Reader - professur wolfgang schett

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Reader - professur wolfgang schett
Sizilien
Seminarreise Frühlingssemester 2008
Professur Wolfgang Schett
Departement Architektur
Eidgenössische Technische Hochschule Zürich
Teilnehmende
Adressen
Michael Adamina
Eugene Arvinte
Jan Berni
Rosanna Borsotti
Daniel Deimel
Nikolai Dunkel
Guillermo Dürig
Nuria Eugster
Colin Ferguson
Martina Fischer
Patrice Gruner
Christina Imfeld
Patrick Meier
Natascia Minder
Madeleine Ohla
Stefan Roos
Anna Salvioni
Martino Simoni
Françoise Vannotti
Diana Zenklusen
Jean-Claude Campell
Nadine Kahnt
Iris Moor
Stefanie Müller
Hotel Palermo (27.04. bis 30.04.)
Organisation
Gianluca De Pedrini
Isabel Gutzwiller
Hotel Cortese
Via Scarparelli n° 16
90134 Palermo
Tel/ Fax 0039 091 331722
Hotel Catania (01.05. bis 03.05)
Hotel I Vespri
Via Montesano 5
95131 Catania
Tel./ Fax.: 0039 095 310 036
Reise
Hinfahrt:
Samstag, 26.04.2008 Abfahrt Bahn: Abfahrt Bahn:
Abfahrt Schiff: Sonntag 27.04.2008 Ankunft Schiff: Rückfahrt:
Samstag 03.05.2008 Abfahrt Bahn:
Sonntag 04.05.2008 Ankunft Bahn:
Abfahrt Bahn:
Abfahrt Bahn:
Ankunft Bahn:
ab Zürich HB, 12.45 am Treffpunkt
Zürich HB 13.09 Uhr. Ankunft: Milano Cle. 16.42 Uhr
Milano Cle. 17.00 Uhr. Ankunft: Genova PP 18.42 Uhr
22.00 Uhr, Treffpunkt 20.45 Uhr im Hafen beim Terminal Traghetti (Einkaufszentrum mit Fähren-
büro Grandi Navi Veloci)
Palermo 18.00 Uhr
ab Catania, Treffpunkt 18.20 vor Bahnhof
Catania Cle. 18:44 Uhr.
Bologna Cle. 08.59 Uhr
Bologna Cle. 10.16 Uhr. Ankunft: Milano Cle. 12.00 Uhr
Milano Cle. 12.25 Uhr.
Zürich HB 16.51 Uhr
Programm
Samstag 26. April
ab Zürich HB, 12.45 am Treffpunkt
Sonntag 27. April
Schiffreise
Filme über Sizilien
Montag 28. April
Palermo
morgen
Wohnsiedlung ZEN
mit Prof. Andrea Sciascia
nachmittag
Stadtspaziergang
mit Prof. Marco Nobile und Emanuela Garofalo
Dienstag 29. April
Palermo
morgen
Villen in Bagheria
mit Dott. Domenica Sutera
nachmittag
Stadtspaziergang
mit Prof. Stefano Piazza
Mittwoch 30. April Selinunte, Gibellina ganzer Tag
Ausflug
mit Prof. Marcella Aprile
Donnerstag 1. Mai
Catania
morgen
Busfahrt nach Catania
nachmittag
Catania
Freitag 2. Mai
Noto
ganzer Tag
Ausflug
mit Dott. Mercedes Bares
Samstag 3. Mai
Catania
ganzer Tag
frei
abends
ab Catania, Treffpunkt 18.20 vor Bahnhof
Sonntag 4. Mai
an Zürich HB 16.51 Uhr
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Inhaltsverzeichnis
Sizilien
Palermo
Italienische Reise, Seefahrt
Die Prüfung
How can one be Sicilian?
Sizilien
Pläne
Zeittafel
Kulturgeschichtlicher Überblick
7
10
15
25
28
30
38
Italienische Reise, Palermo
Die Stätten meiner frühen Kindheit
Crocifissa
Die Wiedergeburt
Zum Thema essen
Die Stadt liegt nicht am Meer
Zum Thema essen
Pläne
Geschichte (Palermo)
Die romanische Kunst in Palermo Der Barock in Palermo
63
79
84
87
94
96
100
104
112
114
116
Bagheria
Bagheria Pläne
Der Barock in Bagheria
Cave di Cusa, Selinunt
Cave di Cusa und Cave di Barone
Selinunt
Gibellina
129
134
136
145
148
Come una porta
Pläne
Fraintendimenti
Ein Fragment der Hoffnung
153
156
158
160
Catania
Italienische Reise, Caania
Pläne
Der Barock in Catania
169
172
176
Ätna
Noto
Der Ätna - Mongibello
Pläne
Case e Palmenti dell‘Etna
Santi e Demoni dell‘Etna
185
188
190
194
Vorgängerstadt, Zerstörung, Neugründug
Die Transformation der Naturreliefs
Die geschichtete Wand im Stadtraum
Die bewegte Fronst im Stadtraum
Der Barock in Noto
Pläne
201
204
210
214
218
222
Sizilien
Italienische Reise, Johann Wolfgang von Goethe
weichliches, nebelhaftes, welches sich bald verlor, als
ich, nach neueren Ansichten, die Form vorwalten und
den Rhythmus eintreten liess.
Seefahrt, Donnerstag den 29. März
Nicht wie bei dem letzten Abgange des Paquetboots
wehre diesmal ein förderlicher frischer Nord-Ost,
sondern leider von der Gegenseite ein lauer Süd- West,
der aller hinderlich­ste; und so erfuhren wir denn
wie der Seefahrer Vom Eigensinne des Wetters und
Windes abhängt. Ungeduldig verbrachten wir den
Morgen bald am Ufer, bald im Kaffee­haus, endlich
bestiegen wir zu Mittag das Schiff und genos­sen beim
schönsten Wetter des herrlichsten Anblicks. Un­fern
vom Molo lag die Corvette vor Anker. Bei klarer Sonne eine dunstreiche Atmosphäre, daher die beschatteten Fel­senwände von Sorrent vom schönsten Blau.
Das beleuchtete, lebendige Neapel glänzte von allen
Farben. Erst mit Sonnenuntergang bewegte sich das
Schiff jedoch nur langsam von der Stelle, der Widerwind schob uns nach dem Pausilipp und dessen Spitze
hinüber. Die ganze Nacht ging das Schiff ruhig fort.
Es war in Amerika gebaut, schnell­segelnd, inwendig
mit artigen Kämmerchen und einzelnen Lagerstätten eingerichtet. Die Gesellschaft anständig mun­ter:
Operisten und Tänzer, nach Palermo verschrieben.
Sonnabend den 31. März
Die Sonne tauchte klar aus dem Meere herauf. Um
sieben Uhr erreichten wir ein französisches Schiff,
welches zwei Tage vor uns abgegangen war; um so viel
besser segelten wir und doch sahen wir noch nicht das
Ende unserer Fahrt. Einigen Trost gab uns die Insel
Ustika, doch leider zur linken, da wir sie eben, wie
auch Capri, hätten rechts lassen sollen. Gegen Mittag
war uns der Wind ganz zuwider und wir kamen nicht
von der Stelle. Das Meer fing an höher zu gehen und
im Schiffe war fast alles krank.
Ich blieb in meiner gewohnten Lage, das ganze Stück
ward um und um, durch und durch gedacht. Die
Stunden gingen vorüber ohne dass ich ihre Einteilung
bemerkt hätte, wenn nicht der schelmische Kniep, auf
dessen Appetit die Wellen keinen Einfluss hatten, von
Zeit zu Zeit, indem er mir Wein und Brot brachte, die
treffliche Mittagstafel, die Heiterkeit und Anmut des
jungen tüchtigen Kapitäns, des­sen Bedauern dass ich
meine Portion nicht mitgeniesse, zugleich schadenfroh gerühmt hätte. Eben so gab ihm der Übergang
von Scherz und Lust zu Missbehagen und Krank­heit
und wie sich dieses bei einzelnen Gliedern der Gesell­
schaft gezeigt, reichen Stoff zu mutwilliger Schilderung.
Nachmittags vier Uhr gab der Kapitän dem Schiff andere Richtung. Die grossen Segel wurden wieder aufgezogen und unsere Fahrt gerade auf die Insel Ustika
gerichtet, hinter welcher wir, zu grosser Freude, die
Berge von Sicilien erblickten. Der Wind besserte sich,
wir fuhren schneller auf Sicilien los, auch kamen uns
noch einige Inseln zu Gesichte. Der Sonnenuntergang
war trübe, das Himmelslicht hinter Nebel versteckt.
Den ganzen Abend ziemlich günstiger Wind. Gegen
Mitternacht fing das Meer an sehr unruhig zu werden.
hrsg. von Konrad Scheurmann und Jochen Golz. – Mainz: von Zabern, 1997
Freitag den 30. März
Bei Tagesanbruch fanden wir uns zwischen Ischia und
Capri, ohngefähr von letzterem eine Meile. Die Sonne
ging hinter den Gebirgen von Capri und Capo Minerva herrlich auf. Kniep zeichnete fleissig die Umrisse
der Küsten und. Inseln und ihre verschiedenen Ansichten; die langsame Fahrt kam seiner Bemühung zu
statten. Wir setzten mit schwachem und halbem Winde unsern Weg fort. Der Vesuv verlor sich gegen vier
Uhr aus unsern Augen, als Capo Minerva und Ischia
noch gesehen wurden. Auch diese verloren sich gegen
Abend. Die Sonne ging unter ins Meer, begleitet von
Wolken und einem langen, meilenweit rei­chenden
Streifen, alles purpurglänzende Lichter. Auch die­ses
Phänomen zeichnete Kniep. Nun war kein Land mehr
zu sehen, der Horizont ringsum ein Wasserkreis, die
Nacht hell und schöner Mondschein.
Ich hatte doch dieser herrlichen Ansichten nur Augen­
blicke geniessen können, die Seekrankheit überfiel
mich bald. Ich begab mich in meine Kammer, wählte
die hori­zontale Lage, enthielt mich, ausser weissem
Brot und rotem Wein, aller Speisen und Getränke und
fühlte mich ganz behaglich. Abgeschlossen von der
äussern Welt liess ich die innere walten und da eine
langsame Fahrt vorauszusehen war, gab ich mir gleich
zu bedeutender Unterhaltung ein starkes Pensum auf.
Die zwei ersten Akte des Tasso, in poetischer Prosa geschrieben, hatte ich von allen Papieren allein mit über
See genommen. Diese beiden Akte, in Absicht auf
Plan und Gang ohngefähr den gegenwärtigen gleich,
aber schon vor zehn Jahren geschrieben, hatten etwas
Sonntag den 1. April
Um drei Uhr Morgens heftiger Sturm. Im Schlaf
und Halbtraum setzte ich meine dramatischen Plane
fort, indes­sen auf dem Verdeck grosse Bewegung war.
Die Segel mussten eingenommen werden, das Schiff
schwebte auf den hohen Fluten. Gegen Anbruch des
Tages legte sich der Sturm, die Atmosphäre klärte sich
auf. Nun lag die Insel Ustika völlig links. Eine grosse Schildkröte zeigte man uns, in der Weite schwimmend, durch unsere Fernröhre, als ein lebendiger
Punkt, wohl zu erkennen. Gegen Mittag konnten wir
die Küste Siciliens mit ihren Vorgebirgen und Buchten ganz deutlich unterscheiden, aber wir waren sehr
unter den Wind gekommen, wir lavierten an und ab.
Gegen Nachmittag waren wir dem Ufer näher. Die
westliche Küste, vom Lilibäischen Vorgebirge bis
Capo Gallo, sahen wir ganz deutlich, bei heiterem
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Wetter und hell scheinender Sonne.
Eine Gesellschaft von Delphinen begleitete das
Schiff an beiden Seiten des Vorderteils und schossen
immer voraus. Es war lustig anzusehen wie sie, bald
von den klaren durchscheinenden Wellen überdeckt,
hinschwammen, bald mit ihren Rückenstacheln und
Flossfedern, grün- und gold­spielenden Seiten sich
über dem Wasser springend bewegten.
Da wir weit unter dem Winde waren fuhr der Kapitän
gerade auf eine Bucht zu, gleich hinter Capo Gallo.
Kniep versäumte die schöne Gelegenheit nicht die
mannigfaltig­sten Ansichten ziemlich im Detail zu
zeichnen. Mit Sonnen­untergang wendete der Kapitän
das Schiff wieder dem hohen Meer zu und fuhr nordostwärts, um die Höhe von Palermo zu erreichen. Ich
wagte mich manchmal aufs Ver­deck, doch liess ich
meinen dichterischen Vorsatz nicht aus dem Sinne
und ich war das ganze Stück so ziemlich Herr geworden. Bei trüblichem Himmel heller Mondschein, der
Wiederschein auf dem Meer unendlich schön. Die
Maler, um der Wirkung willen, lassen uns oft glauben,
der Wieder­schein der Himmelslichter im Wasser habe
zunächst dem Beschauer die grösste Breite wo er die
grösste Energie hat. Hier aber sah man am Horizont
den Wiederschein am breitsten, der sich, wie eine zugespitzte Pyramide, zunächst am Schiff in blinkenden
Wellen endigte. Der Kapitän verän­derte die Nacht
noch einigemal das Manöver.
Montag den 2. April früh 8 Uhr
Fanden wir uns Palermo gegenüber. Dieser Morgen
erschien für mich höchst erfreulich. Der Plan meines
Dramas war diese Tage daher, im Wallfischbauch,
ziemlich gediehen. Ich befand mich wohl und konnte
nun auf dem Verdeck die Küsten Siciliens mit Aufmerksamkeit betrachten. Kniep zeichnete emsig fort
und durch seine gewandte Genauigkeit wurden mehrete Streifen Papier zu einem sehr schätzbaren Andenken dieses verspäteten Landens.
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Die Prüfung, Leonardo di Sciascia
in: Das weinfarbene Meer / Leonardo Sciascia ; aus dem Italienischen
von Sigrid Vagt – Berlin : Wagenbach, 1997
Ein Häufchen Blechmarken, so gross wie HundertLire-­Münzen, die in drei Stapel zu sortieren waren:
rauh, we­niger rauh und glatt.
Ein Stuck Draht und eine Zange, um aus dem Draht
ein Dreieck zu biegen.
Eine Papptafel mit lauter kleinen Kreisen, die zusammen die Form einer Weintraube bildeten, und in jeder
Beere eine Zahl. Wenn der Mann mit der Uhr in der
Hand »via« sagte, musste man aus einer bestimmten
Entfernung so viele Zahlen lesen wie möglich, bis er
»basta« sagte.
»Via« und »basta« waren die beiden italienischen
Wörter, die der Mann am besten aussprach. Ein grosser Mann mit rosigem Gesicht, hellen Augen und
blondem Haar, das mitten auf dem Kopf wie eine
Chrysantheme auseinanderfiel. Ein Schweizer aus
Zürich. Blaser mit Namen. Nach Sizilien gekommen,
um weibliche Arbeitskräfte anzuwerben, Mädchen,
die nicht unter achtzehn und nicht über dreissig sein
sollten. Für eine Fabrik, die Elektrogeräte herstellte,
Zähler anscheinend. Man wurde nicht recht schlau
aus dem wenigen, was er sagte.
Vielleicht war er Katholik, vielleicht auch Lutheraner
oder Kalvinist. Die Pfarrer konnten es nicht herausfin­
den. Ruhig und ohne Neugier prüfte er die Mädchen,
im Pfarrhaus oder sogar in der Sakristei, als wäre ihm
diese Umgebung aus seiner Zeit als Messdiener oder
weil er dort zum Katechismusunterricht gegangen
war, seit eh und je vertraut.
Er fuhr durch die Provinz von Ort zu Ort mit Auto
und Chauffeur, die er nach kleinlichem Handeln und
miss­trauischem Feilschen in der Provinzhauptstadt
gemietet hatte, einer Stadt im Innern Siziliens, unzugänglich, hoch auf einem Felsen gelegen, im Wind
metallisch vibrierend.
Der Chauffeur hatte bis zu einem gewissen Grad
Spass an der Sache, an den Prüfungen gefunden. Er
folgte ihm in die Sakristeien, in die Pfarrhäuser; und
manchmal konnte er es sich nicht verkneifen, eine gutes Wort einzulegen, wenn ein Mädchen die Prüfung
nicht schaffte oder nicht das richtige Alter hatte, obwohl der Schweizer dieses gute Wort überhaupt nicht
berücksichtigte.
In jedem Ort wiederholte sich das gleiche Spiel; selbst
die Mädchen schienen von Ort zu Ort die gleichen.
Und auch die Pfarrer. Zur vereinbarten Zeit erwarteten die Pfarrer Herrn Blasers Ankunft; rund zwanzig
Mädchen, in der Regel von ihren Müttern begleitet,
standen in der Sakristei oder in dem ebenerdigen Saal
des Pfarrhauses beisammen, tuschelten aufgeregt oder
lachten nervös. Der Pfarrer stellte sie vor und versicherte, sie hielten sich gehorsam an die christlichen
Gebote wie an die häuslichen Tugenden, die in der
Schweiz dann zu Arbeitstugenden werden würden.
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Herr Blaser zog Blechmarken, Draht, Zange und
Papptafel hervor, und die Prüfung begann.
Die Befriedigung des Chauffeurs über das gute Geschäft, das er machte, und über den Zeitvertreib,
auf den sein Arbeitstag hinauslief, war durch leichte
Gewissens­bisse getrübt: als hatte er sich zum Komplizen eines Raubs der Sabinerinnen gemacht, der von einem Mann aus dem Norden, einem Deutschen noch
dazu, und den siziliani­schen Pfarrern heimlich ausgeheckt worden war. Er mochte die Deutschen nicht,
weil er lange in einem Kriegsgefan­genenlager hatte
hungern müssen. Und die Pfarrer mochte er aus vielen
anderen Gründen nicht. Mit dem bisschen Deutsch,
dass er hungernd gelernt hatte, übersetzte er sich den
Namen seines Kunden mit soffiatore; und aus heimlicher Rache stellte er ihn sich nackt und schwebend
vor mit aufgeblasenen Backen, wahrend der Wind
wie ein Strahlenbündel aus seinem Mund kam; wie
bei einem je­ner Stuckengel in den Chorgewölben der
Kirchen. Denn Herr Blaser betrachtete den Chauffeur als Teil des Autos, und dessen Versuche, während der Fahrt ein Gespräch anzuknüpfen oder sich
während der Prüfungen zugun­sten irgendeines Mädchens einzumischen, behandelte er wie eine kleine
Panne: ein Unfall, eine Störung. Und das wurmte den
Chauffeur. Er verspürte ein an Hass grenzen­des Gefühl der Demütigung, wenn der Blick des soffiatore
bei der geringsten Vertraulichkeit auf ihm ruhte wie
auf einem Gegenstand, einem Gegenstand, der die
überra­schende und ärgerliche Eigenschaft hatte zu
sprechen. Und ebenfalls als demütigend empfand er
den Wider­streit der Gefühle, dem er sich ausgesetzt
sah: Es gefiel ihm zwar nicht, dass der Schweizer die
Mädchen mitnahm, und doch schaltete er sich ein,
um die eine oder andere zu empfehlen, wenn sie abgelehnt werden sollte. So kom­plizierte Empfindungen
bei einem Mann, den er für seine Arbeit angemessen
bezahlte, durch die Arbeit ausgelöst noch dazu, hatte
Herr Blaser sich niemals vorzustellen vermocht; und
wenn, dann hatten sie seinen Widerwillen erregt.
So verging eine Woche. Ein Dutzend Orte, an die
hun­dert angeworbene Mädchen; alles ruhig, alles
glatt. Dann kam der Tag, den Herr Blaser für V. vorgesehen hatte, ein abgelegenes Dorf in einem weiten,
ausgedörrten Ge­biet, ein Dorf mit längst durch Enteignung zerstückelten Lehnsgütern, aber einer immer
noch stolzen Mafia.
Unterwegs erzählte der Chauffeur Herrn Blaser mit
einer Fülle schauerlicher Einzelheiten die Geschichte
des Dorfes. Doch der Schweizer liess nicht das geringste An­zeichen von Neugier oder Erstaunen erkennen.
Als sie in der Ortsmitte ankamen, wo auf den Stufen
der Hauptkirche schon der Erzpriester auf sie wartete,
trat zu dem Chauffeur, der noch das Auto abschloss,
wäh­rend der Schweizer und der Erzpriester sich begrüssten, ein junger Mann. Er grüsste, der Chauffeur
erwiderte den Gruss, und einen Augenblick sahen sie
sich an, der junge Mann offensichtlich schüchtern,
verlegen, der Chauffeur plötzlich von einer dunklen
Furcht ergriffen, denn die eigentlich für Herrn Blaser
heraufbeschworenen Ge­schichten hatten stattdessen seine eigene Angst hoch­kommen lassen. Und so
fragte er barsch: »Was ist?«, um mit dem arroganten
Tonfall seine Furcht zu überspielen.
»Sie müssen mir einen Gefallen tun«, sagte der junge
Mann. »Da haben wir‘s«, dachte der Chauffeur, wusste aller­dings gar nicht, was.
»Wenn ich kann«, sagte er schroff, um zu zeigen, dass
er entschlossen war, den Gefallen nicht zu tun oder
nur aus Freundlichkeit, aber keinesfalls aus Angst.
»Also«, sagte der junge Mann, »es geht um ein Mädchen. Sie will in die Schweiz arbeiten gehen ... Und ich
will nicht, dass sie geht ... Sie ist drinnen beim Priester
... Sie dürfen sie nicht nehmen ... Ich will es nicht ...
Wir wol­len heiraten, Sie verstehen ... «
»Ich verstehe gar nichts, mein Freund, und ich habe
damit nichts zu tun. Ich fahre diesen Mann nur herum. Ich bin der Fahrer, er bezahlt mich, und ich fahre
ihn über die Dörfer. Ich weiss nicht und will auch gar
nicht wissen, was er macht. Jeder macht seine Arbeit,
ich meine und er seine. Verstehst du?« Er war zum Du
übergegangen, so leid tat ihm jetzt der junge Mann ein kleiner Junge, der kurz vorm Heulen war.
»Sie müssen mir helfen«, sagte der junge Mann.
Er kann einem leid tun, dachte der Fahrer, noch dazu
in einem Dorf wie diesem, wo sie zu allem fähig sind.
Er seufzte vor Verdruss und Beklemmung.
»Na gut, ich werd‘s versuchen. Aber rechne nicht
da­mit, dass mein Wort irgendeinen Wert hat. Er ist
Schwei­zer, ein deutscher Schweizer. Weisst du, wie
genau die Schweizer sind? Sie machen Uhren, und sie
gehen auch wie Uhren ... Und die Deutschen erst! Reden wir lieber nicht drüber. Die haben Köpfe hart wie
Schleifstein. Kann man etwa aus einem Schleifstein
Saft pressen?« Und da­mit ging er auf die Kirche zu.
Doch auf der Schwelle drehte er sich zu dem jungen
Mann um, der am Fuss der Treppe stehengeblieben
war, und sah ihn halb vorwurfs­voll, halb mitleidig an.
»Wie zum Teufel heisst sie denn?« fragte er. »Rosalia«, sagte der junge Mann, »Rosalia Calaciura.«
In der Sakristei hatte Herr Blaser bereits seine Sachen
ausgepackt. Behutsam und sorgfältig legte er sie auf
dem langen Tisch bereit, als wären es chirurgische
Instrumente; und im Licht der Strahlenbündel, die
durch die hohen Gitterfenster herabfielen und den
Raum scharf durch­schnitten, sah es tatsächlich so aus,
als würde in der Sakri­stei unter dem zweideutigen,
keuschen und zugleich sadi­stischen Blick der im Sonnenlicht auf den verblichenen alten Gemälden deutlich erkennbaren Bischöfe und Prie­ster zwischen den
grossen dunklen Nussbaumschränken im eigentümlichen Geruch von Wachs und Weihrauch, Va­nille
und Moder eine finstere chirurgische Operation oder
Folterhandlung vorbereitet. Die Mädchen schauten
ge­bannt auf Herrn Blasers Hande und der Erzpriester
auch.
Diese Atmosphäre ängstlicher Gespanntheit durch­
brach der Chauffeur, als er vom Portal aus rief: »Signor Blaser, auf ein Wort, wenn Sie erlauben?« Und
Herr Bla­ser drehte sich um: überrascht, halb empört,
der Blick noch kälter als sonst. Der Chauffeur winkte ihn mit dem rechten Zeigefinger zu sich heran.
Schnaubend vor Ärger pustete der Schweizer die Backen auf (soffiatore, dachte der Chauffeur) und bewegte sich mit provozierender Langsamkeit.
»Sie haben doch verstanden, was für ein Dorf das hier
ist?« flüsterte er ihm ins Ohr.
»Ja«, sagte Herr Blaser.
»Mafia, ein Mafiadorf«, sagte der Chauffeur.
»Das habe ich verstanden.«
»Wissen Sie, was die Mafia ist?«
»Auf die pfeife ich«, sagte Herr Blaser, mühsam Silbe
um Silbe aussprechend.
»Ich nicht«, sagte der Chauffeur, »und wenn Sie einen brüderlichen Rat hören wollen, überlegen Sie es
sich tau­sendmal, bevor Sie sagen: Auf die pfeife ich.
Zwischen darauf pfeifen und nicht darauf pfeifen besteht ein Unter­schied wie zwischen sterben und davonkommen.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Herr Blaser. Doch genau
in dem Moment fing er an, etwas zu verstehen.
»Lassen Sie sich einen Rat geben«, sagte der Chauf­
feur.
»Via«, sagte Herr Blaser, und das sollte heissen: Heraus mit der Sprache, beeilen wir uns!
»Unter diesen Mädchen ist eine, die sie nicht nehmen
dürfen. Sie heisst Rosalia Calaciura.«
»Die darf ich nicht nehmen?«
»Nein. Aussortieren, sofort aussortieren ... Nicht
gut.«
»Alter nicht richtig?« fragte Herr Blaser.
»Oder ... ?«
Er fasste sich an die Stirn, um geistige Beschränktheit
an­zudeuten. »Nein«, sagte der Chauffeur ungeduldig, »in der Hin­sicht ist sie in Ordnung. Aber Sie
dürfen sie nicht neh­men, und damit basta.«
»Basta?«
»Basta!« Der Chauffeur machte eine Faust, streckte
Zeigefinger und Daumen aus und liess dreimal den
Dau­men auf den Zeigefinger fallen, wie den Hahn
eines Gewehrs: »peng peng peng: auf uns, auf mich
und auf Sie ... Sie legen uns um.«
»Wer?«
»Einer, der in sie verliebt ist und nicht will, dass das
Mädchen fortgeht.« »Ach so!« sagte Herr Blaser
und wandte sich ab. »Er nimmt sie«, dachte der
Chauffeur, »bei Gott, er nimmt sie. Aus Leichtfertigkeit, aus Überheblichkeit und mir zum Trotz. Aber
wenn ich an der Stelle des armen jungen Mannes da
draussen wäre, würde ich ihm einen Denkzettel verpassen. Aber der wird es statt dessen mir übelnehmen.
Niemand wird ihm begreiflich machen kön­nen, dass
dieser Kerl kein Einsehen hat. Er wird denken, ich hatte kein gutes Wort für ihn eingelegt.«
11
Die Prüfung hatte begonnen. Der Fahrer war gespannt, wer von den Mädchen wohl Rosalia Calaciura sein mochte. Es waren vierzehn. Er suchte die drei
schönsten aus. Aber sofort wurde eine von ihnen mit
einem anderen Namen aufgerufen. Blieben noch zwei.
Doch auch von diesen beiden war keine Rosalia.
Rosalia war nicht schon. Wenn man genauer und auf­
merksamer hinsah, konnte man sie allenfalls hübsch
fin­den, aber schön ganz bestimmt nicht. Sie war klein,
dun­kelhaarig. Bei der Prüfung war sie eine der flinkesten.
Sobald Herr Blaser bei Rosalias Prüfung »basta«
gesagt hatte, sah er den Chauffeur an. Dieser schüttelte den Kopf. Herr Blaser überlegte einen Moment.
Dann wandte er sich an den Erzpriester: »Ich will keine Scherereien.«
»Wie bitte?« wunderte sich der Priester.
»Scherereien, Unannehmlichkeiten, Schwierigkeiten«, sagte Herr Blaser mit schlechter Aussprache,
aber unver­mutet reichem Wortschatz.
Auf seinem hochgereckten Hals drehte sich der Kopf
des Priesters wie auf einer Stange, die Augen sprangen
hervor, der Mund öffnete sich, als blähte sich wie bei
einer Comicfigur eine Sprechblase mit einem Ausruf
des Er­staunens. »Hat das Mädchen einen Verlobten?« fragte Herr Blaser.
»Nein«, sagte der Priester. Langsam begriff er.
»Nein«, sagte Rosalias Mutter.
»Ich denke doch«, sagte Herr Blaser.
»Er ist nicht ihr Verlobter«, sagte Rosalias Mutter,
»er ist nur einer, der sie haben will, ein Arbeitsloser,
ein Tage­dieb. Aber über meine Tochter bestimme
ich.«
»Das stimmt nicht, er ist kein Tagedieb«, sagte Rosalia, »er findet nur keine Arbeit.«
»Er will dich ins Unglück stürzen«, sagte die Mutter.
»Das will er nicht, er hat mich gern ... Und ich will
auch deshalb in die Schweiz, weil ich für meine Aussteuer ar­beiten will, damit ich heiraten kann.«
»Du denkst an deine Aussteuer«, brauste die Mutter
auf, »und vergisst, welche Not wir zu Hause haben
und welche Hoffnung wir auf das bisschen Geld setzen, das du mir aus der Schweiz vielleicht schicken
kannst.«
»Ich werde euch schon was schicken, aber ich gehe in
die Schweiz, um mir meine Aussteuer zu verdienen.«
»Basta«, sagte Herr Blaser, »ich nehme sie.«
Der Chauffeur verliess die Sakristei und ging durch
die leere Kirche ... Der junge Mann wartete am Auto
auf ihn. »Ich hab‘s dir ja gleich gesagt.«
»Hat er sie genommen?«
»Als hätte ich gar nichts gesagt ... Ein Dickschädel,
mein Lieber ... Und ausserdem hat er durchblicken
lassen, dass du es verhindern wolltest. Die Alte wurde
wütend und hat gesagt, dass du ein Nichtsnutz bist
und ihre Tochter ins Unglück stürzen willst. Aber das
Mädchen hat dich in Schutz genommen.« »Sie liebt
mich«, sagte der junge Mann. »Sie liebt dich und
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geht in die Schweiz«, sagte der Chauffeur ironisch.
»Wer satt ist, glaubt dem Hungernden nicht«, sagte
der junge Mann gekränkt.
»Ich bin nicht so satt, dass ich dem Hungernden
nicht glaube«, sagte der Chauffeur, »ich meine nur,
du hättest sie doch überreden können, dass sie sich
nicht für die Schweiz bewirbt und nicht an der Prüfung teilnimmt. Und wenn sie nicht auf dich hören
wollte, dann hat sie sicher ihre Gründe dafür. Entweder liebt sie dich nicht so sehr, wie du glaubst, oder sie
hält das Elend nicht mehr aus ... «
»Sie hält es nicht mehr aus«, sagte der junge Mann.
»Na also, wenn du sie wirklich liebst, dann lass sie
ge­hen ... Sie kommt bestimmt zurück, sie ist zäh, sie
kommt zurück ... Und dann könnt ihr heiraten.«
»Wenn ich nur Arbeit finden könnte ... «, sagte der
junge Mann.
»Du wirst schon Arbeit finden. Wenn so viele gehen,
muss es für die, die bleiben, doch Arbeit geben.«
»Die Sache ist die: Je mehr Leute weggehen, desto är­
mer wird das Dorf.«
»Das kann doch nicht sein«, sagte der Chauffeur, der
auf die Wirtschaft das einfache Rechnen anwandte.
»Es ist nicht so, wie wenn man zu vielen dicht gedrängt auf einer Bank sitzt und wenn einer aufsteht,
haben die anderen mehr Luft und können es sich bequemer ma­chen ... Hier sitzt keiner. Und wenn einer
geht, merken es die andern nicht einmal, oder sie merken es nur, weil das Dorf immer leerer wird.«
»Das ist nicht sehr logisch.«
»Nein, sehr logisch ist das nicht«, gab der junge
Mann zu.
»Warum gehst du nicht auch in die Schweiz? In die
Schweiz oder nach Deutschland ... Deutschland ist
nicht weit weg von der Schweiz.«
»Ich war schon in Deutschland, drei Monate ... Aber
ich sage, der Mensch ist kein Hund ... Er kann sich
in einem fremden Land herumkommandieren lassen
und leiden, weil ihm dies alles fehlt«, er deutete auf
die Kirche, den Platz rings um, auf den Himmel, der
im Gold des Sonnenuntergangs zerschmolz, »aber
das Recht darf ihm keiner nehmen.«
»Das Recht? Haben Sie dich nicht bezahlt?«
»Doch, die Rechnung stimmte jeden Freitag abend
auf den Pfennig genau: ehrlich und korrekt. Nein, ich
meine das Recht, so zu sein wie wir jetzt hier. Wir beide kennen uns kaum, aber Sie sind ein Mensch, und
ich bin ein Mensch, und wir reden miteinander von
gleich zu gleich ... Mit denen dagegen ist das anders.
Sie sehen uns nicht, das ist es, sie nehmen uns nicht
wahr ... Und man fühlt sich wie eine Fliege an einem
Spinnenfaden, die über ihren Biergläsern baumelt ...
Das Bier! Mein Gott, das Bier! ... «
»Ja, ja«, sagte der Chauffeur, und wegen der Erinne­
rungen, die ihn plötzlich überfielen, spürte er Kälte
bis auf die Knochen.
»Und deshalb werde ich wahnsinnig, wenn ich mir
vor­stelle, dass sie das gleiche durchmachen soll wie
ich, auch wenn es um die Schweiz geht ... «
»Sie ist eine Frau«, sagte der Chauffeur, »Frauen
pas­sen sich an. Sie verändern ihre Gewohnheiten und
ihre Gefühle ... Du kannst eine Frau einen Stall ausmisten las­sen, und ein paar Monate später triffst du sie
wieder, und sie ist eine Dame.«
»Stimmt«, sagte der junge Mann.
»Und ausserdem, weisst du was? Es ist alles Schicksal.
Schweiz hin oder her, wenn das Schicksal es will, dass
du sie heiratest, dann heiratest du sie. Und wenn das
Schick­sal es will, dass du sie verlierst, dann verlierst du
sie.«
Herr Blaser kam aus der Kirche und hinter ihm der
Schwarm der Mädchen.
»Ich gehe«, sagte der junge Mann, »vielen Dank
trotzdem.«
»Keine Ursache.
Alles Gute!« sagte der Chauffeur.
Herr Blaser kam auf das Auto zu.
»Unzivilisiertes Volk«, sagte er.
13
How Can One Be Sicilian?, Leonardo Sciascia
in: Sicily as metaphor : conversations / Leonardo Sciascia; pres. by
Marcelle Padovani; transl. by James Marcus – Marlboro, Vermont :
Marlboro Press, cop. 1994
MARCELLE PADOVANI. „How can one be a Sicilian?“ So exclaims the viceroy of Sicily when he leaves
Palermo after the turbulent incident of the „San Martino codices.“ To this day one notes a similar astonishment among many foreigners and even Italians. What
does it mean to be a Sicilian? What are the fundamental traits of the Sicilian‘s psychology that have persisted throughout the centuries? Is the whole of Italy
on the verge of becoming Sicilian, in accordance with
the „palmtree line“ that „is mounting from the south
to the north at the rate of fifty meters a year“? What
of the portrait of Sicily that can be gleaned from your
booksare its elements still present? And above all,
what about Sicily‘s apparently irremediable underdevelopment?
„Sicily is a bitter land,“ you write in Ie parrocchie di
Regalpetra. „Roads and houses have been built, and
even Regalpetra is blessed with asphalt and new buildings, but in the end you can‘t say that the human
situation has changed much since the days of Phillip
II.“ Your work teems with evidence of such „modern
misery.“ Furthermore, there is in your description of
Sicily a dreamlike quality; at times you say that „all of
Sicily is a fantastical dimension.“ And you add: „How
can one live there without imagination?“ On the
other hand, your characters often devote themselves
to denying the truth, to reconstructing it, for example,
with imposture. Why does this secret Sicily need to
dream, to flee the sphere of the real?
I must also emphasize your persistent attempt to clarify the passion for the „juridical“ that animates your
fellow citizens. „In Sicily,“ you write, „the crime of
passion is not born from a true and proper passion,
from the passion of the heart, but from a kind of intellectual passiona preoccupation with, so to speak, juridical formalities.“ Thus we learn that the inhabitant of
Regalpetra with half an hour to kill in the city will not
forget to drop in at the courthouse, even at the risk of
missing his train. Can such a passion for the juridical
derive from the fact that Sicily, like other Mediterranean countries, is a „land of forums,“ where everything
is resolved in the public piazza? Or does it express a
desperate will to resist isolation, whence comes this
excessive respect for „forums“?
In the portrait of the typical Sicilian, also exists, obviously, the decisive role of woman and the family.
„Cherchez la femme,“ one generally hears in Sicily.
Yet as you write in The Day of the Owl: „In Sicily,
thought Captain Bellodi, it‘s not necessary to search
for the woman, seeing that you always end up finding
her, and in spite of the law.“ In your story „A Matter
of Conscience,“ the search for the adulterous woman straightaway ends up involving a whole circle of
gentlemen. How can we explain this Sicily of gossip,
adultery, sexual taboos, and vendettas, where fathers,
lovers, brothers, and husbands go so far as to forbid
confession to their women? Why does woman seem
to be an at once central and nonexistent figure in Sicilian mentality?
And why, in compensation, is the family affirmed
as the only „truly living institution“? It‘s as if, in the
Sicilian‘s natural solitude, he lacks any means other
than the family to adapt himself to communal life.
Perhaps it‘s a kind of behavior that by its very nature
renders the Sicilian „schizophrenic,“ in the sense that
it keeps him from establishing a connection between
public and private life. In The American Aunt, for
example, one of the characters declares: „I don‘t say
a thing, I keep my own counsel. Even if I see people
walking around with their heads down, I don‘t open
my mouth.“ In short, might not the cult of the family
be the principal source of indifference to politics, of
qualunquismo?
Finally, this gallery of Sicilian portraits and sentiments
includes the idea of decadence. The aristocracy of the
island has been a disappointment: it hasn‘t even been
able to safeguard its privileges, has gambled away the
last of its cash in the French casinos, and its palaces
are falling into ruin. Yet the ruling class formed by
functionaries of the central government is certainly
no less disappointing. Has there been a period in her
history when Sicily has not had to suffer an identity
crisis? Has Sicily always been the symbol of „defeated“
insularity, in contrast to the „victorious“ insularity of
England?
LEONARDO SCIASCIA. With a touch of malice,
I made my character Candido lose his mother at the
moment the Americans disembarked in Sicily, which
therefore coincided with the beginning of the end of
the redoubtable Sicilian matriarchy: it was then that
woman lost her destructive power, a power that had
become damaging also to her. Of all the developments
it has been given me to witness, certainly one of the
most significant is the end of this invisible power. Obviously it‘s not the only one, but the others have proven to be more accidental than substantial: they are
changes that I would call passive, owing to the force of
things or the course that events have chanced to take.
Emigration, for example. On the other hand, I‘m not
underestimating the role of emigration in the desacralization of women. No longer having about grown
sons or a husband to terrorize, finding herself alone on
the land that had to be made to produce, with young
children that had to be brought up, and dealings with
a bureaucracy that needed to be conducted successfullya series of tasks formerly reserved for the manthe
Sicilian woman has acquired, thanks to emigration,
a little more understanding, and consequently a little
more freedom. Real freedom, I mean: not the dramatic and selfdestructive kind that comes from ordering
others around.
What‘s more, emigration has helped to raise the stan15
dard of living and to bring Sicily into the universe of
consumerism. Those tiny sums sent every month by
the emigrants have ensured that today the mean standard of living on the island does not differ substantially from that in the other regions of Italy. The paradoxical aspect of this phenomenon is that the one hundred
fifty thousand or more who decided to leave Sicily to
earn a living elsewhere lead exactly the same type of
existence abroad that they would have led in Sicily
thirty or forty years ago: an existence of privation, in
which the material comforts are reduced to an absolute minimum, and the work is hard labor. They endure
all this in order to set aside a measly nest egg, which
inflation and the banks will whittle away before the
emigrants can treat their families to its beneficent effects. These days, then, there are fifty or sixty thousand
Sicilians who live worse than they did when they were
in their own villages. But, by surviving on less and less,
they allow their families to maintain a European standard of living. A kind of modern slavery: voluntary,
necessary, and apparently impossible to eliminate.
If I use my own village as a yardstick, I can easily list
the changes introduced by consumerism: the television and the appliances in every house, the automobiles
parked out front. We are better able to take vacations,
we live in more comfortable houses, we drink more,
we eat more meat. When I was young, we butchered meat once a week, on Fridaysa cow, a few rams
or goats. Today there‘s not a butcher who doesn‘t
sell veal, slaughtering two or three times a week.
The same thing happened with the caffes. Once the
people who frequented them were considered idlers
or spendthrifts, prone to throwing their money out
the window. And there was only one caffè. Now there
are five, and everybody goes to them. Not to mention the banks: once there was only one, the Bank of
Sicily; but now there are two of them, and in certain
villages you‘ll find no fewer than four or five. If you
then keep in mind that the deposits in each of these
banks amount to about twenty billion lire, you can
figure out that the average savings per capita comes to
ten million lire. Where does this money come from?
From the emigrants, for a start. From the severance
payments that the regionmeaning the regional authorities who were so inclinedsupposedly disbursed at the
time the sulfur mines closed. From pensions. And also
from the earnings of shopkeepers.
Yet despite it all, there are no rich people in Racalmuto. If the rate of savings is so high, part of the reason
must be because the only thing we spend money on is
the construction of new houses. (My neighbors have
never heard a word of what are called equity loans,
and the sole collective improvement that has been
attempted concerns viticulture.) The Mafia, already
decimated some time ago by the initiatives of Inspector Mori, can find no way to get their hands on this
immovable cash: how can they extract their customary cut from sums earned outside of their own sphere,
16
in Cologne or Paris?
So the change, in Racalmuto and in Sicily, has been
made possible by isolationby the marginalization of
some hundred thousand individuals. What a strange
thing! Men who procure the good life and who are at
the root of the change, but who themselves have not
changed; who experience the reality of foreign countries as if they were in vitro, and who conserve deep
within themselves the psychology, mentality, and mechanisms of long ago.
In Sicily there has always been the aspiration toward at least a more just world. Some have solved
(or believed they have solved) the problem through
emigration; others, through the mythic exaltation
of far away realities. The latter solution explains the
„Continent“meaning mainland Italy. The Continent
is an impossibly lofty place, evocative for Sicilians
of a freer world, opposed to prejudice, injustice, and
violence, where every person is cognizant of his rights
and sees them respected. This dream also has its linguistic side: the idea of a single unifying language,
capable of making everybody equal. If everyone spoke
the same Italian, social and cultural differences would
be abolished. It‘s the Italian language as a dream of justice .... Alas, in Sicily, only the employers, the bureaucrats, the officers, and the teachers speak Italian; and
dialect belongs to the poorer classes, to serfs, workers,
and peasants
Women have always been a part of this continental
myth. It was imagined that continental women were
necessarily freer, more accessible and less encumbered
by prejudice. Off Sicilians went, then, in search of this
supposed availability of continental women, but no
way in the world would they accept that this turn into
the availability of Sicilian women too. On the subject
of women, on the perpetual desire for women, one
must read Brancati. Brancati had married an Italian
actress and, as a Sicilian, suffered horribly from this
marriage, notwithstanding the level of consciousness
and creativity he had attained. In Nino Martoglio‘s
comedy L‘aria del continente we again encounter this
myth of the continental woman. It‘s the story of a rich
Sicilian landowner who meets a woman up north, a
woman so marvelous as to make him lose his head.
He brings her back to Catania, marries her, commits a
thousand follies for her. Immediately she becomes an
object of envy on the part of his friends: they admire
her, are jealous of her, and make her into the model
of all that a desirable woman should be. At a certain
point, however, it‘s suddenly revealed that this marvelous continental woman, this woman who expresses herself in Italian, who is thus fundamentally other
than a Sicilian woman, was actually born in the municipality of Valguarnera Caropepe, in the province
of Enna, just a few kilometers from Catania. Whereupon the myth crumbles, the love dies, the friends
leave. „Carrapipana!“ cries the landowner“Woman
of Caropepe!“and, arms outflung, he confesses to his
deep and indelible shame as the curtain comes down:
he thought he had married a continental, and he finds
himself hitched to an islander! Martoglio‘s comedy
was an enormous success in Sicily. Indeed, he elaborated it from an idea he got from Pirandello, who let
him have it for five hundred lire.
A goodly share of the dreams of Sicilian men continue
to center around women. A certain type of behavior
toward women persists like a categorical imperative: one is a true Sicilian if one has women, if one is
obsessed with them, since this is the nature of a real
man. Tormented by profound insecurity, by existential terror, by a fundamental instability, the Sicilian
must perforce respond to the call of sex. Revolving
around sexuality, however, is the religious (or, more
accurately, pious) idea of the family, with woman as
its organizing nucleus. Thus the woman is desired as a
woman only insofar as she is other (or somebody else‘s,
or nobody‘s, but never in any case her own self ). Yet,
once she becomes a wife, she is suddenly transfigured
into an institution; she is transformed into family and
vanishes as an individual woman.
This desire for women plays a role in the great Sicilian
madness, to which Tomasi di Lampedusa is an outstanding witness. The Sicilian is intimately convinced
that he is „the best“ when it comes to matters of love
and sexuality convinced that he is sharper, shrewder,
quicker, and more active than his competitors and
that Sicilians know how to love women and satisfy
them better than anybody else. Certain of this superiority, he has a single desire: to show himself equal
to his reputation for availability and quickness. The
Sicilian‘s sexual behavior reveals something of a watermark of peasant civilization: the image of the „cock“
that has developed in the realm of amorous relationships. In the peasant world the rooster represents the
animal endowed with perfect sexualityready, speedy,
insatiable, and capable of responding expertly to every
request. It‘s obvious, then, why with the Sicilian the
sexual act often reduces itself to not very much at all,
in any case practiced without a great deal of pleasure,
an act fleeting or even painful in its tragic brevity; and
how sexuality, never being enjoyed as such, belongs
to the world of the unreal. At the University of Heidelberg they conducted studies of couples made up
of Sicilian men and German women. The researchers
discovered that even in Heidelberg, the Sicilians continued to be convinced of their indomitable sexual superiority and their unbeatable rapidity, although the
German women found no cause for contentment in
performances so incomparably swift.
Another dimension of the dream, of the madness
and a further expression of a childish need for recognition and identityis the exasperated „juridicalism“
that unendingly plagues the island. When one reads
in Cicero that „rhetoric had its origin in Sicily“ and
that Sicilians are a „people of sharp and suspicious genius, born for controversy,“ you have the feeling that
he‘s talking about the Sicily of today, that the island
has always been what it is, and that centuries of historic stratification have not changed it much nor for
the better. One has much the same impression when
one leafs through the Treatise on the Character of the
Sicilians written in the sixteenth century by Scipio de
Castro, who provides Marco Antonio Colonna, the
newly appointed viceroy, with no end of warnings.
Said Scipio: „The Sicilians as a whole are timid in the
utilization of their personal wealth and prodigal in the
use of public funds.“ Then there‘s the Tuscan Giovanni
Maria Cecchi, also of the sixteenth century, who very
well conveys this impression of a human reality that
remains immobile in the face of invasions, wars, epidemics, disasters. The specific characteristics vary, of
course, depending on whether one refers to the Arab
domination, which brought about the prevalence of
the fantastical and imaginative spirit, or Roman civilization, with its accent on collective organization
and rules for life and behavior. When a Sicilian lives
an upright life, it‘s described by the phrase camminare latino; leading an exceedingly upright life is camminare latino latino. On scales, the counterweight is
still called the romano. All that in order to say how
deeply the Sicilian soul was impressed by Roman law.
However, if I had to sum up in a few words all that I
have said, I would maintain that the Sicilians, despite
the invasions, have been on the whole impermeable
to foreign domination, and that an authentic Sicilian
identity has managed to come down through the centuries.
You find it on the level of artistic expression, and it
bears the name „realism,“ for art comes alive in Sicily
with realism, with Antonello da Messina, then with the
verismo of Giovanni Verga. This special attentiveness
to the realyou find it even in the latterday „Palermo
school“ of photography, with its fulgurations worthy
of CartierBresson, and in that great realistic painter
Renato Guttuso. Movements, individual personalities, sometimes underrated, especially abroadbut the
isolation they suffer from derives from the isolation
in which Sicilian society maintains them: amongst us,
the artist, the intellectual, the writer have never counted for very much. In an essay on Verga, D. H. Lawrence went so far as to imagine that „there probably
wasn‘t a single cultivated person in Sicily, for he would
have fled the place long ago.“ The Sicilian intellectuals
are so widely dispersed and atomized that one may indeed believe that they don‘t exist. So much for Sicily‘s
reasonable and realistic Roman soul: an engrafted
superstructure, a codified elaboration. But something
must be said about the eternal dialogue between this
Roman soul and the Arab soul, by far the more popular and whose traces appear in the fables and tales
found among the people, in the stories that have come
down to us in dialect. The Arab soul is a wellspring of
fantastic, surreal creativity, replete with resurgences of
the Thousand and One Nights. Its most concentrated
17
expression is in the character of Giufa, the typical SicilianArabic hero, with his involuntary mischievousness: it‘s always the events that are mischievous, not
Giufa himself. This halfwit, socially classified as such,
and who, because of his very stupidity finds himself
having to face pernicious situations from which in the
end he emerges unscathed through want of cunning,
does notcontrary to what you might supposebelong
to the peasant world. He is instead the typical inhabitant of an oriental city, a stevedore, a porter, one of
those fellows always hanging about the edges of marketplaces. Perfectly mindless of the consequences of
his actions, he is surrounded by a kind of halo, an aura
like the one that envelopes a madman.
Here‘s a Giufa episode: weary of being persecuted by
flies, and knowing that one must apply to a judge in
order to obtain redress, Giufa betakes himself to a
noble magistrate, who tells him: „My son, it is very
simple. As soon as you see a fly, swat it.“ At that selfsame instant a fly lands daintily on the judge‘s cheek.
Giufa‘s reaction is immediate: he springs forward and
administers a ringing slap to the imprudent Solomon‘s
face. The judge protests. Giufa replies: „But it was you,
Signor Judge, who bade me kill them!“
Giufa the innocent has a precise function: to exercise
a social vendetta against a representative of authority.
He kills the fly and slaps the judge at the same time;
absolutely irresponsible, he can‘t be prosecuted; revealer of the ridiculous, he evokes laughter, and with
impunity. But his acts are solitary ones. Giufa never
participates in a collective beffa, in the organized
pranks that are part of the Tuscan tradition. He is always and forever completely alone.
Sicilian songs, too, are for solo singers; the tradition
of the choral song doesn‘t exist here. Is it the eternal
isolation of the islander? The individualistic fatalism
that comes to us precisely from our Arab soul? Whatever the reason, our insecurity and fear of tomorrow
are such that we ignore the future tense of verbs. We
never say, „Tomorrow I will go to the country.“ We say,
„Dumani, vaju in compagna“tomorrow I am going to
the country. We speak of the future only in the present tense. So when I am questioned about the native
pessimism of the Sicilians, I feel like saying, „How can
you fail to be pessimistic in a country where the future
tense of verbs doesn‘t exist?“
But let‘s come back to solitude. Among us the idea is
deeply rooted that in order to be yourself completely,
you need to be alone; that solitude is the place where you „recover“ yourself; that other people divide
us, splinter us, multiply us (O Pirandello!); that with
other people you can‘t be a liVing being, but only a
character; and that to earn existence as a liVing being,
you need to sneak away to solitude, you need to be
a uomo solo, as Pirandello says in One, None, and a
Hundred Thousand: „Solitude is never with you,“ he
writes; „it is always without you, and possible only in
an alien environment: a place or a person of whatever
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sort, for whom you are a total stranger, so that your
will and your feelings remain suspended in an anguishing uncertainty, and every affirmation of yourself
haVing ceased, there ceases the very intimacy of your
consciousness. True solitude is in a place that lives for
itself and, for us, no longer has a voice, and in which
the stranger is you.“ There‘s one flaw in all of this.
When you‘re alone, you‘re fatally in agreement with
the world, and you don‘t even think of transforming
it, improving it, or destroying it. You adjust to it such
as it is!
Some people will see a contradiction between this
desire for solitudewith the rejection of commitment
it breedsand the Sicilian‘s demand that his rights be
respected. What is one to answer other than that the
Sicilian is a product of his history? Is it his fault that
he‘s never decided anything for himself, that other
people have always acted for him, in his stead ... Romans, Byzantines, Piedmontese? The only times the
Sicilian has decided things on his own and resigned
himself to making history on his own, he‘s been miserably mistaken: thus did the Sicilian Vespers come
about, which slammed the door on France only to
open it to Spain. If there were hundreds of thousands
of reasons to produce those Vespers, and if a true problem of liberty lay at their origin, as Dante said, they
nevertheless remain a fundamental error of judgment.
In Sicily we‘ve always been invaded and swindled by
our conquerors, and when we haven‘t been invaded,
it‘s sometimes been even worse. Just recall the fact that
Sicily remained untouched by the Napoleonic conquests, which, thanks to the passage of the imperial
armies, always left behind some trace of civilizationthe
Code Napoleon, for example.
Likewise, it was a disaster for us when the Bourbon
court took refuge on the island under British protection, the single beneficent result of their presence
being to stimulate a local industry, favoring the ascent
of the Florio family: in the shipyards, the wine industry, canning, ceramics, etc. They were fragile conquests, however, which the Sicilian nobility hastened
to spoil by fixing their eyes on the Florios, marrying
the Florios, squandering the Florio revenues. But the
coup de grace was delivered by the leaders of Northern industry, who found it intolerable that smalltime
parvenus from the South could become great industrialists. And by means of the loans and mortgages
of the Commercial Bank, the Northerners devoured
the fortunes of the Sicilian bourgeoisie. One must
understand that Italian unity was able to come about
only thanks to the following tacit pact: the South was
to remain agricultural, the supplier of manual labor;
only the North had the right to enrich itself and to
become industrialized. Anybody who tampered with
this equilibrium was to be eliminated; and that is how
the GenoaMilanTurin industrial triangle made its financial and economic fortune from the Mezzogiorno.
In this respect the story of the Florios is exemplary.
Their story is the exact opposite of a tale from Balzac;
marrying the offspring of nobility, these bourgeois
lost their profits and wrote finis to their entrepreneurial destiny.
The Sicilian nobility resembles no other, in either the
historical or the sociological sense. In the first place,
because it was easy to come by a title under the Bourbons, and even under the Spanish. A writer of the
seventeenth century states that to have a title, it was
not necessary that „your father have never worked
with his hands,“ it sufficed that you were a practitioner of concavalli, that is, that you knew something
of horsemanship. It was a modest requirement, you‘ll
admit. And one can guess what followed from it: the
sole criterion of nobility became inactivity, whether
intellectual or manual. Well, starting in the fifteenth
century, this rather special nobility begins to abandon
its castles, its lands and villages, and moves to the city,
in particular to Palermo; and it loses interest in its
fiefs, returning there only for vacations, as a reading of
The Leopard will confirm. The first great crisis of the
Sicilian aristocracy can be traced back to this epoch.
And prior to then? About the times before then not a
great deal is known; they are spoken of as a golden age,
but how much basis is there to the claim?
Undoubtedly a city like Palermo has known its moments of splendor, especially from the viewpoint of
urban planning, when under the viceregency of the
duke of Maqueda the city was split by the two rectilinear arteries that still divide it today; and when a
genuine ruling class, made up of the last vestiges of the
aristocracy, conferred upon Palermo a „liberty“style
physiognomy that derived directly from the European
capital where this class had squandered its last resourcesthat is, Paris. Yet I don‘t have the slightest impression that Sicily ever knew any „golden age“ followed
by a period of decadence. In our country decadence is
not a function of declining economic circumstances,
but a permanent fact. It has always existed. All those who have landed on the island have pillaged what
there was to pillage: the Romans began by cutting
down every tree in sight, then this continued with the
Spanish and the Piedmontese. When they called Sicily the „Breadbasket of the Empire,“ they didn‘t mean
that it was a rich country, but that it represented an
opportunity for systematic pillaging. Why? Because
an island in the heart of the Mediterraneanthat sea
where for centuries the entire history of the world had
taken placecannot be anything else but a land for conquest and devastation. But, irony of fate, this island of
a thousand invasions has held apart from the history that makes great peoples and great civilizations: it
did not know the iron straitjacket of Napoleonic armies, nor the resistance to fascism like the rest of the
Mezzogiorno and especially northern Italy. Here we
didn‘t feel Mussolini‘s fall because we had never had
a very clear view of his rise to power, and we passed
from the Duce‘s administration to Uncle Sam‘s wit-
hout any transition whatsoever. Not to have known
those moments of transition, and therefore of rupture, was a terrible loss that still affects us today; all we
lived through were gelatinous experiences which were
hardly incentives to revolt or to revolution.
The very particular viscosity of Sicilian history is
owing also to the fact that we here have always placed
our hopes in changes coming from outside and from
above: every time a viceroy left Palermo, they danced
for joy in every quarter of the city, because people
believed that the next ruler would be better than his
predecessor and that now things would really change.
Nobody, however, thought of overturning the institution itself; the populace was educated to this idea of
change descending from on high.
Of all the dominations that have come to us from
abroad during the modern epoch, the one that best
corresponded to Sicilian mentality was the Spanish
domination. It was imposed, of course, but it suited us
so well from an esthetic point of view! With their love
for splendor, for richness and for festivity, with their
fondness for wastefulness and for ostentatious expense, their leaning toward the grandiose and toward
pomp, the Spanish put us at ease: we loved showiness
even more than they did. Indeed, the term spagnolesco more befits Sicilians than Spaniards. Just one false note, if I may put it that way, in this SicilianSpanish
connivence: in this festival the Spanish participated as
masters, while the Sicilians enjoyed it as slaves.
In the grandiloquent hospitality that characterizes us,
one can also discern the desire to show ourselves such
as we are not, to elevate ourselves to the level of interlocutor or host, to present the best possible image of
ourselves, even were it very far from the truth. This
has nothing to do with generosity, which is gratuitous
and does not seek to counterfeit appearances. Rather,
it‘s a matter of amour propre, or, as La Rochefoucauld
said, of selflove. „Whatever the finds that have been
made upon the lands of amour propre, there yet remain numerous unknown regions to discover.“ La
Rochefoucauld was talking about other forms and
other manifestations of amour propre, of course; yet
his use of the term „regions“ seems to me highly suggestive: might not Sicily be one of them? Among us
an amour propre that is inseparable from our passion
for „having“the love we have for roba, meaning „stuff,“
as Giovanni Verga used to say. This roba, which can be
land, a house, crockery, linens, livestock, provisions,
seems only accidentally the source of some profit; one
doesn‘t use it, one leaves it behind when one dies; it
is bound up with feelings one nourishes for one‘s family, with one‘s apprehensions regarding the family‘s
future and about the presence of death. The wealthier
we grow, the greater grows the quantity of goods we‘ll
leave when we die, and the greater and more amplified that death becomes. The rhythm of accumulation
as rhythm of death ... Brancati, too, dwelt upon this
apprehension about the future, this feeling of insecu19
rity Sicilians have. An historic insecurity that invests
affections and material belongings to an obsessive
degree. Among us it‘s the ordinary thing for an everyday matter of a shared wall between two pieces of
property, or of a right of way, to pass out of the hands
of the landregistry expert into those of a ballistics expertnot because of low greed but out of an as it were
preventive apprehensiveness. The land under the sun
is never secure, misfortunes, or the neighbors, can
gnaw it away, better therefore to protect it ahead of
time, in the same way it is better to protect the family members by keeping them close under one‘s wing.
What can actually happen to the person who leaves
the house, even temporarily? Well, such persons can
be robbed, raped, brutalized; they can lose their honor, even their lives. The Sicilian experiences the entire gamut of these feelings under the obsessive colors
of apprehension.
But let‘s return to Spain and its influence on Sicily,
which seems to me notable, even if we know almost
nothing about the relationship between Spanish culture and Sicilian culture. You sense that the literate
Sicilian was bilingual, that he knew Spanish as well as
Sicilian. In Cervantes, who lived in Messina, we can
find hints of Sicily; we are forever noting the spanish
expressions that linger on in our speech; along with
Americo Castro we do not hesitate to see in Don Quixote the matrix of the Pirandellian game the author
plays with his character. However on the cultural plane we know nothing of any great weight. No one in
Spain seems to have been interested in the reality of
the Sicilian land. When Europeans begin to travel, the
Germans, the English, and the French show up here;
not, however, the Spanish. They have no interest in us
at all. They seem to have felt greater fondness for any
given region of South America than for the island of
Sicily that was once actually theirs.
I never stop asking myself the reason for this ignorance on the part of the Spanish, and, more generally,
about the singular destiny of my land which seems to
evade history even when it is being raped by that very
history. I think of these lines by Giuseppe Tomasi,
prince of Lampedusa, in The Leopardlines that point,
assuredly, in a conservative direction, but with which
I would tend to agree: „ ‚Do you really think, Chevalley,‘ „ says Don Fabrizio, „ ‚that you‘re the first to
try to channel Sicily into the flow of universal history? Who knows how many Muslim imams, how many
of King Roger‘s knights, how many Swab ian scribes,
how many Angevin barons, how many of His Most
Catholic Majesty‘s jurists have envisioned that same
noble lunacy? And how many Spanish viceroys, those
reformminded functionaries of Charles III? And who
now knows what became of them? Sicily has preferred
to sleep in spite of their innovations.‘ „
It‘s true, reforms generally lead to nothing here. In these conditions I do not believe that a very great future
lies ahead for Sicily. Paradoxically, you could say that
20
only an enormous energy crisis could bring something
new to Sicily, spurring a massive return to the land,
an economic system oriented less toward industry
and more toward agriculture, a renewed interest in
producing instead of consuming. Sicily‘s problems are
those of Italy, and I don‘t think it‘s possible to resolve them unless the ensemble of Italian problems are
resolved at the same time. Unfortunately, it looks to
me as though Italy has never been so antiSouth as it
is today, it thinks of nothing but manufacturing cars
and building highway to drive those cars on; so now
we have the MessinaCatania autostrada. Superb. And
desertedbecause it was costly to build, and pointless.
If Italy does not exert itself to calm the anxieties of the
Mezzogiorno, it will continue to „pump“ a little more
of the South up towards the North every day and to
contaminate itself, it will absorb a little more Southern
mentality, it will progressively „Sicilianize“ itself. And
so it is indeed that „the palmtree line“ mounts a few
centimeters every year, inexorably, from the Straits of
Messina towards the border with Austria.
Among the other great myths that the Sicilian mind
has been or is yet stocked with is the myth of France.
For the popular masses, France first represented a negative myth, arising from the episode of the Sicilian
Vespers and continuing through the eighteenth century: one employed the word France to signify hunger,
an allusion to the French of Charles of Anjou, who
contented themselves with allowing Sicily to starve
to death. For the aristocratic or cultivated classes, however, Franceprobably beginning around the seventeenth century, when the French polemic with Spain
deepened, France began to represent a positive myth.
It‘s during the epoch of the Enlightenment that you
see literary men taking the French Rationalists as their
model. If you consult the customs and police records,
you‘ll notice that the importation of French books
is astonishing: Rousseau, Voltaire, I‘Encyclopedie,
Montesquieu (the favorite of the aristocrats). Stendhal
would later say that French books sold poorly in Italy,
except for Sicily, where every worthwhile book sold at
least a hundred copies. Then, after the 1820 riots, this
relationship with France became more stable and concrete, also because numerous Sicilians sought refuge
as exiles in Paris.
Such was the importance of the French myth that
the first true Sicilian narrator, when he wrote his first
book, chose to write it in French: Michele Palmieri de
Miccicche, author of twO volumes of memoirs that
were printed in Paris and earned praise from Stendhal
and Alexandre Dumas. Let us not forget, incidentally, that numerous Stendhalian episodes come straight
out of Palmieri! There were other writers, too, who
wrote directly in French, among them Baron Aceto, the author in 1812 of a history of Sicily, and the
Canon Gambini, who left the island during the Napoleonic period and was one of the translators of the
Code into Italian. Finally, there is one basic work of
romantic historiographyand one of the most alive, at
least where it evokes Sicilian historywhich would never have existed if the author, forced into exile, hadn‘t
been able to avail himself of all the materials the Parisian libraries could provide. I refer to Michele Amari‘s
Histoire des Musulmans de Sicile. Here in Palermo,
unfortunately, there is not a document to be found on
the Arab period in Sicily.
This tradition continues Withfor exampleEmanuele
Navarro della Miraglia, who left for Paris after 1860.
He, too, wrote a book in French, called Ces messieurs
et ces dames, and he unfailingly kept his Sicilian friends apprised of the French literary movements and
writers of the period. Navarro probably established
the connection between French naturalism and the
three Sicilian writers who identified themselves with
it: Capuana, Verga, and De Roberto. It is certain that
they worked together a great deal. Capuana and De
Roberto subsequently turned out to be extremely
wellinformed and acute critics of French literature.
They say that Navarro was one of George Sand‘s last
friends, which set a lot of tongues wagging in Sicily,
but I‘ve never been able to find any trace of this story,
not even in the Goncourts‘ Journal. Upon his Parisian
sojourn Navarro wrote a book entitled Macchiette parigine (Parisian Sketches), done in a very lively style; it
includes subtle assessments of Stendhal (in those days
very little read outside of France) and of the majority
of the epoch‘s writers.
In this list of Francophile men of letters we musn‘t neglect Nino Savarese, a Catholic writer animated by a
great passion for Voltaire; Antonio Bruno, who translated the French Symbolists into Italian; and Luca
Pignato and Vann‘Anto (Giovanni Antonio di Giacomo), who, thanks to his translations, introduced
Mallarme into Italy. For my part I retain a marvelous
memory of Luca Pignato, a professor of philosophy in
Caltanissetta and a discerning connoisseur of French
literature, who had us read works of which few persons
had got wind. Thanks to him, we who are now close to
sixty were exposed to Mallarme‘s L ‚Apresmidi d‘un
faune, Joyce‘s Ulysses in Valery Larbaud‘s translation,
and all the Parnassians. Among Pignato‘s students
were Giuseppe Alesi, today the editor of the Enciclopedia italiana. And Pompeo Colajanni, the famous
communist senator and former partisan commander
in Piedmont. Caltanisetta, in those years between
1935 and 1940, was a little Athensif only because in
that period of what Benedetto Croce called onagrocraziameaning the rule of donkeysa young person like
myself could encounter there such teachers as Luca Pignato, the Protestant poet Calogero Bonavia, Father
Lamantia, Aurelio Navarria, the specialist in Verga,
and Vitaliano Brancati. Literally raised on French
literature, devoted to Chateaubrand and Stendhal
(and, I might add, if in 1935, the year that Stendhal
had prophesized he would be read, it was easy to fall
in love with the author of The Charterhouse of Parma,
this hardly applied to Chateaubriand), Brancati represents the summit of the proFrench tradition in Sicily.
For my own part I was rather late to come to Chateaubriand, sollicited by Brancati‘s anthology, and more
recently by Maurice Nadeau, who told me that I had
the look of a reader of Chateaubriand. I consider him
an author who is still to be discovered and admired:
those pages that have to do with Waterlooone of the
most wonderful confessions a man can make. Chateaubriand tells how he finds himself praying for Napoleon even as he stands in the other camp. I envy him
his pitiless way of speaking about himself, that secret
he possesses for recognizing that he has led the wrong
life. Chateaubriand is an expression of the French soul
par excellence; it would be difficult, it seems to me,
to be more French than he was, with his continual
hovering between monarchy of divine right and the
Bonapartist adventure.
On the whole, I think that the relationships between
Sicilian culture and French literature (and, more generally, the French world) have been insufficiently
examined. Let‘s take the case of Brancati himself: who
has ever thought to study the resemblances between
Brancati‘s Bell‘ Antonio and Stendhal‘s Armance?
Anyway, just as a Frenchoriented Sicilian literature
was developing during the late eighteenth century, a
new myth was taking hold on the islandthe myth of
an erotic France, not only mother to the arts, to arms,
and to lawwhat one has always expected of France, but
mistress of those sexual relationships called free ones,
freed of all restraints. The Sicilian aristocracy threw
away the last of its fortunes on the myth of erotic Paris, sending its offspring to the capital to experience
that impossible liberty which they had pursued in vain
on the island. To live in elegance, in the fountainhead
of fashion and fashionsFrancophile snobbishness was
such that for a certain number of years a magazine was
published in French called La Sicile illustrée, a stylish
cultural weekly that disappeared with the First World
War. From my childhood I had always heard France
spoken of as a refined, erotic country, full of elegant
things and wonderfully beautiful products. Later on,
the literary myth of France was superimposed on these memories. The first French writer I happened upon
was Diderot, whose Paradoxe du comedien had been
brought out in an inexpensive series by Sonzogno. I
read this book without possessing any great knowledge of the world of the theater and actors. What
fascinated me was something else entirely: the way it
was written, the intelligence of its form, the vivacity of
its style, the author‘s angle of attack.
What was my second French book? PaulLouis
Courier‘s Pamphlets. Then Les Misérables. An extraordinary experience for me. I consider that the meager
amount of Christianity I was able to discover (and retain) in my life is owing more to Les Misérables than
to the Church in all its pomps and its works. I would
even venture to add that anybody who has missed the
21
importance of Les Misérables in the forming of the
individual and collective conscience of two or three
generations can understand nothing about Europe.
These days I spend more time rereading than reading,
and I reread Diderot. Which reminds me of one of
the very odd commentaries a book of mine gave rise
to: „Without a doubt Sciascia will someday end up
looking like Diderot,“ that literary critic wrote rather
scornfully. He never realized that this was the supreme compliment he had paid to a man who idolizes Diderot. Diderot: there is a writer whose greatness only
grows and who deserves to be more widely admired,
even in France, where he isn‘t yet fully appreciated.
Moreover, anticipating this incomprehension, Diderot himself announced (in his letter „to later generations“) that he would be understood in due course.
In my view he‘ll end up being more important than
Voltaire, for over and above his formal qualities he
was able to distinguish what today they call „material culture“ and to describe it with precision. I do not
dare even to speak of L ‚Encyclopédie, that prodigy of
human intelligence, that projection of the most grandiose of wills to knowledge!
On the other hand, I believe that Voltaire reposes
right on the lineif such a thing existswhere writers
aim at finishing. He‘s the very example of literary
professionalism, a model writer. Clear, swift, concise,
precise, intelligent, economical, ironic: that‘s Voltaire,
everything that, for me, represents the key to writing and true craft. And who‘s the exact opposite of
JeanJacques Rousseau. I speak of Rousseau because
you can‘t speak of Voltaire without mentioning his
worst enemy. Actually, Rousseau interests me very
little. From the time I first read Emile, at the age of
fourteen, it struck me as the book of someone who
knows nothing about human nature. And when it comes to confessions, I‘ll take Saint Augustine‘s. Indeed
it was not until much later on that I understood the
reasons why I felt nothing if not hatred for JeanJacques Rousseau: that fondness he had for „isms,“ those
murderous „isms“ that freight his work; his socalled
discovery of the „general interest“! Whereas democracy is the expression of an arithmetical will, that of the
more numerous, of the majority, Rousseau believed he
had discovered a „general will“ which doesn‘t coincide
with the law of the greater number, which can be the
apanage of a few or of some while claiming to be the
rightful interpreter of the will of all. In proclaiming
that a part can take the place of the whole, in talking
about the general will, Rousseau is at the source of the
principal evils of our time.
