz speziell bin ich nie ein Gläubiger
gewesen, weder als Christ, Mohammedaner oder Buddhist, Anthroposoph usw.
Ich fühlte mich über jedes religiöse Bekenntnis erhaben, habe jedoch jedem gegenüber, der sich aus Überzeugung oder Bedürfnis zum biblischen oder einem
anderen Glauben bekannte, Toleranz geübt.
Diese Toleranz beanspruche ich aber auch mir gegenüber. Wenn ich im Leben bewusst ohne Kirche und Pfarrer ausgekommen bin, lehne ich auch bei der
Bestattung geistlichen Beistand ab.«
Aus einem Text von Emil
Schmidlin, in „In Memoriam
Karl Oskar Schär“:
Nicht ohne einen letzten
kurzen Gruss seiner alten
Freunde vom Schweizerischen
Odd Fellows-Bunde soll dieser
Mann von uns scheiden.
(...) Dem Kampfe für Wahrheit
und Wahrhaftigkeit galt das
ganze Schaffen und Wirken
des Verstorbenen. Jedem
hohlen Scheine war er abhold.
Wenn es zu kämpfen galt
für Recht und Gerechtigkeit,
gegen Unrecht, Lüge und
Verdrehung, so war Oskar
Schär ein gefürchteter Fechter,
der sich nicht scheute, die
Dinge beim rechten Namen zu
nennen, unbekümmert darum,
ob er sich dadurch beliebt oder
verhasst machte.
Oft genug war Undank sein
Lohn. Aber diese Unerschrockenheit, die Geradlinigkeit
seines Wesens, das in grundsätzlichen Dingen keine
Kompromisse kannte, musste
schliesslich jedem, selbst
seinem Gegner, Hochachtung
abringen.
Hut ab vor Männern, die
nicht buhlen um die Gunst
der Grossen und nicht suchen
den Beifall einer urteilslosen
Menge, sondern treu und fest
zu ihrer Überzeugung stehen,
komme, was da wolle.
Emil Schmidlin (T6)
235. Anna Schär-Haller mit
ihrem Ehegatten, um 1945
Sandro: Unsere Grossmutter,
eine wunderbare, aufgeschlossene, aufrichtige und
herzensgute Frau, deren Liebe
und Fürsorge eine der grundlegenden Voraussetzung für die
Leistungen und das Auftreten
des gefeierten Oskar Schär
bildeten.
Heidy: Omi war es auch, die
für den musischen Teil unserer
Erziehung und dafür besorgt
war, dass viele interessante
Gäste in der Bachletten ein und
ausgingen.
175
Sandro: Erst durch die Arbeit an diesem Buch ist mir bewusst geworden, in
welchem Ausmass mein Grossvater mein Selbstbild bestimt hat. Ich erinnere
mich kaum an nähere Kontakte, an persönliche Gespräche mit ihm. Er wirkte
auf mich durch die Gegenwart und Aussstrahlung seiner Person, durch seine
Integrität, die Treue zu sich selbst, die in seinem Auftreten und in jeder seiner
Äusserungen schon damals auch für mich spürbar war. Er strebte nicht nach
persönlichem Gewinn, sondern setzte sich während seines ganzen Lebens für
seine Familie und die Allgemeinheit ein.
Als geistiges Vorbild setzte er Massstäbe, denen ich mich in meinem so
anders gearteten Leben, obwohl ich ihnen nur mangelhaft zu genügen vermag,
bis heute verpflichtet fühle.
Heidy: Opi habe ich einfach
vorbehaltlos geliebt, auch
jetzt in diesen Monaten der
Wiederbegegnung möchte
ich ihn einfach streicheln und
nochmals sagen OOOOpapa
und danken.
176
Epilog
Epilog
Nachdem wir unsere Familiengeschichte bis zum Tod unseres Grossvaters
dargestellt hatten, wurde uns klar, dass wir den Bericht über das Lebenswerk
von Johann Friedrich Schär und Oskar Schär nicht abschliessen können, ohne
uns zu fragen, welche Bedeutung ihre Arbeit und die Genossenschaftsbewegung
für unsere Zeit, für die gegenwärtige wirtschaftliche und politische Lage hat.
Wir waren eben daran, uns mit dieser Frage auseinander zu setzen und damit
das letzte Kapitel unseres Buches in Angriff zu nehmen, als das Magazin No.45
des Tages Anzeigers unter dem Titel Die Alternative – Eine Hymne auf eine urschweizerische Institution einen Artikel von Hans Kissling veröffentlichte, der
unter anderem auch unsere Frage auf umfassende und kompetente Art beantwortete.
Durch das Entgegenkommen von Finn Canonica, dem Chefredaktor des Magazins, für das wir uns sehr herzlich bedanken, sind wir glücklicherweise in der
Lage, als Hommage an das Lebenswerk der beiden „grossen“ Schärs, die für
unser Anliegen relevanten Stellen dieses Artikels zu zitieren.
Die Herausgeber
Dr. Hans Kissling
Ist Nationalökonom. Er leitete
lange Jahre das Statistische
Amt des Kantons Zürich.
Sein Buch Reichtum ohne
Leistung – die Feudalisierung
der Schweiz ist letztes Jahr
erschienen.
Auszüge aus dem Artikel von Hans Kissling:
Zwanzig Jahre nachdem das Planwirtschaftssystem des ehemaligen Ostblocks Schiffbruch erlitten hat, ist letztes Jahr nun auch die kapitalistische Marktwirtschaft des Westens in eine tiefe Krise geraten. Verschiedentlich ist deshalb
die Forderung nach einer Systemänderung erhoben worden. Es stellt sich somit
die Frage: Gibt es überhaupt eine Alternative zum System der kapitalistischen
Marktwirtschaft?
Die heutige Marktwirtschaft ist kapitalistisch, weil in ihr private Kapitalgesellschaften vorherrschen. Im Rahmen einer marktwirtschafthchen Ordnung
muss das aber nicht zwingend so sein, denn es gibt eine Alternative. Sie heisst
Marktwirtschaft in Kombination mit Gemeineigentum, wie zum Beispiel genossenschaftliches Eigentum. Genossenschaften sind im Besitz der durch die Unternehmenstätigkeit Betroffenen: Arbeitnehmer, Konsumenten und Lieferanten.
Entsprechend geht es genossenschaftlich organisierten Unternehmen nicht um
einen möglichst hohen Gewinn, sondern um eine gemeinsame Selbsthilfe zur
Förderung der Mitglieder. Genossenschaftskapital ist deshalb soziales Kapital.
Hätten wir heute die Kombination von Markt und sozialem Kapital, so hätte es
kein Marktversagen gegeben, da in einem solchen System die Anreize zur Entwicklung von «Gier» fehlen, die den privatwirtschaftlich organisierten Kapitalismus mit den bekannten Folgen kennzeichnen. (...)
Ein Blick in die Statistik der International Cooperative Alliance 2008 zeigt,
dass die Schweiz in Sachen Genossenschaften an der Weltspitze rangiert. So
ist Migros das zweit- und Coop das drittgrösste Detailhandelsunternehmen der
Welt mit der Unternehmensform Genossenschaft. Auch in den Bereichen Versicherung und Banken belegt die Schweiz mit der Mobiliar und der Raiffeisenbank
Spitzenplätze. Heute gibt es in der Schweiz rund 13 000 genossenschaftliche
Betriebe mit rund 130 000 Beschäftigten. Davon sind rund 5300 landwirtschaftliche Genossenschaften. 430 sind im industriellen Sektor und 1900 im Dienst-
177
leistungssektor tätig. 1700 sind Wohnbaugenossenschaften. Sie verwalten fünf
Prozent des gesamten Bestandes der Schweiz. Rund zwei Drittel der Schweizer
Haushalte sind Mitglied beziehungsweise Mitbesitzer von Coop und/oder Migros. Während die Zahl der Genossenschaften - vor allem wegen Fusionen - in
den letzten Jahren abgenommen hat, haben einige Genossenschaften, wie Coop
2,5 Millionen, Migros 2 Millionen und die Raiffeisenbank 1,5 Millionen Mitglieder, Tendenz steigend. (...)
Am Beispiel von Migros und Coop kann man die gesellschaftlichen und
volkswirtschaftlichen Vorteile sehen, die genossenschaftlich organisierte Unternehmen bewirken. Beide Unternehmen zeichnen sich durch überdurchschnittliche Sozialleistungen für die Beschäftigten aus, und in beiden Unternehmen sind
Arbeitnehmende im Verwaltungsrat vertreten. Zudem sind beide um umweltgerechtes Handeln und faire Einkaufsbedingungen für Drittweltprodukte bemüht.
Bei internationalen Wettbewerben in Bezug auf den Umgang mit der Umwelt
erhalten sie regelmässig höchste Auszeichnungen. Auch in Sachen gesunde Ernährung erbringen die beiden Grossverteiler Pionierleistungen. Kein anderes
Detailhandelsunternehmen hat biologische Produkte mehr gefördert als Coop.
Weltweit einmalig ist der Beitrag von Migros im kulturellen Bereich: Die Firma
wendet ein Prozent des Umsatzes als «Kulturprozent» auf, aus dem kulturelle
Projekte finanziert werden.
Vor der Initiative der Juso, die das Verhältnis des höchsten zum tiefsten Lohn
auf 12:1 beschränken will, müssen die Manager von Coop und Migros keine Angst haben; sie bewegen sich seit Langem innerhalb dieses Rahmens. Die
beiden Unternehmen bilden auch im grossen Stil Lehrlinge aus, je 3000. Die
Discounter Aldi und Lidl, deren Besitzer zu den reichsten Personen in Europa zählen, bieten hier nichts Vergleichbares. Weil von Genossenschaften keine
Dividenden an Vermögende ausgeschüttet werden und keine Lohnexzesse bei
Managern vorkommen, wirkt ein höherer Anteil an Genossenschaften gegen die
soziale Ungleichheit. Eine vergleichbare Bedeutung haben die rund 1700 Wohnbaugenossenschaften mit insgesamt rund 165 000 Wohnungen. Sie bieten vor
allem in den Städten Tausenden von Menschen eine bezahlbare Wohnung und
verhindern, dass die Städte bald nur noch für die Gutverdienenden erschwinglich sind.
Im Detailhandel, einer der meistumkämpften Branchen, sind es ausgerechnet die beiden Grossgenossenschaften Migros und Coop, die seit Jahren die
beste Performance an den Tag legen. Sie schaffen es, sich gegen die grössten
und stärksten Detailhändler der Welt durchzusetzen. Trotz Eintritt von Aldi und
Lidl haben bis jetzt weder Migros noch Coop an Marktanteilen verloren. Coop
konnte in den letzten Jahren gar noch zulegen. Und Carrefour, eine der grössten Detailhandelsketten der Welt, hat sich vor der starken genossenschaftlichen
Konkurrenz in der Schweiz zurückgezogen und seine Läden an Coop verkauft.
Die Gründe für die hervorragende Entwicklung der beiden Konsumgenossenschaften liegen auf der Hand. Anders als Aktiengesellschaften müssen sie keine
Gewinne an die Aktionäre ausschütten, sondern können diese in die Zukunft
ihrer Unternehmen investieren. Das Potenzial an Investitionen und Innovationen
macht sie zu Wachstumsmotoren in der Wirtschaft. Ihre Substanz stärkt deren
178
Epilog
Handlungsspielraum und macht sie auch unabhängiger gegenüber den Banken.
Die Manager müssen sich nicht mit Aktienkurspflege herumschlagen oder gar
Übernahmekämpfe führen. Sie können ihre Managementkapazitäten voll für die
langfristige Entwicklung des Unternehmens einsetzen. Die 1997 erfolgte Umwandlung der genossenschaftlichen Rentenanstalt in eine Aktiengesellschaft
mit dem neuen Namen Swiss Life brachte einen Kulturwandel, und die Swiss
Life geriet durch Missmanagement in existenzielle Nöte. Die Aktionäre mussten Wertverluste ihrer Aktien von 85 Prozent hinnehmen, während sich einige
Manager massiv bereicherten und ihre Pflichten gegenüber dem Unternehmen
vernachlässigten.
Die wahren «Helden» der Marktwirtschaft sind denn auch die CEOs der
Grossgenossenschaften. Sie erreichen eine hervorragende Performance «ihrer»
Unternehmen mit einem Lohn, der ungefähr zehnmal kleiner ist als in Aktiengesellschaften von vergleichbarer Grösse üblich. Dementsprechend hoch ist das
Image dieser Genossenschaften in der Bevölkerung. Es scheint, dass die Konsumenten erkannt haben: Gäbe es in der Schweiz weder Migros noch Coop, so
hätten wir in diesem Land keine Lebensmittelläden, die den Namen verdienten,
sondern lediglich bessere Warenlager nach dem Muster der deutschen Anbieter
in der Schweiz. (...)
Mit den Raiffeisenbanken und der MigrosBank sind Genossenschaften wichtige Player im Schweizer Bankenwesen, auch im Versicherungswesen mit der
Schweizerischen Mobiliar. Aber auch im Industriebereich gibt es Beispiele für
erfolgreiche Genossenschaften. Die weltweit operierende Gruppe Mondragän
im Baskenland nimmt unter den Industrieunternehmen in Spanien den siebten
Platz ein und besitzt Fertigungsstätten in vier Kontinenten. Sie betreibt auch
Supermärkte und besitzt eine eigene Bank.
Die Rechtsform der Genossenschaft bietet zwar keinen absoluten Schutz vor
verfehlter Geschäftspolitik. Das zeigt das zuweilen monopolistische Verhalten
der Genossenschaft Fenaco als Zulieferer für die Landwirtschaft oder die letztes Jahr bekannt gewordenen Exzesse mit Helikopter Geschäftsreisen und übertrieben hohen Boni des CEO der Raiffeisenbank. Solche Übertreibungen sind
jedoch selten, und die Genossenschaften entwickeln sich in der Regel organisch
entlang ihrer selbst verdienten Mittel. Da der Druck fehlt, eine möglichst hohe
Rendite zu erzielen, gehen sie weniger Risiken ein. Es ist denn auch augenfällig,
dass genossenschaftlich organisierte Unternehmen von der aktuellen Krise viel
weniger betroffen sind als Aktiengesellschaften. Dies gilt vor allem auch für die
Finanzbranche. Weder die genossenschaftlich organisierten Raiffeisenbanken
noch die Migros Bank sind von der Krise in Mitleidenschaft gezogen worden.
Im Gegenteil, sie werden geradezu überschwemmt von Geld, das aus den Grossbanken abfloss, und konnten letztes Jahr über 66 000 neue Kunden akquirieren.
(...)
Mit der zunehmenden Grösse entsteht für Genossenschaften die Gefahr von
Kontrolldefiziten. Das lässt sich auch an den beiden Grossgenossenschaften Migros und Coop erkennen. Die Mitglieder werden statt durch die Genossenschafter selber durch Delegierte vertreten, deren hauptsächliche Aufgaben die jährliche Abnahme der Rechnungen und die Bestellung der Verwaltungsräte sind. Die
179
Delegierten haben praktisch keinen Einfluss auf die Geschäftstätigkeit. Immerhin stellte im März 2009 die Migros die Preisanschreibepflicht der Produkte den
Delegierten zur Entscheidung. Das einzelne Mitglied hat in den beiden Grossgenossenschaften aber praktisch keinen Einfluss. Zwar gibt es bei der Migros noch
die Institution der Urabstimmung, an der jedes Mitglied teilnehmen kann. Die
Migros ist damit wohl das einzige Grossunternehmen der Welt, das seine Jahresrechnung über zwei Millionen Mitgliedern in einer Urabstimmung unterbreitet.
Die Urabstimmung beschränkt sich jedoch auf die Abnahme der Rechnung. Dies
dürfte der Grund sein, weshalb nur eine verschwindende Minderheit der Genossenschaftsmitglieder jeweils an der jährlichen Urabstimmung teilnimmt. Auch
die Besetzung der Gremien können die Mitglieder der beiden Genossenschaften
nicht beeinflussen, da die Gremien durch stille Wahlen besetzt werden. Nicht
selten schlägt die Geschäftsführung ihre Wunschkandidaten den Wahlgremien
vor.
Für Grossgenossenschaften wie Migros und Coop, die im harten Konkurrenzkampf stehen, ist ein grösserer Einfluss der Mitglieder natürlich mit Risiken verbunden. Entscheide von Mitgliedern, welche die Konkurrenzfähigkeit
beeinträchtigen, könnten für die Unternehmen verheerend sein. Ein erleichterter
Zugang der Mitglieder zu den Gremien der Genossenschaft und die Durchführung von Urabstimmungen zu Fragen wie zum Beispiel der Kulturförderung
oder des Sponsorings wären aber sicher möglich, ohne die Unternehmen zu gefährden. Ein solche Vorgehen würde sicher auch die Bindung der Mitglieder und
der Kundschaft an die Unternehmen stärken.
Eine Gesellschaft kann sich mit Recht erst demokratisch nennen, wenn Demokratie sowohl im Bereich der Politik als auch in jenem der Wirtschaft praktiziert wird. Eine Wirtschaft, die von Genossenschaften geprägt ist, wäre ein
Schritt in diese Richtung. (...) Nicht mehr privatwirtschaftliches Renditekapital
wäre die bestimmende Kraft in der Schweizer Marktwirtschaft, sondern das auf
Solidarität und Kooperation beruhende soziale Kapital. Eine Schweiz der Genossenschaften würde ihrem Namen «Schweizerische Eidgenossenschaft» gerecht werden. Wie hat es doch der 92 jährige Kunstmaler und Plastiker Gottfried
Honegger kürzlich am Schweizer Fernsehen formuliert: «Ich bin auch heute
noch der Überzeugung, dass es eine genossenschaftfiche Schweiz braucht und
keine kapitalistische“.
Anhang
180
Transkriptionen
Dr. Henry Faucherre
Johann Friedrich Schär als
Genossenschafter. - T1
Anhang
Transkriptionen S. 181
Bibliographie S. 203
Bildrechte S. 205
Chronologie S. 206
Register S. 208
Die Herausgeber S. 209
181
Transkriptionen
T1 - Dr. Henry Faucherre:
Johann Friedrich Schär als
Genossenschafter, S.181
T2 - Oskar Schär:
Johann Friedrich Schär als
Sozialreformer, S.185
T3 - Prof. Dr. Th. Brogle:
Johann Friedrich Schär,
Begründer der modernen
Betriebswirtschaftslehre
S.187
T4 - Robert Flatt:
Zum 70. Geburtstag von
Professor Johann Friedrich
Schär, S.188
T5 - Eugen Dietschi, 1947:
Nachruf auf Oskar Schär
S. 190
T6 - Emil Schmidlin, 1947:
In Memoriam Karl Oskar
Schär. S.191
T7 - Schär, Oskar, 1929: Brief
an Willy Bocola, S.193
T8 - Willy Bocola, 1929:
Brief an Oskar Schär, S.194
T9 - Schär, Oskar, 1891:
Brief an Joh. Friedrich Schär,
S.197
T10 - Schär, Oskar, 1937:
Zur Erinnrung an CapitanoPilota Willy Bocola-Schär,
S.197
T11 - Andachtsstunde in St.
Gallen, S.199
T12 - R.Buchner, MNG: Brief
an Marty Bocola, S.201
T13 - R.Buchner, MNG: Brief
an Ernst Burlet, S.202
Wenn wir heute des
hundertsten Geburtstages
von Johann Friedrich Schär
gedenken, so geschieht das mit
Ehrfurcht, Liebe und Dankbarkeit! Voll Ehrfurcht denken
wir an Schärs Leistungen als
Wissenschafter; dabei denken
wir an ihn als den Schöpfer der
modernen Handelsbetriebslehre. Mit Liebe denken wir an
den Menschen Schär, der als
Lehrer seinen Schülern sein
väterliches Herz schenkte und
den Weg- und Kampfgenossen
im Leben draussen stets die
Treue gehalten hat. Und mit
Dankbarkeit denken wir heute
an Schärs gesegnetes Wirken
als Genossenschafter. Schär
war für die schweizerische
Genossenschaftsbewegung
Ideenklärer und Baumeister
zugleich.
Die nachfolgenden Blätter
wollen einen knappen Ueberblick über Schärs genossenschaftliches Wirken geben.
Eine geborene Führernatur
und mit reichen Gaben des
Geistes ausgerüstet, hat Johann
Friedrich Schär der genossenschaftlichen Sache in der mannigfaltigsten Weise gedient, als
kraftvoller Bekenner und Vertreter ihrer Prinzipien in Wort
und Schrift, im politischen
Leben und in der Wissenschaft,
als gewandter, vielerfahrener
Organisator, als unerschütterlicher Kampfgenosse und
Rufer im Streite, aber auch als
glücklicher Sammler, Binder
und Erhalter der Kräfte. Seine
besonderen Leistungen liegen
in der führenden Mitarbeit bei
der Gründung des Verbandes
schweiz. Konsumvereine und
dessen Leitung als Präsident
von 1892-1903. Er gab dem
Verband die erste grosse Note,
den nationalen und den weltwirtschaftlichen Beruf, er gab
ihm aber auch die rationalen
Normen dieses Berufs, das
rechnerische Richtmass des
werdenden Grossbetriebes. Er
führte die Bewegung aus der
engen Sphäre der dürftigen
Anfänge heraus und brachte sie
über die kleinen Sorgen und
Angelegenheiten hinweg in die
Richtung der grossen Ziele. Sie
nahm mit ihm gewissermassen
den vorwärts- und aufwärtsdrängenden Lauf, den er in der
Entwicklung seines eigenen
Lebens beschrieb: aus der
Dürftigkeit durch Auswirkung
eigener Kraft zur Fülle, aus
den Niederungen zur Höhe,
aus der Enge zur Weite.
Schär besass genossenschaftliches Erbgut. Er war
der älteste Sohn eines genossenschaftlichen Lohnkäsers.
„Schon von meinem zweiten
Lebensjahr an - schreibt Schär
in dem Aufsatz „Mein Werdegang zum Genossenschafter“ - lernte ich die Licht- und
Schattenseiten des Genossenschaftswesens aus eigener
Anschauung kennen, indem
mein Vater von 1848-1864
Angestellter einer Käsereigenossenschaft des Emmentales
sein und seiner Familie Brot
verdienen musste ... Zuerst ich glaube, ich war damals erst
fünf Jahre alt - musste ich beim
Buttern nachhelfen. Das Butterfass hatte nur eine einzige
Kurbel, doch der Vater wusste
sich zu helfen. Er befestigte
an dieser Kurbel einen Strick,
an dem ich bei jedem Umlauf
im wirksamen Moment ziehen
musste. Das war meine Arbeit
von 5-6 Uhr.“
Schär wurde aber auch
durch H. Zschokke im Geiste
Pestalozzis genossenschaftlich
beeinflusst. Er trat auf den
Boden der Genossenschaftsidee mit einem kleinen,
bescheidenen, aber innerlich
reichen Dorfideal. Mein Vorbild, erklärte er selbst einmal,
war der Oswald in Heinrich
Zschokkes „Goldmacherdorf“.
Als einfacher Schulmeister,
der Schär ja auch in seinen
jungen Jahren war, wollte er
wie jener Held des schweizerischen Genossenschaftsromans
zugleich ein Dorfreformator,
ein Volkspädagoge, ein Führer
zu allem Nützlichen, Guten
und Schönen sein. In diesen
Grenzen blieb es aber bei
Johann Friedrich Schär nicht.