From Rousseau to the French Revolution: it should
surprise nobody that the „Hermit of Geneva“ inspires me to talk about 1789. I did not learn about the
French Revolution through books. They made fleeting
references to it in school, of course, mostly to emphasize that the Revolution had given birth to Napoleon.
No, my first inkling of the Revolution came from bar22
bers‘ calendars and pictures painted on carts: in other
words, for me its initial allure was purely esthetic. The
cartpainters loved to depict Danton and Camille Desmoulins. Why was that? Because these painters copied the calendars, and the calendars, the precursors
of modern comic strips, showed a marked preference
for the sentimental histories of the heroes they portrayed. Thus Desmoulins and Danton, who had lived
somewhat tumultuous sentimental lives, lent themselves wonderfully to these illustrated narratives.
Thenand I am still talking about my childhoodI came
across a popular novel entitled Il Fabbro del convento, a translation of Ponson du Terrail‘s Ie Forgeron
du convent. Thus, my earliest notions of the French
Revolution were totally novelistic and, what is more,
based upon an abusive conception of revolutionaries,
who were systematically presented as the bad guys.
Not until I got to some other popular novels written
by William Galt (a pseudonym of the Sicilian Luigi
Natoli) did the Revolution appear to me in its true
dimension, in its real nature. Thanks to Galt, I grasped
its bearings upon Sicilian history, and from his Beati
Paoli I borrowed the lawyer Francesco Paolo de Blasi,
one of the heroes in my The Council of Egypt. Today
I‘m inclined to think that the French Revolution was
the single great revolutionary event to have occurred
in the whole world.
But I have strayed from my subject, which was the
Sicilian‘s mentality. My point of departure was Cicero,
who devoted a certain number of pages to the liking
for controversy and for sophistry which he judged
typically Sicilian, and I was wondering whether, essentially, there did not indeed exist a nature that was
eternally Sicilian. But at the same time I am also convinced that a particular nature alone cannot serve to
explain everything, and that one must have recourse
to historic mechanisms. Thus the Sicilian‘s juridical
passion must have been formed over the course of centuries, because he must have been obliged to reckon
with a quantity of laws, with a quantity of elements
from which privileges flowed. Sicily had become the
land where special jurisdictions, or privileged courts,
were most numerous. For example: the Monarchical
Tribunal, to which any citizen involved in a dispute
with the Roman Curia could turn whenever the issue
had to do with articles of faith. Then there was the
privileged court of the Inquisition: all the employees
of the Inquisition, as well as their familiesthat is, all
of this organization‘s „lay“ agents, who numbered in
the thousands in Sicilyenjoyed the privilege of being
judged by the Inquisition itself, even if they had committed crimes under common law. Another special forum: the one known as „vicarial.“ In each community
there was a vicarial court with its appropriate police,
which judged crimes such as profanity, the nonobservance of fasts, and certain sexual transgressions (not
all: adultery and homosexuality came within the purview of normal tribunals) such as the consummation
of an amorous relationship with a woman during a period in which the Church advocated abstinence. And
then there were the special forums for certain chivalric
orders. The conflicts among these often antagonistic
jurisdictions were unending. I may add that when the
State tried to inject a little bit of order into the usurpations of public property, by for example claiming
a prior right to certain domains, the average Sicilian
found himself at sea. No wonder, then, that this mess
produced a world of disputes, lawsuits, and polychrome jurisprudences, that the Sicilian became an expert
on laws and rights of all sorts, and that there emerged a
class of battlehardened jurists, one of whose principal
functions was to spread an essentially juridical culture
everywhere, even among the‘ poorer classes. At work
underneath all that there may have been the aspiration
to a true, not formalist, justice; an aspiration of which
the Mafia, in the final analysis, would merely be one of
the expressions.
If it‘s true that function creates the organ, let us say
that this continual jurisprudential toandfro, which
has kept the Sicilian immersed in a perpetual codified
contest, has created in him a peculiar intelligence that
I would define as „formal“, an intelligence apt at grasping the weak points in an opposing argument and
turning them to his advantagehis formal or material
advantage. The form of discourse that distinguishes
Pirandello‘s characters can also be seen as juridical
or casuistical: Pirandello describes how feelings are
sometimes got hold of by the mind, becoming purely cerebral. According to him, every kind of passion,
whether it be for a woman or for an object, expresses
itself at some point in terms of rights or in a purely
procedural form. Following this line of thought, I
would say that almost every „crime of honor“ falls
into the sphere of patrimonial rights. (These crimes
have diminished today thanks to the law on divorce
and the growing prevalence of marriage contracts
based on the separation of property.)
In 1946 I attended two trials. At them the specific
charge was „violation of the laws governing food control.“ Back then there were particularly rigorous laws
concerning the harvesting of grain. Farmers were required to deliver their harvests over to statecontrolled
warehouses, keeping for their own personal use the
equivalent of oneandahalf quintals of wheat for each
family member. Naturally the peasants held on to
more than that, and whenever the police found out
arrest was immediate, as was prosecution. At the time
I was employed by the state granary, and it was in that
capacity that I was obliged to participate in the two
trials.
One trial concerned a peasant in whose house two
or three extra quintals of grain had been found; the
other, an archpriest who had managed to squirrel
away fifteen quintals. The proceedings before the
Agrigento tribunal were very swift. The peasant was
condemned to two years in jail. The archpriest was
absolved, because his lawyer managed to explain that
there was nothing criminal in the act of setting wheat
aside in order to distribute it later as alms to the poor
and unfortunate, to the people who are in hospitals,
for example. This first contact with the administration of justice was decisive for me. The absolving of the
archpriest convinced me that in truth justice did not
exist, and that in any event the day of privileged forums in Sicily had not yet come to an end.
23
Sizilien, Dominique Fernandez
Merian, Sizilien, 4/2004 – Hamburg : Jahreszeiten-Verlag, 2007
Als ich das erste Mal in Sizilien war, suchte ich, wie die
meisten Reisenden, nach den Spuren der griechischen
Kultur.
Segest, Selinunt, Agrigent, Syrakus, das Theater von
Taormina, die verlassenen Ruinen von Solunt: wer
hätte nie von diesen magischen Orten geträumt?
Kreuz und quer über die Insel fahren heisst, die Schuld
begleichen, die jeder Abendländer bei der Heimat des
Archimedes und des Empedokles hat.
Ich wurde nicht enttäuscht: In ganz Griechenland
steht kein Tempel, der so gut erhalten wäre wie der
in Segest, gibt es keinen so grossartigen Komplex von
Heiligtümern wie auf dem Hügel von Agrigent.
Noch besser wäre gewesen, Sizilien auf dem Seeweg
zu erreichen, wie in der Antike. Das Portal zwischen
den dorischen Säulen des Athene-Tempels von Syrakus ist verschwunden: Einst sahen die Seefahrer schon
aus der Ferne den Schild der Göttin am Giebel golden
funkeln, und wenn sie wieder fortsegelten, blieben
ihre Blicke an dem Viereck hängen, bis sein letzter
Glanz erloschen war. Dann gossen sie als Opfergaben
Honig und Weihrauch in die Fluten, um ihre Reise
vor Gefahren zu schützen.
Doch den Mythen, die wir aus unseren Schulbüchern
kennen, entspricht eine noch heute lebendige Wirklichkeit. In Griechenland kann man nur in aller Stille
die Überreste einer für immer toten Kultur bewundern; in Sizilien aber ist es, als wäre noch gegenwärtig,
was man von den Alten erzählt. Wenn die Bauern an
den Hängen des Ätna Rauchsäulen aus den Schluchten des schwarzen Gesteins aufsteigen sehen - wie sollten sie dann nicht dazu neigen zu glauben, dass Hephaistos persönlich im Inneren des Berges noch seine
Schmiedeherde brennen hat? Alle zeitgenössischen
Dramen in Sizilien haben ein griechisches Muster:
Scylla und Charybdis, die beiden Dörfer, die sich am
Eingang der Meerenge an die Felsen klammern, führen auch heute noch den Vorsitz bei Schiffbrüchen,
wenn es die Götter so wollen. Noch besser: wenn die
Rede auf Sizilien kommt, spricht man fast unweigerlich von Gewaltsamkeiten, Entführungen; und hat
sich nicht der erste Menschenraub, der mythologische
Menschenraub par excellence, vor Tausenden von Jahren in Sizilien zugetragen? War es nicht in der Gegend
von Enna, dass der Gott Hades, von der Anmut des
Mädchens bezaubert, sich auf Persephone stürzte und
sie in die Unterwelt verschleppte?
Die Inhalte der griechischen Legenden sind, wie sie
waren, in die Welt des christlichen Glaubens eingegangen. In der Kirche Porto Salvo in Palermo wird jedes Jahr neun Tage lang eine Statue der Jungfrau Maria ausgestellt, zur Erinnerung an denselben Zeitraum,
den Demeter, Persephones Mutter, auf der Suche nach
ihrer Tochter unter der Erde zubrachte. Und als ich
zum rituellen Traubenfest im September in Taormina
war, sah ich zu meiner Überraschung einen Festzug,
der in allem den Prozessionen auf antiken Reliefs ähnelte. Aus dem Sizilien des 20. Jahrhunderts wurde
ich übergangslos unter Bacchantinnen versetzt, denen
der Saft der Trauben die Lippen purpurn färbte.
Auch die katholische Religion liefert den Sizilianern Modelle für die Schicksalsschläge im täglichen
Leben. Wie viele junge Männer mussten, Opfer der
Mafia oder einer Abrechnung in einer «Ehrensache»
zwischen zwei Familien, an einsamen Wegkreuzungen ihr Leben lassen! Aber anstatt wie gewöhnliche
Verstorbene beerdigt zu werden, wurden sie von ihren
Müttern in Zeremonien beweint, die Marias Wehklagen nach dem Tod Christi ähneln. Die Parallelen
zwischen Vergangenheit und Gegenwart erinnern uns
aber auch daran, dass das, was vor unseren Augen geschieht, nicht weniger interessant ist als die Ereignisse
vor zweitausend Jahren. In Syrakus hatte der Tyrann
Dionysios im vierten Jahrhundert vor Christus ein
grausames Polizeiwesen eingeführt: Die Legende berichtet, seine Untertanen verkehrten untereinander
nur mit Zeichen und Gesten, um die Spione hinters
Licht zu führen. Auch hier lässt sich ein Wesenszug
der Sizilianer durch einen Bezug zur Antike adeln: Sie
sind nämlich das schweigsamste Volk der Welt. Kein
Lied auf den Balkonen von Palermo. Ein schlichtes
Brauenrunzeln, im Cafe, zwei Finger gegen die Wange, dienen als Sprache.
Aber wenn sich Dionysios auch unbeliebt gemacht
hat - man braucht nicht bis zu seiner Diktatur zurückzugehen, um sich das Schweigen, das Misstrauen und
den Argwohn der Inselbewohner zu erklären. Denn
nach der griechischen Kolonisation war die Insel unzähligen Fremdherrschaften unterworfen. Karthager,
Römer, Araber, Franzosen, Spanier bemächtigten sich
ihrer nacheinander; die letzten waren die Piemontesen, die unter dem Vorwand der Einigung Italiens ein
Territorium annektierten, das sie zu ihrer wirtschaftlichen Expansion brauchten.
Eine lange Geschichte der Unterdrückung und Trauer. Und dann ist da noch die höchste Tyrannei, die der
Fürst Salina in Tomasi di Lampedusas «Leopard»
verflucht: die Tyrannei der Sonne. Ja, die Sonne, an
der ich ahnungsloser Tourist mich leichtsinnig freute,
liegt wie eine bleierne Kappe sechs Monate im Jahr
über der Insel, lässt die Saaten verdorren, trocknet
die Flüsse aus, lähmt das Leben, ein Symbol nicht der
Freude, sondern des Todes. Auch das Meer, in dem
mich meine sizilianischen Freunde staunend genussvoll baden sahen, ist im kollektiven Gedächtnis dieses
Volkes nur mit plündernden Seeräubern verbunden,
oder mit der Malaria, die in den Küstengegenden
noch nach dem Zweiten Weltkrieg wütete.
Ein Land der Tragödie also. In Syrakus führte Aischylos seine «Perser» auf, bevor er von einer Schildkröte
getötet wurde, die ihm ein Adler auf den Kopf fallen
liess. Am Krater des Ätna dachte ich an den Philoso25
phen Empedokles, den der Vulkan verschlang, weil er
einen Ausbruch aus allzu grosser Nähe beobachten
wollte.
Neben diesen berühmten Geschichten gibt es andere,
die uns vielleicht mehr beeindrucken: die Geschichte vom unfruchtbaren Baum zum Beispiel. Wenn er
beharrlich jahrelang keine Früchte trägt, macht sein
Besitzer sich daran, ihn am Karsamstag zu fällen.
Aber nicht ohne einen Freund mitzunehmen, der die
Aufgabe hat, für den Baum Fürsprache einzulegen
und eine Aufschiebung des Urteils um ein Jahr zu verlangen. Es sei selten, so erzählten mir mehrere Bauern,
dass sich der Schuldige nicht freikaufe und eine doppelt reiche Ernte liefere. Der Ritus ist voll Zauber und
Poesie und enthält eine Waffe, die von den Sizilianern
eingesetzt wird, um gegen das Schicksal zu kämpfen:
den Humor. Der grosse Meister darin war bekanntlich
Pirandello, aus Agrigent gebürtig, der Stadt, die mehr
als die anderen die Launen der Geschichte aushalten
musste, schon in ihrem Namen: Unter den Griechen
hiess es Akragas, unter den Arabern Kerkent, Girgenti unter den Normannen, Agrigento seit Mussolini. «Wer bin ich? Was ist meine wahre Identität?»,
fragen sich Pirandellos Gestalten. Diese existentielle
Komödie spielen die Sizilianer noch heute in der
Wirklichkeit.
Vitaliano Brancati, ein begabter Romancier und der
Verfasser des köstlichen «Bell‘ Antonio», beschrieb
die jungen Bürgersöhne von Catania, die während des
rituellen Abendspaziergangs immer wieder die lange
Strasse auf und ab gehen, die die Stadt in zwei Teile
teilt - so langsam wie möglich, um Zeit zu haben, sich
selbst zu verstehen, sich in Besitz zu nehmen. Eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen in der Bar besteht darin,
untereinander zu wetteifern, wer die ohnehin winzige
Tasse Kaffee als letzter austrinkt: noch ein Wettbewerb in Langsamkeit; es wäre jedoch ein Fehler, in
dieser Gewohnheit einen Auswuchs der Tatenlosigkeit und des Müssiggangs zu sehen. Nein, diese jungen
Leute suchen Beweise für ihre Existenz und hoffen, sie
in den belanglosesten Gebärden zu finden.
Im allgemeinen ist für die Menschen die Liebe die
Gelegenheit, bei der sie sich selbst entdecken und ihre
Identität behaupten; doch nicht für die Sizilianer.
Brancati zitiert den Fall eines Junggesellen, der sich
eine Geliebte zulegen wollte. Er findet auch eine; aber,
O weh, die Frau ist nur nachmittags zwischen zwei
und vier Uhr frei, während er diese Zeit dem Schlaf zu
widmen pflegt. Er muss auf die Liebe verzichten. Viele Sizilianer, sagt Brancati, lassen auf der Erde keine
andere Spur zurück als die auf dem häuslichen Diwan,
wo sie ihre lange Mittagsruhe halten. Sollte diese Vertiefung der berühmte Existenzbeweis sein, nach dem
sie vergeblich ihr ganzes Leben lang suchen? Ausser
mit Humor antworten die Inselbewohner auf ihr
chronisches Unglück auch noch mit dem Gefallen an
bizarren Formen, an leuchtenden Farben, an der Explosion der Phantasie. Die Sizilienreisenden, die ein26
zig und allein von den griechischen Ruinen und den
römischen oder byzantinischen Mosaiken angezogen
werden, gehen an Schätzen von noch grösserem Wert
vorbei; an Schätzen, die Ausdruck eines diesmal wirklich typisch sizilianischen Wesenszuges sind.
Pracht und Überfluss der Märkte, Pyramiden aus
Obst und Gemüse, buntbemalte Fuhrwerke, mit Federbüschen geschmückte Maultiere, Marionetten mit
funkelnden Panzern - diesem Volk ist der Sinn für das
Schöne und Prunkvolle angeboren. Durch die Strassen zu schlendern ist die beste Einweihung in die wahren Reichtümer Siziliens.
Eine Art spontaner Barock weckt die Lust, den anderen Barock kennenzulernen, den von den Gebildeten
geschaffenen.
Dass der eine direkte Antwort auf die Tragödien der
Insel ist, dafür haben wir einen sicheren Beweis: 1693
verwüstete ein Erdbeben die ganze Ostküste (ja, den
Übeln der Geschichte sind die Grausamkeiten der
Natur hinzuzufügen).
Beinahe vollkommen zerstört Messina, Catania, Syrakus. Dem Erdboden gleichgemacht Noto, so dass
die Überlebenden beschlossen, den Ort zu verlassen
und ihre Stadt ein wenig weiter neu aufzubauen. Hier
finden wir heute den schönsten sizilianischen Barock,
danach in Syrakus, in Modica, Ragusa, Scicli und auch
in Catania, der schwarzen Stadt, die im ersten Moment hässlich scheint. Und dann auch in Palermo, der
Hauptstadt nicht einer Provinz, sondern einer echten
Nation. Dreihundert Minarette ragten aus dem arabischen Palermo in den Himmel; in keiner anderen
Epoche hatte die Stadt einen ähnlichen Wohlstand.
Das ganze Abendland verdankt der muslimischen
Herrschaft in Sizilien viel: Zucker, Teppiche, Seide,
Baumwolle, die Orange und die Zitrone, der Pfirsich­
und der Granatapfelbaum wurden vom neunten Jahrhundert an aus Afrika nach Palermo importiert. Einige Zutaten, denkt man überrascht, die später zu den
einheimischen Süssigkeiten und zum barocken Dekor
gehören werden.
Schöpferische Phantasie, Gefallen an Festen, Eloquenz des Gesteins war das nicht alles nötig für ein
Volk, das durch die lange Folge der Invasionen dazu
neigte, ununterbrochen an sich selbst zu zweifeln, und
das von Naturkatastrophen dazu getrieben wurde, unaufhörlich nach Mitteln der Betäubung zu suchen?
Doch das wechselhafte Schicksal hat die Sizilianer
auch unterhaltsam, ungläubig, ironisch gemacht, das
heisst mit all den Eigenschaften gesegnet, die Völkern
mit einer ruhigeren Geschichte abgehen, da sie durch
die Gewöhnung an Wohlstand und Sicherheit längst
bürgerlich geworden sind.
Wie ein Palimpsest, wo sich unter dem zuletzt geschriebenen Text die vorher getilgten Schriften befinden, enthüllt Sizilien nach und nach denen, die es lieben, seine Geheimnisse: zuerst die griechische Weisheit auf den Giebeln der Tempel; dann hinter dieser
schönen, doch allzu weit entfernten Philosophie die
Quellen einer Lebenskunst, die unter Mühen erworben wurde. Auf jeden Fall ist dieses Land mit seiner
Last an Jahren und Geschichte von erstaunlicher Vitalität. Der goldene Schild am Tempel von Syrakus
funkelt nicht mehr; die Flüsse sind ausgetrocknet, die
Wälder verschwunden; aber von diesem bergreichen
Dreieck, wo sich Europa, Afrika und der Orient kreuzen, strahlen immer noch die Lichter vieler Kulturen
aus. Vier oder fünf stechen durch aussergewöhnlichen
Glanz hervor: die griechische, die arabische, die normannische, die staufische, die bourbonische. Keine
hat die vorhergehende ausgelöscht. Der Athene-Tempel in Syrakus wurde zu einer barocken Kathedrale,
die, ihren Mauern einverleibt, die Säulen des alten
Heiligtums vor dem Verfall bewahrt hat. Ähnlich erging es dem Concordiatempel in Agrigent, der ebenfalls vor der Zerstörung gerettet wurde: Gegen Ende
des sechsten Jahrhunderts wurde er in eine christliche
Kirche verwandelt. Eine barocke Fassade vervollständigte die normannische Kirche della Martorana in
Palermo, die ihrerseits auf dem Grundriss einer arabischen Moschee erbaut worden war. Die Kirche San
Giovanni degli Eremiti, ebenfalls in Palermo, ist die
geniale Anpassung eines muslimischen Denkmals.
Jede Epoche bediente sich der stilistischen Eroberungen der vorhergehenden, ohne sie zu verleugnen. Man
stelle sich vor, dass es im Fall von San Giovanni degli
Eremiti ausgerechnet arabische Baumeister waren, die
das Gebäude für die normannischen Könige umbauten. Später war es vor allem der Staufer Friedrich H.,
deutscher Kaiser und christlicher Herrscher, der das
islamische Erbe hochschätzte.
Die verschiedenen Kulturen verfielen und verschwanden, eine nach der anderen, und sind trotzdem noch
gegenwärtig. Jede Dämmerung hat ihre Goldspuren
hinterlassen.
Dominique Fernandez, 1929 geboren, lebt abwechselnd in Paris und in seinem Ferienhaus auf Sizilien.
Von der Insel handelt u. a. sein Roman «Le Radeau
de la Gorgone» (Grasset).
27
Sizilien
Karte von 1545, in „Cosmographia“ von Sebastian Münster
Sizilien
Luftbild vom 24. 11. 2006
Zeittafel
Sizilien: Insel zwischen Orient und Okzident/ Birgit Carnabuci.
– Köln: DuMont Buchverlag, 1992
Vor- und Frühgeschichte
35000-­5000 v. Chr.
50003000 v. Chr.
3000- 2000 v. Chr.
2000- 1000 v. Chr.
1000-750 v. Chr.
spätes Paläolithikum (Altsteinzeit): nichtseßhafte
Sammler- und Jägerkulturen; Felsmalereien und Graffiti in den Grotten am Monte Pellegrino und auf Levanzo
Neolithikum ( Jungsteinzeit): Seßhaftigkeit, Acker­
bau und Viehzucht; Stentinello-Kultur, erste bemalte
ungebrannte Keramik
Kupferzeit: erste Metallverarbeitung; u a. »Conca
d‘Oro«-Kultur. Kulturen von Malpasso und Serra­
rerlicchio
Bronzezeit: dörfliche Ansiedlungen, Arbeitstei­lung;
u. a. Castelluccio-. Capo Graziano-, Thap­sos-, Milazzese-, Pantalica-Kultur
phönizische Handelsstützpunkte, Gründung von
Motye und Panormos
Griechen
ab 750 v. Chr.
570-550 v. Chr.
570-470 v. Chr.
480 v. Chr.
470-405 v. Chr.
415-413 v. Chr.
409-405 v. Chr.
405-367 v. Chr.
367-344 v. Chr.
344-337 v. Chr.
337-316 v. Chr.
30
316-289 v. Chr.
312-306 v. Chr.
griechische Kolonisation und erste Stadtgründungen
erste kriegerische Konflikte zwischen Phöniziern und
Griechen; ab 550 v Chr. geraten die phönizi­schen
Siedlungen und Niederlassungen unter karthagischen
Einfluß
archaische Epoche: Aufblühen der griechischen Städte, erste große Tempelbauten in Selinunt und Syrakus;
Tyrannenzeit
Erster großer Karthagerkrieg: Sieg der Griechen
über die karthagisch-phönizischen Truppen in der
Schlacht bei Himera
klassische Epoche: Vertreibung der Tyrannen und
Entstehung von Demokratie in den meisten Städten;
Blütezeit der griechischen Kunst und Kultur Sizilische
Expedition Athens im Verlauf des Pelo­ponnesischen
Krieges, Vernichtung des athenischen Heeres und der
Flotte vor Syrakus; Nieder­lage Athens 404 v. Chr.
Zweiter großer Karthagerkrieg: Zerstörung von Selinunt und Himera (409/8 v. Chr.), Belagerung und
Plünderung von Akragas (406 v. Chr.), Belagerung
von Syrakus (405 v. Chr.)
Dionysios 1. Tyrann in Syrakus: Zurückdrängung der
Karthager auf den Westteil Siziliens; blutige Militärherrschaft
Revolten, Bürgerkriege und Gewaltherrschaft; weite
Landstriche Siziliens werden entvölkert
Korinth sendet Timoleon an der Spitze einer Flotte
nach Sizilien, um die Ordnung wiederherzustel­len;
Vertreibung der Tyrannen, Frieden mit Karthago, Demokratie in Syrakus
erneut Bürgerkriege und Anarchie auf Sizilien; Entstehung des Alexanderreiches in Griechenland, Asien
und Ägypten (Tod Alexanders des Großen 329 v.
Chr.)
Despotie des Agathokles in Syrakus
Krieg zwischen Karthago und Syrakus
289 v. Chr.
Tod des Agathokles. Anarchie auf Sizilien
Römer
274-215 v. Chr.
264-241 v. Chr.
ab 227 v. Chr.
218-201 v. Chr.
135-101 v. Chr. 7
3-71 v. Chr.
27 v. Chr.
27 v. Chr.-200 n. Chr.
222-283
um 260
Königreich Hierons II. in Syrakus und Ostsizilien,
ab 263 v. Chr.: Hieron II. mit Rom verbündet Erster
Punischer Krieg zwischen Karthago und Rom, heftige
Kriegshandlungen auf Sizilien; die Karthager verlassen Sizilien. 241 v. Chr. wird Sizi­lien zur ersten Provinz des Römischen Reiches; das Königreich Hierons
II. im Ostteil Siziliens bleibt zunächst bestehen
Einrichtung einer römischen Provinzialverwaltung;
Sizilien wird von einem Prätor und zwei Quästoren
regiert
im Verlauf des Zweiten Punischen Krieges verbünden
sich nach dem Tod lIierons II. Syrakus und Karthago
gegen Rom; nach der Niederlage von Syrakus ist ab
212 v. Chr. ganz Sizilien römi­sche Provinz
Revolten und Aufstände gegen Rom (sog. Erster und
Zweiter Sklavenkrieg)
Verres Statthalter von Sizilien; Kunstraub und Unterschlagungen von Millionenbeträgen; Prozeß des
Cicero gegen Verres in Rom (70 v. Chr.)
nach den Wirren der Bürgerkriege Beginn der Regentschaft des Augustus; Ende der römischen Republik und Beginn der Kaiserzeit; unter Augu­stus
erfolgt eine Neuordnung der Provinzen; Sizi­lien wird
zu einer senatorischen Provinz und einem Proconsul
unterstellt
Blütezeit des Imperium Romanum; zahlreiche Neuund Umbauten in den sizilischen Städten (Theater,
Odeia und Amphitheater)
innere Wirren im Römischen Reich, permanente
Kriege an allen Reichsgrenzen; Zeit der »Soldaten­
kaiser«; Sizilien ist in dieser Zeit eine der ruhigsten
Provinzen des Reiches; wachsender Einfluß des Christentums
Sklavenaufstand auf Sizilien
Byazinter und Araber
468-476
476-535
535
751
827
878
948
Sizilien unter vandalischer Herrschaft
Sizilien unter ostgotischer Herrschaft
Belisar, der Feldherr des oströmischen Kaisers Justinian, erobert Sizilien zurück
die sizilianische Kirche wird dem Patriarchen in Konstantinopel unterstellt, der jedoch vorerst noch die
Oberhoheit des Papstes in Rom anerkennt
der rebellierende byzantinische General Euphemius
ruft die Aghlabiden ins Land; 10000 Mann unter
Asad Ibn al-Furat landen in Mazara und beginnen mit
der systematischen Eroberung und Besiedlung der Insel von Westen nach Osten
mit der Eroberung und Zerstörung von Syrakus ist Sizilien fest in muslimischer Hand (die letzte Festung,
Rometta, hält sich bis 965); Palermo (erobert 831)
wird Hauptstadt
Sizilien wird zum Emirat und erlangt dadurch weitgehende Unabhängigkeit
31
ab ca. 960
1038-1040
die Kalbiten in Palermo sind die mächtigsten Emire
der Insel (erster Kalbitengouverneur 947 Hasan Ibn
Ali al-Kalbi); die Verlegung des Kalifats nach Kairo
durch die Fatimiden (972) erhöht Siziliens Selbständigkeit
bei der byzantinischen Rückeroberung unter Georg
Maniakes betreten die drei ältesten Söhne des normannischen Adelsgeschlechts der Haute-vilIes erstmals sizilischen Boden; unter den arabischen Emiren
herrscht Anarchie
Monarchia Sicula Das Normannenreich auf Sizilien
1030
1059
1061
1063 und 1068
1071
1091
1101-1112
1112
1127
1128
1130
1140
1146
1151
1154-1166
1166-1171
32
der Normanne Rainulf erhält Aversa zu Lehen, das
erste normannische Territorium in Unteritalien; von
den zwölf Söhnen des kleinen Provinzbarons Tankred
aus Hauteville-la-Guichard in der Normandie werden vor allem zwei wichtig: Robert Guiscard und der
jüngste Sohn, Roger (geb. 1016), der Ahnherr des sizilianischen Königsgeschlechts der Hautevilles (beide
kommen gegen 1046 nach Unteritalien)
Synode von Melfi; die Normannen werden vom Papst
mit süditalienischen Fürsten- und Herzogtümern belehnt
die normannische Eroberung Siziliens beginnt mit der
Einnahme von Messina; die arabischen Emire Ibn athThumna im Südosten und Ibn Hawwas im Inselinnern
bekämpfen sich gegenseitig; in dieser Situation bittet
Ibn ath-Thumna Roger um Hilfe und bietet ihm dafür
die Herrschaft über Sizilien an; Nachschubprobleme
und ständige Rebellionen auf dem süditalienischen
Festland zögern den Erfolg der Invasion heraus; ihre
tatsächliche Führung fallt Roger zu
Siege Rogers in den Schlachten von Cerami und Misilmeri brechen den sarazenischen Widerstand Robert
Guiscard erobert Bari; Ende der byzantinischen Herrschaft in Unteritalien
mit Noto ergibt sich die letzte sarazenische Ba­stion in
Sizilien
nach dem Tode Rogers führt seine Witwe Adelaide
die Regentschaft, ab II05 für Roger II. (geb. 1095)
Volljährigkeit Graf Rogers II.; sein Admiral ist der
griechisch-katholische Christodulos
mit dem Tode seines Vetters Wilhelm wird Roger II.
auch Herzog von Apulien
Papst Honorius II. belehnt Roger mit Apulien, Kalabrien und Sizilien
der Gegenpapst Anaklet II. macht Roger zum König
von Sizilien; er schwört dem Papst im Gegenzug den
Lehnseid
Gesetzgebungswerk der Assisen von Ariano
mit der Eroberung von Nipolis in Nordafrika wird
Roger zum Herrn des zentralen Mittelmeers
nach dem Tod dreier älterer Söhne Rogers wird Wilhelm zum Mitregenten gesalbt
Wilhelm 1., »der Böse« (geb. II20)
Regentschaft der Margarethe von Navarra; eine kirchliche Partei bildet sich unter Richard Palmer, Bischof
1166-1168
1171-1189
1185
1186
1189
1190-1194
1194-1197
von Syrakus, und Walter of the Mill, dem Erzbischof
von Palermo (II69); Matthäus von Ajello ist Protonotarius
Margarethes Vetter Stephan du Perehe regiert als
Kanzler; er greift gegen Barone und korrupte Ver­
waltungsbeamte durch und muß fliehen
Wilhelm II., »der Gute« (geb. II53)
die Flottenexpedition gegen das byzantinische Griechenland (Admiral Tankred von Lecce) schei­tert bei
Thessaloniki
Heirat von Konstanze, einer nachgeborenen Toch­ter
Rogers II., mit dem späteren deutschen Kaiser Heinrich VI.
antimuslimische Verfolgungen anläßlich der Thronwirren nach Wilhelms II. Tod führen zu einer weiteren
arabischen Auswanderungswelle Tankred von Lecce,
der Neffe Wilhelms 1., wird von einer »sizilianischen
Partei« in Palermo zum König gewählt; Walter of the
Mill und die Barone befürworten die offizielle Erbin
Konstanze (bzw. deren Mann Heinrich VI.)
Heinrich VI.; er schickt Königin Sibylla und ihre
Töchter gefangen nach Deutschland und läßt ihren
Sohn, den minderjährigen Wilhelm III., töten. Heinrich betrachtet Sizilien nur als eine Provinz seines
Kaiserreiches, beutet deren finan­zielle Ressourcen aus
und geht mit äußerster Bru­talität gegen den lokalen
Adel vor
Hohenstaufer, Anjous und Aragonesen
1197
1198
1220
1231
1250
1258
das süditalienische Reich Heinrichs VI. bricht mit
dessen Tod zusammen; erneute Verfolgung der Muslime
die Regentin Konstanze bestimmt vor ihrem Tod
Papst Innozenz III. zum Regenten des Königreichs
Sizilien und zum Vormund ihres minderjährigen Sohnes Friedrich (geb. II94, ab II98 als Fried­rich 1. König
Siziliens, regiert selbst ab 1208; 1212 deutscher König
als Friedrich II., 1220 Kaiser, gest. 1250); im Lande
herrscht Anarchie, im Landesin­nern hat sich unter
dem Muslim Mirabetto ein fast eigenständiger Herrschaftsbereich gebildet Assisen von Capua; Friedrich
etabliert im folgen­den wieder die Königsgewalt und
schafft einen straff organisierten, zentralisierten Beamten- und Fiskalstaat unter Rückgriff auf die Gesetze seiner normannischen Vorfahren
Konstitutionen von Melfi (Liber Augustalis): eine der
frühesten europäischen Rechtskodifikationen nach
Friedrichs Tod folgen Anarchie und Bürger­krieg;
Landwirtschaft und Handel liegen zeitweise darnieder, die Bevölkerungszahl verringert sich drastisch;
Manfred, ein illegitimer Sohn Fried­richs, 1250 von
seinem Vater zum Statthalter von Sizilien ernannt,
nimmt den staufischen Kampf gegen den Papst in Italien auf (Ghibellinen = stau­fische, kaiserliche, später
adlige Partei; Guelfen = päpstliche, antikirchliche,
später Volkspartei)
Manfred läßt sich in Palermo zum König krönen und
macht den Königshof wieder zu einem kultu­rellen
33
1266
1268
1282
1296
1347
1372
1409
1458
1469
ab ca. 1480
1487
1492
34
und gesellschaftlichen Zentrum
in der Schlacht von Benevent verliert Manfred Thron
und Leben an Karl von Anjou, den Bruder des französischen Königs, den der (französische) Papst Clemens
IV. 1265 mit Sizilien belehnt hatte, um Manfred zu
besiegen
Karl von Anjou läßt den letzten Staufer, Konradin,
der versucht hatte, das Königreich des Südens für sein
Haus zurückzugewinnen, in Neapel hinrich­ten; Karl
verlegt die Hauptstadt nach Neapel ­Sizilien gerät immer mehr an die Peripherie; seine Regierungszeit mit
ihrem drückenden Fiskalismus wird von den Sizilianern als grausame Fremdherr­schaft empfunden
die sog. Sizilianische Vesper - eine Revolte, an deren
Anstiftung die Aragonesen nicht ganz unbe­teiligt
waren - macht der Anjou-Herrschaft auf Sizilien ein
Ende; die Aufständischen rufen König Peter I I 1. von
Aragon ins Land, der Manfreds Tochter Konstanze,
die letzte staufische Erbin, geheiratet hatte; Peter
verspricht, Sizilien als ein von Aragon unabhängiges
Königreich zu führen; auf dem unteritalienischen
Festland herrschen weiterhin die Anjous
Peters jüngerer Bruder, in Sizilien erzogen, usur­piert
den Thron als Friedrich II.; der jahrzehnte­lange Krieg
gegen die Anjous in Unteritalien führt zu einem
Machtzuwachs für die großen Adelsfami­lien, deren
mächtigste die Familie Chiaramonte ist;
die Latifundienstruktur verstärkt sich
die Pest und permanente Kriegszüge führen zum weiteren Niedergang von Landwirtschaft und Handel;
Schätzungen zufolge sinkt die Bevölkerungszahl in
den zwei jahrhunderten nach der Herrschaft Friedrichs I I. von Hohenstaufen um die Hälfte ab
Friedensschluß mit den Anjous von Neapel und dem
Papsttum
mit dem Aussterben der aragonesischen Seiten­linie
in Sizilien verstärkt sich die Bindung der Insel an das
spanische Aragon
Sizilien wird in Personalunion mit Aragon ver­einigt
die Heirat von Ferdinand II. von Aragon mit Isa­bella
von Kastilien (»die katholischen Könige«) legt den
Grundstein für die Herausbildung des spani­schen
Staates
nordafrikanische Piraten verheeren auf ihren Beu­
tezügen (Sklavenhandel) die Küsten; die Bevölke­rung
zieht sich ins Landesinnere zurück; organi­sierte Banden verunsichern die Insel
Einführung der Inquisition (1481 in Spanien) durch
die Spanier, die im folgenden dafür sorgt, daß Sizilien religiös wie kulturell »gut katholisch« bleibt;
Verfolgung von konvertierten Juden und Muslimen
sowie von Homosexuellen, die Vertreibung der Juden
bedeutet einen enormen Verlust von Handwerkern
und Kapital, der u a für die permanente Schwäche der
sizilianischen Wirtschaft verantwortlich ist
Vom Spanischen Welteich bis heute
1516
1571
1575
ab ca. 1600
1647
1669
1674-1678
1693
1713
1720
1735
1782
1783
1806-1815
1815
Spanien - und damit Sizilien - fällt an Karl V. und wird
Bestandteil seines Weltreichs
Don Giovanni d‘Austria besiegt in der Seeschlacht von
Lepanto die Türken; dieser für das Selbstbe­wußtsein
der habsburgischen Monarchie so wich­tige Sieg leitet
den Niedergang der türkischen Vor­herrschaft im Mittelmeer ein
eine schwere Epidemie von Beulenpest sucht Sizi­lien
heim
der Adel gründet Hunderte von neuen Dörfern und
Städten (z. B. Piana dei Greci, Pantelleria, Piana degli
Albanesi etc.); viele Albaner und Grie­chen wandern
auf der Flucht vor den Türken ein; die Landwirtschaft
bleibt in ihrer Struktur jedoch rückständig
in Palermo wird ein Volksaufstand gegen die hohen
Brotpreise von der spanischen Regierung niedergeschlagen
ein »Jahrhundertausbruch« des Ätna vernichtet Catania
die Notabien von Messina rufen Ludwig XlV. von
Frankreich ins Land; die Rebellion wird jedoch von
den Spaniern niedergeschlagen
ein großes Erdbeben vernichtet zahlreiche Städte im
Südosten der Insel: ca. 5 % der Bevölkerung kommen
um; zahlreiche Städte werden neu wie­deraufgebaut.
der Frieden von Utrecht beendet den Spanischen Erbfolgekrieg und die Vorherrschaft Spaniens in Europa;
Sizilien, Spielball der kontinentaleuropäi­schen Dynastien, fällt an Viktor Amadeus II. von Savoyen
Österreich bekommt Sizilien im Austausch gegen Sardinien zugesprochen
eine Sekundogenitur der spanischen Bourbonen erhält
das Königreich Neapel-Sizilien; dieser erste selbständige Staat der Neuzeit in Unteritalien zeigt, vor allem
unter Vizekönig Domenico Carac­ciolo (1781-1786),
positive Ansätze zur Moderni­sierung im Sinne des
aufgeklärten Absolutismus; 1767 werden die Jesuiten
ausgewiesen
wird die Inquisition abgeschafft
ein großes Erdbeben zerstört Messina
während der napoleonischen Herrschaft in Unter­
italien (Murat ist seit 1808 König von Neapel) bleibt
die Insel mit Hilfe britischer Besatzungs­truppen unter
General Bentinek bourbonisch; König Ferdinand II1.
residiert derweil in Palermo eine auf britischen Druck
erlassene Verfassung schafft den Feudalismus ab; da
die Lehen jedoch in Volleigentum umgewandelt
werden und keine Landreform stattfindet, bleiben
die politischen und ökonomischen Machtstrukturen
unangetastet
auf dem Wiener Kongreß wird die Bourboncnherrschaft restauriert: das »Königreich beider Sizilien«
wird von Neapel aus regiert, sizilianische Flagge, Pressefreiheit und Verfassung werden abgeschafft; Neapel
macht sich im folgenden bei den Sizilia­nern verhaßter,
als es die Spanier jemals gewesen waren; die Insel verpaßt den Anschluß an die im übrigen Europa voran35
1837
1848
1860
1861
1866
1880
1893
1908
1922
1943
36
schreitende Industrialisie­rung; eine Dauerkrise in der
Landwirtschaft und die nur unzureichend betriebene
Bodenreform führen zur Verarmung und leiten eine
Radikalisie­rung der Bauern gegen die bourbonische
Herrschaft ein; in den Freiräumen staatlicher Kontrolle und Verwicklungen gelingt es Briganten und
loka­len Dons, ihre Macht auszubauen
eine verheerende Choleraepidemie fordert allein in
Palermo 70 000 Todesopfer
Die Revolution wird von den bourbonischen Trup­
pen niedergeschlagen; den gemäßigt-liberalen und
bürgerlichen Kräften war die Kontrolle des radika­
lisierten Volkes im Verlaufe des Aufstandes entglit­ten;
Messina wird dabei zu 90 % zerstört :
Garibaldi landet mit Freiwilligen (»Zug der Tau­
lend«) in Marsala und vertreibt die Bourbonen; er
nutzt die Unzufriedenheit der Bauern geschickt für
seinen Guerillakrieg gegen die Bourbonen; Sizi­lien
fällt so eine Hebelwirkung bei der anschlie­ßenden Einigung Italiens zu
Sizilien wird Teil des neugegründeten Königreichs
Italien unter Viktor Emanuel II. von Piemont
da auch die neue Regierung Sizilien vernachlässigt
und keine Maßnahmen für einen wirtschaftlichen
Aufschwung einleitet, kommt es zu einer erneuten
Erhebung, die mit Waffengewalt unterdrückt wird;
aufgrund der anarchischen Zustände bildet sich das
Mafiasystem heraus
eine umfassende Agrarkrise führt zum Zusammen­
bruch der Landwirtschaft
die Landarbeiterunruhen können nur mit Mühe und
Gewalt niedergeschlagen werden; die Flucht ins Ausland erscheint nun als einzige Rettungs­möglichkeit,
und 1,5 Mio. Sizilianer wandern in die USA, nach
Südamerika, Nordafrika und Australien aus
ein Erdbeben macht Messina dem Erdboden gleich
Sizilien gehört zu den am wenigsten faschistisch
durchsetzten Regionen Italiens; nach Mussolinis
Machtergreifung bemühen sich jedoch vor allem die
landbesitzenden Schichten, mit den Faschisten zusammenzuarbeiten; Maßnahmen wie die Trockenlegung der versumpften Ebene von Catania, die Einführung der widerstandsfähigen ame­rikanischen Rebe
zum Aufstocken einheimischer Sorten, die Gründung
der ersten landwirtschaftli­chen Fakultät Italiens an
der Universität von Cata­nia, die Ausrottung der
Malaria und das Verspre­chen einer Landverteilung
an Kleinbauern scheinen einen Aufschwung in der
Landwirtschaft einzuleiten, dessen Realisierung allerdings durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs
unterbro­chen wird
im Januar entstehen die ersten organisierten Grup­
pen, die sich für ein unabhängiges Sizilien einset­zen.
Als die Alliierten nach schweren Bombarde­ments im
April des gleichen jahres auf Sizilien lan­den, begegnen
sie keinem Widerstand in der Bevölkerung. Vertreter der Unabhängigkeitsbewe­g ung fordern von der
ONU eine Volksabstimmung wird die EVIS geboren
(Esercito Volontario per L‘Indipendenza della Sicilia).
1945
1946
1950
1950-1956
1953
1959-1964
1968
seit 1970
1982
1983
1992
1993
1997
Nach wenigen Monaten werden die Anführer getötet
oder eingekerkert
Sizilien erhält innerhalb der italienischen Repu­blik
den Status einer Region mit autonomer Ver­waltung.
Partei politisch gesehen ist es ab dann für beinahe ein
halbes Jahrhundert fest in »christlich­demokratischer
Hand«. Das Autonomiestatut wird nie voll angewandt und in seinen Paragraphen unauffällig immer
wieder geschmälert
die Einrichtung der Cassa del Mezzogiorno soll Industrie und Landwirtschaft in Sizilien (und im gesamten
Mezzogiorno) fördern und das Nord-­Süd-Gefälle abbauen helfen - mit nur geringem Erfolg; viele verlassen
ihre Heimat, um als Gastar­beiter in anderen europäischen Ländern zu leben landwirtschaftliche Reform
und endgültige Aufhe­bung der Latifundien
auf Sizilien wird Erdöl entdeckt; Bau der chemi­schen
Fabriken und Raffinerien von Augusta ­Priolo, Gela
und Milazzo
eine unkontrollierte Bauwelle setzt ein, die allent­
halben riesige Miethausblocks entstehen läßt sucht
ein weiteres schweres Erdbeben Westsizilien heim;
schwächere Erdbeben betreffen den Osten und Südosten der Insel 1980 und 1990
nimmt die Wirtschaft der Insel einen entscheiden­
den Aufschwung, die Gastarbeiter kehren zurück; die
Infrastruktur Siziliens wird deutlich verbessert durch
den forcierten Bau von Straßen, Autobah­nen und Bewässerungsanlagen
im April wird der Abgeordnete und Sekretär des PCI
Pio La Torre ermordet, der sich gegen die Installierung der Cruise Missile-Raketen in Co­miso aufgelehnt hatte. Im September trifft das glei­che Schicksal
den neuen Präfekt von Palermo, General Dalla Chiesa. Mit ihm kommen seine junge Frau und sein Leibwächter ums Leben
trotz großer Proteste werden die ersten Cruise Missile-Raketen aufgestellt. Die Verhaftung und ­mehr
noch - die Aussagebereitschaft des Mafia­bosses Tommaso Buscetta machen Schlagzeilen in der Weltpresse. Der folgende Mammutprozeß beweist die Macht
der mafios-politischen Kräfte: er endet beinahe ausschließlich mit Freisprüchen im Abstand weniger
Monate müssen zwei der bekanntesten Staatsanwälte
ihr Leben lassen:
Gio­vanni Falcone und Paolo Borsellino. Beide sterben
durch Dynamit und mit ihnen ihre Begleiter. Palermo
trauert um seine Helden
bei den Gemeindewahlen siegen in den zwei größ­ten
Städten der Insel außergewöhnliche Männer:
Bianco in Catania und Orlando in Palermo
wird das Teatro Massimo in Palermo wieder eröff­net:
das einst weltberühmte Opernhaus war 23 Jahre lang
geschlossen geblieben
37
Kulturgeschichtlicher Überblick
Sizilien: Insel zwischen Orient und Okzident/ Birgit Carnabuci.
– Köln: DuMont Buchverlag, 1992
Insel zwischen Orient und Okzident
Sizilien liegt am äussersten Rand Europas. Solange
die Weltinteressen im Mittelmeergebiet lagen, war
es bevorzugte Operationsbasis politi­scher und ökonomischer Mächte. Nach der Entdeckung Amerikas
verschoben sich die weltpolitischen Gewichte, und
die Insel geriet völlig in Vergessenheit. Erst im 18.
Jahrhundert sollte sie von einigen „Weltreisenden“
wiederentdeckt werden.
Wie unbekannt die Insel geworden war, geht aus der
1765 in Neuchatel erschienenen Encyclopedie hervor, wo es wörtlich lautet: »Palermo: Lateinisch Panormus, zerstörte Stadt Siziliens in der Val di Mazara;
es war Erzbischofssitz, und war mit einem kleinen
Hafen ausgestattet. Vor der Zerstörung, die einem
Erdbeben zuzuschreiben ist, machte es Atessina (wohl
Messina) die Rolle der Hauptstadt strei­tig. Es befindet sich an der Nordküste der Insel ... «. Die Proteste
eini­ger sizilianischer Gelehrter und des Holländers
Jean-Philippe d‘Orville, den 1727 seine Leidenschaft
für Theokrit und antike Medaillen nach Sizilien geführt hatten, waren erfolglos. Weitrei­chendere Aufmerksamkeit erzeugten erst die Reisebeschreibungen
von Brydone und Riedesel, die rund 40 Jahre später
als Pioniere nach Sizilien kamen. Bald wurde in bestimmten Kreisen jenseits der Alpen eine Sizilienreise zur Modefrage. Persönlichkeiten wie Roland de la
Platière, Graf Borch, Sonnini, Payne Knight, Swinburne, Vivant Denon, Houel erforschten die Insel fast
gleichzeitig, und wiederum waren es ihre Publikationen, die eine neue Besucherwelle brachten: Friedrich
Münter, Johann Heinrich Bartels und schliesslich Johann Wolfgang von Goethe, um nur die bekanntesten
zu nennen. Als inter­essantester und letzter Berichterstatter vor der Wende vom 18. zum 19. Jh. ist der
Orientalist Joseph Hager zu nennen, der zwei Jahre in
Palermo arbeitete und lebte, also das Land nicht nur
als Aussenste­hender kennenlernte.
Erstaunlicherweise prägen die Sichtweisen, Urteile (und Vorur­teile) dieser Männer auch heute noch,
nach mehr als 200 Jahren, so manche touristische Erwartungshaltung. Doch wer Sizilien mit den Augen
des 18. und 19. Jh. sehen will, wird enttäuscht von der
Reise zurückkehren. Sizilien ist ein Land des 20. Jahrhunderts, mit allen Vor- und Nachteilen unserer Zeit.
Die Strassen wimmeln von Autos, in den Städten reiht
sich ein Geschäft an das andere, die Menschen sind
hochmodern gekleidet, die Landwirtschaft wird maschinell betrieben, der Fischfang hauptsächlich von
afrikanischen Gastarbeitern ausgeführt. Die berühmten Grossfamilien gibt es nur noch in den Romanen
und in der Erinnerung. Inzwischen hat das Land mit
die niedrigste Geburtenquote Europas, und die Zahl
38
der Einwohner wird geringer. Gegenwärtig beträgt sie
ca. 4 600 000. In der jungen Gene­ration ist der Wille
zum Studium gross. Die drei Universitäten (Palermo,
Catania, Messina) werden zusammengenommen von
unge­fähr 120 000 Studenten beiderlei Geschlechts
besucht. Frauen sind absolut gleichberechtigt und
nehmen inzwischen führende Stellen in Wirtschaft
und Verwaltung ein.
Sizilien mit seinen Inseln erreicht nicht ganz 26 000
km2 Oberflä­che. Die Küstenlinie hat eine Länge von
1049 km; davon sind 440 km zum Thyrrenischen Meer
hin ausgerichtet, 312 km zum Afrika­nischen Meer
und 287 km zum Ionischen Meer. Im Süden fällt das
Land seicht zur Küste hin ab, im Norden und Osten
steigt es steil aus dem Meer auf. Ungefähr die Hälfte
der Einwohner lebt in den Städ­ten an den Küsten, die
anderen wohnen im Landesinneren. Aller­dings wirken die Küsten dichter besiedelt und grüner, da von
Gärten umgebene Sommer- und Ferienhäuser oft in
unmittelbarer Meeres­nähe liegen, Dagegen sind in
den Ortschaften des Binnenlands die Wohnhäuser so
eng aneinander gebaut, dass kein Platz für Zierpflan­
zen bleibt. Diese Kleinstädte haben im Durchschnitt
15 000 bis 30 000 Einwohner. Dazwischen liegt
nichts als unbewohntes Acker­land. Je nach Gegend
erstrecken sich kilometerweit grossflächige Plantagen,
Weizenfelder oder Weingärten. Die Landwirtschaft
ist immer noch der bedeutendste Wirtschaftssektor
Siziliens. Es versteht sich von selbst, dass damit Handel und Bankgeschäfte verbunden sind, In Ragusa und
Gela wird Erdöl gefördert, das in Augusta, Hirnera,
Milazzo und Gela verarbeitet wird,
Kleinere Industrien erzeugen Keramik, Kacheln, Möbel, elektri­sche Haushaltsgeräte, Ersatzteile für Autos,
bauen landwirtschaftli­che Maschinen und ähnliches,
Sie sind freilich auf dem internationa­len Markt kaum
konkurrenzfähig - Sizilien liegt immer noch an der
äussersten Peripherie Europas.
Das antike Sizilien
Wer Süditalien oder Sizilien bereist, wird vielleicht
überrascht bemer­ken, dass vieles von dem, was ihm
hier aus der Antike begegnet, nicht Hinterlassenschaft
des sonst in Italien so allgegenwärtigen römischen
Weltreiches ist, sondern Zeugnis der griechischen
Kultur. Nirgendwo ausseralb des griechisch-kleinasiatischen Kernlandes hat sich die altgriechische Kultur
mit ihren zahlreichen Stadtanlagen, mit ihren Heiligtümern, Tempeln und Theatern so prägend über die
Landschaft gelegt wie auf Sizilien. Fast könnte man
die Insel Trinakria, »die Dreieckige«, wie die antiken
Griechen Sizilien nannten, für einen genuinen Bestandteil von Alt-Hellas halten, wie dies auch die grie­
chische Mythologie glauben machen will: Hier starb,
so sagt die Legende, der sagenhafte König Minos bei
seiner Verfolgung des ent­flohenen Daidalos. Hier
überlistete der Held Odysseus bei der Durchquerung
der Meerenge von Messina die Ungeheuer Skylla und
Charybdis. Hier raubte der Halbgott Herakles - als
zehnte seiner legendären zwölf Taten - die Herde des
Geryoneus und tötete dabei die furchterregende Skylla. In Enna soll Demeter gelebt haben, soll Kore von
Hades geraubt worden sein. Und im Ätna betrieb der
hin­kende Gott Hephaistos seine Schmiedewerkstatt.
Auf den zweiten Blick stellen sich die Dinge jedoch
komplizierter dar. Auch im Altertum war Sizilien
nicht einfach ein Stück Griechen­land. Viele Einwanderungs- und Kolonisationswellen machten Sizilien
auch zu Zeiten der griechischen Antike zu einem
ethnisch ausser­ordentlich heterogenen Gebiet mit
diversen miteinander rivalisieren­den Kultur- und
Siedlergruppen. Bereits im Neolithikum und in den
Metallzeiten eingewanderte, also seit langem dort
heimische Stämme, aber auch Phönizier und schliesslich - auf der Suche nach neuen Siedlungsgebieten
- Griechen lebten hier nebeneinander, ein Umstand,
der immer wieder zu Konflikten und Kriegen führte.
Ein entsprechend heterogenes Bild bietet denn auch
die archäologisch fassbare Hinterlassenschaft all dieser Gruppen: Gräberfelder und Siedlungsreste bodenständig gewordener Kulturen, Siedlungen, Friedhöfe,
Stützpunkte und Hafenanlagen der Phönizier und
schliess­lich die an Menge und Grösse schier alles andere überlagernden Rui­nen der griechischen Kultur.
Vor- und Frühgeschichte
Die ersten Spuren menschlichen Lebens auf Sizilien
stammen aus vergleichsweise später Zeit, dem Ende
des Paläolithikums (Altstein­zeit). Die bislang ältesten
Überreste fand man in den Grotten bei S. Teodoro an
der Nordküste; sie entstammen der Zeit des späten
Nean­dertalers (ca. 35000 v. Chr.). Die weiteren Funde
aus dem Paläolithi­kum konzentrieren sich meist auf
zwei Regionen der Insel: den Nord­westen zwischen
Trapani und Palermo sowie den Südosten bei Syra­kus
und Ragusa. Der weitaus grösste Teil Siziliens dagegen
scheint damals noch unbesiedelt gewesen zu sein. Die
Menschen dieser Zeit waren Jäger und Sammler, die
in Sippenverbänden lebten und jeden Tag aufs neue
einen harten Kampf um das eigene Überleben gegen
andere Sippen und gegen die Unbilden der Natur zu
führen hatten. Zu den beeindruckendsten Zeugnissen
aus dem Paläolithikum zäh­len die Höhlenmalereien
in den Grotten der kleinen Insel Levanzo vor Trapani
und am Monte Pellegrino bei Palermo (s. S. 300f.).
Den Anfang der Jungsteinzeit (Neolithikum) kennzeichnet eine Entwicklung, die heute zu Recht als
die »Neolithische Revolution« bezeichnet wird.
Die aneignenden Wirtschaftsformen der Jägerund Sammlerkulturen machten einer - zuerst im
mesopotamisch-anatoli­schen Raum nachweisbaren
- produzierenden Wirtschaftsform Platz. Ackerbau
und Viehzucht führten zu einer Sesshaftwerdung der
umherziehenden Sippenverbände. Siedlungen wur-
den angelegt, meist aus heute kaum mehr nachweisbaren Holz-, Lehm- und Laub­hütten. Die Erfindung
von Ackerbaugeräten und auch der Keramik, die zunächst luftgetrocknet und erst später im eigentlichen
Sinne gebrannt wurde, sowie die Herstellung von fein
gearbeiteten, hoch­spezialisierten Steinwerkzeugen
sind Kennzeichen dieser Kultur­stufe.
Die neolithischen Kulturen beschränkten sich weitgehend auf die Ostküste und die Liparischen Inseln.
Am weitesten ausgedehnt war die sog. StentinelloKultur, benannt nach dem Hauptfundort nörd­lich
von Syrakus. Mit dieser Kultur beginnt zugleich die
bis in histo­rische Zeiten nicht mehr abreissende Kette von Einwanderungen. Vermutlich aus Süditalien
stammend waren die Siedlungen dieser Kultur häufig
durch Wälle und Gräben befestigt - ein deutliches
Zei­chen dafür, dass hier wie überall im Neolithikum
Verteidigungsanla­gen notwendig wurden, da die Sesshaftwerdung zwangsläufig zu Besitzungleichheit und
damit zu ersten kriegerischen Konflikten zwi­schen
wohlhabenden und armen Siedlungsgemeinschaften
führte.
Die Keramik der neolithischen Kulturen auf den Liparischen Inseln unterscheidet sich von derjenigen der
Stentinello-Kultur erheblich: Die sehr dünnwandigen
Gefässe des Serra d‘Alto-Stils waren mit mehrfarbigen
Spiral-, Mäander- und Zickzackmustern bemalt; die
zeitlich anschliessende Keramik des Diana-Stils ist
über­wiegend monochrom und nur selten mit komplizierteren Mustern dekoriert. Diese Keramik fand auch
auf dem süditalienischen Fest­land weite Verbreitung.
Am Beginn der Metallzeitalter (Kupfer-, Bronze- und
Eisenzeit) kam es zu neuen Einwanderungswellen
nach Sizilien. Die im Orient schon lange vorher nachgewiesene Fähigkeit, Metall zu verarbeiten, brachte
im Zuge dieser Einwanderungen nicht nur technischen Fort­schritt, sondern führte auch zu einer zunehmenden Spezialisierung der Tätigkeiten innerhalb
der Dorf- und Siedlungsgemeinschaften und damit zu
erheblichen gesellschaftlichen Veränderungen. Wer
mit der Metallverhüttung beschäftigt war, hatte kaum
noch Zeit, sich um die eigene Nahrungsmittelversorgung, sprich Ackerbau und Vieh­zucht, zu kümmern.
Arbeitsteilung wurde notwendig, und so entstan­den
in dieser Zeit erstmals regelrechte Berufe und »Industrien«, aber zugleich auch ein zunehmend differenziertes Geflecht wirtschaftlich­sozialer Hierarchien
und Abhängigkeiten.
Hauptsächlich durch Gräberfunde bekannt sind die
bronzezeitli­chen Kulturen Siziliens aus dem 2. Jt. v.
Chr. In dieser Zeit scheint die Insel schon recht dicht
besiedelt gewesen zu sein. Die Herstellung der harten
Bronzegeräte aus einer Mischung von Zinn und Kupfer setzte erhebliche technische Fähigkeiten bei der
Metallverhüttung voraus. Bronzewerkzeuge machten bald die Verwendung von Stein­geräten gänzlich
überflüssig. Nun trat der Handel - auch über weite
Entfernungen hinweg - als ein prägendes Merkmal
39
in Erscheinung. Insbesondere die Beschaffung der
für die Bronzeherstellung notwen­digen Rohstoffe
sorgte dafür, dass ein ganzes Geflecht von Handels­
beziehungen zwischen den z. T. weit auseinanderliegenden bronze­zeitlichen Kulturen entstand. So hatten die sizilischen Bronzezeitkul­turen Kontakte nicht
nur in den mykenisch-griechischen Raum, sondern
bis nach Mesopotamien und Südengland.
Neben der kupferzeitlichen Conca d‘Oro-Kultur, die
auch in der frühen Bronzezeit noch weiter bestand,
waren hauptsächlich die Castelluccio-Kultur (benannt nach dem Hauptfundort bei Noto) und die
Capo Graziano-Kultur auf den Liparischen Inseln
sowie die etwas spätere Thapsos-Kultur in der Bronzezeit auf Sizilien verbrei­tet. Diese Kulturen sind nun
weitgehend auf Sizilien und die Liparischen Inseln
beschränkt und zeichnen sich durch ein hohes Mass
an Eigenständigkeit aus, das sie von zeitgleichen Kulturen Süd­italiens, Sardiniens, Griechenlands und des
westlichen Mittelmeer­raumes unterscheidet; erstmals
kann man zu Recht von wirklich »ein­heimischen«
Kulturen auf Sizilien sprechen.
Die genauen zeitlichen Abfolgen wie auch die geographischen Abgrenzungen der zahlreichen sizilischen
Metallzeitkulturen mit ihren unterschiedlichsten Keramikstilen sind auch heute noch recht unsicher und
erlauben kein abschliessendes Bild; erst in jüngster
Zeit ist beispielsweise mehrfach angenommen worden, dass etwa die Thapsos-Kultur bereits einen ersten
Vorläufer der phönizischen Kolonisation darstellt.
Um 1000 v. Chr. waren jedenfalls im wesent­lichen
vier Stämme auf Sizilien beheimatet, die im folgenden
- im Gegensatz zu den nun allmählich einwandernden
Phöniziern und Griechen - als »einheimische Bevölkerung« bezeichnet werden: Die, Sikaner, vermutlich
nordafrikanischen oder iberischen Ursprungs, die
wohl aus Kleinasien stammenden Elymer sowie die Sikuler und Morgeten, beide einst auf dem italienischen
Festland sesshaft.
Die phönizische Kolonisation
Die Phönizier, ursprünglich an der Levanteküste ansässig, waren die ersten, die sich in historischer Zeit
auf Sizilien niederliessen. Als ein Volk von Seefahrern und Händlern haben sie massgeblich zu dem
Netz von Kontakten und Beziehungen zwischen den
Mittelmeerkul­turen beigetragen, das zu Beginn des 1.
Jt. v. Chr. Gestalt annahm. Die Phönizier waren kühne Pioniere des Schiffbaus und der Seefahrt, und so
entstanden seit etwa 900 v. Chr. an allen Küsten des
Mittel­meers zwischen Gibraltar und Kleinasien ihre
Handelsniederlassun­gen.
Diese Seefahrer waren nicht auf der Suche nach neuen Siedlungs­räumen, sondern einzig darauf erpicht,
an fremden Gestaden Häfen ,und Handelskontore zu
gründen, um die Waren der Region mit den­jenigen
aus fremden Ländern zu tauschen. Insofern gestaltete
40
sich ihr Leben mit der jeweils einheimischen Bevölkerung überwiegend fried­fertig: Beide Teile hatten
Interesse an einer Koexistenz, da diese von gegenseitigem Nutzen war. Auch stellten die Phönizier keine
grossen räumlichen Ansprüche. Ihnen genügten ein
wettersicherer und gut gegen Piraten zu verteidigender Küstenplatz für Hafen und Werften sowie einige
Häuser zum Leben und Schuppen für die Lagerung
der Waren.
Die phönizischen Handelsniederlassungen wurden
rasch zu Zen­tren des Reichtums und weckten dadurch
die Begehrlichkeit von Piraten und von weniger wohlhabenden einheimischen Siedlern. So kam es bisweilen zu Überfällen, gegen die sich die Phönizier durch
die Wahl strategisch gut zu verteidigender Orte wie
Halbinseln und kleinen, den Küsten vorgelagerten Inseln schützten. Aber dennoch bestand zwischen den
phönizischen Niederlassungen und der sie umgebenden Urbevölkerung kein ständiges Konfliktpotential:
ein Verhältnis, das sich bei der späteren griechischen
Kolonisation völ­lig anders darstellen sollte.
In rascher Folge entstanden im 8. Jh. v. Chr. auf Sizilien eine Reihe von Handelsniederlassungen, die
beiden bekanntesten Panormos, das heutige Palermo, und Motye (Mozia). Während man in Palermo
kaum noch Überreste aus der phönizischen Zeit vorfindet, sind die Ausgrabungen von Motye (s. S. 233)
um so beeindruckender. Der Ort, liegt auf der nur 1
km2 grossen Insel S. Pantaleo zwischen Marsala und
Trapani: ein perfekter Platz für die Gründung eines
Handelskon­tors. Im Schutze anderer Inseln in einer
Lagune gelegen, war der Stützpunkt nur wenige hundert Meter von der Küste entfernt. Sehr schnell entstand hier eine regelrechte Stadt - die einzige grössere
phö­nizische Stadtanlage auf Sizilien. Sie wurde 397 v.
Chr. zerstört und nie wieder aufgebaut. Da die Insel
auch in den folgenden Zeiten nicht mehr besiedelt
wurde, bieten sich heute für die Archäologen optimale Arbeitsmöglichkeiten.
Die mächtigen Mauern, die Motye umgaben, stammen
nicht aus der Zeit der Gründung des Ortes. Erst als
die griechische Kolonisa­tion sich immer weiter nach
Westen ausdehnte, kam es zu Konflik­ten und Kriegen,
da der Lebens- und Wirtschaftsraum der Phönizier
auf Sizilien rapide kleiner wurde. So gründeten die
Phönizier im 7. Jh. v. Chr. etwa 20 km östlich von Palermo die Ortschaft Solus (Solunto) als Vorposten für
das von den stetig näherrückenden grie­chischen Siedlern bedrohte Panormos, das nun ebenfalls mit einer
Mauer umgeben wurde.
Die Griechen in Sizilien
Die griechische Kolonisation
Bereits der griechische Lyriker Hesiod beschrieb im
7. Jh. v. Chr. die tiefgreifende Krise der damaligen
griechischen Gesellschaft: Besitz­ungleichheit, Rechtlosigkeit und Verarmung durch zunehmende Ver­
kleinerung des Landbesitzes als Folge der Erbteilung;
in Abhängig­keit, gar in Schuldknechtschaft geratene
einstmals freie Bürger; Miss­ernten, Unruhen, Übervölkerung und Hungersnöte - all dies hatte das Leben
der Landbevölkerung im griechischen Kernland hoff­
nungslos, ja oft unerträglich werden lassen. Vor dem
Hintergrund dieser sozialen Missstände beginnt im 8.
Jh. v. Chr. eine grosse Aus­wanderungswelle aus Griechenland - die griechische Kolonisation.
In der Umbruchphase der griechischen Gesellschaft
im 8. und 7. Jh. v. Chr. entwickelte sich nicht nur in
Griechenland selbst, son­dern auch in den neu gegründeten Kolonien das Polissystem. Dies war ein loser
Verbund von kleinen Stadtstaaten, die zwar unterein­
ander mannigfache Beziehungen pflegten, prinzipiell
jedoch vonein­ander unabhängig und oft auch verfeindet waren. Regiert wurden sol­che Stadtstaaten
zunächst von der einfluss- und besitzreichen Aristo­
kratie. Ihre wirtschaftliche Basis bildete die Landwirtschaft, und so bestand eine Polis zum einen aus einer
städtischen Siedlung, zum anderen aus der dazugehörigen Chora, der die Stadt umgebenden Ackerfläche.
Zwar gab es schon in dieser Frühzeit des griechischen
Polissystems einen regen Tauschhandel zwischen den
einzelnen Stadtstaaten, das angestrebte Prinzip dieser
Polis war jedoch nicht wirtschaftliche Verflechtung,
sondern jeweilige Autarkie, also die vollständige politische und ökonomische Selbständigkeit.
Dieses Autarkieprinzip war es, was die einzelnen
Siedlergruppen in der Fremde anstrebten. Hierzu
brauchte man ein möglichst grosses und fruchtbares,
zudem gesichertes Stück Ackerland. Besonders Sizi­
lien und Unteritalien erschienen den Gründern dabei
im Vergleich zu Griechenland wie ein Paradies.
Die Gründung einer Kolonie vollzog sich überall in
ähnlicher Weise. Eine Siedlergruppe bestieg - ausgestattet mit einem Wink aus Delphi und guten Wünschen der in der Heimat Verbleibenden _ unter der
Führung eines Adligen (dem Oikisten, dem später in
der neuen Heimat oft ein Heroenkult geweiht wurde) eine kleine Flotte und begab sich unter grösster
Vorsicht vor Seeräubern und Unwet­tern, nur mit dem
Nötigsten im Gepäck, zum angestrebten Ort. Oft
waren es auch nicht nur eine, sondern zwei Siedlergruppen unter­schiedlicher Herkunft, die sich - dann
mit zwei Oikisten an der Spitze - zur Gründung einer
neuen Polis zusammentaten. Auf Sizi­lien und in Unteritalien gab es nach Auffassung der Siedler zwei ver­
schiedene Arten von Kolonien: Zum einen »echte«,
von auswandern­den Griechen aufgebaute Kolonien,
zum anderen sog. Pflanzstädte, die von Siedlergruppen gegründet wurden, die wiederum aus einer der
neugegründeten Städte ausgewandert waren.
Bei der Anlage der neuen Städte bevorzugten die
Siedler Areale in Küstennähe, entweder auf sicheren
Halbinseln (wie etwa im Falle von Syrakus), oder etwas landeinwärts gelegenes Gelände mit bereits vorhandenen natürlichen Gegebenheiten, die zur Ver-
teidigung geeig­net waren (wie im Falle von Akragas).
Gerade auf Sizilien waren die Küstenregionen - im
Gegensatz zum unwirtlichen Inselinneren - ausserordentlich fruchtbar und hervorragend geeignet für
eine inten­sive landwirtschaftliche Nutzung. Doch
die strategischen Überlegun­gen bei der Auswahl der
Siedlungsplätze bezeugen noch ein anderes Interesse.
Im Gegensatz zu den phönizischen Händlern wollten
die griechischen Siedlertrupps grössere Landstriche in
Besitz nehmen. Und natürlich waren die zur Koloniegründung ausgewählten Gebiete nicht menschenleeres Ödland, sondern von der einheimischen Bevölkerung besiedelt und bewirtschaftet.
So entbrannte jedesmal, wenn eine neue Siedlergruppe irgendwo an Land ging, ein ungleicher, oft blutiger
Kampf zwischen den gut gerüsteten Griechen und
den meist völlig unvorbereiteten Einheimi­schen. Die
einst an der Küste ansässige Urbevölkerung wurde
von ihren Siedlungsgebieten vertrieben und ins Inselinnere zurückge­drängt, zunächst nur von einzelnen
Orten, später, als immer mehr Kolonisten eintrafen,
von der gesamten Küste. In den neuangelegten Koloniestädten wuchsen nun Ableger der griechischen
Kultur heran, einer Kultur, die sich anfangs nicht in
Bauten und Stadtanlagen manifestierte und verfestigte, sondern in einer Art »ideologischem Überbau«.