Sein Schicksal rief ihn aus
den Schranken einer sozialen
Dorfidylle heraus und stellte
ihn in grössere Wirkungskreise
hinein, in denen nicht nur sein
Blick sich weitete, sondern
auch sein Wille umfassendere Antriebe empfing. Damit
rückte auch sein „GoldmacherIdeal“ in grössere soziale
Sphären hinein; es wuchs sich
zu einem genossenschaftlichen
Volks- und Weltideal aus. Nun
erkannte er alsbald den wahren
„Goldmacherbund“ in der
Organisation der Konsumkraft
eines Landes auf der Basis
der freien Genossenschaft und
des Zusammenschlusses der
einzelnen Genossenschaften
zu einem allgemeinen Landesbunde.
An jeder wichtigen Lebensstation hinterlässt Schär
Spuren seiner genossenschaftlichen Gesinnung und Tat. Mit
19 Jahren übernimmt er in
Wattenwil (Bern) sein erstes
Schulamt. Er gründet einen
gemeinnützigen Verein, um
alle einsichtigen Elemente der
Dorfgemeinschaft zu gemeinnützigem geistigem und
wirtschaftlichem Tun zusammenzufassen. Im Programm
steht auch die Gründung
eines Konsumvereins. Wenn
sich dieses Projekt vorerst
noch nicht verwirklichte, so
kann Schär wenigstens der
grassierenden Schnapsseuche
erfolgreich entgegentreten
durch Gründung der ersten
Mostereigenossenschaft in
jener Gegend. In Bischofszell,
als Lehrer der dortigen Sekundarschule, ruft er die erste
Käse-Verkaufsgenossenschaft
der Schweiz ins Leben (1874),
und zwei Jahre später ist er
Mitbegründer und Leiter des
Konsumvereins Bischofszell.
„Da ich gleichzeitig eine
Absatzgenossenschaft und eine
Transkriptionen
182
Konsumgenossenschaft leitete,
hatte ich Gelegenheit,die
beiden Arten der Vereinigung
zur Selbsthilfe zu vergleichen.
Als Ergebnis meiner diesbezüglichen Erfahrungen kann
ich hinstellen, dass besonders
nach der sozialen Seite hin
die Konsumgenossenschaft
weit über der Absatzgenossenschaft steht. Die eine kommt
der grossen Masse des Volkes
zugute, die andere dagegen nur
einer kleinen Zahl von Produzenten, die durch ihre Organisation, durch Ausschaltung des
Grosshandelsgewinnes für ihre
Produkte einen etwas höheren
Preis erzielen. Ich wendete
daher von dieser Zeit an mein
ganzes Interesse der Organisation der breiten Volksschichten
in Konsumgenossenschaften
zu, von der Ueberzeugung
geleitet, dadurch an einem
gemeinnützigen und sozialen
Werke zu arbeiten.“
Zur vollen Entfaltung
seiner genossenschaftlichen
Tätigkeit führt die Berufung
Schärs als Lehrer der Handelswissenschaften (1882) an die
neu gegründete Handelsabteilung der Oberen Realschule in
Basel.
Seit 1884 entwickelte
Schär eine überaus fruchtbringende Tätigkeit als
Behördenmitglied des A.C.V.
beider Basel, und 1890 war er
Mitbegründer des V.S.K., seit
1892 Präsident desselben bis
zum Jahre 1903, als Johann
Friedrich Schär nach Zürich
übersiedelte, um an der Universität Zürich sein Lehramt
als Professor der Handelswissenschaften anzutreten.
Die Doppelstellung Schärs
als Handelslehrer in Basel
und Professor der Handelswissenschaften an der Universität in Zürich einerseits
und als führender Theoretiker
und Praktiker des Genossenschaftswesens anderseits
führte begreiflicherweise zu
einem Dilemma, das, wenn
auch unter Schmerzen, gelöst
werden musste. Lassen wir
Schär wiederum selbst reden:
„Offen und geheim, in Ratsälen und in der Presse machte
man mir die Betätigung im
Genossenschaftswesen zum
Vorwurf. Im Kreise der Krämer
und Spezierer galt ich nicht als
Handelslehrer, sondern wurde
vielmehr als Handelsvernichter gescholten. Mehr als alle
meine Gegner vielleicht ahnen
können, habe ich seinerzeit unter diesem Dilemma
gelitten, bis ich mich zu der
Ueberzeugung durchgerungen
hatte, dass sich diese beiden
scheinbar widersprechenden
Seiten meiner Tätigkeit ganz
gut vereinigen lassen; dass ich
ein wahrer Handelslehrer und
ein guter Genossenschafter
gleichzeitig sein könne.
Unter sozialem Handel,
dessen Begriff ich zuerst in
die Literatur eingeführt habe,
verstehe ich jede Art von Handelsgewerbe, Industrie, Geldund Kreditverkehr inbegriffen,
das lediglich im Interesse des
Staats- oder Gemeindehaushaltes oder Konsumgenossenschaften betrieben wird.
Auch der soziale Handel muss,
wie der private Handel, von
Kaufleuten geleitet werden;
aber die ausführenden Kaufleute sind nicht Unternehmer,
sondern Angestellte (Treuhänder) der Gesellschaft, des
Staates, der Gemeinden oder
der freien Genossenschaften
... Wie niemand an sich selbst
verdienen oder gewinnen kann,
so ist auch im sozialen Handel
das Gewinnprinzip vollständig
ausgeschaltet. Der Grundgedanke des sozialen Handels ist
nicht, Reichtum zu Handen der
Unternehmer oder Kapitalisten
anzuhäufen, sondern Reichtum
zu Handen der Gesamtheit zu
erzeugen und die Wohlfahrt
des Ganzen zu begründen und
zu fördern.
Ich habe eben den Handel
von einer höheren Warte aus
aufgefasst. Nicht nur muss der
soziale Handel als ein notwen-
diges Glied in den Handelsbegriff einbezogen werden,
sondern auch die Unternehmer
des privaten Handels müssen
sich bewusst werden, dass sie
nur dann existenzberechtigt
und existenzfähig sind, wenn
sie sich als nützliches Glied
dem Organismus der Volkswirtschaft ein- und unterordnen. Der echte Kaufmann muss
ein Diener der Volkswirtschaft
werden, dessen Gehalt in einer
Tantieme des Nutzens besteht,
den er leistet ...
Unter der Herrschaft der
Konkurrenz, der Grossbetriebe,
unter dem Einfluss des sozialen
Handels hat auch der private
Handel der Neuzeit sich neu
orientieren müssen, so dass
für ihn die Definition gilt: der
Handel ist der nach Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und
Zweckmässigkeit organisierte
Güteraustausch zwischen den
Endgliedern der Wirtschaft.
Dass diese Aufgabe des
Handels, insbesondere in dem
Umfange der Versorgung der
Massen mit den notwendigen
Bedarfsgütern, vom sozialen
Handel am besten gelöst wird,
bedarf keines besonderen Beweises, da der soziale Handel
nach dem Prinzip der Selbstkosten unter Ausschaltung des
Unternehmergewinnes ist.“
In seinem genossenschaftlichen Aufbau geht Schär vom
lokalen Konsumverein aus, als
dem wirtschaftlichen Zusammenschluss der Schwachen.
„Jeder einzelne Konsumverein
ist das Produkt, eine Manifestation des Solidaritätsgefühls.“
Im Zeitalter der kapitalkräftigen Aktiengesellschaften
ist jedoch die Individual-Organisation eines Ortes überholt
... „ Die einzelnen Konsumvereine sind zu schwach, sie
müssen einen starken Rückhalt
suchen und ihn finden in einer
Gesamtorganisation.“ Sein Ziel
mit allen seinen sozialen und
wirtschaftlichen Perspektiven
steckte Schär dem V.S.K., und
laut und deutlich sprach er aus:
Transkriptionen
„Wir erachten die Wirksamkeit
eines lokalen Konsumvereins
als eine gemeinnützige und die
Bestrebungen des Verbandes
zudem noch als eine nationale.
Seine Aufgabe gipfelt in der
Begründung und Förderung der
nationalen Wohlfahrt.“ Ging er
so den Weg vom Lokalen zum
Nationalen, so behielt er doch
stets die örtliche Grundbasis
der Organisation als Kernpunkt
im Auge. Es ist das Gesetz des
genossenschaftlichen Föderalismus, betonte er in seiner
Churer Präsidialrede, „dass die
lebendige Kraft des Verbandes
nicht von einem oder einigen
wenigen Punkten aus in die
Glieder strömt, sondern dass
sie in allen Verbandsvereinen
eine Urquelle haben muss. Lokale Selbstorganisation ist die
Grundbedingung des Gedeihens des Ganzen.“
Freilich ebenso bestimmt
forderte er den Ausbau der
grossbetrieblichen Formen
und ihre Anpassung an die
Gesetze der fortschreitenden
ökonomischen und sozialen
Entwicklung. Wie er für sein
ganzes Vaterland in Hinsicht
auf dessen Stellung im Organismus der Weltwirtschaft und
sein Verhältnis zu den Grossmächten „die Steigerung der
Leistungsfähigkeit der ganzen
Nation“ verlangte und auf die
Erhöhung der „wirtschaftlichen
Wehrkraft“ drang, so wies er
den Genossenschaften und
ihrem Verbande die Aufgabe
zu, unaufhörlich an der Verbesserung ihres „Rüstzeuges“ zu
arbeiten, ihre Wehrkraft „aufs
beste zu organisieren“.
Als ein besonders wirksames Rüstzeug zur Stärkung
und zur Erhöhung der Stosskraft der Bewegung hat Schär
immer die Kapitalansammlung
betrachtet. In ihr erblickt er
das „Geheimnis der Blüte
und Kraft der Genossenschaften und ihrer Verbände“. In
parolenmässiger Zuspitzung
hat er oft darauf hingewiesen:
„Hundert Millionen Franken“
183
- rief er z.B. an der Glarner
Delegiertenversammlung
1901 aus – „hundert Millionen Spargelder liegen in den
schweizerischen Sparkassen
angelegt. Sie stammen zum
guten Teil aus den Kreisen des
Arbeiterstandes. Welch grosse
Werke der genossenschaftlichen Organisation liessen sich
ins Leben rufen, wenn auch
nur ein kleiner Bruchteil hier
fruchtbringend angelegt würde! Darum: äufnet die Fonds
der Vereine und des Verbandes
durch Anlage Eurer Spargelder.
Zum Blühen der Genossenschaft gehört nicht nur die
Organisation des Konsums,
sondern auch die Einlage von
Kapital!“
In seinen „Thesen über die
Bedeutung, Organisation und
Gründung von Konsumvereinen“ (1894) umschreibt Schär
in klaren Sätzen die Aufgaben
der lokalen Konsumvereine
und ihres Verbandes:
1. Die soziale Frage der
Gegenwart besteht im wesentlichen aus den zwei Teilfragen:
a) Was erhält der Arbeiter für
sein Arbeitsprodukt? (Lohnfrage.)
b) Was erhält der Konsument
für sein Geld? (Konsumfrage.)
2. Die sozialen Reformbestrebungen, welche dahin
zielen, das Los der unteren
Stände zu bessern und den
Enterbten im Volke Hilfe zu
bringen, erstrecken sich daher
auf zwei verschiedene Gebiete:
die Losung heisst:
Dem Arbeiter sein volles, ungeschmälertes Arbeitsprodukt;
dem Konsumenten für sein
Geld das volle, ungeschmälerte
Konsumationsgut!“
Im Jahre 1903 definierte
Schär als Aufgabe der Konsumgenossenschaften „die
Organisation der Konsumenten
zu einer Wirtschaftsgemeinschaft“. Unsere Devise heisst
daher: „Reichtum erzeugen ist
das wirtschaftliche, ihn gerecht
verteilen das soziale Problem;
beide ihrer Lösung entgegen-
zuführen ist die Aufgabe der
Organisation der Konsumenten
in freien Genossenschaften.“
Schär will nicht nur den
Konsumenten organisieren,
sondern auch Stadt und Land,
Arbeiter und Bauer, genossenschaftlich verbinden. In seiner
Rede zur Gründung eines
„Schweizerischen Genossenschaftsbundes (1898) führt er
u.a. aus: „Wenn in früheren
Zeiten der Mangel an Produkten es erklärlich machte, dass
nur ein kleiner Bruchteil der
Menschen ein sorgloses Dasein
fristen konnte, dagegen der
grosse Haufe zum Darben verurteilt war, so stehen wir heute
vor einer entgegengesetzten
Situation: Hunger und Not
in grossen Volkskreisen sind
heute nicht mehr eine Naturnotwendigkeit, sondern eine
Ungerechtigkeit, eine Hemmnis des Fortschritts zu einer höheren Kultur. Der Tisch könnte
heute für alle gedeckt werden;
es ist wohl ausser Zweifel, dass
bei richtiger Verteilung der
Güter jeder arbeitswillige und
arbeitsfähige Mensch seinen
Anteil am Lebensgenuss und
Lebensglück erhalten könnte.
Wenn nun tatsächlich dieser elementaren Forderung an
die Gesellschaft nicht Genüge
geleistet werden kann, wenn
trotz der arbeitersparenden
Maschinen, der Dienstbarmachung der Naturkräfte die
Arbeit weder leichter noch
lohnender wird, so muss ein
Fehler in der Verteilung der
Güter vorliegen... Gegen diese
ungerechte Verteilung gibt es
nur ein Mittel, es ist dies der
genossenschaftliche Betrieb,
organisiert auf Grundlage des
Konsums, die Wirtschaftsgenossenschaft. Die Notlage der
Bauern und städtischen Arbeiter hat ganz unzweifelhaft die
gleiche Ursache; beide leiden
unter der Tatsache, dass ihr
Produkt ihnen entrissen wird,
dass es in Form von Rente,
Zins, Dividende, Gewinn
usw. in fremde Hände überge-
führt wird. Es ist daher nicht
einzusehen, warum diese zwei
Klassen nicht zusammenstehen
sollten, um mit gemeinsamen
Mitteln ihre Lage zu verbessern...“
Im gleichen Jahre (1898)
brachte Schär den Gedanken
des Zusammengehens von
Arbeiter und Bauer in seiner
Churer Präsidialrede noch viel
pointierter zum Ausdruck. Die
entscheidende Stelle lautet:
„Unter den verschiedenen
Aufgaben, die der schweizerische Genossenschaftsbund zu
lösen hat, scheint mir namentlich eine von ganz besonderer
Bedeutung zu sein: die Einigung der städtischen mit der
ländlichen Bevölkerung, des
Arbeiters in der Industrie mit
dem Bauer. Was bis jetzt weder
einer politischen Partei noch
einer Regierung, weder der
Presse noch der Schule, weder
den Berufsverbänden noch
den Interessenvereinigungen
gelungen ist, die ländliche und
städtische Bevölkerung auszusöhnen und beiden auf höherer
Warte ein gemeinsames Ziel
zu stecken, das scheint, wenn
nicht alle Zeichen trügen, dem
schweizerischen Genossenschaftsbund ohne weiteres
gelingen zu wollen...
Denn in der Tat müssen
sich auf dem Boden der organisierten Konsumenten alle
Interessen aussöhnen, die auf
die Befreiung des Volkes aus
ökonomischer Knechtschaft
hinzielen. In dem Masse, wie
Stadt- und Landbewohner
in der Befriedigung ihrer
Konsumbedürfnisse von allen
Tributpflichten an das Grosskaptial befreit werden, in
gleichem Masse wächst auch
ihr Anteil am Arbeitsprodukt,
ihre Produktionskraft, ihre
ökonomische Selbständigkeit.
Und da bäuerliche und städtische Arbeiter und Kleinbürger
sich in dem gemeinsamen
Bestreben zusammenschliessen, ihre Existenzbedingungen
zu verbessern, ihre Arbeit
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Oskar Schär
Johann Friedrich Schär
als Sozialreformer. - T2
einträglicher, ihren Anteil
an den Glücksgütern und
am zeitlichen Lebensgenuss
grösser zu machen, so muss
notwendig ein solcher Bund
auch eine unüberwindliche
Kraft der Selbstentwicklung in
sich tragen.
Ich sehe die Zeit kommen,
wo die bäuerliche Genossenschaft für die städtische, die
städtische Genossenschaft für
die ländliche Bevölkerung
arbeitet und beide direkt ihre
Produkte austauschen, es wird
auch eine Zeit kommen, wo
die Summe der Ersparnisse
auf dem Wege eines vorher
organisierten Kredits der Gesamtheit der Genossenschaften
zugute kommt und diese in
den Stand setzt, nicht nur die
vom Fortschritt der Technik
verlangten Produktionsmittel
zu beschaffen, sondern auch
die einzelnen Glieder aus der
Abhängigkeit vom Grosskapital zu befreien. Und in noch
weiterer Entwicklung wird das
Ideal vom Frei-Land verwirklicht werden können, wo die
letzte Stütze der ökonomischen
Knechtschaft, der Abfluss
der Grundrente an Bank und
Hypothek, fällt und Grund und
Boden aus dem Privatbesitz
zurückerworben sind von den
städtischen und ländlichen
Genossenschaften. So kehren wir, allerdings auf einer
höheren Kulturstufe, wieder zu
jenen Zeiten der alten Markgenossenschaften zurück, wo es
keine Heimatlosen und Enterbten, aber auch keine aus dem
Schweiss des Volkes lebende
Millionäre gab.“
Bei dem hohen Gedankenflug Schärs ist es einleuchtend,
dass er auch den internationalen Zusammenschluss der
Genossenschaften förderte.
„Wir nehmen teil an den
internationalen Vereinigungen
der Konsumenten“, erklärte
er 1900 in Neuenburg. „Wir
stehen in freundschaftlichen
Beziehungen mit den Führern
der Genossenschaftsbestre-
bungen anderer Länder; gerne
tauschen wir mit ihnen unsere
Ideen aus, um von ihnen zu
lernen und das Gute, das sich
anderswo bewährt hat, auf unsere Verhältnisse anzuwenden.
Wohl ist es möglich, dass aus
der internationalen Vereinigung sich eine Art internatioalen Austausches der Produkte
der verschiedenen Länder
entwickelt.“
Noch unzählige weise
Mahnungen und Fingerzeige
dieser Art sind in den vielen
Reden, Schriften und Abhandlungen Schärs enthalten. Klar
und ausdrücklich hat er uns die
grossen Wirtschaftsprinzipien
und die gesunden Verwaltungsgrundsätze vor die Augen
gerückt und uns eindrücklich
ermahnt, in unverdrossener
Arbeit und mit peinlicher
Selbstprüfung den Pflichten
des Alltags nachzuleben.
Selbst viel befehdet und oft
verkannt, liess J. Fr. Schär
sich nie verbittern, und keine
Enttäuschung gewann Gewalt
über ihn.
Sein Selbstbekenntnis
lautet: „Ich bin ein Idealist; ich
war es als Jüngling, bin es geblieben als Mann und hoffe, so
Gott will, es zu bleiben, bis ich
den göttlichen Odem wieder an
den Weltenschöpfer als letztes
Dankesopfer zurückgebe. Ich
glaube an den endlichen Sieg
des Wahren, Schönen und
Guten in der Welt; ich glaube
an einen stetigen Fortschritt
des Menschengeschlechts,
an den einstigen Triumph der
göttlichen Liebe. Noch mehr,
ich halte es für Pflicht jedes
Menschen, der dafür Befähigung, Kraft und Mut besitzt,
an dem Kampf für Wahrheit,
Licht und Liebe teilzunehmen,
ein Diener der Menschheit zu
sein.“
Ein Mann und Führer mit
diesem Glauben hat nicht
vergeblich gelebt; sein Geist,
seine Tat und das Werk sind
geblieben. Seine Erben haben
die freudige Verpflichtung, es
zu verwalten, zu wahren und
zu mehren, um eine bessere
und freudigere Welt sicherzustellen. Das sei unser Dank an
Johann Friedrich Schär.
Von der Redaktion des
«Schweiz.Konsum-Vereins»
wurde ich ersucht, zur 100.
Wiederkehr des Geburtstages
meines Vaters einen Beitrag
einzusenden. Ich komme dieser
Aufforderung um so lieber
nach, als der Plan, den 1924
erschienenen ersten Teil der
Lebenserinnerungen von J.
Fr. Schär durch einen zweiten
Teil zu ergänzen, sich aus
verschiedenen Gründen noch
nicht hat verwirklichen lassen.
Das Buch «Das Lebenswerk
von J. Fr. Schär», von ihm
selbst in konzentrierter Form
dargestellt und mit einigen
Ergänzungen von Zeitgenossen versehen, wird erst später
erscheinen. Die Lebenserinnerungen von J. Fr. Schär, die
allerdings in den Details mit
dem Jahre 1882 aufhören und
die spätere Entwicklung nur
hie und da andeutungsweise erkennen lassen, sind ein
autobiographisches Werk, in
dem der Verfasser in absolut
ehrlicher und offener Weise
seine Entwicklung geschildert
hat. Er tat dies in einer Art und
Weise, dass kein Dritter das
Werk nachahmen oder fortsetzen könnte. Aus den Schilderungen des Verfassers ergibt
sich deutlich, dass er neben
seiner Tätigkeit als Lehrer und
Kaufmann sich auch intensiv
als Staatsbürger fühlte und
sich als solcher auch politisch
betätigte, und zwar ging sein
Bestreben vor allem dahin, die
Lage der minderbemittelten
Bevölkerung zu verbessern
und deren Niveau geistig und
materiell zu heben. Er war
einer der ersten Sozialreformer
und trat für wirtschaftliche
Reformen ein zu einer Zeit,
als das Manchestertum und
der Erwerbskapitalismus das
Feld noch weithin beherrschten und ein Angriff auf deren
Grundlagen starke Opposition
und persönliche Gegnerschaft
aus einflussreichen Kreisen
hervorrief, denen J. Fr. Schär
sich aber mutig aussetzte.
Er hatte in den ersten Jahren
seiner Basler Wirksamkeit,
neben all seinen sonstigen Aufgaben, auch das Studium der
damaligen grundlegenden nationalökonomischen Literatur
aufgenommen, unter anderem
auch das vielbändige Werk
Schäffles durchgearbeitet. Am
meisten beeinflusste ihn Henry
George›s Arbeit «Fortschritt
und Armut», das ihn zu einem
begeisterten Anhänger der
Bodenreform oder besser ausgedrückt der Bodenrechtsreform machte. Wenn er einmal
die Ueberzeugung gewonnen
hatte, dass durch eine soziale
Reform à la longue die Verhältnisse der armen Bevölkerung
gebessert werden könnten, und
dass sie nicht nur theoretisch,
sondern auch praktisch durchführbar sei, so begnügte er sich
nicht mit der Erklärung, man
sollte eine oder zwei Reformen
einführen, sondern setzte sich
mit allen seinen Kräften für deren praktische Verwirklichung
ein, im Glauben, dass es in der
Schweiz mit ihren demokratischen Grundlagen möglich
sei, solche Reformen durch
Aufklärung und Belehrung des
Volkes, gegebenenfalls auch
gegen eine mächtige Opposition durchzusetzen.
Aus seiner Basler Tätigkeit ist
hier neben seinem Wirken für
die Konsumgenossenschaft
die Gründung der Gesellschaft
«Freiland» zu erwähnen, in
welcher er die Freunde der
Bodenrechtsreform aus Basel
und der ganzen Schweiz zusammenführte und eine rege
Tätigkeit entfaltete. Theoretisch waren die Postulate
der «Freiland»-Bewegung
durchaus begrüssenswert; aber
nicht alles, was theoretisch
richtig ist, ist realisierbar,
wenigstens nicht in seiner
Totalität. Eine völlige Ueberführung der Grundrente in das
Gemeineigentum, welche die
«Freiland»-Bewegung postulierte, erwies sich als nicht
realisierbar; sie stiess auch
auf den Widerstand gerade
derjenigen Kreise, der armen
Landwirte, die man durch eine
Verstaatlichung der Grundrente von immer drückender
werdenden Hypothekarzinsen
und vor weiterer Bodenverschuldung bewahren wollte.
J. Fr. Schär schätzte damals
die Hindernisse zu gering ein.
Wenn man aber die bald 60
Jahre, die seit der ersten Aktion
der «Freiland»-Bewegung
verflossen sind, retrospektiv
an sich vorüberziehen lässt
und die seitherige Entwicklung
vergleicht, kommt man zum
Ergebnis, dass gerade für die
schweizerische Landwirtschaft
heute vieles besser wäre, wenn
vor einigen Jahrzehnten die
von der «Freiland»-Bewegung
propagierte Lösung verwirklicht worden wäre. Man
braucht nur darauf hinzuweisen, dass zum Beispiel die
landwirtschaftliche Verschuldung heute ein Vielfaches
derjenigen von 1890 ausmacht.
Die heute von der Landwirtschaft ausgehenden und vom
Eidgenössischen Justizdepartement protegierten Bestrebungen, das landwirtschaftlich
genutzte Land ausschliesslich
den Landwirten zu erhalten
und eine weitere Verschuldung
zu verunmöglichen, wären damals leichter zu verwirklichen
gewesen, als das heute der
Fall ist. J. Fr. Schär war eben
in seinen Auffassungen über
die Gestaltung der schweizerischen Wirtschaft seinen
Zeitgenossen um mehrere
Jahrzehnte voraus. Als er bei
der Basler Regierungsratswahl
1893 durchfiel, äusserte sich
ein wohlwollender Vertreter
der gegnerischen Richtung:
Schär hätte bei seiner Tätigkeit
als Regierungsrat die Basler
Verhältnisse gesprengt.
Neben den Endzielen der
Bodenreform vertrat J. Fr.
Schär mit seinen Freunden
eine grosse Zahl von leichter
durchzuführenden Postulaten
und warb durch Zeitungsar-
tikel, Broschüren, Vorträge
und Anträge in den Behörden
für deren Verwirklichung.
Sie lauteten unter anderem: Vermehrung des öffentlichen
Grundbesitzes, - Bau von
Arbeiterwohnungen durch den
Staat, - Verstaatlichung der
Wasserkräfte, - Gründung der
Basler Kantonalbank.
Damals waren die Finanzierungsmethoden für Wohngenossenschaften noch nicht so
erleichtert wie heute. Es ist
anzunehmen, dass Schär der
staatlichen Bereitstellung von
Wohnungen die Unterstützung
von Wohngenossenschaften durch den Staat, wie sie
besonders die Stadt Zürich
vorbildlich gewährt, vorgezogen hätte. Die Vermehrung des
öffentlichen Grundbesitzes,
die nicht ein der Bodenrechtsreform allein vorbehaltenes
Postulat darstellt, ist von den
verantwortlichen Behörden,
besonders in Basel, nicht im
gewünschten Umfang getätigt
worden. Im Basler Regierungsrat, der die entscheidende Behörde war, waren zeitweise die
kapitalistischen Kräfte noch zu
stark vertreten. Wenn man sich
überlegt, welche Wertsteigerung grössere private Liegenschaften seither erfahren haben
und von den Basler Mietern in
Form erhöhter Grundrenten bezahlt werden müssen, so wird
einem die Kurzsichtigkeit der
damaligen Behörden bewusst.
Ganz ohne Wirkung blieb die
Aktion «Freiland» nicht. Das
grosse Gut Walter-Dürst zum
Beispiel wurde vom Regierungsrat erworben zu Fr. 4.25
je Quadratmeter, als er erfuhr,
dass ein Konsortium von
«Freiland»-Anhängern einen
Vorvertrag über die Erwerbung
dieses Gutes abgeschlossen
hatte. Dem Balser Gemeinwesen sind aus der seitherigen
Verwertung dieses grosssen
Gutes Millionen von Franken
zugeflossen, allerdings auch
deshalb, weil die Verwertung
durch den Staat nicht nach
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Th. Brogle: J. F. Schär,
Begründer der modernen Betriebswirtschaftslehre. - T3
«Freiland»-Grundsätzen erfolgte.
Angeregt vom Studium
der Bodenrechtsreform ergriff
Schär auch die Initiative zur
Gründung der Basler Kantonalbank. Auch hier waren viele
Widerstände zu überwinden.
Während der Periode von 1893
bis 1896, da Schär dem Grossen Rate nicht mehr angehörte,
blieb seine Motion in den
Schubladen des Regierungsrates liegen. Die Vorberatungen
wurden erst mit dem Wiedereintrit Schärs in den Grossen
Rat aufgenommen und unter
seiner tatkräftigen Mitwirkung
zu Ende geführt. Heute ist die
Basler Kantonalbank - eine der
jüngsten unter den 27 Kantonalbanken - eine der stärksten
im Kranze der Schweizer
Kantonalbanken.
Eine ganz wichtige Angelegenheit, die ebenfalls von der
«Freiland»-Bewegung in die
Hand genommen wurde, war
die Frage der Verwertung der
schweizerischen Wasserkräfte,
ob dieselben dem Privatkapitalismus überlassen werden
oder der Gemeinwirtschaft
zugute kommen sollen. 1891
veröffentlichte Schär einen
packenden Aufruf an das
Schweizervolk, in dem er auf
die Gefahren einer privatkapitalistischen und zugleich
unsystematischen Ausbeutung
der Wasserkräfte hinwies. Kurz
darauf reichte die Gesellschaft
«Freiland» eine ausführlich
motivierte Petition an die
Bundesversammlung ein. Die
Eingabe blieb ohne direkten
Erfolg, da der Bundesrat sich
von kapitalistischen Kreisen
einen Experten aufschwatzen liess, welcher erklärte,
alle Behauptungen in der
«Freiland»-Petition seien
übertrieben. Statt der prophezeiten Millionen Pferdekräfte
könnten mit Sicherheit nur 57
000 Pferdekräfte gewonnen
werden. Wegen dieser relativ
kleinen Kraftmenge wollte
weder der Bundesrat noch die
Bundesversammlung gegenüber den Kantonen etwas
Ernsthaftes übernehmen. Die
Eingabe blieb dann doch nicht
ganz erfolglos. Die meisten
Kantone und grösseren Städte
entnahmen derselben, welchen
Wert ihnen ihre Wasserkräfte
in Zukunft einbringen konnten.
Die meisten Kantone errichteten eigene Wasserkraftwerke oder stellten schützende
Bestimmungen auf, wenn
sie Konzessionen erteilten,
so dass heute in der Schweiz
die gemeinwirtschaftliche
Ausbeutung der Wasserkräfte
überwiegt, während allerdings
die in der Eingabe geschilderte
Gefahr einer irrationellen Ausbeutung bei 25 verschiedenen
Konzessionsmächten in ihrem
grossen Schaden für die ganze
Schweiz erst heute erkannt
wird. Vor kurzem hat ein
kapitalistisches WasserkraftAusbeutungs-Unternehmen
die Sache so dargestellt, als
ob ohne das Eingreifen des
Privatkapitals die Verwertung der schweizerischen
Wasserkräfte lange nicht so
schnell und so rationell erfolgt
wäre, als wenn sie allein auf
gemeinwirtschaftlicher Basis
erfolgt wäre. Diese Mitteilung
unterliess aber beizufügen,
dass die Bedeutung der Wasserkräfte für unsere schweizerische Wirtschaft nicht zuerst
aus ihren Kreisen verkündigt
wurde. Mit vorstehender
Darstellung sind noch lange
nicht alle Probleme erschöpft,
mit denen sich J. Fr. Schär als
Sozialreformer befasst hat;
einer anderen Publikation sind
weitere Angaben vorbehalten.
Man kann das Wirken eines
Menschen auf geistige und auf
wirtschaftliche Erfolge hin beurteilen. Unzweifelhaft lebt ein
Teil des Gedankengutes von J.
Fr. Schär weiter, man braucht
nur einen der noch lebenden
Schüler dieses gottbegnadeten
Lehrers an ihn zu erinnern, so
leuchten seine Augen auf, und
er bekennt freudig: «Auch ich
hatte das Glück, sein Schüler
zu sein», von anderen Anhängern seiner beinahe unbegrenzten Aktivität nicht zu reden.
Und wer mehr auf wirtschaftliche als auf geistige Erfolge
abstellt, wird bei J. Fr. Schär
konstatieren, dass jedenfalls
in den letzten Jahrzehnten
kein anderer Schweizer so viel
Erfolge für die Gemeinwirtschaft seines Landes erzielt
hat als J. Fr. Schär. Abgesehen
von den hauptsächlich durch
Preisregulierung sich auswirkenden, nicht messbaren
wirtschaftlichen Vorteilen,
die den Nutzniessern der zur
Hauptsache auf den Gedanken
Schärs ruhenden, nicht auf
Staats- oder Privatmonopolen
begründeten Institutionen:
V.S.K. und Basler Kantonalbank, die in freier Konkurrenz
mit kapitalistischen Betrieben
sich durchsetzen mussten -,
zugute kommen, ist in diesen
beiden Betrieben ein Betrag
von bis jetzt mindestens 100
Millionen Franken, sei es
durch Reservenansammlung,
sei es durch Abführung an
die Gemeinwirtschaft, dem
Erwerbskapitalismus entzogen
worden. J. Fr. Schär war also
nicht nur ein erfolgreicher
Theoretiker, sondern seinen
Theorien waren auch grosse wirtschaftliche Erfolge
beschieden, jedoch, wie von
vorneherein beabsichtigt, nur
für die Gemeinwirtschaft, nicht
für ihn persönlich.
Dr. Oskar Schär
Als Johann Friedrich Schär
im September des Jahres 1924
78jährig im Freidorf bei Basel
starb, fand das Lebenswerk
dieses seltenen Mannes im
In- und Ausland vielseitige
Würdigung. Der Schreiber
dieser Zeilen selbst hatte
damals im Rahmen einer
eindrucksvollen Gedenkfeier in
Zürich vor vielen Hunderten
von namentlich jungen
Menschen in begeisterten
Worten das Bild dieses
Schweizers zu zeichnen
versucht. Sein Leben war so
sturmbewegt und sein Schaffen
und Wirken so vielseitig, dass
es gerade der Jugend jener
unsichern, gehaltlosen und
müden ersten Nachkriegszeit
als Vorbild dienen durfte.
Wenn es seither um den
Namen Schär aber still
geworden ist, so will das in der
wildbewegten, aufgewühlten
und verworrenen Zeit, die uns
seit zwei Jahrzehnten nicht
mehr zur Besinnung kommen
lässt, nicht heissen, dass Schärs
Werk nicht gross genug wäre,
um sein Leben zu überdauern.
Bedurfte es nicht eines
besonderen Anlasses, um in
den letzten Jahren andere und
bedeutendere Namen - ich
denke an Carl Spitteler und an
Heinrich Pestalozzi - der
Oeffentlichkeit wieder in
Erinnerung zu rufen? So möchte ich denn den 100. Geburtstag dieses Mannes dazu
benützen, um festzustellen,
dass an die Leistungen Schärs
auf wirtschaftspolitischem,
wirtschaftserzieherischem und
wirtschafts wissenschaftlichem
Gebiete gerade heute wieder
erinnert werden darf. Das, was
er als unermüdlicher Schaffer
erstrebte und für das er
kämpfte, tritt als geistiges Erbe
gerade in dieser Gegenwart so
recht deutlich in Erscheinung.
Die Volksgemeinschaftsidee,
die aus seinem Suchen und
Ringen allmählich als wirtschaftliches Glaubensbekenntnis herauswuchs und die ihre
Vertreter schon in Männern,
wie Jakob Bodmer, Kaspar
Hirzel, Isaak Iselin, Johann
Kaspar Lavater und Heinrich
Pestalozzi, fand, ist heute das
sehnsuchtsvolle Hoffen einer
zermürbten Menschheit. Die
Genossenschaftsbewegung, die
ihn zu ihren grossen Pionieren
zählen darf, hat ihre stärksten
Wurzeln erst in der jüngsten
Zeit gefasst. Die Lehre von der
Produktivität des Handels, die
ihm einst Hohn und Spott
eintrug, wird heute von seinen
Schülern und von den Schülern
seiner Schüler als selbstverständliche Wirtschaftserkenntis
fruchtbringend verbreitet.
Namentlich aber bleibt der
Name Schär für immer
verbunden mit der Entwicklung der Beriebswirtschaftslehre, die sich innerhalb vierzig
Jahren aus einem rein technischen Fache zu einer nach
systematischer Vollkommenheit strebenden Hochschuldisziplin entwickelt hat. Die
Schriften Schärs wirkten
bahnbrechend, zumal sie aus
der Feder des gereiften Mannes
flossen, der eigentlich erst mit
60 Jahren - zuerst als Professor
an der Universität Zürich,
nachher an der Handelshochschule Berlin - seine wirtschaftswissenschaftliche
Forschungsarbeit begann. In
diesem Alter aber ist das
Weltbild in fachwissenschaftlicher und weltanschaulicher
Beziehung abgeschlossen, und
die äusserst fruchtbare
Forscherarbeit, die Schär
während 12 Jahren in Berlin
entfaltet, trägt überall das
Gepräge des auch in wissenschaftlicher Hinsicht ausgereiften Mannes, der klärend und
ordnend in die oft stürmischen
fachwissenschaftlichen
Debatten eingreift und der
manch entscheidendes Wort
namentlich in der brennend
gewordenen Fage über den
Wirtschaftscharakter der von
ihm vertretenen jungen
Disziplin zu sagen hat. Sein
gesundes Schweizertum
kommt ihm dabei zustatten,
wie überhaupt die Schweiz
Schärs geistiger Standort auch
dann bleibt, als er seinen
akademischen Wirkungskreis
in Deutschland, das damals auf
der Höhe seiner Macht und
Blüte stand, so überaus
fruchtbar zu gestalten wusste.
Wenn ich - einst der begeisterte
und immer dankbare Schüler
Schärs - heute, bald auch schon
zur älteren Generation der
Vertreter der Betriebswirtschaftslehre gehörend, Schärs
fachwissenschaftliche Leistung
kritisch überprüfe, so vermag
ich vieles von dem, was vor 20
Jahren noch mir unantastbares
Lehrgut bedeutete, nicht mehr
mit Ueberzeugung zu vertreten. Vor allem steht fest, dass
den Betriebsgrundsätzen, die
die Grundpfeiler seiner Theorie
bilden, keine wissenschaftliche
Objektivität zukommt. Schär
hat seine persönliche, ethisch
fundierte Weltanschauung dazu
benützt,ein Lehrsystem zu
schaffen, in dem der Wirtschafter, vor allem der Kaufmann,
als Idealbegriff figuriert und in
dem ferner das wirtschaftliche
Handeln nicht als ökonomische
Erscheinung, sondern als
kategorischer Imperativ der
Pflicht, als neues Evangelium
zur Erreichung des sozialen
Ausgleichs seinen Platz erhält.
Für eine wissenschaftliche, das
heisst von allen praktischen
Gesichtspunkten freie Darstellung, wie sie die moderne
Betriebswirtschaftslehre sein
will, aber verlieren Schärs
Argumente an Bedeutung.
Auch seine Auffassung, dass
die Betriebswirtschaftslehre
ein Teilstück der Volkswirtschaftslehre bilde, weil die
Volkswirtschaft im Grunde
nichts anderes sei als eine
potenzierte Betriebswirtschaft
(Einzelwirtschaft) und
zwischen der Zelle und dem
Ganzen daher kein prinzipieller Strukturunterschied
vorhanden sein könne, ist
überholt und wird heute wohl
von niemandem mehr vertreten. Solche kritische Einwände
- sie liessen sich noch vermehren - aber vermögen nicht,
Schärs Verdienste um die
Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre irgendwie
herabzusetzen. Johann
Friedrich Schär bleibt der
Begründer der modernen
Betriebswirtschaftslehre, weil
er es als Erster unternommen
hat, aus einem Konglomerat
von überlieferten und übernommenen Wissenschaften
und Techniken jenen gehaltvollen Rest herauszufinden und
auszuscheiden, aus dem seine
Nachfolger an den verschiedensten Hochschulen der Welt
die Betriebswirtschaftslehre als
selbständige Wissenschaft zu
stabilisieren vermochten.
Was aber Johann Friedrich
Schär unserer heutigen Zeit
wieder so unendlich nahe
bringt, sind nicht so sehr seine
Verdienste als wissenschaftlicher Forscher, sondern seine
grossartigen Fähigkeiten als
akademischer Lehrer. Wer das
Glück hatte, zu Schärs
Schülern zu gehören, der wird
ihn als Lehrer auf dem
Katheder nicht vergessen. Da
kümmerte er sich oft recht
wenig um die Forderung, dass
die Wissenschaft keine Ideale
kennen dürfe, weil sie frei sein
solle von jedem Wertentscheid
und jeder ethischen oder wie
immer gearteten Tendenz. Da
war er der Mensch, der es
musterhaft verstand, in seinen
Studenten Ideale zu wecken
und Ideale zu pflegen und sie
anzuspornen, Diener der Volkswirtschaft zu werden. Dafür
schulde ich meinem Meister
und väterlichen Freund auch in
meiner jetzigen Stellung als
Universitätslehrer und Direktor
der Schweizer Mustermesse
tiefen Dank. Ehrungen: Neben
den vielen Anfechtungen, die J.
Fr. Schär wegen seines
Eintretens für die Entwicklung
der Konsumvereine und andere
Transkriptionen
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Robert Flatt
J.F. Schär als Lehrer an der
Oberen Realschule Basel. - T4
gemeinwirtschaftliche
Reformen erleiden musste,
durfte er anderseits zahlreiche
Ehrungen, die diese Anfechtungen weit überwogen,
erfahren. Für uns Konsumgenossenschafter seien speziell
die beiden folgenden erwähnt:
1. 1903, beim Rücktritt,
übermittelten ihm die damaligen Verbandsvereine als
Ehrengabe ein silbernes
Tafelbesteck und begleiteten
sie mit folgender Urkunde:
«Die Konsumvereine der unten
verzeichneten Ortschaften
statten ihrem allverehrten
Verbandspräsidenten Herrn
Johann Friedrich Schär von
Basel für seine dem Genossenschaftswesen gewidmete
langjährige unermüdliche und
so überaus segensreiche Arbeit
anlässlich seines Rücktrittes
den wohlverdienten und
tiefgefühlten genossenschaftlichen Dank ab.» 2. 1904, kaum
ein Jahr nach der Aufnahme
seiner Vorlesungen an der
Universität Zürich, wurde ihm
von der staatswissenschaftlichen Fakultät der Ehrendoktor
verliehen mit folgender
Begründung: «Wegen der
hervorragenden Verdienste um
die Förderung der Handelswissenschaften und um die
Entwicklung des Verbandes
schweiz. Konsumvereine.» Das
Diplom datiert vom 28.
Februar 1904 und ist unterschrieben vom Rektor Prof. Dr.
Haab; Dekan Prof. Dr.
Zürcher; Aktuar Dr. Max
Huber. 3. Weniger für seine
Verdienste um das Genossenschaftswesen als um die
Handelswissenschaften wurden
ihm im Sommer 1923,
viereinhalb Jahre nach seiner
Rückkehr in die Schweiz, von
der Wirtschaftlichen und
Sozialwissenschaftlichen
Fakultät der Universität Köln
die Würde und die Rechte
eines Doktors der Staatswissenschaften, Doktor rer. pol.
honoris causa, verliehen mit
folgender Würdigung, die wohl
am prägnantesten Schärs
Verdienste um die Handelswissenschaften hervorhebt: «…der
die Handelswissenschaft zu
neuem Leben erweckt und sie
während eines halben Jahrhunderts in Lehre und Forschung
erfolgreich ausgebaut, der der
Handelshochschulpädagogik
bedeutsame Anregungen
gegeben, der in weitverbreiteten Lehrbüchern dem kaufmännischen Nachwuchs gründliches systematisches
Fachwissen vermittelt hat, der
seinen Studierenden zugleich
ein warmherziger Berater und
väterlicher Freund war.»
Zum Lehrer der kaufmännischen Unterrichtsfächer
dieser «Handelsabteilung»
konnte der Berner Johann
Friedrich Schär gewonnen
werden. Er hat vom Schuljahr
1882/83 bis zum Ende des
Schuljahres 1902/03 in der
dreiklassigen Handelsabteilung der Oberen Realschule
zu Basel eine äusserst fruchtbare Lehrtätigkeit entfaltet &
während dieser 21-jährigen
Wirksamkeit auch wertvolle
Lehr- & Übungsbücher für den
handelswissenschaftlichen Unterricht geschaffen wie: Schär:
Kaufmännisches Rechnen,
Handelskorrespondenz, Aufgaben für die Buchhaltung.
Zum Jahresbericht der
Realschule Basel für das
Schuljahr 1889/90 lieferte J.
F. Schär als wissenschaftliche
Beilage eine sehr bemerkenswerte Arbeit unter dem
Titel: «Versuch einer wissenschaftlichen Behandlung der
Buchhaltung». Darin besprach
er nach einer geschichtlichen
Einleitung in übersichtlicher
Darstellung die Bedeutung der
Buchhaltung im Wirtschaftsleben, die Mittel der Buchhaltung, die Verwendung der
beiden Kontenreihen & ihre
wechselseitigen Beziehungen,
die gegenseitigen Konten,
die gemischten Konten, die
Entwicklung der beiden
Kontenreihen, die Zusammensetzung der Kontenergebnisse
durch die Schlussbilanz & die
Praxis der Buchhaltung in den
verschiedenen Variationen der
sogenannten italienischen, der
amerikanischen, deutschen,
französischen, englischen &
russischen Buchhaltung. In seinem Unterricht in der I., II. &
III. Handelsklasse behandelte
er nachstehende Stoffgebiete:
A. Kaufmännisches Rechnen.
I. Klasse: Im Anschluss an
das Rechnen mit ganzen Zahlen, gemeinen & Dezimalbrüchen die Einübung von Abkür-
zungsverfahren & Proben, die
wichtigsten Münzen, Masse &
Gewichte, Anwendungen auf
leichtere Warenrechnungen,
einfache & zusammengesetzte Proportionen, Kettensatz,
Durchschnitts-, Mischungs- &
Verteilungsrechnung, Prozentrechnung in ihrer Anwendung
auf die im Handel vorkommenden Verhältnisse, reine Zins- &
Diskontorechnung, Rechnen
mit Nombres. Übungen im
Kopfrechnen.
II. Klasse: Vollständige Behandlung der Zins-& Diskontorechnung, Terminrechnung,
Münzrechnung in ausführlicher
Behandlung. Wechselrechnung. Börsenüsancen, einfache
& zusammengesetzte Wechselrechnung mit Spesen, leichtere
Warenkalkulationen.
III. Klasse: Wechselarbitrage, Effektenrechnung mit
besonderer Berücksichtigung
der Kurse von Basel, Frankfurt, Paris. Zusammengesetzte
Warenrechnungen, Kalkulationen. Preisparitäten, feste
Zahlen, Kalkulationstabellen.
B. Buchhaltung und Kontorarbeiten
I. Klasse: Einfache
Rechnungsführung, entwickelt an Inventar, Kassabuch,
Warenkonto, Warenskontro,
Konto-Korrent. Entwicklung
der Grundsätze der doppelten
Buchhaltung in der einfachen
Form (synchronistisches
Hauptbuch). - Systematische
Buchhaltung, angewandt, auf
einen zweimonatlichen fingierten Geschäftsgang nach der
italienischen Methode.