Dabei waren die eigenen religiö­sen Vorstellungen und
das traditionelle Gesellschaftssystem die wesentlichen
Faktoren, die es den Griechen ermöglichten, sich auch
in der Fremde bald heimisch zu fühlen.
Im Laufe der Zeit war die griechische Gesellschaft
durchaus Ände­rungen unterworfen: Die zunächst
sehr starr und hierarchisch geglie­derte Adelswelt
wurde von Tyrannen in Frage gestellt und später von
demokratischen Tendenzen im Kern überwunden.
Zwei Faktoren blieben jedoch über die Jahrhunderte
hinweg konstant: die Sklaverei und das Patriarchat.
Ein Merkmal nicht nur der antiken griechischen Kultur ist die Sklaverei. Ihr verfielen in der Regel Kriegsgefangene, nicht nur »Bar­baren«, sondern durchaus
auch Griechen, die dann entweder an wohlhabendere
Privatleute verkauft oder aber zu kommunalem Besitz
des siegreichen Stadtstaates wurden. Während das
Los der Staatssklaven hart war - sie arbeiteten unter
oft menschenunwürdi­gen Bedingungen in Bergwerken oder Steinbrüchen -, wird das Geschick der »privaten« Sklaven in der zeitgenössischen Literatur als
meist erträglich geschildert. Private Sklaven waren
zwar unfrei, von niedrigstem gesellschaftlichem Stand,
von allen politischen Entschei­dungen ausgeschlossen
und konnten nach Belieben weiterverkauft werden,
doch hatten sie durchaus gewisse Ehe-, Vermögensund Zeugnisrechte.
Sie wurden nicht selten zu einem umhegten, weil
recht teuren Bestandteil des Oikos, des griechischen
Haushalts, und ihr Leben als Hausangestellte und Arbeiter im Betrieb oder der Landwirtschaft des Hausherrn gestaltete sich oft leichter als das von freien
41
Tagelöhnern, die sich jeden Tag aufs neue um ihren
Lebensunterhalt bemühen mussten. Oft arbeiteten
Freie zusammen mit Sklaven in Steinbrüchen, in der
Landwirtschaft oder an grösseren städtischen Bauprojekten, und meist zahlten die »Arbeitgeber« den Tagelöhnern nicht mehr, als für die Arbeit der Sklaven
an deren Besitzer gezahlt wurde. Anders als in der Römischen Republik und der frühen Kaiserzeit war die
Sklaverei in der griechischen Kultur kein wesentlicher
ökonomischer Faktor.
Ein zweiter prägender Zug der griechischen Kultur
ist das Patriar­chat. Die griechische Gesellschaft war
eine reine Männerwelt: Män­ner bestimmten das öffentliche Leben, debattierten auf dem Markt­platz
und kamen den bürgerlichen oder gesellschaftlichen
Verpflich­tungen nach. Die Frau, zumindest diejenige aus besserer Familie, war an das Haus gebunden,
herrschte dort zwar unumschränkt, hatte allerdings
innerhalb der Gesellschaft keinerleI politische oder
juristi­sche Rechte. Nur wenige Ereignisse wie bestimmte kultische Feste und Prozessionen erlaubten
ihr, das Haus zu verlassen. Wenn die Frau bei solchen
Gelegenheiten in der Öffentlichkeit auftrat, tat sie
dies weniger als eigenständige Persönlichkeit, sondern
repräsentierte Wohlstand und Status eines Mannes, d.
h. ihr Verhalten, ihr Auftre­ten und ihre Ausstattung
wurden in Relation zu ihrem Mann, Bruder oder Vater beurteilt.
Während sich die Männer ungeniert (fast) allen Ausschweifungen hingeben konnten, galt für die Frau
ein strenger Moralkodex. Ausge­nommen von dieser Verhaltensnorm waren allein die Hetären, die an
Symposien und Gelagen teilnahmen und sich unbeaufsichtigt in der Stadt bewegen konnten, aber immer
darauf achten mussten, nicht auf das Niveau von gewöhnlichen Prostituierten herabzusinken. Aller­dings
konnten nur Frauen aus den wohlhabenderen Schichten die­sen Idealvorstellungen vom richtigen Verhalten
genügen. In ärmeren Kreisen war es üblich und auch
notwendig, dass sich die Frauen auch ausserhalb der
festlichen Anlässe in der Öffentlichkeit zeigten, z. B.
als Arbeiterinnen in Landwirtschaften oder handwerklichen Fami­lienbetrieben.
Ein weiterer wichtiger identitätsstiftender Faktor der
griechischen Kultur war schliesslich ein rigoroser, bisweilen offen aggressiver Aus­schIiessIichkeitsanspruch.
Bei allen Konflikten und Streitereien untereinander
fühlten sich die Griechen insgesamt als eine überle­
gene Elite, die in allen Nachbarvölkern unterschiedslos minderwer­tige Barbaren sah. Diese von keinerlei
Zweifeln getrübte Selbstsicht, die sich wie ein roter
Faden durch fast die gesamte antike griechische Literatur zieht, war letztlich dafür verantwortlich, dass
sich auch auf Sizilien kein friedliches Nebeneinander
unterschiedlicher Kulturen entfalten konnte. Das
griechische Streben nach Dominanz auf allen Ebenen
liess schliesslich ein Konfliktpotential entstehen, das
sich in zahlreichen Kriegen gegen die Nachbarkultu42
ren entladen sollte.
Über die exakten Jahreszahlen der griechischen
Koloniegründun­gen auf Sizilien besteht zwischen
verschiedenen antiken Quellen ein kaum auflösbarer
Widerspruch. Sicher bezeugt ist jedoch, dass die ersten Kolonien im Osten der Insel entstanden, also auf
der Grie­chenland zugewandten Seite. Naxos (um 735
v. Chr.), Syrakus (um 734 v. Chr.), Leontinoi (um 730
v. Chr.), Katane (um 729 v. Chr.) und Megara Hyblaea
(um 728 v. Chr.) sind die Orte, die in einer ersten Kolonisationswelle im Abstand von nur wenigen Jahren
gegründet wurden. Da sich all dies weit entfernt von
den phönizischen Niederlassungen im Westteil der
Insel abspielte, kam es zu dieser Zeit noch nicht zu
Konflikten zwischen Phöniziern und Griechen.
Eine Generation später sollte sich dies jedoch ändern.
Eine neue Welle von Koloniegründungen führte zu
einer zunehmenden Expan­sion der Griechenstädte
nach Westen. Die Gründung von Gela (um 690 v.
Chr.) machte den Anfang, besonders aber die Anlage
von Seli­nunt (um 650 v. Chr.) und Himera (um 648
v. Chr.) reduzierte die phönizische Einflusssphäre auf
der Insel erheblich. Nachdem mit der Gründung von
Aluagas (582 v. Chr.) die vorerst letzte grosse griechi­
sche Kolonie auf Sizilien Gestalt angenommen hatte
und sich die Griechen immer spürbarer als die eigentlichen Herren der Insel auf­führten, begann mit dem
Karthagerkrieg von 570 bis 550 v. Chr. eine Kette von
bewaffneten Auseinandersetzungen. Dabei blieben
die Karthager zunächst siegreich, konnten ihre Einflusssphäre behaupten und Kompromisse von seiten
der Griechen erzwingen. So sahen sich die Griechen
insbesondere in Himera und Selinunt - beide Städte
grenzten unmittelbar an den karthagischen Einflussbereich im Westen - gezwungen, auf die Bedürfnisse
dieser »Barbaren« Rücksicht zu nehmen und sich
mit ihnen zu arrangieren.
Zu Beginn des 5. Jh. v. Chr. eskalierte der Konflikt
jedoch. Schon seit längerem gab es nicht nur Händel
zwischen Karthagern und Griechen, sondern auch
zwischen einzelnen Griechenstädten und Sizilien. Ein
Krieg zwischen Aluagas und Himera führte dazu, dass
das unterlegene Himera - es hatte aus Einsicht in die
Notwendigkeit seit längerem gute Beziehungen zu
den Karthagern gepflegt - diese Nachbarn um Hilfe
bat. Auf der Gegenseite verbündete Aluagas sich mit
Gela und Syrakus. So kam es zu einem ersten grossen, ganz Sizi lien umfassenden Krieg, der mit der
Schlacht bei Himera (480 v. Chr.) seine Entscheidung
fand. Das karthagisch-phönizische Heer wurde vernichtend geschlagen. Zehntausende gerieten in die
Sklaverei, rie­sige Geldmittel wurden erbeutet, und
die punisch-karthagische Bevölkerung wurde für die
nächsten Jahrzehnte auf ein schmales Ter­rain im äussersten Westen Siziliens zurückgedrängt.
Die griechischen Koloniestädte in archaischer Zeit
In der Gründungsphase einer Koloniestadt waren die
einzelnen Sied­ler auf gemeinschaftliches Vorgehen
angewiesen. Mauerbau, Land­verteilung, die Anlage
des charakteristischen rechteckigen Strassen­netzes in
den Städten (wohl ein Resultat des Bestrebens, für
alle Neu­angekommenen gleichgrosse Wohnquartiere
zu schaffen), aber auch der Bau von ersten Tempeln
und Heiligtümern waren Gemeinschafts­leistungen,
bei denen sich die Interessen des einzelnen dem Ganzen unterordnen mussten. Die entscheidende Rolle
bei diesen Tätigkeiten spielte in der Regel zunächst
der Oikist.
Häufig kam es jedoch innerhalb der Siedlergemeinschaften zu Streit und Zwistigkeiten, besonders in
denjenigen Neugründungen, wo zwei Siedlergruppen
unterschiedlicher Herkunft mit zwei Oi­kisten gemeinsam ans Werk gingen, Ein Resultat solcher Konflikte
ist das Entstehen der Tyrannis, einer Regierungsform,
die nicht nur in fast allen griechischen Kolonien in
der archaischen Zeit, sondern auch in Griechenland
selbst - dort jedoch aus anderen Gründen - die Regel
werden sollte.
Ein Tyrann in dieser Zeit war kein blutrünstiger Despot oder Dik­tator, wie es das Wort heute impliziert.
Immer ein Angehöriger der Aristokratie, trat er gewissermassen als »Schiedsrichter«, als konsens­fähige
Person in einer Situation auf, in der die inneren Streitigkeiten einer Gemeinschaft ein solches Ausmass
erreicht hatten, das eine gewaltfreie Lösung zwischen
den zerstrittenen Parteien kaum mehr zuliess. In der
Regel war eine solche Tyrannis eine Regierungsform
von beschränkter Dauer, eng an die jeweilige Situation gebunden und nach Lösung der Probleme überflüssig. Besonders die alte und wohl­habende Adelsschicht trat naturgemäss als Gegner der Tyrannis in
Erscheinung, denn um die entstandenen Konflikte zu
beheben, war es oft unabdingbar, dass der Tyrann ihre
Privilegien einschränkte. Anders als in Griechenland
kam es auf Sizilien jedoch häufig auch zu einer Vererbung der Tyrannis, also zu einer Art Königtum mit
regel­rechter Hofhaltung.
Die archaische Zeit der sizilischen Koloniestädte war
geprägt von einer reichen Adelsgesellschaft, die nach
Kräften ihren Wohlstand nach aussen hin zeigte, sowie
den Tyrannenhöfen, die zu Mittelpunk­ten von Kunst
und Kultur wurden. Ihren Höhepunkt erreichte diese
Entwicklung am Ende des 6. und zu Beginn des 5. Jh.
v. Chr. an den Höfen des Theron von Aluagas und des
Gelon und Hieron von Syra­kus. Nicht nur innerhalb
Siziliens, auch in den grossen Heiligtümern Griechenlands, allen voran Olympia und Delphi, demonstrierten diese Tyrannen die Macht und den Reichtum ihrer
Städte durch gross­artige, prunkvolle Weihgeschenke.
Die Geloer errichteten in Olym­pia ein grosses, mit
prachtvollen Dachverkleidungen aus Terrakotta versehenes Schatzhaus, ein Gebäude, das für die Magazinierung wei­terer Weihgeschenke gedacht war; der
Tyrann Polyzalos aus Gela stif­tete das Standbild eines
Wagenlenkers nebst Wagen und Viergespann aus
Bronze nach Delphi, und die Akragantiner weihten
eine bronzene Statuengruppe in Olympia.
Nicht nur grosse Tempel, die der Machtdemonstration einzelner Tyrannen und Städte dienten, entstanden im 6. Jh. v. Chr. auf Sizilien, sondern auch eine
Reihe architektonisch unscheinbarer Heiligtümer, die
breiten Schichten als Stätten der Kultausübung und
als Orte zum Aufstellen von Devotionalien zur Verfügung standen. Ein Heiligtum war zunächst nichts weiter als eine Fläche, die aus dem Siedlungsge­biet herausgelöst wurde und der Kultpraxis diente. In der Regel mar­kierte eine kleine Mauer die Grenze zwischen
profanem Leben und dem Temenos, dem Kultareal.
Zentrum des religiösen Geschehens war oft irgendein naturbelassener »heiliger« Gegenstand wie ein
Baum, ein Stein oder eine Quelle, manchmal auch ein
»uraltes« Kult­bild oder ein Altar. Hierauf bezogen
sich die Riten, also Gebete, Pro­zessionen oder Opfer.
Ein Tempel dagegen war kein notwendiger Bestandteil für die Kultausübung in einem Heiligtum, und
so man­cher Tempel besass überhaupt keinen Kult,
war demzufolge auch kein Kultbau, sondern eher ein
überdimensioniertes Weihgeschenk oder schlicht ein
dekorativer Prunkbau.
Vor allem der dorische RinghaIIentempeI, später
in Gestalt des Zeustempels von Olympia und des
Parthenon auf der Athener Akro­polis ein Inbegriff
griechischer Kultur schlechthin, verdankt der ausserordentlichen Bautätigkeit in den sizilischen Koloniestädten wesentliche Impulse seiner Entwicklung. Der
dorische Ringhallen­tempel stellt sich im Prinzip als
ein sehr einfaches Gebilde dar: Auf einem abgestuften
Podest (Krepis) erhebt sich ein Kernbau (Cella), der
von einem Kranz aus kannelielien und mit Kapitellen
versehe­nen Säulen (Peristasis) umstanden ist. Auf den
Kapitellen, bestehend aus einem Polster (Echinus)
und einer Deckplatte (Abakus), lagert ein Gebälk aus
Architrav, dem Fries mit Metopen und Triglyphen
und darüber dem Geison. Ein Giebeldach überspannt
mittels einer Holz­konstruktion sowohl den Säulenkranz als auch die Cella und verleiht dem ganzen Bau
ein homogenes, hausartiges Aussehen. Eine Treppe,
meist an der östlichen Schmalseite gelegen, führt zum
Eingang des ,Gebäudes.
Wann und wo diese Form des dorischen Tempels
entstand, ist unklar. Fest steht jedoch, dass die ersten
Bauten dieser Art aus Holz bestanden und erst später
in Stein umgesetzt wurden. Deutlich sicht­bar ist der
Übergang von einer Holz- zur Steinkonstruktion am
älte­.sten erhaltenen dorischen Tempel, dem Heratempel in Olympia: Hier wurden die alten Holzsäulen
nach und nach durch Stein säulen ersetzt, was dem
Bau ein sehr unregelmässiges, heterogenes Aussehen
verlieh. An vielen Stellen der Steinbauten erkennt man
noch die Her­kunft vom Holzbau: Metopen als »Leerräume« und Triglyphen als »Querbalkenlager«, vor
allem aber die »Nägel« und »Dübel« (Guttae) am
43
Geison mit den Traufplatten und der Regula unterhalb der Trigly­phen sind im Steinbau ein Anachronismus, ein funktionsloser, nur noch zitathafter Verweis
auf die alten Holzkonstruktionen.
Alle Tempel Siziliens, sowohl die archaischen wie auch
diejenigen aus klassischer Zeit, sind aus grobem Muschelkalk gebaut, der jeweils in unmittelbarer Nähe
der Koloniestädte gebrochen wurde. Antike Steinbrüche kann der Reisende noch heute in der Nähe von Selinunt oder bei Syrakus besuchen. Dieser Muschelkalk
wurde später mit einer Stuckschicht versehen, die Teilen des Baus ein marmorartiges Aussehen verlieh. Bestimmte Bauglieder wie z. B. Kapitelle und Tri­glyphen
wurden farbig gefasst, so dass die Tempel nicht nur
weiss im Licht der Sonne glänzten, sondern ein für das
heutige Auge ungewohntes Bild greller Buntheit boten. Oft hat man, besonders in archaischer Zeit, diese
Farbigkeit durch bemalte Terrakottaverklei­dungen in
der Gebälk- und Giebelzone noch gesteigert.
Die über 30 grossen dorischen Ringhallentempel,
die auf Sizilien im 6. und 5. Jh. v. Chr. entstanden,
ermöglichen einen Nachvollzug der Form- und Proportionsentwicklung dieses Bautyps, wie dies selbst
in Griechenland so nicht möglich ist. Zentren des
archaischen Tempelbaus des 6. Jh. v. Chr. auf Sizilien
waren in erster Linie Seli­nunt und Syrakus. Als um
570 v. Chr. in Syrakus mit dem Bau des Apollontempels (s. S. 128) und, etwa 10 Jahre später, mit dem
des Olympischen Zeus (s. S. 146) begonnen wurde,
gehörte man zu den Pionieren des dorischen Tempelbaus; vergleichbare Projekte entstan­den zu dieser Zeit
lediglich auf Korfu, in Olympia und Athen.
Vergleicht man sizilische Heiligtümer mit den grossen Anlagen des griechischen Mutterlandes, so fallen
deutliche Unterschiede auf. Die Heiligtümer von
Delphi, Olympia, Isthmia und Nemea besassen mit
ihren Wettspielen und Orakeln überregionale Bedeutung. Sie waren Zentren der ganzen griechischen
Welt. Hier wurden Kontakte zwi­schen den Stadtstaaten und nach auswärts geknüpft, hier trafen sich
diplomatische Gesandtschaften, dies waren die Orte,
wo Adelssip­pen, Tyrannen und ganze Bürgerschaften
zu Repräsentatioszwecken aufwendige Weihgeschenken stifteten und dabei sicher sein konnten, dass dieses Tun von der Welt auch gebührend zur Kenntnis
genom­men wurde. Die sizilischen Heiligtümer hatten
dagegen allenfalls lokale Bedeutung, und wenn ein
Aristokrat oder Tyrann aus Selinunt oder Syrakus in
der griechischen Welt von sich reden machen wollte,
so musste er das in Griechenland selbst erreichen.
Noch ein zweiter Unterschied ist von Bedeutung.
Nicht nur die grossen griechischen Heiligtümer, sondern auch kleinere Lokalheilig­tümer in Griechenland
wie etwa die Athener Akropolis wiesen eine lange
Tradition auf, waren über lange Ketten von Legenden »bruch­los« mit der griechischen Mythologie
verzahnt worden. Heilige Kult­male, oft als Relikte des
Wirkens der Götter gedeutet, uralte »vom Himmel
44
gefallene« Kultbilder, aber auch die Überreste eines
jahrhun­dertelangen Kultbetriebs bezeugten diese Tradition, die den Heilig­tümern überhaupt erst Bedeutung verlieh.
Die sizilischen Anlagen waren demgegenüber traditionslose Neu­schöpfungen, die schon deshalb niemals
eine Gleichwertigkeit mit den mutterländischen Heiligtümern erreichen konnten. So fehlt den Bauten in
diesen neuen Heiligtümern denn auch durchweg die
Bezugnahme auf alte kultische Zentren. Sie wirkten
vielmehr wie eine Ansammlung von architektonischen Versatzstücken, manchmal fast wie Konstrukte zur Kaschierung dieser Traditionslosigkeit. Die
Tempel und Altäre waren weniger vom »Geist alter
Religion« durch­zogen als vielmehr demonstrative,
oft übersteigerte Zeichen für die Präsenz der griechischen Kultur in den neuerschlossenen Gebieten.
Wenn auch in bescheidenerem Masse, so waren die
sizilischen Hei­ligtümer doch ebenfalls Orte der Repräsentation. Zahlreiche Weih­geschenke wurden von
den wohlhabenden Adligen und auch von weniger
begüterten Bürgern hier aufgestellt. Die allermeisten
dieser Weihgeschenke, besonders aber die Statuen, die
sich einst in grosser Zahl in den Heiligtümern befunden haben müssen, sind heute ver­schollen: Sie wurden
schon kurz nach der römischen Eroberung Sizi­liens
im 3. Jh. v. Chr. geraubt und nach Italien verbracht,
wo sie fortan öffentliche Plätze und die Landvillen der
römischen Oberschicht schmückten.
In grösserer Zahl fanden sich bei Ausgrabungen in den
Heilig­tümern Keramikgefässe und fein gearbeitetes Bronzegerät, meist Gefässe, Statuetten und Spiegel. Gegenstände dieser Art dienten nicht nur als Weihgeschenke,
sondern auch als Grabbeigaben. Als Grab­statuen wie auch
als Weihgeschenke wurden die beiden Statuentypen verwendet, die im 6. Jh. v. Chr. die Prototypen der aristokratischen Selbstdarstellung bildeten: der Kouros als nacktes
Abbild des »idea­len« jungen Mannes, der tatkräftig zu
Sport, Jagd und Krieg bereit ist, und die Kore als Sinnbild
der reich gekleideten jungen Aristokratin, die Prunkstück
und Augenstern der Männerwelt war.
Aus Megara Hyblaea stammt der Torso eines um die
Mitte des Jh. v. Chr. entstandenen Kouros (Archäologisches Museum von Syrakus). Frontal ausgebildet
und statisch in sich ruhend, beide Arme eng an den
Körper gelegt, zeigt diese Statue aus griechischem
Mar­mor den Kourostypus, wie er in ähnlicher Form
hundertfach aus Hei­ligtümern Griechenlands bekannt
ist. Eine Inschrift auf dem rechten Bein verleiht dem
Chiffrenhaften, typengebundenen Bildnis den Bezug
auf ein Individuum: Der Arzt Sombrotidas, Sohn des
Mandro­kIes, hat sich mit diesem Weihgeschenk ein
Denkmal gesetzt. Eben­falls den Kourostypus stellt
der berühmte »Torso von Grammichele« (Archäologisches Museum von Syrakus) dar, möglicherweise ein
Importstück von den Ägäischen Inseln.
Von erheblicher Bedeutung war nicht nur in der archaischen Zeit, ‚sondern auch in späteren Jahrhun-
derten die sizilische Terrakotta­kunst. Grosse Mengen
von Tonstatuetten wurden auf Sizilien regel­recht industriell hergestellt. Dafür produzierte man mehrfach
wieder­verwendbare Matrizen, die dann mit Tonmasse
gefüllt wurden; die so entstandenen Figuren wurden
anschliessend gebrannt. Eine »Fabrik« für solche
Erzeugnisse wurde in Agrigent gefunden, und zahlreiche weitere Fertigungsstätten müssen auf Sizilien
existiert haben.
Neben der billigen, in Serien hergestellten Massenware finden sich aber auch grössere, kunstvoll gearbeitete Tonskulpturen wie beispiels­weise die thronende
Göttin aus Grammichele (um 500 v. Chr., Archäologisches Museum von Syrakus). Besonders aufwendig
und damals weltberühmt waren die bunt bemalten
sizilischen Architek­turterrakotten und die tönernen
Dachelemente; eindrucksvolle Bei­spiele sind die
Tongebälke des Schatzhauses, das die Stadt Gela zu
Beginn des 6. Jh. v. Chr. nach Olympia stiftete (Olympia, Museum), sowie das Gorgorelief aus Syrakus (um
560 v. Chr., Archäologisches Museum von Syrakus; s.
Abb. S. 19).
Die Klassik
Nach dem Sieg über die Karthager bei Himera 480
v. Chr. wuchs der Reichtum der Städte durch die gewaltige Kriegsbeute beinahe ins Unermessliche und
wurde nun bald im ganzen griechischen Kultur­raum
sprichwörtlich. Luxusgüter aller Herren Länder waren hier gegenwärtig und ermöglichten einen Lebensstandard, auf den selbst die Athener - in der Ära des
Perildes Bewohner der mächtigsten grie­chischen Polis
- mit einigem Neid blickten.
Das Glück dauerte jedoch nur kurze Zeit. Streitigkeiten zwischen den sizilischen Städten waren im 5. Jh.
v. Chr. an der Tagesordnung, doch als im Zuge eines
solchen Konfliktes die Segestaner sich an die »Supermacht« Athen mit der Bitte um Hilfe wandten,
geriet die Situa­tion ausser Kontrolle. Athen, das von
431-421 v. Chr. in der ersten Phase des Peloponnesischen Krieges gegen Sparta trotz grösster Anstrengungen sieglos geblieben war, nutzte diesen Hilferuf,
um mili­tärische Stärke zu demonstrieren. Der Historiker Thukydides wies jedoch noch auf einen anderen
Grund für Athens Engagement hin: »Der wahrste
Grund war gewiss (Athens) Wunsch, das ganze Sizilien zu unterwerfen« (Thukydides VI 6).
Der Hauptgegner Athens auf Sizilien war Syrakus, das
im Pelo­ponnesischen Krieg bislang seine Mutterstadt
Korinth massiv unter­stützt hatte. Korinth wiederum
war der mächtigste Verbündete Spar­tas, und so sahen
die Athener nun eine Möglichkeit, den Krieg wie­der
aufzunehmen und das verhasste Sparta gewissermassen durch eine Art Flankenangriff empfindlich zu
schwächen. 415 v. Chr. sandte Athen ein grosses Flottenkontingent unter Führung des Alkibiades nach
Sizilien. Doch diese Sizilische Expedition endete im
vollstän­digen Desaster. Nach fast zweijähriger Belagerung von Syrakus wur­den die Athener, die seit 414 v.
Chr. auch in Griechenland wieder Krieg gegen Sparta
führten, vernichtend geschlagen; kaum ein Soldat gelangte zurück nach Athen.
Der Krieg gegen Athen hatte die sizilischen Stadtstaaten trotz des glanzvollen Sieges über Athen jedoch
nicht nur militärisch geschwächt, sondern auch politisch tief gespalten in Anhänger Athens, Anhänger
von Syrakus und neutrale Städte. In dieser insta­bilen
Situation führten nun die Karthager einen Grossangriff, dem die sizilischen Stadtstaaten unvorbereitet
und machtlos gegenüberstan­den. Selinunt und Himera wurden dem Erdboden gleichgemacht (409 v.
Chr.), Aluagas belagert, eingenommen und geplündert (406 v. Chr.). Auch Syrakus wurde belagert. Als
es 404 v. Chr. zu einem Frieden zwischen Syrakus und
den Karthagern kam, hatte sich die Lage auf Sizilien
grundlegend verändert. Viele Städte waren zer­stört,
andere von ihren Bewohnern verlassen. Der Glanz‘
und der Reichtum vieler Koloniestädte war mit einem
Schlag vergangen, allein Syrakus war in den Kriegswirren halbwegs unbeschadet geblie­ben.
Ein weiterer Unruhefaktor auf Sizilien war auch der
sog. Aufstand des Duketios, der die Städte zwischen
466 und 446 v. Chr. erschüt­terte. Die historischen
Fakten sind von antiken Schriftstellern zwar fast bis
zur Unkenntlichkeit verklärt worden, dennoch aber
steht fest, dass dies ein breit angelegter Aufstand der
einheimischen Urbevölke­rung gegen die Griechen
war, nachdem diese begonnen hatten, auch das gesamte Inselinnere in Beschlag zu nehmen. Ziel des
Aufstands war offenbar die Gründung eines eigenen
Staates, in dem Sikuler und Sikaner gefahrlos und unbelästigt von den Griechen ihren eigenen Interessen
nachgehen konnten. In mühevollen und für die Griechen verlustreichen Kriegen konnte dieser Aufstand
schliesslich nach 20 Jahren niedergeworfen werden.
Trotz der geschilderten Ereignisse war das 5. Jh. v.
Chr. die grösste Blütezeit der sizilischen Stadtstaaten,
eine Zeit, die aber auch durch tiefgreifende Veränderungen in den Städten selbst geprägt war. Fast überall
wurden die Tyrannen, die bis ins frühe 5. Jh. v. Chr.
hinein die Städte regierten, vertrieben und Demokratien ins Leben gerufen. Ähnlich wie in Athen, der
»Mutterstadt« der griechischen Demokra­tie, lenkten nun nicht mehr einzelne Personen, sondern die
Gruppe der Vollbürger die Geschicke der Polis. Zwar
bildete diese Gruppe nur eine kleine Minderheit in
den Städten, denn Sklaven, Frauen und Metöken, die
zahlreichen freien Fremden ohne Bürgerrecht, waren
von der Volksversammlung, dem obersten Beschlussorgan in der Demokratie, ausgeschlossen (und insofern hat dies auch wenig zu tun mit unserem heutigen
Demokratiebegriff ). Dennoch bewirkten diese Demokratien einen vorher nicht gekannten Pluralismus
in der Meinungs- und Beschlussfassung und zwangen
die Bürgerschaften immer wieder von neuem zu Kon45
sens und Übereinkunft im Konflikt widerstreitender
Interessen.
Das Leben in einem demokratisch ausgerichteten
Stadtstaat spielte sich weitgehend in der Öffentlichkeit ab. Zentrum der Stadt war die Agora, der zumeist
von Säulenhallen gerahmte Marktplatz. Hier tra­fen
sich die Männer in Gruppen zu Gespräch und politischer Debatte und erledigten zudem die täglichen
Einkäufe, denn auf der Agora betrieben die Händler
ihre Marktstände. Zugleich bildete die Agora den politischen Mittelpunkt jeder Stadt. Hier standen die
wichtigsten öffentlichen Gebäude, hier residierten die
Verwaltungs- und Auf­sichtsbehörden der Polis. Besonders in der Phase der Demokratie im 5. Jh. v. Chr.
war die Agora der zentrale Ort für die öffentlichen
Belange und wurde dementsprechend mit zahlreichen neuen Bauten ausgestaltet. Solche Platzanlagen
sind auf Sizilien heute noch beson­ders gut sichtbar in
Megara Hyblaea, Eloro, Morgantina und Syrakus.
Neben den Tempeln und Platzanlagen blieben vor
allem die Thea­ter auf Sizilien in grosser Zahl als eindrucksvolle Ruinen erhalten. Ob in Syrakus, Morgantina und Herakleia Minoa oder in Eloro, Catania,
Akrai, Segesta und Solus - in fast jeder Stadt finden
sich mehr oder weniger gut erhaltene Reste griechischer Theater, die aus einem halb­runden, abgestuften,
in einen Hang hineingebauten Zuschauerraum, einer
Bühne und einem dahinterliegenden Bühnengebäude
bestehen. Die meisten dieser Bauten stammen in ihrer
heutigen Form aus dem 4. und 3. Jh. v. Chr., gehen
jedoch oft auf Anlagen aus dem 5. Jh. v. Chr. zurück,
die zunächst als unspektakuläre Holz- oder Erdkon­
struktionen ausgeführt waren und erst später in aufwendiger Stein­bauweise renoviert wurden.
Ursprünglicher Zweck dieser Bauwerke waren erst in
zweiter Linie die Aufführungen von Tragödien und
Komödien. Ihre Hauptfunktion bestand vielmehr
darin, dass in ihnen die Volksversammlung tagte. Die
Versammlung der stimmberechtigten Vollbürger, das
oberste Beschlussgremium der demokratischen Polis,
trat regelmässig zusam­men, debattierte und entschied
über alle anstehenden politischen Probleme, beschloss
neue Bauvorhaben der Stadt und wählte Beamte und
Ausschüsse.
Wie alle öffentlichen. Bauprojekte sind auch die dorischen Ringhal­lentempel, die auf Sizilien im 5. Jh.
v. Chr. entstanden, vor Baubeginn Gegenstand der
Debatte in den jeweiligen Volksversammlungen gewesen. Nicht mehr die Tyrannen, sondern eben die
Bürgerschaften der Polis mit ihren durchaus nicht
einheitlichen Interessen gaben diese Bauten nunmehr
in Auftrag. Aus Athen weiss man, dass neue Bauprojekte wie etwa der Parthenon auf der Akropolis heiss
umstrit­ten waren, dass sie bis in Details hinein von
der Volksversammlung diskutiert und verändert wurden, und dass dabei die Architekten kei­neswegs freie
Hand hatten, so zu bauen, wie sie es für richtig hielten,
sondern einer strengen Kontrolle durch die Gremien
46
unterlagen .
In Olympia war um 460 v. Chr. mit dem Zeustempel
der bis dahin modernste dorische Tempel entstanden,
ein Bauwerk, das auch spä­ter noch als beispielhaftes
Vorbild des klassischen Tempels schlecht­hin gelten
sollte. Sowohl im Grund- als auch im Aufriss war dieser . Bau homogen und ausgewogen proportioniert.
Die 6 x 13 Säulen wahrten ringsum den gleichen Abstand, nur an den Ecken waren die Joche, um einen
regelmässigen Friesablauf zu gewährleisten, kräftig
kontrahiert (einfache Eckkontraktion). Im Innern der
Cella erhob sich das gewaltige, aus Gold und Elfenbein bestehende Zeusbildnis, eines der sieben Weltwunder. Über Pronaos und Opisthodom waren je
sechs Reliefmetopen angebracht, die die zwölf Taten
des Herakles zeigten.
Etwa zur gleichen Zeit begannen die Selinuntiner
mit dem Bau ihres Tempels E, des dritten und letzten
Bauwerks der »östlichen Tempelgruppe«. Der stark
zerstörte Bau - er wurde in den späten fünfziger Jahren des 20. Jh. teilweise wiederaufgerichtet ­kopiert
sehr weitgehend den Zeustempel von Olympia und
zeigt, wie man nun begann, sich an mutterländischen
Bauformen zu orientie­ren. So entspricht die kräftige,
einfache Eckkontraktion dem Zeus­tempel ebenso wie
der Säulenaufriss, die straffen Kapitelle und die Cella mit Pronaos und Opisthodom (an Stelle des im 6.
Jh. v. Chr. auf Sizilien üblichen Adytons). Und wie in
Olympia, so befanden sich auch am Tempel E je sechs
mit Szenen aus der Götterwelt skulptierte Metopen
über Pronaos und Opisthodom.
Einen bemerkenswerten Sonderfall in der Geschichte des klassi­schen dorischen Tempelbaus auf Sizilien
bilden die sechs Ringhallen­tempel, die zwischen 470
und 406 v. Chr. in Aluagas entstanden. Allesamt in
bescheidener Grösse konzipiert, weisen der Tempel
E . (unter der Kirche S. Maria dei Greci gelegen), der
Juno Lacinia-Tem­pel, der Concordiatempel, der Tempel L, der Dioskurentempel und der Vulcantempel als
gemeinsames Merkmal eine Ringhalle mit 6 x 13 Säulen auf. Dieses Säulenverhältnis, das in Griechenland
an klassischen Tempeln die Regel ist, findet sich - von
ganz wenigen Ausnahmen abgesehen - in Westgriechenland allein an diesen sechs Bauten, während sonst
ein Säulenverhältnis von 6 x 14 oder 6 x 15 in dieser
Region üblich ist.
Die sechs Tempel von Agrigent bilden als Gruppe
gewissermassen einen Katalog zeitgenössischer »Designmöglichkeiten« im Tempelbau. Obwohl in Aufund Grundrissproportionen einander sehr ähnlich,
unterscheiden sich ihre Baukonzepte doch deutlich
voneinander:
Die einfache Eckkontraktion (Tempel E, Vulcantempel und Diosku­rentempel) begegnet hier ebenso wie
die doppelte Eckkontraktion (Concordiatempel), sogar eine Kombination aus doppelter Eckkon­traktion
an den Langseiten und einfacher Eckkontraktion an
den Frontseiten wurde hier erprobt (Tempel L), und
schliesslich findet sich ein altertümliches Baukonzept,
bei dem beide Frontseiten unter­schiedlich gestaltet
wurden ( Juno Lacinia-Tempel). Zahlreiche Varia­
tionen in Details der Grund- und Aufrisse erhärten
die Vermutung,
gewesen. Nicht mehr die Tyrannen, sondern eben die
Bürgerschaften der Polis mit ihren durchaus nicht
einheitlichen Interessen gaben diese Bauten nunmehr
in Auftrag. Aus Athen weiss man, dass neue Bauprojekte wie etwa der Parthenon auf der Akropolis heiss
umstrit­ten waren, dass sie bis in Details hinein von
der Volksversammlung diskutiert und verändert wurden, und dass dabei die Architekten kei­neswegs freie
Hand hatten, so zu bauen, wie sie es für richtig hielten,
sondern einer strengen Kontrolle durch die Gremien
unterlagen .
. In Olympia war um 460 v. Chr. mit dem Zeustempel
der bis dahin modernste dorische Tempel entstanden,
ein Bauwerk, das auch spä­ter noch als beispielhaftes
Vorbild des klassischen Tempels schlecht­hin gelten
sollte. Sowohl im Grund- als auch im Aufriss war dieser . Bau homogen und ausgewogen proportioniert.
Die 6 x 13 Säulen wahrten ringsum den gleichen Abstand, nur an den Ecken waren die Joche, um einen
regelmässigen Friesablauf zu gewährleisten, kräftig
kontrahiert (einfache Eckkontraktion). Im Innern der
Cella erhob sich das gewaltige, aus Gold und Elfenbein bestehende Zeusbildnis, eines der sieben Weltwunder. Über Pronaos und Opisthodom waren je
sechs Reliefmetopen angebracht, die die zwölf Taten
des Herakles zeigten.
Etwa zur gleichen Zeit begannen die Selinuntiner
mit dem Bau ihres Tempels E, des dritten und letzten
Bauwerks der »östlichen Tempelgruppe«. Der stark
zerstörte Bau - er wurde in den späten fünfziger Jahren des 20. Jh. teilweise wiederaufgerichtet ­kopiert
sehr weitgehend den Zeustempel von Olympia und
zeigt, wie man nun begann, sich an mutterländischen
Bauformen zu orientie­ren. So entspricht die kräftige,
einfache Eckkontraktion dem Zeus­tempel ebenso wie
der Säulenaufriss, die straffen Kapitelle und die Cella mit Pronaos und Opisthodom (an Stelle des im 6.
Jh. v. Chr. auf Sizilien üblichen Adytons). Und wie in
Olympia, so befanden sich auch am Tempel E je sechs
mit Szenen aus der Götterwelt skulptierte Metopen
über Pronaos und Opisthodom.
Einen bemerkenswerten Sonderfall in der Geschichte des klassi­schen dorischen Tempelbaus auf Sizilien
bilden die sechs Ringhallen­tempel, die zwischen 470
und 406 v. Chr. in Aluagas entstanden. Allesamt in
bescheidener Grösse konzipiert, weisen der Tempel
E . (unter der Kirche S. Maria dei Greci gelegen), der
Juno Lacinia-Tem­pel, der Concordiatempel, der Tempel L, der Dioskurentempel und der Vulcantempel als
gemeinsames Merkmal eine Ringhalle mit 6 x 13 Säulen auf. Dieses Säulenverhältnis, das in Griechenland
an klassischen Tempeln die Regel ist, findet sich - von
ganz wenigen Ausnahmen abgesehen - in Westgrie-
chenland allein an diesen sechs Bauten, während sonst
ein Säulenverhältnis von 6 x 14 oder 6 x 15 in dieser
Region üblich ist.
Die sechs Tempel von Agrigent bilden als Gruppe
gewissermassen einen Katalog zeitgenössischer »Designmöglichkeiten« im Tempelbau. Obwohl in Aufund Grundrissproportionen einander sehr ähnlich,
unterscheiden sich ihre Baukonzepte doch deutlich
voneinander:
Die einfache Eckkontraktion (Tempel E, Vulcantempel und Diosku­rentempel) begegnet hier ebenso wie
die doppelte Eckkontraktion (Concordiatempel), sogar eine Kombination aus doppelter Eckkon­traktion
an den Langseiten und einfacher Eckkontraktion an
den Frontseiten wurde hier erprobt (Tempel L), und
schliesslich findet sich ein altertümliches Baukonzept,
bei dem beide Frontseiten unter­schiedlich gestaltet
wurden ( Juno Lacinia-Tempel). Zahlreiche Varia­
tionen in Details der Grund- und Aufrisse erhärten
die Vermutung, dass die selbstbewussten Agrigenter
Bürger mit diesen Tempeln ihre Fähigkeit demonstriert haben, alle Finessen des dorischen Tempel­baus
zu beherrschen. Wie auf einer Perlenkette aufgereiht
standen die Tempel, deutlich auf Fernwirkung ausgerichtet, unmittelbar neben der Stadtmauer auf hochgelegenem Gelände. Der Concordiatempel ist einer
der besterhaltenen griechischen Tempel überhaupt.
Er ver­dankt dies dem Umstand, dass er sehr früh,
vermutlich schon im 6. Jh., in eine christliche Kirche
umgewandelt wurde und so der Zer­störung durch
Steinräuber entging.
Der letzte dorische Ringhallentempel Siziliens entstand um 424 v. Chr. im elymischen Segesta. Was
heute noch aufrecht steht, ist allein eine offene Ringhalle ohne Dach mit 6 x 14 Säulen und dop­pelter
Eckkontraktion, dem über den Säulen liegenden Gebälk (Architrav, Fries und Geison) sowie zwei fertigen
Giebeln an den Frontseiten. Zahlreiche Details wie
etwa die nicht abgearbeiteten Hebebossen an den
Stylobatquadern und die nur ganz unten im Ansatz
bearbeiteten, ansonsten unkannelierten Säulenschäfte zeigen, dass dieser Bau unfertig blieb. Seit Goethes
Beschreibung des Bau­werks hat diese Unfertigkeit immer wieder zu Spekulationen über die fremdartigen
Bräuche der Elymer Anlass gegeben, war man doch
lange Zeit der Meinung, dieses so fragmentarisch erscheinende Gebäude sei in dieser Form vollendet und
seine ungewöhnliche Gestalt ein Resultat eines besonderen, nichtgriechischen Kultver­ständnisses. Dies
ist jedoch ein Irrtum, erwachsen nicht nur aus dem
Grad der Unfertigkeit des Bauwerks, sondern zudem
bestärkt durch den lange Zeit unbemerkt gebliebenen
Sachverhalt, dass der Bau zu späteren Zeiten beraubt
wurde: Fast jeder Stein, den man entfernen konnte,
ohne die Statik des Ganzen zu beeinträchtigen, wurde
her­ausgebrochen und für neue Bauten verwendet.
Der Tempel von Segesta sollte allem Anschein nach
ein völlig nor­maler dorischer Tempel werden, musste
47
jedoch, vielleicht in Folge der kriegerischen Ereignisse auf Sizilien am Ende des 5. Jh. v. Chr., unfer­tig
liegengelassen werden. Der Bau sollte wohl nicht nur
ein Dach, sondern auch eine Cella erhalten. Fundamentreste dieses Kernbaus, dessen Mauern ebenso wie
zahlreiche Stylobatquader später entfernt wurden, haben sich bei Ausgrabungen im Tempelinnern gefunden. Bemerkenswert ist, dass man offenbar zunächst
die Ringhalle und erst danach die Cella errichtet hat,
ein eigentlich eher unpraktisches Ver­fahren, da alle
Bauglieder für die Cella durch den Säulenkranz hin­
durch transportiert werden mussten.
Besonders die klassischen Tempel in Griechenland
zeigen häufig sog. Verfeinerungen in ihrer Baustruktur. Ein Meisterwerk in dieser Hinsicht stellt der Parthenon auf der Athener Akropolis dar. Die Säu­len verjüngen sich nicht linear gleichmässig von unten nach
oben, sondern sind im Umriss leicht flaschenhalsförmig geschwungen (En­tasis); Säulen und Cellawände
stehen nicht exakt lotrecht, sondern leicht zum Mittelpunkt des Gebäudes hin geneigt (Inklination); der
Stylobat ist keine ebene, waagerechte Fläche, sondern
wie ein riesi­ger Ausschnitt aus einer Kugel gewölbt
(Kurvatur). Die sizilischen Tempel weisen, abgesehen
von der Entasis, solche Verfeinerungen in der Regel
nicht auf.
Eine Ausnahme bildet hier allein der Tempel von
Segesta, der einen beidseitig kurvierten Stylobat besitzt und aufgrund seiner Unfertigkeit zeigt, wie diese
Kurvatur einst angefertigt wurde: Zunächst verlegte
man den Stylobat waagerecht, dann wurden an Langund Schmalseiten leicht nach unten durchhängende
Schnüre gespannt und die so entstandene »negative«
Kurve nach obenhin mit Messpunkten übertragen.
Schliesslich meisselte man den Stylobat ent­sprechend
der übertragenen Kurve zurecht. Im Ergebnis ist der
Sty­lobat des Tempels von Segesta am Mittelpunkt der
Langseiten um 8,5 ‚cm, am Mittelpunkt der Schmalseiten um 4,5 cm höher als an den Ecken. Diese Kurvatur lässt sich heute noch mit blossem Auge gut ‚erkennen.
Prunk, Luxus und Reichtum der sizilischen Koloniestädte wurden im 5. Jh. v. Chr. besonders auch
durch die Münzprägung aller Welt demonstriert.
Diese Münzen fanden im gesamten griechischen Kul­
turraum und auch darüber hinaus Verbreitung und
konnten selbst Händlern in entlegenen Gebieten
noch einen nachhaltigen Eindruck vom Wohlergehen dieser Städte vermitteln. Die Münzen aus massi­
vem Silber schmückten auf beiden Seiten überaus
fein gearbeitete wappenartige Bilder. Regelrechte
Markenzeichen waren das Vierge­spann und der von
Fischen umschwommene Arethusakopf auf den Münzen von Syrakus, der stierköpfige Flussgott auf denen
von Gela, Krabbe und Adler auf den Münzen von Alcragas sowie der opfernde Gott auf den Selinuntiner
Geldstücken. Zusätzlich machte eine Inschrift dem
Unkundigen klar, aus welcher Stadt das Geld stamm48
te. Oft wurden die Münzen auch mit der Signatur des
Stempelschneiders versehen.
Spätklassik und Hellenismus
In den knapp 150 Jahren zwischen dem Zusammenbruch vieler Grie­chenstädte nach dem grossen Karthagerkrieg am Ende des 5. Jh. v. Chr. und dem ersten
Eingreifen der Römer bestimmte Syrakus im· wesentlichen die Ereignisse auf Sizilien. Während rings um
Syrakus herum Zeichen des Verfalls und des Niedergangs das Bild prägten ­viele sizilische Städte waren
zerstört oder von ihren Bewohnern ver­lassen worden
-, erlebte die Stadt in dieser Zeit ihre höchste Blüte.
In Syrakus entstand erneut eine Tyrannis, diesmal
nun tatsächlich in Form einer auf das Militär gestützten Despotie. Dionysios 1., nicht erst seit Schillers»
Bürgschaft« der Inbegriff des finsteren, arglistigen
Wüterichs, regierte seit einem Umsturz 405 v. Chr. die
Stadt mit har­ter Hand. Er schloss zunächst mit den
Karthagern Frieden, um sie dann jedoch in einer Serie
von Kriegen wieder auf den Westteil der Insel zurückzudrängen. Fortan war Syrakus die Hegemonialmacht
auf Sizilien.
Nach dem Tod des Dionysios kam es auf ganz Sizilien,
besonders aber in Syrakus zu verheerenden Bürgerkriegen, die das Land verwü­steten und ganze Städte
entvölkerten. Auf einen Hilferuf aus Syrakus hin
sandte Korinth 344 v. Chr. eine Armee unter Führung
des Timo­leon nach Sizilien, um dort ein geregeltes
Leben wiederherzustellen. Die mühsam wiederhergestellten Verhältnisse waren jedoch nicht von Dauer.
Nach Timoleons Tod 337 v. Chr. kam es erneut zu
Bür­gerkriegen und Revolten, bis Agathokles, der sich
schon unter Timo­·leon als Feldherr einen Namen gemacht hatte, 316 v. Chr. nach lan­gen Kämpfen einen
blutigen Staatsstreich durchführte und ein bruta­les
Militärregime in Syrakus errichtete. Seine Versuche,
sich zum Herrscher über die gesamten griechisch
beeinflussten Gebiete auf ‚Sizilien und Süditalien zu
machen, blieben allerdings erfolglos, und so versank
die Region nach seinem Tod 289 v. Chr. erneut in
Anar­chie.
Im Gegensatz zu den übrigen Städten Siziliens blieb
Syrakus in all diesen Wirren eine reiche, mächtige
Stadt, in der eine rege Bautätig­keit herrschte. Neue
Stadtteile wurden angelegt und mit grosszügig geschnittenen Wohnhäusern bebaut, die Häfen instandgesetzt und erweitert, Stadtmauern repariert und vergrössert, die Wasserversor­g ung verbessert. Doch das
ganze übrige Sizilien und damit letztlich auch Syrakus
gerieten zusehends ins weltgeschichtliche Abseits.
Mit dem Entstehen des Alexanderreichs am Ende
des 4. Jh. v. Chr., erst recht aber nach dessen Zerfall
in mehrere grosse Flächenstaaten, hatte nicht nur
die griechische Polisgesellschaft ihre Bedeutung ein­
gebüsst, sondern war auch der Mittelpunkt der griechischen Welt wei­ter nach Osten gerückt, Griechen-
land selbst an die Peripherie gedrängt worden. Sizilien
lag ausserhalb dieser Entwicklung, war nicht Bestandteil der hellenistischen Staatenwelt. Mochte Syrakus
auch eine reiche und bedeutende Grossstadt sein, mit
den Metropo­len des makedonischen, ptolemäischen
oder seleukidischen Reichs konnte man nicht konkurrieren. Waren bis um die Mitte des 4. Jh. v. Chr. die
einheimischen Kulturen auf Sizilien und in Süditalien
fast bis zur Unkenntlichkeit griechisch »beeinflusst«
worden, so kehrte ‚sich dieses Verhältnis nun langsam
um. Besonders in Süditalien kam es zu einer Renaissance der einheimischen Kulturen. Ein markantes
Beispiel für diese Entwicklung bietet die sog. unteritalische Vasenma­lerei mit ihren Zentren in Kampanien,
Lukanien, Apulien und auf Sizilien. Chronologisch in
der Nachfolge der vielgerühmten attischen Vasenmalerei stehend, wurden hier vorzugsweise aufwendige
Prunk­gefässe hergestellt, deren Formen, Farbgebungen und Dekorations­motive eine erhebliche Eigenständigkeit und immer weniger Verbin­dungen zur
»reinen« griechischen Kunst dieser Zeit aufwiesen,
aller­dings viele Parallelen in den einheimischen Kulturkreisen haben.
Sizilien und das Römische Reich
Die andauernden Kriege und kleineren Konflikte
zwischen den hel­lenistischen Staaten machten es
Rom - das sich zunächst auf dem italienischen Festland etabliert hatte, aber bald schon eine ausgeprägte
Expansionspolitik betrieb - leicht, im östlichen Mittelmeerraum Fuss zu fassen. Als der letzte pergamenische Herrscher 133 v. Chr. sein Reich den Römern
vererbte, war ein wichtiger Grundstein für das ent­
stehende Imperium Romanum gelegt. Sizilien, gewissermassen vor der Haustür gelegen, hatte allerdings
schon über 100 Jahre zuvor Bekanntschaft mit den
Römern gemacht.
Träger des römischen Imperialismus war die Kriegsflotte, die allein in der karthagischen Flotte einen
gleichwertigen Gegner im Mittel­meer fürchten musste. Wichtige Stützpunkte der Karthager lagen auf
Sizilien, und so rückte die Insel während des Ersten
Punischen Krie­ges (264-241 v. Chr.) in den Mittelpunkt des Geschehens. Nach hef­tigen, verlustreichen
Kämpfen zu Wasser und zu Lande kam es zu einem
Friedensschluss zwischen Römern und Karthagern,
dessen wichtigstes Ergebnis der Rückzug der Karthager aus Sizilien war.
In der Folge dieser Ereignisse wurde Sizilien zur ersten Provinz des Römischen Reiches. Die römische
Macht erstreckte sich jedoch nicht über ganz Sizilien.
Den Ostteil der Insel beanspruchte das Königreich
Hierons H., dessen Zentrum Syrakus war. Hieron,
im Ersten Puni­schen Krieg ursprünglich mit Karthago verbündet, wechselte gerade noch rechtzeitig
die Fronten, unterstützte die Römer und wurde von
diesen nach Kriegsende als Verbündeter auf der In-
sel toleriert. Syra­kus erlebte in dieser Zeit eine neue
wirtschaftliche und kulturelle Blüte. Hieron selbst
liess sich u. a. durch den Bau eines riesigen, fast 200 m
langen Opferaltars verewigen.
Nach dem Tod Hierons (215 v. Chr.) kam es in Syrakus zu einem politischen Kurswechsel; die Stadt unterstützte nun wieder Karthago, das seit 218 v. Chr.
erneut mit Rom Krieg führte. Dieser Wechsel der
Fronten sollte sich bitter rächen, denn Rom erwies
sich als gnädig zu seinen Freunden, jedoch als unerbittlich gegenüber seinen Feinden. Die Belagerung,
Eroberung und Zerstörung von Syrakus (213­, 212 v.
Chr.) war nicht nur eines der Ereignisse, das den Römern den Ruf absoluter Kompromisslosigkeit in der
Kriegsführung einbrachte, sondern auch eines der
grossen Themen der zeitgenössischen und späteren antiken Geschichtsschreibung. Diodor, Livius, Polybios
und Plutarch haben in epischer Breite alle grausigen
Details der Vorgänge notiert: Wie die Stadt, durch
zahlreiche Erfindungen des Archimedes zunächst gut
gerüstet, der Belagerung widerstand, wie die Römer
dann jedoch die Mauern durchbrachen und die Soldateska mordend, vergewaltigend und plündernd über
die Stadt herfiel, bis nur noch rauchende Trümmer
blieben. Die ergreifenden, historisch allerdings nicht
belegten Anekdoten über die Ermordung des Archimedes inmitten des Infernos - versonnen sass er vor
einem mathematischen Problem, als ihn der tödliche
Schwerthieb traf - wirken angesichts des tatsächlichen
Blutbades fast wie ein melancholisches Rührstück.
Seit 212 v. Chr. war nunmehr ganz Sizilien römische
Provinz. Rom errichtete im Laufe der Zeit einen gut
funktionierenden Verwaltungs­apparat. An der Spitze
der Provinz stand ein aus Rom gesandter Prä­tor, dem
auf Sizilien ausnahmsweise zwei Quästoren als Helfer
und »Kontrolleure« unterstellt waren (in allen anderen Provinzen gab es nur einen Quästor). Die Städte
und Gemeinden Siziliens wurden, von wenigen Ausnahmen abgesehen, verpflichtet, Abgaben an Rom, zu
leisten. Gerade Sizilien war wegen seiner Fruchtbarkeit für die Versorgung der immer grösser werdenden
Metropole Rom von her­ausragender Bedeutung.
Wenn ein begürteter Römer als Prätor oder Stathalter
in eine Provinz geschickt wurde, so war dies durchaus
als Belohnung für vorher­gehende politische oder militärische Verdienste gedacht, denn in einem gewissen
Rahmen konnte und durfte sich der Gesandte Roms
an dem ihm für eine begrenzte Zeit unterstellten
Territorium berei­chern. Das Ausplündern eroberter Gebiete hatte bei den Römern Tradition. Schon
Marcellus, unter dessen Kommando Syrakus erstürmt
worden war, vor allem aber der spätere Statthalter
Verres, hatten gewaltige Mengen an Kunstschätzen
aus der Stadt fortgeschleppt und nach Rom verbracht,
wo die Beutestücke hinfort die Stadt zierten. Die Folgen solchen Kunstraubs sind heute noch auf Sizilien
erkenn­bar: Statuen und andere kleinere, transportable
Denkmäler aus der griechischen Epoche haben sich
49
hier in nur sehr geringer Zahl gefun­den.
Zu Zeiten des Imperium Romanum ging es im Vergleich zu ande­ren Provinzen auf Sizilien, wennschon
nicht ohne Zwang der Obrigkeit, doch relativ ruhig
zu, mit zwei grossen Ausnahmen jedoch. Gegen Ende
des 2. Jh. v. Chr. kam es infolge elementarer sozialer
Missstände zu Aufruhr und Revolte. Sklaven und
freie Bürger erho­ben sich gegen die immer drückender werdenden Arbeitsbedingun­gen und Abgabelasten. In zwei »Befriedungsaktionen« (135-131 und
104-101 v. Chr.) konnte Rom die Aufstände nur mit
Mühe nieder­schlagen und am Ende mit einem neuen
Agrargesetz die Ruhe wie­derherstellen.
Zum letzten Mal für lange Zeit wurde Sizilien in den
Auseinander­setzungen, die der Ermordung Caesars
folgten, von Kriegshandlun­gen heimgesucht. In den
inneren Wirren hatte sich Sextus Pompeius mit einem Teil der römischen Kriegsflotte der Inseln Korsika, Sardi­nien und Sizilien bemächtigt. Vor Mylae
und Naulochos an der Nordostspitze Siziliens wurde
seine Flotte 36 v. Chr. von Oktavian, der später unter
dem Namen Augustus weltgeschichtliche Bedeutung
erlangte, vernichtend geschlagen.
Kunst- und Bauwerke der Römer
Anders als das italienische Festland ist Sizilien relativ arm an römi­schen Kunstwerken, Tempeln oder
prachtvollen öffentlichen Gebäu­den. Die griechischen Stadtanlagen bestanden in ihrer Substanz wei­
ter, wurden jedoch in römischer Zeit vielfach erneuert
und ergänzt, so dass heute die römischen Bauphasen
oft mit Griechischem ver­mengt und in ihrer Gestalt
von älteren griechischen Strukturen geprägt sind. Allerdings entstanden in römischer Zeit auch Neubau­
ten, z.B. zahlreiche Theater und Odeia. Im Gegensatz
zu den griechischen Theatern, die in einen natürlichen
Hang hineingebaut waren, sind die römischen Theater
frei stehende Architekturen mit einer den Zuschauerraum von aussen umgebenden, gegliederten Fassade.
Eine Ausnahme stellt das berühmte Theater von Taormina dar:
Dieser in seiner heutigen Form rein römische Bau
wurde in einen steilen Hang integriert (s. S. 100).
Nicht nur vom Typus, sondern auch von seiner Zeitstellung her ist dieses Theater jedoch griechi­scher Natur. Der römische Neubau erhebt sich auf den Ruinen
einer hellenistischen Anlage. Römische Odeia, kleine,
theaterähnliche, aber überdachte Gebäude, die meist
für musikalische Veranstaltun­gen und Lesungen genutzt wurden, finden sich auf Sizilien unter anderem
in Catania. Taormina und Akrai.
Ein Markanter Bautypus der römischen kultur ist das
Amphitheater. Solche elliptischen Bauten mit ihren
mehrstöckigen Aussenfassaden und hochaufsteigenden Zuschauerrängen im Innern dienten für Fechterspiele und Tierhetzen. Die meisten dieser Anlagen
entstanden erst in den nachchristlichen Jahrhunderten
50
der römischen Kaiserzeit, als die oft mehrtägigen Spiele in den Arenen zu einer festen Institu­tion geworden
waren. Das berühmteste und grösste Amphitheater
war und ist das Kolosseum in Rom, das im späten 1.
Jh. n. Chr. entstand. Zwar gab es auch schon zuvor solche Arenen, doch waren diese ebenso wie die frühen
römischen Theaterbauten meist Holzkonstruk­tionen,
die nach Beendigung der Spiele wieder abgerissen
wurden. Dem Staat und den Stadtverwaltungen galten die gewalttätigen Ver­anstaltungen in den Arenen
lange Zeit als suspekt, da es dabei immer wieder zu
Ausschreitungen und Aufruhr kam. Die steinernen
Amphi­theater wurden deshalb meist abseits der Zentren in den Aussenbe­zirken der Städte errichtet.
Drei Amphitheater entstanden in der römischen Kaiserzeit auf Sizilien. Die Arena von Termini Imerese
(Himera) ist heute fast ganz verschwunden. Ihr einstiger Grundriss zeichnet sich jedoch noch deutlich im
Stadtbild ab, da die Bebauung dem Umriss der antiken
Anlage über Jahrhunderte hinweg folgte (Via Anfiteatro und Via S. Marco). Besser erhalten sind dagegen
die Amphitheater von Catania und Syrakus. Das Amphitheater von Syrakus, im 3. Jh. entstanden, war mit
140 x 120 m eines der grössten in den Provinzen des
Römi­schen Reiches, liess sich jedoch nicht mit dem
Kolosseum in Rom (190 x 155 m) vergleichen.
Über den prunkvollen und luxuriösen Lebensstil der
römischen Oberschicht in der späten Kaiserzeit (3.
und 4. Jh.) geben die grossen, palastartigen ViIlenanlagen Aufschluss, die ausserhalb der Städte überall im
Reich in dieser Zeit erbaut wurden. Auch auf Sizilien
trifft man auf die Überreste solcher Villen. Die am
besten erhaltene ist zweifellos die Villa del Casale bei
Piazza Armerina (s. S. 180). Um einen Peristylhof herum erstreckt sich der verschachtelte Gebäude­komplex
mit Wohn- und Schlafräumen, Nymphäen, Bädern,
Latri­nen, Wirtschaftsgebäuden, weiteren säulenumstandenen Höfen und den Repräsentationsräumen.
Die Fussböden in den Wohn- und . Repräsentationsbereichen waren reich mit Mosaiken geschmückt, die
Jagd- und Tierfangszenen, aber auch Szenen der Mythologie und des täglichen Lebens zeigen. Die gesamte Welt der grossen Lati­fundien, die Ideale und Hierarchien, aber auch die Arbeiten und Ver­gnügungen
in einer solchen Domäne finden sich in derartigen
Mosaiken visualisiert.
Lange Zeit hat man aufgrund der prachtvollen Ausstattung der Villa bei Piazza Armerina angenommen,
dass es sich hier um den Pri­vatbesitz eines römischen
Kaisers gehandelt haben müsse. Jedoch wurden in den
letzten Jahren allein auf Sizilien drei weitere Villenan­
lagen aus dieser Zeit entdeckt (bei Eloro, bei Castroreale Terme und bei Patt i Marina), die zwar allesamt
weniger gut erhalten und bisher auch nur zu Teilen
ausgegraben sind,‘ der Änlage bei Piazza Armerina jedoch in Grösse und Ausstattungsluxus einst in
nichts nachstanden, ja sie z. T. sogar übertrafen. Und
wenn man alle diese sizilischen Vil­len mit den riesi-
gen kaiserlichen Palastvillen - z.B. mit den Galerius
­Residenzen in Thessaloniki und Gamzigrad ( Jugoslawien) - ver­gleicht, so wird deutlich, dass die sizilischen
Anlagen bei allem Auf­wand demgegenüber doch eher
kleine und bescheidene Bauten waren, die vermutlich
höheren Staatsbeamten, nicht aber den Kaisern selbst
gehört haben.
Das mittelalterliche Sizilien
Byzantiner und Araber
Erste christliche Begräbnisse können bereits um das
Jahr 200 datiert werden, und auch die Verehrung der
hl. Agatha und des hl. Euplus in Catania sowie des
hl. Marcian und der hl. Lucia in Syrakus, Mär­tyrern
von der Mitte des 3. bis zum Anfang des 4. Jh., ist
schon früh bezeugt. In den Katakomben, von denen
die ausgedehntesten in Syrakus entstanden, besitzen
wir die frühesten baulichen Zeugnisse dieser Zeit.
Ebenso »im Untergrund« verborgen, der politischen
Situa­tion der Religio illicita, der verbotenen Religion,
angemessen, liegen die kleine Taufgrotte unter der
Kirche S. Giovanni in Marsala oder die Krypta des hl.
Marcian in Syrakus .
Den endgültigen Durchbruch erfuhr die neue Religion, nachdem das Toleranzedikt von Mailand (313)
dem Christentum völlige Gleichberechtigung und
Religionsfreiheit gebracht hatte. Aus dieser Zeit bewahrt das Archäologische Museum von Syrakus den
Marmor­sarkophag der Adelfia auf (Mitte 4. Jh.), dessen spätantiker, skulptu­raler Schmuck Szenen aus dem
Alten und Neuen Testament darstellt. Die Christianisierung ging in den Städten schneller als auf dem Lande, am langsamsten im Landesinnern vonstatten. Zur
Zeit Papst Öregors 1. (590-604) bestanden jedenfalls
schon mindestens zwölf Bistümer auf der Insel.
Dass sowohl aus dieser frühen als auch aus den bei
den darauffolgenden Epochen keinerlei monumentale Architektur erhalten blieb, lässt sich aus den vandalischen, ostgotischen, byzantinischen, arabi­schen
und normannischen Eroberungen und den daraus
resultieren­den Zerstörungswellen erklären. Auch
die geringe Bevölkerungs­dichte - Schätzungen reichen von 200 000 bis 800 000 gegenüber ca. 5 Mio.
Menschen in den Blütezeiten der Antike - dürfte ein
Grund sein. Heidnische Tempel wurden jedoch häufig in christliche Kirchen umgewandelt, so z. B. der
Concordiatempel in Agrigent und, wohl crasoerühmteste Beispiel, der Athenatempel in Syrakus.
Die bislang ausgegrabenen Kirchen und Kapellen aus
der Zeit bis zur arabischen Eroberung besitzen überaus bescheidene Masse und wei­sen im Grundriss entweder die westliche basilikale oder die byzanti­nische
Kreuzform auf oder sind, wie die Höhlenkirchen im
syrakusa­nischen Raum, schlichte rechteckige Räume.
Eindeutig byzantinischer Provenienz sind die Reste
der in den Katakomben der hl. Lucia in Syrakus erhaltenen Fresken und der ‚meist auf figürliche Dar-
stellungen verzichtende Bauschmuck: Ein Wrack, das
man 1960 im Golf von Noto fand, enthielt solche in
Byzanz vorgefertigte Säulen und Kapitelle für eine
komplette Basi­lika, die auf sizilischem Boden errichtet werden sollte. Die Felswoh­nungen und in den
Stein gehauenen Kapellen von Pantalica zeugen von
der Flucht der Bevölkerung aus den von sarazenischen
Über­fällen gefährdeten Städten ins Landesinnere.
Kunst und Wirtschaft unter arabischer Herrschaft
Die muslimischen Eroberer und Siedler trafen also auf
eine Grie­chisch sprechende, zur byzantinischen Kirche gehörende Bevölkerung. Die neuen Herren selbst
stellten keine ethnisch geschlossene Gruppe dar, sondern repräsentieren als Ägypter, Araber, Berber aus
Tunesien, Perser und Sudanesen die zahlreichen Völker des muslimi­schen Kulturkreises. Zwischen den
Arabern und Berbern, von denen. die ersteren vermutlich hauptsächlich um Palermo und die letzteren
im Südwesten um Agrigent siedelten, brachen denn
auch immer wieder Kämpfe aus.
Ihre christlichen und jüdischen Vasallen (Dhimmis,
d. h. geschützte Minderheiten) mussten zwar höhere Steuern ( Jizya oder Kharaj) als Muslime zahlen,
doch scheinen diese immer noch unter denen der
Byzantiner gelegen zu haben. Und obwohl zahlreiche
Kir­chen in Moscheen umgewandelt und den NichtMuslimen recht demütigende Auflagen gemacht wurden - so mussten Juden und Chri­sten auf Kleidung
und Häusern Erkennungszeichen anbringen, durf­ten
keine Waffen tragen oder zu Pferde reiten, mussten
Muslimen den Vortritt auf der Strasse lassen etc. -,
gestand man ihnen doch weitge­hende Selbständigkeit
zu, das Leben nach den jeweiligen eigenen Gesetzen
zu führen, sowie einen nahezu gleichberechtigten
juristi­schen Status. Im Val di Mazara allerdings, wo
zum Grossteil christli­che Sklaven ohne die Rechte
der Dhimmis lebten, erfolgten die mei­sten Übertritte
zum Islam.
Vor allem die Landwirtschaft erfreute sich wirksamer
Förderung. Bewässerungssysteme überzogen bald
das ganze Land, die hinderli­che byzantinische Steuer auf Zugtiere wurde abgeschafft, die Steuer­gebung
begünstigte die Bewirtschaftung bislang brachliegender Fel­der. Die Einführung neuer Kulturpflanzen
wie Zuckerrohr, Zitrus­früchte, Maulbeerbaum, Reis,
Baumwolle, Papyrus, Melone und Dattelpalme, verbunden mit der Kenntnis ihrer Nutzung, verdanken
die Sizilianer den Arabern. Die Fischerei wurde intensiviert - vermut­lich brachten die Araber auch eine
hochentwickelte neue Form des Thunfischfangs nach
Sizilien -, um den Ätna wurde Bergbau betrie­ben, andernorts Salz gewonnen. Die Sizilianer erlernten die
Seiden­herstellung und -weberei, und ganze Schiffsladungen von Holz aus den damals noch existierenden
grossen Wäldern der Insel wanderten ins holzarme
Nordafrika. Die Weizenlatifundien aus spätantiker
51
und byzantinischer Zeit verschwanden weitgehend;
eine wachsende Zahl kleinerer landwirtschaftlicher
Betriebe ersetzte sie - ein Prozess, der durch die arabische Vorliebe für intensive Garten- und Obstkulturen
sowie durch die muslimische Realerbteilung begünstigt wurde.
Gegen Ende der fast zwei Jahrhunderte währenden
muslimischen Herrschaft wird die arabische Bevölkerung, am dichtesten im Westen, im Val di Mazara
siedelnd, auf ca. eine halbe Million geschätzt. Die
zentrale Lage der Insel inmitten des arabischen Kulturkreises, der einen Grossteil des Mittelmeers umfasste, sorgte denn auch für eine Blüte von Handel und
Kultur. Dennoch ist von der arabischen Kunst neben
geringen Resten (allein die Moscheegrundmauern bei
S. Gio­vanni degli Eremiti, s. S. 273) nur erhalten geblieben, was später unter den Normannen entstand,
obwohl uns die Quellen von einer Fülle von älteren
Moscheen, Festungen und Schlössern berichten.
»Eine ungeheuer grosse Zahl von Burgen, Dörfern
und sarazenischen Palästen liegt in Schutt und Asche
... «, heisst es in einem kirchlichen Dokument aus der
Zeit nach der normannischen Eroberung.
Zurück blieben lediglich sprachliche Spuren wie die
Silben Gibel (»Berg«) oder Calta (»Burg«) in sizilianischen Ortsnamen, einige Hundert Lehnwörter aus dem Bereich des Handels, der Wasser- und
Landwirtschaft, der Kleidung und des Gesetz- und
Verwaltungswe­sens, nicht zuletzt aber auch die bis
ins 19. Jh. bestehende Verwaltungsgliederung in drei
Provinzen: Val di Mazara im Westen und Val di Noto
im Südosten sowie das hauptsächlich von Griechen
bewohnte Val di Demone im Nordosten.
Monarchia Sicula - Das Normannenreich auf Sizilien
Die Normannen, die ab dem Jahre 1060 von ihren
Besitzungen in Unteritalien aus die Eroberung Siziliens in Angriff nahmen, waren lateinische Christen
mit einem Auftrag des Papstes, die Insel den heidnischen Sarazenen zu entreissen und die Oberhoheit
Roms in dieser Region griechisch-byzantinischen
Christentums wiederher­zustellen. Die Invasoren kamen zunächst nicht besonders zahlreich, stellten nur
die Oberschicht der Ritter und Lehnsträger sowie der
hohen kirchlichen Würdenträger. Erst später wurden
dann vermehrt französische sowie lombardische und
ligurische Siedler ins Land geholt, so dass man erst am
Ende der staufischen Epoche von einem weitgehend
latinisierten Sizilien ausgehen kann.
In den ersten Jahren der Eroberung jedoch waren die
neuen Her­ren auf die muslimischen und griechischen
Bauern, Handwerker, Verwaltungsbeamten und Soldaten dringend angewiesen. Die histo­rische Leistung
der Normannenherrscher bestand darin, dass sie eine
den politischen Notwendigkeiten gehorchende kluge
Toleranzpolitik gegenüber den vielfältigen religiösen
und ethnischen Gruppierungen ihres jungen Reiches
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an den Tag legten. Dazu gehörte auch, dass sie die vorgefundenen, ihnen in bestimmten Bereichen eindeutig überle­genen Kulturen nicht zerstörten, sondern
sich aus derem »Kulturvor­rat« gleichsam bedienten,
Nützliches in ihren neuentstehenden Viel­völkerstaat
integrierten und so eine im europäischen Mittelalter
ein­zigartige - wenn auch vorübergehende - kulturellpolitische Synthese schufen.
Araber und Juden mussten zwar, wie zuvor Juden und
Christen unter muslimischer Herrschaft, eine Sondersteuer ( Jizya) zahlen, doch durften sie ihre Religion
frei ausüben und nach ihrer jeweiligen Rechtsprechung leben; vielen Muslimen beliessen die Normannen ihr Land, häufig auch ihre Burgen und ihre Posten
als Provinzemire. Die verfeinerte Eleganz der arabischen Kultur wirkte offenbar sehr anzie­hend auf die
neuen Herren und Damen, denn letztere kleideten,
par­fümierten und verschleierten sich bald nach muslimischer Sitte und färbten ihre Hände mit Henna.
Die Sprachen des Hofs waren neben dem normannischen Franzö­sisch und Latein Griechisch und Arabisch sowie Hebräisch, und auch die Hofämter und
-titel (wie die Männer, die diese Ämter inne­hatten)
zeigten die für den Normannenstaat so charakteristische drei­teilige Kultursymbiose: In der Curia
regis, dem hauptsächlichen Regierungsorgan der
Normannenkönige, sass ein französischer Sene­schall
(Hausmeier, Truchsess) neben einem byzantinischen
Protono­tarius (Erster Notar) und Logotheten (hoher
Beamter, Kanzler), und ihnen allen stand der »Emir
der Emire«, latinisiert Ammiratus, vor, der mächtigste
Mann nach dem König (erst im Laufe der Entwick­lung
wurde er auch Flottenkommandant, also nach unserem heuti­gen Verständnis »Admiral«).-Am nachhaltigsten hatte sich der mus­limische Einfluss in der aus
arabischer Zeit stammenden, von den Normannen
dann beinahe vollständig übernommenen Finanzver­
waltung, dem Diwan, erhalten: Während der gesamten normanni­schen Epoche wurden beispielsweise
Münzen mit kufischen Schrift­zeichen geprägt: Nasir
an-nasraniyya, »Verteidiger des Christen­tums«, liess
sich Roger II. auf seinen Münzen, ganz im Stile der
fatimidischen Kalifen, nennen.
Diese kulturübergreifende Toleranz war in jener Zeit
des Schis­mas, in der die Kluft zwischen lateinischen
und griechischen Chri­sten immer breiter wurde, gerade auch im Hinblick auf die beiden christlichen
Konfessionen vonnöten. So wurden die griechischen
Christen Siziliens zwar der schnell geschaffenen
römisch-katholi­schen Verwaltungshierarchie - Erzbistum Palermo, französische Bischöfe in Troina, Mazara, Agrigent, Syrakus, Catania - unterstellt, doch taten
sich die beiden Roger als Förderer der orthodoxen
Kirche und Stifter zahlreicher Basilianerklöster, vor
allem im überwiegend griechischen Val di Demone,
hervor; die schönsten dieser normanni­schen Neustiftungen stehen heute in Itala und im Tal des Agro.
Im Gegensatz zum süditalienischen Herrschaftsbe-
reich der Nor­mannen, in dem die Barone weiterhin
eine bedeutende Kraft blieben und nicht selten rebellierten, gelang es den beiden Roger, die Macht der
Feudalherren auf Sizilien erheblich einzuschränken.
Hier ent­standen keine der Zentralgewalt gefährlichen
grossen Lehen, das, Königtum hielt sich immer selbst
im Besitz der grossen Städte und strategisch wichtigen Regionen. Die für militärische Hilfe bei der Eroberung verliehenen Lehen waren zudem oft nicht
erblich, und der Herrscher behielt sich immer die
Regalien vor, königliche Hoheits­rechte wie Münzprägung, Burgenbau, Steuererhebung, oberste­ Gerichtsbarkeit etc.
Die für ein mittelalterliches Reich ungewöhnlich
straffe Zentrali­sierung aller Herrschaftsbereiche in der
Person des Königs erforderte einen zeremoniell-mystischen »Überbau«: Ihn fand Roger 11. in der byzantinischen Herrschafts- und Kaiseridee. Der Fürst,
der seine Macht hiernach von Gott selbst erhält, ist
so nicht nur weltlicher Herr, sondern auch Priester,
steht hoch und abgesondert über seinen Untertanen.
Das strenge byzantinische Hofzeremoniell mit der
Pros­kynese (Niederwerfen vor dem Herrscher oder
religiösen Weihe­gegenstand) verstärkte diese »Entrückung« des Königs in eine quasi­religiöse Sphäre.
(Daneben liebte Roger 11. es, bei offiziellen Auftrit­
ten unter einem seidenen Baldachin zu erscheinen
- ein von den fatimidischen Kalifen übernommener
Brauch.)
Neben dieser Prunkentfaltung, die zur Verherrlichung und für alle sichtbaren Demonstration seiner
Idee vom Königtum diente, legte Roger H. in seinem
grossen Gesetzgebungswerk, den Assisen von Ari­ano,
diesen monarchischen, religiös überhöhten Absolutismus sozu­sagen »verfassungsrechtlich« nieder. Die
Beschlüsse, in denen wir auch die Grundsätze von
Gleichberechtigung und Toleranz seinen Untertanen
gegenüber finden, stützen sich weitgehend auf einen
berühmten byzantinischen Vorgänger, das Corpus
Iuris Civilis Kai­ser Justinians 1. (533/34).
Kunst- und Bauwerke der normannischen Kultursynthese
Den bedeutendsten und offenkundigsten Ausdruck
fand die norman­nische Herrschaftsidee jedoch in der
Kunst und hier vor allem in der Cappella Palatina,
die man auf dem Hintergrund des politisch-religi­
ösen Macht- und Prestigeanspruchs Rogers begreifen
muss. Die Worte des Bischofs Theophanes Kerameus
anlässlich der Weihe, der Kapelle zeigen jedenfalls,
dass auch die Zeitgenossen diesen Anspruch begriffen: »In diesem Gotteshaus hat ein wahrhaft grosser
und königlicher Sinn ein ewiges Denkmal errichtet,
gleichsam einen festen Grundstein seines Palastes,
gross und glanzvoll ... «.
Schon in der Wahl der Handwerker und Baumeister
zeigt sich wie­derum der bewusste Eklektizismus der
Normannenherrscher: Ein »Gerhard der Franke«
ist durch eine Inschrift der Kirche bei Casal­vecchio
Siculo als vermutlich aus der Normandie stammender Bau­meister ausgewiesen, für die Mosaiken der
grossen Dome und der Palastkapelle wurden byzantinische Mosaizisten herangezogen, und für die
Kapitelle des Kreuzgangs von Cefalu darf man wohl
proven­zalischen Einfluss veranschlagen. Das auffälligste Beispiel dieser orga­nisierten Nachahmung ist die
Verschleppung byzantinischer Seiden­weber nach Palermo im Jahre 1147, wo sie für den Bedarf des Hofes
produzieren mussten.
Den augenfälligsten Einfluss übten jedoch arabische
Handwerker und Meister aus, denn aus dem muslimischen Kulturkreis stammen diejenigen Elemente, die
der normannischen Kunst des 12. Jh. ihr unverwechselbares Gepräge verleihen, sie von den zeitgenössischen romanischen Denkmälern des übrigen Europa
unterscheiden. (Tat­sächlich tendieren jüngere Forschungen dazu, den arabisch-fatimidi­schen Aspekt
immer stärker zu betonen.) Auf dem Sektor der Bau­
kunst spiegelt sich dieser arabische Einfluss am reinsten in der Pro­fanarchitektur wieder, wo die europäische Bautradition nichts aufzuweisen hatte, was auch
nur annähernd den eleganten Baukon­zepten und dem
Luxus muslimischer Paläste gleichkam.
Die in der Phase der Eroberung um 1070/1080 errichteten militä­rischen Zweckbauten, z. B. die zum
Schutz Catanias entstandenen Kastelle von Adrano
und Paterno um den Ätna herum, lassen noch keinen
arabischen Einfluss erkennen. Sie vertreten den Typus
des rechteckigen, mehrstöckigen Donjons - ein aus
der normannischen Heimat stammendes Baukonzept,
dessen nüchterne und wenig luxu­riöse Funktionalität
einen sprechenden Gegensatz zu den späteren Lustschlössern arabischer Provenienz darstellt. Das Vorbild fatimidi­scher Wüstenschlösser, gekennzeichnet
durch das harmonische Zusammenspiel von Gartenlandschaft, Wasserspielen - in der arabi­schen Wüste
doppelt kostbar - und Architektur, sollte indes für
die später entstandenen Paläste bestimmend werden.
Nicht massive, zusammenhängende Gebäudekomplexe entstanden, sondern kleine, im Park verstreute
Hallen und Pavillons wie die noch erhaltene Cubula.
Von vergleichbaren Bauten sind heute nur noch Zisa
und Cuba, beide in Palermo unter Wilhelm 1. bzw.
11. entstan­den, in Teilen erhalten. Das sog. Zimmer
des Rogen im Normannen­palast ebendort vermittelt einen Eindruck von jenem verfeinerten Lebensgenuss, jener im übrigen Europa nicht bekannten
diesseitsfreu­digen Wohnkultur, die am Hofe der Könige von Sizilien herrschte. An den persisch-sassanidischen Tier- und mythologischen Motiven aus Samarra, die Eingang in die musivische Raumausschmückung gefun­den haben, zeigt sich, dass auch die von
den Normannen adaptierte arabische Kultur bereits
ein Sammelbecken vieler Traditionen dar­stellte.
Auch in der Sakralarchitektur macht sich der ara53
bische Einfluss bemerkbar, doch hatte er sich hier
gegen zwei mächtige christliche Bautraditionen zu
behaupten: die dreischiffige Basilika mit Querhaus
lateinisch-westlicher und die Kreuzkuppelkirche byzantinisch-östlicher Provenienz, wie sie sich ja bereits
vor der muslimischen Erobe­rung auf der Insel fanden.
Die Normannenherrscher hatten die hohen kirchlichen Posten und die Domkapitel mit überwiegend
fran­zösischen Klerikern besetzt sowie Benediktiner
und Augustiner­Chorherren aus dem nördlichen Europa mit der Gründung lateini­scher und Basilianer mit
der Gründung griechischer Klöster beauf­tragt - und
diese kirchliche Elite brachte naturgemäss ihre jeweiligen Bautraditionen mit.
Für die grossen Dome in Catania, Cefalu, Messina, Palermo und Monreale wurde, schon wegen ihrer Funktion als Bischofskirchen, die eine Masse von Gläubigen aufnehmen mussten, der Grundriss der dreischiffigen Basilika gewählt. Doch auch kleinere Gotteshäuser wie S. Giovanni degli Eremiti und S. Cataldo
in Palermo erhielten einen basilikalen Grundriss. Der
Dom von Cefalu spiegelt mit seiner Zwei­turmfassade,
dem kreuzgewölbten Chor und dem Querschiff, der
Aussengliederung durch Rundbogenfriese und Lisenen und der Tier­ornamentik seiner Kapitelle diesen
normannisch-romanischen Ein­fluss wohl am reinsten
wider. Die Handwerker jedoch, die diese Bau­ten errichteten, waren Muslime. Ihrer guten Organisation
in den ein­zelnen Bauhütten war es u. a. zu verdanken, dass die normannischen Kirchen jeweils einer
überraschend kurzen Bauzeit errichtet wur­den: der
Dom von Catania 1088-1093, die Cappella Palatina
1131/32, die Martorana 1142/43 und der Dom von
Palermo 1184;. man vergleiche diese Zahlen mit den
sich über Jahrhunderte hinzie­henden Bauzeiten nordeuropäischer Kathedralen!
Hauptsächlich in der Val di Mazara und natürlich in
Palermo, den am dichtesten muslimisch besiedelten
Regionen, fand die Durchdrin­g ung abendländischer
und arabischer Bauweisen statt. So lassen die frühen
normannischen Kirchen in Castelvetrano und Mazara
dei Vallo oder auch S. Giovanni degli Eremiti, obwohl
dem Typus der Kreuzkuppelkirche bzw. der Basilika
verpflichtet, doch deutlich das Raumgefühl des fatimidischen Kubusbaus erkennen, der, gleichsam steingewordene Geometrie, aus Würfeln und Quadern
zusammen­gesetzt ist. Arabisch sind an den Bauten
des sog. normannisch­arabischen Stils auch die handwerklich perfekte, glatte Fugung der Mauerquadern;
die elegante, rhythmische Wandgliederung, die Spitz­
bogen, die verschränkten Blendbogenfriese und die aus
der persi­schen Architektur stammenden Trompen für
die Eckenlösungen der Kuppeln, des weiteren die an
Mauerkanten ein- und übereinanderge­stellten Säulen,
Schmuckformen wie geometrische Vieleckornamente
oder bekrönende Bänder mit kufischen Inschriften,
die sog. Polster­quader sowie die Brunnenhäuser in
den Kreuzgängen. Deutlich als islamisches Architek54
turelement sind auch die Muqarnas (Stalakti­ten) zu
erkennen, die die Innenräume der Cuba, der Zisa wie
auch die Decke der Cappella Palatina schmücken. Was
jedoch jedem Sizi­lienreisenden spontan als »morgenländisch« erscheinen wird, sind die nackten, gestelzten Kuppeln, jene so fremdartig wirkenden (erst heute
rötlich getönten), meist hintereinandergereihten und
auf einem kubischen Unterbau aufsitzenden steinernen Halbkugeln.
In der Cappella Palatina, der Martorana und den
Domen von Cefalu und Monreale befinden sich jene
kompletten Mosaikausstat­tungen auf strahlend goldenem Grund, die zu den beeindruckendsten Erlebnissen einer sizilianischen Kunstreise gehören. Die Forschung ist sich darüber einig, dass erfahrene byzantinische Mosaizisten diese Meisterwerke geschaffen haben (mit Ausnahme der musivischen Ausstattung der
Profanbauten und einiger ornamentaler Motive wie
z. B. der Palmen oder der ineinander verschlungenen
Arabesken in Cefalu). So kann beispielsweise nur eine
vortrefflich organisierte Werkstatt in wenigen Jahren
(ca. 1185-1190/91) das Mammutwerk der Mosaiken
von Monreale vollendet haben. Die musivische Iko­
nographie zeigt im allgemeinen Christus, Maria und
die himmlische Hierarchie im Presbyterium, Szenen
aus dem Alten Testament im Langschiff (Beginn
immer auf der rechten, südlichen Mittelschiff­wand,
fortlaufend über die Westwand, von Westen nach
Osten auf der linken, nördlichen Mittelschiffwand,
dann dieselbe Kreisbewe­g ung noch einmal im darunterliegenden Register), den Engelschor in der Vierungskuppel sowie Szenen aus Christi Leben oder aus
der Petrus- und Pauluslegende in den Seitenschiffen.
Der Dom von Cefalu, von Roger 11. zur Grablege
der Hautevilles bestimmt, und die Cappella Palatina, das Summum Opus des nor­mannisch-arabischen
Stils, entstanden etwa zeitgleich (ab 1131) auf dem
Höhepunkt der Monarchia Sicula. Doch was sich
schon in den letzten, vermutlich geistig umnachteten
Lebensjahren Rogers 11. angekündigt hatte, als er den
Admiral Philipp von Mahdia unter dem Vorwurf, sich
zum Islam bekehrt zu haben, lebendig verbrennen
liess (1153), setzte sich unter seinen schwächeren und
politisch nicht so glücklichen Nachfolgern dann endgültig durch: Adel, Palastcliquen und ehrgeizige, aus
dem normannischen England stammende Präla­ten
wie Walter of the Mill und Richard Palmer gewannen
an Macht, die Zentralgewalt wurde schwächer - und
der religiöse Konsens, das Fundament des Normannenstaates, zerbrach.
Der letzte Sakralbau des reinen normannisch-arabischen Stils, S. Cataldo, wurde von Admiral Maio von
Bari gestiftet, der das pro­minenteste Opfer jener zu
einem antimuslimischen Pogrom ausufern­den Adelsrevolte von 1160 werden sollte - eine Konstellation
von hohem Symbolwert. Die normannisch-arabische
Kunst, die ja in so einzigartiger Weise Ausdruck des
sizilianischen Staates des 12. Jh. war, wurde neben
dem Haupt dieses Staates, dem König, von seiner
griechischen und arabischen Verwaltungs- und Regierungselite getra­gen. Mit der nach der Ermordung des
höchsten Staatsdieners, des Grossadmirals, einsetzenden Emigration der arabischen Intelligenz (der dann
auch immer mehr muslimische Handwerker und Bauern folgen sollten) wurden die Monarchie und mit
ihr auch die Kunst nach und nach ihrer Fundamente
beraubt.
Trotz all der Pracht der normannisch-arabischen
Kultur kann man sich des Eindrucks einer gewissen
zerbrechlichen Künstlichkeit, die all diesen hybriden
Schöpfungen anhängt, nicht erwehren. Diese aus­
schliesslich dynastisch bestimmte und ganz bewusst
ins Leben geru­fene kulturelle Synthese hatte wohl
auch zu wenig Zeit, um populär zu werden, sich
nachhaltig im Bewusstsein des Volkes zu verankern.
Wahrhaft zu einer neuen Einheit verschmolzen sind
normannische, byzantinische und arabische Elemente
in einigen wenigen Meister­werken der Epoche, doch
wuchsen die einzelnen ethnischen und religiösen
Gruppen nie, modern gesprochen, zu einem »Staatsvolk« zusammen, gewannen nie das Bewusstsein einer sizilianischen Iden­tität. Und wahrscheinlich war
eine solche auf Toleranz beruhende Synthese auch
auf Dauer nicht haltbar in einer Zeit, in der die zen­
trifugalen Kräfte von Investiturstreit, feudaler Zersplitterung, Schisma und Kreuzzügen den mittelmeerischen und europäischen Raum zerrissen.
Hohenstaufer, Anjous und Aragonesen
Stupor mundi, »das Staunen der Welt«, nannten die
Zeitgenossen Friedrich H. von Hohenstaufen. Als
tyrannischen »Hammer der Welt«, als neuen Antichristen beschimpften ihn seine Gegner (allen voran
der Papst und seine Anhänger, mit dem Friedrich um
die Herr­schaft in Italien in permanenter Auseinandersetzung stand), als heils­bringenden Friedensfürsten und messianischen Kaiser - ganz im Sinne der
normannischen Herrschaftsauffassung - vergötterten
ihn seine Anhänger. Als der Kaiser 1235 ein zweites
und letztes Mal nach Deutschland kam (um seinen
aufständischen Sohn Heinrich zu bestrafen), wirkte
er mit seinem prachtvoll-fremdländischen Gefolge,
den Arabern und Äthiopiern, den vielen exotischen
Tieren, auf die Deutschen wie ein morgenländischer
Potentat. Und noch heute ist das Bild dieser schillernden Persönlichkeit auch in der historischen Forschung umstritten, werden Beurteilungen, die ihn als
Vorläufer der Renaissance oder als grossen Freigeist
und Atheisten (so ein Urteil Friedrich Nietzsches)
sehen, in ihrer Abhängigkeit von der zeitgenös­sischen
klerikalen Propaganda erkannt. Sich selbst jedoch hat
Fried­rich immer als rechtgläubigen Christen bezeichnet, hat beispielsweise auch gegen Ketzer jederzeit
effektiv und grausam durchgegriffen - bei dem oben
erwähnten Streit mit seinem Sohn ging es u. a. um
Ketzer­verfolgung in Deutschland.
Nachdem er die deutsche Königswürde errungen und
seine Herr­schaft dort etabliert hatte, betrieb Friedrich
energisch die Wiederher­stellung der Zentralmacht in
seinem Erbkönigreich Sizilien, immer unter Berufung
auf die Gesetze und die Staatsform seiner normanni­
schen Vorfahren. In den Assisen (Hoftagsbeschlüsse)
von Capua aus dem Jahre 1220 widerrief er alle seit
1189, dem Todesjahr Wil­helms II., erteilten Privilegien, forderte die königlichen Rechte (Regalien) zurück, die Barone und Städte mittlerweile usurpiert
hat­ten, liess alle unautorisiert errichteten Burgen
schleifen. Der Aufbau eines straffen Verwaltungsapparats, dessen Beamten an der eigens zu diesem Zweck
gegründeten Universität von Neapel ihre Ausbildung
erhielten, ermöglichte Friedrich die wirkungsvolle
Kontrolle und die hohe Besteuerung des Landes.
In den Konstitutionen von Melfi (1231), die ebenfalls nicht ohne ihren normannischen Vorläufer
denkbar sind, liess er das öffentliche, d. h., das Verwaltungs- und Beamtenrecht, das Straf-, Prozess- und
Lehnsrecht für alle Bevölkerungsgruppen einheitlich
niederlegen, ersetzte so das Personalitäts- durch das
Territorialitätsprinzip und begründete damit seinen
zentralisierten Einheitsstaat säkular - für seine Zeit
erschreckend »modern«. (Diese Rechtskodifikation
sollte im Königreich Sizilien bis zum Jahre 1819 in
Kraft bleiben.) Juden und Muslime standen unter Königsschutz, erstere mussten sich durch‘ eine bestimmte Kleidung kenntlich machen - hier wird deutlich,
dass Bevölkerungsgruppen, die unter den Normannen
noch gleichberech­tigt, die Muslime in gewisser Weise
sogar staatstragend gewesen waren, nunmehr auf den
Status geschützter Minderheiten abgesun­ken waren.
Kunst und Wirtschaft unter Hohenstaufern und Aragonesen
Das Reglementierungsbemühen Friedrichs erstreckte
sich, über das­jenige seiner normannischen Vorfahren
hinausgehend, bis in private Bereiche seiner Untertanen; so wurden z. B. Fluchen, häufiger Taver­nenbesuch
und Ehebruch staatlicherseits geahndet. Auch der
ökono­mische Sektor erfuhr eine durchgreifende Reglementierung nach »staatsmonopolistischen« und
merkantilistischen Grundsätzen - so waren die Salzproduktion und der Bergbau königliche Monopole,
und Seidenherstellung und -handel wurden mit drückenden Steuern belegt -, was sich für die freie Entwicklung der Wirtschaft als nicht eben zuträglich erweisen
sollte. Friedrich selbst sah sich gern als Nachfahre der
antiken Kaiser, und tatsächlich verweist ihn sein straf­
fer, reglementierender Regierungsstil in die Nähe der
- spätantiken ­Caesaren. Ganze Bevölkerungsgruppen
siedelte Friedrich um: Lom­barden und Griechen wurden nach Sizilien »importiert«, an die 16 000 Muslime dafür ausgesiedelt und in einer Militärkolonie
im unteritalienischen Lucera »heimisch« gemacht.
55
Der sizilianischen Wirtschaft versetzte er damit einen
schweren Schlag, denn durch die Abwanderung der
Muslime wurden Handel und Handwerk Kapital und
Arbeitskräfte entzogen.
Dieser »erste moderne Mensch auf dem Thron« ( Jacob Burck­hardt) hat denn auch in Sizilien keine Kirchen- oder Klosterbauten initiiert. Seine architektonische Hinterlassenschaft besteht bezeich­nenderweise
aus militärischen Zweckbauten - Festungen, von denen aus er unbotmässige Städte kontrollierte. Nach
der Rebellion von Centuripe z. B. liess Friedrich die
Stadt zerstören, ihre Bewohner in den bedeutungsvoll
»Augusta« genannten Ort transferieren und dort ein
Kastell bauen.
Von französischen Baumeistern und Handwerkern errichtet, ver­raten diese Festungen wie das Castello Maniace in Syrakus, das Castello di Lombardia in Enna
oder das Castello Ursino in Catania den Einfluss der
Kreuzfahrerburgen sowie islamischer Festungsbau­ten,
die Friedrich während seines Kreuzzuges von 1228/29
kennen­gelernt hatte. Auch sollen zu jener Zeit noch
arabische Festungen auf Sizilien selbst gestanden haben, und auch das Vorbild des Norman­nenpalastes, in
dem Friedrich ja aufgewachsen war, dürfte von Bedeutung gewesen sein.
Die Kastelle in Sizilien bestehen aus einem klotzartigen Rechteck mit vier Türmen an den Ecken und
manchmal Halbtürmen in der Mitte der Mauerseite
und lassen ein Höchstmass an mathematischer Regelmässigkeit und geradliniger Übersichtlichkeit erkennen. Archi­tektonischen Schmuck erhielten nur
die Portale; im Innern macht sich mit den Kreuzrippengewölben ein steigender Einfluss aus Nord­europa
bemerkbar. Die sorgfältige Fügung des Quadermauerwerks lässt zwar noch einmal an Vorbilder der normannisch-arabischen Kunst Siziliens denken, im allgemeinen jedoch zeigt die staufische Kunst vermehrt
jene schon unter den letzten Normannenherrschern
erkennbare Hinwendung zum abendländischen Kulturkreis.
Obwohl Friedrich Sizilien vor allen seinen anderen
Ländern geliebt haben soll, weilte er zu Lebzeiten (er
wurde auf seine Anwei­sung hin im Dom von Palermo
bestattet) lieber in Apulien: Sizilien war nicht mehr
ein unabhängiges Königreich, sondern Teil eines
umfassenderen Herrschaftsgebiets. (Es sollte im folgenden erst recht an die Peripherie der europäischen
»Bühne« geraten.) Sein »moder­ner«, Züge absolutistischer Herrschaftsausübung vorwegnehmender
Beamten- und Fiskalstaat, der das Land denn auch
hoffnungslos‘ überforderte, liess sich unter seinen
Nachfolgern nicht durchhalten.
Die Aragonesen, von ihrem nicht enden wollenden
Kampf gegen die Anjous in Unteritalien in Anspruch
genommen, gaben dem Adel seine Rechte in breitestem Umfang zurück - die gegenläufige Ent­wicklung
zur einstigen Zentralisierung der Macht in der Hand
der normannischen und staufischen Könige setzte ein.
56
Diese feudalen Herrschaftsstrukturen sollten auch in
der Folgezeit - bis ins 19., ja 20. Jh. hinein - für Sizilien bestimmend bleiben; ihre ökonomische Basis
bildete die auf riesigen Latifundien bis zur Erschöpfung der Böden betriebene Landwirtschaft, die durch
Abholzung der Wälder zur Gewinnung immer neuer
Ackerflächen für den monokulturellen Hartweizenanbau das Gesicht der Insel radikal veränderte, ihr
öko­logisches Gleichgewicht zerstörte - die Folgen
dieses Raubbaus wie Erosion und Trockenheit prägen
die Insel noch heute.
Angesichts dieser Entwicklung ist es nur zu verständlich, dass im 14. Jh. nun auch die Bautätigkeit auf die
grossen Feudalherren über­ging. Der nach der führenden Familie Chiaramonte benannte Stil lässt sich
am schönsten am gleichnamigen Palazzo, der ersten
»Stadtburg« in Palermo, verfolgen. Von diesen Festungen aus mit ihren fensterlosen, ganz den Geboten der Verteidigung gehorchenden Untergeschossen
kontrollierten die Adelsgeschlechter die Geschicke
der Stadt. In diesen spätgotischen Palastkuben wirkt
der norman­nisch-arabische Stil spürbar nach, so auch
in den verschränkten Blendbogenarkaden des Palazzo Sclafani. Kennzeichnend ist hier die Betonung der
Portale und Fenster durch exquisiten Bau­schmuck,
z. B. durch breite Bänder mit Zickzackornamenten auch dies ein Erbe, das sich über die staufische bis zur
normannischen Kunst zurückverfolgen lässt.
Kunst und Wirtschaft unter spanischer Herrschaft
Nach der spanischen Herrschaftsübernahme zu Beginn des 15. Jh. sollte Sizilien für die nächsten vier
Jahrhunderte von insgesamt 78 Vizekönigen regiert
werden - dieser Posten galt als einer der einträg­
lichsten im spanischen Verwaltungsdienst. Die Vizekönige stützten sich, wie schon ihre aragonesischen
Vorgänger, bei der Verwaltung der Insel grösstenteils
auf den Adel (Titulados) und beliessen das Land ansonsten in seiner strukturellen Rückständigkeit. Die
spezi­fisch spanische Form des Absolutismus, die sich
keiner Form von Neuerung oder Verbesserung aufgeschlossen zeigte (»Immobilis­mus«), führte dazu,
dass Sizilien in der Folgezeit von allen sozialen und
wirtschaftlichen Entwicklungen, die ins moderne Europa führ­ten, ausgeschlossen blieb. Spaniens Interesse
an Sizilien beruhte im grossen und ganzen auf zwei
Faktoren: der Einnahme von Steuern und dem strategischen Nutzen der Insel als mediterranes Bollwerk
gegen die Türken.
In der Kunst Siziliens bürgerte sich als Folge der spanischen Herr­schaft zunächst die katalanische Spätgotik ein, ein floraler, aufs äusserste verfeinerter Stil, an
dem die himmelwärts strebenden goti­schen Bogen,
Fenster und Portale wie in die Breite heruntergedrückt erscheinen - es kündigt sich hier bereits das
Formgefühl der Renais­sance mit ihren vorwiegend
kubischen, rechteckigen Strukturen an. Als Haupt-
werk dieses Übergangsstils gilt der Südportikus am
Dom von Palermo (um 1465). Am Portal des Palazzo
Abatellis (1495) zeigen die sich rechtwinklig schneidenden Stäbe der Torrah­mung, dass hier im Vergleich
zum oben genannten Portikus noch ein Schritt weiter
in Richtung Renaissance erfolgt ist - eine Forment­
wicklung, die in etwa derjenigen der englischen
Kunst vom Perpendicular zum Tudorstil vergleichbar
erscheint.
Von Pest und Krieg und existentieller Verunsicherung spricht ein­dringlich das Fresko »Triumph des
Todes«, ein wertvolles zeitgenös­sisches Dokument
(Mitte 15. Jh., Palermo, Sizilianische Regionalga­
lerie): Der Knochenmann reitet Damen und Herren,
Bauern, Bürger, kirchliche und weltliche Potentaten,
die sich in ihren prunkvollen spätmittelalterlichen
Gewändern probeweise dem neuen Lebensge­nuss
hinzugeben scheinen, gleichmacherisch in den Grund.
Auch die misslungene perspektivische Darstellung der
Brunnen verweist dar­auf, dass dieses Fresko - wie die
gesamte sizilianische Kunst jener Jahrzehnte - an der
Schwelle zur Renaissance steht. Eine weitere Eigenart
der sizilianischen Kunstentwicklung, die ihr seit der
Einglie­derung in das spanische Reich eigen ist, tritt
hier ebenfalls zutage:
Alle Stile, die die Insel nun ergreifen werden, kommen von ausser­halb, sind nicht mehr Ausdruck einer
sizilianischen Identität wie zur Zeit der Normannen
- und treffen in dieser Randzone Europas, die Sizilien
nun darstellt, auch mit der entsprechenden Verspätung ein.
So brachten fremde Meister unter einem fremden
Herrscher Alfons V. von Aragon) die italienische
Renaissance nach Sizilien. 1434 gründete Alfons, der
sich als Renaissancefürst, als Mäzen und Förderer des
Humanismus sah, die erste sizilianische Universität
von Catania. Die bedeutendsten Künstler der Renaissance in Sizilien, die Bildhauer Francesco Laurana (ca.
1440-1500) und die Mitglieder der Gagini-Künstlerfamilie, allen voran Antonello Gagini (1478-1536),
waren oberitalienische »Importe«, und Antonello da
Messina stammte zwar, wie sein Name zeigt, von der
Insel, verbrachte jedoch den Grossteil seines künstleri­
schen Lebens in Neapel, dem kulturellen und politischen Zentrum des aragonesischen Süditalien.
Der Manierismus indes fand nur wenig Verbreitung
in Sizilien.
Hauptwerke sind der Brunnen des florentinischen
Bildhauers Fran­cesco Camilliani (um 1540-1586)
auf der Piazza Pretoria in Palermo sowie Neptun- und
Orionbrunnen Giovanni Montorsolis (1507 -1563)
in Messina. Dieser »Brunnenwettstreit« zwischen
den bei den Städten, die Anspruch auf die Stellung
als Hauptstadt, als Caput regni, erhoben, fand ihr
Medium wohl nicht zufällig in jenem auf­wendigen,
auf Repräsentation und Machtdemonstration hin
angeleg­ten Stil. Montorsoli, ein Schüler Michelangelos, entwarf auch den sog. Apostolato im Messiner
Dom, eine Komposition monumentaler Altäre mit
den Statuen der Apostel, deren Originale jedoch im
Bom­benhagel von 1943 bis auf die Johannesfigur vernichtet wurden.
Sizilien im Zeitalter des Barock
Eine kulturelle Blütezeit stellte in Sizilien nach den
Höhepunkten der normannischen Zeit erst wieder
der Barock dar, zu dem alle Bau­ten zu zählen sind, die
vom ersten Viertel des 17. bis in das späte 18. Jh. hinein entstanden. Die Epoche war in wirtschaftlicher
Hin­sicht ganz durch die zuvor skizzierten Phänomene von Feudalismus und Immobilismus bestimmt.
Das als Grundlage des »Baubooms« benötigte Kapital konzentrierte sich in der Hand der landbesitzenden Aristokratie, der religiösen Orden und auch der
lokalen Bruderschaf­ten (die durch die Bauaufträge
des Adels reich wurden), auf alle Fälle jedoch in den
Städten. . .
Das von den abhängigen Bauern auf den Latifundien des Adels; erwirtschaftete Geld wanderte in den
Bau von Palästen und Kirchen und in die prunkvolle
aristokratische Hofhaltung, nicht - etwa zur Verbesserung der ländlichen Infrastruktur oder Modernisierung der Betriebe - zurück aufs Land: Die Beschäftigung mit der Landwirt­schaft, wie auch mit allen anderen Formen von Handel oder Gewerbe, widersprach
dem Selbstverständnis des süditalienischen Adels.
Dieser überliess seine Güter Verwaltern, die das Letzte aus den Bauern herauspressten; ein katastrophaler
Niedergang auf dem Agrar­sektor und eine völlige Verarmung des Bauernstandes waren die Fol­gen.
In der Verfilzung von Regierung, Adel, Grundherrschaft und hohem Klerus ist auch der Grund für
jene spezifisch sizilianische, von Partikularinteressen
geprägte Einstellung zum Staat zu suchen, die, von
Gleichgültigkeit, Misstrauen und Abwehr gekennzeichnet, ihr Heil in »privaten« Machtstrukturen zu
verwirklichen sucht. Die Familie als Versorgungsinstitut, die Brigantenbanden, der örtliche Patron waren allemal näher als der anonyme Staat mit seinem
schwerfälligen und nicht verhandlungs bereiten Bürokratieapparat: Lokale Selbsthilfeaktionen, Klientelismus, Vetternwirtschaft und Korruption kennzeichneten - und kennzeichnen auch heute noch in weiten
Teilen - die politische Mentalität in Sizilien.
Der Adel jedoch, der noch zu Beginn der spanischen
Herrschaft: auf seinen Gütern gelebt hatte, zog nun in
Scharen an den palermi­tanischen Hof der Vizekönige,
ins Zentrum der Macht (»Absentismus«). Prestigedenken, zähes Kleben an den Privilegien, eine ablehnende Haltung jeglichem Reformdenken gegenüber
und eine selbst Zeitgenossen auffällige Prunksucht
kennzeichnen die oberste gesellschaftliche Schicht jener Zeit. Die Vizekönige wussten aus der sprichwörtlichen Titelsucht des sizilianischen Adels klingende
Münze zu schlagen: 1 Mio. Sizilianer ernährten gegen
57
Ende des 18. Jh. 142 Prinzen, 1500 Herzöge und Barone und 788 Marchesi.
Stadtpaläste, Landvillen und ganze Städtegründungen, mit denen‘ die einzelnen Adelsfamilien ihren
Machtbereich erweitern und an Ansehen gewinnen
konnten, gingen auf das Baukonto des siziliani­schen
Adels. 200 000 Scudi vermochte allein der Prinz von
Palago­nia für seine Villa in Bagheria aufzuwenden 1754 hatte das Parla­ment eine gesamtsizilianische
Abgabe von 80 000 Scudi an die Krone als zu hoch
abgelehnt! Das Ende des Ancien Regime um die Wende zum 19. Jh., bedingt durch die Auswirkungen der
Französischen Revolution, sah auch den Niedergang
dieser Schicht, die ihre kost­spielige Lebensführung
mit völliger Verschuldung bezahlen musste.
Kunst- und Bauwerke des Barock
Der Barock in Sizilien war anfangs stark vom römischen Stil geprägt, empfing seine ersten Anregungen
von dort: So ist beispielsweise der spätmanieristische
Bau von S. Caterina in Palermo (Ende des 16. Jh.) klar
auf solche Vorbilder zurückzuführen. Als Bauherren
traten hier vor allem die gegenreformatorischen Orden
auf, u. a. die Jesuiten (deren Ankunft und Vertreibung
von der Insel gleichsam die »Eckda­ten« des sizilianischen Spätmanierismus/Barock markieren: 1542 bzw.
1767), daneben Theatiner und Kapuziner. Aber auch
ältere Orden wie die Dominikaner und Franziskaner
bereicherten die barocke Kirchenlandschaft Siziliens.
Vor allem die Benediktiner wur­den durch Beitritte
der jüngeren Söhne der Adelsgeschlechter, die man,
um eine Zersplitterung des Familienerbes zu verhindern, einer . kirchlichen oder klösterlichen Laufbahn
zuführte, reich und mächtig (die Abteien verlangten
für die Aufnahme von Novizen einen hohen Betrag).
Dasselbe gilt respektive auch für unverheiratete adlige
Damen sowie die weiblichen Orden und Stifte. Auf städtischer oder parochialer Ebene erwuchs zwischen dem mannigfaltigen Bruderschaften religiöser
und/oder berufsständischer Art ein regelrechter
Wettstreit, der sich ebenfalls im Bau von Orato­rien
und Gotteshäusern niederschlug. Und schliesslich
liessen auch die Gemeinden selbst Kirchen ausführen,
meist dem Schutzpatron der Stadt geweiht und im
Zentrum des Wohngebiets liegend.
Drei Stil- und Entwicklungsstufen des sizilianischen
Barock hat die - im übrigen erst sehr spät einsetzende
und noch nicht abge­schlossene - kunstgeschichtliche
Forschung herausgestellt. Die erste, der sog. »lokale
Stil«, zeichnet sich durch überschäumende Phanta­sie,
grosse Detailfreude und eine sehr freie Gestaltung aus
und wirkt oft unverhüllt provinziell, naiv, z.T. sogar
etwas wild und barbarisch. Die ersten Gebäude in diesem Stil, dem am weitesten verbreiteten, von den drei
erwähnten, waren gleichzeitig auch die ersten barocken Schöpfungen in Sizilien überhaupt (etwa erstes
Viertel 17. Jh.).
58
Gegen Ende des 17. Jh. traten dann sizilianische Baumeister auf den Plan, die ihre Ausbildung in Rom
erhalten oder den römischen Barock durch Kupferstiche kennengelernt hatten. Vor allem Gia­como Amato
(1643-1732) tat sich hier als Kulturvermittler hervor
und brachte die Baukonzepte Carlo Fontanas, der für
Sizilien beson­ders wichtig wurde, auf die Insel. Der
Hauptvertreter des »römischen Stils« wurde aber
erst Giovanni Battista Vaccarini (1702-1768), des­
sen Elefantenbrunnen mit dem Obelisken in Catania Beminis Elefan­ten vor S. Maria sopra Minerva in
Rom imitiert. Vaccarinis recht aka­demisch-trockene
Bauten in Catania lassen indes viel von jenem phantasievollen, für den sizilianischen Barock so eigentümlichen Schwung des »lokalen Stils« vermissen (in
letzterem entstanden denn auch während dieser und
der nächsten Phase weiterhin zahlreiche, wenn auch
kunstgeschichtlich weniger bedeutende Bauten).
Die Architekten dieser dritten, quasi »synthetisierenden« Stilstufe nun brachten die beiden ersten Phasen
der sizilianischen Barockentwicklung zur Synthese,
vereinten lokale Traditionen, volkstümliche Phantasie und dekorative Fülle und trugen kenntnis reich zur
Weiter­entwicklung der grossen Vorbilder bei. In der
geschickten Ausnut­zung des jeweiligen Geländes, in
Detailreichtum und gestalterischer Präzision schufen
sie einen spezifisch sizilianischen, die Bautraditio­nen
des Landes aufgreifenden Stil. Die Höhepunkte dieser
Entwick­lung setzten Andrea Palma (1644-1730) mit
der Fassade des Doms von Syrakus, Rosario Gagliardi
(ca. 1700 - ca. 1770) mit seinen Kir­chen in Noto, Ragusa und Modica sowie Tommaso Napoli (17. / 18.
Jh.) mit seinen Villen in Bagheria.
Stadtplanung und Profanarchitekur
Den für Sizilien vielleicht typischsten Ausdruck fand
der Barock in den zahlreichen Stadtneugründungen
und -erweiterungen, durch die in grossangelegten
Planungskonzepten ein neuer, nach utilitaristi­schen
Gesichtspunkten gestalteter Lebensraum geschaffen
wurde. Dies erstaunt zunächst angesichts des zuvor
geschilderten »Immobi­lismus«, doch sollte nicht
unterschlagen werden, dass zumindest Teile des Adels
mit rationalistisch-aufldärerischem Gedankengut aus
Nordeuropa vertraut waren und dies zur Steigerung
ihrer Macht und ihres Ansehens einzusetzen wussten. Die neuen Zentren entstanden in Ebenen oder
flachem Hügelland, da die »moderne« Zeit nach
leich­teren Verbindungs- und Transportmöglichkeiten
und nach mehr Raum verlangte. Die mittelalterlichen
Städte mit ihrer einst für die Verteidigung günstigen
Lage auf Berg- oder Felshöhen boten diese Entfaltungsmöglichkeiten nicht.
Die neugegründeten Ortschaften und Städte kennzeichnet ein nach mathematisch-geometrischen
Prinzipien regelmässig gestaltetes System sich rechtwinklig kreuzender Strassen, das einerseits zukünf­
tiges Wachstum nicht behinderte, andererseits aber
am Kreuzungs­punkt der Strassen ein repräsentatives
Stadtzentrum erhielt, bezeich­net durch die Gemeindekirche, das Rathaus und den - in den mei­sten Fällen
nur selten bewohnten - Palast der lokalen Adelsfamilie. Die Nähe der Wohnhäuser zu diesem Mittelpunkt
städtischen Lebens wies auf die soziale Stellung der
Bewohner hin, die also gestaffelt zum Stadtrand hin
abnahm.
Das städtische Leben spielte sich grösstenteils auf den
eigens zu diesem Zweck konstruierten Plätzen ab: Hier
fuhren die Adligen in ihren Kutschen auf und ab, hier
versammelten sich die Bürger, hier wurde der Markt
abgehalten, hier wickelten sich die Höhepunkte der
Prozessionen und kirchlichen Feste ab. Der Domplatz
in Catania und die nach dem römischen Vorbild der
Quattro Fontane erfolgte Anlage der Quattro Canti
in Palermo dürfen als die grossartigsten Beispiele dieses städtebaulichen Gestaltungswillens gelten. Einen
weiteren kalkulierten Akzent setzten die zahlreichen
Brunnen, die mit ihren sprudelnd-bewegten Wassern
die stetige Veränderung und Vergäng­lichkeit des Lebens symbolisierten, ein im Barock - wie auch die
Auffassung des Lebens als Bühne - weitverbreiteter
Topos.
Ausdruck des adligen Repräsentationswillens, aber
auch der Her­anziehung der Adligen an den Hof waren die Stadtpaläste, am zahl­reichsten natürlich in
der Hauptstadt Palermo. Sie sind meist um einen von
Arkaden gesäumten Innenhof herum angelegt. Das
Unter­geschoss wurde nicht bewohnt, es diente wirtschaftlichen Zwecken, das Mezzanin- oder Zwischengeschoss und kleinere Nebengebäude rund um den
Hof waren für die Dienerschaft bestimmt, darüber lag
dann der Piano nobile, das herrschaftliche Wohngeschoss.
Die mächtige Fassadenfront zur Strasse hin, meist
nur sparsam durch Pilaster gegliedert, erhielt ihre
Hauptakzente durch die mit schmiedeeisernen Gittern, profilierten Giebeln und figürlichem Schmuck
verzierten Fensterreihen sowie durch das besonders
her­vorgehobene Portal, über dem meist der typische
ausladende, schmiedeeiserne Balkon entlanglief. Besonders in Palermo erfuhren die Treppenhäuser eine
eingehende und prunkvolle Gestaltung, wofür der Palazzo Gangi-Valguarnera wohl das eleganteste Beispiel
bietet.
Während der heissen Sommermonate zogen sich die
palermitani­schen Adligen - wie lange vor ihnen schon
die normannischen Könige - aufs Land zurück, und
so liessen sie rund um die Hauptstadt Villen errichten: an der Piana dei Colli, am Fusse des Monte Pelle­
grino, oder in Bagherla, wo die schönsten Landsitze
entstanden. Da die Bautätigkeit erst mit dem Beginn
des 18. Jh. einsetzte, im Ver­gleich zum übrigen Italien also wieder mit echt sizilianischer »Verspätung«,
weisen die Villen die für den späten Barock typischen
kurvier­ten und komplizierten Grundrisse auf. Das ar-
chitektonische Spiel mit Schein und Illusion, wie wir
es vollendet in der von Tommaso Napoli entworfenen
Villa Palagonia, der berühmtesten und meistbesuchten der Villen, vorfinden, ist ebenfalls ein für den Barock typisches Ele­ment.
Immer wird das Herrenhaus von einer Fülle von Nebengebäuden umgeben, was der Anlage einen eigentümlich verschlossenen, von der umgebenden Landschaft getrennten Charakter verleiht. Die Dächer
der Nebengebäude trugen oft Terrassen, die in der
Abend­kühle des Sommers zum Aufenthalt einluden.
Der Piano nobile war nur durch eine breit angelegte
Freitreppe vor der Fassade zu errei­chen, die, immer
symmetrisch, also doppelläufig, Zugang zum Gar­ten
bot und in ihrem phantasievollen Gestaltungsreichtum den eigentlichen Akzent dieser Sommerpaläste
setzt - die Villa Palagonia schuf hier den Prototyp.
Aussentreppen an Villen waren im übrigen Italien
nicht gerade verbreitet, und so darf man vor allem in
dieser Hinsicht von einem spezifisch sizilianischen
Beitrag zum europäi­schen Barock sprechen.
Sakralarchitektur
Was jedoch das Bild der sizilianischen Städte und
Orte, für jeden Rei­senden sofort sichtbar prägt, sind
die zahllosen barocken Kirchen, Klöster, Kapellen
und Oratorien. Die geographische Umgebung, im
hügeligen Südosten Siziliens z. B. die Hanglage der
Städte, vermochte vor allem Rosario Gagliardi auf unnachahmliche Weise für seine sich steil über Freitreppen emportürmenden Kirchen zu nutzen (S. Giorgio
in Ragusa und die gleichnamige Kirche in Modica).
Inner­halb der auf grösstmögliche Wirkung bedachten
städtebaulichen Kon­zeptionen erfuhren naturgemäss
der Aussenbau und hier besonders Fassade und Kuppel (deren Höhe im Stadtbild Prestigewert besass)
höchste Aufmerksamkeit.
Eine interessante Kombination der Doppelturmfassade mit über­einandergestellten Säulenordnungen nach
römischem Vorbild finden wir am Dom von Noto.
Doch erst im 18. Jh. wurden die davor eher flachen
Fassaden aufgebrochen, wurden mit Hilfe stark vortretender Säulen sowie gesprengter und gekröpfter
Giebel dramatische Hell­dunkeleffekte und plastische
Tiefenstaffelungen gesucht, wie es Andrea Palmas Fassade des Doms von Syrakus vollendet vorführt. Auch
konvexe und konkave Fassaden traten in der Nachfolge Fran­cesco Borrominis (1599-1667) mit der schon
zuvor beobachteten Verspätung an sizilianischen Kirchenfassaden des 18. Jh. auf; in küh­ner Verbindung
mit vorspringenden Säulenordnungen und den für
Gagliardi typischen Voluten zeigen dies die beiden
oben erwähnten Kirchen dieses Architekten.
Die Kirche von S. Sebastiano in Acireale, an deren
Portal mit sei­ner reichen, aber flächigen Dekoration
noch der Stil des 17. Jh. vor dem grossen Erdbeben
erkennbar ist, stellt in ihrer oberen Fassaden­partie das
59
früheste Beispiel der Einturmfassade dar. Die meist
dreiteilige Fassade wird mit ihrer Mittelpartie durch
ein Glok­kengeschoss mit Bogenöffnungen für den
Klangaustritt überhöht ­eine Variante, die sich auf dem
italienischen Festland nicht findet und als typisch sizilianisch gelten darf. Vor allem die Kirchen im Südosten der Insel, und hier insbesondere diejenigen Rosario Gagliardis, wei­sen diese Fassadengestaltung auf.
Der Grundriss der meisten grösseren Kirchen blieb
der einer drei­schiffigen Basilika, wobei in Sizilien wohl eine Erinnerung an das normannische Erbe - die
Arkaden auf Säulen statt auf den im übri­gen Italien
üblichen Pfeilern aufsetzten (z. B. S. Giuseppe dei
Teatini in Palermo). Die kleineren Gotteshäuser sowie
diejenigen der weiblichen Orden waren dagegen meist
einschiffige Saalkirchen, bei letzteren immer mit einer
Nonnenempore im Westen, von der aus die Ordensschwestern sowohl am Gottesdienst teilnehmen als
auch das Geschehen draussen beobachten konnten,
ohne selbst gesehen zu werden (z. B. S. Caterina in Palermo). Daneben fand auch der Zentralbau mit seinen
spezifisch barocken Varianten als ovaler, achteckiger,
kreuzförmiger etc. Grundriss Verwendung (z. B. Sant‘
Antonio Abbate in Ferla und S. Chiara in Notor).
Die Oratorien der oft miteinander wetteifernden
Bruderschaften in Palermo boten Giacomo Serpotta
(1656-1732) aus der berühmten Stuccatori-Familie
ein reiches Betätigungsfeld. Schwerelos wirkende plastische Vorhänge überziehen die Wände, gebildet von
ornamenta­lem Rankenwerk, illusionären Draperien,
allegorischen Figuren und christlichen Heiligen, Putten sowie in diesen überbordenden Dekor eingelassenen Reliefs mit szenischen Darstellungen. Serpottas
Mei­sterwerk stellt das zur Kirche S. Zita gehörende
Oratorio deI Rosario dar.
Ausklang des Barock
In der auf die Jahrhunderte spanischer Herrschaft
folgenden Zeit las­sen sich auch Einflüsse aus dem
west- und nordeuropäischen Barock ‚ausmachen; so
entstanden während der wenigen Jahre unter österreichischer Regierung Kirchen, die, wie die Chiesa
di Montevergine in Noto, Werke Fischer von Erlachs
nachahmen. Im letzten Viertel des 18. Jh., als der Barock langsam ausklang, machten sich die ,Konzepte
des französischen Klassizismus bemerkbar, als dessen
wichtigster Repräsentant in Sizilien Giovanni Venanzio Marvuglia (1729-1814) gilt. Schon hier lässt sich
jedoch feststellen, dass der von aussen importierte Stil
nicht mehr, wie der Barock, im Lande aufge­griffen
und den lokalen Traditionen und Mentalitäten anverwandelt wird. Dies gilt ebenfalls für Historismus sowie Jugendstil und ihre Hauptvertreter, die Architekten Giovanni B. Basile (1825-1891; Tea­tro Massimo,
bzw. seinen Sohn Ernesto (1857-1932).
60
Palermo
Italienische Reise, Johann Wolfgang von Goethe
Palermo, Dienstag den 3. April 1787
Unser erstes war, die Stadt näher zu betrachten, die
sehr leicht zu überschauen und schwer zu kennen
ist, leicht, weil eine meilenlange Strasse vom untern
zum obern Tor, vom Meere bis gegen das Gebirg‘ sie
durch­schneidet und diese ungefähr in der Mitte von
einer andern abermals durchschnitten wird: was auf
diesen Li­nien liegt, ist bequem zu finden; das Innere der Stadt hin­gegen verwirrt den Fremden, und er
entwirrt sich nur mit Hülfe eines Führers in diesem
Labyrinthe.
Gegen Abend schenkten wir unsere Aufmerksamkeit
der Kutschenreihe der bekannten Fahrt vornehmerer
Personen, welche sich zur Stadt hinaus auf die Reede
be­gaben, um frische Luft zu schöpfen, sich zu unterhalten und allenfalls zu courtoisieren.
Zwei Stunden vor Nacht war der Vollmond eingetre­
ten und verherrlichte den Abend unaussprechlich.
Die Lage von Palermo gegen Norden macht, dass sich
Stadt und Ufer sehr wundersam gegen die grossen
Himmels­lichter verhält, deren Widerschein man niemals in den Wellen erblickt. Deswegen wir auch heute
an dem hei­tersten Tage das Meer dunkelblau, ernsthaft und zu­dringlich fanden, anstatt dass es bei Neapel
von der Mit­tagsstunde an immer heiterer, lustiger und
ferner glänzt.
Kniep hatte mich schon heute manchen Weg und
manche Betrachtung allein machen lassen, um einen
ge­nauen Kontur des Monte Pellegrino zu nehmen, des
schönsten aller Vorgebirge der Welt.
Palermo, den 3. April 1787.
Hier noch einiges zusammenfassend, nachträglich
und vertraulich:
Wir fuhren Donnerstag, den 29. März, mit Sonnenun­
tergang von Neapel und landeten erst nach vier Tagen um drei Uhr im Hafen von Palermo. Ein kleines
Dia­rium, das ich beilege, erzählt überhaupt unsere
Schick­sale. Ich habe nie eine Reise so ruhig angetreten als diese, habe nie eine ruhigere Zeit gehabt als auf
der durch be­ständigen Gegenwind sehr verlängerten
Fahrt, selbst auf dem Bette im engen Kämmerchen,
wo ich mich die er­sten Tage halten musste, weil mich
die Seekrankheit stark angriff. Nun denke ich ruhig
zu euch hinüber; denn wenn irgend etwas für mich
entscheidend war, so ist es diese Reise.
Hat man sich nicht ringsum vom Meere umgeben ge­
sehen, so hat man keinen Begriff von Welt und von
sei­nem Verhältnis zur Welt. Als Landschaftszeichner
hat mir diese grosse, simple Linie ganz neue Gedanken gege­ben.
Wir haben, wie das Diarium ausweist, auf dieser kur­
zen Fahrt mancherlei Abwechslungen und gleichsam die Schicksale der Seefahrer im kleinen gehabt.
Übrigens ist die Sicherheit und Bequemlichkeit des
Paketbootsnicht genug zu loben. Der Kapitän ist ein
sehr braver und recht artiger Mann. Die Gesellschaft
war ein ganzes Theater, gutgesittet, leidlich und angenehm. Mein Künstler, den ich bei mir habe, ist ein
munterer, treu er, guter Mensch, der mit der grössten
Akkuratesse zeichnet; er hat alle In­seln und Küsten,
wie sie sich zeigten, umrissen; es wird euch grosse
Freude machen, wenn ich alles mitbringe. Übrigens
hat er mir, die langen Stunden der Überfahrt zu verkürzen, das Mechanische der Wasserfarbenmalerei
(Aquarell), die man in Italien jetzt sehr hoch getrieben hat, aufgeschrieben: versteht sich den Gebrauch
gewis­ser Farben, um gewisse Töne hervorzubringen,
an denen man sich, ohne das Geheimnis zu wissen, zu
Tode mi­schen würde. Ich hatte wohl in Rom manches
davon er­fahren, aber niemals im Zusammenhänge.
Die Künstler haben es in einem Lande ausstudiert
wie Italien, wie die­ses ist. Mit keinen Worten ist die
dunstige Klarheit aus­zudrücken, die um die Küsten
schwebte, als wir am schönsten Nachmittage gegen
Palermo anfuhren. Die Reinheit der Conture, die
Weichheit des Ganzen, das Auseinanderweichen der
Töne, die Harmonie von Himmel, Meer und Erde.
Wer es gesehen hat, der hat es auf sein ganzes Leben.
Nun versteh‘ ich erst die Claude Lorrains und habe
Hoffnung, auch dereinst in Norden aus meiner Seele
Schattenbilder dieser glücklichen Woh­nung hervorzubringen. Wäre nur alles ‚Kleinliche so rein daraus
weggewaschen als die Kleinheit der Strohdächer aus
meinen Zeichenbegriffen. Wir wollen sehen, was diese Königin der Inseln tun kann.
Wie sie uns empfangen hat, habe ich keine Worte aus­
zudrücken: mit frischgrünenden Maulbeerbäumen,
immergrünendem Oleander, Zitronenhecken etc.
In ei­nem öffentlichen Garten stehn weite Beete von
Ranun­keln und Anemonen. Die Luft ist mild, warm
und wohl­riechend, der Wind lau. Der Mond ging
dazu voll hinter einem Vorgebirge herauf und schien
ins Meer; und die­sen Genuss, nachdem man vier Tage
und Nächte auf den Wellen geschwebt! Verzeiht, wenn
ich mit einer stump­fen Feder aus einer Tuschmuschel,
aus der mein Gefährte die Umrisse nachzieht, dieses
hinkritzle. Es kommt doch wie ein Lispeln zu euch
hinüber, indes ich allen, die mich lieben, ein ander
Denkmal dieser meiner glücklichen Stunden bereite.
Was es wird, sag‘ ich nicht, wann ihr es erhaltet, kann
ich auch nicht sagen.
Palermo, Dienstag den 3. April 1787.
Dieses Blatt sollte nun, meine Geliebten, euch des
schönsten Genusses, insofern es möglich wäre, teilhaft
machen; es sollte die Schilderung der unvergleichlichen, eine grosse Wassermasse umfassenden Bucht
überliefern. Von Osten herauf, wo ein flächeres Vorgebirg weit in die See greift, an vielen schroffen, wohlgebildeten, waldbewachsenen Felsen hin bis an die
Fischerwohnun­gen der Vorstädte herauf, dann an der
Stadt selbst her, deren äussere Häuser alle nach dem
Hafen schauen, wie unsere Wohnung auch, bis zu dem
63
Tore, durch welches‘ wir hereinkamen.
Dann geht es westwärts weiter fort an den gewöhnli­
chen Landungsplatz, wo kleinere Schiffe anlegen, bis
zu dem eigentlichen Hafen an den Molo, die Station
grösse­rer Schiffe. Da erhebt sich nun, sämtliche Fahrzeuge zu schützen, in Westen der Monte Pellegrino in
seinen schönen Formen, nachdem er ein liebliches,
fruchtbares Tal, das sich bis zum jenseitigen Meer
erstreckt, zwi­schen sich und dem eigentlichen festen
Land gelassen.
Kniep zeichnete, ich schematisierte, beide mit grossem Genuss, und nun, da wir fröhlich nach Hause
kommen, fühlen wir beide weder Kräfte noch Mut,
zu wiederho­len und auszuführen. Unsere Entwürfe
müssen also für künftige Zeiten liegenbleiben, und
dieses Blatt gibt euch bloss ein Zeugnis unseres Unvermögens, diese Gegen­stände genügsam zu fassen,
oder vielmehr unserer An­massung, sie in so kurzer
Zeit erobern und beherrschen zu wollen.
Palermo, Mittwoch, den 4. April 1787.
Nachmittags besuchten wir das fruchtreiche und an­
genehme Tal, welches die südlichen Berge herab an
Pa­lermo vorbeizieht, durchschlängelt von dem Fluss
Ore­to. Auch hier wird ein malerisches Auge und eine
ge­schickte Hand gefordert, wenn ein Bild soll gefunden werden, und doch erhaschte Kniep einen Standpunkt, da, wo das gestemmte Wasser von einem halbzerstörten Wehr herunterfliesst, beschattet von einer
fröhlichen Baumgruppe, dahinter das Tal hinaufwärts
die freie Aussicht und einige landwirtschaftliche Gebäude.
Die schönste Frühlingswitterung und eine hervor­
quellende Fruchtbarkeit verbreitete das Gefühl eines
be­lebenden Friedens über das ganze Tal, welches mir
der ungeschickte Führer durch seine Gelehrsamkeit
ver­kümmerte, umständlich erzählend, wie Hannibal
hier vormals eine Schlacht geliefert und was für ungeheure Kriegstaten an dieser Stelle geschehen. Unfreundlich verwies ich ihm das fatale Hervorrufen
solcher abge­schiedenen Gespenster. Es sei schlimm
genug, meinte ich, dass von Zeit zu Zeit die Saaten,
wo nicht immer von Elefanten, doch von Pferden
und Menschen zerstampft werden müssten. Man solle
wenigstens die Einbildungs­kraft nicht mit solchem
Nachgetümmel aus ihrem fried­lichen Traume aufschrecken.
Er verwunderte sich sehr, dass ich das klassische An­
denken an so einer Stelle verschmähte, und ich konnte ihm freilich nicht deutlich machen, wie mir bei
einer sol­chen Vermischung des Vergangenen und des
Gegen­wärtigen zumute sei.
Noch wunderlicher erschien ich diesem Begleiter,
als ich auf allen seichten Stellen, deren der Fluss gar
viele trocken lässt, nach Steinchen suchte und die
verschiede­nen Arten derselben mit mir forttrug. Ich
konnte ihm abermals nicht erklären, dass man sich
von einer gebirgi­gen Gegend nicht schneller einen
Begriffmachen kann, als wenn man die Gesteinsarten
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untersucht, die in den Bächen herabgeschoben werden, und dass hier auch die Aufgabe sei, durch Trümmer sich eine Vorstellung von jenen ewig klassischen
Höhen des Erdaltertums zu ver­schaffen.
Auch war meine Ausbeute aus diesem Flusse reich ge­
nug, ich brachte beinahe vierzig Stücke zusammen,
wel­che sich freilich in wenige Rubriken unterordnen
liessen. Das meiste war eine Gebirgsart, die man bald
für Jaspis oder Hornstein, bald für Tonschiefer ansprechen konn­te. Ich fand sie teils in abgerundeten,
teils unförmigen Geschieben, teils rhombisch gestaltet, von vielerlei Far­ben. Ferner kamen viele Abänderungen des ältern Kalkes vor, nicht weniger Breccien,
deren Bindemittel Kalk, die verbundenen Steine aber
bald Jaspis, bald Kalk waren. Auch fehlte es nicht an
Geschieben von Muschelkalk.
Die Pferde füttern sie mit Gerste, Häckerling und
Kleien; im Frühjahr geben sie ihnen geschosste grüne
Gerste, um sie zu erfrischen, per rinfrescar, wie sie es
nennen. Da sie keine Wiesen haben, fehlt es an Heu.
Auf den Bergen gibt es einige Weide, auch auf den Äckern, da ein Drittel als Brache liegenbleibt. Sie halten
wenig Schafe, deren Rasse aus der Barbarei kommt,
überhaupt auch mehr Maultiere als Pferde, weil jenen
die hitzige Nahrung besser bekommt als diesen.
Die Plaine, worauf Palermo liegt, sowie ausser der
Stadt die Gegend Ai Colli, auch ein Teil der Bagaria,
hat im Grunde Muschelkalk, woraus die Stadt gebaut
ist, daher man denn auch grosse Steinbrüche in diesen
Lagen findet. In der Nähe von Monte Pellegrino sind
sie an ei­ner Stelle über fünfzig Fuss tief. Die untern
Lager sind weisser von Farbe. Man findet darin viel
versteinte Ko­rallen und Schaltiere, vorzüglich grosse
Pilgermuscheln. Das obere Lager ist mit rotem Ton
gemischt und enthält wenig oder gar keine Muscheln.
Ganz obenaufliegt roter Ton, dessen Lage jedoch
nicht stark ist.
Der Monte Pellegrino hebt sich aus allem diesem
her­vor; er ist ein älterer Kalk, hat viele Löcher und
Spaltun­gen, welche, genau betrachtet, obgleich sehr
unregelmä­ssig, sich doch nach der Ordnung der Bänke richten. Das Gestein ist fest und klingend.
Palermo, Donnerstag, den 5. April 1787
Wir gingen die Stadt im besondern durch. Die Bauart
gleicht meistens der von Neapel, doch stehen öffentliche Monumente, z. B. Brunnen, noch weiter entfernt
vom guten Geschmack. Hier ist nicht wie in Rom ein
Kunst­geist, welcher die Arbeit regelt; nur von Zufälligkeiten erhält das Bauwerk Gestalt und Dasein. Ein
von dem ganzen Inselvolke angestaunter Brunnen
existierte schwerlich, wenn es in Sizilien nicht schönen, bunten Marmor gäbe, und wenn nicht gerade
ein Bildhauer, geübt in Tiergestalten, damals Gunst
gehabt hätte. Es wird schwerhalten, diesen Brunnen
zu beschreiben. Auf ei­nem mässigen Platze steht ein
rundes architektonisches Werk, nicht gar stockhoch,
Sockel, Mauer und Gesims von farbigem Marmor;
in die Mauer sind in einer Flucht mehrere Nischen
angebracht, aus welchen, von weissem Marmor gebildet, alle Arten Tierköpfe auf gestreckten Hälsen
herausschauen: Pferd, Löwe, Kamel, Elefant wechseln
miteinander ab, und man erwartete kaum hin­ter dem
Kreise dieser Menagerie einen Brunnen, zu wel­chem
von vier Seiten durch gelassene Lücken marmorne
Stufen hinaufführen, um das reichlich gespendete
Was­ser schöpfen zu lassen.
Etwas Ähnliches ist es mit den Kirchen, wo die Prachtliebe der Jesuiten noch überboten ward, aber nicht aus
Grundsatz und Absicht, sondern zufällig, wie allen­
falls ein gegenwärtiger Handwerker, Figuren- oder
Laubschnitzer, Vergolder, Lackierer und Marmorierer
gerade das, was er vermochte, ohne Geschmack und
Lei­tung an gewissen Stellen anbringen wollte.
Dabei findet man eine Fähigkeit, natürliche Dinge
nachzuahmen, wie denn z. B. jene Tierköpfe gut genug gearbeitet sind. Dadurch wird freilich die Bewunderung der Menge erregt, deren ganze Kunstfreude
darin besteht, dass sie das Nachgebildete mit dem
Urbilde ver­gleichbar findet.
Gegen Abend machte ich eine heitere Bekanntschaft,
indem ich auf der langen Strasse bei einem kleinen
Han­deIsmanne eintrat, um verschiedene Kleinigkeiten ein­zukaufen. Als ich vor dem Laden stand, die
Ware zu be­sehen, erhob sich ein geringer Luftstoss,
welcher, längs der Strasse herwirbelnd, einen unendlichen erregten Staub in alle Buden und Fenster
sogleich verteilte. »Bei allen Heiligen! sagt mir«,
rief ich aus, »woher kommt die Unreinlichkeit eurer
Stadt, und ist derselben denn nicht abzuhelfen? Diese
Strasse wetteifert an Länge und Schönheit mit dem
Corso zu Rom. An beiden Seiten Schrittsteine, die
jeder Laden- und Werkstattbesitzer mit unablässigem
Kehren reinlich hält, indem er alles in die Mitte hinunterschiebt, welche dadurch nur immer un­reinlicher
wird und euch mit jedem Windshauch den Unrat
zurücksendet, den ihr der Hauptstrasse zugewie­sen
habt. In Neapel tragen geschäftige Eseljeden Tag das
Kehricht nach Gärten und Feldern, sollte denn bei
euch nicht irgendeine ähnliche Einrichtung entstehen
oder ge­troffen werden?«
»Es ist bei uns nun einmal, wie es ist«, versetzte der
Mann; »was wir aus dem Hause werfen, verfault
gleich vor der Türe übereinander. Ihr seht hier Schichten von Stroh und Rohr, von Küchenabgängen und allerlei Un­rat, das trocknet zusammen auf und kehrt als
Staub zu uns zurück. Gegen den wehren wir uns den
ganzen Tag. Aber seht, unsere schönen, geschäftigen,
niedlichen Be­sen vermehren, zuletzt abgestumpft, nur
den Unrat vor unsern Häusern.«
Und lustig genommen, war es wirklich an dem. Sie
haben niedliche Beschen von Zwergpalmen, die
man weniger Abänderung zum Fächerdienst eignen
­könnte, sie schleifen sich leicht ab, und die stumpfen
liegen zu Tausenden in der Strasse. Auf meine wieder-
holte Frage, ob dagegen keine Anstalt zu treffen sei,
erwiderte er, die Rede gehe im Volke, dass gerade die,
welche für Reinlichkeit zu sorgen hätten, wegen ihres grossen Einflusses nicht genötigt werden könnten,
die Gelder pflichtmässig zu verwenden, und dabei sei
noch der wunderliche Umstand, dass man fürchte,
nach wegge­schafftem misthaftem Geströhde werde
erst deutlich zum Vorschein kommen, wie schlecht
das Pflaster darunter beschaffen sei wodurch denn
abermals die unredliche Verwaltung einer andern
Kasse zutage kommen ­würde. Das alles aber sei, setzte
er mit possierlichem Ausdruck hinzu, nur Auslegung
von Übelgesinnten, er von der Meinung derjenigen,
welche behaupten, der Adel erhalte seinen Karossen
diese weiche Unterlage, damit sie des Abends ihre
herkömmliche Lustfahrt ­auf elastischem Boden bequem vollbringen könnten. ­Und da der Mann einmal
im Zuge war, bescherzte er noch mehrere Polizeimissbräuche, mir zu tröstlichem Beweis, dass der Mensch
noch immer Humor genug hat, ­sich über das Unabwendbare lustig zu machen.
Palermo, den 6. April 1787.
Die heilige Rosalie, Schutzpatronin von Palermo, ist
durch die Beschreibung, welche Brydone von ihrem
Fe­ste gegeben hat, so allgemein bekannt geworden,
dass es den Freunden gewiss angenehm sein muss,
etwas von dem Orte und der Stelle, wo sie besonders
verehrt wird, zu lesen.
Der Monte Pellegrino, eine grosse Felsenmasse, breiter als hoch, liegt an dem nordwestlichen Ende des
Golfs von Palermo. Seine schöne Form lässt sich mit
Worten nicht beschreiben; eine unvollkommene Abbildung da­von findet sich in dem »Voyage pittoresque
de la Sicile«. Er bestehet aus einem grauen Kalkstein
der früheren Epoche. Die Felsen sind ganz nackt, kein
Baum, kein Strauch wächst auf ihnen, kaum, dass die
flachliegenden Teile mit etwas Rasen und Moos bedeckt sind.