Kontoarbeiten: Leichtere
Briefe, Wechselbordereau, Diskontnota, Wechselformulare,
Chèque, Anweisung. Elemente
der Wechsellehre, Belehrungen
über Handel, Kredit, Kauf.
II. Klasse: Deutsche Handelskorrespondenz, 1. Kurs mit
Belehrungen aus dem Handelsrecht & der Betriebslehre.
2. Kurs der systematischen
Buchhaltung. Schematisches
Beispiel zur Repetition des
Pensums der 1. Klasse. Durchführung eines zweimonatlichen Geschäftsganges einer
Exportfirma nach der Methode
der deutschen Buchhaltung
(12 Bücher). Theorie der
Buchhaltung, Aufstellung von
Schlussbilanzen. Ausführliche
Behandlung des Bankenkontokorrentwesens nach verschiedenen Methoden & Usancen.
III. Klasse: 3. Kurs in
Buchhaltung. Theorie der systematischen Buchhaltung, insbesondere die Beschränkung &
Ausschaltung der gemischten
Konten & der Einkontojournale.
Praktische Buchhaltung:
Kombination eines Geschäftsganges einer Kollektivgesellschaft mit Import & Export,
Gründung dreier Gesellschaften durch Vereinigung von
zwei Einzelfirmen, einmonatlicher Geschäftsgang mit eingeflochtenen Beispielen über die
schwierigeren Fälle der Buchhaltung nach der französischen
Methode mit Arbeitsteilung
unter den Schülern & teilweise
Ausfertigung der Dokumente,
Schlussbilanz & Umwandlung
einer Kollektivgesellschaft in
eine Aktiengesellschaft.
Übrige Kontorarbeiten: Die
schwierigeren Fälle des Kontokorrents mit Zinsen, Handelskorrespondenz, kaufmännische Dokumente & Verträge.
Kombinierte Kontorarbeiten,
insbesondere vollständige Darstellung von Meta-Rechnungen
im Warenhandel, Bank- &
Börsengschäft.
C. Handelslehre.
II.Klasse: Einzelbilder
aus der Volkswirtschaft mit
besonderer Rücksicht auf
schweizerische Verhältnisse.
Verbindung dieser Bilder zu
einem Kurs über die Elemente
der Volkswirtschaftslehre:
Wirtschaft, Erwerbslehre, Abhängigkeit des Menschen im
Erwerben & Geniessen, Gliederung der Gesellschaft & ihre
Organisation zum Erwerb; das
Prinzip der Volkswirtschaft,
Bedürfnis, Gut, Wert, Preis.
Die Produktion: Natur, Arbeit,
Kapital, Güterverteilung. Aus
der speziellen Handelslehre:
Geld, Banknote, Papiergeld.
Besuch industrieller Betriebe.
III. Klasse: Der Handel im
System der Volkswirtschaft.
Wirtschaftliche Zusammenhänge, erläutert durch graphische
Darstellungen. Das Wechselrecht. Ausgewählte Partien
aus dem Handelsrecht. Die
Handelsgesellschaften. Die
Hilfsgewerbe des Handels. Das
Wichtigste aus dem Betreibungsgesetz. - Wöchentlich je
ein Vortrag eines Schülers aus
dem Gebiet der Handelswissenschaften. Besuch industrieller Betriebe.
Der Unterricht von Johann
Friedrich Schär war getragen von einem väterlichen
Wohlwollen gegenüber seinen
Schülern und fruchtbar gestaltet durch Klarheit der Darbietungen und durch Anlehnung
an konkrete Beispiele aus dem
praktischen Leben. Im Verkehr
mit den Schülern kam nicht
nur sein pädagogisches Geschick und seine, Theorie und
Praxis gut verbindende, klare
Einsicht, sondern auch seine
ideale Gesinnung und sein
reiches Gemüt zur Geltung, so
dass er seinen Schülern auch
nach der Seite der Charakterund Gemütsbildung und der
idealen Lebensauffassung ein
wertvolles Stück Erziehung
auf den Lebensweg mitgegeben hat. - J. F. Schär nahm
lebendigen Anteil am künftigen Schicksal seiner Schüler
und war bemüht, ihnen im
Hinblick auf ihre gute allgemeine und kaufmännische
Vorbildung günstige Bedingungen für eine abgekürzte
Lehrzeit nach ihrem Schulaustritt zu verschaffen und ihnen
die Wege zu öffnen zu einer
erfolgreichen kaufmännischen
Laufbahn. Zwischen ihm und
seinen Schülern bestand ein
freundliches Vertrauensverhältnis. Darum haben auch seine
ehemaligen Schüler ihrem
tüchtigen und wohlwollenden
Lehrer eine tiefe Dankbarkeit
und Verehrung bewahrt.
J. F. Schär unterhielt mit
seinen Kollegen, den Lehrern
der Oberen Realschule Basel,
herzliche Beziehungen. Sein
Idealismus, sein froher Sinn,
seine Vaterlandsliebe & seine
Freude an Musik und Gesang
kamen im täglichen Verkehr
mit den Kollegen und insbesondere auch bei geselligen
Anlässen zum Ausdruck und
verschafften ihm die Sympathie & Freundschaft des
ganzen Kollegiums. Bei seinem Abschied von der Oberen
Realschule im Frühjahr 1903
geleiteten ihn nebst dem Dank
für die geleisteten vorzüglichen Dienste auch die besten
Wünsche zu weiterem segensreichem Wirken im höheren
kaufmännischen Bildungswesen.
Auch nach seinem Austritt
aus der Oberen Realschule hat
J. F. Schär noch sein lebhaftes Interesse bekundet für die
Entwicklung dieser Anstalt
und den Ausbau ihrer Handelsabteilung zur 4-klassigen
Kantonalen Handelsschule
Basel mit Diplom am Ende der
dritten und Handelsmaturität
am Ende der vierten Klasse. Er
nahm regen geistigen Anteil an
den erforderlichen pädagogischen Reformen zur Förderung
einer harmonischen Erziehung
von Körper, Verstand, Gemüt
und Charakter. Die Obere
Realschule (jetzt «Mathematisch-naturwiss. Gymnasium»
genannt) und die Kantonale
Handelsschule Basel bewahren
ihm ein dankbares ehrenvolles
Andenken. Robert Flatt.
Transkriptionen
190
Transkriptionen
191
Emil Schmidlin, 1947:
In Memoriam Karl Oskar
Schär. - T6
Eugen Dietschi, 1947: AltNationalrat Dr. Oskar Schärs
Lebenswerk. - T5
National-Zeitung, 14. Mai
1947 - Mit eiserner Energie
hat Dr. Oskar Schär, körperlich gebrochen, geistig aber
frisch und beweglich, seit
Monaten dem Tode getrotzt.
Das schwere Leiden schwächte
immer mehr die Kräfte des
Neunundsiebzigjährigen, hinderte ihn aber nicht, bis in die
letzten Tage wach und kritisch
das öffentliche Geschehen
zu verfolgen, immer wieder
zur Feder zu greifen, um sich
besonders mit Wirtschaftsund Finanzfragen konstruktiv
auseinanderzusetzen. Noch
vor wenigen Tagen nahm er in
einem Artikel scharf pointiert
zu den neuen Wirtschaftsartikeln Stellung und verlangte
klärende Zusicherungen für die
Genossenschaften; noch vor
zwei Wochen sass er im Bankausschuss der Basler Kantonalbank, deren Entwicklung
und Gedeihen ihm sehr am
Herzen lag, nachdem er eben
noch an der Neuredaktion des
Bankgesetzes, das zur Zeit vor
dem Grossen Rate liegt, entscheidenden Anteil genommen
hatte. Eine bewundernswerte
Vitalität zeichnete Oskar Schär
aus, die aber schliesslich doch
zur Kapitulation gezwungen
wurde. Der Zerfall der körperlichen Kräfte des Schwerkranken machte in den letzten
Tagen so rasche Fortschritte,
dass seine Ueberführung in
das Spital notwenig wurde, wo
dieser unentwegte Kämpfer am
Mittwochvormittag seine hellen Augen für immer schloss.
Mit Dr. Oskar Schär
verliert Basel eine starke und
einmalige Persönlichkeit, die
während Jahrzehnten nicht nur
auf der politischen Bühne der
Stadt und der Eidgenossenschaft eine hervorragende und
führende Rolle spielte, sondern
vor allem in der Wirtschaftspolitik neue Wege wies. Oskar
Schär hat sich für die Erstarkung des Genossenschaftswesens und den Aufschwung des
schweizerischen Konsumgenossenschaftswesens ein Leben
lang kompromisslos eingesetzt
und Pionierarbeit geleistet.
Familientradition, persönliche
Eigenart und politische Anschauung, verstärkt und geklärt
durch ein aus der Rechtswissenschaft gezogenes scharfes
und gradliniges Denken waren
die inneren Grundlagen seines
Wirkens. Seine Kraft kam aus
dem Denken, aus der Ueberlegung, und sein Schaffen war
konstruktiv, aufbauend und
klärend.
Oskar Schär war der Sohn
des hervorragendsten schweizerischen Genossenschaftspioniers, Professor J.F. Schär, der
von Basel als Professor nach
Zürich und von da als Rektor
an die Handelshochschule in
Berlin berufen wurde. Durch
seinen Vater war er nicht nur
Basler, sondern auch Berner
Bürger, im bernischen Wattenwil am 7. Juni 1868 geboren
und, bis zur Gymnasialzeit in
Biel, dort aufgewachsen. Er
besass denn auch das Berner
Erbteil einr ausgesprochenen
Beharrlichkeit in allen seinen
Unternehmungen.
Nach Absolvierung der
oberen Klassen des Basler Gymnasiums studierte
Oskar Schär Jurisprudenz
an der Basler und an deutschen Universitäten und war,
seiner politischen Gesinnung
entsprechend, ein prominentes
Mitglied der Helvetia. Bald
nach dem Doktorexamen und
einem kurzen Volontariate
im Bureau Dr. Paul Scherrers
wurd er Staatsanwalt und am
25. November 1895 zum Strafgerichtspräsidenten gewählt,
ein Amt, das er als tüchtiger
Kriminalist und sozial gesinnter Richter beinahe anderthalb
Jahrzehnte - bis Ende Mai
1909 - verwaltete. Damals
wurde er vor die Alternative
gestellt, seine Stellung weiter
auszuüben oder aber sich aktiv
im Genossenschaftswesen zu
betätigen. Er resignierte als
Strafgerichtspräsident und trat
als Vizepräsident und Sekretär an die Spitze des VSK, an
dessen Aufstieg zum genossenschaftlichen Grossbetrieb
er mit aller Energie und seinen
reichen Fähigkeiten mitarbeitete.
Nach dem Rücktritt von
Dr. Bernhard Jaeggi trat Dr.
Oskar Schär als Präsident an
die Spitze des VSK. Bis Ende
Juni 1939 hielt Oskar Schär
das Steuer des VSK mit Ueberzeugung und Geschick in festen Händen. Insbesondere auf
dem Gebiete des Rechtswesens
und der Gesetzgebung, soweit
sie das Genossenschaftswesen
berührten, hat er, durch seine
ausgezeichneten juristischen
Kenntnisse und seinen praktischen Sinn für die Erfordernisse der Zeit der schweizerischen
Genossenschaftsbewegung
grosse und unvergängliche
Dienste geleistet.
Er war nicht nur ein Mann
der Aktivität, sondern auch ein
Wächter. Ein Wächter über die
Genossenschaftsidee an sich,
die er bis in die letzten Konsequenzen vertrat, aber auch
ein Wächter über die richtige
Handhabung der aus der Genossenschaftsidee entwickelten
Tathandlungen, herrührend aus
einer festumrissenen liberalen
Weltauffassung. Sein Tun war
Geradheit und Konsequenz.
Es verging keine Session
der Bundesversammlung,
ohne dass Oskar Schär dem
Schreibenden in ausführlichen,
hervorragend dokumentierten
Briefen seine Stellungnahme
zu aktuellen Wirtschafts- und
Finanzfragen übermittelte.
Immer wieder kam darin zum
Ausdruck, dass er die Freiheit
als der Güter höchstes betrachtete. Diese Hochschätzung der
Freiheit befähigte ihn, in jeder
Frage einen sichern Standpunkt
zu finden. Mit Autorität trat er
auch immer für die Wahrung
der politischen Neutralität in
der Konsumgenossenschaftsbewegung ein, in der er nicht
eine Partei- oder Klassenbewegung, sondern eine Volksbewegung erblickte.
Gleich seinem Vater trat
Oskar Schär in die Freisinnige
Partei, um hier eine ausgesprochene Linksrichtung zu
verfechten. Die Kämpfe
blieben nicht aus. Sie führten
sogar zur vorübergehenden
Trennung, indem Oskar Schär
eine eigene Linkspartei, die
demokratische, gründete,
die aber im Jahre 1917 sich
wieder mit der Freisinnigen zur
Radikal-Demokratischen Partei
zusammenschloss.
Dem Grossen Rate gehörte
Dr. Schär von 1905, mit
Unterbruch einer Wahlperiode,
bis im Frühjahr 1938 an. Er
präsidierte den Rat 1935/36
und meisterte in zahlreichen
Kommissionen ein gewaltiges Arbeitsmass. Während
mehreren Jahren präsidierte
er die Rechnungskommission;
er arbeitete bestimmend am
Zustandekommen des neuen
Beamtengesetzes als Präsident
der grossrätlichen Kommission; auch war er der Verfasser
des Grossratsreglementes, das
er, aus reicher parlamentarischer Erfahrung schöpfend,
grosszügig und arbeitsrationell
ausgestaltete. Schär marschierte auch in der vordersten
Front bei der Einführung der
durch die Radikalen lancierten Altersfürsorge. Von 1913
bis 1917 war er Mitglied der
Justizkommission, gehörte von
1927 an während mehr als 20
Jahren als Richter dem Appellationsgericht an, widmete sich
aber auch Erziehungsfragen,
wo er als langjähriges Mitglied
der Inspektion der Knabensekundarschule und später
des Gymnasiums sowie als
Mitglied des Erziehungsrates
sich grosse Vedienste um die
Förderung des Schulwesens
erworben hatte. Er war auch
Präsident der Kommission für
das neue Schulgesetz. Ist es
da verwunderlich, dass einer
seiner politischen Gegner im
Grossen Rate ihn als einen der
fleissigsten Politiker in Basel
und einen der unermüdlichsten
in der Schweiz bezeichnete?
Von 1917 bis zum Herbst
1929 gehörte Oskar Schär
dem Nationalrate an und hat
seine in Basel bekannten und
geschätzten Eigenschaften und
sein umfassendes Wissen auch
in der Bundesversammlung
betätigt. Als Mitglied der
Finanzkommission und der
Finanzdelegation war er von
der Verwaltung gefürchtet;
seine Gewissenhaftigkeit in
der Ausübung der Kontrolltätigkeit des Parlamentes war
sprichwörtlich. Ihm entging
nichts, Stück für Stück ging er
die Belege durch, die in vielen
Bänden vor ihm lagen; er sah
alles, griff ein, und es war
nicht ein restloses Vergnügen
für eine Verwaltung, wenn sie
in sein Referat fiel.
Mit seinem Vater setzte
sich Oskar Schär für die Verstaatlichung der Wasserkräfte
ein; und als Kriminalist wirkte
er an der Ausarbeitung des
neuen Strafgesetzes entscheidend mit. Das radikale Basel
hatte daher allen Grund, dem
hervorragenden Politiker, als er
den Strich unter seine eidgenössische parlamentarischen
Arbeit setzte, den Dank für
alles das auszusprechen, was er
im Basler Grossen Rate und im
Rate der Nation für Volk und
Land getan hat.
Bis in die letzten Tage
seines Lebens hat Dr. Oskar
Schär der Basler Kantonalbank
seine Dienste zur Verfügung
gestellt. Als Vizepräsident des
Bankrates und Präsident des
Schweiz. Kantonalbankenverbandes nahm er unermüdlich
Anteil an der Entwicklung des
Instituts und als Präsident der
Baukommission darf ihm ein
wesentlicher Anteil am Neubau
des Bankgebäudes zugeschrieben werden.
Neben dem vollgerüttelten
Tageswerk fand Schär immer
noch Zeit, sich schriftstelle-
risch zu betätgen. Zahllos
sind seine Abhandlungen und
Aufsätze über Wirtschaftsprobleme, über Genossenschaftsrecht, Verwaltungs- und Steuerfragen, die in der Tages- und
Fachpresse und in Broschürenform erschienen sind.
Nun ist das Licht dieses
rastlos schaffenden und schöpferischen Geistes erloschen.
Wir beklagen mit dem grossen
Politiker und Wirtschafter
ebensosehr den edlen Menschen. Oskar Schär war das
gütige Haupt einer grossen
Familie, der er alles bedeutete
und die mit ihm in tiefer Liebe
und Ehrfurcht eng verbunden
war. Schwere Schicksalsschläge haben ihn wiederholt
getroffen; immer fand er den
Mut und die Zuversicht, sich
und die Seinen aufzurichten.
Er war der herzensgute und
fürsorgliche Gatte, Vater und
Grossvater, um den heute mit
den Angehörigen Basel und
das ganze Land trauern.
Nicht ohne einen letzten
kurzen Gruss seiner alten
Freunde von Schweizerischen Odd Fellow Bunde soll
dieser Mann von uns scheiden.
Denn ein Mann war er in des
Wortes höchster und edelster
Bedeutung ; alle wissen es,
die das Glück hatten, ihn in
seinem langen Leben und
Wirken keimen zu lernen. Für
ihn galt noch der Grundsatz:
«Ein Mann ein Wort«. Auf ihn
passte noch das mutige Wort
vom Männerstolz vor Königsthronen und vor Bonzen jeder
Art und jeden Ranges. Und er
war unser Bruder wir bekennen es mit Stolz in dieser bitter
Stunde des Scheidens.
54 lange Jahre hat Oskar
Schär den Unabhängigen
Orden der Odd Fellows die
Treue gehalten in Glück und
Unglück, in den Zeiten des
Aufstieg und Glanzes, wie in
den Jahren der Anfechtung,
durch eine gemeine Hetze.
Sein ganzes, reiches Leben war
ein Wirken im Sinne der Ideale
unseres Weltbundes, ein Indie-Tat umsetzen der Ideale der
Freundschaft, der Menschenliebe und des Kampfes für
Wahrheit und Wahrhaftigkeit.
Im Jahre 1893 ist Oskar
Schär als junger Jurist und
schon gereifter Charakter
der St. Jakobsloge der Old
Fellows beigetreten. Im dritten
Jahre berief ihn das Vertrauen
seiner Brüder als Sekretär in
das Logenbüro. 1897 amtete
er als Untermeister, 1898 als
Obrmeister der St. Jakobsloge.
1900 delegierte ihn unsere
Loge als Repräsentaten in die
Schweiz. Grossloge. 1904 bis
1910 hatte er das hohe und
Verantwortungsvolle Amt eines
Gross Sires des schweizerischen Ordenszweiges inne, das
höchste Amt, das eine Landes
Grossloge zu vergeben hat.
Weder im politischen und
wirtschaftlichen Leben noch
in der Loge hat Oskar Schär
je ein Amt gesucht nur um der
Transkriptionen
192
Transkriptionen
193
Oskar Schär, 1929:
Brief an Willy Bocola. - T7
Ehre willen. Jede Aufgabe,
die ihm das Vertrauen seiner
Freunde und Mitbürger übertrug, löste er mit dem ganzen
Einsatze seines überragend
klaren Verstandes, der es ihm
erlaubte, eine fast unglaubliche
Arbeitslast mit Leichtigkeit zu
bewältigen.
Durch Jahrzehnte hindurch
hat Oskar Schär der Basler St.
Jakobs und dem Schweiz. Old
FellowBunde heirvoragende
Dienste geleistet und ihnen die
Richtung gewiesen. Obwohl
er wegen Arbeitsüberhäufung
im Dienste der Allgemeienheit und wegen zunehmenden
Altersbeschwerden seit Jahren
unsere regelmässigen Zusammenkünfte nicht mehr besuchen konnte, so war uns seine
Mitarbeit doch sicher, wenn
wir je seines Rats und seiner
Hilfe bedurften zur Überwindung besonderer Schwierigkeiten oder zur Vermittlung und
Schlichtung in Streitfällen.
Oskar Schär war nicht nur
ein Old Fellow des Wortes, er
war ein Old Fellow der Tat.
Freundschaft war ihm kein
leeres Wort, er hat es selten
gebraucht aber er hat Freundschaft und Treue gehalten, das
wissen alle, die ihn je um Rat
und Hilfe angingen. Nächstenliebe hat er geübt sein ganzes
Leben, vor allem an denen,
die auf der Schattenseite des
Schicksals standen; nicht weil
er es als Old Fellow versprochen hatte, sondern weil es
seinem innersten Wesen entsprach und weil es seine tiefste
Überzeugung war, dass nur die
Menschenliebe, nie der Hass,
die Welt zu einer ethischen
Vorwärts und Aufwärtsbewegung führen kann.
Wahrheit heisst das dritte
der Ideale in der Devise des
Ordens der Old Fellows Dem
Kampfe für Wahrheit und
Wahrhaftigkeit galt das ganze
Schaffen und Wirken des
Verstorbenen. Jedem hohlen
Scheine war er abhold. Wenn
es zu kämpfen galt für Recht
und Gerechtigkeit, gegen
Unrecht, Lüge und Verdrehung, so war Oskar Schär ein
gefürchteter Fechter, der sich
nicht scheute, die Dinge beim
rechten Namen zu nennen,
unbekümmert darum, ob er
sich dadurch beliebt oder verhasst machte. Oft genug war
Undank sein Lohn, oft genug
musste er die Richtigkeit
des Dichterwortes erfanren:
«Ziehst du, mein Freund, für
die Wahrheit zum Streite, muss
du Hoffnung legen beiseite.
Keine Kränze Wird tragen
dein Haar, aber Wunden und
Fluch und Gefahr.» Aber diese
Unerschrockenheit, die Geradlinigkeit seines Wesens, das in
grundsätzlichen Dingen keine
Kompromisse kannte, musste
schliesslich jedem, selbst seinem Gegner die Hochachtung
abringen. Hut ab vor Männern,
die nicht buhlen um die Gunst
der Grossen und nicht suchen
den Beifall einer urteilslosen
Menge, sonder treu und fest
zu ihrer Überzeugung stehen,
komme, was da wolle. Möge
es unserem Orden, unserem
Vaterland, der Welt nie fehlen
an solchen Rittern ohne Furcht
und Tadel, dann Heil unserem
Bruder, Heil unserer Heimat,
Heil der ganzen Menschheit!
Werden, Sein, Vergehen
ist das eherne Gesetz der
Natur, dem sich kein Mensch,
und wär er noch so mächtig,
entziehen kann. Bald wird dein
Leib, lieber Bruder, zu Staub
und Asche zerfallen. Dein
Geist aber wird weiterleben in
deinen Kindern und Kindeskindern, denen allezeit deine
väterliche Liebe und Fürsorge
galt, im getreuen Gedenken
deiner Freunde, denen du
unvergesslich sein wirst, in
deinem reiche Lebenswerk,
das deine Tod überdauern wird.
Auf diese Weise und in diesem
Sinne wird deinem Leben und
Wirken die Unvergänglichkeit,
die Unsterblichkeit beschieden sein. Mögen die hohen
Ideale der Freundschaft, der
Bruderliebe und der Wahrheit,
die du durch dein Leben in die
Tat umsetztest, weiterleben in
kommenden Generationen!