In einer Höhle dieses Berges entdeckte man zu Anfang des vorigen Jahrhunderts die Gebeine der Heiligen und brachte sie nach Palermo. Ihre Gegenwart
befreite die Stadt von der Pest, und Rosalie war seit
diesem Augen­blicke die Schutzheilige des Volks; man
baute ihr Kapel­len und stellte ihr zu Ehren glänzende
Feierlichkeiten an.
Die Andächtigen wallfahrteten fleissig auf den Berg,
und man erbaute mit grossen Kosten einen Weg, der
wie eine Wasserleitung auf Pfeilern und Bogen ruht
und in einem Zickzack zwischen zwei Klippen hinaufsteigt.
Der Andachtsort selbst ist der Demut der Heiligen,
welche sich dahin flüchtete, angemessener als die
präch­tigen Feste, welche man ihrer völligen Entäusserung von der Welt zu Ehren anstellte. Und vielleicht
hat die ganze Christenheit, welche nun achtzehnhundert Jahre ihren Besitz, ihre Pracht , ihre feierlichenLustbarkeiten auf das Elend ihrer ersten Stifter und
eifrigsten Bekenner gründet, keinen heiligen Ort auf65
zuweisen, der auf eine so unschuldige und gefühlvolle
Art verziert und verehrt wäre.
Wenn man den Berg erstiegen hat, wendet man sich
um eine Felsenecke, wo man einer steilen Felswand
nah gegenüber steht, an welcher die Kirche und das
Kloster gleichsam festgebaut sind.
Die Aussenseite der Kirche hat nichts Einladendes
noch Versprechendes; man eröffnet die Türe ohne Erwartung, wird aber auf das wunderbarste überrascht,
in-dem man hineintritt. Man befindet sich unter einer
Halle, welche in der Breite der Kirche hinläuft und
gegen das Schiff zu offen ist. Man sieht in derselben
die gewöhnlichen Gefasse mit Weihwasser und einige
Beichtstühle. Das Schiff der Kirche ist ein offner Hof,
der an der rechten Seite von rauhen Felsen, auf der linken von einer Kontinuation der Halle zugeschlossen
wird. Er ist mit Steinplatten etwas abhängig belegt,
damit das Regenwasser ablaufen kann; ein kleiner
Brunnen steht ungefähr in der Mitte.
Die Höhle selbst ist zum Chor umgebildet, ohne dass
man ihr von der natürlichen rauhen Gestalt etwas genommen hätte. Einige Stufen führen hinauf: gleich
steht der grosse Pult mit dem Chorbuche entgegen,
aufbeiden Seiten die Chorstühle. Alles wird von dem
aus dem Hofe oder Schiff einfallenden Tageslicht erleuchtet. Tiefhinten in dem Dunkel der Höhle steht
der Hauptaltar in der Mitte.
Man hat, wie schon gesagt, an der Höhle nichts verändert; allein da die Felsen immer von Wasser träufeln,
war es nötig, den Ort trocken zu halten. Man hat dieses durch bleierne Rinnen bewirkt, welche man an den
Kanten der Felsen hergeführt und verschiedentlich
miteinander verbunden hat. Da sie oben breit sind
und unten spitz zulaufen, auch mit einer schmutzig
grünen Farbe angestrichen sind, so sieht es fast aus,
als wenn die Höhle inwendig mit grossen Kaktusarten bewachsen wäre. Das Wasser wird teils seitwärts,
teils hinten in einen klaren Behälter geleitet, woraus
es die Gläubigen schöpfen und gegen allerlei Übel gebrauchen.
Da ich diese Gegenstände genau betrachtete, trat ein
Geistlicher zu mir und fragte mich, ob ich etwa ein
Genueser sei und einige Messen wollte lesen lassen. Ich
versetzte ihm darauf, ich sei mit einem Genueser nach
Palermo gekommen, welcher morgen als an einem
Festtage heraufsteigen würde. Da immer einer von uns
zu Hause bleiben müsste, wäre ich heute heraufgegangen, mich umzusehen. Er versetzte darauf, ich möchte
mich aller Freiheit bedienen, alles wohl betrachten
und meine Devotion verrichten. Besonders wies er
mich an einen Altar, der links in der Höhle stand, als
ein besonderes Heiligtum und verliess mich.
Ich sah durch die Öffnungen eines grossen, aus Messing getriebenen Laubwerks Lampen unter dem Altar
hervorschimmern, kniete ganz nahe davor hin und
blickte durch die Öffnungen. Es war inwendig noch
ein Gitterwerk von feinem geflochtenem Messingdraht vorgezogen, so dass man nur wie durch einen
Flor den Gegenstand dahinter unterscheiden konnte.
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Ein schönes Frauenzimmer erblickt‘ ich bei dem
Schein einiger stillen Lampen.
Sie lag wie in einer Art von Entzückung, die Augen
halb geschlossen, den Kopf nachlässig auf die rechte
Hand gelegt, die mit vielen Ringen geschmückt war.
Ich konnte das Bild nicht genug betrachten; es schien
mir ganz besondere Reize zu haben. Ihr Gewand ist
aus ei­nem vergoldeten Blech getrieben, welches einen
reich von Gold gewirkten Stoff gar gut nachahmt.
Kopf und Hände, von weissem Marmor, sind, ich darf
nicht sagen in einem hohen Stil, aber doch so natürlich und gefällig gearbeitet, dass man glaubt, sie müsste Atem holen und sich bewegen.
Ein kleiner Engel steht neben ihr und scheint ihr mit
einem Lilienstengel Kühlung zuzuwehen.
Unterdessen waren die Geistlichen in die Höhle ge­
kommen, hatten sich auf ihre Stühle gesetzt und sangen die Vesper.
Ich setzte mich auf eine Bank gegen dem Altar über
und hörte ihnen eine Weile zu; alsdann begab ich
mich wieder zum Altare, kniete nieder und suchte das
schöne Bild der Heiligen noch deutlicher gewahr zu
werden. Ich überliess mich ganz der reizenden Illusion
der Gestalt und des Ortes.
Der Gesang der Geistlichen verklang nun in der Höh­
le, das Wasser rieselte in das Behältnis gleich neben
dem Altare zusammen, die überhangenden Felsen des
Vor­hofs, des eigentlichen Schiffs der Kirche, schlossen
die Szene noch mehr ein. Es war eine grosse Stille in
dieser gleichsam wieder ausgestorbenen Wüste, eine
grosse Reinlichkeit in einer wilden Höhle; der Flitterputz des katholischen, besonders sizilianischen
Gottesdienstes, hier noch zunächst seiner natürlichen
Einfalt; die Illu­sion, welche die Gestalt der schönen Schläferin hervor­brachte, auch einem geübten
Auge noch reizend - ge­nug, ich konnte mich nur mit
Schwierigkeit von diesem Orte losreissen und kam
erst in später Nacht wieder in Palermo an.
Palermo, Sonnabend, den 7. April 1787.
In dem öffentlichen Garten unmittelbar an der Reede
brachte ich im stillen die vergnügtesten Stunden zu.
Es ist der wunderbarste Ort von der Welt. Regelmässig
an­gelegt, scheint er uns doch feenhaft; vor nicht gar
langer Zeit gepflanzt, versetzt er ins Altertum. Grüne Beetein­fassungen umschliessen fremde Gewächse,
Zitronenspa­liere wölben sich zum niedlichen Laubengange, hohe Wände des Oleanders, geschmückt
von tausend roten nelkenhaften Blüten, locken das
Auge. Ganz fremde, mir unbekannte Bäume, noch
ohne Laub, wahrscheinlich aus wärmern Gegenden,
verbreiten seltsame Zweige. Eine hinter dem flachen
Raum erhöhte Bank lässt einen so wundersam verschlungenen Wachstum übersehen und lenkt den
Blick zuletzt auf grosse Bassins, in welchen Gold- und
Silberfische sich gar lieblich bewegen, bald sich unter
bemooste Röhren verbergen, bald wieder scharenweis,
durch einen Bissen Brot gelockt, sich ver­sammeln. An
den Pflanzen erscheint durchaus ein Grün, das wir
nicht gewohnt sind, bald gelblicher, bald blauli­cher
als bei uns. Was aber dem Ganzen die wundersamste
Anmut verlieh, war ein starker Duft, der sich über
alles gleichförmig verbreitete, mit so merklicher Wirkung, dass die Gegenstände, auch nur einige Schritte
hinterein­ander entfernt, sich entschiedener hellblau
voneinander absetzten, so dass ihre eigentümliche
Farbe zuletzt verlo­renging, oder wenigstens sehr überbläut sie sich dem Auge darstellten.
Welche wundersame Ansicht ein solcher Duft ent­
fernteren Gegenständen, Schiffen, Vorgebirgen erteilt, ist für ein malerisches Auge merkwürdig genug,
indem die Distanzen genau zu unterscheiden, ja zu
messen sind; deswegen auch ein Spaziergang auf die
Höhe höchst rei­zend ward. Man sah keine Natur
mehr, sondern nur Bil­der, wie sie der künstlichste Maler durch Lasieren aus­einander gestuft hätte.
Aber der Eindruck jenes Wundergartens war mir zu
tief geblieben; die schwärzlichen Wellen am nördlichen Horizonte, ihr Anstreben an die Buchtkrümmungen, selbst der eigene Geruch des dünstenden
Meeres, das al­les rief mir die Insel der seligen Phäaken
in die Sinne so­wie ins Gedächtnis. Ich eilte sogleich,
einen Homer zu kaufen, jenen Gesang mit grosser
Erbauung zu lesen und eine Übersetzung aus dem
Stegreif Kniepen vorzutra­gen, der wohl verdiente, bei
einem guten Glase Wein von seinen strengen heutigen
Bemühungen behaglich auszuruhen.
Palermo, den 8. April 1787. Ostersonntag.
Nun aber ging die lärmige Freude über die glückliche
Auferstehung des Herrn mit Tagesanbruch los. Petarden, Lauffeuer, Schläge, Schwärmer und dergleichen wurden kastenweis vor den Kirchtüren losgebrannt, in­dessen die Gläubigen sich zu den eröffneten
Flügelpfor­ten drängten. Glocken- und Orgelschall,
Chorgesang der Prozessionen und der ihnen entgegnenden geistli­chen Chöre konnten wirklich das Ohr
derjenigen ver­wirren, die an eine so lärmende Gottesverehrung nicht gewöhnt waren.
Die frühe Messe war kaum geendigt, als zwei wohl­
geputzte Laufer des Vizekönigs unsern Gasthofbesuch­
ten, in der doppelten Absicht, einmal den sämtlichen
Fremden zum Feste zu gratulieren und dagegen ein
Trinkgeld einzunehmen, mich sodann zur Tafel zu
laden, weshalb meine Gabe etwas erhöht werden musste.
Nachdem ich den Morgen zugebracht, die verschie­
denen Kirchen zu besuchen und die Volksgesichter
und Gestalten zu betrachten, fuhr ich zum Palast des
Vizekönigs, welcher am obern Ende der Stadt liegt.
Weil ich etwas zu früh gekommen, fand ich die grossen Säle noch leer, nur ein kleiner, munterer Mann
ging auf mich zu, den ich sogleich für einen Malteser
erkannte.
Als er vernahm, dass ich ein Deutscher sei, fragte er, ob
ich ihm Nachricht von Erfurt zu geben wisse, er habe
da­selbst einige Zeit sehr angenehm zugebracht. Auf
seine Erkundigungen nach der von Dacherödischen
Familie, nach dem Koadjutor von Dalberg konnte ich
ihm hinrei­chende Auskunft geben, worüber er sehr
vergnügt nach dem übrigen Thüringen fragte. Mit
bedenklichem An­teil erkundigte er sich nach Weimar.
» Wie steht es denn“, sagte er, »mit dem Manne, der,
zu meiner Zeit jung und lebhaft, daselbst Regen und
schönes Wetter machte? Ich habe seinen Namen vergessen, genug aber, es ist der Verfasser des Werthers.
Nach einer kleinen Pause, als wenn ich mich bedächte,
erwiderte ich: »Die Person, nach der Ihr Euch gefällig erkundigt, bin ich selbst!« - Mit dem sichtbarsten
Zei­chen des Erstaunens fuhr er zurück und rief aus:
»Da muss sich viel verändert haben!« - »0 ja‘« versetzte ich, »zwischen Weimar und Palermo hab‘ ich
manche Ver­änderung gehabt.«
In dem Augenblick trat mit seinem Gefolge der
Vize­könig herein und betrug sich mit anständiger
Freimütig­keit, wie es einem solchen Herrn geziemt.
Er enthielt sich jedoch nicht des Lächelns über den
Malteser, wel­cher seine Verwunderung, mich hier zu
sehen, auszu­drücken fortfuhr. Bei Tafel sprach der Vizekönig, neben dem ich sass, über die Absicht meiner
Reise und versi­cherte, dass er Befehl geben wolle, mich
in Palermo alles sehen zu lassen und mich auf meinem
Wege durch Sizi­lien auf alle Weise zu fördern.
Palermo, Montag, den 9. April 1787.
Heute den ganzen Tag beschäftigte uns der Unsinn
des Prinzen Pallagonia, und auch diese Torheiten
waren ganz etwas anders, als wir uns lesend und hörend vorge­stellt. Denn bei der grössten Wahrheitsliebe kommt der­jenige, der vom Absurden Rechenschaft geben soll, im­mer ins Gedränge: er will einen
Begriff davon überlie­fern, und so macht er es schon
zu etwas, da es eigentlich ein Nichts ist, welches für
etwas gehalten sein will. Und so muss ich noch eine
andere allgemeine Reflexion vor­ausschicken, dass weder das Abgeschmackteste noch das Vortrefflichste
ganz unmittelbar aus einem Menschen, aus einer Zeit
hervorspringe, dass man vielmehr beiden mit einiger
Aufmerksamkeit eine Stammtafel der Her­kunft nachweisen könne.
Jener Brunnen in Palermo gehört unter die Vorfahren
der Pallagonischen Raserei, nur dass diese hier, auf eig­
nem Grund und Boden, in der grössten Freiheit und
Breite sich hervortut. Ich will den Verlauf des Entste­
hens zu entwickeln suchen.
Wenn ein Lustschloss in diesen Gegenden mehr oder
weniger in der Mitte des ganzen Besitztums liegt und
man also, um zu der herrschaftlichen Wohnung zu
ge­langen, durch gebaute Felder, Küchengärten und
der­gleichen landwirtschaftliche Nützlichkeiten zu
fahren hat, erweisen sie sich haushälterischer als die
Nordlän­der, die oft eine grosse Strecke guten Bodens
zu einer Parkanlage verwenden, um mit unfruchtbarem Gesträu­che dem Auge zu schmeicheln. Diese
Südländer hinge­gen führen zwei Mauern auf, zwischen welchen man zum Schloss gelangt, ohne dass
man gewahr werde, was rechts oder links vorgeht.
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Dieser Weg beginnt gewöhn­lich mit einem grossen
Portal, wohl auch mit einer ge­wölbten Halle und endigt im Schlosshofe. Damit nun aber das Auge zwischen diesen Mauern nicht ganz unbe­friedigt sei, so
sind sie oben ausgebogen, mit Schnörkeln und Postamenten verziert, worauf allenfalls hie und da eine Vase
steht. Die Flächen sind ab getüncht, in Felder geteilt
und angestrichen. Der Schlosshof macht ein Rund
von einstöckigen Häusern, wo Gesinde und Arbeitsleute wohnen; das viereckte Schloss steigt über alles
empor.
Dies ist die Art der Anlage, wie sie herkömmlich ge­
geben ist, wie sie auch schon früher mag bestanden
ha­ben, bis der Vater des Prinzen des Schloss baute,
zwar auch nicht in dem besten, aber doch erträglichem Ge­schmack. Der jetzige Besitzer aber, ohne
jene allgemei­nen Grundzüge zu verlassen, erlaubt
seiner Lust und Leidenschaft zu missgestaltetem, abgeschmacktem Ge­bilde den freisten Lauf, und man
erzeigt ihm viel zuviel Ehre, wenn man ihm nur einen
Funken Einbildungskraft zuschreibt.
Wir treten also in die grosse Halle, welche mit der
Grenze des Besitztums selbst anfängt, und finden ein
Achteck, sehr hoch zur Breite. Vier ungeheure Riesen
mit modernen, zugeknöpften Gamaschen tragen das
Ge­sims, auf welchem dem Eingang gerade gegenüber
die heilige Dreieinigkeit schwebt.
Der Weg nach dem Schlosse zu ist breiter als gewöhn­
lich, die Mauer in einen fortlaufenden hohen Sockel
verwandelt, auf welchem ausgezeichnete Basamente
seltsame Gruppen in die Höhe tragen, indessen in
dem Raum von einer zur andern mehrere Vasen aufgestellt sind. Das Widerliche dieser von den gemeinsten Stein­hauern gepfuschten Missbildungen wird
noch dadurch vermehrt, dass sie aus dem losesten
Muscheltuff gearbei­tet sind; doch würde ein besseres
Material den Unwert der Form nur desto mehr in die
Augen setzen. Ich sagte vorhin Gruppen und bediente mich eines falschen, an dieser Stelle uneigentlichen
Ausdrucks; denn diese Zu­sammenstellungen sind
durch keine Art von Reflexion oder auch nur Willkür
entstanden, sie sind vielmehr zu­sammengewürfelt.
Jedesmal drei bilden den Schmuck eines solchen viereckten Postaments, indem ihre Basen so eingerichtet
sind, dass sie zusammen in verschiedenen Stellungen
den viereckigen Raum ausfüllen. Die vorzüg­lichste
besteht gewöhnlich aus zwei Figuren, und ihre Base
nimmt den grössten vordem Teil des Piedestals ein;
diese sind meistenteils Ungeheuer von tierischer und
menschlicher Gestalt. Um nun den hintern Raum
der Piedestalfläche auszufüllen, bedarf es noch zweier Stüc­ke; das von mittlerer Grösse stellt gewöhnlich
einen Schäfer oder eine Schäferin, einen Kavalier oder
eine Dame, einen tanzenden Affen oder Hund vor.
Nun bleibt auf dem Piedestal noch eine Lücke: diese
wird meistens durch einen Zwerg ausgefüllt, wie denn
überall dieses Geschlecht bei geistlosen Scherzen eine
grosse Rolle spielt.
Dass wir aber die Elemente der Tollheit des Prinzen
Pallagonia vollständig überliefern, geben wir nachste­
hendes Verzeichnis. Menschen: Bettler, Bettlerinnen,
Spanier, Spanierinnen, Mohren, Türken, Buckelige,
alle Arten Verwachsene, Zwerge, Musikanten, Pulcinelle, antik kostümierte Soldaten, Götter, Göttinnen,
altfran­zösisch Gekleidete, Soldaten mit Patrontaschen
und Gamaschen, Mythologie mit fratzenhaften Zutaten: Achill und Chiron mit Pulcinell. Tiere: nur Teile
der­selben, Pferd mit Menschenhänden, Pferdekopf
auf Menschenkörper, entstellte Affen, viele Drachen
und Schlangen, alle Arten von Pfoten an Figuren aller
Art, Verdoppelungen, Verwechslungen der Köpfe. Vasen: alle Arten von Monstern und Schnörkeln, die unterwärts zu Vasenbäuchen und Untersätzen endigen.
Denke man sich nun dergleichen Figuren schockweise
verfertigt und ganz ohne Sinn und Verstand entsprun­
gen, auch ohne Wahl und Absicht zusammengestellt,
denke man sich diesen Sockel, diese Piedestale und
Un­formen in einer unabsehbaren Reihe, so wird man
das unangenehme Gefühl mit empfinden, das einen
jeden überfallen muss, wenn er durch diese Spitzruten
des Wahnsinns durchgejagt wird.
Wir nähern uns dem Schlosse und werden durch
die Arme eines halbrunden Vorhofs empfangen; die
entge­genstehende Hauptmauer, wodurch das Tor
geht, ist burgartig angelegt. Hier finden wir eine ägyptische fi­g ur eingemauert, einen Springbrunnen ohne
Wasser, ein Monument, zerstreut umherliegende Vasen, Statuen, vorsätzlich auf die Nase gelegt. Wir treten in den Schlosshof und finden das herkömmliche,
mit kleinen Gebäuden umgebene Rund in kleineren
Halbzirkeln ausgebogt, damit es ja an Mannigfaltigkeit nicht fehle.
Der Boden ist grösstenteils mit Gras bewachsen. Hier
stehen wie auf einem verfallenen Kirchhofe seltsam
ge­schnörkelte Marmorvasen vom Vater her, Zwerge
und sonstige Ungestalten aus der neuem Epoche zufällig durcheinander, ohne dass sie bis jetzt einen Platz
finden können; sogar tritt man vor eine Laube, voll
gepfropft von alten Vasen und anderem geschnörkeltem Gestein.
Das Widersinnige einer solchen geschmacklosen
Denkart zeigt sich aber im höchsten Grade darin, dass
die Gesimse der kleinen Häuser durchaus schief nach
einer oder der andern Seite hinhängen, so dass das
Gefühl der Wasserwaage und des Perpendikels, das
uns eigentlich zu Menschen macht und der Grund aller Eurhythmie ist, in uns zerrissen und gequält wird.
Und so sind denn auch diese Dachreihen mit Hydem
und kleinen Büsten, mit musizierenden Affenchören
und ähnlichem Wahnsinn verbrämt. Drachen, mit
Göttern abwechselnd, ein Atlas, der statt der Himmelskugel ein Weinfass trägt.
Gedenkt man sich aber aus allem diesem in das Schloss
zu retten, welches, vom Vater erbaut, ein relativ ver­
nünftiges äusseres Ansehen hat, so findet man nicht
weit vor der Pforte den lorbeerbekränzten Kopf eines
römi­schen Kaisers auf einer Zwerggestalt, die auf einem Delphin sitzt.
69
Im Schlosse selbst nun, dessen Äusseres ein leidliches
Innere erwarten lässt, fängt das Fieber des Prinzen
schon wieder zu rasen an. Die Stuhlfüsse sind ungleich abge­sägt, so dass niemand Platz nehmen kann,
und vor den sitzbaren Stühlen warnt der Kastellan,
weil sie unter ih­ren Sammetpolstern Stacheln verbergen. Kandelaber von chinesischem Porzellan stehen
in den Ecken, wel­che, näher betrachtet, aus einzelnen
Schalen, Ober- und Untertassen und dergleichen zusammengekittet sind. Kein Winkel, wo nicht irgendeine Willkür hervorblick­te. Sogar der unschätzbare
Blick über die Vorgebirge ins Meer wird durch farbige
Scheiben verkümmert, welche durch einen unwahren
Ton die Gegend entweder verkäl­ten oder entzünden.
Eines Kabinetts muss ich noch er­wähnen, welches
aus alten vergoldeten, zusammenge­schnittenen Rahmen aneinander getäfelt ist. Alle die hundertfältigen
Schnitzmuster, alle die verschiedenen Abstufungen
einer ältern oder jüngern, mehr oder weni­ger bestaubten und beschädigten Vergoldung bedecken hier, hart
aneinander gedrängt, die sämtlichen Wände und geben den Begriff von einem zerstückelten Trödel.
Die Kapelle zu beschreiben, wäre allein ein Heftchen
nötig. Hier findet man den Aufschluss über den ganzen Wahnsinn, der nur in einem bigotten Geiste bis
auf die­sen Grad wuchern konnte. Wie manches Fratzenbild ei­ner irregeleiteten Devotion sich hier befinden mag, geb‘ ich zu vermuten, das Bestejedoch will
ich nicht vorent­halten. Flach an der Decke nämlich
ist ein geschnitztes Kruzifix von ziemlicher Grösse
befestigt, nach der Natur angemalt, lackiert mit untermischter Vergoldung. Dem Gekreuzigten in den
Nabel ist ein Haken eingeschraubt, eine Kette aber,
die davon herabhängt, befestigt sich in den Kopf eines
knieend betenden, in der Luft schweben­den Mannes,
der, angemalt und lackiert wie alle übrigen Bilder der
Kirche, wohl ein Sinnbild der ununterbroche­nen Andacht des Besitzers darstellen soll. Übrigens ist der
Palast nicht ausgebaut: ein grosser, von dem Vater
bunt und reich angelegter, aber doch nicht widerlich
verzierter Saal war unvollendet geblie­ben; wie denn
der grenzenlose Wahnsinn des Besitzers mit seinen
Narrheiten nicht zu Rande kommen kann.
Kniepen, dessen Künstlersinn innerhalb dieses Toll­
hauses zur Verzweiflung getrieben wurde, sah ich
zum erstenmal ungeduldig; er trieb mich fort, da
ich mir die Elemente dieser Unschöpfung einzeln zu
vergegenwärtigen und zu schematisieren suchte. Gutmütig genug zeichnete er zuletzt noch eine von den
Zusammenstel­lungen, die einzige, die noch wenigstens eine Art von Bild gab. Sie stellt ein Pferdweib
auf einem Sessel sit­zend, gegen einem unterwärts
altmodisch gekleideten, mit Greifenkopf, Krone und
grosser Perücke gezierten. Kavalier Karte spielend vor
und erinnert an das nach aller Tollheit noch immer
höchst merkwürdige Wappen des Hauses Pallagonia:
ein Satyr hält einem Weibe, das einen Pferdekopf hat,
einen Spiegel vor.
70
Palermo, Dienstag, den 10. April 1787.
Heute fuhren wir bergauf nach Monreale. Ein herrli­
cher Weg, welchen der Abt jenes Klosters zur Zeit eines überschwenglichen Reichtums angelegt hat; breit,
be­quemen Anstiegs, Bäume hie und da, besonders
aber weitläufige Spring- und Röhrenbrunnen, beinah
palla­gonisch verschnörkelt und verziert, desungeachtet aber Tiere und Menschen erquickend.
Das Kloster San Martin, auf der Höhe liegend, ist eine
respektable Anlage. Ein Hagestolz allein, wie man am
Prinzen Pallagonia sieht, hat selten etwas Vernünftiges hervorgebracht, mehrere zusammen hingegen die
aller­grössten Werke, wie Kirchen und. Klöster zeigen.
Doch wirkten die geistlichen Gesellschaften wohl nur
deswe­gen so viel, weil sie noch mehr als irgendein
Familienva­ter einer unbegrenzten Nachkommenschaft
gewiss wa­ren. Die Mönche liessen uns ihre Sammlungen sehen. Von Altertümern und natürlichen Sachen
verwahren sie manches Schöne. Besonders fiel uns auf
eine Medaille mit dem Bilde einer jungen Göttin, das
Entzücken erre­gen musste. Gern hätten uns die guten Männer einen Ab­druck mitgegeben, es war aber
nichts bei Handen, was zu irgend einer Art von Form
tauglich gewesen wäre.
Nachdem sie uns alles vorgezeigt, nicht ohne traurige
Vergleichung dervorigen und gegenwärtigen Zustände, brachten sie uns in einen angenehmen kleinen
Saal, von dessen Balkon man eine liebliche Aussicht
genoss; hier war für uns beide gedeckt, und es fehlte
nicht an einem sehr guten Mittagessen. Nach dem
aufgetragenen Des­sert trat der Abt herein, begleitet
von seinen ältesten Mönchen, setzte sich zu uns und
blieb wohl eine halbe Stunde, in welcher Zeit wir
manche Frage zu beantwor­ten hatten. Wir schieden
aufs freundlichste. Die jüngern begleiteten uns nochmals in die Zimmer der Sammlung und zuletzt nach
dem Wagen.
Wir fuhren mit ganz andern Gesinnungen nach Hause als gestern. Heute hatten wir eine grosse Anstalt zu
be­dauern, die eben zu der Zeit versinkt, indessen an
der an­dern Seite ein abgeschmacktes Unternehmen
mit fri­schem Wachstum hervorsteigt.
Der Weg nach San Martin geht das ältere Kalkgebirg
hinauf. Man zertrümmert die Felsen und brennt Kalk
daraus, der sehr weiss wird. Zum Brennen brauchen
sie eine starke, lange Grasart, in Bündeln getrocknet.
Hier entsteht nun die Calcara. Bis an die steilsten
Höhen liegt roter Ton angeschwemmt, der hier die
Dammerde vor­stellt, je höher, je röter, wenig durch
Vegetation ge­schwärzt. Ich sah in der Entfernung eine
Grube fast wie Zinnober.
Das Kloster steht mitten im Kalkgebirg, das sehr quellenreich ist. Die Gebirge umher sind wohl bebaut.
Palermo, Mittwoch, den 11. April 1787.
Nachdem wir nun zwei Hauptpunkte ausserhalb der
Stadt betrachtet, begaben wir uns in den Palast, wo
der geschäftige Laufer die Zimmer und ihren Inhalt
vorzeig­te. Zu unserm grossen Schrecken war der Saal,
worin die Antiken sonst aufgestellt sind, eben in der
grössten Un­ordnung, weil man eine neue architektonische Dekora­tion im Werke hatte. Die Statuen waren
von ihren Stel­len weggenommen, mit Tüchern verhängt, mit Gerü­sten verstellt, so dass wir trotz allem
guten Willen unseres Führers und einiger Bemühung
der Handwerksleute doch nur einen sehr unvollständigen Begriff davon er­werben konnten. Am meisten
war mir um die zwei Widder von Erz zu tun, welche,
auch unter diesen Um­ständen gesehen, den Kunstsinn
höchlich erbauten. Sie sind liegend vorgestellt, die
eine Pfote vorwärts, als Ge­genbilder die Köpfe nach
verschiedenen Seiten gekehrt; mächtige Gestalten aus
der mythologischen Familie, Phryxus und Helle zu
tragen würdig. Die Wolle nicht kurz und kraus, sondern lang und wellenartig herabfal­lend, mit grosser
Wahrheit und Eleganz gebildet, aus der besten griechischen Zeit. Sie sollen in dem Hafen von Syrakus
gestanden haben.
Nun führte uns der Laufer ausserhalb der Stadt in Ka­
takomben, welche, mit architektonischem Sinn ange­
legt, keineswegs zu Grabplätzen benutzte Steinbrüche
sind. In einem ziemlich verhärteten Tuff und dessen
senkrecht gearbeiteter Wand sind gewölbte Öffnungen und innerhalb dieser Särge ausgegraben, mehrere
über­einander, alles aus der Masse, ohne irgendeine
Nachhülfe von Mauerwerk. Die oberen Särge sind
kleiner, und in den Räumen über den Pfeilern sind
Grabstätten für Kin­der angebracht.
Palermo, Donnerstag, den 12. April 1787.
Man zeigte uns heute das Medaillenkabinett des Prin­
zen Torremuzza. Gewissermassen ging ich ungern
hin. Ich verstehe von diesem Fach zu wenig, und ein
bloss neugieriger Reisender ist wahren Kennern und
Liebha­bern verhasst. Da man aber doch einmal anfangen muss, so bequemte ich mich und hatte davon
viel Vergnügen und Vorteil. Welch ein Gewinn, wenn
man auch nur vorläufig übersieht, wie die alte Welt
mit Städten über­säet war, deren kleinste, wo nicht
eine ganze Reihe der Kunstgeschichte, wenigstens
doch einige Epochen der­selben uns in köstlichen
Münzen hinterliess. Aus diesen Schubkasten lacht uns
ein unendlicher Frühling von Blü­ten und Früchten
der Kunst, eines in höherem Sinne ge­führten Lebensgewerbes und was nicht alles noch mehr hervor. Der
Glanz der sizilischen Städte, jetzt verdun­kelt, glänzt
aus diesen geformten Metallen wieder frisch entgegen.
Leider haben wir andern in unserer Jugend nur die
Familienmünzen besessen, die nichts sagen, und die
Kai­sermünzen, welche dasselbe Profil bis zum Überdruss wiederholen: Bilder von Herrschern, die eben
nicht als Musterbilder der Menschheit zu betrachten
sind. Wie traurig hat man nicht unsere Jugend auf das
gestaltlose Palästina und auf das gestaltverwirrende
Rom be­schränkt! Sizilien und Neugriechenland lässt
mich nun wieder ein frisches Leben hoffen.
Dass ich über diese Gegenstände mich in allgemeine
Betrachtungen ergehe, ist ein Beweis, dass ich noch
nicht viel davon verstehen gelernt habe; doch das wird
sich mit dem übrigen nach und nach schon geben.
Palermo, Donnerstag, den 12. April 1787.
Heute am Abend ward mir noch ein Wunsch erfüllt,
und zwar auf eigene Weise. Ich stand in der grossen
Strasse auf den Schrittsteinen, an jenem Laden mit
dem Kaufherrn scherzend; auf einmal tritt ein Laufer,
gross, wohlgekleidet, an mich heran, einen silbernen
Teller rasch vorhaltend, worauf mehrere Kupferpfennige, we­nige Silberstücke lagen. Da ich nicht wusste,
was es hei­ssen solle, so zuckte ich, den Kopf duckend,
die Achseln, das gewöhnliche Zeichen, wodurch man
sich lossagt, man mag nun Antrag oder Frage nicht
verstehen, oder nicht wollen. Ebenso schnell, als er
gekommen, war er fort, und nun bemerkte ich auf der
entgegengesetzten Seite der Strasse seinen Kameraden
in gleicher Beschäfti­g ung.
Was das bedeute, fragte ich den Handelsmann, der
mit bedenklicher Gebärde, gleichsam verstohlen, auf
einen langen, hagern Herrn deutete, welcher in der
Strassen­mitte, hofmässig gekleidet, anständig und gelassen über den Mist einherschritt. Frisiert und gepudert, den Hut unter dem Arm, in seidenem Gewande,
den Degen an der Seite, ein nettes Fusswerk mit Steinschnallen geziert: so trat der Bejahrte ernst und ruhig
einher; aller Augen waren auf ihn gerichtet.
»Dies ist der Prinz Pallagonia«, sagte der Händler,
»welcher von Zeit zu Zeit durch die Stadt geht und
für die in der Barbarei gefangenen Sklaven ein Lösegeld zu­sammenheischt. Zwar beträgt dieses Einsammeln nie­mals viel, aber der Gegenstand bleibt doch im
Anden­ken, und oft vermachen diejenigen, welche bei
Lebzeiten zurückhielten, schöne Summen zu solchem
Zweck. Schon viele Jahre ist der Prinz Vorsteher dieser
Anstalt und hat unendlich viel Gutes gestiftet! «
»Statt auf die Torheiten seines Landsitzes«, rief ich
aus, »hätte er hierher jene grossen Summen verwenden sollen. Kein Fürst in der Welt hätte mehr geleistet. «
Dagegen sagte der Kaufmann: »Sind wir doch alle so!
Unsere Narrheiten bezahlen wir gar gerne selbst, zu
unsern Tugenden sollen andere das Geld hergeben.«
Palermo, Freitag, den 13. April 1787.
Vorgearbeitet in dem Steinreiche Siziliens hat uns
Graf Borck sehr emsig, und wer nach ihm gleichen
Sin­nes die Insel besucht, wird ihm recht gern Dank
zollen. Ich finde es angenehm sowie pflichtmässig, das
Anden­ken eines Vorgängers zu feiern. Bin ich doch
nur ein Vorfahr von künftigen andern, im Leben wie
auf der Reise!
Die Tätigkeit des Grafen scheint mir übrigens grösser als seine Kenntnisse; er verfährt mit einem gewissen Selbstbehagen, welches dem bescheidenen Ernst
zuwi­der ist, mit welchem man wichtige Gegenstände behan­deln sollte. Indessen ist sein Heft in Quart,
ganz dem sizilianischen Steinreich gewidmet, mir von
71
grossem Vorteil, und ich konnte, dadurch vorbereitet,
die Stein­schleifer mit Nutzen besuchen, welche, früher mehr be­schäftigt, zur Zeit als Kirchen und Altäre noch mit Marmor und Achaten überlegt werden
mussten, das Handwerk doch noch immer forttreiben. Bei ihnen be­stellte ich Muster von weichen und
harten Steinen; denn so unterscheiden sie Marmor
und Achate hauptsächlich deswegen, weil die Verschiedenheit des Preises sich nach diesem Unterschiede richtet. Doch wissen sie ausser die­sen beiden sich
noch viel mit einem Material, einem Feuererzeugnis
ihrer Kalköfen. In diesen findet sich nach dem Brande eine Art Glasfluss, welcher von der hellsten blauen
Farbe zur dunkelsten, ja zur schwärzesten übergeht.
Diese Klumpen werden wie anderes Gestein in­dünne
Tafeln geschnitten, nach der Höhe ihrer Farbe und
Reinheit geschätzt und anstatt Lapislazuli beim Fur­
nieren von Altären, Grabmälern und andern kirchlichen Verzierungen mit Glück angewendet.
Eine vollständige Sammlung, wie ich sie wünsche,
ist nicht fertig, man wird sie mir erst nach Neapel
schicken. Die Achate sind von der grössten Schönheit, besonders diejenigen, in welchen unregelmässige
Flecken von gel­bem oder rotem Jaspis mit weissem,
gleichsam gefror­nen Quarze abwechseln und dadurch
die schönste Wir­kung hervorbringen.
Eine genaue Nachahmung solcher Achate, auf der
Rückseite dünner Glasscheiben durch Lackfarben be­
wirkt, ist das einzige Vernünftige, was ich aus dem pal­
lagonischen Unsinn jenes Tages herausfand. Solche
Ta­feln nehmen sich zur Dekoration schöner aus als
der echte Achat, indem dieser aus vielen kleinen Stücken zu­sammengesetzt werden muss, bei jenen hingegen die Grösse der Tafeln vom Architekten abhängt.
Dieses Kunststück verdiente wohl, nachgeahmt zu
werden.
Palermo, den 13. April 1787.
Italien ohne Sizilien macht gar kein Bild in der Seele:
hier ist erst der Schlüssel zu allem. Vom Klima kann
man nicht Gutes genug sagen; jetzt ist‘s Regenzeit,
aber immer unterbrochen; heute donnert und blitzt
es, und alles wird mit Macht grün. Der Lein hat schon
zum Teil Knoten gewonnen, der andere Teil blüht.
Man glaubt in den Gründen kleine Teiche zu se­hen, so
schön blaugrün liegen die Leinfelder unten. Der reizenden Gegenstände sind unzählige! Und mein Ge­
selle ist ein exzellenter Mensch, der wahre Hoffegut,
so wie ich redlich den Treufreund fortspiele. Er hat
schon recht schöne Conture gemacht und wird noch
das Beste mitnehmen. Welche Aussicht, mit meinen
Schätzen dereinst glücklich nach Hause zu kommen!
Vom Essen und Trinken hierzuland hab‘ ich noch
nichts gesagt, und doch ist es kein kleiner Artikel. Die
Gartenfrüchte sind herrlich, besonders der Salat von
Zartheit und Geschmack wie eine Milch; man begreift, warum ihn die Alten Lactuca genannt haben.
Das Öl, der Wein alles sehr gut, und sie könnten noch
besser sein, wenn man aufihre Bereitung mehr Sorg72
falt verwendete. Fische die besten, zartesten. Auch
haben wir diese Zeit her sehr gut Rindfleisch gehabt,
ob man es gleich sonst nicht loben will.
Nun vom Mittagsessen ans Fenster! auf die Strasse! Es
ward ein Missetäter begnadigt, welches immer zu Ehren der heilbringenden Osterwoche geschieht. Eine
Brüder­schaft führt ihn bis unter einen zum Schein
aufgebauten Galgen, dort muss er vor der Leiter eine
Andacht verrichten, die Leiter küssen und wird dann
wieder weggeführt. Es war ein hübscher Mensch vom
Mittelstande, frisiert, einen weissen Frack, weissen
Hut, alles weiss. Er trug den Hut in der Hand, und
man hätte ihm hie und da nur bunte Bänder anheften dürfen, so konnte er als Schäfer auf jede Redoute
gehen.
Palermo, den 13. und 14. April 1787.
Und so sollte mir denn kurz vordem Schlusse ein sonderbares Abenteuer beschert sein, wovon ich so­gleich
umständliche Nachricht erteile.
Schon die ganze Zeit meines Aufenthalts hörte ich an
unserm öffentlichen Tische manches über Cagliostro,
dessen Herkunft und Schicksale reden. Die Palermitaner waren darin einig, dass ein gewisser Joseph Balsamo, in ihrer Stadt geboren, wegen mancherlei schlechter Strei­che berüchtigt und verbannt sei. Ob aber
dieser mit dem Grafen Cagliostro nur eine Person sei,
darüber waren die Meinungen geteilt. Einige, die ihn
ehemals gesehen hat­ten, wollten seine Gestalt injenem
Kupferstiche wieder­finden, der bei uns bekannt genug
ist und auch nach Pa­lermo gekommen war.
Unter solchen Gesprächen berief sich einer der Gäste
auf die Bemühungen, welche ein palermitanischer
Rechtsgelehrter übernommen, diese Sache ins klare
zu bringen. Er war durch das französische Ministerium veranlasst worden, dem Herkommen eines Mannes nachzuspüren, welcher die Frechheit gehabt hatte,
vor dem Angesichte Frankreichs, ja man darf wohl
sagen der Welt, bei einem wichtigen und gefährlichen
Prozesse die albernsten Märchen vorzubringen.
Es habe dieser Rechtsgelehrte, erzählte man, den
Stammbaum des Joseph Balsamo aufgestellt und ein
er­läuterndes Memoire mit beglaubigten Beilagen
nach Frankreich abgeschickt, wo man wahrscheinlich
davon öffentlichen Gebrauch machen werde.
Ich äusserte den Wunsch, diesen Rechtsgelehrten,
von welchem ausserdem viel Gutes gesprochen wurde,
ken­nen zu lernen, und der Erzähler erbot sich, mich
bei ihm anzumelden und zu ihm zu fuhren.
Nach einigen Tagen gingen wir hin und fanden ihn
mit seinen Klienten beschäftigt. Als er diese abgefertigt und wir das Frühstück genommen hatten, brachte
er ein Manuskript hervor, welches den Stammbaum
Caglio­stros, die zu dessen Begründung nötigen Dokumente in Abschrift und das Konzept eines Memoire
enthielt, das nach Frankreich abgegangen war.
Er legte mir den Stammbaum vor und gab mir die nö­
tigen Erklärungen darüber, wovon ich hier so viel an­
führe, als zu leichterer Einsicht nötig ist.
Joseph Balsamos Urgrossvater mütterlicher Seite war
Matthäus Martello. Der Geburtsname seiner Urgross­
mutter ist unbekannt. Aus dieser Ehe entsprangen
zwei Töchter, eine namens Maria, die an Joseph Bracconeri verheiratet und Gross mutter Joseph Balsamos
ward. Die andere, namens Vincenza, verheiratete sich
an Joseph Cagliostro, der von einem kleinen Orte La
Noara, acht Meilen von Messina, gebürtig war. Ich bemerke hier, dass zu Messina noch zwei Glockengiesser
dieses Namens leben. Diese Grosstante war in der Folge Pate bei Joseph Balsamo; er erhielt den Taufnamen
ihres Mannes und nahm endlich auswärts auch den
Zunamen Cagliostro von seinem Grossonkel an.
Die Eheleute Bracconeri hatten drei Kinder: Felicitas,
Matthäus und Antonin.
Felicitas ward an Peter Balsamo verheiratet, den Sohn
eines Bandhändlers in Palermo, Antonin Balsamo,
der vermutlich vonjüdischem Geschlecht abstammte.
Peter Balsamo, der Vater des berüchtigten Josephs,
machte Bankerott und starb in seinem fünfundvierzigsten Jahre. Seine Witwe, welche noch gegenwärtig
lebt, gab ihm ausser dem benannten Joseph noch eine
Tochter, Johanna Joseph-Maria, welche anJohann
Baptista Capitummino verheiratet wurde, der mit ihr
drei Kinder zeugte und starb.
Das Memoire, welches uns der gefällige Verfasser
vorlas und mir auf mein Ersuchen einige Tage anver­
traute, war auf Taufscheine, Ehekontrakte und andere
Instrumente gegründet, die mit Sorgfalt gesammelt
wa­ren. Es enthielt ungefähr die Umstände (wie ich
aus ei­nem Auszug, den ich damals gemacht, ersehe),
die uns nunmehr aus den römischen Prozessakten
bekannt ge­worden sind, dass Joseph Balsamo anfangs
Juni 1743 zu Palermo geboren, von Vincenza Martello, verheirateter Cagliostro, aus der Taufe gehoben
sei, dass er inseiner Jugend das Kleid der Barmherzigen Brüder genommen, eines Ordens, der besonders
Kranke verpflegt, dass er bald viel Geist und Geschick
für die Medizin gezeigt, doch aber wegen seiner übeln
Aufführung fortgeschickt worden, dass er in Palermo
nachher den Zauberer und Schatzgräber gemacht.
Seine grosse Gabe, alle Hände nachzuahmen, liess er
nicht unbenutzt (so fährt das Memoire fort). Er ver­
fälschte oder verfertigte vielmehr ein altes Dokument,
wodurch das Eigentum einiger Güter in Streit geriet.
Er kam in Untersuchung, ins Gefängnis, entfloh und
ward ediktaliter zitiert. Er reiste durch Kalabrien nach
Rom, wo er die Tochter eines Gürtlers heiratete. Von
Rom kehrte er nach Neapel unter dem Namen Marchese Pel­legrini zurück. Er wagte sich wieder nach
Palermo, ward erkannt, gefänglich eingezogen und
kam nur auf eine Weise los, die wert ist, dass ich sie
umständlich erzähle.
Der Sohn eines der ersten sizilianischen Prinzen und
grossen Güterbesitzers, eines Mannes, der an dem
neapo­litanischen Hofe ansehnliche Stellen bekleidete, verband mit einem starken Körper und einer unbändigen Ge­mütsart allen Übermut, zu dem sich der
Reiche und Grosse ohne Bildung berechtigt glaubt.
Donna Lorenza wusste ihn zu gewinnen, und auf ihn
baute der verstellte Marchese Pellegrini seine Sicherheit. Der Prinz zeigte öffentlich, dass er dies angekommene Paar beschütze; aber in welche Wut geriet er, als
Joseph Balsamo auf Anrufen der Partei, welche durch
seinen Betrug Schaden gelitten, abermals ins Gefängnis ge­bracht wurde! Er versuchte verschiedene Mittel,
ihn zu befreien, und da sie ihm nicht gelingen wollten,
drohte er im Vorzimmer des Präsidenten, den Advokaten der Ge­genpartei aufs grimmigste zu misshandeln, wenn er nicht sogleich die Verhaftung des Balsamo wieder aufhöbe. Als der gegenseitige Sachwalter
sich weigerte, ergriff er ihn, schlug ihn, warfihn auf die
Erde, trat ihn mit Füssen und war kaum von mehreren
Misshandlungen abzuhal­ten, als der Präsident selbst
auf den Lärm herauseilte und Frieden gebot.
Dieser, ein schwacher, abhängiger Mann, wagte nicht,
den Beleidiger zu bestrafen; die Gegenpartei und ihr
Sachwalter wurden kleinmütig, und Balsamo ward
in Freiheit gesetzt, ohne dass bei den Akten sich eine
Regi­stratur über seine Loslassung befindet, weder wer
sie verfügt, noch wie sie geschehen.
Bald darauf entfernte er sich von Palermo und tat
verschiedene Reisen, von welchen der Verfasser nur
unvoll­ständige Nachrichten geben konnte.
Das Memoire endigte sich mit einem scharfsinnigen
Beweise, dass Cagliostro und Balsamo ebendieseibe
Per­son sei, eine These, die damals schwerer zu behaupten war, als sie es jetzt ist, da wir von dem Zusammenhang der Geschichte vollkommen unterrichtet sind.
Hätte ich nicht damals vermuten müssen, dass man in
Frankreich einen öffentlichen Gebrauch von jenem
Auf­satz machen würde, dass ich ihn vielleicht bei meiner Zurückkunft schon gedruckt anträfe, so wäre es
mir erlaubt gewesen, eine Abschrift zu nehmen und
meine Freunde und das Publikum früher von manchen interessanten Umständen zu unterrichten.
Indessen haben wir das meiste und mehr, als jenes Memoire enthalten konnte, von einer Seite her erfahren,
von der sonst nur Irrtümer auszuströmen pflegten.
Wer hätte geglaubt, dass Rom einmal zur Aufklärung
der Welt, zur völligen Entlarvung eines Betrügers so
viel beitragen sollte, als es durch die Herausgabe jenes
Aus­zugs aus den Prozessakten geschehen ist! Denn
obgleich diese Schrift weit interessanter sein könnte und sollte, so bleibt sie doch immer ein schönes
Dokument in den Händen eines jeden Vemünftigen,
der es mit Verdruss ansehen musste, dass Betrogene,
Halbbetrogene und Be­trüger diesen Menschen und
seine Possenspiele jahrelang verehrten, sich durch die
Gemeinschaft mit ihm über an­dere erhoben fühlten
und von der Höhe ihres gläubigen Dünkels den gesunden Menschenverstand bedauerten, wo nicht geringschätzten.
Wer schwieg nicht gern während dieser Zeit? und
auch nur jetzt, nachdem die ganze Sache geendigt und
ausser Streit gesetzt ist, kann ich es über mich gewinnen, zu Komplettierung der Akten dasjenige, was mir
be­kannt ist, mitzuteilen.
73
Als ich in dem Stammbaume so manche Personen,
be­sonders Mutter und Schwester, noch als lebend
angege­ben fand, bezeigte ich dem Verfasser des Memoire mei­nen Wunsch, sie zu sehen und die Verwandten eines so sonderbaren Menschen kennen zu lernen.
Er versetzte, dass es schwer sein werde, dazu zu gelangen, indem diese Menschen, arm, aber ehrbar, sehr
eingezogen, lebten, keine Fremden zu sehen gewohnt
waren, und der argwöhnische Charakter der Nation
sich aus einer solchen Erschei­nung allerlei deuten
werde; doch er wolle mir seinen Schreiber schicken,
der bei der Familie Zutritt habe und durch den er die
Nachrichten und Dokumente, woraus der Stammbaum zusammengesetzt worden, erhalten.
Den folgenden Tag erschien der Schreiber und äusserte wegen des Unternehmens einige Bedenklichkeiten. »Ich habe«, sagte er, »bisher immer vermieden, diesen Leuten wieder unter die Augen zu treten;
denn umihre Ehekon­trakte, Taufscheine und andere
Papiere in die Hände zu bekommen und von selbigen
legale Kopien machen zu können, musste ich mich
einer eigenen Listbedienen. Ich nahm Gelegenheit,
von einem Familienstipendio zu re­den, das irgendwo
vakant war, machte ihnen wahr­scheinlich, dass der
junge Capitummino sich dazu quali­fiziere, dass man
vor allen Dingen einen Stammbaum aufsetzen müsse, um zu sehen, inwiefern der Knabe An­sprüche da
rauf machen könne; es werde freilich nachher alles auf
Negoziation ankommen, die ich übernehmen wolle,
wenn man mir einen billigen Teil der zu erhalten­
den Summe für meine Bemühungen verspräche. Mit
Freuden willigten die guten Leute in alles; ich erhielt
die nötigen Papiere, die Kopien wurden genommen,
der Stammbaum ausgearbeitet, und seit der Zeit hüte
ich mich, vor ihnen zu erscheinen. Noch vor einigen
Wo­chen wurde mich die alte Capitummino gewahr,
und ich wusste mich nur mit der Langsamkeit, womit
hier der­gleichen Sachen vorwärts gehen, zu entschuldigen«.
So sagte der Schreiber. Da ich aber von meinem Vor­
satz nicht abging, wurden wir nach einiger Überlegung dahin einig, dass ich mich für einen Engländer
ausgeben und der Familie Nachrichten von Cagliostro
bringen sollte, der eben aus der Gefangenschaft der
Bastille nach London gegangen war.
Zur gesetzten Stunde, es mochte etwa drei Uhr nach
Mittag sein, machten wir uns auf den Weg. Das Haus
lag in dem Winkel eines Gässchens, nicht weit von
der Hauptstrasse, il Cassaro genannt. Wir stiegen eine
elende Treppe hinauf und kamen sogleich in die Küche. Eine Frau von mittlerer Grösse, stark und breit,
ohne fett zu sein, war beschäftigt, das Küchengeschirr
aufzuwa­schen. Sie war reinlich gekleidet und schlug,
als wir hin­eintraten, das eine Ende der Schürze hinauf, um vor uns die schmutzige Seite zu verstecken.
Sie sah meinen Füh­rer freudig an und sagte: »Signor
Giovanni, bringen Sie uns gute Nachrichten? Haben
Sie etwas ausgerichtet?«
Er versetzte: »In unserer Sache hat mir‘s noch nicht­
74
gelingen wollen; hier ist aber ein Fremder, der einen
Gruss von Ihrem Bruder bringt und Ihnen erzählen
kann, wie er sich gegenwärtig befindet.«
Der Gruss, den ich bringen sollte, war nicht ganz in
un­serer Abrede; indessen war die Einleitung einmal
ge­macht. - »Sie kennen meinen Bruder?« fragte sie. »Es kennt ihn ganz Europa«, versetzte ich; »und ich
glaube, es wird Ihnen angenehm sein, zu hören, dass
er sich in Si­cherheit und wohl befindet, da Sie bisher
wegen seines Schicksals gewiss in Sorgen gewesen
sind.« - » Treten Sie hinein«, sagte sie, »ich folge
Ihnen gleich«; und ich trat mit dem Schreiber in das
Zimmer.
Es war so gross und hoch, dass es bei uns für einen Saal
gelten würde; es schien aber auch beinah die ganze
Woh­nung der Familie zu sein. Ein einziges Fenster
erleuchtete die grossen Wände, die einmal Farbe gehabt hatten und auf denen schwarze Heiligenbilder in
goldenen Rahmen herumhingen. Zwei grosse Betten
ohne Vorhänge stan­den an der einen Wand, ein braunes Schränkchen, das die Gestalt eines Schreibtisches
hatte, an der andern. Alte, mit Rohr durchflochtene
Stühle, deren Lehnen ehmals vergoldet gewesen,
standen daneben, und die Backsteine des Fussbodens
waren an vielen Stellen tief ausgetreten. Übrigens war
alles reinlich, und wir näherten uns der Familie, die
am andern Ende des Zimmers an dem einzi­gen Fenster versammelt war.
Indes mein Führer der alten Balsamo, die in der Ecke
sass, die Ursache unsers Besuchs erklärte und seine
Worte wegen der Taubheit der guten Alten mehrmals
laut wiederholte, hatte ich Zeit, das Zimmer und die
üb­rigen Personen zu betrachten. Ein Mädchen von
unge­fähr sechzehn Jahren, wohlgewachsen, deren
Gesichtszüge durch die Blattern undeutlich geworden waren, stand am Fenster; neben ihr ein junger
Mensch, dessen unangenehme, durch die Blattern
entstellte Bildung mir auch auffiel. In einem Lehnstuhl sass oder lag vielmehr gegen dem Fenster über
eine kranke, sehr ungestaltete Person, die mit einer
Art Schlafsucht behaftet schien.
Als mein Führer sich deutlich gemacht hatte, nötigte man uns zum Sitzen. Die Alte tat einige Fragen an
mich, die ich mir aber musste dolmetschen lassen, eh‘
ich sie be­antworten konnte, da mir der sizilianische
Dialekt nicht geläufig war.
Ich betrachtete indessen die alte Frau mit Vergnügen.
Sie war von mittlerer Grösse, aber wohlgebildet; über
ihre regelmässigen Gesichtszüge, die das Alter nicht
ent­stellt hatte, war der Friede verbreitet, dessen gewöhnlich die Menschen geniessen, die des Gehörs
beraubt sind; der Ton ihrer Stimme war sanft und
angenehm.
Ich beantwortete ihre Fragen, und meine Antworten
mussten ihr auch wieder verdolmetscht werden.
Die Langsamkeit unserer Unterredung gab mir Gele­
genheit, meine Worte abzumessen. Ich erzählte ihr,
dass ihr Sohn in Frankreich losgesprochen worden
und sich gegenwärtig in England befinde, wo er wohl
aufge­nommen sei. Ihre Freude, die sie über diese Nachrichten äusserte, war mit Ausdrücken einer herzlichen
Fröm­migkeit begleitet, und da sie nun etwas lauter
und lang­samer sprach, konnt‘ ich sie eher verstehen.
Indessen war ihre Tochter hereingekommen und
hatte sich zu meinem Führer gesetzt, der ihr das, was
ich er­zählt hatte, getreulich wiederholte. Sie hatte
eine reinli­che Schürze vorgebunden und ihre Haare
in Ordnung unter das Netz gebracht. Je mehr ich sie
ansah und mit ihrer Mutter verglich, desto auffallender war mir der Unterschied beider Gestalten. Eine
lebhafte, gesunde Sinnlichkeit blickte aus der ganzen
Bildung der Tochter hervor; sie mochte eine Frau
von vierzigjahren sein. Mit muntern blauen Augen
sah sie klug umher, ohne dass ich in ihrem Blick irgendeinen Argwohn spüren konnte. In­dem sie sass,
versprach ihre Figur mehr Länge, als sie zeigte, wenn
sie aufstand; ihre Stellung war determi­niert, sie sass
mit vorwärts gebogenem Körper und die Hände auf
die Knie gelegt. Übrigens erinnerte mich ihre mehr
stumpfe als scharfe Gesichtsbildung an das Bildnis ihres Bruders, das wir in Kupfer kennen. Sie fragte mich
verschiedenes über meine Reise, über meine Absicht,
Sizilien zu sehen, und war überzeugt, dass ich gewiss
zurückkommen und das Fest der heiligen Rosalie mit
ihnen feiern würde.
Da indessen die Grossmutter wieder einige Fragen an
mich getan hatte und ich ihr zu antworten beschäftigt war, sprach die Tochter halblaut mit meinem Gefährten, doch so, dass ich Anlass nehmen konnte, zu
fragen, wo­von die Rede sei. Er sagte darauf, Frau Capitummino er­zähle ihm, dass ihr Bruder ihr noch vierzehn Unzen schuldig sei; sie habe bei seiner schnellen
Abreise von Pa­lermo versetzte Sachen für ihn eingelöset; seit der Zeit aber weder etwas von ihm gehört,
noch Geld, noch ir­gendeine Unterstützung von ihm
erhalten, ob er gleich, wie sie höre, grosse Reichtümer
besitze und einen fürstli­chen Aufwand mache. Ob
ich nicht über mich nehmen wolle, nach meiner Zurückkunft ihn auf eine gute Weise an die Schuld zu
erinnern und eine Unterstützung für sie auszuwirken,
ja, ob ich nicht einen Brief mitnehmen oder allenfalls
bestellen wolle. Ich erbot mich dazu. Sie fragte, wo ich
wohne, wohin sie mir den Brief zu schicken habe. Ich
lehnte ab, meine Wohnung zu sagen, und erbot mich,
den andern Tag gegen Abend den Brief selbst abzuholen.
Sie erzählte mir darauf ihre missliche Lage; sie sei eine
Witwe mit drei Kindern, von denen das eine Mädchen im Kloster erzogen werde; die andere sei hier
gegenwär­tig und ihr Sohn eben in die Lehrstunde gegangen. Au­sser diesen drei Kindern habe sie ihre Mutter bei sich, für deren Unterhalt sie sorgen müsse, und
überdies habe sie aus christlicher Liebe die unglückliche kranke Person zu sich genommen, die ihre Last
noch vergrössere; alle ihre Arbeitsamkeit reiche kaum
hin, sich und den Ihrigen das Notdürftige zu verschaffen. Sie wisse zwar, dass Gott diese guten Werke nicht
unbelohnt lasse, seufze aber doch sehr unter der Last,
die sie schon so lange getragen habe.
Die jungen Leute mischten sich auch ins Gespräch,
und die Unterhaltung wurde lebhafter. Indem ich
mit den andern sprach, hört‘ ich, dass die Alte ihre
Tochter fragte, ob ich denn auch wohl ihrer heiligen
Religion zu­getan sei. Ich konnte bemerken, dass die
Tochter auf eine kluge Weise der Antwort auszuweichen suchte, indem sie, soviel ich verstand, der Mutter
bedeutete, dass der Fremde gut für sie gesinnt zu sein
schiene, und dass es sich wohl nicht schicke, jemanden
sogleich über diesen Punkt zu befragen.
Da sie hörten, dass ich bald von Palermo abreisen
woll­te, wurden sie dringender und ersuchten mich,
dass ich dochja wiederkommen möchte; besonders
rühmten sie die paradiesischen Tage des Rosalienfestes, dergleichen in der ganzen Welt nicht müsse gesehen und genossen werden.
Mein Begleiter, der schon lange Lust gehabt hatte,
sich zu entfernen, machte endlich der Unterredung
durch seine Gebärden ein Ende, und ich versprach,
den andern Tag gegen Abend wiederzukommen und
den Brief ab­zuholen. Mein Begleiter freute sich, dass
alles so glücklich gelungen sei, und wir schieden zufrieden voneinan­der.
Man kann sich den Eindruck denken, den diese arme,
fromme, wohlgesinnte Familie auf mich gemacht hatte. Meine Neugierde war befriedigt, aber ihr natürliches und gutes Betragen hatte einen Anteil in mir
erregt, der sich durch Nachdenken noch vermehrte.
Sogleich aber entstand in mir die Sorge wegen des fol­
genden Tags. Es war natürlich, dass diese Erscheinung,
die sie im ersten Augenblick überrascht hatte, nach
meinem Abschiede manches Nachdenken bei ihnen
erregen musste. Durch den Stammbaum war mir bekannt, dass noch mehrere von der Familie lebten; es
war natürlich, dass sie ihre Freunde zusammenberiefen, um sich in ihrer Gegenwart dasjenige wiederholen
zu lassen, was sie tags vorher mit Verwunderung von
mir gehört hatten. Meine Absicht hatte ich erreicht,
und es blieb mir nur noch übrig, dieses Abenteuer auf
eine schickliche Weise zu endigen. Ich begab mich daher des andern Tags gleich nach Tische allein in ihre
Wohnung. Sie verwunderten sich, da ich hineintrat.
Der Brief sei noch nicht fertig, sagten sie, und einige
ihrer Verwandten wünschten mich auch kennen zu
lernen, welche sich gegen Abend einfin­den würden.
Ich versetzte, dass ich morgen früh schon abreisen
müsse, dass ich noch Visiten zu machen, auch einzupacken habe und also lieber früher als gar nicht hätte
kom­men wollen.
Indessen trat der Sohn herein, den ich des Tags vorher nicht gesehen hatte. Er glich seiner Schwester an
Wuchs und Bildung. Er brachte den Brief, den man
mir mitge­ben wollte, den er, wie es in jenen Gegenden gewöhnlich ist, ausser dem Hause bei einem der
öffentlich sitzenden Notarien hatte schreiben lassen.
Der junge Mensch hatte ein stilles, trauriges und
bescheidenes Wesen, erkundigte sich nach seinem
Oheim, fragte nach dessen Reichtum und Ausgaben
75
und setzte traurig hinzu, warum er seine Familie doch
so ganz vergessen haben möchte. »Es wäre unser
grösstes Glück«, fuhr er fort, »wenn er einmal hie­
her käme und sich unserer annehmen wollte; aber«,
fuhr er fort, »wie hat er Ihnen entdeckt, dass er noch
Anver­wandte in Palermo habe? Man sagt, dass er uns
überall verleugne und sich für einen Mann von grosser Geburt ausgebe.« Ich beantwortete diese Frage,
welche durch die Unvorsichtigkeit meines Führers bei
unserm ersten Eintritt veranlasst worden war, auf eine
Weise, die es wahrscheinlich machte, dass der Oheim,
wenn er gleich gegen das Publikum Ursache habe, seine Abkunft zu verbergen, doch gegen seine Freunde
und Bekannten kein Geheimnis daraus mache.
Die Schwester, welche während dieser Unterredung
herbeigetreten war und durch die Gegenwart des Bru­
ders, wahrscheinlich auch durch die Abwesenheit des
gestrigen Freundes mehr Mut bekam, fing gleichfalls
an, sehr artig und lebhaft zu sprechen. Sie baten sehr,
sie ih­rem Onkel, wenn ich ihm schriebe, zu empfehlen; eben­sosehr aber, wenn ich diese Reise durchs Königreich gemacht, wiederzukommen und das Rosalienfest mit ihnen zu begehen.
Die Mutter stimmte mit den Kindern ein. »Mein
Herr«, sagte sie, »ob es sich zwar eigentlich nicht
schickt, da ich eine erwachsene Tochter habe, fremde
Männer in meinem Hause zu sehen, und man Ursache
hat, sich so­wohl vor der Gefahr als der Nachrede zu
hüten, so sollen Sie uns doch immer willkommen sein,
wenn Sie in diese Stadt zurückkehren.«
»O ja«, versetzten die Kinder, »wir wollen den
Herrn beim Feste herumführen, wir wollen ihm alles
zeigen, wir wollen uns auf die Gerüste setzen, wo wir
die Feier­lichkeit am besten sehen können. Wie wird er
sich über den grossen Wagen und besonders über die
prächtige Il­lumination freuen!«
Indessen hatte die Grossmutter den Brief gelesen
und wieder gelesen. Da sie hörte, dass ich Abschied
nehmen wollte, stand sie auf und übergab mir das
zusammenge­faltete Papier. »Sagen Sie meinem
Sohn«, fing sie mit ei­ner edlen Lebhaftigkeit, ja einer
Art von Begeisterung an, »sagen Sie meinem Sohn,
wie glücklich mich die Nachricht gemacht hat, die
Sie mir von ihm gebracht haben! sagen Sie ihm, dass
ich ihn so an mein Herz schlie­sse« - hier streckte sie
die Arme auseinander und drückte sie wieder auf ihre
Brust zusammen -, »dass ich täglich Gott und unsere heilige Jungfrau für ihn im Gebet anfle­he, dass ich
ihm und seiner Frau meinen Segen gebe, und dass ich
nur wünsche, ihn vor meinem Ende noch einmal mit
diesen Augen zu sehen, die so viele Tränen über ihn
vergossen haben.«
Die eigne Zierlichkeit der italienischen Sprache be­
günstigte die Wahl und die edle Stellung dieser Worte,
welche noch überdies von lebhaften Gebärden begleitet wurden, womit jene Nation über ihre Äusserungen
einen unglaublichen Reiz zu verbreiten gewohnt ist.
Ich nahm nicht ohne Rührung von ihnen Abschied.
Sie reichten mir alle die Hände, die Kinder geleiteten
76
mich hinaus, und indes ich die Treppe hinunterging,
sprangen sie auf den Balkon des Fensters, das aus der
Kü­che auf die Strasse ging, riefen mir nach, winkten
mir Grüsse zu und wiederholten, dass ich ja nicht vergessen möchte, wiederzukommen. Ich sah sie noch auf
dem Balkon stehen, als ich um die Ecke herumging.
Ich brauche nicht zu sagen, dass der Anteil, den ich
an dieser Familie nahm, den lebhaften Wunsch in mir
erregte, ihr nützlich zu sein und ihrem Bedürfnis zu
Hülfe zu kommen. Sie war nun durch mich abermals
hintergan­gen, und ihre Hoffnungen auf eine unerwartete Hülfe waren durch die Neugierde des nördlichen
Europas auf dem Wege, zum zweitenmal getäuscht zu
werden.
Mein erster Vorsatz war, ihnen vor meiner Abreise jene vierzehn Unzen zuzustellen, die ihnen der
Flücht­ling schuldig geblieben, und durch die Vermutung, dass ich diese Summe von ihm wiederzuerhalten
hoffte, mein Geschenk zu bedecken; allein als ich zu
Hause meine Rechnung machte, meine Kasse und Papiere überschlug, sah ich wohl, dass in einem Lande,
wo durch den Mangel von Kommunikation die Entfernung gleichsam ins Unendliche wächst, ich mich
selbst in Verlegenheit set­zen würde, wenn ich mir anmasste, die Ungerechtigkeit eines frechen Menschen
durch eine herzliche Gutmütig­keit zu verbessern.
Gegen Abend trat ich noch zu meinem Handelsmanne und fragte ihn, wie denn das Fest morgen ablaufen
werde, da eine grosse Prozession durch die Stadt ziehen und der Vizekönig selbst das Heiligste zu Fuss begleiten solle. Der geringste Windstoss müsse ja Gott
und Menschen in die dickste Staubwolke verhüllen.
Der muntere Mann versetzte, dass man in Palermo
sich gern auf ein Wunder verlasse. Schon mehrmals in
ähnli­chen Fällen sei ein gewaltsamer Platzregen gefallen und habe die meist abhängige Strasse wenigstens
zum Teil rein abgeschwemmt und der Prozession reinen Weg ge­bahnt. Auch diesmal hege man die gleiche
Hoffnung nicht ohne Grund, denn der Himmel überziehe sich und verspreche Regen auf die Nacht.
Palermo, Sonntag, den 15. April 1787.
Und so geschah es denn auch! der gewaltsamste Re­
genguss fiel vergangene Nacht vom Himmel. Sogleich
morgens eilte ich auf die Strasse, um Zeuge des Wunders zu sein. Und es war wirklich seltsam genug. Der
zwi­schen den beiderseitigen Schrittsteinen eingeschränkte Regenstrom hatte das leichteste Kehricht
die abhängige Strasse herunter, teils nach dem Meere,
teils in die Abzü­ge, insofern sie nicht verstopft waren, fortgetrieben, das gröbere Geströhde wenigstens
von einem Orte zum andern geschoben und dadurch
wundersame, reine Mäan­der auf das Pflaster gezeichnet. Nun waren hundert und aber hundert Menschen
mit Schaufeln, Besen und Ga­beln dahinterher, diese
reinen Stellen zu erweitern und in Zusammenhang zu
bringen, indem sie die noch übrig­gebliebenen Unreinigkeiten bald auf diese, bald auf jene Seite häuften.
Daraus erfolgte denn, dass die Prozession, als sie begann, wirklich einen reinlichen Schlangenweg durch
den Morast gebahnt sah und sowohl die sämtliche
langbekleidete Geistlichkeit als der nettfüssige Adel,
den Vizekönig an der Spitze, ungehindert und unbesudelt durchschreiten konnte. Ich glaubte die Kinder
Israel zu sehen, denen durch Moor und Moder von
Engelshand ein trockner Pfad bereitet wurde, und veredelte mir in diesem Gleichnisse den unerträglichen
Anblick, so viel andächtige und anständige Menschen
durch eine Allee von feuchten Kothaufen durchbeten
und durchprunken zu sehen.
Auf den Schrittsteinen hatte man nach wie vor reinli­
chen Wandel, im Innern der Stadt hingegen, wohin
uns die Absicht, verschiedenes bis jetzt Vernachlässigtes zu sehen, gerade heute gehen hiess, war es fast
unmöglich, durchzukommen, obgleich auch hier das
Kehren und Aufhäufen nicht versäumt war.
Diese Feierlichkeit gab uns Anlass, die Hauptkirche
zu besuchen und ihre Merkwürdigkeiten zu betrachten, auch, weil wir einmal auf den Beinen waren, uns
nach an dem Gebäuden umzusehen; da uns denn ein
mauri­sches, bis jetzt wohlerhaltenes Haus gar sehr
ergötzte - nicht gross, aber mit schönen, weiten und
wohlpropor­tionierten, harmonischen Räumen; in
einem nördlichen Klima nicht eben bewohnbar, im
südlichen ein höchst willkommener Aufenthalt. Die
Baukundigen mögen uns davon Grund- und Aufriss
überliefern.