Leiden und Sterben. Lebe
wohl, Bruder, dein Andenken soll und wird in unserem
Bruderbunde unvergesslich
bleiben.
Basel, 27. Mai 1929.
Sehr geehrter Herr Bocola!
Auf Ihre überranschende
Bewerbung um meine Tochter
Marta habe ich in Rom erklärt,
ich überlasse die Entscheidung
meine Tochter, ich wolle weder
für noch gegen eine Druck
ausüben. Ihre Bewerbung
kam mir eben überraschend
und ich glaubte, dass es sich
eher um eine Art Strohfeuer
beiderseits handle, speziell da
meine Tochter Marta sich die
Konsequenzen vielleicht nicht
vollständig überlegt habe. Die
Konsequenzen einer Verlobung
und Heirat meiner Tochter
Marta mit Ihnen wären einmal
die, dass sie Italienerin würde
und das Schweizer-Bürgerrecht
verlieren würde, sodann dass
sie sehr weit weg von ihren
Eltern, Geschwistern und sonstigen Bekannten leben müsste,
dass die Möglichkeit, einander zu treffen, angesichts der
grossen Distanzen und Kosten,
die eine Reise von Basel nach
Italien oder umgekehrt verursachen würde, sehr beschränkt
sein würde, dass sie in ein ganz
unbekanntes Millieu kommen und dass schliesslich die
beiden Charaktere vielleicht
doch nicht zu einander passen
würden, weil Sie beide aus
ganz verschiedenen Milieus
stammen, ganz verschiedene
Erziehung genossen haben
und bei der kurzen Zeit, die
Sie sich kennen gelernt haben,
nicht sicher sei, ob nicht beim
späteren Zusammenleben doch
gewisse Verschiedenheiten der
Auffassung und Lebensweise
sich zeigen würden, die ein
vorbildliches Eheleben beeinträchtigen könnten. Nun hat
meine Tochter Marta jedoch
erklärt, dass sie Ihrer Bewerbung zustimme und sich als
Ihre Braut betrachte; sie hat
also das Vertrauen, dass die
von mir erwähnten Schwierigkeiten sich nicht einstellen
würden, oder überwunden
werden könnten.
Ich habe meine drei Toch-
ter in Freiheit erzogen und
mehr Wert darauf gelegt, ihnen
durch unser Beispiel eine richtige Lebensführung als erstrebenswert zu machen, als durch
viel Gebote oder Verbote. Ich
will auch bei der Auswahl
das künftigen Lebensgefährten von diesem Grundsatz
nicht abweichen. Auch Marty
soll ihren zukünftigen Mann
selber auswählen, sie trägt
dann die Verantwortung, und
nicht wir Eltern. Wenn ich
diesen Grundsatz befolge, so
habe ich als Vater immerhin
die Pflicht, und nicht nur das
Recht, wenigsten einigermassen orientiert zu sein, über die
Verhaltnisse des zukünftigen
Mannes von Marty, auch über
die ökonomische Grundlage
und über die Aussichten für die
Zukunft. Ich könnte durch ein
Informationsbureau in Castellmare adriatico oder in Caserta
über Ihre Verhältnisse Informationen einziehen lassen, ich
verzichte auf diesem Wege
unter der Voraussetzung, dass
Sie mir direkt und persönlich
diese Aufschlüsse erteilen. Ich
vertraue auf Ihr Wort als Offizier und bitte Sie, mir vertrauensvoll diejenigen Angaben zu
machen, die Sie selbts, wenn
Sie eine Tochter zu verheireten
hätten, von Ihrem zukünftigen
Schwiegersohn verlangen
würden.
Offenheit gegen Offenheit. Zu Ihrer persönlichen
und nur zu Ihrer persönlichen
Information kann ich folgende
Angaben machen über unsere
Verhältnisse: Mein Vater war
der Gründer der modernen
Handelswissenschaften. Nachdem er 1903 von Basel nach
Zürich an die Universität als
ordentlicher Professor berufen
war, bemühte sich 1906 die
Berliner Handelshochschule,
bei der Gründung meinen Vater
als Haupdozenten zu gewinnen. Mein Vater übersiedelte
1906 nach Berlin und blieb
dort bis Februar 1919. In den
letzten Kriegsjahren war er
Rektor der Handelshochschule. Durch seine Anstellung in
Deutschland musste er das
deutsche Staatsbürgerrecht
erweben, blieb aber Schweizerbürger. Im Februar 1919 kehrte
er in die Schweiz zurück und
starb 1924 in Basel-Freidorf.
Das nicht unansehnliche
Vermögen, das er erworben
hatte, ging zur Hauptsache
bei der deutschen Inflation
verloren. Mein Schwiegervater
Haller war Bankdirektor und
Kaufmann und starb 1919. Er
hatte sein Vermögen restlos
in der letzten Unternehmung
(Speditionsgeschäft Genf), das
er betrieben hat, verloren.
Ich habe in Basel, München und Heidelberg studiert,
1892 den Doktor gemacht, war
ein Jahr Anwalt, 2 ¾ Jahre
schweizerischer Staatsanwalt
und dann zehn Jahre lang
Straf-Polizeigerichtspräsident
in Basel-Stadt, zuletz Vorsitzender des Gerichts für
Strafsachen in Basel, 1909,
d.h. gerade vor 20 Jahren, trat
ich als Direktionsmitglied
in den Dients des Verbandes
schweizerischer Konsumvereine, welche Institution 1898
von meinem Vater gegründet
worden war. Politisch war ich
tätig als Mitglied der schweizerischen radikaldremodratischen
Partei, zeitweise hatte ich eine
eigene links-bürgerliche Partei
gegründet und geleitet. In
Basel bin ich eit 1905 mit drei
Jahren Unterbruch Mitglied
des Grossen Rates und noch
am 26. April mit der höchsten
Stimmenzahl meiner Parteiliste wieder gewählt worden.
Ehrennamtliche Aemter in der
Basler Staats und KantonsVerwaltung habe ich sehr zahlreiche bekleidet. Seit Oktober
1917 gehöre ich dem schweizerischen Nationalrat an un
bin vier Mal bestätigt worden,
gedenke jedoch auf Ende Juni
dieses Jahres dieses Mandat
niederzulegen, da ich meine
Zeit für wichtigere Sachen reservieren muss. Politisch stehe
ich also bei einer Gruppe, die
in Italien nicht existiert. In der
Schweiz würden wir das Systems des Fascismus bekämpfen, während ich mich in die
Verhältnisse anderer Länder
nicht einmische. Die Resultate des in Italien beurteile ich
objektiv und anerkenne, dass
Italien unter diesem System
nach verschiedene Richtungen
hin Fortschritte gemacht hat,
und wenn Italien mit diesem
Regierunssystem sich abfindet
oder es liebt, so haben wir
Schweizer kein Recht, uns
darüber aufzuhalten oder uns
einzumischen. Jede Nation soll
selber wissen, welches Regierungssystem ihr passt und
ihr dient. Mit gleichen Recht
verlanger wir Schweizer, dass
man nach unserer Fassung uns
regieren lässt.
Religiös bin ich tolerant.
Persönlich gehöre ich keiner
Religionsgemeinschaft an,
bin konfessionslos, würde
jedoch, wenn ich genzwungen
würde, mich für eien Konfession entscheiden zu müssen,
die protestantisch-reformierte
Konfession der katholischen
vorziehen.
Was meine ökonomischen
Verhältnisse anbetrifft, so
besitzt ein Beamter nur ein
festes Salär, besitzt keine Möglichkeit, grosse Reichtümer
anzusammeln. Ich habe ein
anständiges Einkommen, wenn
ich invalid wäre, eine anständige Pension; wenn ich sterbe,
hat meine Frau eine anständige
lebenslängliche Rente, aber
was man Vermögen nennt,
besitze ich nicht.
Nach dem Beispiel meines
Vaters betrachtete ich es als
meine Pflicht, meinen Töchtern
eine gute Erziehung zu geben,
sie dasjenige lernen zu lassen,
wozu sie Neigung hatten, weil
man das, was jemand gelernt
hat, ihm nicht mehr nehmen
kann. Die älteste Tochter
hat bis zum 25. Lebenjahre
studiert, das Staatsexamen al
Apothekerin bestanden. Marty
Transkriptionen
194
Transkriptionen
195
Willy Bocola, 1929:
Brief an Oskar Schär. - T8
war zum Teil auf eigene Kosten in Frankreich, England und
Italien, da sie seinerzeit auf
das Ergreifen eines akademischen Berufes verzichtete. Die
jüngste Tochter geht noch in
die Schule. Bis in einem Jahren
wird es sich entscheiden,
welche weitere Ausbildung sie
wünscht.
Ich habe von meinem Vater
und einem verstorbenen Onkel
für insgesamt 40-50,000 Fr.
Erbschaft in sicherer Aussicht.
Meine eigenen Mittel werden
bis zu meinem Tode auch zirka
50,000 Franken betragen, sodass bei meinem Tode einmal
zirka Fr. 100,000.- Vermögen
unter meine drei Töchter zu
verteilen sein wird, wovon
eventuell eine Mitgift oder eine
vorherige grössere Zahlung in
Abzug zu bringen wäre.
Nun noch folgende Fragen:
Nach Schweizerrecht muss die
beabsichtigte Eheschliessung
auch mit einem Ausländer in
der Schweiz ausgekündigt
werden und zwar, da wir
sowohl im Kanton Bern wie im
Kanton Basel-Stadt Heimatrecht besitzen, in diesen beiden
Kantonen. Wie steht es nun in
Italien mit den Ehevorschriften, speziell nach Annahme
der Wollen Sie darüber noch
Erkundigungen einziehen, oder
soll ich mich beim schweizerischen Gesandten in Rom
erkundigen? Wie steht es mit
dem Hausrat? Sind Sie als
Flieger-Offizier in der Lage,
sich an einem bestimmten Garnisionort sich für längere Zeit
niederzulassen, oder müssen
Sie regelmässig Ihr Domizil
wechseln und damit auch mit
den Möbeln öfterns hereumziehen, resp. neue Wohnungen
mieten? In welchem Umfange
sollen Möbel, Hausrat etc.
beschafft werden? Wenn ja,
in Italien selbst oder aus der
Schweiz?
Sie sehen aus dem Obenstehenden, dass mit einer
Verlobung und bevorstehenden
Verheiratung eine grosse Zahl
von Fragen verknüpft sind, die
alle gelöst werden müssen und
über die man sich vorher klar
werden muss. Es geht nicht
an, mit einem Salto mortale in
die Ehe zu springen und erst
nachher Rat zu halten, sondern
der grösste Teile der von mir
gestellten Fragen sollte voher
abgeklärt sein.
Ich sehe nun gerne Ihren
Nachrichten entgegen und verbleibe inzwischen mit freundlichen Grüssen.
Ihr ergebener
Caserta, 30. Mai 1929.
Sehr geehrter Herr Schär,
Ich bin Ihnen unendlich
dankbar für Ihr Vertrauen, das
Sie mir entgegen bringen und
geführt von diesen Gefühlen,
sowie von meiner Offenheit,
werde ich Ihnen offen und aufrichtig alles sagen, wie einem
wahren Freund. Und wenn
nach diesem Brief noch einige
Zweifel in Ihnen sein sollten,
so bitte ich Sie alles Erforderliche von mir zu verlangen und
ich werde mich geehrt fühlen,
Ihnen von mir sprechen zu
dürfen.
Am Abend bevor ich mich
von Rom nach Caserta begab,
hatte ich die Freude, Sie um
die Hand Ihrer Marty anzufragen, es war eine gewagte
und vorzeitige Frage. Zu kurz
waren wir zusammengewesen, kaum 3 Tage und stets im
Zweifel und der Angst, dass
Sie mein Betragen missbilligen
würden. Sowohl Ihre Frau, wie
Sie glaubten dass unsere Liebe
nur ein Strohfeuer sei. Martys
romantischer Karakter hätte
meine schönsten Hoffnungen
zu Grabe tragen können. Aber
so dachte ich nicht. In diesen
drei Tagen hatte ich Gelegenheit, Ihre Tochter kennen zu
lernen. Sie hat mir gefallen
sowohl wegen ihrer Intelligenz
ihrer Schönheit und hauptsächlich wegen ihrer offenen und
lealen Aufrichtigkeit. Sie hat
mir nichts verborgen gehalten
und manchmal war sie von einer zur Verzweiflung bringenden Aufrichtigkeit. Mein Herz,
das schon sie liebte, konnte
ihre Worte nicht ertragen, mit
welchen sie mir in den ersten
Tagen, unwissend welches
Leid sie mir damit antat, ankündigte, dass sie für mich nur
Sympathie und ganz ganz wenig mehr empfinde. Ich wusste,
dass sie vielleicht einen in
Basel wohnenden Doktor
geheiratet hätte. Ich fürchtete,
sie für immer zu verlieren nach
unserer Trennnung. Und diese
Furcht und die grosse Liebe,
von der mein Herz erfüllt war
haben mich furchtsam gemacht
und vielleicht noch Schlimmeres. Der einzige Ausweg hier
war der Egoismus, und ich
habe kein Mittel gescheut um
Ihre Marty an mich zu binden.
Ich habe ihr Dinge versprochen, die ich für den Moment
nicht hätte halten können.
Sie dispensieren mich nun
vielleicht auf diesem Thema
fortzufahren, da es für mich
so voll von Leid ist. Ich werde
Marty bitten, Ihnen alles klar
zu legen, wenn sie es noch
nicht gemacht haben sollte.
Nur etwas möchte ich Sie
bitten zu glauben, dass das
Vertrauen, das Sie mir bewiesen keine eitle Sache war. Ich
liebe Marty, jetzt mehr denn je
und ich verzweifle nicht an der
Vorsehung, die bestimmt die
Epoche bis zu unserer Heirat
verkürzen wird.
Und jetzt gebe ich Ihnen einigen Aufschluss über meinen
Zivil- und finanziellen Stand.
Sie haben Recht. Ein Vater
hat das Recht und die Pflicht,
wer und wie der Gefährte des
Lebens seiner geliebten Tochter sei, er sollte ihn gründlich
kennen, so dass er mit Rat und
Tat der geliebten Person zur
Seite stehen könne.
Wenn mein armer Vater
noch am Leben wäre, so hätte
ich ihn damit beauftragt, aber
leider hatte ich das grosse
Leid zu erleiden vor 5 Jahren
ihn zu verlieren. Die Familie
besteht aus 3 Brüdern und
einer Schwester, der Aelteste,
2 Jahre älter als ich, hat dieses
Jahr den Dr. Med. absolviert.
Meine Schwester war 4 Jahre
in einem Institut in Montepulciano in der Provinz von Siena
um die in der Familie erhaltene
Erziehung zu vervollkommenen. Nun ist sie zu Hause mit
meiner Mutter. Sie hat nicht
weiterstudiert, denn in Italien
ist dies nicht usus wie in der
Schweiz. Für die Mädchen
genügt es, ihnen eine gute
Erziehung zu geben, ohne zu
doktorieren in irgend einer
Fakultät. Mein jüngerer Bruder
ribellisch gegen alle Disziplin
hat das Studium verlassen,
nachdem er für ein Jahr das
Institut medio vom 2ten Grade
besucht hat.
Wenn Sie von mir mehr
wissen wollen, so sage ich Ihnen, dass ich am 23. November
1905 geboren bin. Alles in allem habe ich 16 Jahre studiert,
davon 10 Jahre fern von meiner Familie, da meine Geburtsstadt nicht die Schulen besass,
die ich besuchen wollte. Im
Juli 1925 hatte ich das Diplom
als Kapitän des langen corso
beim istituto nautico von Piano
di Sorrente. Ich hätte mich
ohne weiteres eingeschifft folgend dem jugendlichen Impuls
meiner jungen Jahre, wenn
nicht damals gerade in Italien
die grosse Leidenschaft für die
Aeronautica begonnen hätte,
mich nicht in seiner ganzen
Schönheit gelockt hätte. Ich
machte die Wettbewerbe mit
um zugelassen zu werden und
es ging mir gut. Ich besuchte
dort die 3 Jahre des Studiums
und Anwenung, bis ich letzten
Juni daraus als Leutnant hervorging für den effektiven permanenten Dienst. Vor einigen
Tagen am 11. Mai wurde ich
zum Oberleutnant ernannt. In
etwa 3 bis 4 Jahren werde ich
glaube ich Kapitän sein, denn
ich sehe meine Carriere wird
sehr rapid vorangehen ( Prosit)
Gerade wie Sie, habe auch ich
ein Fixum, aber es wird natürlich nicht so zahlreich sein wie
das Ihre, ich bin noch so jung!
Aber glauben Sie mir nur,
dass ich mit dem Kostenstand
in Italien sehr gut zusammen
leben könnten. Als Oberleutnant und in meinen Conditionen als Fliegeroffiizier habe
ich einen Lohn von Lit. 2,300.pro Monat, ein Oberleutnant
mit Frau würde dann Lit.
3,000.- erhalten.
Meine Familie ist nicht
reich, sie hätte es sein können,
wenn sich nicht das Un-
glück dagegen gewehrt hätte.
Mein väterlicher Grossvater
hatte grosses Vermögen, sehr
grosses sogar. Aber er hat es
verschwendet grossen Teils mit
seinen Fehlern. Er liebte den
Luxus, war leidenschaftlich
für die Pferde und noch für
anderes eingenommen, von
sehr vornehmem Karakter und
freigebig gegen das Elend des
Nächsten, er gab sich überall
als Zeugen für seine Freund
aus, ohne zu denken, dass ob
kurz oder lang seine Reichtümer zu nichts geworden wären.
Die Familie meiner Mutter
ist wohlhabend aber zahlreich.
Die mütterliche Grossmutter
lebt noch und bei ihrem Tode
werden wir eine diskrete
Summe erben, ich weiss nicht
wie viel, es mag um die Lit.
100,000.- herum sein. Unsere
Reichtümer sind hauptsächlich
in Land und Häusern, ich habe
mich noch nie gefragt, wie
hoch die Summe sein könnte,
ich habe es noch nie nötig
gehabt und jetzt kommt es mir
so fremd vor, dass ich mich auf
diesem Thema aufhalten muss,
vielleicht Lit. 400,000. Aber
es könnte auch mehr sein oder
weniger, ich weiss es nicht.
Meinen Stammbaum habe
ich nie studiert, meine Vorfahren interessieren mich nicht.
Ich achte das Individuum, für
was es wert ist, nach seinen
Fähigkeiten und nicht nach
dem Reichtum und Dekorum,
oder nach den grösseren oder
wenigeren Ehren, die es genossen hat. Meine Familie ist eine
derjenigen Nobili der Provinz,
ohne jedoch Aristokraten zu
sein, vielleicht waren es meine
Vorfahren einst, aber für mich
zählt das wenig. Und jetzt
nachdem ich Ihnen alles dies
erzählt haben, möchten Sie
mich entschuldigen, wenn ich
eintönig war, aber es ist dies
ein Thema, über das ich heute
zum ersten Male spreche.
Ich achte und schätze Ihre
freien Ansichten betreffes der
Erziehung gegenüber einer
Tochter. Meine Ansichten
decken sich mit den Ihren,
so ist also keine Gefahr der
Inkompatibilität des Karakteres
zwischen Marty und mir. Es
besteht also keine der Schwierigkeiten, von denen Sie
anführen, auch die Tatsache
des Aufenthalts als Italienerin,
den Marty haben müsste, wenn
sie meine Frau würde, würden
Marty nie verhindern bei jeder
Gelegenheit in die Schweiz zu
kommen. Sie könnte immer
mit den Eltern und Geschwistern zusammen können, auch
ihre Freundschaften könnte sie
pflegen wenn man denkt, dass
sie als Frau eines Offiziers mit
der Ermässigung von 75% reisen kann auf den italienischen
Eisenbahnen. Ueberhaupt ist
der Kostenpunkt der Reise eine
sekundäre Sache.
Aber ich spreche nun zu
Ihnen gerade als ob ich sicher
wäre meiner Lage, meine wahre Situation vergessend. Was
denken Sie und Marty selbst
von der langen Wartezeit, die
uns trennt vor der Verwirklichung unserer Träume ? Wird
Marty Vertrauen haben ? Stellt
mein Leben als Flieger nicht
eine Gefahr dar, die sie erschrecken könnte für ihre Zukunft ? Ich gestehe Ihnen, dass
dies alls für mich furchtbar ist,
beim blossen Darandenken. Ich
wäre geneigt meine Aeronautische Laufbahn aufzugeben um
Ihr Marty, das mich sehr lieb
hat, glücklicher zu machen,
und das ich aus tiefster Seele
liebe, aber was dann ? Ich
könnte meine Tätigkeit in
einem anderen gesellschaftlichen Gebiet anwenden, mir
das Leben auf andere Weise
verdienend, aber ich fühle,
dass ich vor Heimweh sterben
würde, wenn ich das Fliegen
aufgeben müsste. Es gibt unruhige Karaktere, Liebende der
Freiheit, leidenschaftlich für
alles was schön ist und Risiko
darstellt. Gefährlich oder in
Gefahr leben könnte mein
Leitwort sein. Ich bin nicht der
Transkriptionen
196
Transkriptionen
197
Oskar Schär, um 1891: Brief
an seinen Vater Johann
Friedrich Schär. - T9
Mann dazu ein Bureauleben zu
führen, ich würde zu sehr leiden und das Leben würde jede
Anziehung verlieren. Ich bin
zu entusiastisch für das Fliegen
um es verlassen zu können.
Marty ist traurig, ihre traurigen Briefe machen mir so weh,
ich fühle mich ihnen machtlos
gegenüber. Sie, die ihr Vater
sind, und sie so lieb hat, versuchen Sie, sie aufzuheitern, Sie,
die ich beneide, dass Sie mit
ihr sprechen können, sie sehen
können, seine Stimme hören
können, finden Sie das Mittel
sie zu trösten.
Ich fühle mich verirren. Ich
möchte so viel und viel sagen
Ihnen alle meine Hoffnungen
anvertrauen, aber ich fürchte
meine Lage zu verschlimmern,
wenn dann die wirklichkeit
meine Träume und Hoffnungen
nicht verwirklicht ? Was soll
ich Ihnen sagen, wie soll ich
mich benehmen ? Ich weiss es
nicht, weiss es nicht! Handle
ich recht oder unrecht, wenn
ich Ihnen noch von Liebe spreche ? bin ich nicht egoistisch
in meiner Hoffnung ? Bin
ich nicht grausam? Vielleicht
würde ich ein gutes Werk
tun, wenn ich alles abbrechen
würde ? Aber da wir uns so
lieb haben, würden wir zu
sehr darunter leiden. ich habe
weder den Mut noch die Kraft
dies zu tun. Ich würde zu sehr
unter ihrem Verlust leiden, so
dass ich vorziehe feige zu sein.
Sie könnten mich tadeln, aber
glauben Sie mir, dass Angesichts dieser Lage kein Tadel
sein können.
Entschuldigen Sie meine
Aufrichtigkeit, aber ich kann
nicht anders als Ihnen gestehen, dass Ich lachen musste als
ich Ihre letzten Fragen las. Es
war eine fröhliche Note, die
mich ein wenig erheitert hat
in meinem sonstigen traurigen
Zustand. Veröffentlichung der
Heirat, Mobiliär, Aussteuer,
Wohnung. Aber ich weiss ja
nicht, wie man es in diesem
Umstand macht. Alles dies
scheint mir so fremd. Was geht
es die andern Menschen an
über unser Glück zu reden ?