Auch sahen wir in einem unfreundlichen Local verschiedene Reste antiker, marmorner Statuen, die wir
aber zu entzifffern keine Geduld hatten.
ihre Bestimmung vollkommen erfüllen, werden sie
uns deutlicher. Im An­gesicht so vielerlei neuen und erneuten Gebildes fiel mir die alte Grille wieder ein, ob
ich nicht unter dieser Schar die Urpflanze entdecken
könnte. Eine solche muss es denn doch geben! Woran
würde ich sonst erkennen, dass dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem
Muster gebildet wären?
Ich bemühte mich zu untersuchen, worin denn die
vie­len abweichenden Gestalten voneinander unterschieden seien. Und ich fand sie immer mehr ähnlich
als verschie­den, und wollte ich meine botanische Terminologie an­bringen, so ging das wohl, aber es fruchtete nicht, es machte mich unruhig, ohne dass es mir
weiterhalf. Ge­stört war mein guter poetischer Vorsatz,
der Garten des Alcinous war verschwunden, ein Weltgarten hatte sich aufgetan. Warum sind wir Neueren
doch so zerstreut, warum gereizt zu Forderungen, die
wir nicht erreichen noch erfüllen können!
Palermo, Montag, den 16. April 1787.
Da wir uns nun selbst mit einer nahen Abreise aus
die­sem Paradies bedrohen müssen, so hoffte ich, heute noch im öffentlichen Garten ein vollkommenes
Labsal zu fin­den, mein Pensum in der» Odyssee«
zu lesen und auf ei­nem Spaziergang nach dem Tale,
am Fusse des Rosalien­bergs den Plan der »Nausikaa«
weiter durchzudenken und zu versuchen, ob diesem
Gegenstande eine dramati­sche Seite abzugewinnen
sei. Dies alles ist, wo nicht mit grossem Glück, doch
mit vielem Behagen geschehen. Ich verzeichnete den
Plan und konnte nicht unterlassen, ei­nige Stellen, die
mich besonders anzogen, zu entwerfen und auszuführen.
Palermo, Dienstag, den 17. April 1787.
Es ist ein wahres Unglück, wenn man von vielerlei
Geistern verfolgt und versucht wird! Heute früh ging
ich mit dem festen, ruhigen Vorsatz, meine dichterischen Träume fortzusetzen, nach dem öffentlichen
Garten, allein eh‘ ich mich‘s versah, erhaschte mich
ein anderes Gespenst, das mir schon diese Tage nachgeschlichen. Die vielen Pflanzen, die ich sonst nur in
Kübeln und Töpfen, ja die grösste Zeit des Jahres nur
hinter Glasfen­stern zu sehen gewohnt war, stehen hier
froh und frisch unter freiem Himmel, und indem sie
77
Die Stätten meiner frühen Kindheit,
Giuseppe Tommasi di Lampedusa
in: Die Sirene : Erzählungen / Giuseppe Tomasi di Lampedusa; aus
dem Ital. von Charlotte Birnbaum. – München : Piper, cop. 1961
Erstes Kapitel
Die Erinnerungen an die frühe Kindheit bestehen,
glaube ich, bei jedermann aus einer Reihe von Wahr­
nehmungen durch das Auge, von denen viele zwar sehr
klar, doch ohne jede chronologische Bedeutung sind.
Eine »Chronik« der eigenen Kindheit zu schrei­ben,
ist meiner Ansicht nach unmöglich: auch wenn man
im besten Glauben handelt, würde man doch un­
richtige Eindrücke wiedergeben, weil in Wirklichkeit
vieles zeitlich anders lag. Ich will daher die Methode
anwenden, die Dinge in Gruppen zusammenzuneh­
men, und versuchen, einen runden, umfassenden
Ein­druck zu vermitteln, mehr im Raum als in der zeit­
lichen Aufeinanderfolge. Ich will vom Milieu meiner
Kindheit sprechen, von den Menschen, die mich um­
gaben; von meinen Empfindungen, ohne dabei zu ver­
suchen, ihre Entwicklung a priori zu verfolgen.
Ich kann versprechen, nichts zu berichten, was falsch
ist; aber ich glaube nicht, dass ich alles sagen werde.
Ich behalte mir das Recht vor, gelegentlich durch
Weglassen nicht ganz bei der Wahrheit zu bleiben falls ich meine Ansicht nicht noch ändere.
Eine der frühesten Erinnerungen, die ich zeitlich ge­
nau bestimmen kann, weil sie sich auf eine geschicht­
lich überprüfbare Tatsache bezieht, geht auf den 30.
Juli 1900 zurück, also auf den Augenblick, in dem ich
ein paar Tage älter als dreieinhalb Jahre war.
Ich befand mich mit meiner Mutter und ihrer Zofe
­wahrscheinlich war es Teresa aus Turin - im Toiletten­
zimmer. Dies war ein Zimmer, welches, mehr lang als
breit, Licht von zwei an den Schmalseiten einander
gegenüberliegenden Balkonen erhielt; davon sah der
eine auf den kleinen Garten, der unser Haus von dem
Oratorium S. Zita trennte, der andere auf einen engen
Innenhof. Der Toilettentisch - in haricot-Form, die
Glasplatte mit einem rosa Stoff unterlegt, die Beine
mit einer Art Rock aus weisser Spitze umhüllt - hatte
seinen Platz vor dem Balkon, der nach dem Garten
ging, und auf ihm befand sich ausser den Bürsten und
anderen Kleinigkeiten ein grosser Spiegel; auch sein
mit Sternen und sonstigen Glasornamenten verzierter
Rahmen war aus Spiegelglas, und diese Sterne und
Verzierungen gefielen mir sehr.
Es war, glaube ich, morgens gegen elf Uhr, ich sehe
noch das mächtige Sommerlicht durch die geschlossenen Jalousien des offenstehenden Fensters herein­
dringen.
Meine Mutter kämmte sich mit Hilfe der Zofe das
Haar; ich sass mitten im Zimmer auf dem Boden, ich
weiss nicht mehr, was ich da tat. Ich weiss auch nicht,
ob mein Kindermädchen Elvira - aus Siena - dabei­war;
ich glaube, sie war nicht dabei.
Auf einmal hören wir hastige Schritte die kleine Innentreppe heraufkommen - sie verband die Räume
meines Vaters, die im Zwischenstock genau unter uns
lagen, mit denen meiner Mutter -, mein Vater tritt ein,
ohne zu klopfen, und sagt aufgeregt ein paar Worte.
Ich erinnere mich sehr genau an den Ton, in dem er
sie sagte, aber nicht an die einzelnen Worte und auch
nicht an ihren Sinn.
Ich »sehe« aber noch die Wirkung, die sie hervor­
brachten; meine Mutter liess die silberne Bürste mit
dem langen Griff fallen, die sie in der Hand hielt, Teresa sagte: »bon signour«, und alle im Zimmer waren
bestürzt.
Mein Vater war heraufgekommen, um uns die Er­
mordung von König Umberto mitzuteilen; es war
in Monza geschehen, am Abend vorher, dem 29. Juli
1900. Ich wiederhole: ich »sehe« die Licht- und
Schatten­streifen vom Balkon her noch heute vor mir,
ich »höre« die erregte Stimme meines Vaters, das Geräusch der Bürste, als sie auf das Glas des Toilettentisches fällt, die piemonteser Anrufung des »Herrn im
Him­mel« der guten Teresa; ich »empfinde wieder«
das Ge­fühl von Schrecken, das uns erfasste, aber das
alles blieb für mich persönlich von der Nachricht
vom Tode des Königs getrennt. Später wurde mir die
geschicht­liche Bedeutung erläutert, und so erklärt es
sich, dass die Szene in meinem Gedächtnis haftengeblieben ist. Eine andere Erinnerung, die ich gut in
jeder Einzel­heit beschreiben kann, ist die an das Erdbeben von Messina am 28. Dezember 1908. Den Stoss
merkte man in Palermo sehr wohl, aber ich entsinne
mich sei­ner nicht; ich glaube, dass er meinen Schlaf
nicht unter­brach. Ich sehe jedoch deutlich die hohe
englische Pen­deluhr meines Grossvaters, die damals
im grossen Eingangssaal stand: sie war in der Schicksalsstunde um fünf Uhr zwanzig stehengeblieben;
und ich höre noch, wie einer meiner Onkel- ich glaube Ferdinando, der in die Uhrmacherkunst ganz vernarrt war - mir erklärte, sie sei bei dem Erdbeben der
vorigen Nacht stehengeblieben. Am Abend gegen siebeneinhalb Uhr, auch daran erinnere ich mich, befand
ich mich im Ess­raum meiner Grosseltern - ich war
dort oft während ihrer Abendmahlzeit, weil sie früher
assen als ich - als einer meiner Onkel, wahrscheinlich
derselbe Fer­dinando, mit der Abendzeitung eintrat:
sie meldete »schwere Schäden und etliche Opfer in
Messina bei dem Erdbeben von heute morgen«.
Diese Erinnerung ist visuell weniger lebhaft als die erste, aber sie ist vom Blickpunkt des »Geschehnisses«
aus sehr viel genauer.
Einige Tage danach traf aus Messina mein Vetter ein,
der beim Erdbeben Vater und Mutter verloren hatte.
Er wohnte bei meinen Vettern Piccolo, und ich weiss
noch, wie ich ihn an einem bleichen, regnerischen
Win­tertag besuchte. Ich sehe auch den Schmerz
meiner Mutter vor mir, als etliche Tage danach die
Nachricht eintraf, dass man die Leichen ihrer Schwester Lina und ihres Schwagers gefunden hatte. Meine
Mutter sass schluchzend im grünen Salon in einem
grossen Sessel, in den sich sonst nie jemand setzte, sie
79
trug ihr kurzes Mäntelchen aus geflammtem Astrachan. Grosse Militär­wagen fuhren durch die Strassen, um für die Flücht­linge Kleidung und Decken zu
sammeln; einer kam auch durch die Via Lampedusa,
und ich musste von einem Balkon unseres Hauses aus
einem Soldaten, der auf dem Wagen fast in gleicher
Höhe wie der Balkon stand, Wolldecken reichen. Es
war ein Artillerist mit der blauen, mit orangefarbenen
Litzen verzierten Mütze; ich sehe noch das rötliche
Gesicht und höre, wie er mit kontinentalem Akzent
sagt: »grazzie, mein Junge.« Ich erinnere mich auch,
wie man erzählte, dass sich die Flüchtlinge, die überall, selbst in den Logen der Theater, untergebracht waren, untereinander »auf eine sehr ungehörige Art«
aufführten, und wie mein Vater lächelnd sagte: »Sie
haben den Wunsch, die To­ten zu ersetzen« - eine Anspielung, die ich sehr wohl verstand.
Noch ein weiterer Tag haftet fest in meinem Gedächt­
nis: ich kann das Datum nicht gen au bestimmen, er
lag jedoch weit vor dem Erdbeben von Messina, ich
glaube eher, es war bald nach dem Tode des Königs
Umberto. Wir waren Gäste der Florio in ihrer Villa
in Favignana, im Hochsommer. Ich erinnere mich,
dass mich das Kindermädchen Elvira früher weckte
als sonst, gegen sieben Uhr, dass sie mir rasch mit einem Schwamm voll frischem Wasser über das Gesicht
fuhr und mich dann mit grosser Sorgfalt ankleidete.
Ich wurde durch eine kleine Seitentür in den Garten hin­untergeschleppt und musste von da über eine
Treppe von sechs, sieben Stufen in die grosse offene
Veranda hinaufsteigen, die nach dem Meer zu lag. Ich
weiss noch, wie mich die Sonne an diesem Juli- oder
August­morgen blendete. Die Veranda war vor der
Sonne durch grosse, orangefarbene Planen geschützt,
die der Seewind blähte und wie Segel auf und ab
schlug ­ich höre noch, wie sie knatterten; hier sassen
auf Rohr­sesseln meine Mutter, die Signora Florio und
andere Personen. In der Mitte der Gruppe sass eine
sehr alte Dame, ziemlich gebeugt, mit einer Hakennase, in Wit­wenschleier gehüllt, die im Winde wild hinund her­wehten. Dorthin brachte man mich, ich stand
vor ihr, sie sagte einige Worte, die ich nicht verstand,
beugte sich noch mehr nieder und gab mir einen Kuss
auf die Stirn - ich muss also sehr klein gewesen sein,
wenn eine sitzende Signora sich noch bücken musste,
um mich zu küssen. Danach wurde ich wieder fortge­
schleppt und in mein Zimmer gebracht; man zog mir
die Festkleider aus und bescheidenere an und führte
mich an den Strand, wo die Jungen Florio und an­dere
schon waren. Wir badeten alle zusammen und blieben
dann lange unter der glühendheissen Sonne, um unser
Lieblingsspiel zu spielen: im Sand nach klei­nen Stücken tiefroter Korallen zu suchen, die hier einigermassen häufig zu finden waren.
Am Nachmittag wurde mir eröffnet, dass die alte
Signora die frühere Kaiserin der Franzosen gewesen
war, Eugenie, deren Yacht vor Favignana ankerte; sie
war am Abend zuvor bei den Florio zu Tisch ge­wesen
80
- wovon ich natürlich nichts wusste - und hatte am
Morgen einen Abschiedsbesuch gemacht, um sieben
Uhr - eine kaiserliche Unbekümmertheit, die meiner
Mutter und der Signora Florio eine wahre Qual be­
reitete. Ihr also wurden die Sprösslinge vorgeführt.
In diesen Tagen - Mitte Juni 1955 - habe ich Henri
Brulard wiedergelesen, ein Buch von Stendhal. Seit
dem nun schon fernen Jahre 1922 hatte ich es nicht
mehr in der Hand gehabt; wie man sieht, war ich da­
mals noch besessen vom ausgesprochen Schönen und
vom »Interesse am Sujet«, und ich entsinne mich,
dass mir das Buch nicht gefiel.
Jetzt kann ich denen, die es gewissermassen als Sten­
dhals Meisterwerk bezeichnen, nicht unrecht geben;
es lebt darin Unmittelbarkeit der Empfindung, Auf­
richtigkeit, eine bewundernswerte Bemühung, die
auf­einanderliegenden Schichten von Erinnerungen
ab­zutragen, um auf den Grund zu gelangen. Und was
für ein klarer Stil! Was für eine Fülle von Ausdrüc­ken,
die um so wertvoller sind, je allgemeiner sie gelten.
Ich möchte versuchen, dasselbe zu tun. Es erscheint
mir geradezu als eine Verpflichtung. Für den, dessen
Leben sich dem Ende zuneigt, ist es ein Gebot, der
Empfindungen, die durch diesen seinen Organismus gegangen sind, so viel ihm möglich ist zu sammeln. Nur wenigen wird es gelingen, auf diese Art
ein Meister­werk zu schaffen - Rousseau, Stendhal,
Proust -, aber alle müssten solcherart etwas aufbewahren können, was ohne diese leichte Anstrengung für
immer ver­loren gehen würde. Ein Tagebuch führen
oder in einem bestimmten Alter seine Erinnerungen
schreiben, müsste »von Staats wegen verordnet«
sein: der Stoff, der sich nach drei, vier Generationen
aufgehäuft hätte, würde einen unschätzbaren Wert
darstellen: viele psycholo­gische und historische Probleme, die die Menschheit peinigen, würden sich lösen. Es gibt keine Erinnerun­gen, mögen sie auch von
unbedeutenden Persönlich­keiten geschrieben sein,
die nicht gesellschaftliche und geradezu malerische
Werte ersten Ranges enthielten. Das aussergewöhnliche Interesse an den Romanen Defoes beruht auf der
Tatsache, dass sie sozusagen Tagebücher sind, genial,
wiewohl nicht authentisch. Man überlege einmal, wie
erst echte aussehen würden! Man stelle sich etwa das
Tagebuch einer Pariser Kupp­lerin der Regence vor,
oder Erinnerungen von Byrons Kammerdiener während der Zeit in Venedig! Was würde wohl alles darin
stehen ...
Was die »Qualität« der Erinnerung anlangt, stimme
ich jedoch mit Stendhal nicht überein. Er stellt seine
Kindheit als eine Zeit hin, in der er Tyrannei und Ge­
walttätigkeit zu dulden hatte. Für mich ist die Kind­
heit ein verlorenes Paradies. Alle waren gut zu mir, ich
war der König des Hauses. Auch Persönlichkeiten, die
sich später feindlich zu mir stellten, waren mir damals
noch freundlich gesinnt.
Daher möge sich der Leser - es wird keinen geben
­darauf gefasst machen, dass er in einem »Irdischen
Paradies«, einem verlorenen, umhergeführt wird.
Wenn er sich langweilt, so macht mir das nichts aus.
Zweites Kapitel
DAS HAUS LAMPEDUSA
Ein solches Paradies war vor allem unser Haus. Ich
liebte es mit vollkommener Hingabe und liebe es noch
jetzt, da es seit zwölf Jahren nur mehr eine Erinne­rung
ist. Bis wenige Monate vor seiner Zerstörung schlief
ich in dem Zimmer, in dem ich geboren wurde,
vier Meter von der Stelle entfernt, wo das Bett mei­
ner Mutter während der Geburtswehen stand. Und es
war mir eine angenehme Vorstellung, dass ich gewiss
einmal in diesem Haus, vielleicht im selben Zimmer
sterben würde. Alle anderen Häuser, in denen ich lebte - übrigens nur wenige, abgesehen von den Ho­tels -,
waren Dächer, die dazu dienten, mich vor Regen und
Sonne zu schützen, aber nicht Häuser im archaischen,
verehrungswürdigen Sinn des Wortes.
Es wird daher sehr schmerzlich für mich sein, dieses
geliebte, entschwundene Haus wieder heraufzube­
schwören, wie es bis zum Jahre 1929 in seiner Unver­
sehrtheit und Schönheit, und nach allem weiter bis
zum 5. April 1943 war: dem Tag, an dem die von
jen­seits des Atlantik herbeigeschleppten Bomben es
such­ten und zerstörten.
Die erste Empfindung, die mir in den Sinn kommt,
ist die seiner Geräumigkeit; und diese Empfindung
rührt bei mir nicht davon her, dass uns in der Kindheit alles, was uns umgibt, grösser erscheint, sondern
das Haus war wirklich sehr geräumig. Als ich seine
Grund­fläche überblickte - damals, als sie mit abscheulichen Trümmern bedeckt war -, betrugen seine Masse
1600 qm. Es war nur von uns bewohnt: in dem einen
Flügel wohnten wir, in einem anderen meine Grosseltern väterlicherseits, im zweiten Stock meine On­kel,
die Junggesellen waren; und so verfügte ich dar­über
ganz und gar zwanzig Jahre hindurch: über seine drei
Höfe, seine vier Terrassen, seinen Garten, über seine
ungeheuren Treppen, seine Gänge und Vorsäle, seine Stallungen, über die kleinen Zwischen­geschosse
für das Dienstpersonal und die Verwaltung­ ein wahres Königreich für einen Knaben allein, ein Reich,
manchmal leer, manchmal bevölkert von Ge­stalten,
die alle freundlich waren.
Über keinen Punkt der Erde, dessen bin ich gewiss,
hat sich je ein so heftig blauer Himmel gebreitet wie
über unsere umschlossene Terrasse; nie hat die Sonne milderes Licht in Zimmer dringen lassen als durch
die Spalten der Jalousien in den »grünen Salon«; nie
haben feuchte Flecke aussen auf Hofmauern Formen
gezeigt, die die Phantasie mehr angeregt hätten als die
an meinem Haus.
Alles an ihm ist mir lieb: die Asymmetrie seiner Mauern, die grosse Anzahl seiner Salons, der Stuck an den
Decken, der schlechte Geruch der grosselterlichen Küche, das Veilchenparfüm im Toilettenzimmer mei­ner
Mutter, die drückende Luft der Stallungen, das gute
Gefühl bei dem blanken Leder der Sattlerei, das Geheimnis bestimmter, nicht fertig eingerichteter Räume im obersten Stock, der ungeheuer grosse Raum der
Remisen, in denen die Wagen verwahrt wurden; eine
ganze Welt voll zarter Geheimnisse, stets neuer und
immer junger Überraschungen.
Darüber war ich unumschränkter Herr; ich durchmass immerzu die weiten Räume, wenn ich vom Hof
über die grosse Treppe bis zu der auf dem Dach gelegenen Loggia hinaufstieg, von der aus man das Meer
sah, den Monte Pellegrino und die ganze Stadt bis zur
Porta Nuova und Monreale. Und da ich mit Hilfe
von mancherlei Umwegen die bewohnten Zimmer
zu vermeiden wusste, fühlte ich mich allein und als
ab­soluter Herrscher; nur Freund Tom folgte mir oft,
er lief höchst aufgeregt dicht hinter mir her, die rote
Zunge hing ihm aus seiner lieben schwarzen Schnauze. Das Haus - ich will es Haus nennen und nicht
Palaz­zo, ein Name, der geschändet ist, seit man ihn
jetzt den Massenwohngemeinschaften von fünfzehn
Stock­werken beilegt - lag geradezu versteckt in einer
der abgelegensten Strassen des alten Palermo, in der
Via Lampedusa Nummer 17, eine mit schlimmen
Vorbe­deutungen beladene Zahl, die aber damals nur
dazu diente, der Freude, die das Haus zu spenden
wusste, einen Beigeschmack von möglicher Ungunst
hinzu­zufügen. Als dann die Stallungen in Warenlager
um gewandelt waren, forderten wir, dass die Nummer
geändert würde; es wurde 23 daraus, aber da ging es
auch schon dem Ende zu: also hatte die Nummer 17
dem Hause doch Glück gebracht.
Die Strasse war abgelegen, aber nicht besonders
schmal, und gut gepflastert; auch nicht schmutzig,
wie man glauben könnte, denn unserem Tor gegenüber erstreckte sich ebenso lang wie der unsere der
alte Palazzo Pietra persia, der im Erdgeschoss weder
Geschäfte noch Wohnungen hatte und nur seine
strenge, aber sorg­sam ausgewogene Fassade zeigte, weiss und gelb, wie es sich gehört, unterbrochen
durch viele, von riesigen Eisengittern geschützte Fenster, die ihr den würde­voll-traurigen Anblick eines
Klosters oder Staats­gefängnisses verliehen. Als dann
die Bomben krach­ten, wurden viele dieser schweren
Eisengitter in unsere nach dieser Seite gelegenen Fenster geschleudert - mit welch heiterer Wirkung auf
die alten Stuckdecken und Muranoleuchter, kann
man sich vorstellen. Aber wenn die Via Lampedusa,
wenigstens so weit unser Haus reichte, anständig war,
so waren es die Zugangswege nicht ebenso: in der Via
Bara all‘Olivella drängten sich Elend und Verfall, und
durch sie zu gehen, war eine traurige Angelegenheit.
Es wurde etwas besser, als man die Via Roma quer
hindurchlegte; aber auch dann blieb immer noch ein
gutes Stück durch Schmutz und abscheuliche Zustände zurückzulegen.
Die Fassade des Hauses hatte nichts architektonisch
Wertvolles: sie war weiss, und die Öffnungen hatten
eine schwefelgelbe Umrahmung; kurz, es war der
81
reinste sizilianische Stil des 17. und 18. Jahrhunderts.
Das Haus erstreckte sich in der Via Lampedusa über
etwa sechzig Meter und hatte an der Fassade neun
grosse Balkone. Portale gab es zwei, fast an den Seiten
des Hauses gelegen, und sie waren ungeheuer breit,
wie man sie früher baute, damit die Wagen auch von
schmalen Strassen aus im Innenhof wenden konnten.
In der Tat wendeten dort ohne Schwierigkeit auch
die Vierergespanne, die mein Vater mit Meisterschaft
an den Galopp-Renntagen in der »Favorita« führte.
Nachdem man das Portal, das man immer als Eingang
benutzte, durchschritten hatte, war da, der Treppe
gegenüber, eine Vorhalle mit Säulen aus dem schönen
grauen Stein von Billiemi, die den darüber liegenden
tocchetto, wieder einen Säulengang, trugen. Hier war
der grosse, mit Kieseln gepflasterte Innenhof, den
Reihen von Pflastersteinen unterteilten. Hinten be­
grenzten ihn drei grosse, auch wieder von Säulen aus
Billiemi gestützte Bogen; diese trugen die Terrasse, die
hier die beiden Flügel des Hauses verband. Die grosse
Treppe war sehr schön, ganz in grauem Billiemi, mit
zwei Aufgängen, jeder zu fünfzehn Stu­fen, die Wände
gelblich. Vor dem zweiten Aufgang war ein geräumiger, länglicher Absatz mit zwei Mahagonitüren, je eine
jedem Aufgang gegenüber, mit flachen vergoldeten
Balkönchen an der Stirnseite. Gleich über den ersten
Stufen zum Treppeneingang, jedoch noch aussen im
Hof, hing die rote Schnur der Glocke, die der Pförtner
läuten musste, um die Dienerschaft zu benachrichtigen, dass die Herr­schaften sich »ins Haus zurückgezogen« hatten, oder dass Besuche gekommen waren.
Die Zahl der Glockenschläge - die Pförtner führten
sie vorzüglich aus, sie erzielten, wie, weiss ich nicht,
trockene, von ein­ander getrennte Schläge ohne lästiges Gebimmel ­unterlag einem strengen Protokoll: vier
Schläge für meine Grossmutter, die Fürstin, und zwei
für ihre Besuche, drei für meine Mutter, die Herzogin,
und einen für ihre Besuche. Es kamen jedoch schwierig zu entscheidende Fälle vor: etwa wenn manchmal
meine Mutter, meine Grossmutter und eine Freundin,
die sie unterwegs mitgenommen hatten, im selben
Wagen heimkehrten; dann wurde ein wahres Konzert
von vier und drei und zwei Schlägen aufgeführt, das
kein Ende nahm. Die männliche Herrschaft, mein
Grossvater und mein Vater, verliess das Haus und
kehrte dorthin zurück, ohne dass man für sie eine
Bimmelei veranstaltete.
Wenn man die zweite Treppenflucht hinaufgestiegen
war, kam man in den weiten, lichterfüllten tocchetto, das ist ein Säulengang, in dem die Zwischenräume zwischen den Säulen zur erhöhten Behaglichkeit
mit grossen, undurchsichtigen, rhombusartigen
Glasschei­ben ausgefüllt sind. In diesem tocchetto gab
es nur wenige Möbel, mächtige Gemälde von Vorfahren und links einen grossen Tisch, auf den die eingegangenen Briefe gelegt wurden. Dort las ich einmal
eine Karte, die aus Paris kam; sie war an den Onkel
gerichtet, irgendein französisches Hürchen hatte dar82
auf geschrie­ben: »Dis a ton ami qu‘il est un mufle.«
Der angren­zende Saal war ein ungeheurer, mit weissen
und grauen Marmorplatten belegter Raum; die drei
Balkone gin­gen auf die Via Lampedusa. Zum grossen
Leidwesen meiner Eltern war dieser Saal vollständig
im zeitge­nössischen Stil erneuert worden, denn im
Jahre 1848 war hier eine Bombe explodiert, hatte die
schöne ge­malte Decke zerstört und die Wandmalereien so be­schädigt, dass sie nicht wiederherzustellen
waren. Ich glaube, lange Zeit wuchs darin sogar ein
schöner Fei­genbaum. Der Saal wurde hergerichtet,
als mein Grossvater heiratete, also im Jahre 1866
oder 1867; er war ganz in weissem Stuck gehalten mit
einem lambris - einer halbhohen Bekleidung - von
grauem Marmor. In diesem grossen Saal hielten sich
die Diener auf und faulenzten hier auf ihren Sesseln,
bereit, sich beim Klang der berühmten Glocke in den
tocchetto zu stürzen.
Wenn man eine Türe durchschritten hatte, die mit
grünem Stoff verhängt war, kam man ins Vorzimmer;
es hatte über dem Balkon Sopraporten mit Bildern
von Vorfahren und über seinen beiden Türen eine
Drapie­rung von grauer Seide und weitere Gemälde.
Der Blick drang von da in die Folge der Salons, die
sich die Fassade entlang einer an den andern reihten.
Für mich begann hier der Zauber des Lichtes, das in
einer Stadt wie Palermo, wo die Sonne heftig strahlt,
auch in schmalen Strassen voller Kraft und je nach
der Zeit verschieden ist. Dieses Licht war manchmal
vor den Balkonen durch seidene Vorhänge gemildert;
wenn sie hin- und herschlugen, prallte es verstärkt auf
irgend­eine Vergoldung am Gesims, oder es wurde vom
gel­ben Damast eines Sessels zurückgeworfen; bisweilen waren die Salons, zumal im Sommer, dunkel, aber
durch die Jalousien drang das Licht von draussen
dennoch herein, so dass man empfand, wie mächtig
es war; oder es fiel, je nach der Stunde, ein Strahl so
gerade und genau umgrenzt herein wie der vom Berge
Sinai; dieser Strahl war mit Myriaden Staubkörnchen
bevölkert, die die Farbe der Teppiche - sie waren in
allen Salons einheitlich rubinrot - feuriger machten.
Ein wahrer Zauber von Lichtern und Farben, der meine Seele auf immer gefangennahm. Bisweilen finde
ich in einem alten Palazzo oder in einer Kirche diese
Leuchtkraft des Lichtes wieder, und ich müsste dann
vor Sehnsucht vergehen, wäre ich nicht bereit, mir mit
irgendeinem wicked joke herauszuhelfen. Nach dem
Vorzimmer kam das Zimmer der lambris, so hiess es,
weil es bis zur halben Höhe mit einer Täfe­lung von geschnitztem Nussbaumholz bekleidet war; dann folgte
der sogenannte Speiseraum, dessen Wände mit einem
orangefarbenen, geblümten Stoff bezogen waren, von
dem Teile als Wandbekleidung im gegen­wärtigen
Zimmer meiner Frau noch am Leben sind. Links lag
der grosse Ballsaal: die Böden waren aus Mosaik, die
köstlichen in Gold und Gelb ausgeführ­ten Schnörkel
der Decken umrahmten mythologische Szenen: mit
ländlicher Kraft und mächtig flatternden Gewändern
tummelten sich hier alle Götter des Olymp.
Danach betrat man das wunderschöne boudoir meiner Mutter; seine Decke war ganz mit altem, bemal­
tem Stuck überzogen, Blüten und Zweige in lieblich
­körperhaften Umrissen: wie eine Musik von Mozart.
83
Crocifissa M., Danilo Dolci
in: Umfrage in Palermo / Danilo Dolci ; deutsche Uebersetzung von
Hans von Hülsen. – Olten : Walter-Verlag, 1959
Setzen Sie sich ruhig. Heute sterben wir nicht. Ob
diese Nacht, weiss nur Gott.
Dreimal sind wir schon hier ausgezogen, auf Anweisung der Behörden, wegen dem Erdrutsch. Im ,35‘
fing es an. Es begann mit einigen wenigen Rissen auf
der Erde, im Fussboden. Dann setzten sie sich auf den
Mauern fort, die Tür liess sich nicht mehr schliessen,
denn die Mauern bewegten sich, das ganze Haus geriet
in Bewegung. In einer Woche hob sich der ganze Fussboden, und kurz vor der Geburt meiner Tochter Pinta
brach das Gemäuer zusammen, und das Dach stürzte
ein. Auch bei den andern Häusern wölbten sich die
Mauern nach innen und aussen, nach allen Seiten. Es
war Winter, ich hatte drei Kinder. Wir flüchteten uns
und suchten bei meinem Vater Zu­flucht.
Wir wandten uns an die Stadtbehörde, und sie schickte uns einen Ingenieur. Er sah sich den Erdschlipf an,
traf seine Ver­fügungen und wies uns hinaus. Er gab
uns den Befehl, das Haus zu räumen, da er die Verantwortung trage. Das ganze Quartier war in Bewegung
geraten, trug Schäden davon. Im Monat Juni reparierten wir das Haus so gut es ging, und im September
zo­gen wir wieder ein. Wir hatten ja keine Mittel, um
ein anderes zu suchen.
Im ,40‘ dasselbe: Risse und Wölbungen in den Fussböden. Ein Stück Mauer fiel ein. Vier Kinder hatte
ich, drei waren ja wenig! Im Februar erhielten wir
wieder einen Ausweisungs­befehl. Es waren auch die
Ingenieure gekommen, und sie lehn­ten jede Verantwortlichkeit ab. Im März zog ich aus und mie­tete ein
anderes Haus. Da starb mein Mann, und ich blieb mit
vier Kindern zurück. Im September tat ich, was ich
konnte. Ich verwendete die Versicherung, die Ersparnisse und brachte das Haus wieder in Ordnung. Aber
Jahr für Jahr gab es Schä­den in diesen Häusern, vor
allem wenn es stark regnete. In den Jahren mit geringen Regenfällen kam dies weniger vor. Da wir nicht
wissen, wohin uns wenden, bleiben wir hier. Wir gehen weg und wir kehren wieder zurück. Dieses Jahr
bewegen sich die Häuser Zentimeter um Zentimeter,
jetzt sind es zwei Meter im ganzen. Die Häuser oben
üben einen Druck aus auf ihre Nach­barn unten, und
so gleiten alle abwärts. Wegen diesen Erd­bewegungen
bleiben wir oft ohne Licht. Die Strassen brechen auf,
es platzen die Abwasserleitungen, wo es solche hat.
Haus­ecken fallen und manchmal auch ganze Häuser.
Wir säen hier Korn an, aber an gewissen Stellen
kommt die Erde ins Gleiten, und das Korn wächst
nicht. Nicht etwa der Erdrisse wegen, sondern die
Erde ballt sich zusammen und kommt ins Rutschen.
Manchmal platzen auch die Wasser­leitungen wie bei
Onkel Vincenzo und noch bei vielen andern. Der Zusammensturz erfolgt nicht unerwartet; wenn man die
Gefahr sieht, geht man hinaus. Nachts? Mein Sohn
84
schlief ge­wöhnlich hier, und letztes Jahr fiel der Kalk
von der Decke auf ihn, und er stürzte hinaus. Wenn
die Tiere den Erdrutsch spüren, fangen sie an zu
stampfen, auch sie fühlen die Gefahr, die Bewegung
im Fussboden.
Im ,40‘ - ich schlief - begannen die Maultiere mit den
Hufen zu stampfen, Kalk fiel herunter, und so floh ich
aufs Land hin­aus. Wenn die Tiere Steine fallen hören,
wollen sie fort. Der Tod ist bitter, aber sterben muss
man ja, jeder wird von Furcht ergriffen.
Wir haben das drahtlose Telephon im Haus. Stehlen
können wir nicht gehen, durch die Risse hört jeder,
was der andere tut und sagt. Um miteinander reden
zu können, sprechen wir oft im geheimen zusammen.
Alles hört und sieht man. Am Abend sieht man, auch
wenn ich kein Licht hätte, mit dem des Nachbars und
umgekehrt. Wer sich abends auszieht, löscht zuerst
das Licht, sonst schaut man ihm von den andern Häu­
sern zu. Es geschieht oft, dass beim Zubereiten des
Nachtessens Kalk von der Decke in die Pfannen fällt,
infolge der Erschüt­terungen, und man isst Gips.
Wenn der Wind geht, bewegen sich die Häuser, wie
jemand, der schwach ist. Und schwach sind auch unsere Häuser, sie bewe­gen sich, sie zittern. Wenn ein starker Wind tobt, gehen wir hinaus, verhüllen den Kopf
und ergeben uns in den Willen Gottes. Am Abend,
wenn es windet, sitzen wir da und warten, ob die Mauern sich bewegen, und beten zur hl. Rosalia, damit der
Wind sich lege.
Der Rauch geht von einem Haus ins andere. Wir
bringen das immer wieder in Ordnung, und doch
befinden wir uns immer auf demselben Punkt. Hier
war alles völlig eben, und jetzt kann man nicht einmal
mehr einen Stuhl aufstellen, denn es sieht aus wie in
einem Gebirge. Vor zwei Jahren habe ich alles völlig
wiederherstellen lassen, Küche, Fussboden, alles war
in Ord­nung. Aber bald fing es wieder an, hier ein Riss
und dort ein anderer, seit dem Monat März, und jetzt:
haben sie uns schon wieder einen Räumungsbefehl
geschickt. Jetzt sind wir sieben, die weggehen müssen;
jedes Jahr gehen Leute weg. Der Erd­rutsch ist gegenüber. Oberhalb ist ein Berg aus Gestein, Ilice heisst
er. Früher trat das Wasser bei Toto Battaglia aus, dort
haben sie zugemauert, aber statt dass das Wasser nun
aufs Feld hinaus floss, fliesst es ins Dorf, und so sind
wir alle zugrunde ge­richtet. Es hat nämlich keinen
eigenen Abfluss, es rieselt überall durch. Wir befinden uns unterhalb, und so fliesst das Wasser abwärts,
und es sollten Wasserabflüsse gebaut werden, bevor
das Wasser unser Quartier erreicht. Es sind etwa 240
Häuser, die durch diesen Erdrutsch bedroht sind, das
ganze Quartier Rosalia. Der Boden saugt und saugt
ununterbrochen Wasser auf, die Häuser werden baufällig. Der ganze Berg gerät all­mählich in Bewegung,
das ganze Quartier; die Leute murren, sie gehen aufs
Stadthaus, um zu protestieren, aber jeder schaut nur
für sich selbst. Der Erdrutsch geht weiter, und die Fa­
milienväter geraten in Not, um die Schäden wieder
gut zu machen.
Man geht aufs Rathaus, um zu reklamieren, dass man
unbe­dingt etwas gegen diesen Erdrutsch machen
müsse und damit man uns die Häuser wieder herstelle. - Heute, morgen, über­morgen - sie denken an uns !
Wenn die Wahlen sich nähern, sagen sie: «Ihr. müsst
heraus». «Wo sollen wir denn hingehen?» fragen die
Leute. -« Helft euch selber, unter freiem Himmel.»­Es
kommen die Ingenieure, Beamte: grausam, unerbittlich. Ist der Zustand gefahrdrohend, sagen sie: «Ihr
müsst heraus»; aber da ist keiner, der eine andere
Zuflucht für uns hätte. Und immer wiederholen sie:
«Am Montag wird man mit den Ar­beiten beginnen,
in einem Monat wird man damit anfangen.» So wie
es mit diesem Erdrutsch geht, geht es mit allen übrigen Angelegenheiten. Die Gemeinde ist arm, sie hat
nichts, nur Schulden, und jeder denkt nur an sich.
Mein Sohn arbeitet zwei, vielleicht drei Monate im
Jahr. Wir, die Ärmsten, verstehen nichts. Geht es uns
gut, so reicht es, die Zeitung zu lesen. Manchmal steht
ein wichtiger Artikel darin, manchmal etwas über ein
Unglück, oder da sind die Krämer, die etwas berichten, und im Quartier hat es einen oder zwei, die die
Zeitung kaufen, und einer sagt: «Tizia hat die Zeitung gekauft»; so gehen sie auch eine holen, und wir
kommen zu­sammen, gerade so wie jetzt, und eine liest
vor. Ich habe einen Verwandten in Palermo, er bringt
mir immer einige Neuig­keiten. Da ist jemand, der sich
mit seiner Frau streitet, jemand hat sich vom Zug gestürzt, usw.
Hier im Dorf gibt es mehr als 27 Personen, die vor
Schwäche oder Entsetzen völlig den Kopf verloren
haben. Letzte Woche am Samstag hat sich eine Frau
von der Spitze des Iliceberges hinuntergestürzt: Eine
Mauer stürzte halb zusammen, und sie klammerte
sich an einem Fenster fest. Sie erschrak furchtbar, und
infolge des ausgestandenen Schreckens verlor sie den
Verstand. In der Strasse nebenan wohnt ein Mann, der
schreit und schreit, dann ist er für ein paar Stunden
wieder normal, und dann fängt er wieder an und sagt
manchmal völlig un­verständliches Zeug. «Du musst
sterben, du musst sterben, du hast Menschenfleisch
gegessen.» Er war ein arbeitsamer Mensch. Die Familien nebenan haben von den Behörden ver­langt, ihn
zu versorgen.
Die Männer arbeiten zwei, drei Monate pro Jahr.
Wenn sie nicht arbeiten, machen sie Schulden, immer
mehr ... manch­mal gibt der Krämer nichts mehr, und
dann fangen sie an, mit Früchten zu handeln. Sie gehen aufs Land, um wildwachsende Gemüse [Fenchel,
Zichorie] zu sammeln, um sie hier zu ver­kaufen. Das
ist ein Kraut, das wild wächst, und doch geht der Gutsherr oft zum Flurwärter, da er nicht wünscht, dass die
Leute auf seinem Grund und Boden herumlaufen.
Die Schnecken werden nach „mitatellen” einem Mass,
verkauft; hier kennt man das Gewicht nicht.
Die Frauen pressen die Mandarinen aus, manchmal
über­nehmen sie auch die Arbeiten der Männer. Die
meisten dieser Frauen lassen die Verfügungen und
Verordnungen ausser acht. Oft müssen wir mitten in
der Nacht fliehen. Einer stösst einen Schrei aus, die
andern hören ihn, werden von Furcht ergriffen und
fliehen, kalkweiss im Gesicht. Die Balken treten aus
den Mauern heraus, lösen sich von ihnen, und wir
fürchten, dass jeden Augenblick ein Stück auf uns herunterfällt. Am Vor­abend des Josefstages [19. März] ist
hier ein Haus zusammen­gestürzt, drei Türen weiter.
Das Mädchen des Tana war ganz in der Nähe, sah dieses Furchtbare, sah die Mauersteine her­unterstürzen,
die Leute schrien: das Haus stürzt ein, und die Katze
entkam gerade noch, und oh - auf einmal stürzte das
Haus in sich zusammen; das Mädchen schrie.
Die Türen sperren immer mehr; wenn man sie nicht
mehr schliessen kann, ruft man den Schreiner, und auf
einmal fehlt auf einer Seite eine ganze Handbreite ...
Letzthin träumte ich: die Türe sei ganz schmal geworden, und ich musste durch das Fenster hinausgehen.
Für gewöhnlich träumen wir nicht. Wir hören das
Knistern in den Mauern, in denen sich Risse bilden. In
der Nacht brechen die Backsteine, wir machen Licht
und schauen nach, dann löschen wir das Licht wieder
und warten. So geht es zwei-, dreimal jede Nacht. Im
Winter schlafen wir wenig. Das Wasser dringt immer weiter vor, die Häuser bewe­gen sich, alles ist in
Bewegung geraten. Zuerst stehen die zu­sammen, aber
dann handelt jeder für sich selbst. Einer, der schreiben
konnte, machte für alle Eingaben, und jeder zahlte
600 Lire. Dann ging ich der Sache nach, aber niemand
wusste etwas davon, und es geschah nichts. Wir sammelten Unter­schriften und schickten sie dem Polizeipostenchef der Provinz­behörde, der Regierung. Vor
einigen Monaten kam der Ab­geordnete F. und sagte
uns, es liege hier gar kein Erdrutsch vor. Antonio und
auch andere erhielten einen Brief.
Sie geht hinaus und kehrt nach kurzer Zeit mit nachfolgendem Brief zurück, den wir textgetreu wiedergeben:
Republik Italien
Provinz Sizilien
Präsidium A.E.L.
Div. III. n. des Prot. 22589
Herrn Todaro Antonino, Sohn des verst. Franz
Alia, Savoia-Strasse
Unter Bezugnahme auf Ihr Gesuch für eine Unterstützung teilen wir Ihnen mit, dass die zuständigen
technischen Instan­zen, die in dieser Angelegenheit
befragt wurden, uns ausein­andersetzten, dass die Erdbewegungen, die sich in der Gorizia­strasse in Ihrer
Gemeinde zeigten, nicht die wesentlichen Merk­male
eines Erdrutsches aufweisen. Deshalb können die
angege­benen Schäden nicht als Folgen eines öffentlichen Notstandes betrachtet werden.
Der zuständige Beisitzer [Unterschrift]
Palermo, den 26. Oktober 1955.
85
Die Wiedergeburt, Beatrice Schlag
in: Das Magazin Nr. 39, 10 / 2000 – Zürich: Tamedia
An gewöhnlichen Tagen arbeitet Jerome Savary nirgends lieber als in den Cantieri culturali. Als er vor
drei Jahren erstmals die heruntergekommenen Palermer Fabrikhallen besichtigte, die ihm der junge Alfio
Scuderi kühn als «Kulturbaustelle» präsentierte,
verliebte sich der französische Regie­star auf Anhieb in
das zugige Gemäuer.
Aber heute ist kein gewöhnlicher Tag, sondern ein
elender. Der Scirocco bringt halb Palermo um den
Verstand. Italiens Theaterliebling Alessandro Haber
läuft schweissnass auf dem Bühnenpodest hin und
her und verheddert sich immer wieder in seinem Text.
Savary sitzt in einer stinkenden Zigarrenwolke am Regiepult und wirft erbitterte Blicke auf die Strasse hinaus. Fast vierzig Grad Heissluft bläst der Wüstenwind
noch um Mitter­nacht durch die offenen Tore der Halle herein. Vom Lärm nicht zu reden. Schon zum dritten Mal knattert ein Motorino durch Habers grossen
Monolog. Aber bei geschlossenen Toren würde man
heute ersticken.
«Pass auf, gleich gibt es Krach», flüstert Alfio Scuderi und geht auf Zehenspitzen zum Ausgang. Auf der
Strasse zündet sich der 28-jährige Produ­zent von Molieres «Der Geizige» eine Zigarette an und strahlt, als
er Savary drinnen endlich brüllen hört. «Bisher hat
er noch nicht ein einziges Mal geschrieen, und in ein
paar Tagen ist Premiere. Ich war schon sehr beunruhigt.» Eine Woche später werden die Theaterkritiker
die messerscharfe In­szenierung bejubeln und Palermo
beneiden, wo nach Weltstars wie Pina Bausch, Philipp
Glass, Pe­ter Greenaway, Karlheinz Stockhausen und
Claudio Abbado nun auch der weltberühmte Franzose arbeitet. Savary wird vor der Presse Scuderis Pro­
fessionalität und Enthusiasmus feiern und neben der
Schönheit der Stadt hauptsächlich den jungen Produzenten dafür verantwortlich machen, dass er bereits
für eine weitere Inszenierung in Palermo zugesagt
hat.
Scuderi kann jetzt ein Eis gebrauchen. Inzwi­schen
ist es ein Uhr nachts, aber an der Piazza Alberico
Gentili sind immer noch alle Plastikti­sche besetzt.
Mindestens zweihundert Leute zwischen fünfzehn
und achtzig sitzen Stuhl an Stuhl unter Palmen und
schlecken Eis. Rings um den Palmengarten stehen
hässliche Hochhäuser. Die Autos sind mehrreihig geparkt, die Vespas stehen in Rudeln. Aber es geht hier
nicht um Aus­sicht, sondern um Cremolata. Nirgends
gibt es dickere Fruchtstücke in der weichen sizilianischen Gelato Variante als bei diesem namenlosen Eis­
kiosk, der vor zwei Jahren plötzlich da stand, wo zuvor
ausser Müll nichts war. Seither ist es voll bis drei Uhr
morgens. Die Frauen tragen durch­sichtiges Leinen,
die Männer weiche Lederschuhe ohne Socken.
Gegen halb zwei parkt Elisabetta Di Stefani auf dem
Trottoir gegenüber und winkt mit rudernden Armen. «Luca hat uns für morgen Abend zur Tavola
Tonda eingeladen», ruft sie. Luca ist Leoluca Orlando, Palermos international gefeierter Bürger­meister.
Jeder, der länger als drei Minuten mit ihm geredet
hat, nennt ihn Luca. Das heisst, ein beträchtlicher
Teil der Stadtbevölkerung, denn Or­lando verbringt
auch seine Freizeit mit Vorliebe öffentlich. Elisabetta sieht den Bürgermeister vor allem bei beruflichen
Auftritten. Die Tochter einer Deutschen und eines
Sizilianers arbeitet als Dol­metscherin und gelegentlich als Stadtführerin, . wenn Orlando auswärtige
Gäste empfängt. Sie hat ihn 1995 in Brüssel in einem Restaurant kennen gelernt, wo sie nach dem
Literaturstudium als Kell­nerin jobbte. Er sagte, sie
verschwende ihr Talent, er habe zu Hause gescheitere Arbeit für sie. Ein paar Monate später kehrte sie
nach Palermo zu­rück, begeistert von seinen furiosen
Projekten. Der ehemalige Jusstudent Alfio Scuderi
erzählt eine ähnliche Geschichte. Fast alle Mitarbeiter Orlan­dos erzählen ähnliche Geschichten. Fast
alle arbei­ten sechzehn Stunden am Tag.
Zurzeit ist Elisabetta für andere Jobs gebucht. Heute war sie den ganzen Tag mit einem Foto­team des
Quelle-Versands unterwegs, das seine Frühjahrsmode für 2001 in Palermo ablichtet. Morgen kommen
zwei Teams des französischen Mode-Versandriesen
Porte Blanche. Davor be­treute sie eine deutsche
Werbeequipe, die mit Verona Feldbusch einen Spot
drehte. «Hat alles nichts mit Palermo im Besonderen zu tun», sagt Elisabetta, «die Stadt ist eine ganz
normale Loca­tion, fotogen, preisgünstig und ungefährlich.» Sie sagt das sehr lässig, dann muss sie
selber la­chen. «Nicht schlecht: Palermo eine ganz
norma­le Location.»
Jeden Monat gab es Staatsbegräbnisse
Die Stadt ist alles andere als normal. Vor einem Jahrzehnt wäre keinem Fotografen der Welt einge­fallen,
seine teuren Kameras hier aufzustellen. Am Anfang
der Neunzigerjahre war Palermo ein Sy­nonym für
Mafia und sonst nichts. Die Rate der Mafia-Morde
lag bei zweihundert pro Jahr, manch­mal waren es
auch fünfzig mehr. Daneben be­wegte sich ein Heer
von Kleinkriminellen durch die verdreckte Stadt,
die Taschen und Fotoappara­te von Passantenschultern rissen, Autos knackten und Wohnungen aufbrachen. Die Polizeisirenen heulten 24 Stunden
lang. Kaum ein Politiker oder Richter verliess sein
Büro ohne Eskorte. Vielen nutzten die Leibwächter
und die gepanzerten Dienstfahrzeuge nichts. In den
Achtzigerjahren hatte die eng mit den staatlichen
Institutionen verfilzte und daher juristisch weit
gehend unbe­helligte Mafia ihren grotesken, aber
berechenba­ren alten Ehrenkodex über Bord geworfen. Die Familie der Corleonesi war durch Drogenhandel, Schutzgelderpressung und die ihr von politi87
schen Strohmännern zugeschanzten öffentlichen Bau­
aufträge so reich und masslos geworden, dass sie einen
gnadenlosen Krieg gegen andere Familien eröffnete,
in dem auch Frauen und Kinder umge­bracht wurden eine bis dahin unvorstellbare Tabuverletzung.
Ausserdem ermordeten die Corleonesi erstmals in
der über hundertjährigen Geschichte der Mafia reihenweise unliebsame Vertreter des Staates. Kein Monat ohne Staatsbegräbnis für einen «cada­vere eccellente», eine aussergewöhnliche Leiche: Polizisten,
Richter, Politiker. Der an eine Haus­wand gesprayte
Verzweiflungsschrei «Wen Gott hereinlegen will, den
lässt er in Palermo auf die Welt kommen» wurde zum
stehenden Satz.
Wenn sie in jenen Jahren von Ausländern gefragt wurden, woher sie kämen, sagten die Paler­mer: aus Italien.
Von dieser demütigenden Selbst­verleugnung erzählt
jeder, den man nach damals fragt: Denn Sizilianer
sind Pass-Italiener. Ihre In­sel mag auf dem Papier eine
autonome Region ita­liens sein. In ihrem Bewusstsein
ist es ein anderer Kontinent, kultiviert und kosmopolitisch. Hier leb­ten Phönizier, Griechen, Araber, Normannen, Spanier und Franzosen, ehe die Insel 1861
Teil des Königreichs Italien wurde. Italien ist für die
meis­ten Sizilianer fernes, nicht besonders raffiniertes Festland geblieben, von dem überzogene Steuer­
forderungen und so gut wie nie Helfer kommen.
Aber jetzt schämten sich die Palermer bis ins Herz für
ihre von ein paar tausend Mafiosi terrori­sierte Stadt,
bei deren Namen die ganze Welt nur noch an Verbrechen dachte. Gleichzeitig wuchs ihre Resignation und
ihre Lethargie mit jedem Toten. Eine Stadt, in der die
meisten Polizisten, Richter und Politiker gekauft oder
eingeschüchtert waren und die anderen erschossen
wurden, hatte im Kampf gegen die Clans keine Chance.
Wann immer ein forscher Politiker oder Poli­zeipräfekt
ein hartes Durchgreifen gegen die Ma­fia versprach, erinnerten sie müde an Tomasi di Lampedusas «Leoparden», den 1958 erschienenen Roman über den
Niedergang einer sizilianischen Adelsfamilie. «Wenn
wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, müssen wir alles
ändern», ruft der jun­ge Adlige, als er sich der Revolution anschliesst. Genauso würde es auch weiterhin
sein. Jeder Ver­such einer Neuerung, jedes aufgeregte
Anti-Mafia ­Dekret aus Rom war den Palermern Beweis, dass alles beim Alten bleiben würde. Zu Beginn
der Neunzigerjahre hatte die Bevölkerung ihre Stadt
der Mafia überlassen. Die Strassen waren tot, die Pizzerias leer. Das Nachtleben fand vor dem Fernseher
statt.
Die Euphorie ist mit Händen zu greifen
Es gibt keine direkten Wege vom Nichts in die Normalität. Nicht einmal ein Jahrzehnt später ist Palermo
eine Stadt in einem magischen Ausnah­mezustand,
von dem keiner weiss, wie lange er an­hält. Die Stadt
hat heute ein Kulturbudget von 45 Millionen Fran88
ken, fast dreimal so viel wie Venedig, und sie gibt es
mit vollen Händen aus. Jeden Abend Kultur vom
Sorgfältigsten, Oper, Theater, Rock, Jazz, Ausstellungen, Happenings. Alles, was das Fernsehen nicht hergibt, ist die Devise, und das zu sehr erschwinglichen
Preisen. Hauptsache, die Leute kommen wieder auf
die Strasse.
Sie kommen. Fast jede Woche geht in der Stadt mit
den 750 000 Einwohnern inzwischen ein neues Restaurant, ein Pub, eine Bar auf. Und ist sofort voll.
Nicht, weil neu hip ist. Das Wort hip wird in Palermo
nicht benutzt, das dazugehörige Gefühl ist unbekannt.
Orlando hat die Rückerobe­rung Palermos durch seine
Bewohner ohne Scheu vor grossen Worten Rinascita
getauft, was man mit Renaissance oder Wiedergeburt
übersetzen kann. Er stülpt jedem Politiker, der auf Besuch weilt, eine Coppola über, jene Schirmkappe, die
einst ein Symbol des Mafioso war. Der Bürgermeister
hat sie zum neuen Symbol Palermos stilisiert. Der Mafia soll kein Terrain überlassen werden, kein Wahrzeichen. Der Rapper Jovanotti trägt die Coppola auf der
Bühne, Palermos verehrter Kardi­nal Salvatore Pappalardo auf der Strasse. Gerne nennt Orlando Männer,
die er schätzt, Uomini d‘onore, Ehrenmänner. Das
Wort heisst wieder, was es heisst. Und niemand nennt
einen aufge­weckten Buben mehr liebevoll Mafiuseddu, klei­nen Mafioso, und eine leidenschaftliche Frau
Donna mafiosa.
Die Euphorie über das Neue, Wiedergewon­nene ist
mit Händen zu greifen. Die Palermer kön­nen sich
nicht satt sehen an ihrer Stadt, die um die Jahrhundertwende als schönste Europas galt und danach
durch Bomben, Immobilienspekulation und systematische Vernachlässigung so zerstört wurde, dass ihre
Schönheit kaum mehr zu erken­nen war. Jeder restaurierte Brunnen, jedes von Dreck befreite Plätzchen
wird gefeiert und in Be­schlag genommen. Um halb
drei Uhr morgens will uns Elisabetta unbedingt noch
einen neuen Ort zeigen, wo man sich wie im Orientfühle.
So ist es. Das «Maalox» liegt unmittelbar hinter der
Palermer Moschee an der verschachtelten Piazza della
Canna. Canna heisst Rohr, bei Gele­genheit auch Joint,
und genauso duftet der kleine Platz. Er ist gerammelt
voll mit vorwiegend jungen Menschen, kaum eine
Vespa kommt durch. Vier Tischfussballpartien sind in
vollem Gang, ein paar Dutzend Leute tanzen zu Bee
Gees und Chubby Checker, wobei der Geräuschpegel
der Stimmen den der Musik souverän übertönt.
Es ist unmöglich, bis ins Lokal selber vorzu­dringen,
das angeblich nicht viel grösser als ein Handtuch ist.
Der Bier- und Mineralwasseraus­schank findet im Freien statt, für eine reichere Getränkeauswahl muss man
anderswohin. Zum Beispiel um die Ecke ins «Cafe
d‘Oriente», wo man für fast kein Geld Couscous essen und Wein oder türkischen Kaffee trinken kann.
Wer will, be­kommt eine Wasserpfeife auf den Tisch
gestellt, was für viele ein richtig guter Grund ist, von
der Piazza della Canna auf einen Sprung ins «Orien­
te» zu kommen.
Mehr als ein Klub oder eine Disco ist das «Maalox»
ein Treffpunkt derer, die nicht chic sein wollen. Man
verwechsle das nicht mit einem alter­nativen Szenetreff in der Schweiz. Wie überall in Palermo sind die
Leute auch hier mit sorgfältigs­ter Lässigkeit gekleidet, die Haare glänzen. Kein schief getretener Absatz,
keine unrasierte weib­liche Achselhöhle auf dem ganzen Platz. Man will sich lediglich von den Labelfetischisten bei­derlei Geschlechts unterscheiden, die im
Park der Villa Sperlinga im schicken «Quba» sitzen,
Belli­ni trinken und über Kleider reden. Hier reden
sie über Palermo. Oder über Fussball, aber das muss
erlaubt sein.
Die Schmerzgrenze war überschritten
Am nächsten Abend um acht wimmelt die Tavola Tonda, ein kleiner, terrassenartiger Platz im be­
scheidenen Hafenviertel, von Kindern. Zehn fünf­
köpfige Kinderdelegationen aus zehn EU-Ländern
sind angereist. Der Bürgermeister von Newcastle, der
seine Delegation begleitet, ist schon betrunken und lächelt glücklich. Bürgermeister Leoluca Orlando, eben
vom demokratischen Parteikongress in Los Angeles
zurückgekehrt, schwärmt von sei­nem amerikanischen
Leihwagen, einem weis sen Mustang, mit dem er die
ganze Küstenstrasse nach San Francisco hochgebrettert sei. Zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren wieder
am Steuer. In Italien muss er auch bei Freizeitausflügen auf den Rücksitz, rechts und links die Leibwächter. Ein al­ter Mann kommt auf ihn zu und will ihm die
Hand küssen. Orlando zieht seine Hand blitzschnell
zurück und legt sie dem Alten auf die Schulter. Die
Männer, denen man in Sizilien die Hand küsst, sind
andere.
Unter der Terrasse stehen die drei gepanzerten Alfa
Romeos für ihn und seine Eskorte. Sechs Bodyguards
warten, aufmerksam, aber sichtlich entspannt. Die
Zeiten, als sie den Bürgermeister bei jedem Schritt in
der Öffentlichkeit mit gezück­ten Waffen abdeckten,
sind vorbei.
Der Beginn der Renaissance von Palermo ist exakt datierbar: 19. Juli 1992. An diesem Tag wurde der Richter Paolo Borsellino mit seiner fünfköpfigen Eskorte
vor dem Wohnblock seiner Mutter in Palermo in die
Luft gesprengt. Die Ex­plosion war in der ganzen Stadt
zu hören. Zwei Monate zuvor war Borsellinos Kollege
und en­ger Freund Paolo Falcone, im In- und Ausland
Symbol des Kampfes gegen die Mafia, mit Frau und
Leibwächtern von der Mafia umgebracht worden.
Mit Borsellinos Tod war die Schmerzgrenze der Palermer überschritten. Am Abend des Attentats war die
halbe Stadt auf der Strasse. Die meisten versammelten sich vor dem Palazzo delle Aquile, dem Sitz der
Stadtregierung. Aber es erwartete sie niemand. Der
Bürgermeister wollte nichts hören und hatte nichts zu
sagen. Die Palermer haben den Anblick des geschlos-
senen Tores nie verges­sen. Ihre Demonstrationen gingen so lange weiter, bis die Stadtregierung geschlossen
zurücktrat. 1993, als nach einer Gesetzesänderung der
Bür­germeister erstmals direkt vom Volk gewählt wurde, erhielt der engagierte Mafiagegner Leoluca Orlando 75 Prozent der Stimmen.
Kulturelle Prävention
Orlando setzte eine beeindruckende Repressions­
maschine zur Verfolgung der Mafia in Gang. Erst­mals
gab es reuige Mafiosi, die Namen von Kom­plizen
nannten. Toto Riina, legendärer Boss der Bosse, Chef
der Corleonesi, wurde verhaftet, ein unglaublicher
Gesichtsverlust für die streng hierarchisch organisierte Mafia. Gleichzeitig begann Orlando ein kühnes Experiment, das er Kultur der Legalität nennt:
die Bekämpfung des organi­sierten Verbrechens nicht
nur durch Polizei und Justiz, sondern durch kulturelle
Prävention. Kul­tur sollte den Palermern den Bürgersinn und das Gemeinschaftsgefühl wieder bringen,
die ihnen die Mafia und eine korrupte Politikerklasse
ausge­trieben hatte.
Der Mann, den er bestimmte, das Konzept in die Tat
umzusetzen, ist ein Glücksfall für Palermo. Francesco
Giambrone, der bis zu seiner Ernennung zum Kulturassessor als Kardiologe gearbeitet und in seiner
Freizeit viel beachtete Musik- und Ballettkritiken geschrieben hatte, ist neben Orlando die zweite Schlüsselfigur des Palermer Kul­turschocks. Gleich mit seiner
ersten Amtshand­lung gewann Giambrone die halbe
Stadt für sich:
Er liess den bis anhin düsteren historischen Stadt­kern
mit warmen, hellen Laternen beleuchten. «Es war das
Ei des Kolumbus», sagt Giambrone, «die Leute entdeckten plötzlich, dass die Strassen eigentlich ihnen
gehören.»
Entrümpeln, säubern, einweihen
Kaum war die Stadt abends hell, trat der grauhaa­rige
Mann mit dem milden Gesicht eine Kultur­lawine los.
«Es war ein Wahnsinn, was wir in den ersten Jahren
machten», sagt er vergnügt mit sei­ner sanften Stimme, «es war viel, zu viel. Wir wussten auch, dass es zu
viel war. Aber wir mussten Samen streuen und hoffen,
dass einige davon Wurzeln schlagen. Würden unsere
Initia­tiven greifen oder weggefegt werden? Wir wussten es nicht.»
Die bemerkenswerteste Formel der rasanten städtischen Kulturpolitik hiess entrümpeln, säu­bern,
einweihen. Es war keine Zeit da, alte Ge­bäude in
langen Renovationsarbeiten wiederher­zustellen. Die
Palermer mussten schnell erleben, was ihre Stadt an
Schönheit zu bieten hatte, wenn das Experiment gelingen sollte. Lieber eine sofort benutzbare Ruineals
ein Baugerüst.
Die Cantieri culturali etwa, ein Areal von 55000
Quadratmetern, wurden von der Stadt auf Giambrones Drängen zum Kulturgelände erklärt, ohne dass
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irgendein Projekt bestand. «Wir hatten nur eine
Idee, sonst nichts. Ex-Häftlinge räumten das Areal
auf, dann machten wir in einer der kleinen Hallen
sofort eine Ausstellung.» Inzwischen sind die Cantieri durch Theaterinszenierungen und Ausstellungen
lokal und international so bekannt, dass der ursprünglich an ihrer Stelle geplante Parkplatz politisch nicht
mehr durchsetzbar ist.
Ein Symbol für die Plünderung
Ebenso durchschlagende Erfolge waren Piazza Marina und Piazza Magione, beide im ehemals gefürchteten Kalsaquartier gelegen, das man vor ein paar Jahren
noch «Palermo Kaliber 9» nann­te. Piazza Marina
mit dem angrenzenden kleinen Park war Rotlichtbezirk, Piazza Magione ein trost­los kahler Platz mit einer dachlosen, von Abfällen übersäten Kirchenruine
namens Santa Maria dello Spasimo in der Mitte.
Als Alfio Scuderi, damals noch beim Kulturassessorat
angestellt, 1994 für ein Marionettenthea­ter Spots im
Park von Piazza Marina installierte, protestierten bei
der ersten Lichtprobe noch aufge­schreckte Freier und
Prostituierte aus den Bü­schen. Heute ist die Piazza ein
so selbstverständ­licher Treffpunkt, als sei es Jahrzehnte her, dass hier nur Drogen und Sex im Angebot waren. Ein Restaurant neben dem anderen machte auf.
Tische sind trotzdem knapp. Wer sicher einen Platz
will, muss inzwischen Tage vorher reservieren.
Drei Gehminuten weiter östlich haben ebenfalls ExHäftlinge 1500 Lastwagen Schutt aus der nie fertig
gestellten Kirche von Piazza Magione ge­räumt, die
heute nur noch «Lo Spasimo» heisst, die Pein. Dann
erst wurde deutlich, wie riesig das gotische Bauwerk
war. Aber das früher als Lazarett und Sterbehospiz
benutzte Spasimo, aus dessen Kirchenschiff die Bäume in den Himmel wachsen, ist nicht nur in sich ein
Juwel. Es öffnete ein ganzes Viertel.
«Als wir ins Spasimo kamen und ein Spektakel nach
dem anderen veranstalteten», sagt Alfio Scu­deri,
«begann sich die Kalsa zu verändern. Plötz­lich waren
die ersten Strassenverkäufer da, dann gabs Getränke,
dann selbst ernannte Parkwächter. Und mit jedem,
der sich Arbeit schuf, zogen sich Diebe und Drogenhändler weiter zurück. Es gab eine Quartierkontrolle,
weil die, die jetzt plötzlich Arbeit hatten, sich das Geschäft nicht kaputtma­chen lassen wollten.»
Giambrones glücklichster Moment als Kultur­assessor
war die Eröffnung des Teatro Massimo vor drei Jahren.
Es war das Ende eines 24-jährigen Skandals. So lange
war das nach Paris und Wien drittgrösste Opernhaus
der Welt geschlossen ge­wesen. Der Anblick der verriegelten Oper mitten in der Stadt, sagt Giambrone,
sei für die Paler­mer wie eine Wunde gewesen, ein
Symbol für die Plünderung, Vernachlässigung und
Zerstö­rung ihrer Stadt. Achtzig Millionen Franken
hatten verschiedene Baufirmen in den 24 Jahren für
Renovationen kas­siert, die nie durchgeführt wurden.
Als das Teatro Massimo 1997 mit Verdis «Nabuc90
co» wieder er­öffnet wurde, war erst ein kleiner Teil
der Reno­vationsarbeiten abgeschlossen. Seit 1999 ist
Fran­cesco Giambrone Intendant des Massimo. Als Erstes halbierte er die Preise für das junge Publi­kum und
erklärte sämtliche Kleidungsvorschriften für aufgehoben. Die Oper ist täglich ausverkauft, und die Turnschuhe, Piercings und Tattoos im Foyer nehmen zu.
Die Arbeitslosigkeit ist kaum gesunken
Nur in Ausnahmefällen rückt das Teatro Massimo
heute aus künstlerisch leichtgewichtigen Gründen ins
Scheinwerferlicht. Anfang September wurde der imposante Treppenaufgang zum Laufsteg für eine Modeschau umdekoriert, bei der neben inter­nationalen
auch lokale Modemacher ihre Kollek­tionen zeigten.
Palermos geltungsfreudige Mittel­schicht riss sich um
Eintrittskarten, denn die Show wurde fürs Fernsehen
aufgezeichnet. Bür­germeister Orlando, der sich für
neue Modetrends nicht annähernd so interessiert wie
für alte Autos, sass die Veranstaltung im Namen einheimischen Modeschaffens ab.
Der Applaus für ihn war höflich, nicht begeis­tert.
Trotz des aufregenden Kulturlebens sind vie­le Palermer heute von ihrem Bürgermeister ent­täuscht. Nun
hatten sie einmal ihre tiefe Resigna­tion überwunden
und alle Hoffnungen auf ihn gesetzt, und was hat er
in acht Jahren zu Stande gebracht? Kultur schön und
gut, aber wo sind die Parkplätze? Hat er das Problem
der chaotisch ver­stopften Strassen gelöst? Die Arbeitslosigkeit ist kaum gesunken, das alte Stadtzentrum
nicht ein­mal ansatzweise renoviert. In Vierteln wie
Alber­gheria oder Ballan vom Teatro Massimo zu Fuss
keine zehn Minuten entfernt, sieht es an manchen Ecken aus, als sei nach den Bomben, die die Al­liierten
1943 abwarfen, die Zeit stehen geblie­ben und nur der
Müll weitergewachsen. «Die Pa­lermer erwarteten
keinen Veränderer», sagt Alfio Scuderi, «sie erwarteten einen Messias. Und weil Orlando nicht Messias
ist, werden sie bei den nächsten Wahlen für Berlusconi stimmen. Der ist zwar kein Messias, aber immerhin
ein Krösus.»
An der kleinen Piazza Garraffello, mitten im VucciriaViertel, hat ein unbekannter Künstler im August eine
fast vier Meter hohe Sperrholzkom­mode aufgebaut.
Die Schubladen stehen für Wün­sche. Heimliche
Wünsche heissen auf Italienisch Schubladenträume.
Der Kommode fehlen zwei Schubladen.
In der Vucciria, deren Markt noch vor 30 Jah­ren als
schönster Sukh Europas galt, sind die Häuser inzwischen in so desolatem Zustand, dass sich die Bewohner bekreuzigen, wenn es zu reg­nen anfängt. Wer
es sich leisten konnte, ist aus dem Altstadtviertel
weggezogen. Nachgekommen sind nordafrikanische
Immigranten und Zigeu­ner. «Machen Sie sich um
Ihre Handtasche keine Sorgen», sagt Mimmo, der
Lebensmittelhändler, als ein Grüppchen Zigeunerkinder um die Ecke biegt, «die stehlen hier nicht. Die
wissen, dass wir aufpassen.»
In der Anfang September veröffentlichten Kri­
minalitätsstatistik Italiens liegt Palermo unter den
grösseren Städten auf Platz elf, überrundet nicht nur
von Rom und Neapel, sondern auch mehrere Plätze
hinter Rimini und Bologna. 1999 wurden in Palermo
elf Morde verübt - nach Meinung der Polizei nicht ein
einziger von der Mafia.
Dass Palermo nicht mehr gefährlicher ist als Manhattan, hat sich herumgesprochen. Natürlich gibt es nach
wie vor Viertel wie das trostlose ZEN (Zona Espansione Nord), in die man besser nicht ohne Begleitung
geht. Aber man bummelt ja auch nicht allein durch
die Bronx. Die Zahlen ausländi­scher Palermobesucher haben sich seit 1993 mehr als verdoppelt. Dieses
Jahr kommen vermutlich mehr als eine Viertelmillion
die Wiedergeburt von Palermo zu bestaunen.