Was für Interessen können die
mit uns haben ? Oh, wie hätten
wir glücklich sein können,
Marty und ich, wenn nicht
meine Situation mich verhinderte, meine Vorschläge sofort
zu verwirklichen. Denken Sie,
in einigen Tagen, in einigen
Wochen hätten wir verheiratet werden können. Welches
Glück, welche Freude, welch
verscherztes Glück! Manchmal frage ich mich, ob es nicht
das Beste wäre, ich würde die
Militärkarriere verlassen und
mich in die Schweiz zu flüchten zu meinem Marty.
Ich wäre Ihnen dankbar,
wenn Sie selbst sich erkundigen könnten beim Schweizergesandten in Rom über
alle Formalitäten, die verlangt
werden für eine Heirat mit
einem Offizier und einer
Ausländerin, und wie lange Ihr
Marty in Italien bleiben muss
damit sie das italienische Recht
bekäme und somit ein Hindernis wegzu schaffen, dasjenige,
das uns Offizieren verbietet
eine Heirat einzugehen mit
einer Ausländerin. Ich glaube
dass in Italien die Veröffentlichung einige Woche vor
dem festen Datum der Heirat
bekannt gegeben werden. Was
das Mobiliär anbetrifft, weiss
ich gar nichts. Man muss ich
mit Marty vereinbaren und
ann entscheiden. Was dann die
Aussteuer anbetrifft, davon
verstehe ich nichts. Uebrigens
ist es vorzeitig, jetzt schon
davon zu sprechen, wir werden
darüber reden, wenn es nötig
ist. Natürlich muss Ihre Tochter ihre Aussteuer machen und
ich mir die meine, und für das
beidseitige werden wir dafür
sorgen unsere Geschmäcker
einander anzupassen. Wo das
Mobiliär gekauft wird, ist
mir gleichgültig, wenn es nur
beiden gefällt.
Nun habe ich Eingabe gemacht
für den Pass, ich habe auch
eine kurze Lizenz erfragt, aber
sie wurde mir nicht erlaubt
wegen Dienstgründen.Anfangs
August hoffe ich dann nach
Basel zu kommen, dann können wir dann besser besprechen und jeden Zweifel der
noch da ist eliminieren. Passt
Ihnen das ?
Als Kronik sage ich Ihnen,
dass, wenn Sie mehr Informationen wünschen für mein Konto, durch ein Bureau, so müsste
es sich nicht nach Castellamare
adr. wenden sondern nach
Sansevero von Puglia, wo wir
gegenwärtig leben und wo ich
geboren bin. Vielleicht habe
ich mich in Rom unduetlich
ausgedrückt, denn in Castellamare bin ich nur einige Jahre
gewesen.
Ich habe nicht anderes zu
sagen. In der Hoffnung auf alle
Ihre Fragen geantwortet zu
haben, grüsse ich Sie herzlich,
sowie Ihre Gattin und Marty
Zur Orientierung: Als sich
Johann Friedrich Schär, vier
Jahre nach dem Tod seiner
ersten Frau, die Witwe Olga
Matilde, geb. von Seeger heiratete und diese zusammen mit
zwei Töchtern und einem Sohn
in das Haus an der Bachlettenstrase 60 zog, kam es zu
Konflikten mit seinem Sohn
Oskar Schär, der diesen zum
untenstehenden Brief veranlasste. (Die Herausgeber).
Lieber Vater!
Mein sogenanntes „sonderbares“ Verhalten dir, „der
Mutter und der Familie“
gegenüber“ ist in keiner Weise
sonderbar; ich habe, wie Du
weißt, mit Deiner angeheirateten Familie jeden Verkehr
abgebrochen und es existiert
dieselbe für mich nur noch
dadurch, dass sie ein Begegnen
mit Dir unter obwaltenden
Umständen beinahe zur Unmöglichkeit macht; Ich kann
ja nie mit Dir reden etc, da
Du ja nie alleine bist und ich
mit Mitgliedern der bekannten
Familie nicht zusammentreffen
will: Was meine Familienangehörigen betrifft, so verkehre
ich mit denselben gern und viel
und habe das mit Erwin getan
– der jedoch scheints jedesmal,
wenn er bei uns war, auf irgend
eine Weise geplagt wird – und
würde das auch mit Dir tun.
Ich finde es im Gegenteil
sonderbar, dass Du uns (Arnold und mir) noch nie Bericht
gegeben hast über Alvina etc.
wo Du doch weißt, dass wir
darauf gespannt sind; ferner
liesse sich eine Besprechung
mit mir ja leicht erreichen; Du
weißt ja, wenn ich zu Hause
bin, und weißt, dass ich da allein bin und niemand Fremdes
dabei; deshalb hättest Du mich
ja einmal auf meiner Bude
aufsuchen können, anstatt zu
schreiben. Ich weiss, dass das
verkehrt ist, und sonst nicht
passend, unter obwaltenden
Umständen lässt sich aber
sonst keine Unterstützung
Oskar Schär, 1937: Zur Erinnerung an Capitano-Pilota
Willy Bocola-Schär. T10
herbeiführen, höchstens noch
etwa einmal abends von 6-7
Uhr bei ... .
Ich habe nun ca 1 Monat
lang nach Eurem Rezept noch
zu Hause gewohnt. Ihr seht,
wie gemütlich dass das ist; ich
werde aber bis 1. November
ausziehen und dann ist die
Trennung vollendet.
Was nun ... betrifft, so ist
noch gar nichts gegangen. Die
ganzen Ferien über und ... war
ich nie sicher, ob das Bureau in
den Stunden, die ich zur Verfügung habe, frei sei und deshalb
habe ich auch keinen Schritt
dort hinein gesetzt. Und dass
ich auf meiner ... Bude bei der
Kälte abeiten solle, wird auch
kein Mensch von mir verlangen können. Ich werde mich
nun mit Dietrich in Verbindung
setzen, und wenn mir dann mal
mitgeteilt wird, das Bureau sei
frei von fremden Elementen, so
werde ich mich auch dorthin
verfügen und dort die laufenden Geschäfte erledigen.
Wenn Dir an einer Unterstützung mit mir so viel lag, so
hättest Du mir ja in den letzten
Tagen hie und da durch Erwin
das mitteilen können, sowie
dass die Luft rein sei.
Bei meinem Auszug werde
ich verschiedene Sachen zu
Hause lassen müssen, über die
ich Dir ... Zeit ein Verzeichnis
geben werde; solltest Du damit
nicht einverstanden sein, so
werde ich natürlich dieselben
auch noch mitnehmen können.
Meine Doctor...., die Du im
Salonsekretär versorgt hast,
bitte ich mir auf mein Zimmer
besorgen zu wollen. Ferner
schlage ich einen Tausch vor:
das Nachttischlein in Erwins
Zimmer gehört mir. Kosten
13,5 frs; ich würde Dir dasselbe überlassen und dafür das
Büchergestell, das seiner Zeit –
vor 7 Jahren – 15 frs gekostet,
mitnehmen.
Zuletzt noch die Bitte, über
Erwin genau aufzupassen und
dafür zu sorgen, dass er nicht
etwa wegen Besuchen, die
er Arnold oder mir abstattet,
belästigt wird. Ich habe in den
Ferien interessante Dinge über
seine Behandlung durch die 2
Mädel gehört – nicht von ihm.
Soviel auf Deinen Brief;
ich hätte mich lieber mündlich
ausgesprochen, doch unter
obwaltenden Umständen ist
das nicht möglich. Auf Deinen Schlusssatz eine Frage:
würdest Du Heuchelei Deiner
angeheirateten Familie gegenüber lieber sehen als offene
Kundgebung der Gefühle, die
ich für sie hege: Abscheu und
Verachtung? Mit meiner Familie stehe ich sehr gut und habe
nicht im Sinne, mit derselben
abzubrechen.
Herzlichen Gruss
Oskar
Willy Bocola-Schar (23.
November 1905 - 22. Dezember 1936).
Verwandten, Freunden
und Bekannten, die uns beim
Hinschied unseres lieben Willy
Bocola ihr Beileid bezeugt
haben, danken wir auf diesem
Wege nachträglich und bitten,
den Umstand, dass wir weder
Todesanzeigen versandt haben,
noch früher für die Beileidsbezeugungen gedankt haben, mit
den nachstehend geschilderten
besonderen Verhältnissen zu
entschuldigen.
Am 23. Dezember 1936,
morgens, erhielten wir aus
Bengasi von unserer Tochter
Marta ein Telegramm des Inhalts: «Wegen Unfall Willy bitte Mama oder Papa sofort nach
Bengasi kommen.» Dadurch
beunruhigt und voll schlimmer
Ahnung ersuchten wir sofort
durch Radiotelegramm um näheren Aufschluss und erhielten
am 23., abends zwischen 8 und
9 Uhr, das zweite Telegramm
mit der lakonischen Meldung: «Willy morto.» Darauf
entschlossen sich meine Frau
und ich sofort, so schnell als
möglich zur Tochter nach Bengasi zu reisen, die wir dort mit
ihren beiden kleinen Kindern
völlig verlassen wähnten. (...)
Am Weihnachtsabend,
am 25. Dezember, verreisten
wir mit dem Nachtzug direkt
nach Syrakus, und kamen am
29. Dezember nach diesmal
verhältnismässig ruhiger
Meerfahrt morgens auf der
Reede vor Bengasi an, wo wir
auf dem Schiff von den beiden
höchstkommandierenden
Fliegeroffizieren der Cyrenaika, den Obersten Bonfiglio und
Rolando und Frau Oberst Boncompagni empfangen wurden,
die uns ermöglichten, sofort
und unbehelligt von der sonst
umständlichen Zollvisitation
an Land und mit dem Dienstauto in die Wohnung Bocola in
Berca, direkt gegenüber dem
Eingang zum Militärflugplatz,
zu gelangen. Dort fanden wir
Transkriptionen
198
Transkriptionen
199
Alwin, Marty B., Emmy:
Andachtsstunde in St. Gallen
11. Februar 1940. - T11
unsere Tochter von mehreren
Freundinnen aus den Kreisen
der Fliegeroffiziere umgeben
und erfuhren erst dort die näheren Umstände, die zum Tode
von Willy Bocola führten.
Willy Bocola war mit zwei
andern Fliegerhauptleuten auf
einem Militärverkehrsflugzeug,
das er nicht selber lenkte, am
21. Dezember nach Tripolis geflogen, um dienstliche Angelegenheiten mit General Fougier,
dem Höchstkommandierenden
der italienischen Fliegertruppe
für ganz Libyen, zu besprechen. Die Rückkehr sollte am
22. Dezember erfolgen. Starke
Regenstürme hatten jedoch die
Piste in Tripolis aufgeweicht,
diejenige von Sirte, halbwegs
zwischen Tripolis und Bengasi,
wo gewöhnlich eine Zwischenlandung bei der beinahe 1000
km befragenden Flugfahrt
vorgenommen wird, war überschwemmt. Statt den Heimflug
unter diesen Umständen zu
verschieben, überwand der
Wunsch, Weihnachten zu Hause zu feiern, aller Bedenken, so
dass der gemeinsame Rückflug
bereits am Dienstag vormittag
angetreten wurde, nachdem
man, wegen der Unmöglichkeit, in Sirte den Benzinvorrat
zu ergänzen, 150 Liter Benzin
mehr als wie üblich geladen
hatte. Beim Abflug sass Willy
Bocola neben dem Piloten
Caggia vorn im Flugzeug, zwei
Kollegen in der zweiten Reihe.
Der Abflug gestaltete sich
infolge der grossen Belastung
und der aufgeweichten Piste
etwas schwierig, und kaum
hatte sich das Flugzeug über
den von Palmen umstandenen
Flugplatz erhoben, stürzte es
senkrecht ab. Die beiden vorne
Befindlichen, Willy Bocola
und der Pilot Caggia, waren
sofort tot, die beiden andern
verletzt, jedoch nicht lebensgefährlich, und sehen einer baldigen vollständigen Genesung
entgegen.
Die Nachricht von diesem
Unfall erweckte natürlich in
Tripolis grosse Bestürzung und
wurde sofort an das Flugfeld
in Bengasi und an den Podestà
in San Severo übermittelt mit
dem Ersuchen, den Verwandten Bocolas schonend diese
Schreckensnachricht beizubringen. In San Severo besorgte
dies der Podestä gegenüber der
Mutter und den Geschwistern
von Willy Bocola; in Bengasi
übernahmen einige befreundete
Offiziersdamen diese schmerzliche Aufgabe. Die beiden
Kinder, der nun sechsjährige
Sandrino und die zwanzig
Monate alte Heidi, wurden von
den Töchtern zweier Obersten,
Sandrino - dem der Tod seines
Vaters bisher verheimlicht
wurde und wird - auch von
einigen jüngeren Offizieren
ständig betreut und die Witwe
bis zu unserer Ankunft nicht
allein gelassen.
Sogar nachts schlief regelmässig eine Offiziersdame, die
Frau des Capitano Mey, bei
unserer Tochter und diese mit
Sandrino wurde regelmässig
von Freunden zum Mittagessen
eingeladen und abgeholt, damit
sie sich nicht, allein gelassen,
über den tragischen Trauerfall
hintersinnen könnte.
Auch ausserhalb des engeren Kreises der Fliegertruppe
erweckte die Todesnachricht,
die unmittelbar vor Weihnachten bekannt wurde, grosses
Mitgefühl, das sich unter
anderem durch von Unbekannten oder entfernt Bekannten
gemachte Weihnachtsgeschenke an die beiden Waisen, Sandrino und Heidi, bezeugte, die
sich beide in Bengasi-Berca
allgemeiner Beachtung und
Beliebtheit erfreuten. (...)
Willy Bocola war ein ganz
ausserordentlicher Mensch,
einer der allerbesten italienischen Jagdflieger, ein ganz
hervorragender Offizier und
Vorgesetzter, ein treu besorgter, zärtlicher Ehegatte und
Familienvater und dabei von
rührender Bescheidenheit. Er
sah dank seiner hervorragenden beruflichen Tüchtigkeit
noch einer grossen Karriere
entgegen. Er sollte bereits auf
Neujahr 1937 nach Tripolis zu
General Fougier versetzt werden, und hatte deshalb seine
Squadriglia in Bengasi bereits
abgegeben. Sein Verlust wurde
daher speziell in Kreisen der
italienischen Flugwaffe allgemein schmerzlich empfunden. Das beweisen nicht nur
zahlreiche Telegramme, die
sein Stormo und seine Witwe
in Bengasi erhielten, - unter
andern vom Fliegergeneral
Duca d‘Aosta aus Gorizia, der
Willy Bocola besonders wertschätzte und in einem späteren
Telegramm den Verstorbenen
als «unvergesslich» bezeichnete - sondern auch die grossartigen Trauerfeierlichkeiten, die
zuerst in Tripolis und nachher
in San Severo, der Heimat des
Verstorbenen, stattfanden. (...)
In der Vaterstadt Bocolas, San
Severo, war der Verstorbene
allgemein geschätzt und beliebt und während der Trauerfeierlichkeiten hatten sämtliche
Geschäfte geschlossen. (...)
Für uns Verwandte in der
Schweiz sieht in der Würdigung des lieben Verstorbenen
im Vordergrund, dass er ein
liebevoller und besorgter
Ehegatte und Familienvater
und im Verkehr mit allen
Mitmenschen bescheiden und
zuvorkommend war. (...) Neben seinem Berufe widmete er
seine ganze Liebe seiner Familie und wendete alles auf, um
seiner Frau und seinen Kindern
ein glückliches Familienleben
zu verschaffen. Rührend war
speziell die Art und Weise,
wie er seiner Frau Arbeiten
abnahm, die bei uns in der
Schweiz als typische Frauenarbeiten betrachtet würden. Wie
viele Male hat er seine kleinen
Kinder trocken gelegt und wieder eingewickelt, wie es eine
geprüfte Kinderpflegerin nicht
besser tun könnte. Wie oft hat
er sich auch im Krankheitsfall
um die Kinder bemüht, wie hat
er in seiner Freizeit im Haushalt ausgeholfen und bestimmte Gerichte selber hergestellt,
z. B. vortreffliche Makkaroni
fabriziert.
Besonders am Herzen lag
ihm die Erziehung und das
Fortkommen seiner Kinder,
insbesondere des jetzt sechsjährigen Sandrinos, der schon
frühzeitig eine besondere Gabe
im Zeichnen und Schreiben
und im Erlernen von Sprachen
bezeugte. Da sich durch den
wiederholten Wohnungswechsel der Eintritt in die Normalschulklasse für Sandrino
herauszögerte, unternahm er
es in seiner Freizeit, ihm das
ganze Pensum der italienischen
1. Klasse beizubringen, so dass
Sandrino mit Uberspringen der
ersten Klassen sogleich in eine
höhere Klasse eintreten könne.
Wir Schweizer Verwandte hatten die Freude und das
Vergnügen, Willy Bocola nicht
nur zu gelegentlichen Besuchen, sondern auch zu längeren
Ferienaufenthalten empfangen
zu können, welche Reisen in
die Schweiz Willy durch den
Besitz einer kleinen Fiat Balilla erleichtert wurden, mit der
er eigentliche Rekordfahrten
vollführte, wobei er nicht nur
seine ganze Familie, sondern
auch noch das ganze Reisegepäck für sich und die kleinen
Kinder in kunstvoller und erfinderischer Weise auf diesem
Wunderwagen verstaute. So
kam er einmal von Udine in
einem Tag mit Kind und Kegel
über den Gotthard auf ihm
unbekanntem Weg nach Basel,
ein andermal von Udine nach
Lenzerheide und dann wieder
zweimal im Laufe je eines
Nachmittags von Turin über
den Grossen St. Bernhard, Col
de Pillon etc. nach Adelboden,
dann wieder mit dem ganzen
Gepäck von Adelboden nach
Basel und wieder über den
Gotthard nach Turin. (...)Nicht
nur bei wiederholt längeren
Besuchen, die wir in Udine
und Turin, einmal auch in
Riccione, abstatteten, sondern
auch während dieser Ferienaufenthalte in Lenzerheide und
Adelboden hatten wir jeweils
Gelegenheit, Willy Bocola in
all seinen Vorzügen kennen
und schätzen zu lernen.
Dass uns Schwiegereltern,
Schwägern und Schwägerinnen
der so plötzlich im schönsten
Jugendalter erfolgte Tod von
Willy Bocola sehr nahe geht,
braucht keiner weiteren Begründung, dass insbesondere
seine Frau und seine Kinder
einen unersetzlichen Verlust
erlitten haben, auferlegt uns
dagegen die Pflicht, nicht nur
das Andenken an Willy Bocola
stets hoch zu hallen, sondern
auch zu dessen Ehren seiner
Witwe und seinen hinterlassenen Waisenkindern, Sandrino
und Heidi, den zukünftigen
Lebensweg möglichst zu
ebnen in Verbindung mit der
Mutter und den Geschwistern
des Verstorbenen und dessen
weiteren Verwandten, die in
dem Verstorbenen ebenfalls
die Stütze und den Stolz ihrer
Familie verloren haben.
Im Namen der hinterlassenen Schweizer Verwandten,
Der Schwiegervater und
Grossvater: Dr. Oskar Schär.
B a s e l, den 10. März
1937.
Paulus der Streiter. In
Gottes Namen, Amen. Vater
im Himmel, sieh diese Deine
Kinder hier versammelt in
Deinem Namen und auf Dein
Geheiss. Du hast wiederum
Gnade ausgegossen über die
Meinen und sie für würdig
befunden eines Lichtstrahles
aus höchster Höhe. Du hast ihr
Tun geschaut, ihre Herzen liegen offen da vor Dir. Du hast
sie würdig befunden Deiner
hohen Gnade. Ich bitte Dich
mein Vater, löse alles Irdische
und Alltägliche aus aus ihren
Herzen, mache sie frei, damit
sie ganz eintauchen können in
den Liebesstrahl, den Du nun
herabsenken willst. Gib Vater,
dass sie fähig sind aus dieser
Deiner Liebe neue Kraft und
Zuversicht zu schöpfen für
ihren weiteren Weg. Dies bitte
ich - Amen. Weiters bitte ich
Euch, das ihr nun eine kleine
Weile in stärkster Konzentration verharret, um damit
notwendige Kräfte zu schaffen
für die kommenden Auswirkungen.
Zu Marty: Für Dich mein
Kind ist diese Stunde ausersehen. Dir gilt ihr hohes Licht
und das Licht bestätigt Dir
Deinen Fortschritt. Sei froh
und dankbar. Wisse Du Dich
gehalten und gestützt von
Deiner hohen Führerin, die
selbst noch zu Dir sprechen
wird. Lasse nun alles Drückende, Beängstigende und
Lastende von Dir weichen und
gebe Dich ganz gelöst dem
Kommenden Auswirkungen
hin. Hast Du mich verstanden?
Vater, wir sind bereit, so lasse
denn Deine Liebe über uns
sich ausgiessen. Amen.
Emmy nimmt den Führer
von Willy auf. Er macht das
Kreuzeszeichen und spricht
dann: Gott zum Gruss! Mein
liebes Kind. Zum erstenmal
trete ich, der Führer Deines
Gatten zu Dir und nehme und
halte Deine Hände in den Meinen. Und lasse meine Kraft
und meine Liebe so in Dich hi-
nübergleiten und schaffe damit
ein Band, das von nun an nie
mehr sich lockern geschweige
denn zerreissen soll. Dass
ich heute gemeinsam mit ihm
den Weg hieher in diese lichte
Stunde tun durfte, ist zum
grossteil Dein Verdienst, meine
liebe Schwester. Du hast Dich
würdig und tapfer gehalten.
Du hast nach bestem Wollen
und mit viel Glaube und mit
inniger Liebe all das versucht
zu erreichen, was Deine hohe
Führerin Dir vor Monden als
Aufgabe stellte. Und wenn Du
auch Deine Glaubensstärke,
Deinen Glauben überhaupt
noch nicht so lebendig empfindest, wie es Dein sehnlichster Wunsch ist, so sei nicht
unglücklich darüber. Glaube
mir mein liebes Kind, alles will
seine Zeit und jede einzelne kleine Stufe im grossen
Rahmen der Entwicklung muss
geleistet sein und will seine
Zeit haben. Darum gehe Du
auf der nun einmal erkannten
Bahn frohen Herzens weiter,
links und rechts von Dir Deine
Kinder an der Hand führend,
dass sie mit Dir hineinschreiten
in die Zukunft, einer Zukunft
entgegen, die hell und licht und
schön und für Dich mein Kind
voller Friede sein kann, wenn
Du nur willst.
Bei Dir steht Dein Dual.
Seine Liebe schwingt von ihm
durch mich hindurch so stark
zu Dir hin! Bevor ich ihm
Raum gebe, lass mich Dir noch
etwas sagen: Auch er hat in der
vergangenen Zeit seine Arbeit
geleistet und Stufen erklommen und wieder gelassen, um
eine noch höhere zu erreichen.
Die Kraft dazu aber schöpfte er
aus Deiner Arbeit. Du selbst
hast somit Weg und Steg geebnet, um ihn seinen Weg gehen
zu lassen. Dafür dankt auch
er Dir. Die Schwester, deren
Körper mir als Werkzeug dient,
hat heute Nachmittag schon
die Schwingung aufgenommen
und Dir mitgeteilt, so dass mir
nur bleibt, dies zu bestätigen:
Transkriptionen
200
Transkriptionen
201
R.Buchner, MNG, 1947:
Brief an M.Bocola-Schär.
- T12
Der höher entwickelte Geist
ist nicht gebunden mehr an
irdische Sprache. Um nun
die Verbindung, die Kundgebung leichter zu gestalten,
formen wir Führergeister seine
Schwingungen um und geben
sie durch das Werkzeug weiter
in des Werkzeuges Sprache.
Dennoch ist ihm freigestellt,
auch in seiner irdischen
Sprache Dir einiges zu sagen,
um Dir die Ueberzeugung zu
geben, dass wirklich er es ist.
Nun ziehe Du, wenn Du
dieses Heim wieder verlässest, hinaus in Deinen Alltag.
Trachte je mehr und mehr
einzudringen in die Lehre
unseres Herrn. Lasse je mehr
und mehr Deinen Alltag und
die Erziehung Deiner Kinder
im Lichte Seines Wortes getan
sein. Lasse nich Rastlosigkeit
zu sehr Dich innerlich verbrauchen. Immer wieder einmal
kommen auch in Deinem Alltag stille Minuten. Dann nimm
sie, diese Minuten und erhebe
Dein Herz zum Herrn, der
Dich in Liebe stützt und hält
und dem Du liebes Kind bist,
an dem Er Freude hat. Nun sei
Gott befohlen...... Das Licht
erfüllt den Raum. Es hüllt uns
alle ein. Amen.
Willy: Marty! - Cara mia!
È la gioia, l‘amore. Dammi la
forza! -- Dunque senti, lasci
mi parlare come ti ho parlato
sempre senza che mi trovi così
bene perché non va come ho
parlato d‘abitudine --- Io sto
bene. (Frage) Felice? Sono
contento, lavoro ma è und lavoro che non ti posso spiegare
così bene. Non è tempo ancora
di parlare del mio lavoro. Ma
ti dico, che è diventato molto,
molto più chiaro intorno di
me. Il dolore che mi aveva
strazziato non è più. (Vedi tu
i tuoi cari morti?) Io cara non
vedo, no, mai, ma questo come
devo spiegarti, non è un dolore
per me. Io sento tutti, mi sono
riuniti in una maniera molto
cara. Non posso spiegarti, non
sono infelice. Loro lavorano
in una tutt‘altra parte, non sono
nei dintorni di me.
(Frage) -- Adesso ti sono
molto più vicino che l‘anno
scorso perché sono diventato
più calmo. (Frage: Perché
non me lo fai comprendere?)
Io ti faccio sentire. Ma il
contatto è fatto da te a me ma
non cammina ancora bene.
Senti - sarà il nostro lavoro
in tempi che verranno, che
tu ogni lunedì ... jeden ersten
Montag im aufsteigenden
Mond sollst Du abends Dich
mit mir verbinden. Ma ogni
giorno cara non è possibile,
non sarebbe possibile per me
di essere sempre vicino di
te. Ma nei miei pensieri voi
siete così vicino di me, siete
così ... seid so eingeschlossen,
zusammengeschlossen durch
meine Gedanken. Io vi tengo
in amore, io sento di voi tutto
l‘amore e tutti i pensieri ..... i
pensieri mi giungono tutti, ma
non posso esserti così vicino.
Ma in quel giorno io ti
sono proprio accanto. Cara!
Sarà il nostro compito di
egalizzare, di far piano -- ah le
parole! ... Es wird unsere Aufgabe sein, unsere Verbindung
zu ebnen, zu klären, um endlich den Weg frei zu machen
für eine innige Verständigung.
Capisci? --- È così un dono, è
così grande, questo compito
e non essere, cara, infelice, se
non va subito così bene. Sai
che ti sono vicino, sai questo
senza dubbio! Ci credi allora
in questa forza spirituale? Ti
posso giungere e tu vedrai, che
io ti potrò parlare poco a poco
in una maniera non come adesso ... In weiter Zukunft wird in
diese direkte Fühlungsnahme
zuerst Sandrino und dann auch
Heidy einbezogen werden.
Wie dies vor sich gehen wird,
weiss ich heute selbst noch
nicht. Ich weiss nur, dass uns
diese Gnade geschenkt ist, die
ich soeben aussprach. Capisci? Credimi cara! Anche se
non ti posso parlare come ti ho
parlato una volta! Ma in queste
ore che verranno, tu mi sentirai
come sempre. Il dono è per tuo
lavoro! Sei stata tanta eroica,
proprio eroica.
(Frage wegen der Kinder) Non farti sospiri, forse
devi, quando dormono, andare
da loro e tieni la mano qui e
lasci andar dentro il calmo e
la forza, preso dell‘alto. Dopo
parlate insieme. Io lascio il
ricordo nella sorella.
(Er wendet sich zu Alwin
und dankt ihm und Emmy.)
Non sai che felicità mi da di
vedervi tutti insieme. Io vedo
la luce proprio splendida che
vi è intorno. Talvolta mi è
permesso di fare uno sguardo più lontano. Non lo vedo
chiaro quel lontano, ma so che
ci viene preparato un futuro, un
essere insieme. Cara Marty! Il
tempo più terribile è passato.
Siamo felici di questo. Per
te quanto per me è passato il
tempo brutto.
(Frage, ob er nicht etwas zu
sagen habe für Mama.) (Seine
Kraft wird schwächer.) Aspetti, andando io vi prendo tutti
tutti cari genitori, la mamma,
tutti i miei, vicino a me, Sandrino, Heidy ... (weint)
(Alwin gibt Kraft.) Se
non ti ho parlato l‘altra volta
dei miei, se non ho dato saluti
era per questo, che quel
resto di forza con quale mi era
possibile di salutarti era per
te. (In direkter Uebersetzung
notiert): Die Kraft war so
gering, dass ich mich nur für
Dich conzentrieren wollte.
Non era dimenticare ... (Frage
wegen Eva, Antwort in direkter
Uebersetzung): Ich kann
heute auch nicht so weit gehen.
Lunedì, quel altro lunedì, mi
sentirai. Grazie? Siamo uno
nell‘altro, proprio per sempre!
Grazie. Addio!
Emmy sieht: Ich sehe
wiederum den Raum ganz im
Licht. Er steht im Licht, ich
sehe seine Geistgestalt hell und
licht. Nun wendet er sich noch
einmal zurück, sein Blick gilt
Dir, Marty. - Er ist schon weit
weg. - Dort entschwindet er.
Ich sehe nichts mehr.
Noch einmal komme ich,
sein Führer. Ich darf Dir folgendes sagen. Als er damals,
als Deine Kinder so krank waren, hier war, war er auf einem
solchen Tiefpunkt angelangt,
dass er ohne jede Kraft darniederlag und wie in einer Betäubung Deine furchtbar schwere
Zeit miterlebte. Es war die
schlimmste Zeit. Später einmal, wenn Euer beider Geist
sich aufgeschwungen haben
wird in noch jetzt unbekannte
Höhen, werdet Ihr wissen und
erfahren die tieferen Gründe
dieser Krankheit und schwerster Niedergeschlagenheit.
Für den Augenblick, meine
Schwester, lasse es ruhen.
Dein Dual ist mit Dir und Deinen Kindern durch Ewigkeitsbande und mit den Kindern
durch Bande verbunden, die
durch Zeiten und abermals Zeiten reichen. Darum sei nicht
ängstlich, dass er ihrer konnte
weniger gedenken, denn
solche Bande, wie sie Euch
binden, reissen nicht mehr,
noch werden sie überhaupt
irgendwie schwächer. Weise
diese Gedanken von Dir, denn
wie er Dir schon sagte, musste
er sein ganzes bisschen Kraft
für Dich gebrauchen, denn
für einen kurz heimgegangenen Geist bedeutet es immer
einen grossen Kraftaufwand,
irdisch zu den Menschen zu
sprechen. Auch darüber wirst
Du mit zunehmender Reife
und Erkenntnis ganz allein Dir
ein Urteil bilden können. Für
heute bist Du nun ruhig und
voll Zuversicht. Diese Deine
schöne Zuversicht und Deine
tapfere Ruhe strahlen mir entgegen und sind schon wieder
ein neues Stück Weg dem
Kommenden entgegen.
Noch will ich Dir eine
letzte Verhaltungsmassregel
geben für den Montag: Trachte
darnach, dass Du an diesem
Tag Dich nicht zu sehr seelisch
verausgabst. Verhalte Dich
so, dass genügend seelische
Kräfte für den Abend bereit
sind. Diese Konzentration
soll am 1. Montag 5 Minuten
nicht übersteigen und am
2. gesteigert werden auf 10
Minuten. Dies mag Dir gering
erscheinen, dennoch sind diese
5 Minuten für ihn wiederum
eine grosse Kraftanstrengung,
die Du Dir heute noch nicht
so vorstellen kannst. Darum
nimm Du diese 5 Minuten hin
als Geschenk. Aus ihm wird
sich alles weitere entwickeln.
Nicht zu sehr drängen, sondern
in der Ruhe bleiben. Zuerst
konzentriere Dich, löse Dich
innerlich los vom Alltag, lass
die kleinen Sorgen. Mache
Dich ganz frei, dann bete, nur
das Vaterunser, nicht Deine
ganze übliche Konzentration.
Und dann stehe gegen Osten
und halte die Hände so ..... und
nimm geistige Kraft in Dich
auf und schaffe damit die Basis, auf der die Verständigung
vor sich gehen kann. Hast Du
irgend eine Frage? Bedenke
und überdenke ruhig, ich warte
eine Weile .... Die Art des
Austausches wird sich von
selbst ergeben. Sie bleibt Euch
überlassen. Fürs erste wirst
Du mit drängenden Fragen
nicht an ihn gelangen, das
versteht sich, sondern einfach
seine Schwingung aufnehmen
und die Verbindung herstellen. Und in dieser Verbindung
verharrt Ihr diese kleine kurze
Zeit. Vielleicht auch so, das
nächste und übernächste Mal.
Bedenke, dass eine lange
Entwicklung vor Euch liegt,
die nicht erzwungen werden
darf. (Frage ob immer 10
Minuten.) Du wirst es schon
spüren und sollst eventuell
mit der Schwester Rücksprache nehmen, auf dass ich sie
beeindrucken kann und sie Dir
meine Botschaft weiter gibt.
Bist Du nun im Klaren?
Nun will sich die Lichtstunde zu Ende neigen. Vater,
mit einem Herzen voll Dank,
dass Du gnàdig Dich uns erwiesen hast, lassen wir sie ziehen und schöpfen aus ihr Kraft
und Ruhe und jene Frohheit
des Herzens, die wir brauchen
und die uns, die wir des Herrn
Diener sind, wohl ansteht.
Vater wir bitten Dich bleibe
bei uns in Deinem Sohne Jesus
Christus. Gib dass wir je mehr
und mehr Ihm dienen und
Sein werden. Amen. So gehet
wiederum hin in Frieden und
mit dem Segen des Herrn. Er
behütet Euch auf allen Euren
Wegen, Er ist bei Euch allezeit,
Sein Licht umfasst uns alle,
alle. Amen. Gott zum Gruss.
Der Geist macht nochmals das
Kreuzeszeichen und sagt dann:
Du Kreuzeszeichen, das Du
verwandelst Kreuz in Licht, sei
gepriesen. Amen.
Dankgebet: Vater im Himmel wir danke Dir für Deine
Gnade, die Du heute Abend
uns wiederum geschenkt hast.
Jedes von uns ist dankerfüllt.
Ich Vater danke Dir für die
Gabe, derer Du mich würdig
hast befunden. Ich danke Dir,
dass ich Werkzeug sein darf,
um den Andern Hilfe und
Freude und Glück zu bringen.
Vater ich bitte Dich stehe mir
bei allezeit, dass ich nicht
unwürdig werde dieser Deiner
Gnade. Vater gib, das ich in
Liebe und Geduld meinen
Alltag meistere und damit
aufsteigen darf und weitere
Gabe geschenkt bekommen
darf, wiederum zum Segen
der Meinen und aller meiner
Mitmenschen. Amen.
Ich war ich.
Basel, 14. Februar 1947
Frau M. Bocola-Schär,
Bachlettenstrasse 60
Herrn Em. GoldbergerAckersmann, Rütimeyerstrasse
47, Basel
Sehr geehrte Frau Bocola,
sehr geehrter Herr Goldberger
Ihre Söhne haben es unternommen eine Schülerzeitung
heraus zu geben und haben
damit die Schuldisziplin in
gröblichster Weise verletzt.
Ich bedaure sehr, von dieser
Absicht nicht von Seiten der
Eltern unterrichtet worden zu
sein, denen dieses Vorhaben
kaum unbekannt geblieben sein
konnte. Ihre Söhne haben sich
bei Herrn Kühndorf auf dem
Erziehungsdepartement über
das Vorgehen erkundigt und
sind richtig beraten worden.
Herr Kühndorf schreibt uns am
13.2.1947:
„Ich finde die Sache sehr
bedenklich, umsomehr, als ich
den beiden jungen Leuten, die
sich bei mir Rat holten, deutlich und eindringlich zu verstehen gab, dass einmal für eine
solche Zeitung kein Bedürfnis
bestehe und dass in allererster
Linie dafür die Zustimmung
der Schule, d.h. des Rektorats
eingeholt werden müsse. Das
Rektorat würde nach Prüfung
des Planes ohnehin das Departement um seinen Entscheid
angehen. Die Schulbehörden
und Lehrer hätten darüber zu
wachen, dass die Schüler nicht
durch häusliche Arbeiten,
durch Mitwirkung bei der Tätigkeit der Eltern oder anderer
Personen oder eine Erwerbstätigkeit irgendwelcher Art so
belastet werden, dass sie die
von der Schule angeordneten
Hausaufgaben nicht oder nich
richtig auszuführen imstande
seien oder an ihrer Gesundheit
Schaden nehmen (§ XXII, Absatz 1, der Schulordnung vom
27. Juni 1932). Im weiteren
machte ich darauf aufmerksam,
dass eine Zeitschrift nicht von
Unmündigen herausgegeben
Transkriptionen
202
Bibliographie
R.Buchner, MNG, 1947:
Brief an Ernst Burlet.
- T13
werden könne, dass also dafür
ohnehin Eltern und Lehrer
gewonnen werden müssten und
diese hätten sich, bevor das
Unternehmen gestartet werde,
mit den Schulbehörden in
Verbindung zu setzen.
Als die Frage der Finanzierung berührt und als erklärt
wurde, die Zeitung solle
gedruckt und durch Inserate
gestützt werden, habe ich die
Jünglinge darauf aufmerksam
gemacht, dass ein Beschluss
vorliege, wonach für Schulveranstaltungen keine Inserate
gesammelt werden dürfen. Ich
entliess die Burschen mit der
dringenden Mahnung, bevor
sie überhaupt einen Schritt
im Sinne der Gründung einer
Zeitung unternehmen, vorher
den Rat des Rektors einzuholen. Das Departement würde
keinesfalls gestatten, dass
Zeitungen vor dem Schulhaus
verteilt würden; im Schulhaus sei dies ja ohnehin nur
mit Zustimmung des Rektors
möglich. Wenn die Burschen
nun behaupten, sie hätten von
mir die Erlaubnis erhalten, die
Sache zu verteilen, so ist dies
eine glatte Lüge. Es ist ja auch
vollkommen ausgeschlossen,
dass eine Bewilligung für eine
so fragwürdige Sache erteilt
wird, die im Zeitpunkt der
Besprechung noch gar keine
Gestalt angenommen hatte.
Ich bin der Meinung, dass
den beiden Schülern in der
eindrücklichsten Weise klar
gemacht werden muss, dass sie
sich mit ihrer Handlungsweise
strafbar gemacht haben.“
Ihre Söhne haben es für
gut befunden, diese Ratschläge
nicht zu befolgen, weil sie von
Anfang erkennen mussten,
dass damit ihr Vorhaben verunmöglicht würde. Sie haben
sich mit dem Rektor nicht in
Verbindung gesetzt, vielmehr
ihr schmutziges Elaborat den
Schülern eigenmächtig verteilt.
Darüberhinaus sind sie in die
Mädchenrealschule, Steinenschulhaus, eingedrungen
und haben sich unterfangen,
während des Unterrichts - trotz
dem Protest der Lehrerinnen
und Lehrer - ihre Zeitung zu
verteilen und haben sich ihrer
Ausweisung aus den Klassen
gewalttätig widersetzt. Wie zu
erwarten war, haben zahlreiche Eltern bei Herrn Rektor
Dr. Langbein Protest erhoben,
dass ihren Kindern derartige
Schundliteratur in der Schule
ausgehändigt würde. Herr
Rektor Dr. Langbein hat im
Auftrage seiner Lehrerschaft
auf das nachdrücklichste bei
uns protestiert und die Bestrafung der Schuldigen verlangt.
Wir setzen Sie hiermit davon in Kenntnis, dass wir mit
allem Nachdruck verbieten,
dass diese Zeitung fernerhin
auf irgend eine Weise an unsere Schüler oder an diejenigen
einer anderen Schule herangebracht wird.
Wir haben den Schülern für
ihr unqualifizierbares Verhalten
in der Steinenschule zwei Mal
einen MittwochnachmittagArrest verhängt. Wir werden
aber von diesem gröblichen
Disziplinarverstoss - der nun
insbesondere bei Bocola das
Mass vollmacht - die Inspektion in Kenntnis setzen und sie
ersuchen, die Schulausweisung
in Erwägung zu ziehen.
Mit vorzüglicher Hochachtung, der Rektor des Mathematisch-naturw. Gymnasiums:
Basel, den 21. März 1947
Herrn Dr. E. Burlet-Schär,
Bachlettenstrasse 60, Basel
Sehr geehrter Herr, wir
berichten Ihnen wiederum über
das Verhalten unseres Schülers
S. Bocola, damit Sie nicht
annehmen, wenn die Schule
nicht berichte, so sei alles in
Ordnung.
Obwohl er weiss, dass über
sein Verbleiben an der Schule
entschieden wird, lässt er sich
davon nicht abhalten, immer
wieder zu spät zur Schule
zu kommen und zudem sein
Schulmaterial nur unvollständig mitzubringen.
Herr Dr. Noll hat ihm für
das Schwänzen des BiologieUnterrichts eine Aufgabe
erteilt. Als die Aufgabe nach 8
Tage fällig war, erklärte Sandro, damit nicht fertig geworden
zu sein. Nach abermals 8
Tagen stellte sich allerdings
heraus, dass er auch dann noch
nicht einmal mit der Arbeit
begonnen hatte. Unter diesen
Umständen verzichtete Herr
Dr. Noll auf die Ausführung
dieser Arbeit.
Mittwoch Nachmittag
erhielt er die Erlaubnis, eine
Zeichnung nach 16 Uhr zum
Abschluss zu bringen. Heute
stellt sich heraus, dass er in
dieser Zeit durch Messerwürfe
die Wandtafel schwer beschädigt hat; ein Stück ist abgesprengt. Sie muss in Reparatur
gegeben werden; die Rechnung
wird zur gegebenen Zeit seiner
Mutter zugestellt werden.
Diese weiteren Vorkommnisse bestärken uns in unserer
Auffassung, dass Sandro an
einem Gymnasium nicht am
richtigen Ort ist. Er ist unfähig,
ein in ihn gesetztes Vertrauen
zu erkennen und zu rechtfertigen.
Mit vorzüglicher Hochachtung, der Rektor des Mathematisch-naturw. Gynmasiums:
Bibliographie
Verzeichnis der zitierten
Werke, S. 203
Literaturverzeichnis
Johann Friedrich Schär,
S. 203
Literaturverzeichnis
Oskar Schär, S. 204
203
Verzeichnis der zitierten
Werke
Literaturverzeichnis
Johann Friedrich Schär
Berner, Sieber, Wickers, 2008:
Kleine Geschichte der Stadt
Basel, DRW Verlag, Leinfelden-Echterlingen, 2008
Verzeichnis sämtlicher in
Buchform erschienenen Werke
von Dr. Joh. Friedr. Schär
Handschin, Hans, 1954: Der
Verband Schweiz. Konsumvereine (VSK) 1890-1953, Basel,
Buchverlag VSK, 1954
Kellerhals, Werner, 1990, 100
Jahre Coop Schweiz (vormals
VSK), 1890-1990, Buchverlag
Coop Schweiz, 1990
Kunzmann, Ruedi, 2005: Konsumgeld der Schweiz, H.Gietl.
Verlag, Regentauf, 2005
Schär, Johann Friedrich, 1920:
Genossenschaftliche Reden
und Schriften, Buchverlag
VSK, Basel, 1920
Schär, Johann Friedrich, 1921:
Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, G.A.Glöckner
Leipzig, 1921, 4.Auflage 1981,
Nikon Shoseki Ltd.
Schär, Johann Friedrich, 1924:
Lebenserinnerungen, Buchverlag VSK, Basel, 1924
Schär, Johann Friedrich, 1924a
Mein Lebenswerk, Typoscript,
Basel/Freidorf, 1924
Schär, Oskar, 1936: Nachruf
auf Willy Bocola, S.193
Schmidlin, Emil, 1947, In
Memoriam Karl Oskar Schär,
1947
Im Verlag für Sprach- und
Handelswissenschaft
S. Simon, Berlin:
1. und 2. kaufmännische
Unterrichtsstunden System
Schär-Langenscheidt (verfasst
von J. Fr. Schär)
Kursus I: Buchhaltung.
854 Seiten in Lexikonformat,
14. Auflage 1922.
Kursus II: Kontorpraxis.
815 Seiten in Lexikonformat,
14. Auflage 1922.
Anerkannt das beste Werk für
den Selbstsunterricht.
- Einfache und doppelte Buchhaltung.
- Methodisch geordnete Aufga
ben für das Selbststudium und
den Unterricht in der Buchhaltung nebst Lösungen und
Musterdarstellungen.
- Kaufmännisches Rechnen
- Handelskorrespondenz und
Handelsbetriebslehre in Verbindung mit der Wechsel- und
Schecklehre.
- Technik des Bankgeschäfts;
- Musterbuchhaltung für das
Kleingewerbe. Broschüre.
- Wechselkurs und Wechselrecht. Separatabdruck aus dem
System Schär-Langenscheidt.
- Zahlungsbilanz und Diskont.
I hre Beziehungen zum internationalen Geld- und Kreditverkehr, Broschüre.
Der Überseehandel. Von Prof.
H. Biedermann und Prof. Dr. J.
Fr. Schär. 2. Auflage 1923.
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der gesamten Handelswissenschaften. Zwei Bände. Von
Prof. J. Fr. Schär und Richard
Calwer. 144-153. Tausend.
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Währungsverhältnisse des
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durch den Krieg. 1920.
Bei verschiedenen Verlegern:
Lehrbuch der Buchhaltung.
Methodischer Aufbau der
doppelten Buchhaltung. Julius
Maier, Stuttgart 1888.
Versuch einer wissenschaftlichen Behandlung der Buchhaltung. Benno Schwabe & Co.,
Basel 1890.
Freiland, oder die wahren
Ursachen der sozialen Not vom
Standpunkte der Bodenbesitzreform. Separatabdruck aus
der Zeitschrift für schweizer.
Statistik. 1893.
Denkschrift über die Gründung
einer Staatsbank für BaselStadt. Basel 1893.
Verschiedene kleinere Propagandaschriften über Freiland,
Bodenbesitzreform,Verstaatlich
ung der Wasserkräfte (18881895).
Der Kampf um den schweizerischen Zolltarif. Herausgegeben vom Verband schweizerischer Konsumvereine. 1891.
Kalkulation und Statistik im
genossenschaftlichen Grossbetrieb. Analyse der Rechnungen
des A.C.V. in Basel für die
Jahre 1898 bis 1908. Verlag
des Verbandes schweizer. Konsumvereine, Basel 1910.
Sechs Broschüren zur Belehrung und Propaganda für die
Konsumgenossenschaften.