Noch immer zahlen alle Schutzgelder
Und die Mafia? «Wir wissen ganz einfach nicht, was
die Mafia tut», sagt Giuseppe Ayala, ehema­liger Kollege von Falcone und Borsellino im Rich­terpool von
Palermo, heute Senator für die Links­demokraten in
Rom. «Sie haben erkannt, dass die Ermordung der
beiden Richter ein Riesenfehler war. Seither schiessen
sie kaum noch, weder auf­einander noch auf uns. Vermutlich organisieren sie sich neu, vermutlich arbeiten
sie noch inter­nationaler als früher. Aber wer, wie und
wo, ist uns unbekannt.»
Mit dem Euro als idealem Mittel zur Geldwä­sche ist
die Abhängigkeit der Mafia von Helfern in ihrem eigenen Territorium noch kleiner ge­worden. Aber die
Hoffnung, dass eine globalisier­te Mafia den Standort
Sizilien aufgeben wird, hegt niemand. Tatsache ist,
dass ihre Platzhalter in Pa­lermo weiterhin klar ihre
Präsenz markieren. Praktisch alle Geschäftsinhaber
der Stadt zahlen nach wie vor Schutzgelder. Den Aufrufen Orlan­dos zur Anzeige der Erpresser folgte bisher kaum jemand, und das mit gutem Grund. Keine
noch so willige Polizei kann Hunderte von Geschäften und ihre Inhaber rund um die Uhr vor allfälligen
Vergeltungsschlägen schützen.
Der Bürgermeister glaubt, dass die Mafia sich auch
in anderer Form bald wieder in Palermo be­merkbar
machen wird. «Warum soll die Mafiosi mit vier
Zahnlosen in einem Bergkaff sitzen, wenn sie hier ins
Konzert gehen kann?», sagt Leo­luca Orlando, «die
Mafia ist immer da, wo die Leute sind. Die Frage ist,
was passiert, wenn die Mafia ihr Geld in unsere neuen
Lokale, Theater und Bars investieren will. Reicht unsere Kultur dagegen aus?»
Am 31. Januar 2001 läuft Leoluca Orlandos zweite
Amtszeit als Bürgermeister ab. Er kann nicht wieder
gewählt werden. Danach würde er gerne sizilianischer
Ministerpräsident werden, um das Projekt Wiedergeburt auf die ganze Insel auszudehnen. Seine Chancen
sind gering.
91
Zum Thema Essen, Roberto Alajmo
Palermo sehen und sterben / Roberto Alajmo; aus dem Italienischen
von Karin Krieger – München: Carl Hanser Verlag, 2007
Alles bisher Gesagte wurde in der Überzeugung gesagt, dass zur Landschaft einer Stadt Liebe und Tod,
Blicke und Gesichter gehören. Doch bevor man sich
ihrer bau­lichen Struktur und den eigentlichen Monumenten zu­wendet, gehört zur Landschaft einer
Stadt vieles andere dazu, zum Beispiel Gerüche und
Geschmacksempfin­dungen. Natürlich kann man
Museen besuchen. Man kann auch Kirchen besichtigen. Aber um dir einen Ein­druck von der Stadt zu
verschaffen, musst du auf einen Markt gehen oder wenigstens in eine Imbissbude.
Diese Regel gilt für jede Stadt der Welt, doch hier um
so mehr, weil die Stadt einen Hang dazu hat, sich besonders aromatisch und schmackhaft zu präsentieren.
Sie kehrt diese Seite gern öffentlich heraus. Es gibt
jedoch Düfte und Speisen, die dir unbekannt bleiben
werden, zumin­dest, wenn es dir nicht gelingt, ins Herz
einer Familie vorzudringen, also in das einer Familienmutter, die dich zum Essen einlädt. So eine Einladung
ist unbezahlbar. Du kannst nur in einem Privathaushalt die fritierten winzi­gen Fische verspeisen, die in
den Restaurants nicht an­geboten werden oder zumindest nicht angeboten werden sollten, weil das Fangen
junger Fische verboten ist. Nur so kannst du auch
die Speise kennen lernen, die nach In­halt und Form
das Kultgericht der häuslichen Gastrono­mie ist, den
brociolone. Es hat keinen Sinn, in den Koch­büchern
nach seinem Rezept zu suchen, du wirst es dort nicht
finden. Grob gesagt, handelt es sich um einen Bra­ten,
doch eine konkrete Kochanleitung existiert nicht, weil
jede Hausfrau ihn nach eigenem Gutdünken und mit
den Zutaten zubereitet, die sie gerade zur Hand hat.
Er kann aus einem Stück Fleisch bestehen oder aus ei­
nem Klumpen Hackfleisch, je nachdem. Die Füllung
enthält einige feststehende Zutaten, die von Familie
zu Familie aber variieren, und weitere veränderliche
Grö­ssen auf der Basis dessen, was von den vorangegangenen Tagen in der Küche übrig ist: hartgekochte
Eier, Käse, Schinken und so weiter. Auch die Beilagen
wechseln je­desmal. Die Hauptvarianten sind Erbsen,
Kartoffeln oder Tomatensosse. Andere Privatgerichte
sind neben dem brociolone Pasta mit sautierten Brokkoli, Pasta mit Sar­dellen, Pasta mit Anchovis und
Semmelmehl, Thun­fischragout und gebackene Saubohnen, die nur selten im Restaurant zu finden sind.
Es gibt auch eine breite Palette öffentlicher
Geschmacks­proben, und an jeder lässt sich ein typischer Wesenszug der Stadt erkennen. Geh hinaus, und
sei es auch nur, um einen Kaffee zu trinken. Womöglich genügt das ja, um den Bann zu brechen, der dich
zurückhält. Du weisst, dass der Kaffee in Süditalien
eine grosse gemeinschaftsstif­tende Bedeutung hat. Er
gehört zu einer hochwichtigen Geschmacksrubrik. Es
gibt hier einen wahren Kaffeekult, der sich jedoch wesentlich von dem neapolitanischen unterscheidet. In
Neapel ist das Kaffeetrinken eine fröh­lich nach aussen
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gelebte Zeremonie, in unserer Stadt äh­nelt es einer
rituellen Bussübung. Hier trinkt man Kaffee, weil
es sein muss, und selbst wenn das eine Arbeitspause
ist, handelt es sich doch um eine notwendige Pause.
Wir sagen: Ich muss einen Kaffee trinken. Dieser Satz
verdeut­licht den Zwang, dem man unterliegt. Der
Kaffee kann mit der unentbehrlichen Dosis für einen
Drogensüch­tigen verglichen werden. Diese Unterschiede sind be­zeichnend und helfen, die Ungleichheit
zweier Städte zu verstehen, die oft und zu Unrecht in
einen Topf gewor­fen werden. Denn so, wie sich Neapel nach aussen wen­det, so wendet sich unsere Stadt
nach innen. Nehmen wir ein Beispiel: In den Kirchen
der Stadt beten alle ­beziehungsweise überwiegend die
Frauen, weil die Män­ner nur sonntags in die Kirche
gehen - in einer kauern­den Haltung, die schon für
sich ein Akt der Busse ist. In Neapel dagegen verharren Männer und Frauen würde­voll kniend oder auch
stehend vor den Heiligenstatuen, mit weit geöffneten
Armen und nach oben gerichteten Handflächen, so
dass sie möglichst mit der gesamten Körperfläche eine
Antenne für den besseren Empfang der göttlichen
Gnade bilden.
Doch zurück zu deinem Besuch in der Kaffeebar: Du
musst wissen, dass der Kaffee in der Stadt als Konzentrat ausge­schenkt wird. Die Menge in der Tasse darf
einen Finger­breit nicht übersteigen, und noch besser
ist es, wenn es sich dabei um den kleinen Finger handelt. Wenn der Gast keine näheren Angaben macht und oft selbst dann, wenn er nähere Angaben macht -,
erscheint ein hochdosierter Adrenalinextrakt auf dem
Tresen. Die ka­nonische Konzentriertheit schliesst
nicht aus, dass der Gast nicht auch seinen persönlichen Wünschen freien Lauf lassen darf. Der Kaffee
kann nämlich folgenderma­ssen serviert werden: noch
stärker (!), gestreckt, heiss, kalt, kalt mit granuliertem
Eis, kalt ohne Zucker, mit Alko­hol, mit wenig Milch,
mit wenig heisser Milch, mit wenig kalter Milch, mit
wenig Milch extra, ohne Koffein, mit Süssstoff, mit
Rohrzucker, als Cappuccino, als Cappuc­cino mit
Kaffee extra, als heisser Milchkaffee, als kalter Milchkaffee, in einer grossen Tasse, in einer Plastiktasse, in
der Flasche zum Mitnehmen und mit Zucker, in der
Flasche zum Mitnehmen ohne Zucker und ad libitum
in vielen anderen Varianten. Wie schon Enzensberger
sagte, steht dieser offensichtlichen, übrigens typisch
italieni­schen Wunschfreiheit eine grundlegende
Vereinheitli­chung des Geschmacks gegenüber. Der
Barmann wird nämlich unabhängig von der Bestellung in jedem Fall das servieren, was ihm in bezug
auf Temperatur, Menge und Geschmack am meisten
zusagt.
Jeder Einwohner der Stadt hat seinen Lieblingskaffee
und ein Lokal, wo er ihm genau so zubereitet wird, wie
er, und nur er, ihn mag. Dieser Anspruch auf Originalität hat eine sehr breitgefächerte Phänomenologie.
Ein Kennzei­chen ist, beispielsweise, der Anspruch,
den Namen von Dingen und Orten zu ändern und sie
so dem eigenen Ge­schmack anzupassen. Wir haben
das bereits bei Santa Maria dei Naufragati gesehen,
wo aus den Schiffbrüchi­gen kurzerhand Ertrunkene
werden. Ein weiteres Beispiel:
Da der Name Sant‘Agostino für die schöne Kirche
im Stadtviertel Capo als nicht angemessen erachtet
wird, wurde sie nach dem Gutdünken der Anwohner in Santa Rita umbenannt. Dieser Hang zu einer
privaten Namens­gebung lässt sich an etlichen Orts
bezeichnungen der Stadt ablesen. Die gemeinhin Politeama genannte Piazza besteht eigentlich aus zwei
verkannten benachbarten Plätzen, der Piazza Castelnuovo und der Piazza Ruggiero Settimo. Die Piazza
Mordini wird zur Piazza Croci. Die Piazza Verdi ist
für alle die Piazza Massimo. Die Piazza Giulio Cesare
ist La Stazione, ohne Piazza. Und aus der Piazza Vittorio Veneto wurde schlichtweg La Statua, die Statue.
Daraus ergeben sich Dialoge, die für einen Fremd­ling
surrealistisch anmuten können:
„Wo wohnst du?« „An der Statue.« Wo man die Siegesstatue übrigens fast nicht sieht, da sie weit oben auf
einem Obelisk prangt. Doch wenn die Ein­wohner der
Stadt den Dingen neue Namen geben, so ist das für
sie, als passten sie sie ihrem Geschmack an und bestätigten so die eigene Persönlichkeit. Unbeschadet der
Tatsache, dass die Dinge stets so bleiben, wie sie im­
mer schon waren. Genau wie der Kaffee.
Normalerweise wird der Kaffee in extrem heissen
Tassen serviert. Um sicherzugehen, dass sich der
Gast auch wirk­lich die Lippen verbrennt, lässt man
die Tasse auf der Ma­schine stehen, bis sie glüht. Erst
nach mehreren Stunden gilt die Tasse als einsatzfähig.
Hat der Gast den ersten Schock überwunden, kann er
darum bitten, dass seine Tasse ausgetauscht wird, und
der Barmann kann dem nachkommen oder nicht, und
zwar gern oder nicht. Falls er es tut, wird er die neue
Tasse allerdings mit nicht nach­lassender Arroganz unter fliessendes Wasser halten, als wollte er sagen: Was
muss man hier nicht alles tun und erleben! Selbstverständlich wird der Gast von diesem Augenblick an
nicht länger Gegenstand seiner Wert­schätzung sein.
Auch deshalb, also um es sich mit dem Barkeeper nicht
zu verscherzen, protestiert der Gast in der Regel nicht
und gibt sich mit der glühendheissen Tasse zufrieden.
Deshalb und weil die glühendheisse Tasse eine Metapher für einen gewissen Sadomasochismus ist, der die
Bewoh­ner der Stadt in ihren zwischenmenschlichen
Beziehun­gen und in ihren Beziehungen zum Rest der
Welt kenn­zeichnet.
Eine weitere Geschmacksrubrik sind die stigghiola.
Unter stigghiola (in der unveränderlichen weiblichen
Plural­form) versteht man die Gedärme von Lamm
oder Kalb, notdürftig entleert und dann gefüllt. Erlesener ist die Ziegenvariation. Stigghiola werden an
Verkaufsständen an strategisch günstigen Orten der
Stadt angeboten, im­mer auf der Strasse und unter
zweifelhaften hygienischen Bedingungen. Übrigens
legen die Kenner grösseren Wert auf den Geschmack
der Ware als auf einwandfreie Hy­giene, die manch einer im konkreten Fall geradezu für kontraproduktiv
hält. Leuten, die glauben, auf diesem Gebiet für einen
bestimmten Händler die Hand ins Feuer legen zu können, sollte man lieber misstrauen. Die ein­schlägigen
Stände erkennt man an ihrer Duftwolke und an der
kleinen Ansammlung von Müssiggängern, die sie umgeben. Wer kein Stammkunde ist, tut gut daran, sich
durch jemand anders auszuweisen oder unabhängige Empfehlungen mitzubringen, wenn ihm an einer
gesun­den Verdauung liegt:
»Zu‘ Tale schickt mich«, und so weiter. Dabei ist es
nicht nötig, dass Zu‘ Tale von der Verwendung seines
Namens weiss. Es ist nicht einmal nötig, dass zu Tale
wirklich existiert.
Die stigghiola sind die Krönung einer on-the-roadGastro­nomie, zu der auch musso, quarume und frittola gehören. Musso und quarume sind gekochte Ohren, Mäuler und Gekröse vom Kalb. Frittola wird in
einem ausgeschlage­nen Korb aufbewahrt und mit einem Tuch abgedeckt, damit sich die Temperatur hält.
Bei Bedarf greift der Händler in den Behälter und
zieht eine Handvoll glit­schiger Fundstücke heraus,
die er auf einem Stück But­terbrotpapier serviert. Was
genau diese Fundstücke sind, wird man kaum erfahren, und das Tuch trägt ebenfalls nicht dazu bei, ihr
Geheimnis zu lüften. Die Theorie sagt, es handele sich
hierbei um Knorpel vom Rind und vom Schwein, die
erst gekocht, dann gebraten und mit Safran bestäubt
werden.
Die Verkaufsstände, die solche Nahrungsmittel anbie­
ten, sind nicht nur das, was sie zu sein scheinen. Sie
sind auch Prüfstände. Die Bewohner der Stadt führen
dich dorthin, um deinen Magen und deinen Mut auf
die Probe zu stellen. Die angebotene frittola ist vergleichbar mit der Tour der Ermordeten, die man den
Besuchern zumutet, um ihr Durchhaltevermögen zu
testen. Die Absicht hin­ter diesem Vorschlag ist in
beiden Fällen die gleiche, und auch das Schaudern,
das man dadurch meist hervorruft. Es lässt sich nicht
mit Gewissheit sagen, warum ein ansonsten so gastfreundliches Volk seine Gäste einer sol­chen Behandlung unterzieht. Fest steht nur, dass die Be­wohner
der Stadt aus diesen sadistischen Manövern eine Art
schmerzhaftes Vergnügen ziehen.
Verglichen mit stigghiola, musso und frittola, ist das
Fla­denbrot mit Milz schon eine höherentwickelte
Nah­rungsspezies, das Bindeglied, das zu Brot und
panella führt. Die Milz wird in den Imbissbuden in
Schmalz ge­backen und in einem grossen Topf warm
gehalten, der in Wahrheit vor allem Lungenstücke
enthält. Die Fladen­brote mit Milz unterteilen sich
in pur und gemischt, wo­bei letztere mit geriebenem
Käse und Ricotta versetzt sind. Neu ist die Zugabe
von Zitrone, wenn man es wünscht. Um besser bedient zu werden, ist es gerade in diesem Fall ratsam,
den Verkäufer zu kennen oder sich von ihm erkennen
zu lassen, damit er die mutmasslich köstlicheren und
weniger knorpligen Stücke aus dem Topf herausfischt.
Ein anthropologisch interessantes Schauspiel findet
in den frühen Morgenstunden immer am Imbissstand
von Porta Carbone statt, wo sich ein kleiner Autostau,
vor allem aus Lastwagen, bildet. Das Ritual verlangt,
dass der Lasterfahrer vor seiner täglichen Tour ein
Brot mit Milz verzehrt. Angesichts der frühen Stunde
ist das eine Mutprobe, die zwischen Unglücksab­wehr
und Männlichkeitswahn schwankt.
93
Was die panelle, also Fladen aus Kirchererbsenmehl,
angeht, lässt sich ein ähnliches Phänomen beobachten wie schon bei der glühendheissen Kaffeetasse.
Zuvorkom­mend bäckt der Verkäufer die panelle sozusagen ad perso­nam, was zur Folge hat, dass der Fladen über einen Zeit­raum von etwa fünfzehn Minuten
nicht an die Lippen geführt werden kann. Falls dir das
auch passiert, solltest du dich über diese Tortur freuen,
wäre die Alternative doch ein Fladenbrot aus kalten,
schon vorgefertigten panelle, die normalerweise nur
für die Auslage verwendet werden. Eine solche Bewirtung gilt als respektlos und bleibt lediglich naiven
Touristen und gesellschaftlichen Parias vorbehalten.
In so einer Imbissstube gibt es noch andere Spezialitäten: cazille - oder in der männlichen Form: cazzilli
- (Kartof­felkroketten), ausserdem quaglie (gebackene
Aubergi­nenscheiben), broccoli e carciofi in pastella
(Brokkoli und Artischocken im Teigmantel), sarde a
beccafico (gefüllte Sardinen) und arancine (gefüllte,
fritierte Reisbällchen), die in der Stadt in der weiblichen Form vorkommen. Die männliche Variante,
arancini, gilt als provinziell und so­mit als nicht vorhanden. Um die besten arancine zu ge­niessen, muss
man die Altstadt verlassen und ein Lokal besuchen,
das vor einigen Jahren wegen mangelhafter hygienischer Bedingungen vorübergehend geschlossen wurde. Das provozierte einen kleinen Skandal, in dessen
Verlauf sich die Einwohnerschaft, von neidischen
Konkurrenten einmal abgesehen, geschlossen hinter
den Be­treiber stellte. Die vorherrschende Meinung
war, dass, falls die Küche wirklich schmutzig gewesen
sei, die gras­cia, also der Dreck, folglich zu den Zutaten der arancina gehöre. Wer sich entschliesse, eine
zu essen, sei sich des­sen bewusst. Man könne es ja so
halten wie mit den Zi­garetten und auf die Papierserviette oder auf die Ver­packung schreiben: Fügt Ihrer
Gesundheit erheblichen Scha­den zu.
Zu dieser Familie der soft-core-Nahrungsmittel- soft
al­lerdings nur im Vergleich mit solchen hard-coreSpeisen wie etwa den stigghiola gehören zwei Untergruppen: der sfincione, eine Art Pizza mit Zwiebeln,
Caciocavallo-Käse und Anchovis, die in Bäckereien
und von fliegenden Händlern verkauft wird und für
die die gleichen hygieni­schen Merkmale gelten wie für
die arancine und ferner Mollusken, Seeigel, Schnecken und Kraken, in frugaler Form in speziellen Imbissbuden zu erhalten, die sich in den letzten Jahren mit
einem Hang zum Überdimensio­nalen zu regelrechten
Trattorien entwickelt haben. Vor­sicht vor Kraken, die
auf grossen Tellern serviert, vor dei­nen Augen kleingeschnitten und nur mit Zitrone ge­würzt werden. Sie
sind steinhart und voller Knorpel. Die Bewohner der
Stadt mögen sie so, weil jede Weichheit für weibisch
gehalten wird. Leiden heisst die Devise, auch wenn
man Tafelfreuden geniesst.
Neben den virilistisch-gastronomischen Angebereien
gibt es in der Stadt auch ein Nahrungsmittel, das mehr
als jedes andere stets hervorragend zubereitet wird.
Es ist das genaue Gegenteil der bisher beschriebenen
opulen­ten Gerichte: das Brot. Vielleicht liegt es am
Wasser oder am Salz oder an sonstwas. Vielleicht auch
an der grascia. Fest steht jedenfalls, dass das Brot der
Stadt das beste Brot überhaupt ist. Solltest du immer
noch nicht ausgehen wollen, versuch, dir ein Brötchen
aufs Zimmer bringen zu lassen. Nur eines. Frag, ob es
möglich ist, eines aus Vollkorn zu bekommen, das mit
Sesamkörnern bestreut ist. Man wird sich erkundigen:
„Weiter nichts?«
Und du verneinst. Begnüg dich damit und hab Ver­
trauen. Sag, dass du einfach Lust darauf hast. Ein
Bröt­chen ist genug. Das Brot der Stadt ist übrigens
ein Brot für Arme, dazu gedacht, ohne etwas dazu
gegessen zu werden. Ein Aufstrich ist überflüssig. Daher fällt es schwer, im Restaurant auf die Bedienung
zu warten und dabei der Versuchung zu widerstehen,
sich den Bauch mit Brot vollzuschlagen.
Bleiben noch die Süssspeisen, und für die ist die Stadt
berühmt. Das Symbol dieses Ruhms ist die cassata.
Doch in ihrem Triumph aus Triglyceriden und pompösen Farb­zusammenstellungen verkörpert die cassata nur das, was die Bewohner der Stadt von sich zeigen
wollen. Ein Pen­dant zu dem traditionellen Karren,
der ganz aus Zierat und Federbüschen besteht. Angesichts der fröhlichen Extrovertiertheit der klassischen
cassata verdient allen­falls die fast einfarbige Schlichtheit der cassata al forno noch Erwähnung, deren Mürbeteighülle sich darauf be­schränkt, als Schatzkästchen
für die kostbare Ricotta zu dienen. Falls es überhaupt
möglich ist, einen gemeinsa­men Charakter der Stadtbewohner auszumachen, liegt er ohne jeden Zweifel
in der Innerlichkeit der cassata al forno und nicht in
der Äusserlichkeit der traditionellen cassata, dieses
Zuckerwerks, das nur Fassade ist. Im Alltag ist die
cassata eine ungebräuchliche Süssspeise, die man inzwischen fast nur noch kauft, um sie zu verschenken,
um einer Pflicht zu genügen, um die Rechnung eines
Freiberuflers in Naturalien zu bezahlen. Das gleiche
gilt für den buccellato, eine herbe Variante des Strudels. Man verschenkt ihn zu Weihnachten, isst einen
winzigen Happen davon und wirft den Rest noch vor
dem Dreikö­nigsfest weg. Das ist so, weil die Konditorkunst der Insel, die beinahe vollständig arabischer
Herkunft ist, höchst kalorienreich ist. Sie genügt der
Anforderung, den höch­sten Nährwert auf die kleinstmögliche Menge zu kon­zentrieren, und könnte dadurch gut und gern als Ver­suchsreihe für die Ernährung von Astronauten gelten. Ein Stück cassata ist so
gehaltvoll wie eine ganze Mahl­zeit. Das trifft auch für
die cannoli und andere Spezialitä­ten zu, die, im Kalender nach Jahreszeiten und Festtagen gestaffelt, alle
zusammen eine lange Reihe gutsortierter Süssigkeiten
ergeben: gelo di melone; biancomangiare; Marzipanfrüchte; Marzipanschäfchen; kubbaita; pe trafen­nula;
kandierte Kastanien; kandierte Äpfel; Zuckerpüpp­
chen; mustazzola cuccia; minne di vergine patata;
sfinci di San Giuseppe; chiavi di San Pietro; cuori di
Gesu; teste di turco sammartinelli und schliesslich die
neueste phan­tasmagorische Erfindung eines Konditors aus der Via Colonna Rotta: die torta Setteveli,
eine Schokoladen­torte, dazu bestimmt, jede Zeit und
jeden Geschmack zu überdauern.
Durch die Forderung des modernen Lebens nach
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leichter Kost wird das Aussterben oder die museale
Bewahrung dieser süssen Spezialitäten absehbar. Ein
Schicksal, das den trionfo di gola, eine pistaziengrüne
Kalorienbombe, gegen die sich die cassata wie Diabetikerkost ausnimmt, vor gar nicht langer Zeit bereits
ereilte. Zuletzt zubereitet wurde er von den Nonnen
des Convento delle Vergini hinter dem Teatro Biondo,
und zwar ausschliesslich auf Bestellung. Ein einheimisches Gerücht behauptete, die für die Ricotta verwendete Milch stamme von den Schwe­stern persönlich.
Vom trionfo di gola ist bislang noch die gehaltvolle
Schwere und die aufwendige Verarbeitung überliefert,
doch in wenigen Jahren wird auch diese Er­innerung
verschwunden sein.
Im Panorama der Süssigkeiten verdienen die Eissortenein Kapitel für sich. Empfehlenswert unter den
Eiscafes, die im Sommer Tische im Freien aufstellen,
ist ein Cafe am Foro Italico, wo man noch immer so
seltene und an­derswo unbekannte Spezialitäten wie
riso e chantilly oder scorsonera e cannella zubereitet.
Das Lokal gehört unbe­dingt zu den auf unerklärliche
Weise faszinierenden Or­ten einer Stadt, die in ihrer
Gesamtheit auf unerklärliche Weise faszinierend ist.
Man ist gern dort, doch man weiss nicht, warum:
Gegenüber könnte das Meer sein, doch man sieht
es nicht, die Kellner sind kurz angebunden, und
aus dem Zustand der Einrichtung kann ein geübtes
Auge schliessen, wie weit der Sommer bereits fortge­
schritten ist. Vom 14. Juli an, dem Tag, an dem das
Fest der heiligen Rosalia begangen wird, stinken die
Tisch­decken, und es besteht der Verdacht, dass sie erst
im Sep­tember gewaschen werden. Das Cafe ist eines
der alten Lokale, wo die Fliege in der granita zum
Charme dazu­gehört. Die Fliege kann man jederzeit
entfernen, der Charme bleibt.
Verglichen mit den klassischen Konditoreiwaren müsste das Eis theoretisch weniger gehaltvoll sein. Doch
es wird sofort mit der brioche kombiniert. Die brioche mit Eis ist einer der grössten Beiträge zum Fortschritt der Mensch­heit, den die Stadt je geleistet hat.
Doch das heisst: Leich­tigkeit ade. Auch hier bleibt es
ein Rätsel, warum auf einem fast schon afrikanischen
Breitengrad eine derart überladene Konditorkunst
und - allgemeiner - Gastro­nomie Fuss fassen konnte. Die einzige plausible Erklärung ist, dass es sich
um eine Form von cupio dissolvi handelt. Um den
Wunsch nach Selbstzerstörung. Vielleicht er­schliesst
sich dieses Gefühl bei der Lektüre des Leopar­den.
Der Fürst sagt zu Chevalley: Alle Offenbarungen
des sizilianischen Wesens kommen aus krankhafter
Träumerei, auch die heftigsten; unsere Sinnlichkeit ist
Sehnsucht nach Vergessen, unsere Flintenschüsse und
Messerstiche Sehn­sucht nach Tod; eine Sehnsucht
nach wollüstiger Unbeweg­lichkeit - das heisst: wieder
nach Tod - sind unsere Trägheit und auch unsere Eisgetränke.
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Die Stadt liegt nicht am Meer
Vielleicht liegt einer der Gründe für dein Zaudern
im Hotel auch in den Zeitungsberichten, die du über
die Le­bensqualität gelesen hast. Dazu lässt sich nicht
viel sagen. Zahlen sind Zahlen. Für die Bewohner
der Stadt rückt einer der schlimmsten Augenblicke
des Jahres heran, wenn die Zeitung Sole 24 Ore die
Rangliste der Lebens­qualität der italienischen Städte
veröffentlicht. Es ist ein Moment allgemeiner Angst,
weil zwar die Regierungen wechseln, doch die Stadt
in dieser Rangliste stets unge­fähr auf Platz einhundert
bleibt. Manchmal auf Platz neunundneunzig, manchmal auf Platz einhunderteins, doch weiter entfernt
man sich nicht. In manchen Jahren scheint es so, als
habe sich etwas verbessert, zumindest in einigen Bereichen. Hoffnung keimt auf. Aber dann kommt jedesmal der Schlag ins Kontor: Platz einhun­dert. Platz
neunundneunzig. Platz einhunderteins.
Der Veröffentlichung der Liste folgt eine Woche voller Bürgerdebatten, privater Kommentare und öffentlicher Erklärungen. Von seiten der Stadtverwaltung
beanstan­det man die zugrunde gelegten Parameter,
klammert sich an die sporadischen Anzeichen für eine
Gegentendenz und schiebt die Verantwortung komplett auf die vorhe­rige Regierung. Doch mittlerweile
wird diese Rangliste seit zwanzig Jahren aufgestellt,
und die Stadt kam, bis auf unmerkliche Verschiebungen, nicht von Platz einhun­dert herunter und schon
gar nicht in aufstrebender Rich­tung, nicht einmal,
als es irgendwann den Anschein hatte, als wäre sie die
italienische Hauptstadt des neuen Rinascimento geworden.
Meistens weist der Bürgermeister darauf hin, dass,
falls überhaupt jemand, der Chef der Provinzverwaltung An­lass zur Sorge haben müsse, denn schliesslich
werde die Erhebung auf Provinzebene durchgeführt.
Doch dort ver­schwimmen die Verantwortungsbereiche und verlieren sich im Nichts. Also finden die Zeitungen immer einen Dichter oder Künstler oder Fernsehkomiker, der bereit­willig erklärt, dass er um keinen
Preis der Welt in Bo­zen (um die Stadt zu nennen, die
auf Rang eins der Liste liegt) leben wolle, weil es dort
kalt sei. Die Bewohner unserer Stadt lesen das und lächeln sardonisch. Auch diese alljährliche Demütigung
wird in einen verschäm­ten Stolz umgewandelt. Zum
Teufel mit Sole 24 Ore und seiner Liste. Was wollen
denn diese Mailänder? Was ver­stehen die schon vom
Leben, wo es bei denen immer neblig ist und wenn
einem auf der Strasse schlecht wird, kein Mensch stehenbleibt, um ihm zu helfen?
Ob wirklich kein Mensch stehenbleibt, wenn in Mailand jemandem schlecht wird, und in unserer Stadt
dagegen jeder stehenbleibt, muss erst noch bewiesen
werden. Doch gehören meteorologische Gesichtspunkte bei der Erstellung der Rangliste tatsächlich
nicht zu den berück­sichtigten Faktoren. Und das ist
ein Trost. Mag es auch eine Binsenwahrheit sein, doch
der Umstand, auf eine hohe Anzahl von Sonnentagen
verweisen zu können, hilft, darüber hinwegzukommen, dass man in der einhun­dertsten Stadt Italiens
wohnt. Selbst an grauen Tagen erwartet jeder eine
Wetterbesserung, die das Herz weit für die Hoffnung
öffnet. Heute mag es frühmorgens reg­nen, später vielleicht nicht mehr, morgen vielleicht ja, doch nicht den
ganzen Tag. Das ist immer noch besser als ein Winter
mit einem niedrigen, dunklen Himmel ohne Abwechslung und ohne die Aussicht auf eine Wetterän­
derung. Mag sein, dass Binsenwahrheiten banal sind,
doch manchmal sind sie deswegen nicht weniger wahr.
Das sollte Sole 24 Ore nicht ausser acht lassen. Gleichwohl rückt diese Betrachtung gefährlich in die Nähe
eines unbegründeten Alibis. Mehrere Jahrhun­derte
lang rieten die Ärzte in ganz Europa ihren Patien­ten
zu einer Reise auf die Insel, damit sie ihre Atemwegs­
leiden kurieren konnten. Ein Heilmittel, das sich oft
als schlimmer als die Krankheit erwies. Auch Wagner,
der zum Überwintern hergekommen war, musste mit
anse­hen, wie sein geliebter Sohn Siegfried an einem
Fieber erkrankte, und glaubte von da an nicht mehr an
die Vor­züge des gesunden Klimas, das er hier gesucht
hatte. Und immer so weiter. Zahlreich sind die Begüterten, die aus gesundheitlichen Gründen auf Reisen
gingen, in die Stadt kamen und hier in den schlechtbeheizten Unter­künften, die sie nicht gewohnt waren,
den Gnadenstoss empfingen. Solltest du genügend
Mut aufbringen, mein lieber Reisender, so geh auf den
Friedhof Santa Maria di Gesu, wo zahllose Grabsteine mit ausländischen Namen stehen. Versuche, dir an
jedem von ihnen das Schick­sal eines armen Reichen
auszumalen, der gekommen war, um fern von der Heimat zu sterben, mit verstopften Lungen und einem für
die Hoffnung weit geöffneten Herzen.
Klimatische Klischees treten im Süden häufig in Gestalt von Schlagern auf: Basta che ce sta o sole, basta
che ce sta o mare, und das ist nun wirklich zuviel. An
dieser Stelle muss man den Stereotypen Einhalt gebieten. O Sole mag ja noch angehen. Aber O Mare? Wer
hat es denn jemals gesehen, das Meer in der Stadt?
Wärst du doch nur ein unternehmungslustigerer
Reisen­der, dann könntest du - wenn du kannst - versuchen, die ganze Küste abzuklappern, von Südosten
bis Nordwe­sten, von Settecannoli bis Sferracavallo.
Versuch, wenn du kannst, mit dem Auto möglichst
nahe am Meer zu bleiben, und halte jedesmal an,
wenn du es siehst oder für erreichbar hältst. Schon
bei der Abfahrt würdest du nichts anderes entdecken
als ein Kontinuum aus Mauern und Lattenzäunen. In
Acqua dei Corsari ist das Meer dann endlich zu sehen,
doch davon hat man nichts, denn es stinkt, und der
Strand ebenso.
Es folgt La Bandita, wo das Meer hin und wieder auf­
taucht wie eine Tafel aus braunem Schaum mit einem
Saum aus Sand und Abfall, mehr Abfall als Sand.
Seit mindestens fünfzig Jahren verwahrlost dieser
Strandab­schnitt. Es soll da zwar ein Projekt zur Sanierung der Kü­ste geben, doch da es schon seit den
achtziger Jahren exi­stiert, ist es zwecklos, sich darauf
zu verlassen.
In Romagnolo stehen Schilder, die das Baden verbieten, doch sie sind des Guten zuviel, weil der braune
Schaum an sich schon genügt, um den Badefreund zu
entmuti­gen. Am Ufer stehen einige alte Häuser, doch
nichts Modernes. Selbst der unverfrorenste unter den
Bausün­dern käme nie auf die Idee, an so einem Meer
zu bauen. In Sant‘Erasmo beginnt eine Reihe von
Mauern und Zäunen, hinter denen keine Häuser liegen, sondern Eisenwarendepots, kleine Betriebe, die
einen billigen Standort am Meer suchten. Wie man
sieht, kostet es we­niger. In Sant‘Erasmo liegt auch die
Mündung des Oreto, eines Flusses, der dieses Meeres
würdig ist, und noch ein Stück weiter trifft man auf
das Istituto Padre Messina, das den Anfang des Foro
Italico oder auch von La Marina markiert, also dessen,
was früher einmal die Strandprome­nade der Stadt
gewesen war. Nur dass das Meer jetzt zwei­hundert
Meter von der Strasse entfernt ist. Ausgerechnet dort
hat man die Trümmer der Bombenangriffe abgeladen,
und folglich hat sich das Meer zurückgezogen. Bis vor
we­nigen Jahren hatte man auf dieser Landzunge definitiv provisorisch auch einen Vergnügungspark eingerichtet und sogar einen kleinen Platz aus weissem
Marmor mit einer Mannschaft von Heiligenstatuen,
die aufgerufen waren, das Wunder einer ambientalen
Aufwertung zu vollbringen. Das Wunder misslang,
und die heiligen Herr­schaften wurden später in das
Stadtviertel Zen transfe­riert, damit sie dort ein womöglich noch komplizierteres Wunder in Angriff
nahmen.
Wegen dieses Geländes lagen sich die Gärtner der
Stadt­verwaltung und die eines privaten Unternehmens eine Zeitlang in den Haaren und stritten darüber, welches die beste Methode sei, hier englischen
Rasen anzulegen, doch ohne dass sie je zu einer Lösung gelangt wären, die dem Salzgehalt mehr als sechs
Monate hätte trotzen können. Jetzt gibt es ein paar
Bäume dort, und wenn man sich konzentriert, kann
man, ganz weit hinten, einen Streifen erkennen, der
blau zu sein scheint.
Dann kommt La Cala. La Cala ist der alte Hafen, der
heute teils ein Yachthafen, teils eine Umweltkatastrophe ist. Um das Meer von La Cala, dessen Färbung
ins Schleimweisse spielt und dessen Konsistenz ölig
ist, ran­ken sich die Legenden. Man erzählt sich, dass
bei den Fi­schern seit Jahren nur noch die Ratten anbeissen. In den Augen der Reeder aus aller Welt ist
La Cala ein idealer Friedhof, weil man dort Schiffe
versenken kann, deren Verschrottung zu teuer wäre.
Man munkelt auch von einem Volk menschlicher
Ameisen, die bei der Ankunft jedes neuen Bootes, das
ausgeschlachtet werden soll, nach La Cala eilen und
mit der Zerlegung beginnen. Sie tragen alles fort, was
nicht niet- und nagelfest ist, und versenken das Skelett
anschliessend. Manchmal dümpelt das Wrack noch
an der Wasseroberfläche und behindert die Schif�fahrt, manchmal ragt der Grossmast heraus und wird
seinerseits zum Anlegeplatz weiterer abzutakelnder
Boote, die nun auch ihrem Untergang entgegensehen.
Setzt man den Weg fort, taucht hinter La Cala eine
Front von Palazzi auf. Wenn du dort ankommst, vergiss nicht, dir die Balkons an der Hauptfassade dieser
Häuser anzu­sehen: Sie gehen auf das Festland hinaus.
Vor die Wahl zwischen dem Blick aufs Meer und dem
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Blick auf andere Palazzi gestellt, haben sich die Architekten dieser Häu­ser anstandslos für die zweite Variante entschieden. Schon Leonardo Sciascia hat darauf
hingewiesen, dass die Stadt dem Meer den Rücken
zudreht. Die Stadtbe­wohner verzichten leichten
Herzens auf die Verlockung eines blauen Panoramas.
Das Meer hört man und ahnt man, doch zu sehen ist
es beinahe nirgends, und man will es auch gar nicht
sehen. Auch als man mit einer proviso­rischen Gestaltung des Foro Italico begann, setzten sich die Leute
verkehrt herum auf die Marmorbänke, um nicht, wie
es deren Anordnung entsprochen hätte, das Meer zu
betrachten, sondern lieber die Stadt, die ja schon immer vor aller Augen war.
Noch ein Stück weiter liegt das Hafengelände, über das
ein Urteil abzugeben unfair wäre: In jeder Grossstadt
ist der Hafen aus unerfindlichen Gründen der letzte
Ort, von dem aus man das Meer sehen kann. Man sollte sich immer rechts halten und darauf vertrauen, dass
dort, wo der Zoll ist, auch der Hafen sein muss, und
der Hafen muss unweigerlich am Meer liegen. Trotzdem verschwindet das Meer hier für einige Kilometer.
Wir biegen in den Viale Cristoforo Colombo ein und
stossen fast unmittel­bar auf die Werft, die ein Trost
ist: Sie stellt nicht nur den grössten Industriezweig der
Stadt dar - der zweit­grösste ist, man stelle sich vor, das
Teatro Massimo -, son­dern ihrer Natur gemäss muss
sie zwangsläufig am Meer liegen. Das Meer ist da, das
muss man sich gesagt sein lassen. Das muss man einfach glauben. Und weiterfah­ren: Arenella, Acquasanta, Vergine Maria.
Nun taucht ein kleiner Touristenhafen auf, doch man
kommt unmöglich näher heran, wenn man nicht eines
der am Pier liegenden Motorboote besitzt. Das Meer
liegtgleich dahinter und regt, wie es häufig geschieht,
zu tief­gründigen Gedanken an, besonders, wenn es
die Gestalt einer Bucht annimmt. Wenn du hier wärst,
würdest du dich wie jeder anständige Reisende gehalten fühlen, ste­henzubleiben und nachzudenken. Einer der edelsten Ge­danken, die dir angesichts des majestätischen Panoramas vor deinen Augen in den Sinn
kämen, ist: Wie machen es all diese Leute bloss, all
dieses Geld zu haben und all diese Boote zu besitzen?
War das hier nicht eine Stadt mit geringem Pro-KopfEinkommen? War Unterneh­mermentalität denn hier
nicht nur ein blasses Hirnge­spinst? Und wenn dies
keine Unternehmer sind, was sind das dann alles für
Leute, die sich eine Yacht leisten kön­nen?
Was das angeht, könntest du solche Fragen unentwegt
auch angesichts der Zaungitter am Ende einer Strasse
stellen, hinter denen man fast schon auf die Klippen
ge­baute schlösschenartige Villen sieht. Oder auch
ange­sichts der Masse von Luxusgeschäften in der Via
Liberta. Wenn Vuitton beschliesst, ausgerechnet hier
eine Filiale zu eröffnen, heisst das, dass man sich schon
über die po­tentielle Kundschaft Gedanken gemacht
haben wird. Und wenn bei den Zusammenkünften
der Volvo- und BMW - Händler aus ganz Europa die
Vertragspartner aus der Stadt mit grossem Beifall begrüsst werden, hat das gewiss seine Gründe.
Nur dass hier im Gegensatz zu anderen Orten nie98
mand, der wirklich Geld hat, auch nur den geringsten
Wert dar­auf legt, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen.
Man präsen­tiert sich allenfalls im engsten privaten
Kreis. Unter Freunden ist die Yacht durchaus ein
Luxus, den man ganz auskosten muss. Doch wenn
die richtigen Reichen ein Fest veranstalten, verhindern sie tunlichst, dass in irgend­einem Blättchen ein
Photo davon auftaucht. Wer da­gegen alles daransetzt,
in Erscheinung zu treten, ist die demi-monde. Jene
demi-monde, die sich in Schwarz klei­det und es eitel
gestattet, dass sie gesehen wird, während sie die Stufen
zum Teatro Massimo hinaufgeht, um sich der mondänen Langeweile eines Opernbesuchs zu unter­ziehen.
Die richtigen Reichen halten sich fern, genauso wie
sie es gern vermeiden, in der Liste der grössten Steu­
erzahler aufzutauchen. Denn warum sonst ist es in der
Stadt so schwierig, einen wie auch immer gearteten
Sponsor zu finden? Warum sonst sollte die örtliche
Fuss­ballmannschaft von jeher solche Mühe haben,
einen Präsidenten zu finden, einen einheimischen
Unterneh­mer, der bereit ist, nicht nur sein Geld zur
Verfügung zu stellen, sondern auch seinen Namen?
Mit etlichen Präsi­denten hat es in der Vergangenheit
vielleicht gerade des­halb ein schlimmes Ende genommen, weil sie sich allzu­weit in die Öffentlichkeit gewagt hatten. Unauffällig le­ben ist die oberste Maxime
der eigentlichen Mächtigen der Stadt. Und das nicht
nur, weil man der Strenge des Fiskus entgehen möchte.
Doch irgendwo müssen sie ihre Yachten ja lassen, und
überhaupt tun solche Gedanken nichts zur Sache. Wir
müssen weiterkommen, wir müssen das Meer finden.
Wir müssen versuchen, ganz dicht heranzukommen,
auch wenn das nicht leicht ist. Das imposante Hotel,
das sich uns irgendwann in den Weg stellt, heisst Villa Igiea. Wärst du dort Gast, könntest du das Meer
schon sehen, wenn du dich auf den Balkon stelltest.
Allerdings könn­test du nicht hineintauchen: Baden
verboten.
Die Fahrt muss also weitergehen, immer an der Küste entlang, sofern das möglich ist. Nach einem Kilometer, in Arenella, wird das Meer erneut sichtbar,
dann ver­schwindet es wieder und taucht für knappe,
unvergessli­che, kurzlebige Ansichtskarten erneut auf.
Bis Addaura sehen wir eine Abfolge von Mauern und
Gitterzäunen, dazu mit Ketten verschlossene Tore,
die vermutlich je­dem, der kein Recht darauf hat, den
Blick auf das Meer verwehren sollen. Und du, lieber
Reisender? Auf welche Rechte könntest du pochen?
Du, der du womöglich aus einer Stadt ohne Meer
kommst, willst es ausgerechnet hier finden?
Doch weiter. Die Kostproben vom Meer, die dem
Auge vereinzelt gewährt werden, sind nicht der Rede
wert, aus unserem Ausflug ist mittlerweile eine Fahrt
von zwanzig Kilometer Länge geworden, und es fehlen nur noch we­nige Kilometer bis zu dem Ziel, das
auf dem langen Weg von Anfang an hätte angesteuert
werden müssen: Mon­dello, der beliebteste Badeort
der Stadtbewohner. Jetzt gilt es nur noch ein letztes
Bollwerk in Form des Monte Pellegrino zu umfahren, eine letzte Kurve zu nehmen, ein letztes Gitter
zu ignorieren, und schon kommt Mon­dello, das wie
der Inbegriff einer Postkarte aussieht. Ver­such, dir das
vorzustellen.
Versuch, dir die Bucht vorzustellen, wie sie auf den
Mai­länder Ingenieur Pietro Scaglia gewirkt haben
muss, der eines schönen Tages im Jahr 1902 auf den
Monte Pel­legrino stieg, hinunterschaute und beim
Anblick dessen, was damals ein Sumpfgebiet am Meer
war, eine Idee da­von bekam, was einmal Mondello
werden könnte. Wahr­scheinlich stellte er es sich mit
weniger Schildern und weniger Ferienhäusern vor,
als jetzt dort zu finden sind, doch der Rahmen und
alles andere waren genauso wie heute. Er verliess also
Mailand und zog auf die Insel, um seine Idee in die
Tat umzusetzen. Er reichte einen Plan zur Melioration und Parzellierung der gesamten Bucht ein und
wartete.
Während Ingenieur Pietro Scaglia wartete, legte ein
Konkurrent, die Belgisch-Italienische Gesellschaft,
gleich­falls einen Antrag auf Parzellierung vor, der
seinem sehr ähnelte, ja praktisch identisch damit war.
Am Ende siegte der später eingereichte Vorschlag, also
der von der Belgisch-Italienischen Gesellschaft, und
Ingenieur Pie­tro Scaglia, der sein Vermögen und seine
Existenz in die­ses Projekt gesteckt hatte, nahm sich
aus lauter Kummer das Leben. Irgendwo in Mondello
gibt es eine kleine Gasse, die seinen Namen trägt.
Melioration und Parzellierung wurden also durchgeführt, und wie. Damals gab es dort sogar einen Golfplatz und eine Strassenbahn, die durch den Parco della
Favorita führte und Mondello mit der Stadt verband.
Die Häuser wurden so wie in Ostende gebaut, denn in
der Eile der Parzellierung hatte man beschlossen, das
Modell einer belgischen Kleinstadt zu kopieren. Daher rührt das ele­gante, unpassende Äussere mancher
Villen, die im Wohn­gebiet des Badeorts stehen.
Sein ursprünglicher Kern bestand aus einer Ansamm­
lung von Fischerhäusern, die sich dicht um die Thun­
fischfangsteIle drängten. Von diesem Fangplatz ist
nur noch der Turm an der Piazza erhalten, umzingelt
von Bars und kleinen Restaurants, die vornehmlich
samstags, sonntags, im Juli und im August geöffnet
haben, wenn die Bewohner der Stadt in Massen nach
Mondello strö­men und es in ein gastronomisches
Dorf verwandeln, wo man schlecht und teuer isst.
Auch deshalb, weil in einer Stadt wie der unseren, wo
der Vorteil, im Freien zu sitzen, dreihundert Tage im
Jahr genutzt werden könnte, die einzigen Cafes mit
Sonnenplätzen und Blick aufs Meer sich ausgerechnet
hier auf der Piazza befinden.
Die Beziehung, die die Bewohner der Stadt zu Mondello unterhalten, hat etwas ganz Eigenes. So kommt
es zu so paradoxen Erscheinungen wie etwa Ferienhäusern, die nur fünf, sechs Kilometer von der Stadtwohnung ent­fernt gebaut werden. Trotzdem ziehen
die Familien jedes Jahr im Juni feierlich nach Mondello um, wo sie für drei Monate die Annehmlichkeiten eines Urlaubs am Meer geniessen. Wieder einmal
tritt der für die Bewohner der Stadt typische Hang
zur Verschwendung zutage. Von Mondello nehmen
sie nur das Schlimmste - das sommer­liche Gedränge
- und lassen das Beste ungenutzt: Herbst, Winter und
Frühling, wenn das Chaos anderswo tobt, die Kälte
nur kühl ist und die Wärme einfach mild. Zwischen
Juni und September ist das Meer ausserdem gar nicht
vorhanden. In dieser Zeit wird der Strand von Ba­
dekabinen in Beschlag genommen, die hier, als wäre
man in Afrika, capanne, Hütten, genannt werden.
Auch zu ihrer Hütte haben die Bewohner der Stadt
ein ganz eige­nes Verhältnis. Besonders diejenigen,
die sich kein Fe­rienhaus leisten können, neigen dazu,
die Hütte als ein solches zu betrachten, und machen
ein Behältnis für jeg­liche Form von Komfort daraus.
Früh am Morgen treffen die Familien ein, mit der
Hütte als Stützpunkt, und keh­ren erst spätabends und
widerstrebend in die Stadt zurück. Du solltest einmal
versuchen, im Juli herzukom­men. Die Freiflächen
zwischen den Strandhütten werden bewusst cortili,
Höfe, genannt, denn sie reproduzieren haargenau
den Lebensraum des früheren mittelalterli­chen Hofes
und das Gemeinschaftsleben, das sich dort abspielte.
Bis zum Sonnenuntergang - und auch noch danach,
beim Licht von Acetylenlampen - spielt man in den
Höfen des Strandes Karten, isst Nudelauflauf und übt
sich in Konversation. Das alles mindestens bis Mit­
ternacht. Dann räumt man Tische, Stühle, Lampen,
Hausrat, Nippes in die Hütte und fährt zurück in die
Stadt. Doch in dem Bewusstsein, dass dies nur für die
wenigen Stunden ist, die unausweichlich dem Schlaf
vorbehalten sind; und am nächsten Tag kommt man
wieder.
Im Winter ist Mondello anders. Zunächst, weil man
dort das Meer sehen kann, man kommt unmittelbar
damit in Berührung. Und dann, weil diese Berührung
möglich ist, ohne dass die Strandhütten im Weg sind.
Irgendwann hatte man - doch nur für den tiefsten
Winter - sogar be­schlossen, den grünen Zaun abzubauen, der am Strand­zugang den Blick auf die Bucht
versperrte. Offiziell sollte er eine unangebrachte Nutzung des Sandstrands verhindern, eine Formulierung,
von der kein Mensch weiss, was sie zu bedeuten hat.
Der Strand ist zum Spazierengehen da, und der Zaun
hatte ohnehin jede Menge Löcher. Was kann das also
heissen? Dass der einzige plausible Grund, ihn stehenzulassen, der war, den Blick auf das Meer zu verwehren. Und trotzdem - jedes Jahr im Frühling stel­len sie
ihn wieder auf, und wieder heisst es: Panorama ade.
Der Zaun von Mondello ist eine der besten Metaphern für das Verhältnis zwischen Stadt und Meer.
Ein Verhält­nis, das sich mit wenigen Worten zusammenfassen lässt:
Die Einwohner der Stadt pfeifen auf das Meer. In
der Überzeugung, von den Göttern abzustammen,
verzich­ten sie mit der gleichen Arroganz auf das Meer,
mit der sich ein Reicher seine Zigarre an einem Geldschein an­zündet. Nur dass die Bewohner der Stadt
alles andere als reich sind. Schlimmer noch, sie haben
in vielerlei Hin­sicht Flicken auf dem Hintern, doch
deshalb verzichten sie nicht auf eine Grossspurigkeit,
die ganz unbegründet ist. Sie haben das Meer, doch sie
haben beschlossen, ohne es auszukommen. Sie lassen
es weg wie das Trink­geld im Restaurant, wenn man,
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von dringenderen pflich­ten und wichtigeren Gedanken gerufen, davonläuft. Worin diese dringenderen
Pflichten und wichtigeren Gedanken bestehen könnten, hat man nie erfahren. Doch sie pfeifen wirklich
auf das Meer. Man muss sich nur einmal die Reaktionen ansehen, wenn entdeckt wird - und hin und wieder wird es entdeckt -, dass das Meer auch in Mondello ein einziges Gewimmel von Streptokokken und
Staphylokokken ist. Die Stadtverwaltung verhängt
ein Badeverbot, und was ändert sich bei den Bewohnern der Strandhütten? Nichts. Die Kartenspiele am
Strand gehen weiter, die Auflaufformen mit den Nu­
deln kreisen nach wie vor unter den Sonnenschirmen,
und die Duschen ersetzen das Bad im Meer. Nur ein
kleiner Teil der Einwohnerschaft hat daran etwas
auszu­setzen. Die Mehrheit zieht es vor, über solchen
Widrig­keiten zu stehen. Für eine Hütte am Meer zu
bezahlen, obwohl praktisch das Meer fehlt, wird als
normal emp­funden. Sich beklagen, ja, immer. Doch
protestieren wäre fehl am Platz, vielleicht sogar ein
kleines bisschen vulgär. Die Stadt ist manchmal zum
Verzweifeln, doch fast nie verzweifelt.
Würde man hinter Monte Gallo weiter die Küste ent­
langfahren, käme man zur Fossa dei Gallo, wo das
Meer noch nahezu sauber ist. Doch um das zu durchqueren, was auf der Karte als Naturschutzgebiet gilt,
müsste man eine Mautgebühr an einen privaten Eigentümer zahlen. Naturschutzgebiet hin oder her, die
Strasse, die am Meer entlangführt, gehört ihm. Noch
ein Stück weiter käme Sferracavallo, ein weiterer Küstenort, doch du hättest recht, wenn du dich an dieser
Stelle müde und verzagt fühlen würdest, nachdem
du entdeckt hättest, dass es trotz aller Garantien, die
die Kartographie liefern kann, das Meer in der Stadt
nicht gibt oder dass es nicht zu sehen ist oder dass es
verschmutzt ist oder dass es Privat­eigentum ist.
Ich kann dich verstehen. Fast könnte man denken,
du hättest recht, wenn du das Hotel nicht verlassen
willst. Doch das stimmt nicht. Aus schwer erklärbaren
Grün­den stimmt es nicht.
100
Praktiken selbstinszenierter Exotik
Reden die Bewohner der Stadt über ihre Vergangenheit, neigen sie ein wenig zur Schaumschlägerei.
Geben ein bisschen an. Wie in Neapel und wie vielleicht in allen Städten Süd italiens erzählt man sich
auch hier die Ge­schichte vom Taxifahrer, der sich mit
einem Fahrgast aus dem Norden streitet. Sagen wir,
der Einfachheit halber, mit einem Mailänder. Der
Mailänder glaubt, übers Ohr gehauen worden zu sein,
und es ist nicht ausgeschlossen, dass er recht hat. Er
lässt einen Wasserfall von Beschimp­fungen auf den
Taxifahrer los, der mit einer Einleitung beginnt, die
wahre Rassisten immer verwenden: »Ich bin ja kein
Rassist, aber ... «
Es folgt eine Reihe altbekannter Beleidigungen: »Wir
arbeiten uns krumm, und ihr denkt nur ans Klauen,
ihr Hinterwäldler ... «
Und so weiter und so fort. Nachdem der Fahrgast
sein Repertoire an Beleidigungen aufgebraucht hat,
ver­stummt er endlich, um Luft zu holen. Erst jetzt
kommt die Antwort des Fahrers: »Als ihr noch in
Höhlen ge­haust habt, waren wir schon schwul.«
Auch wenn es sich hier nur um einen Satz aus der
städtischen Gerüchteküche handelt, steckt darin doch
der ganze Stolz, den die Bewohner der Stadt aus der
Über­zeugung ableiten, jetzt zwar heruntergekommen,
doch zuvor dekadent und noch früher die Herren der
Welt ge­wesen zu sein. Gemeinhin bildet sich jeder
gern ein, er habe eine glückliche Kindheit verbracht.
So etwas tut auch ein Gemeinwesen. Die Bewohner
der Stadt haben ihren verschämten Stolz dahingehend
verfeinert, dass sie sich eine nicht näher bezeichnete
edle Abkunft zuleg­ten. Eine Sehnsucht, die man als
selbstexotisierend be­zeichnen könnte: teils masturbatorisch, teils mit dem Hang, ein exzentrisches Bild
von sich zu zeichnen. Bei diesen Praktiken selbstinszenierter Exotik gefällt sich die Stadt als originell, widersprüchlich und malerisch, wenn auch inzwischen
von dem Thron gestürzt, den sie sich selbst errichtet
hatte. »Sie halten sich für Götter«, schrieb Tomasi di
Lampedusa. Und falls das nicht stimmt, fehlt zumindest nicht viel.
Wann es diese glücklichen Zeiten gegeben haben soll,
in denen die Stadt die Herrin der Welt war, lässt sich
auf rein historischer Grundlage nur schwer beantworten. Manche datieren sie ans Ende des 19. und an den
Beginn des 20. Jahrhunderts, als der russische Zar und
der deut­sche Kaiser die Targa Florio besuchten und
die kaiserli­chen Schiffe vor der Villa Igiea ankerten.
Andere hinge­gen bewahren Friedrich II. ein ehrendes
Gedenken, da sie ihn für so ziemlich den letzten Souverän halten, auf den sich die nunmehr verflüchtigten
Hoffnungen auf ei­nen modernen, weltlichen Staat
richten konnten. Dass mit der poetischen Sinnlichkeit
des Herrschers auch eine gewisse blutrünstige Schroffheit einherging, bleibt ein Thema am Rande, das den
Bewohnern der Stadt kei­neswegs missfällt. Bei uns bewundert man die charismati­sche Persönlichkeit, den
Mann, der sich mit allen Mit­teln Geltung verschaffen
kann. Und selbst wenn diese Mittel gesetzlos sein soll-
ten, na wenn schon: Was wäre er sonst für ein Mann?
Hauptsache, er lässt sich nicht er­wischen.
Doch abgesehen von der Prahlerei gab es tatsächlich
eine kurze Zeit, in der die Stadt einen glänzenden
Auf­schwung erlebte. Das war während der arabischen
Fremdherrschaft. Die Bewohner der Stadt hegen in
be­zug auf ihre Vergangenheit eine mehr oder weniger
be­wusste arabische Nostalgie. Die arabische Identität wird ebenso wie die mit der Mafia verbundene
fast schon überheblich herausgekehrt: So ist es eben,
wenn es uns so passt.
Solltest du dich endlich entschliessen, dein Zimmer
zu verlassen, wirst du allerdings entdecken, dass aus
der ara­bischen Zeit nicht ein einziges architektonisches Zeug­nis erhalten ist. Das erste, was den normannischen Köni­gen einfiel, nachdem sie die Stadt
eingenommen hatten,
war, die Moscheen und andere Bauwerke aus der Zeit
vor ihrer Eroberung dem Erdboden gleichzumachen eine regelrechte Auslöschung der Vergangenheit. Aus
diesem Grund findet man heute strenggenommen nur
wenig arabische Spuren.
Allerdings legten die normannischen Könige später
die Arroganz der Sieger ab, überlegten es sich anders
und sa­hen ein, dass sie von den Arabern einiges lernen
konn­ten. Das muss man den neuen Herrschern der
Stadt wirk­lich lassen: Nachdem sie mit einer Kultur
in Berührung gekommen waren, die der ihren diametral entgegenge­setzt war, wurde ihnen fast augenblicklich klar, dass das spartanische Leben, das sie bis
dahin geführt hatten, allzu beschwerlich war. Kriege
zu führen und zu gewin­nen war ja gut und schön, aber
was dann? Wozu das alles? Es gibt eine Redensart, die
dazu angetan ist, dem, der zu­viel arbeitet und zuwenig
von den Früchten seiner Ar­beit erntet, den Wind aus
den Segeln zu nehmen: Willst du etwa der Reichste
auf dem Friedhof werden? Jeden­falls musste man den
Arabern zugestehen, dass sie mehr Talent hatten, das
Leben zu geniessen.
Deshalb hüteten sich die diversen Rogers und Wilhelms wohlweislich, die arabischen Spezialisten zu
verjagen, ja sie öffneten ihre Höfe für Dichter, Wissenschaftler und Beamte, für alle Wahrer einer fremden, doch äusserst fas­zinierenden Kultur. Die Stadt
war nämlich damals, verglichen mit dem übrigen
Europa, gar nicht so übel. Wäh­rend sich, um nur ein
Beispiel zu nennen, die übergrosse Mehrheit der Bevölkerung im Florenz zur Zeit des Dolce Stil Nuovo
noch mit der Krätze herumschlug, war dieses Leiden
hier weit weniger verbreitet. Das war der Mög­lichkeit,
sich zu waschen, und der grossen Verfügbarkeit von
Wasser zu verdanken, das durch kunstvoll angelegte
Leitungen, auf deren Bau die Araber sich meisterhaft
verstanden, in die Stadt gelangte.
Doch die normannischen Könige wussten nicht nur
die Aquädukte der arabischen Baumeister zu schätzen, son­dern liessen sich von ihnen vor allem auch
sogenannte sollazzi bauen, Lustschlösschen vor den
Toren der Stadt, in denen die Herrscher sich von den
Regierungsge­schäften erholen und sich mit den jeweiligen Mätressen verlustieren konnten. Einige dieser
Bauwerke sind noch zu besichtigen und mittlerweile
vollkommen in die bau­liche Struktur der Stadt integriert. Am besten erhalten ist die Zisa - die Prächtige-,
die Wilhelm 1. in vollkom­mener Nachahmung der
arabischen Vorbilder erbauen liess.
Die gleiche Funktion erfüllte Schloss Cuba, von Wil­
helm II. in der Absicht errichtet, es dem Kult der Musse zu widmen. Heute schmiegt es sich nahezu unvermutet in den Kreis der Palazzi am Corso Calatafimi,
und man muss sich sehr anstrengen, um sich den Park
vorstellen zu können, in dessen Zentrum das Schloss
einmal stand. Dorthin verlegte Boccaccio in seinem
Dekameron die sechste Novelle des fünften Tages.
Nicht weit entfernt befinden sich, versteckt im Park
der Villa Napoli aus dem 18. Jahrhundert, zwei weitere kleine Bauwerke aus normannischer Zeit mit arabischen Ein­flüssen: die Cuba Soprana und die Cubula.
Der Corso Calatafimi ist eine ideale arabischnormanni­sche Touristenroute. Auf ihm gelangt man
auch zum Dom von Monreale, den die beiden Wilhelms als ihre letzte Ruhestätte auserkoren hatten.
Als gutunterrichte­ter Reisender wirst du viel von
den Mosaiken des Doms gehört haben, und diese Sehenswürdigkeit sollte genü­gen, um dich aus deinem
Unterschlupf aufzuscheuchen. Solltest du jemals den
Mut aufbringen, dein Zimmer we­nigstens für ein paar
Stunden zu verlassen, müsstest du dorthin gehen, zum
Dom und zum Kloster. Denn dort fin­dest du den besten Beleg für den Kosmopolitismus der Stadt in der
Zeit um das Jahr 1100, für ein multikulturel­les Zentrum, wo arabische, normannische und byzanti­nische
Künstler in enger Gemeinschaft und mit einer grossen Begabung für eine Synthese der Stile zusammen­
arbeiteten. In der Klosteranlage befindet sich ein
eckiger Brunnen mit einer stilisierten Palme, die
hundertprozen­tig arabisch ist, obgleich sie in einem
benediktinischen Umfeld liegt. Bei der Beschreibung
des Doms verbietet nur die Zurückhaltung weitere
Superlative: Geh und sieh ihn dir mit eigenen Augen
an.
Gemeinhin ist man der Auffassung, dass man sich
dank dieser tiefverwurzelten Tradition des harmonischen Mit­einanders in der Stadt keiner eklatanten
Bekundungen von Rassismus entsinnen kann. Nur
manchmal legt sich die Polizei mit farbigen illegalen
Parkwächtern und Pro­stituierten an, ohne dass die
Bevölkerung einschreitet. Wären es einheimische
Parkwächter und Prostituierte, liesse ein Aufruhr im
Viertel nicht lange auf sich warten. Doch für Ausländer, nein, da rührt sich niemand. Aber das ist Gleichgültigkeit, keine Feindseligkeit. Und es ist das einzige
Symptom. Im übrigen geht es nicht darum, den, der
anders ist, zu tolerieren; hier lebt man ohne solches
Aufheben zusammen, ohne umständliche Theo­rien
und ohne ostentative Brüderlichkeit. Jedenfalls bis
heute. Auch in dieser Hinsicht ist in den Gesichtern
der Zwanzigjährigen eine fatale Anfälligkeit zu lesen.
Mor­gen könnte einer von ihnen auf die Idee kommen,
dass es eine trendy Methode wäre, einen Obdachlosen
anzuzün­den oder einen Marokkaner zu ertränken, um
Abwechs­lung in einen gewöhnlichen Samstagabend
101
zu bringen. Die Dinge ändern sich, und die Zukunft
des harmonischen Miteinanders lässt sich nicht garantieren.
Vorläufig jedoch schwingt soviel Arabisches in der
Luft, dass es dir schwerfallen dürfte zu glauben, es
gebe hier eigentlich keine arabischen Bauwerke. Du
hast viele Bil­der gesehen, und besonders die roten
Kuppeln auf zahl­reichen Kirchen sprechen eine deutliche Sprache. Doch abgesehen davon, dass sie heute
nur wegen einer kapriziö­sen Restaurierung rot sind,
gibt es hier auch einen Feh­ler im Geschichtsbild, der
auf den Umstand zurückgeht, dass sich die Normannen sogar die Kirchen von den Mos­lems bauen liessen.
Aus normannischer Zeit stammen die arabischen und
gleichwohl höchst christlichen Kirchen La Magione,
Dei Vespri, San Giovanni dei Lebbrosi, San Giovanni
degli Eremiti, Santa Maria dell‘Ammiraglio und San
Cataldo. Die Kuppeln sind irreführend, sie wa­ren
nur eine Zierde, die die neuen Herrscher nicht störte.
Um zu sehen, wie gross der islamische Einfluss auf die
Stadt war, sollte man, ungeachtet der nur spärlichen
ar­chitektonischen Überreste, La Kalsa besuchen, ein
Vier­tel, das zumindest auf den ersten Blick nur wenige
Zeug­nisse aus arabisch-normannischer Zeit aufweist.
Doch hier zeigt sich mehr als anderswo, dass es nicht
auf die Besichtigung einzelner Bauwerke des Viertels
ankommt. Es kommt darauf an, dass man dort spazierengeht.
La Kalsa war ursprünglich eine Zitadelle am Ufer des
heute nicht mehr existierenden Flusses Kemonia, wo
sich im Jahr 937 die Emire mit ihrem Hof niederliessen. Auch der Name des Stadtviertels ist arabisch: Al
Halisa, die Auserwählte. Noch heute sprechen seine
Bewohner einen mit besonderen Lauten gespickten
Dialekt. So hat sich zum Beispiel der aspirierte Anlaut erhalten. Sie sa­gen: la Hausa. Und natürlich sind
sie stolz auf ihre Her­kunft und auf die Geschichte,
die hinter ihnen liegt. Ob­wohl ihre Geschichte eine
schreckliche ist.
Am 9. Mai 1943 kamen alliierte Flugzeuge, um das
Stadt­viertel La Kalsa auszulöschen. Die Bomber
sollten den alten Hafen zerstören und, wo sie schon
einmal da wa­ren, auch das Hinterland. Es gibt Photos von den Tagen danach, auf denen La Kalsa praktisch nicht mehr exi­stiert. Man sieht darauf nichts
als Trümmer. Überall Trümmer. Doch neben den
Zerstörungen und den Toten - vielen Zerstörungen
und vielen Toten - brachte der grosse Bombenangriff
auch ein Unheil mit sich, gegen das man noch heute
kaum etwas tun kann. Die Stadt be­merkte bei dieser
Gelegenheit, dass sie ernsthafte Pro­bleme mit der
Vernarbung und, noch zuvor, mit der Wundheilung
hat. Von 1943 bis heute hat sich die Wunde von La
Kalsa nicht geschlossen, trotz verschiedener eifri­ger
Sanierungsbemühungen besteht der Schaden fast im
gesamten Viertel fort. Daher rührt der romantische
Ein­druck, La Kalsa wahre mehr als die übrige Stadt
ein un­verfälschtes Gesicht. Als wären Ruinen ein Synonym für Authentizität. Das moderne Leben hat das
Viertel- vor allem in der Via Lincoln - zwar gestreift,
sein Zentrum jedoch in städtebaulicher und geistiger
102
Hinsicht unversehrt gelassen. Trotz der Sanierung teilen sich in La Kalsa Hühner, Hunde und Menschen
denselben Lebensraum. Die Touristen schlendern an
Palästen vorüber, die durch Baugerüste zusammengehalten werden. Sie pressen ihre Photoapparate an
die Brust, mit denen sie Zutritt in die elenden Hütten erhalten und die Erinnerung an alles Malerische
festhalten, das sie aufstöbern können, beson­ders die
Armut. Armut ist photogen. Und La Kalsa ge­hört zu
den Vierteln, die beschönigend als »volkstüm­lich«
bezeichnet werden. Oder als »problematisch«. So
zynisch es auch klingen mag, doch La Kalsa - und die
Stadt im allgemeinen - verdankt seinen Reiz zum grossen Teil dem dortigen Elend. Seine grösste Ressource
ist das Unglück.
Die Stadt ist in La Kalsa, und nach La Kalsa möchte
sie stets zurück. In La Kalsa spürt man deutlich den
Lauf der Geschichte unter den Füssen. Und oft kann
diese Ge­schichte unter den Füssen das Gleichgewicht
stören und einen fatalen Sturz verursachen. In vielerlei Hinsicht ist La Kalsa eine Metapher für die Stadt
als Ganzes. Hier finden sich all ihre Widersprüche
wieder. Das Viertel ist ein Gebiet höchster Mafiakonzentration. Doch hier wurden auch Falcone und Borsellino geboren, die als Kinder auf dem riesigen Feld
der Piazza Magione Ball spielten. In La Kalsa steht
auch Lo Spasimo, das jüngste Symbol für den Stolz
der Stadt. Die Kirche Santa Maria dello Spasimo wird
in den Reise­führern nicht einmal erwähnt, und auch
die meisten Be­wohner der Stadt wussten lange nichts
von ihrer Existenz oder hatten nur wie von einem sagenumwobenen, ver­sunkenen Ort von ihr gehört. Ein
städtisches Atlantis. Nun, da die Begeisterung etwas
nachgelassen hat, mit der man die Wiedereröffnung
begrüsste, ist Lo Spasimo zur idealen Kulisse für
Hochzeitsphotos geworden. Noch heute führen die
Bewohner der Stadt ihre Gäste gern zu Lo Spasimo
und bleiben dann drei Schritte hinter ihnen zurück,
um sich an ihrer Verblüffung angesichts des Wunders einer gigantischen Kirche mit offenem Dach
zu erfreuen, in deren Mittelschiff zwei Essigbäume
gewach­sen sind, doch unaufdringlich und nicht so in
der Mitte, dass sie Theater- oder Musikaufführungen
behindern könnten. Sobald sich die anfängliche Verblüffung des Gastes gelegt hat, erzählt man ihm die
Geschichte einer Kirche aus dem 16. Jahrhundert, deren Bau wegen einer grassierenden Pest anscheinend
nie vollendet wurde. Im Lauf der Zeit war Lo Spasimo ein Theater, eine Lager­halle, ein Lazarett und eine
Müllkippe. Man erzählt auch, dass das Gemälde, das
die Kirche schmücken sollte, eine abenteuerliche Geschichte hat. Es wurde bei Raffael in Auftrag gegeben
und stellte den Leidensweg Jesu dar. Doch das Schiff,
das es auf die Insel bringen sollte, ken­terte. Das Bild
wurde, wie es heisst, wie durch ein Wunder gerettet,
doch da die Kirche nie fertiggestellt wurde, blieb es
schliesslich im Besitz der spanischen Krone. Heute
hängt es im Prado.