Herausgegeben im Verlag des
V.S.K., Basel, 1892-1913:
- Organisierung gemeinsamer
Wareneinkäufe. (Gründung
einer Zentralstelle des Verbandes schweiz. Konsumvereine).
1892.
- Thesen und Normalstatuten
für schweizerische Konsumvereine. 1893.
- Soziale und wirtschaftliche
Aufgaben der Konsumgenossenschaften. 1910.
Bibliographie
204
Bildrechte
205
Literaturverzeichnis
Oskar Schär
- Wandlungen im Detailhandel. 1912.
- Die Genossenschaften im
Lichte der wirtschaftlichen und
sozialen Kämpfe der Gegenwart. 1913.
Allgemeine Handelsbetriebslehre. Fünfte Auflage. Glöckner, Leipzig, 1923.
Ein Hauptwerk von Prof J. Fr.
Schär.
Neuauflage 1981, Nikon
Shoseki Ltd.
Die Bank im Dienste des Kaufmanns. 4. Auflage. Glöckner,
Leipzig 1922.
Einführung in das Wesen der
doppelten Buchhaltung. Julius
Springer, Berlin 1911.
Buchhaltung und Bilanz. 5.
Auflage. Julius Springer, Berlin 1922.
Neuauflage 1995, Edition
„Classic“, VDM Verlag
Methodik der Buchhaltung.
Mittler & Sohn, Berlin 1913.
Pflege der Handelswissenschaften an der Universität
Zürich. Orell, Füssli & Cie.,
Zürich 1904.
Joh. Friedr. Schär›s genossenschaftliche Reden und Schriften. I. Band des Sammelwerkes «Pioniere und Theoretiker
des Genossenschaftswesens»
mit 140 Seiten Anmerkungen
vom Herausgeber Dr. K. Munding. Verlag Verband schweiz.
Konsumvereine, Basel 1920.
Der kaufmännische Ratgeber
(1923), ab 1924 Der Kaufmann, redigiert von Prof. Dr. J.
Fr. Schär. Monatshefte, Benno
Schwabe & Co. Basel.
1905 Die Verstaatlichung der
schweizerischen Wasserkräfte 2. umgearb. und bed. erw.
Aufl.; Helbing und Lichtenhahn, Basel 1905
1907 Ist die Schaffung einer
eidgenössischen DisziplinarGerichtsbarkeit wünschbar
und wie ist solche eventuell zu
organisieren? Basel 1907
1909 Zur Statutenrevision des
Verbands schweiz. Konsumvereine: eine Entgegnung auf
die von Hans Müller an dem
Entwurf des Verbandvorstands
geübte Kritik. Krebs, Basel
1909
1916 Probleme und Streitfragen aus dem Gebiete der heutigen Lebensmittel-Versorgung,
beurteilt vom Standpunkte der
organisierten schweizerischen
Konsumenten. VSK, Basel
1916
1920 Die Finanzierung des
Baues von Mietwohnungen:
Thesen. Schweiz. Verband zur
Förderung des gemeinnützigen
Wohnungsbaues, Zürich 1920
Der soziale Handel. Georg
Reimer, Berlin 1916.
1920 Der Unabhängige Orden
der Odd Fellows, I.O.O.F.: Ein
kurzes Wort der Aufklärung,
hg. von der Gross-Loge der
Rep. Schweiz. Basel 1920
Das Eindringen des kaufmännischen Geistes in die Staaatsverwaltungen. Separatausgabe
der «Deutschen Wirtschaftszeitung». Berlin, 1910.
1921 Der Verband schweiz.
Konsumvereine im Kampf
gegen den verfassungswidrigen
Schutzzolltarif. V.S.K., Basel
1921
Die drei Formen der Zweikontentheorie. Separatausgabe der
Zeitschrift für Handelswissenschaften und Handelspraixs.
Pöschel, Leipzig 1916.
1925 Die verschiedenen Arten
der Genossenschaft; Das
Genossenschaftsrecht; Die
Besteuerung der Genossenschaften. Drei Referate. Basel
1925
Das sterbende Buch der Buchhaltung. Verlag Der Organisator, Zürich 1923.
1934 Konsumvereine und Mittelstand. V.S.K., Basel 1934
Einführung in die doppelte
Buchführung für Laien. Benno
Schwabe & Co., Basel 1923.
1937 Über den Warenhausbeschluss. VSK, 37.Jhg. Nr.27
(1937)
1938 Die Revision des
Wirtschaftsartikels. VSK, 38.
Jahrg., Nr. 28 (1938)
1941 Duttweiler und die
Genossenschaften. VSK, 41.
Jahrg., Nr. 13-15 (1941)
1942 Teilweise Inkraftsetzung
des Wirtschaftsartikels ohne
Volksabstimmung. VSK, 42.
Jahrg., Nr. 37 und 38 (1942)
1943 Kritische Bemerkungen
zum neuen Entwurf eines BG
über den unlauteren Wettbewerb. VSK, 43. Jahrg., Nr. 7
1943 Zukunftssorgen der
schweizerischen Konsumgenossenschaften. Politische Rundschau, 22. Jahrg., Heft 5/6
1944 Selbsthilfebestrebungen
und Eidgenössische Preiskontrollstelle. VSK, 44. Jahrg., Nr.
9 und 10 (1944)
1944 Die Theorie des Mittelstandes von Prof. Marbach.
VSK, 44. Jahrg., Nr. 3-7 (1944)
1944 Chronik des Verbandes
schweizerischer Kantonalbanken 1907-1944. Hrsg.: Verband
schweizerischer Kantonalbanken, ohne Angabe 1944
1945 Zum Problem der
Ladengemeinschaften und der
Frauenvertretungen in den Genossenschaftsbehörden. VSK,
45. Jahrg., Nr. 45 und 46
1945 Einwendungen gegen das
Obligatorium des Fähigkeitsausweises. Basel 1945
1946 Das Problem der Totalrevision der Bundesverfassung.
Politische Rundschau, 25.
Jahrg., Heft 9/10 (1946)
1946 Johann Friedrich Schär
als Sozialreformer. VSK, 46.
Jahrg., Nr. 12 (1946)
(VSK = Organ des Schweizerischer Konsum-Vereins)
Bildrechte
Die grosse Mehrheit der Abbildungen unseres Buches stammen aus unserem FamilienArchiv. Deren Copyright liegt
bei Sandro Bocola und Heidy
Lambelet-Bocola.
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- Abb. 7. 8. 9. 15. 17. 33.
40. 42. 43. 45. 47. 48. 49.
55. 79. 86. 87. 88. 204. 225.
234. Coop Schweiz.
- Abb. 10. Universitätsbibliothek Basel, Porträtsammlung
Benedikt Meyer Kraus,F 476
- Abb. 20. Tschudi, 1888
- Abb. 21. http://www.novartis.
- Abb. 22. StABS, Hö D
42162
- Abb. 24. Staatsarchiv BaselStadt, AL 45, 2-68
- Abb. 25. Staatsarchiv BaselStadt, AL 45, 4-65.
- Abb. 27. Staatsarchiv BaselStadt, Fotoarchiv Wolf, Neg
5766.
- Abb. 28. Jacob Burckhardt.
- Abb. 29. Theodor Herzl.
- Abb. 32. Kunzmann, 2005.
- Abb. 41. Rochdale Pioneer
Museum.
- Abb. 51. Basler Kantonalbank.
- Abb. 54. Bildband Zürich
um 1900
- Abb. 61. Deutsche Bauzeitung No.86, vom 27.10.1906
- Abb. 78. Foto André Muelhaupt
- Abb. 158. Wikipedia
- Abb. 167. Edizioni Scala
d‘Oro
- Abb. 180. Goetheanum
- Abb. 200. Museo del Prado,
Madrid/ www.arte-web.de.
- Abb. 213. Orell Füssli Ver-
lag, Zürich
- Abb. 214. Verlag Friedrich
Oetinger, Hamburg- Abb. 216.
King Oliver
- Abb. 217. Prolitteris
- Abb. 218. Foto Maria Netter
- Abb. 219. Kunstverein Basel
Chronologie
206
Jahr
Johann Friedrich
Schär
Oskar Schär und
Bocola - Schär
1838
1846
1847
1848
1865
Geburt J.F.Schär
1866
1868
Heirat mit Anna Werren
1869
1870
1871*
1874
Chronologie
Weltgeschehen
Jahr
Einführung der Schulpflicht in der Schweiz
1908
207
Johann Friedrich
Schär
1909
Tod Arnold Schär
1911
Veröffentlichung Allgemeine
Handelsbetriebslehre
Schlaganfall J.F.Schär
Alwine zieht zu ihm nach
Berlin
Neue Bundesverfassung
Gymnasiallehrer Patent
Lehrer am Seminar
Münchenbuchse
Geburt von Karl Oskar
Libyen wird italienische
Kolonie
Schär Mitglied der Justizkommission
1913-1917
Fabrikgesetz in der Schweiz
Beginn kaufm. Tätigkeit
Ausbruch des deutschfranzösischer Krieg
Tod der Mutter
J.F.Schär Sekundarlehrer in
Bischofszell
1914
1916
Beginn des 1. Weltkrieges
Oakar Schär Nationalrat
Gründung Konsumverein
Bischofszell
1880
Direktor Mädchensekundarschule Biel
1921
1882
Lehrer Obere Realschule
Basel
1923
J.F.Schär Ehrendoktor Universität Köln
1884
1888
1889
Sekretär A.C.V. Basel
1924
1925
1927
Tod J.F.Schär
1890
Mitbegründer V.S.K.
Kauf Bachlettenstrasse 60
1904
Verfassungsrevision
Basel-Stadt
Mitglied des Grossen Rates
O.Schär verlässt Elternhaus
Heirat mit Olga Matile
Präsident V.S.K. (bis 1903)
Doktoriert summa cum laude
Strafgerichtspräsident
1. Zionistenkongress Basel
Heirat mit Anna Haller
Sigmund Freud Traumdeutung
Waffenstillstand
Rückkehr in die Schweiz
Gründung des Völkerbundes
Genossenschaftliche Reden
und Schriften
Revision Bankgesetz
Gründung des Partito
Nazionale Fascista
Wahlsieg der Faschisten
W. Bocola Kapitänspatent
Richter am Appellationsgericht
1929
1931
1933
Marty trifft Willy
1935
O. Schär Präsident des VSK.
Grossratspräsident
Geburt Heidy Bocola
1936
Willy Bocola und Familie
Übersiedlung nach Libyen.
Tod Willy Bocola
Spanischer Bürgerkrieg
Ausbruch des 2. Weltkrieges
Eröffnung Kantonalbank BS
Geburt Anneliese Schär
Willy Bocola Weltrekord im
Rückenflug
Geburt Marty Schär
1939
Übersiedlung nach Basel
Ehrendoktor Universität ZH
Verstaatlichung der Schweizerischen Wasserkräfte
1941
Sandro tritt in das MNG ein
Oskar Schär Grossrat
Geburt Willy Bocola
Professor Handelshochschule Berlin
Albert Einstein Relativitätstheorie
Cézanne Ausstellung in Paris
1944
1947
New Yorker Börsenkrach
Geburt Sandro Bocola
Professor Universität Zürich
1905
1906
Geburt Anna Haller
Tod von Anna Schär-Werren
Malewitsch Das schwarze
Quadrat
Franz Kafka Die Verwandlung
J.F.Schär Rektor Handelshochschule Berlin
1876
Neue Kantonsverfassung
Basel-Stadt
Pablo Picasso in Horta
de Ebro, erste kubistische
Bilder
Wassily Kandinsky: erstes
ungegenständliches Aquarell
1912
Geburt Oskar Schär
1875
1895-1909
1897
1899
1900
1901
1903
O. Schär Vizepräsident
V.S.K.
Sonderbundskrieg
Lehrerpatent
Lehrer in Wattenwil
Weltgeschehen
Geburt Hanny Schär
1917-1929
1918
1919
1920
1891-1893
1892 ?
Oskar Schär und
Bocola - Schär
Hitler kommt an die Macht
Basler Künstler gründen
Gruppe 33
Ende des 2. Weltkrieges
Sandro wird aus dem MNG
ausgeschlossen
Tod Oskar Schär
Ausstellungen Vincent VanGogh und Piet Mondrian in
der Kunsthalle Basel
Register
208
Herausgeber und Mitarbeiter
Personenregister
Register
Barragan Justo: 7, 209
Balbo Italo: 124, 125
Bocola Alessandro: 97, 99
Bocola Eva: 97, 115
Bocola Heidy: 6, 7, 30, 65, 83,
92, 110, 111, 112, 113, 131,
135, 138, 142, 143, 144, 146,
148, 149, 150, 152, 153, 154,
157, 158, 159, 165, 167, 170,
171, 172, 173, 174, 175, 200,
205, 207, 209, 210
Bocola Manfredo: 97, 99, 115,
117, 128, 136, 155, 161
Bocola Pinuccia: 136, 155, 161
Bocola Sandro: 6, 7, 86, 88,
90, 92, 94, 100, 101, 102, 103,
104, 105, 111, 112, 115, 121,
123, 127, 128, 130, 132, 134,
135, 136, 137, 138, 141, 142,
143, 145, 146, 147, 148, 149,
150, 152, 153, 155, 156, 157,
158, 159, 160, 161, 162, 163,
164, 166, 167, 168, 169, 170,
171, 172, 173, 174, 175, 202,
205, 207, 209, 210
Bocola Tittina: 114, 115, 117,
128, 136, 155, 161
Bocola Toto: 96, 101, 115, 135,
136, 146
Bocola Willy: 7, 85, 89, 91,
92, 93, 94, 95, 97, 104 ,105,
106, 107, 108, 111, 115, 116,
117, 120, 121, 122, 124, 126,
128, 129, 140, 174, 181, 193,
194, 197, 198, 199, 200, 203,
206, 207
Bonfiglio: 120
Brogle Theo: 7, 46, 49, 57, 58,
181, 187
Buchner Robert: 168, 169,
181, 201, 202, 205
Burckhardt Jacob: 27, 44, 205
Burlet -Schär Hanni: 78, 146,
160, 165, 174, 181, 202
Burlet Oscar: 7, 55
Canonica Finn: 176
Carvalho dos Santos Marcos
Davi: 7, 209
Cerutti Mimma; 120,
Cerutti Sandro: 120
Clavel Alexander: 24
Curie: 164,
Degen: 149, 150, 170,
De Kruif Paul: 164
Dietschi Eugen: 62, 64, 65, 67,
68, 174, 181, 190
Dreyfus Rolf: 165
Duttweiler Gottlieb: 71, 205
Enderle Nelly: 100, 101
Faucherre Henry: 7, 38, 58,
181
Flatt Robert: 7, 28, 181, 188,
189,
Gass Christian: 7, 25, 26, 37,
39
Geigy Rudolf: 24
George Henry: 43, 185
Gosteli Mike: 7, 56, 58, 138,
209
Gray Zane: 164
Haeckl Ernst: 164
Haller Otti: 78, 160
Haller Ruedi: 61
Handschin Hans: 7, 33, 36, 37,
39, 71, 203,
Herzl Theodor: 27, 205
Hoffmann Fritz: 24
Huber Max: 57, 188,
Humm Werner: 164, 166,
Jaeggi Bernhard: 65, 158, 159,
190,
Kohut Heinz: 12
Kissling Hans: 176
Kündig Rudolf: 32, 39
Lambelet-Bocola Heidy: 7
Lambelet Dominic: 209
Lambelet Louis: 30, 138, 209
Lambelet Michelle: 209
Lambelet Pascal: 209
Léhar Franz: 165
Leitner Friedrich: 51
Lurati Elio: 149
Maire Maurice: 65
Male: 132, 138, 148, 149, 173
Matile-von Seeger Olga: 30,
206
May Karl: 160, 164, 205
Mellerowicz Konrad: 51
Mey Marisa: 131, 132, 154,
155
Meyrin Georg: 39
Mondrian Piet: 166, 207
Montgomery Bernard: 161
Mozetti Augusto: 209
Müller Hans: 39, 48
Mussolini Benito: 124
Niederer: 21
Nietzsche Friedrich: 140, 205
Oliver King: 164, 165, 205
Parisi Maria: 97, 99, 115, 117,
132, 135, 137, 155, 157, 161
Pasteur Louis: 164
Pictet Edmond: 36, 37
Remarque Erich Maria: 164
Rommel Erwin: 161
Röntgen Wilherm Conrad: 164
Rüegg: 14, 18, 21
Russel Charles Edward: 34
Salgari Emilio: 164, 205
Sandoz Edouard: 24
Schär-Haller Anna: 9, 61, 76,
77, 80, 86, 105, 113, 135, 146,
147, 151, 153, 167, 174
Schär-Werren Anna: 17, 206
Schär Alwine: 9, 20, 53, 54,
55, 56, 150, 207
Schär Arnold: 30, 41, 207
Schär Erwin: 31
Schär Fritz: 31
Schär Hanni: 78, 80, 146
Schär Johann Friedrich: 6, 7, 9,
10, 11, 12, 13, 14, 18, 19, 20,
28, 29, 30, 31, 37, 38, 39, 41,
42, 43, 44, 46, 48, 49, 52, 53,
56, 57, 58, 176, 181, 182, 184,
185, 187, 188, 189, 197, 203,
205, 206, 207
Schär Lisy: 9, 53, 78, 80, 146
Schär Marty: 9, 52, 78, 80, 81,
85, 87, 89, 91, 92, 93, 101,
115, 140, 142, 143, 146, 157,
170, 181, 193, 194, 195
Schär Karl Oskar: 7, 9, 17, 20,
30, 31, 39, 41, 43, 58, 61, 62,
63, 64, 65, 66, 67, 68, 73, 74,
77, 79, 80, 82, 83, 86, 90, 102,
105, 126, 128, 135, 136, 143,
146, 147, 153, 158, 169, 172,
174, 175, 176, 181, 185, 186,
190, 191, 192, 193, 194, 197,
199, 203, 204, 206, 207
Schär Rudolf: 31, 41
Schär Wilhelm Friedrich: 17
Scheitlin Donald: 146, 174
Scherrer Paul: 7, 64, 190
Scherrer Stefan: 7
Schmidt Georg: 166, 167
Schnurrenberger Susanne: 7,
209
Semmelweis Ignaz: 164
Sinclair Upton: 164
Sombart Werner: 51
Stadelmann Cölestin: 37
Steiner Rudolf: 138, 140, 205
Strauss Johann: 135
Tauber Richard: 165
Twedell Thomas: 34,
Van Gogh Vincent: 167 207
Zellweger Otto: 65,
Zschokke, Heinrich: 16, 181,
Zürcher: 57, 188
Herausgeber
und Mitarbeiter
209
Sandro Bocola
Heidy Lambelet-Bocola
Mitarbeiter
Sandro Bocola, geboren
1931 in Triest. In Italien, Lybien und der Schweiz aufgewachsen. Nach mehrjährigen
Aufenthalten in Basel, Zürich,
Barcelona und Paris lebt er seit
1968 in Zürich. Seit 2002 eine
Zweitwohnung in Barcelona.
Er war zwei Mal verheiratet
und geschieden, hat zwei Töchter und einen Adoptivsohn und
ist seit 1965 mit der Künstlerin
Yvonne Wilen verbunden.
Im Verlauf seiner beruflichen Laufbahn hat sich Sandro
Bocola als Maler und Plastiker,
Fotograf und Videokünstler, Grafiker, Kunstverleger,
Ausstellungsmacher und
Schriftsteller betätigt. Einen
reich bebilderten, informativen
Überblick über diese veschiedenen Tätigkeiten findet sich
auf seiner Website
www.sandrobocola.com,
die auch seine wichtigsten biografischen Daten umfasst.
Heidy Bocola-Lambelet,
Geboren 1935 in Turin. In
Basel aufgewachsen. Nach
einem Turnlehrerindiplom
Ausbildung zur Atem- und
Körpertherapeutin. 1957 Heirat
mit Louis Lambelet. Nach der
Geburt von Michelle zweijähriger Aufenthalt in Indien, wo
Dominic geboren wird. 1965
Übersiedlung nach Basel in
das Haus Bachlettenstrasse 60.
Geburt von Pascal.
1967 beginnen Heidy und
Loulou eine Sammlung zeitgenössischer Kunst mit Kontakten zu vielen Künstlern und
Künstlerinnen. 1974 Hauskauf
in Spanien.
Mitglied der Basler Filmkommission. Eröffnung der
"Drehscheibe" (Privatrestaurant und kleine Kunstgalerie).
Langjährige Arbeit für DEZA
(Direktion für Entwicklungszusammenarbeit), einschliesslich
Kommunikationsseminaren in
Peru, Honduras und Nepal. Als
Lehrbeauftragte für Körperinterventionen in der Ausbildung
„Organisationsentwicklung“
für Westafrika, zweiwöchige
Module in Tansania, Burkina
Faso und im Kongo.
Ab 1987 Beratungsaufträge für
LehrerInnen-Fortbildung, Gesundheitswesen, und Entwicklungszusammenarbeit.
1994 Veröffentlichung des Buches Hinter den Augen lächeln.
Louis verlegt seinen Wohnsitz
nach Spanien.
Seit 2000 nimmt Heidy
keine offiziellen Aufträge mehr
an. Vereinzelte Beratungen
und Supervisionen, Artikel für
Fachzeitschriften. 2008 Veröffentlichung von Vitalitybox.
Heidy Lambelet-Bocola,
Bachlettenstrasse 60, 4054
Basel.
Justo Barragan, geboren
1966 in Richterswil. Seit 1997
Grafik Atelier Barragrafics
in 8853 Lachen, Tel. 055
4601363, www.barragrafics.ch.
Langjähriger Mitarbeiter von
Sandro Bocola.
Marcos Davi Carvalho
dos Santos, geboren 1974 in
Petropolis-RJ, Brasilien. Seit
1999 in Barcelona. Ausbildung
als Grafiker, anschliessend
Kurse in audiovisueller Gestaltung an der Universität Ramon
Llull, Barcelona.
Freiberufliche Arbeit für Sandro Bocola, Francesca Llopis
und die Tanzgruppen Gelabert
Azzopardi, Àngels Margarit/
Cia Mudances, Lapsus, Iliacan.
email: mdmalungo@gmail.
com
Mike Gosteli, geboren 1963
in Boston. Kam im gleichen
Jahr in die Schweiz, ging mit
Dominic Lambelet zur Schule,
studierte in Basel Geschichte,
Philosophie sowie Kunstgeschichte und ist seit 1997 als
freiberuflicher Historiker tätig.
Augusto Mozetti, geboren 1979 in Buenos Aires,
Argentinien. Seit 1981 in Rom,
1997 Übersiedlung der ganzen
Familie nach Barcelna, wo er
heute lebt. Seit 2000 widmet
er sich der Gebrauchsgrafik
und gründet 2004 das Studio
Artis 2000, Visuelle Kommunikation, ein Unternehmen, das
sich der „corporate image“, der
Werbung und der grafischen
Gestaltung widmet.
email: [email protected]
Susanne Schnurrenberger,
geboren 1939 in Bern. Ehemalige Sekretärin am Kantonsspital Basel und später in einer
Anwaltsgemeinschaft, arbeitet
seit vielen Jahren für Heidy,
vor allem in der Katalogisierung der gesamten LambeletBildersammlung.
Familien Schär und Bocola.
Eine Familiengeschichte in
Bildern und Texten.
©. 2009 by Sandro Bocola und
Heidy Lambelet-BocolaPrivatdruck im Eigenverlag.
Kontaktadresse: Sandro Bocola
Forchstrasse 36, CH-8008
Zürich.