Das Epos von Lo Spasimo fand seinen krönenden
Ab­schluss mit der abenteuerlichen Wiedereröffnung
der Kirche Mitte der neunziger Jahre, als man Tonnen
von Schutt notgedrungen etappenweise abtransportierte. Es war das Musterbeispiel für ein typisch italienisches Mira­kel, irgendwo zwischen Improvisation und Planung, zwi­schen freiwilliger Leistung und
Wunder. Die Idee war, die Restaurierung nach und
nach anzugehen, denn sonst wäre es ungewiss geblieben, ob und wann die Kirche je hätte wiedereröffnet
werden können.
Nun, da die grossen Touristenströme sie wiederentdeckt haben, präsentiert sich die Klosteranlage Lo Spasimo wie eine Mischung aus Verfall und Glanz, ganz
im Stil Pira­nesis ein Beispiel für den Hang zu halbwegs wiederaufge­bauten Ruinen, das in Erwartung
besserer Zeiten wohl für die ganze Stadt charakteristisch ist. Auch das Teatro Garibaldi am anderen Ende
der Piazza Magione ent­spricht diesem unfreiwilligen
ästhetischen Kriterium. Die Instandsetzungsarbeiten
werden im Rahmen der Möglichkeiten und sowie ein
bisschen Geld da ist fortge­setzt, doch inzwischen hat
das Garibaldi durch die Auf­führungen der Truppe um
Carlo Cecchi, die sich für ei­nige Jahre in den Resten
dieses halbverfallenen Theaterseingerichtet hat, schon
in ganz Europa von sich reden gemacht.
Mein lieber Reisender, ich erzähle dir das alles schweren Herzens. Manchmal sieht es wirklich so aus, als
tätest du gut daran, zu bleiben, wo du bist. Doch es
ist meine pflicht, dir reinen Wein einzuschenken. Wie
dem auch sei: Zu den Dingen, die du wohl nicht wirst
sehen kön­nen, gehört der Palazzo Steri und die Holzdecke in der Sala dei Baroni aus dem 14. Jahrhundert,
ein Meister­werk, das dem Auge des Touristen vorenthalten bleibt, weil sich in diesem Stadtpalast, der früher der Familie Chiaramonte gehörte, heute das Dekanat der Universi­tät befindet. Vor dem Palazzo Steri,
in dem einst das In­quisitionsgericht sass, begannen die
Prozessionen, die oft mit einer Umrundung der Piazza
Marina und mit der Verbrennung des Verurteilten auf
dem Scheiterhaufen endeten.
Eine Hinrichtung anderer Art fand auf der Piazza Marina im März 1909 statt, die des italoamerikanischen
Polizi­sten Joe Petrosino, dem ersten prominenten
Mafiaopfer, das in den Strassen der Stadt ums Leben
kam. Am Tag nach dem Mord kerbte ein anonymer
Steinhauer ein Kreuz in das Fundament des Gitters
der Villa Garibaldi, genau dort, wo Petrosino zusammengebrochen war. In den nachfolgenden Wochen,
Monaten und Jahren machten sich weitere anonyme
Personen die Mühe, weitere Kreuze in das Fundament
des Gitters zu ritzen. Was anderswo nur ein dummer
Studentenstreich gewesen wäre, wurde in der Stadt
zu einer ganzen Serie dummer Studentenstreiche, die
alle zusammen eine regelrechte damnatio memoriae
ergeben. Es ist schwer zu sagen, wie­viel Vorsatz sich
dahinter verbirgt, schwer einzuschätzen, ob es eine
konkrete Absicht gibt. Doch das Resultat bleibt das
gleiche: Hätte man die Stelle nicht gekenn­zeichnet,
wüsste niemand genau, wo Joe Petrosino er­mordet
wurde, und das wäre eine zusätzliche Warnung gewesen: Helden sterben, und obendrein erinnert sich
morgen niemand mehr an sie.
Viel würdest du versäumen, wenn du auf La Kalsa ver­
zichten wolltest. Da ist die Kirche La Gancia und die
Kirche La Magione. Da ist der Palazzo Ajutamicristo,
und da sind die drei Kirchen in der Via Torremuzza.
Da ist Santa Maria della Catena. Ausserdem könntest
du mit dem Auto oder zu Fuss einen Stadtbummel bei
Nacht durch die vornehmsten oder die heruntergekommensten Gegenden von La Kalsa unternehmen.
Zwischen den Restaurants rings um die Via Garibaldi
findest du die mo­vida, von der du wohl schon viel gehört hast. Hier ginge es wirklich mondän zu, wenn neben den grossen und kleinen Lokalen nicht unmittelbar die Imbissstände zu finden wären, die improvisiert
wurden, um die Besucher von Lo Spasimo abzufangen,
dazu die Karren der Händler mit unechten CDs und
ihr ohrenbetäubender Lärm, die leichten Mädchen
auf der Jagd nach Kunden und die anachronistischen
Läden, die hartnäckig weiter scac­cio verkaufen, also
Sonnenblumenkerne und Trocken­früchte.
In der Via Alloro erstreckt sich zwischen einer
Restaurie­rungsbaustelle und einer abgesperrten Gasse
die endlose Folge von Palästen, deren Namen bereits
die Eitelkeit ih­res einstigen Glücks erahnen lassen:
Bonagia, Castrofi­lippo, Monroy della Pandolfina,
Naselli D‘Aragona, Faso di San Gabriele und Rostagno di San Ferdinando. Reich­tum und Adel, Tugend
und Verworfenheit, Licht und Schatten, Leben und
Tod: Hier treffen alle Extreme auf­einander und existieren zugleich mit ihrem Gegenteil. Doch vielleicht
erschreckt und lähmt dich gerade das. Die Angst vor
grellen Farben zusammen mit der Angst vor dem Gegenteil: der Angst, dass dich die grellen Far­ben faszinieren könnten.
103
Palermo
Stadtplan von 1581, in „Civitates orbis terrarum“, G.Braun und F. Hogenberg
104
Palermo
französische handgezeichnete Karte 17.Jh
105
Palermo
Stadtplan von 1713, „Palerme Capitale du Royaume de Sicile“
106
Palermo
Stadtplan von 1761, in „Lo stato presente della Sicilia“
107
Palermo
Stadtplan von 1818
108
Palermo
Stadtplan von 1864
109
Palermo
Stadtentwicklung im 20. Jh
1912
1971
1981
110
Geschichte (Palermo)
Sizilien: Insel zwischen Orient und Okzident/ Birgit Carnabuci. –
Köln: DuMont Buchverlag, 1992
Die Landeshauptstadt Palermo, die grösste Stadt der
Insel (720 000 Einwohner), besitzt auch deren wichtigsten Hafen. Von der riesigen Hafenbucht (96 ha)
leitet sich der Name der Stadt ab, die von den Griechen als Panormos, »All-Hafen«, bezeichnet wurde.
Ihr ursprünglicher Name scheint Ziz, »die Blume«,
gewesen zu sein, was ebenfalls ausgezeichnet passt,
verfügt die Stadt doch über eine zauberhafte Lage inmitten einer Senke, umschlossen von hohen Bergen.
Den Abschluss der Bucht bil­den nach einer Seite der
Monte Pellegrino und nach der anderen das Kap Zafferana. Im Sommer sorgen frische Meereswinde für
Kühle, und die Berge schützen die Stadt gegen die
rauheren Winterwinde.
Dieses Klima fördert die Vegetation; die üppigen Gärten sind beliebte Treffpunkte der Palermitaner. Der
Botanische Garten ist eine Besichtigung wert, auch
wenn er sich in den letzten Jahren nicht eben zu seinem Vorteil verändert hat. Zu Goethes Zeiten war der
Garten gerade neu angelegt: Hier nahm die Idee des
deutschen Dichters über die Urpflanze Gestalt an.
Geschichte
Die Phönizier gründeten Palermo im 5. Jh. v. Chr.,
doch Bedeutung erlangte die Stadt erst, nachdem die
Araber sie 831 zur Hauptstadt ihres sizilischen Reichs
gemacht hatten. Sie wurde eine blühende Wirtschaftsmetropole, deren Einwohnerzahl - Schätzungen gehen von 300 000 Menschen aus - die jeder christlichen Stadt mit Aus­nahme Konstantinopels übertraf.
Arabische Besucher wie der Welt­reisende Ibn Hauqal
bewunderten die Schönheit der Stadt, die zahl­reichen
Moscheen, Paläste, Basarstrassen sowie den Kranz von
Obst­gärten und Parks, der die Hauptstadt umgab.
Inmitten dieser Orangenhaine und Lustschlösser,
die ihm einen ersten Eindruck vom Luxus der arabischen Kultur vermittelt haben werden, schlug Roger
I. im Winter 1071 sein Heerlager auf. Obwohl die
Normannen Palermo schon zu Beginn des darauf
folgenden Jah­res eroberten, verlegte erst die Regentin
Adelaide im ersten Jahrzehnt des 12. Jh. die Hauptstadt hierher. Unter der Monarchia Sicula ent­standen
die grossen Denkmäler des arabisch-normannischen
Stils, die auch heute noch die Hauptattraktion der
an Sehenswürdigkeiten wahrlich nicht armen Stadt
ausmachen.
Im Jahre 1392 wurde Andrea Chiaramonte, der
mächtige Feudal­herr, auf Veranlassung des spanischen
Generals Bernardo Cabrea auf dem Platz vor seinem
Palast öffentlich enthauptet - ein Ereignis, das den
Machtverlust der grossen Adelsherren und das Erstarken der ara­gonesischen Zentralmacht ankündigte.
Palermo zog in der Folgezeit als Sitz des spanischen
Vizekönigs fast den gesamten sizilianischen Adel an,
112
der sich hier seine Paläste erbauen liess, um dem Zentrum der Macht nahe zu sein. Die palermitanische
Metropole jener Zeit bot ein typisches Beispiel für
eine parasitäre Stadt, die jene von den Bauern auf dem
Land erarbeiteten Geldmittel verschlang, ohne selbst
produktiv tätig zu sein. Als Folge der in dieser Zeit
vermehrt einset­zenden Landflucht entstand ein städtisches Proletariat, die Armen­viertel wuchsen. Die
Bevölkerungszahl, die nach dem Ende der stau­fischen
Zeit rapide gesunken war, stieg langsam wieder an.
Daneben erstarkten die Gilden der kleinen Kaufleute
und Handwerker, an deren Spitze jeweils ein Konsul
stand. Ein solcher Reprä­sentant des palermitanischen
Mittelstands, der Goldschmied D‘Alesi, trat bei dem
durch akute Lebensmittelknappheit hervorge­rufenen
Volksaufstand von 1647 als Führer hervor - mit seiner
Hin­richtung brach die Rebellion in sich zusammen.
Schon durch die Stadterweiterungen des 16. Jh. unter den spani­schen Vizekönigen hatte Palermo seine
mittelalterlichen Grenzen überschritten und war bis
ans Meer gewachsen. Im Laufe des 18. Jh. verdoppelte sich die Einwohnerzahl dann auf etwa 200 000.
Die heu­tige Neustadt dehnt sich mit viel baulichem
Wildwuchs in alle Him­melsrichtungen aus. Ihr Mittelpunkt liegt in der Verlängerung der Via Maqueda,
dem Viale della Liberta und Umgebung. In den letzten zwanzig Jahren setzte der Auszug der Bevölkerung
aus der mittler­weile zum Sanierungsgebiet gewordenen Altstadt ein, ein Prozess, der sich in den meisten
Städten am Mittelmeer beobachten lässt.
Die Romanische Kunst in Palermo
in: Romanisches Sizilien / Giovanella Cassata, Gabriella Costantino,
Rodo Santoro. – Würzburg: Echter Verlag, 1988
Die Epoche der Romanik erstreckt sich auf Sizilien
von etwa 1060 bis zum Ende des 12. Jahrhunderts.
Politisch gesehen fällt diese Zeit mit der Bildung des
durch das Geschlecht der Hauteville gegründeten Kö­
nigreiches Sizilien, des ersten grossen italienischen
Einheitsstaates, zusammmen.
Zwischen 1016 und 1091 erobern die normannischen
Ritter Süditalien und Sizilien. Sie kommen zunächst in
unabhängigen Gruppen, be­vor Robert Guiscard und
sein Bruder Roger, »der grosse Graf« aus dem Geschlecht der Hauteville, eine systematische Eroberung
einleiten. Während sich die Herrschaft der Hauteville
in Italien festigt, sind die Folgen des Investiturstreites
zwischen dem Papst und dem römisch-ger­manischen
Reich in ganz Europa spürbar. Das Papsttum stützt
sich schliesslich auf die Hauteville, bestätigt deren
Eroberungen und räumt ihnen die Prärogative päpstlicher Legaten ein2, um sich so für den Not­fall einen
bewaffneten Schutz zu sichern. Nach einer Zeit des
guten Einvernehmens stellt sich jedoch heraus, dass
die Ziele beider Parteien im Bereich der internationalen Politik allzu deutlich voneinander abwei­chen.
Folglich verschlechtern sich die Beziehungen zwischen dem zu­künftigen Königreich Sizilien und dem
Päpstlichen Stuhl zusehends. Zu Beginn ihres sizilianischen Abenteuers beschränken sich die Kenntnisse
der Normannen auf das, was für das Kriegshandwerk
von Nutzen ist. Ihre Führer - insbesondere die Hauteville - erkennen jedoch bald, dass sie mit der Unterstützung der römischen Kirche ihre Eroberungen
lega­lisieren können, und versuchen, sich gleichzeitig
die Unterstützung der mächtigen Mönchsorden und
später der‘ kulturell hochstehenden ein­heimischen
Stände im Bereich der Verwaltung zu sichern. Ihre
politi­schen und kulturellen Aktivitäten können sich
also bald sowohl des geistlichen als auch des weltlichen Beistandes erfreuen.
Ersterer gründet sich etwa zu gleichen Teilen auf
lateinische (Bene­diktiner und Augustiner) wie auf
griechische Mönche. Aus ihren Rei­hen gehen jene
Baumeister hervor, die die Leitung der Werkstätten
von Bildhauern und Dekorateuren übernehmen.
Weltliche Unterstützung gewährt das - stark reduzierte - Patriziat Italiens, das sich den neuen Herren
nur widerwillig, angesichts der militärischen Erfolge
der Haute­ville jedoch gezwungenermassen unterworfen hat, verbal jedoch weiter­hin Konstantinopel, der
Hauptstadt des wiedervereinigten römischen Reiches,
die Treue hält. Aus dem Patriziat, das über beträchtlichen Grundbesitz verfügt, kommen auch die Rechtsgelehrten und Notare, auf die sich die neue Regierung
stützt. So entsteht ein sehr heterogenes Amalgam, in
dem das normannische Element die militärische Seite
ver­tritt, während der Erfindungsgeist in der Baukunst
von den Mönchen ausgeht und die Regierungsform
byzantinischen Ursprungs ist.
Vom normannischen Königreich Siziliens oder vom
114
normannischen Sizilien und folglich von der normannischen Kunst Siziliens zu spre­chen, wäre in dieser
Gewichtung irreführend, Denn in Wirklichkeit kann
die Gründung des Königreiches Sizilien nicht als
Schöpfung einer politisch-administrativen Struktur
verstanden werden, die sich aus­drücklich an einem
bereits bestehenden theoretischen Modell norman­
nischen Ursprungs orientiert. Wie alle normannischen Ritter, die als Söldner nach Italien kamen, um
sich hier niederzulassen, waren auch die Hauteville
nicht Träger einer besonderen Staatsidee, die sie etwa
aus ihrer Heimat mitgebracht hätten. Der von ihnen
gegründete Staat verdankt seine Gestalt im wesentlichen den legislativen und juristischen Initiativen der
italienischen Hofbeamten aus dem byzantinischen
Kulturkreis.
Nun geht es darum, aus diesen - gleichwohl für das
gesamte mittel­alterliche Italien typischen - vielfältigen und gegensätzlichen politi­schen, religiösen und
kulturellen Einflüssen diejenigen herauszukristalli­
sieren, die, durch Menschen und Ereignisse begünstigt, schliesslich kul­turdominal1t wurden. Allein
anhand dieser grundlegenden Bausteine lässt sich
die ästhetische Qualität der sizilianischen Romanik
charakteri­sieren und spezifizieren. Dieses Vorgehen
ist um so dringender zu emp­fehlen, als man sich leicht
verliert, wenn man die Kunst des Regnum Si­ciliae zu
beschreiben versucht: So findet man in der Liturgie
die geistige Konzeption eines Bauwerkes, die dessen
Einheitlichkeit begründet, bei­spielsweise mit dessen
Ausschmückung gleichgesetzt, die doch nur ei­nen
Teil des Gebäudes ausmacht. Wir müssen uns also
zunächst den vorherrschenden kulturellen Strömungen zuwenden, die die Physiogno­mie und das Wesen
der sizilianischen Kunst im 11. und 12 . Jahrhundert
grundlegend geprägt haben.
In diesen bei den Jahrhunderten unserer Epoche sind
die Monarchie, die geistlichen Orden und das Patriziat die unbestrittenen Träger der herrschenden Kultur. Zwei Hauptzüge sind zu unterscheiden: der by­
zantinische, getragen durch die griechischen Mönche
und durch jene in der Verwaltung sowie im sozialen
Leben hochstehenden Laien, und der lateinische, der
sich auf die herrschende Dynastie und die italienischen
oder franco-normannischen Benediktinermönche
stützt. Der erstge­nannte Faktor wurde bis in unsere
Zeit hinein unterschätzt und sogar ­im 19. Jahrhundert
- mit arabischen Einflüssen verwechselt, während man
den zweiten einfach als »normannisch« bezeichnete.
So bildete sich der unglückliche Architekturbegriff
»arabisch-normannisch« heraus. Andere Einflüsse
können, selbst wenn sie verschiedentlich sehr bemer­
kenswert sind, nur als »parallele Strömungen« zu
den dominanten Er­scheinungen eingeschätzt werden.
Hierbei handelt es sich insbesondere um fatimidische,
maghrebinische, abbasidische und - weit schwieriger
auszumachen - provenzalische Einflüsse. In diesen
Kulturen muss man, wie gesagt, einen zusätzlichen
Beitrag sehen, der die bestimmenden Faktoren qualitativ ergänzt hat, ohne jedoch in der Kunst deren
Origi­nalität und Einzigartigkeit zu erlangen.
Worin bestand nun die sikulisch-byzantinische Tradition, die der sa­razenischen Eroberung vorausging?
Neben zahlreichen Kirchen mit ty­pisch basilikaler
Anlage, zu denen auch die mehrschiffigen sich seitlich
in Arkaden öffnenden Kirchen gehören (»Pinta« in
Palermo, San Pietro in Syrakus, Santa Foca in Priolo),
sind die interessantesten Gotteshäu­ser diejenigen mit
einem dreiteiligen Chor. Das entscheidende Kennzei­
chen ihres Altarraumes ist der Mittelteil, auf den sich
drei häufig halb­rund ausgebildete Apsiden öffnen
(Chiesa del Salvatorello in Catania, »‘U vagnu« in
Santa Croce Camerina, »La Trigona« in Cittadella
dei Maccari, die Cuba in Santa Teresa bei Syrakus, San
Pancrati in Cava d‘Ispica).
Aus diesem reichen architektonischen Schatz wollen
wir vor allem die Kirchen »‘U vagnu« in Santa Croce Camerina und San Salvatore in Rometta hervorheben, denn sie haben die Architektur der Romanik
stark beeinflusst, insbesondere was die Raumordnung
betrifft. Der be­sondere Reiz von »‘U vagnu« liegt
in der aussergewöhnlichen Vorweg­nahme des aus
dem arabischen Mesopotamien stammenden lwan
(Li­wan), der später auch in der Palastarchitektur der
sizilianischen Monarchie in dem Saal mit den drei
Exedren wieder aufgegriffen wird. Bedeu­tender noch
ist San Salvatore in Rometta. Diese Ortschaft war
der letzte und heldenhaft verteidigte Stützpunkt der
romdioi6, als sich der grösste Teil der Insel bereits seit
fast einem Jahrhundert in den Händen der Sarazenen befand. San Salvatore ist ein kubischer Bau, der
von ei­ner auf einem Tambour aufsitzenden Kuppel
überragt wird. Im Grund­riss besteht die Kirche aus
einem in ein Quadrat eingeschriebenen grie­chischen
Kreuz. Die Eckräume sind kreuzgrat-, die Kreuzarme
dagegen tonnengewölbt. Die gewaltige Kuppelkalotte über dem Zentralraum stützt sich im Innern auf
Pendentifs, während aussen ein achteckiger Tambour
ihren Unterbau bildet. In diesem Bauwerk ist bereits
die ganze Botschaft der »romanischen« Architektur
Siziliens enthalten. Nach den umstürzenden Ereignissen der sarazenischen Invasion war in dieser zentrierten Raumkonzeption sozusagen der Same für Gegenwart und Zukunft gelegt. Zunächst aber unterband
der unsichere Fortbe­stand der christlichen Kirche
unter der moslemischen Herrschaft den Bau neuer
Gotteshäuser.
Etwa zur gleichen Zeit lebt nach dem benediktinischen Vorbild von Montecassino auch der basilikale
Bautypus wieder auf und verbreitet sich sehr rasch im
Süden Italiens, vermittelt durch die Mönche, die nach
und nach mit den normannischen Heeren vordringen. Mit diesem Bau­typus verbinden sich ausserdem
ganz bestimmte Schmuckformen. Wir haben hier also
im hohen Mittelalter eine vollendete Blüte von - im
wahrsten Sinne des Wortes - lateinischen Basiliken
vor uns, während die romanische Formsprache mit
unzähligen unterschiedlichen, den ver­schiedenen
Ländern entsprechenden Ausdrucksweisen herangereift ist. Die Hauptbedeutung der Klöster liegt darin,
dass sich aus den Reihen ihrer Mönche - insbesondere
der fränkischen Benediktiner und Augu­stiner - die
»normannischen« Baumeister rekrutierten. Die
komplexen Techniken der romanischen Architektur,
aus denen unmittelbar die Go­tik hervorgehen sollte,
entwickelten sich in den Benediktinerklöstern Nordfrankreichs, in Cluny, Bernay oder Citeaux. Innerhalb
desselben benediktinischen Zustroms unterscheiden
wir somit völlig verschiedene Stilrichtungen. Dieser Gegensatz kommt auch in der sizilianischen Ar­
chitektur zum Tragen, zunächst in der Rivalität beider
Raumkonzep­tionen im Verlauf der Bauarbeiten am
Dom von Cefalu und später im Triumph der einfachen Raumidee nach dem Vorbild von Montecassino
in der grossartigen Anlage des Doms von Monreale.
Nun sollte man nicht annehmen, dass die soeben beschriebene Viel­falt der romanischen Sakralarchitektur
Siziliens ausschliesslich ein Merkmal der Insel sei. Sie
gilt vielmehr für alle Gebiete, die nach und nach unter
sizilianische Herrschaft und Rechtsprechung gestellt
wur­den.Kalabrien allerdings ist mit der Entwicklung
der mittelalterlichen Architektur auf Sizilien doppelt
verbunden. Der Grund hierfür liegt einerseits in der
Wirksamkeit der Mönche, die nach dem Einfall der
Sa­razenen von Sizilien dorthin geflüchtet waren, und
andererseits in der sehr früh erprobten Durchdringung des lateinischen und des byzantini­schen Grundrisses, wie sie sich in der Neo-Odighitria im Patirion
in Rossano1o oder in den Kirchen Santa Maria in Tridetti, Santa Maria in Terreti, San Giovanni Vecchio
und anderen bereits recht deutlich ab­zeichnet. Ausserdem versuchten die französischen Mönche gerade in
Kalabrien besonders umfassend und kategorisch den
Grundriss der nord­europäischen Kirchen einzuführen. Halten wir also fest, dass die archi­tektonischen
Formen, wie wir sie an lateinischen Kathedralen Siziliens, insbesondere in Catania, Mazara und Cefalu
finden, in Kalabrien ihre
Vorläufer hatten. Schon vor langer Zeit hat man in San
Giovanni Vec­chio in Stilo, in den Bischofskirchen von
Gerace und Mileto und in den Ruinen der sogenannten Kirche Roccella dei Vescovo di Squillace nahe
der Küste von Catanzaro bedeutende Prototypen erkannt, die be­reits das typologische Gemisch und die
formalen Gegensätzlichkeiten aufweisen, die später
für die grossen Bischofssitze Siziliens kennzeich­nend
sein sollten. In Kalabrien lässt sich zudem ein ausgeprägter Gegen­satz feststellen zwischen den Werken
der griechischen Mönche, die ihre kleinen Kirchen
nach dem traditionellen Vorbild der Zentralbauten
der byzantinischen Architektur errichteten (San Marco in Rossano, die „Cattolica« in Stilo, „Ottimati« in
Reggio, die Krypta in Gerace usw.), und den Bauten
der lateinischen Mönche, die sich mit der Leitung der
grossen Bauhütten ihrer Kathedralen auseinanderzusetzen hatten. Aber gerade bei dieser letztgenannten
Gruppe fällt auf, dass häufig, selbst dort, wo er nicht
unerlässlich erscheint und vielfach auch gar nicht
zweckmässig ist, der dreiapsidiale byzantinische Altarraum übernom­men wurde.
115
Der Barock in Palermo
in: Sizilianischer Barock / Anthony Blunt; übers. von Erika Schindel,
Frankfurt a. M.: Ariel 1972
Während des 17. und 18. Jahrhunderts konzentrierten
sich aller Reichtum und alle Macht Sizi­liens bei der
landbesitzenden Aristokratie, doch änderte sich ihre
Situation während dieser Periode grundlegend. Unter
den frühen spanischen Vizekönigen lebte der Adel
noch haupt­sächlich auf dem Lande, aus dem er seine
Einkünfte bezog und das er in den meisten Fällen mit
Tatkraft und Umsicht bewirtschaftete. In der letzten
Phase der spanischen Herrschaft übte jedoch der Hof
des Vizekönigs in Palermo eine immer stärkere Anziehungskraft auf die Adli­gen aus, und so bildeten sie
sich allmählich zu Grundherren heraus, die das ganze
Jahr über ab­wesend waren. Die Folgen dieser Veränderung waren für die Bauern, aber ebenso auch für den
Adel, verheerend. Die adligen Herren übergaben ihre
Güter Verwaltern, deren einziges Inter­esse darin bestand, möglichst viel Geld aus den Bauern herauszupressen, was zu einem katastro­phalen Niedergang der
Landwirtschaft und zu völliger Verarmung des Bauernstands führte. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts
waren die meisten Adligen stark verschuldet, weil sie
die hohen Kosten für ihr repräsentatives Auftreten bei
Hof aus Hypotheken bestreiten mussten, die sie auf
ihre Güter aufgenommen hatten.
Diese Lage der Dinge war im 18. Jahrhundert auch für
das übrige Europa nicht ungewöhn­lich, doch nahm sie
in Sizilien besonders unerträgliche Formen an, weil
hier das Feudalsystem ohne das Gegengewicht einer
aufsteigenden Bürgerschicht unbeschränkt herrschte.
Sich in irgendeiner Weise in Handel und Gewerbe
zu betätigen, galt als Verstoss gegen die adlige Würde, und jeder Bürger, der zu Geld gekommen war,
hatte nur den einen Wunsch, sich ein Landgut und
einen Titel zu kaufen, um so schnell und unauffällig
wie möglich in die Aristokratie aufzusteigen. Die
Vizekönige machten sich diese Titelsucht alsbald
zunutze. Der Verkauf von Adelstiteln wurde zu einer
ihrer Haupteinkommensquellen und nahm kaum
vor­stellbare Formen an. Die alten Adligen beteiligten
sich eifrig an diesem Spiel, denn nachdem es so viele
Barone gab, hielten sie es für ihre Pflicht, sich einen
Grafen- oder Herzogstitel zu kau­fen, so dass deren
Zahl ebenfalls ins Ungemessene stieg. Während es im
16. Jahrhundert einen einzigen Fürsten, zwei Herzöge, einen Marchese und einundzwanzig Grafen gab,
zählte man Ende des 18. Jahrhunderts 142 Fürsten,
1500 Herzöge und Barone sowie 788 Marchese.
Vor diesem Hintergrund wachsenden Glanzes und
sich vermindernden Reichtums entstand die Barockarchitektur Palermos. Jeder Adlige brauchte seine
Residenz, in der nicht nur er selbst mit seiner Familie
lebte, sondern auch alle Bediensteten seines Hauses,
die in den Mezzanin­geschossen oder in kleinen Nebengebäuden rund um den Hof des Palazzo untergebracht waren. Die Dimensionen dieser Adelspaläste
116
waren riesig. Die Fassade des Palazzo S. Croce z. B.
(Bild 114) zählt fünfzehn Fensterordnungen, die des
Palazzo Butera beinah doppelt so viele, und der Grösse dieser Gebäude entspricht die Reichhaltigkeit ihres
Fassadenschmucks und ihrer Innendekoration.
Ein weiterer Sozialfaktor war von unmittelbarem
Einfluss auf die barocke Baukunst Siziliens. Um die
Einkünfte der grossen Güter nicht teilen zu müssen,
ermutigte man die jüngeren Söhne, ins Kloster zu gehen, und zwang die Töchter, in ein Stift einzutreten.
Jedes Kloster oder adlige Nonnenstift verlangte für
die Aufnahme von Novizen einen mehr oder weniger
hohen Betrag. Durch diese steten Einnahmen kam es
zu dem enormen Reichtum einzelner Orden in einer
Gesellschaft, die unausweichlich dem finanziellen
Ruin entgegenging. Dies erklärt auch den Aufwand,
mit dem etwa S. Martino delle Scale (Bilder 148, 149,
150) wieder aufgebaut wurde, und die verschwenderische Anwendung von Marmoreinlagen, die für die
sizilischen Kirchen so charakteristisch ist.
Palermos bemerkenswerte Leistungen im 17. Jahrhundert lagen nicht so sehr in einzelnen Bauten als
in der Stadtplanung. Im Jahre 1565 wurde der mittelalterliche Strassenzug, der Pa­lermo vom Hafen im
Osten bis zum Normannenpalast im Westen durchquerte und hinauf nach Monreale führte, verbreitert
und dadurch zur Lebensader der Stadt. Der damalige
Cas­saro trägt heute die Bezeichnung Corso Vittorio
Emmanuele. Im Jahre 1581 wurde er in die­ser Breite
bis ans Meer durchgeführt, wo ein neues Stadttor, die
Porta Felice, als Gegenstück zur Porta Nuova erbaut
wurde. Um 1600 legte man eine grosse Querstrasse
unter dem Namen Strada Nuova, die heutige Via Maqueda, an. Die Kreuzung dieser beiden Strassen wurde durch Abschneiden der Ecken zu einem „Quattro
Canti“ genannten Platz erweitert, der ein Oktogon
mit vier konkaven Seiten darstellt. Diese sind mit vier
Brunnen geschmückt, sicherlich in Nach­ahmung der
Quattro Fontane Papst Sixtus‘ V. Doch während es
das römische Modell bei Brun­nen bewenden liess, ist
in der Piazza Quattro Canti das Dekorationsschema
in dreigeschossigen Palazzi nach oben weitergeführt,
die mit den Figuren der Tugenden und der Herrscher
Sizi­liens besetzt sind. Wegen des engen Raums dieser
Kreuzung wirkt das Ganze etwas enttäu­schend.
Die Kirchen Palermos
Im Laufe des 17. Jahrhunderts wurde eine Reihe von
Kirchen in Palermo erbaut. Die kleineren Kirchen,
die meist geistlichen Bruderschaften gehören, sind im
Grundriss rechteckig und haben flache Ausbuchtungen für die Seitenkapellen. Die grösseren sind in der
Form des lateinischen Kreuzes gebaut und besitzen
Seitenschiffe mit Kapellen. Was die zweite Gruppe
von Kirchen dieses Typs im übrigen Italien unterscheidet, ist, dass ihre Arkaden fast ohne Unterschied
auf Säulen statt auf Pfeilern ruhen. Wahrscheinlich
geht dies auf die lokale Tradition der norman­nischen
Kathedralen zurück. Die eindrucksvollste dieser Kir-
114
148
149
150
chen ist S. Giuseppe dei Teatini, be­gonnen 1612 nach
Entwürfen von Giacomo Besio. Er gehörte selbst dem
Theatinerorden an und soll von Geburt Genuese gewesen sein, verbrachte aber den ‚grössten Teil seines
Lebens im Theatinerkloster von Palermo. In allen Kirchen dieses Typs sind die gewölbten Decken freskiert
und durch breite Bänder von vergoldetem und weissem Stuck gegliedert.
Aus dem 17 . Jahrhundert gibt es eine Anzahl von
Fassaden, die darauf hindeuten, dass die Baumeister
Palermos und des Nordwestens der Insel in dieser Periode unter dem unmittelbaren Einfluss festländischer
Vorbilder standen. Als frühestes sizilisches Beispiel
solcher Bauten er­wähnten wir bereits die Jesuitenkirche in Trapani (Bild 92) von dem Messinesen Natale
Ma­succio aufgrund ihres toskanischen Charakters.
Der Entwurf ist von besonderer Eigenart durch den
starken Kontrast zwischen den strengen, scharfprofilierten, dorischen und jonischen Pila­stern - erstere
durch Paneele gegliedert, letztere kanneliert - und
dem dekorativen Detail, das nicht nur aus Girlanden
und Masken besteht, sondern über den Seitenportalen Grotesken und neben dem Mittelfenster Karyatiden aufweist. Dieselben durch Paneele gegliederten
Pilaster er­scheinen auch an der Fassade von S. Maria
di Monteoliveto in Palermo. Aber hier handelt es
sich um einen Fassadentyp des 16. Jahrhunderts, und
die schwarze Lava, aus denen die Paneele der Pilaster
geschnitten sind, ist von einem Rahmen aus weissem
Stuck umgeben. Den gleichen Materialgegensatz zeigen die kühngeschwungenen schwarzen Voluten mit
ihrem ungewöhnli­chen Dekor aus stukkierten Bändern, die sich aus einem Lorbeergewinde entrollen.
Durch eine gewisse Kühnheit des Entwurfs zeichnet
sich die mit 1662 datierte Fassade von s. Matteo aus:
„ Im Unterschied zu jenen beiden Fassaden besitzt sie
einen dreigegliederten sizilischen Glockenstuhl. Einen solchen Glockenstuhl trägt auch S. Salvatore, ein
Entwurf Paolo Amatos von 1682 (Bild 91). Die Dekoration der bei den Fassaden ist nur wenig verschieden und scheint auf das Vorbild von Kirchenbauten
des Neapolitaners Cosimo Fanzago zurückzugehen.
Doch eine ganz besondere, den beiden Kirchen gemeinsame Schmuckform findet sich nirgends sonst
im Hauptland. Es ist die Rosette im Zentrum der Fassade, wiederum eine normannische Residenz. In der
normannischen Baukunst sind Rosetten die Regel.
Gegen Ende des 17. Jahrhunderts entstanden in Palermo einzelne Kirchen, deren Baumeister offensichtlich mit den zeitgenössischen Bauten Roms vertraut
waren. Der einflussreichste von ihnen war Giacomo
Amato, der die Jahre zwischen 1670 und 1687 in Rom
verbrachte. Dort wirkte er am Umbau der Maddalena
mit, der Kirche des Ordens der Ministri degli Infermi,
dem er angehörte, und hatte Zugang zu dem Studio
Carlo Fontanas. In den Fassaden der Pieta, begonnen
1689, und der Chiesa S. Teresa (um 1686) scheint er
dem Vorbild von Carlo Rainaldis S. Maria in Campitelli gefolgt zu sein, doch ist seine Säulenanordnung
118
lockerer als die des römischen Modells. In keiner
seiner Fassaden hielt er sich überhaupt genau an sein
Vorbild. Die Pieta hat eine Rosette wie S. Matteo und
S. Maria di Monteoliveto, während S. Teresa durch
die Doppelkurve des Giebels über dem Hauptportal und die schmalen Voluten, welche die Laternen
der Seitenkapellen unbedeckt lassen, ungewöhnlich
ist. Die grösseren Barockkir­chen Palermos wie S.
Domenico und die Chiesa Olivella zeigen die mehr
nördliche Form der Fassade mit Doppeltürmen, wie
wir sie schon in der Kathedrale von Noto kennengelernt haben. Im Gegensatz dazu sind die palermischen
Versionen dieser Doppelturmfassade ziemlich durchschnittlich.
Eine wesentlich interessantere Fassadenlösung zeigt
eine Kirche von Giovanni Biagio Amico, einem in
Trapani geborenen Geistlichen (1684-1754). Seiner
Fassade von S. Anna in Palermo (Bild 95) geben die
über Eck gestellten Säulen eine grosse Lebendigkeit
- im Gegensatz zu Vaccarinis Kathedrale in Catania.
S. Anna hätte auch heute noch die starke Dynamik,
wenn nicht das dritte Geschoss, das dem Entwurf
seine eigentliche Spannung verlieh, im Erdbeben von
1823 zerstört worden wäre. Noch wirkungsvoller im
Spiel seiner schmalen, vielfach gebogenen Pa­rallelen
ist die obere Partie der Fassade von S. Lorenzo in Trapani (Bild 94) mit ihren beiden Türmen, die zu dem
fast klassischen Säulenportikus unten in spannungsreichem Gegensatz ste­hen. Sie sei an dieser Stelle erwähnt, da sie vom gleichen Baumeister stammt.
In ihren Kirchengrundrissen bevorzugten die palermischen Baumeister traditionelle Lösun­gen, aber
gelegentlich findet sich auch eine ovale Kirche. Das
früheste Beispiel dafür ist wohl S.Carlo, die Kirche
der Lombarden, deren Bau 1648 beendet war. Sie ist
eine Variante von Vignolas S. Anna dei Palafrenieri
und fast mit Sicherheit das Werk eines festländischen
Baumei­sters, der möglicherweise aus Mailand kam.
Die Kirche S. Salvatore von Paolo Amato ist nach dem
Vorbild von Rainaldis S. Maria di Montesanto erbaut,
aber selbst in ihrem heutigen Zustand - sie wurde nach
ihrer Bombenzerstörung von 1943 als Konzerthaus
sehr geschickt re­stauriert - besitzt sie noch eine Weite
des Innenraums, die ihr Vorbild weit übertrifft. Im 18.
Jahrhundert entwickelten dann verschiedene Baumeister aus Palermo und Umgebung, be­sonders Giovanni
Biagio Amico, für ihre Kirchenentwürfe höchst komplizierte Spielarten des ovalen Grundrisses.
Eine weitere Kirche sei noch erwähnt, nicht zuletzt
deshalb, weil sie gänzlich ausserhalb der sizilischen
Tradition steht. Es ist S. Francesco Saverio, erbaut
von Angelo Italia (1628-1700), einem in Licata bei
Agrigent geborenen Baumeister. Sie erhebt sich auf
dem Grundriss eines griechischen Kreuzes und hat
eine Mittelkuppel, einen halbrunden Chorabschluss
und vier Ka­pellen zwischen den Kreuzesarmen. Die
Kapellen sind sechseckig und gehen durch zwei Ge­
schosse. Im Obergeschoss sind sie durch eine offene
Arkade mit dem Zentralraum verbunden (Bild 93).
91
92
93
94
95
Die Idee der vier Kapellen in den Ecken eines griechischen Kreuzes könnte eine Erinnerung an normannische Kirchenbauten sein, aber dass sie polygonal
sind und sich oben zum Zentralraum öffnen, ist ohne
Beispiel in Sizilien. Vielleicht hat Italia an Guarinis
Kirchenent­würfe gedacht, die er vermutlich kannte.
Doch in der Hochführung der Kapellen ins nächste
Geschoss und ihrer Einbeziehung in den Innenraum
liegt eher eine Vorausnahme der Raum­konzeptionen
Bernardo Vittones, des grossen Nachfolgers Guarinis
in Piemont.
Eine der auffallendsten Eigentümlichkeiten palermischer Kirchen sind ihre kunstvollen Mar­moreinlagen
(Bilder 96-101). Diese Technik wurde bereits im
Zusammenhang mit Messina ge­streift (Bilder 21, 22,
23), kann jedoch wegen der zahlreichen Zerstörungen dort besser in Pa­lermo gewürdigt werden, wo sich
mehrere vollständig mit Marmor verkleidete Kirchen
erhal­ten haben, darunter S. Salvatore, die Casa Professa der Jesuiten, die Immaculata und S. Caterina. Altäre
und Kapellen mit diesem Dekor gibt es darüber hinaus in fast jeder grösseren Die Technik der Marmorinkrustation scheint Anfang des 17. Jahrhunderts in
‚Palermo ein­geführt worden zu sein, doch haben sich
nur wenige Beispiele aus dieser frühen Phase erhalten.
.. Die einheimischen Geschichtsschreiber berichten
zwar von Arbeiten aus den 1620er Jahren in ‚ der Casa
Professa der Jesuiten und der Cappella di S. Rosalia,
aber davon ist nichts mehr vor­handen. Eine Vorstellung von dem Charakter dieser frühen Arbeiten vermittelt das offenbar einzige erhaltene Beispiel dieser
Periode, ein Altar in der Olivella. Seine Umrahmung
trägt die Jahreszahl 1622 und umgibt eine meisterliche Marmoreinlage von kleinen floralen Motiven auf
schwarzem Grund, noch ohne jedes Relief über die
Entwicklung der Marmoreinlagetechnik kann man
einige Aufklärung erhalten durch das Studium von
Grabdenkmälern, für die sie vielfach benutzt wurde
und die ja gewöhn­lich mit Daten versehen sind. Sizilische Grabmale dieses Typs sind im Durchschnitt
später als entsprechende Beispiele in Neapel. Eine
besonders interessante Gruppe von Grabplatten findet man in der Kirche S. Giorgio dei Genovesi, deren
Fussboden davon bedeckt ist. Sie gehören dem frühen
17. und dem 18. Jahrhundert an. Die aus der ersten
Hälfte des 17. stammenden Grab­platten bestehen
ganz aus weissem Marmor und tragen ausser einer
eingetieften Inschrift und einem Wappen gewöhnlich
eine dekorative Umrahmung in Flachrelief. Um die
Jahrhundert­mitte erscheinen dann schmale Streifen
aus farbigem Marmor in den dekorativen Partien der
Grabplatte, und etwas später sind die farbigen Marmorstreifen mit Blumen und Blattmustern in Weiss
eingelegt. Ungefähr zur gleichen Zeit werden die
Wappenfarben in Marmortönen wie­dergegeben. Bei
den in den Boden eingelegten Grabplatten führte die
Abnutzung allmählich zum Verschwinden des Reliefs, und zwar um so eher, je vielseitiger die Einlagen
waren. Da jedoch bei Wandgrabmalen die Flachheit
120
des Reliefs kein Vorzug war, geht hier die Tendenz auf
stärkeren Reliefschnitt, sowohl in dem weissen Grund
als auch in den farbigen Einlagen.
Um die Mitte des Jahrhunderts hatte sich diese Technik durchgesetzt und wurde in grösse­rem Rahmen
zur Dekoration ganzer Wände oder Kapellen benutzt. Sehr wahrscheinlich sind zumindest Teile der
heutigen Dekoration des Chors der Immaculata (Bild
97) zwischen 1625 und 1651 ausgeführt, und mit der
Ausschmückung der Cappella del Rosario in S. Zita
(Bild 96) wurde im Jahre 1641 begonnen, so dass ihre
Sockeldekoration um 1653 fertig war, während die
oberen Wandpartien später ausgeführt sein mögen
und die Figurengruppen erst dem frühen 18. Jahrhundert angehören.
In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde die
Technik der Marmoreinlagen populä­rer und gleichzeitig kunstvoller. In der Cappella del Rosario in S.
Francesco, begonnen 1649, aber erst zu Beginn des
18. Jahrhunderts vollendet, und in der Casa Professa,
wo die Marmorauskleidung von Mittelschiff und Kapellen von 1665 bis 1691 dauerte, wurde in stärkerem
Relief und mit grösserer Virtuosität gearbeitet. Dies
gilt in noch höherern Mass für die Cappella deI Crocefisso in der Kathedrale von Monreale.
Die Casa Professa ist das am meisten bewunderte
Beispiel von Marmorinkrustation in Pa­lermo. Leider
erlitt sie schwere Bombenschäden, und trotz ihrer
hervorragenden Restaurierung ist die Gesamtwirkung
heute stark beeinträchtigt durch die rnodernen Fresken, welche die 1943., zerstörten ersetzten und durch
ihre lebhaften Farben den zarten Tonabstufungen der
Marrnoreinlagen Abtrag tun. Von der einzigartigen
Wirkung einer solchen Dekoration verrnittelt die
kleine Kirche der Immaculata in der Nähe der Porta
Carini (Bild 97) einen ungleich besseren Ein­druck,
vor allem aber S. Caterina an der Piazza Pretoria (Bilder 98, 99, 101), beide im frühen 18. Jahrhundert mit
Marmor verkleidet.
Der Grundriss von S. Caterina ist der eines lateinischen Kreuzes mit flachen Querschiff­armen, einem
Chor aus zwei Jochen und drei Kapellen an jeder Seite
des Schiffs. Die Wände des Mittelschiffs sind durch
korinthische Pilaster gegliedert, welche die Kapelleneingänge flan­kieren und ein Gesims tragen, das ungebrochen rund um das Kircheninnere läuft. Über dem
Eingang befindet sich die Nonnenempore. Sie ist von
zwei gedrehten Säulen aus rotem Mar­mor getragen
und durch ein vergoldetes schmiedeeisernes Gitter
abgeschlossen. Von der Em­pore aus zieht sich rund
um das Innere eine Galerie. Sie verläuft oberhalb der
Bögen der Kapel­leneingänge und anschliessend um
Querschiff und Chor. Meist ist sie hinter die Wand
gelegt und nur ihre schmiedeeisernen Gitter treten etwas unterhalb des Gesimses der Hauptsäulen­ordnung
hervor. Lediglich im linken Querschiffarm wird sie
aussen herumgeführt, und hier ist sie nach allen Seiten vergittert.
Die Pilaster stehen auf hohen Sockeln, die mit Hoch-
20
21
98
22
23
97
99
101
100
96
reliefs in weissem und farbigem Marmor dekoriert
sind. Einige Reliefs illustrieren Szenen aus dem Alten
Testament, andere bestehen in symbolischen oder
heraldischen Motiven, und die übrigen zeigen rein
dekorative Putten und Akanthusblätter (Bild 99). Die
erstaunlichste Darstellung ist eine Szene aus der Jonaslegende. Gezeigt wird der ins Meer geworfene Jonas. Links unten erscheint ein grosser orangefarbener
Walfisch, um den Propheten zu verschlingen. Er selbst
ist in schwach gelblichem Marmor wie­dergegeben.
Rechts über ihm sieht man das im Sturm treibende
Schiff mit gerefften Segeln. Seine Takelage ist durch
wirkliche Drahtstückchen wiedergegeben, die an der
Marmorein­lage befestigt sind, ein Extrembeispiel für
die barocke Praxis, zunächst die Wirklichkeit mit
Hilfe künstlerischer Medien nachzuahmen und dann
plötzlid1 materialechte Einzelteile zu ver­wenden.
Auf den Sockelvorsprüngen stehen allegorische Figuren in Hochrelief aus weissem Marmor, und an den
Pilastern selbst sind Engelsputten angebracht, die
Medaillonporträts der domini­kanischen Heiligen in
Händen halten. Über den Kapellenbögen befinden,
sich Stuckreliefs mit Szenen aus dem Leben der hl.
Katherina, der auch der reich geschmückte Marmoraltar im rech­ten Querschiff geweiht ist. Viele der dekorativen Wandpaneele enthalten Anspielungen auf
das Wirken dieser Heiligen sowie auf den Dominikanerorden, dem die Kirche gehörte. Eine davon zeigt
das Symbol des hl. Dominikus, einen Hund mit einer
brennenden Kerze im Maul. Eine andere ist mit dem
Baum des Lebens geschmückt. Wieder eine andere
gibt den Märtyrertod des
hl. Petrus wieder. Der Heilige hält eine Schriftrolle
mit dem Wort credo in Händen, und über ihm stehen
die Worte firmat et auget. Eine weitere Wandplatte
zeigt einen Rad schlagenden Pfau und die Inschrift
decor et rota, eine Anspielung auf das Rad, auf dem
die hl. Katharina den Märtyrertod erlitt.
Die Reichhaltigkeit und Brillanz dieser Marmoreinlagen ist überwältigend, und doch ist die Gesamtwirkung einheitlich und keineswegs überladen. Die
Hauptlinien der Architektur sind so klar sichtbar
geblieben, ja so deutlich hervorgehoben, dass die
üppige Farbigkeit und fast uferlose Reliefdekoration
ihrer strengen Ordnung unterworfen werden. Hier
haben wir in der Tat sizilisches Barock in einer seiner
typischsten Kunstäusserungen.
Die berühmtesten Bauten des 18. Jahrhunderts in
Palermo, deren Besichtigung zu den Pflichtübungen
des Sizilienreisenden gehört, sind die drei Oratorien mit der Innenausstattung von Giacomo Serpotta (1656-1732). Architektonisch bieten sie nichts
Besonderes. Sie sind nur von simpler Rechteckform
und besitzen einen quadratischen, mit Seitengalerien versehenen Chor. Doch über ihre Wände ergiesst
sich eine Flut von einzigartigem Stuckdekor in Form
ornamentalen Rahmenwerks, imitierter Draperien,
Fruchtgehänge, Trophäen, lebensgrosser allegorischer
Figuren, die vor die Wand gesetzt sind oder in Ni122
schen stehen, Putten, die an Brüstungen hängen oder
über Rahmen purzeln, und Relieftafeln mit winzigen
Gestalten, die uns die Legenden der Heiligen vor Augen führen, denen die Oratorien geweiht sind. Nichts
könnte heiterer sein als diese bewegte Dekoration.
Aber die Absicht, die Künstler und Auftraggeber da­
mit verbanden, war ernster Natur, und in jedem Einzelfall erhielt der Bildhauer ein genau vor-‘ geschriebenes ikonographisches Programm, dem er zu folgen
hatte. In S. Lorenzo illustrieren zwei Reihen kleiner
Tafeln die Lebensgeschichten des hl. Laurentius und
des hl. Franziskus, zu deren Ehren das Oratorium erbaut wurde. In S. Zita und dem Oratorio deI Rosario
bilden die Mysterien des Rosenkranzes das Thema
der Dekoration. Ihren Höhepunkt hat sie in S. Zita
im Relief der Rückwand mit der Darstellung des Siegs
von Lepanto gefunden, der durch das Ein greifen der
Rosenkranzmadonna errungen wurde. Stets erhält die
Legende ihre letzte Bestäti­g ung für den Beschauer
durch die allegorischen Figuren der Tugenden, die an
den Hauptpunk­ten der Wände verteilt sind.
In vieler Beziehung bildet das Wirken Serpottas den
Höhepunkt der bildnerischen Tradition Siziliens.
Leider ist aufgrund der geringen Haltbarkeit des
Stucks vieles, was aus dem 17. und 18. Jahrhundert
an solchen Arbeiten existiert hat, zugrunde gegangen, aber es gibt noch genug, um zu zeigen, dass diese
Kunstübung allgemein verbreitet war. Zu den besten
Leistungen gehö­ren die Stukkaturen der Kathedrale
und der Kirche S. Domenico in Castelvetrano (1557
und 1591) von Antonio Ferraro. Beispiele im Stil des
17. Jahrhunderts, die Serpotta gesehen haben könnte, sind die Stuckdekorationen der Chiesa Madre in
Ciminna und in der Kapelle der Annunziata in Castelbuono.
Serpotta folgte auch einer örtlichen Tradition, insbesondere dem Vorbild Gaginis, von dem er bestimmte
Eigenheiten übernommen hat. So ist die Kombination
von lebensgrossen Figuren und Tafeln mit Gruppen
von winzigen, freistehenden Figürchen eine Erfindung Gaginis. Er hat sie in der Dekoration des Chors
der Kathedrale von Palermo angewandt, die aus den
ersten Jahren des 16. Jahrhunderts stammt. Solche
kleinfigurinen Gruppen in dramatischer Aktion kommen öfter vor, etwa an den beiden Weihwasserbecken
des 16. Jahrhunderts in der gleichen Kirche.
Die Forschung ist geteilter Meinung darüber, ob Serpotta seine gesamte Ausbildung in Sizi­lien erhalten
hat. Er kann eine ganze Menge bei seinem Vater gelernt haben, der in ziemlich schwerem Barockstil gute
Arbeiten hinterlassen hat. Doch Serpottas lebensgrosse Darstellungen der Tugenden deuten auf eine
so vollkommene Kenntnis der römischen Barockskulptur, dass trotz fehlender Beweise angenommen
werden darf, dass er in Rom gewesen ist. Wenn er, wie
es wahrscheinlich ist, die Reise als junger Mann von
etwa zwanzig Jahren unternahm, hat er sich kurz vor
Berninis Tod dort aufgehalten, zu einer Zeit also, als
dieser seine grössten Leistungen vollbrachte und seine
Schüler auf die verschiedenste Weise seine Anregungen verarbeiteten. Sol­chen Werken konnte Serpotta
eine Menge über Form- und Bewegungsprobleme
entnehmen, was der Bildhauerkunst seiner Heimatstadt noch unbekannt war. Sicherlich lernte er bei
dieser Gelegenheit auch die Skulpturen des Flamen
Francois Duquesnoy kennen, denn seine verspiel­ten
Engelchen haben nicht wenig mit dessen berühmten
Putten gemein.
Die erste seiner Innendekorationen war ein Auftrag
der Dominikaner für das zu S. Zita gehö­rende Oratorio deI Rosario (Bilder 102 und 103). Zahlungen an
Serpotta sind von 1687 bis 1717 urkundlich belegt.
Als letztes wurde überraschenderweise das Sanktuarium stuckiert. Die lan­gen Wände sind in ungewöhnlicher Manier dekoriert, so als ob Serpotta sich die
Fenster des Pa­lazzo Biscari in Catania (vgl. Bild 25)
zum Vorbild genommen und sie ins Innere versetzt
hätte. Ebenso erinnern die von Atlanten flankierten
Türen an Aussen architektur , wenn auch in die­sem
Fall die Vorbilder eher an genuesischen Adelspalästen
zu suchen sind. Die Gesamtwirkung ist trotzdem sehr
harmonisch. Selbst das Gemälde über dem Hochaltar,
das 1702 bei Carlo Maratta in Auftrag gegeben wurde,
passt in seiner Gefühlshaltung und seinen lichten Farben zu Serpottas Innendekoration, wenn es auch nach
künstlerischer Qualität an die Caravaggios oder van
Dycks in anderen Oratorien nicht heranreicht.
Als Hauptleistung dieses Oratoriums ist jedoch die
Dekoration der Rückwand zu betrach­ten (Bild 102),
deren Mitte ein Relief mit dem Sieg von Lepanto
einnimmt. Die gesamte Wand­fläche bedeckt ein von
Putten getragener Stuckvorhang, in den gerahmte
Tafeln mit kleinen, fast wie von Wachsmodellen abgedrückten Figurengruppen eingelassen sind. Gezeigt
werden Szenen, die mit dem letzten Stadium der
Mysterien des Rosenkranzes zusammenhängen, die
Auferstehung und Himmelfahrt Christi auf der einen
Seite, das Pfingstwunder und die Him­melfahrt Maria
auf der anderen, in der Mitte die Marienkrönung über
der Darstellung der Rosenkranzmadonna. Selbst die
virtuosen Stukkateure des bayrischen Barocks haben
kein Werk von grösserer Meisterschaft und so zauberhafter Phantasie geschaffen.
Das Oratorium S. Lorenzo (1706-1708) ist kleiner
und von geringerer Dynamik. Seine Wände sind
durch korinthische Pilaster gegliedert und die Fenster
von schlichterem Dekor um­geben. Zwischen sie fügte
Serpotta die kleinen Figurentafeln ein, die er schon
in S. Zita verwen­det hatte. Auch die Rückwand hat
eine bescheidenere Dekoration. Sie besteht aus einer Tafel mit dem Martyrium des hl. Laurentius, der
merkwürdigerweise ein Stich nach Le Sueur zugrunde
liegt; man könnte meinen, dass der Klassizismus dieses Malers eigentlich den Idealen eines Ser­potta nicht
entsprochen haben müsste.
Das letzte der drei Oratorien, das zur Kirche S. Domenico gehörige Oratorio del Rosario (1720), stellte
Serpotta vor eine ganz andere Aufgabe. Nicht nur
war der Bau schon beendet, als er den Auftrag für die
Innendekoration erhielt, sondern die Gemälde zum
Thema der Mysterien des Rosenkranzes waren bereits
an Ort und Stelle. Seine Tätigkeit bestand nur darin,
die Innenausstattung durch eine Anzahl von Statuen
in den Nischen zwischen den Gemälden, durch ovale
Reliefs für die oberen Wandpartien und durch den
Stuckdekor der Decke zu ergänzen. Diese sollte durch
stukkierte Bänder für die Fresken vorbereitet werden,
deren Höhepunkt das grosse Altargemälde van Dycks
im Sanktuarium darstellte. Serpotta arbeitete auch in
diesem Fall mit unerreichter Meisterschaft, aber ob ein
so harmonischer Gesamteindruck entstanden ist wie
in den beiden anderen Oratorien, bleibt eine offene
Frage. Die Seicento-Malereien, die nach der Malweise
ihrer Zeit schon von Anfang an in gedämpften Farben
gehalten waren, sind im Laufe der Zeit nachgedunkelt, und so beeinträchtigen sie den lichten Charakter
des in Gold und Weiss stukkierten Innenraums.
Verglichen mit den beiden ersten Oratorien Serpottas
hat das Oratorio del Rosario von Domenico eine grössere Leichtigkeit des Dekors, die dem Geist des frühen
Rokoko verwandt ist. Noch ausgeprägter ist dies beim
Oratorium von S. Caterina, das sich an die Kirche S.
Oli­vella anschliesst (Bild 106) und um die gleiche
Zeit (1722) von Giacomo Serpottas Sohn Proco­pio
ausgeschmückt wurde. Hier gibt es keine Gemälde
mehr; auch die kleinfigurigen Tafeln sind verschwunden, und selbst der lebensgrosse Skulpturenschmuck
spielt kaum noch eine Rolle. Die Gesamtwirkung beruht auf einer meisterlichen Anwendung von lichtem,
mit Gold durchsetz­tem Stuckdekor an den Wandund Deckenflächen eines Raums, der durch Fenster
an beiden Längswänden sowie durch die Lichtöffnungen des Sanktuariums und der westlichen Galerie von
Helligkeit durchflutet ist.
Von besonderem Reiz in allen diesen Oratorien ist die
Schönheit ihrer Möbelausstattung. Da, sie nur für die
Mitglieder einer Bruderschaft errichtet waren, bedurften sie keiner umfangrei­chen Bestuhlung. Längs der
Wände hatten sie für die begrenzte Teilnehmerzahl
oder Zeremo­nien lediglich Bänke mit noch reicherem
Dekor, als ihn die Oratorien selbst aufwiesen. Meist
wa­ren die Bänke kunstvoll aus Mahagoni geschnitzt
und hatten phantasievolle Einlagen aus Perl­mutt. In S.
Lorenzo sind sie abwechselnd mit Rosen (Bild 112),
den Attributen der Rosen­kranzmadonna, eingelegt
und mit einem eine Schlange tötenden Adler, dem traditionellen Sym­bol des Guten über das Böse. Im Oratorium von S. Caterina steht vor der Abschlusswand
eine geschnitzte Ehrenbank (Bild 107), die dem Regenten der Bruderschaft vorbehalten war und meisterhaft gemalte Grotesken auf Goldgrund zeigt. Im
Oratorio di S. Lorenzo haben die geschnitzten Bankkonsolen die Form von Figuren allegorischen Inhalts
oder rein malerischen Charakters (Bild 113).
Die gleiche Liebe zu guter Handwerksarbeit spricht
aus vielen Details in den Kirchen Palermos, wie sie vor
allem in der Nachbarschaft der Hochaltäre zu finden
123
sind. Die mit Marmorornamenten verzierten Stufen
des Hochaltars von S. Zita (Bild 109), die in pietra
dura eingelegten Antependien vieler Kirchen (Bild
111) und der prachtvolle Marmorfussboden im Sanktuarium von S. Caterina (Bild 110) sind ebenso hervorragende Beispiele meisterlicher Handwerks­kunst
wie die Wandverkleidungen der Kirchen. Besonders
die eingelegten Fussböden des Barocks wirken wie ein
Nachhall mittelalterlicher Tradition und sind nach
Entwurf und Aus­führung unmittelbar aus normannischen Kathedralen übernommen.
Die Adelspaläste Palermos
Die meisten Barockpaläste Palermos folgen dem bereits im späten 16. und im 17. Jahrhundert festliegenden Schema, bei dem ein Arkadenhof das Zentrum
der Anlage bildet. Bei der Weiter­entwicklung dieses
Grundrisses spielte Giacomo Amato eine wichtige
Rolle. Sein 1705 begonnenes Palazzo Cuto ist in zweigeschossigen Arkaden um einen schattigen Innenhof
herum­gebaut, eine Art Brunnenhof, wie er im Palazzo Reale vorkommt. Wenn die Anlage der Treppe
wirklich von ihm herrührt - in ihrer heutigen Form
stammt sie aus einem Umbau des Palazzo von 1760 -,
war sie eine bemerkenswerte Neuerung, da sie nicht
in einer Ecke des Hofs ver­steckt ist, sondern in der
Hauptachse des Palazzo emporführt und im Blickfeld
des Eintreten­den liegt. Dieser dramatische Blickfang
war zu diesem Zeitpunkt etwas ganz Neues, vermut­
lich auch für die Architektur des Hauptlandes.
Der Plan des Palazzo Cattolica (Bild ‚116), ebenfalls
ein Entwurf von Amato, aber erst aus der Zeit um
1720, ist noch origineller. Dem Besucher präsentieren sich zwei Arkadenreihen hintereinander, so dass
er den Eindruck von zwei Höfen hat. In Wirklichkeit
ist nur ein einzi­ger vorhanden; doch besitzt er eine
beträchtliche Tiefe und ist durch eine von Arkaden
getra­gene Brücke in zwei Hälften geteilt, die nicht nur
von ausgesprochen malerischer Wirkung ist, sondern
gleichzeitig in der Höhe des piano nobile eine zweite Verbindung zwischen den beiden langen Seitenflügeln hergestellt. In der Palastarchitektur Neapels
würden sich leicht Analogien zu diesem geschickten
Spiel mit arkadengeschmückten Höfen und Treppen finden, doch stam­men die grossen Meisterwerke
dieser Art von Felice Sanfelice alle aus einer späteren
Periode, und es ist nicht ausgeschlossen, dass Palermo
in diesem Stadium der Entwicklung dem Festland
voraus war.
In späteren Bauten ist die Verbindung mit Neapel
evident, besonders bei dem grossartigsten aller palermischen Treppenaufgänge, dem des Palazzo Bonagia
(Bild 117), der Andrea Giganti, aus Trapani zugeschrieben wird und kurz nach 1760 entstanden ist.
Obwohl der Palazzo durch Bomben weitgehend zerstört wurde, hat sich der Treppenaufgang, wenn auch
beschädigt, er­halten. Leider ist er jetzt dem völligen
Verfall ausgeliefert, da die Behörden nichts zu seiner
Wiederherstellung tun. Genau wie beim Palazzo Cat124
tolica gehen die Seitenflügel sehr weit nach hinten
und bilden einen engen, schmalen Hof. Er ist durch
den Treppenaufgang, der die Terrasse trägt, gehälftet, und diese stellt, genau wie Amatos Arkadenreihe,
im ersten Geschoss eine Verbindung zwischen den
Seitenflügeln her. Man darf also sagen, dass Gigantis
Treppe die Arkadenidee Amatos mit einem anderen
Konstruktionsschema kombiniert, das seinem Ursprung nach rein neapolitanisch ist, nämlich mit dem
von Sanfelice in seinem eigenen Palazzo sowie im
Palazzo del Spagnuolo auf der Piazza dei Vergini und
in vielen anderen Adelspalästen ange­wandten doppelläufigen, offenen Treppenaufgang. Giganti ist jedoch
weit entfernt davon, Sanfelice im Detail nachzuahmen. Die neapolitanischen Treppen pflegten hinter
einer Wand zu liegen, die zwar von Offnungen durchbrochen war, jedoch die Treppenfluchten weitgehend
der Sicht entzog. Im Palazzo Bonagia dagegen ersetzt
der Baumeister die Vorderwand durch eine dreifache von Säulen getragene Öffnung und durchbricht
die rückwärtige Wand durch drei Ar­kaden, so dass
die Treppe den Freiraum des Hofs fortsetzt und ein
Durchbruch zum Garten hinter dem Palazzo geschaffen ist. Auch Sanfelices Treppen führten ursprünglich
in den Gar­ten. Heute sind diese Gärten bebaut und
die Offnungen zugemauert, aber auch vorher besa­ssen
seine Treppenaufgänge nicht die gleiche Transparenz,
wie sie der Palazzo Bonagia aufweist.
Die meisten Treppenaufgänge Sanfelices bestehen aus
Backstein und Stuck, nur im Palazzo Serra di Cassano
konnte er sich in bezug auf Material und Bauformen
grössere Freiheit gön­nen, und von diesem Modell hat
sich Giganti offenbar Anregungen geholt für seine
wirkungs­volle Verwendung verschiedenster Materialien, insbesondere von rauhem schwarzern Tuff für
das achitektonische Gerüst der Treppe und von glattem Marmor für ihren Dekor.
Ein Treppenaufgang von besonderem Einfallsreichtum ist in Palermo eine Seltenheit. Die meisten sind
relativ einfach. Es gibt nur einen einzigen von einer
ausgesprochenen Genialität des Entwurfs, der an neapolitanische Vorbilder erinnert und diese sowie die
Leistungen Sanfeli­ces übertrifft, den Treppenaufgang
des Palazzo Gangi (Bild 118).
Seine architektonische Wirkung ist heute stark herabgemindert durch die Verglasung der Offnungen im
piano nobile, so dass seine ursprüngliche Form als völlig offene Baustruktur nur noch schwer zu würdigen
ist. Den beiden Aufgängen sind zwei Fluchten von je
drei Stufen vor­gelagert, die den Zugang zur Treppe
von der Hofseite her und von der Eingangsseite des
Palazzo an der Piazza S. Cecilia her bilden - von dort
her geht es zunächst durch eine unter der Haupttreppe
liegende Durchfahrt. Die Vortreppen münden in ein
viereckiges Podest, von dem die Aufgänge ausgehen.
Sie führen zu Podesten in Rhombenform und dann in
einer weiteren Flucht zu dem grossen Podest vor den
Repräsentationsräumen im Obergeschoss. Betrachtet
man sich dieses Podest genauer, so stellt man fest, dass
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es aus einem unregelmässigen Zehneck mit vier einspringenden Ecken besteht. Selbst Sanfelice bediente
sich nie derart komplizierter Formen.
Der Baumeister dieses Treppenaufgangs ist unbekannt, und auch das Entstehungsdatum steht nicht
fest. Doch in Anbetracht der Eckigkeit des Entwurfs
und des Klassizismus der Details, vor allem an der
Eingangstür zum piano nobile, ist zu vermuten, dass
der Treppenaufgang genau wie die Fassadendekoration des Palazzo aus ziemlich später Zeit stammt, also
vielleicht von 1770-90, bestimmt aber aus einer späteren Phase wie der Rokokodekor des Ballsaals und des
salone.
Die Hauptfassaden der palermischen Adelspaläste
sind im architektonischen Entwurf verhältnismässig
einfach und zeigen wenig Pilasterschmuck. Gross ist
dagegen der dekorative Reich­tum ihrer Fenster. Sie
sind mit allen Arten von mehrfach profilierten Giebeln gekrönt, die zumeist alle möglichen Reliefs und
Medaillons mit figürlichem Schmuck enthalten. Die
Mittel­achse des Palazzo ist fast immer durch ein eindrucksvolles Portal betont, über dem sich ein Bal­kon
mit gekanteten Seiten und ausladenden schmiedeeisernen Gittern befindet. Diese Anord­nung ähnelt der
von Vaccarini in Catania angewandten, aber ihre Wirkung ist anders.
Die Baumeister Palermos übernehmen selten Vaccarinis Weiterführung der gekanteten Bewegung in den
Einfassungen und Giebeln der Fenster und belassen
diese in der Wandebene. Doch er­reichen sie trotzdem
gleichstarke Effekte, da sie sich der Tatsache bewusst
sind, dass die Länge der Fassaden palermischer Palazzi und die dadurch bedingte vielfache Wiederholung
schmiede­eiserner Balkone äusserst wirkungsvoll ist.
Das auffallendste Beispiel dieser künstlerischen Einsicht ist der Palazzo S. Croce (Bild 114). Hier ist die
Wirkung dadurch erhöht, dass nicht nur der piano
nobile, sondern auch das darunterliegende Mezzaningeschoss Balkone erhalten hat. Bei Adelspalästen
dieser Grössenordnung ist die Fassade oft durch drei
Portale unterbrochen, was die Monotonie der gleichartigen Fensterordnungen im Erdgeschoss erfreulich
belebt.
Viele der grossen Adelspaläste Palermos sind in andere
Hände übergegangen und in Büros oder kleine Wohnungen umgewandelt, so dass ihre Innendekoration
nicht mehr vorhanden ist. Die wenigen Palazzi, die
noch in alter Form erhalten sind, erlauben allerdings,
streng architek­tonisch gesehen, den Schluss, dass das
Innere nicht viel zu bieten hatte. Ihre Baumeister
scheinen nicht an dem Formenreichtum interessiert
gewesen zu sein, um den sich ein Mansart oder Bor­
rormini bemüht hätte. Sie sorgten statt dessen für eine
luxuriöse Innenausstattungaus Seide und Brokat mit
Spiegeln in geschnitzten und vergoldeten Rahmen,
von bemalten Decken mit di-sotto-in-su-Fresken
allegorischen oder mythologischen Inhalts, die von
gemalten Architektur­perspektiven umgeben waren,
von Fussböden aus Majolikafliesen, oft mit geome126
trischen Mustern, oft aber auch zu Fliesentableaus
mit Figurengruppen vereinigt, die zum Inhalt der
Deckengemälde in Beziehung standen. Die repräsentative Folge von barocken Innenräumen enthält der
Palazzo Gagni. Der grosse salone entspricht ganz dem
oben beschriebenen Muster und hat eine ausnehmend
schöne Decke (Bild 131) sowie einen wohlerhaltenen
Majolikafuss­boden, während der nächste Raum, die
Sala degli Specchi (Bilder 119 und 120), mit ihrer
Wand­dekoration und vor allem mit der erstaunlichen
Konstruktion ihrer Decke einzig dasteht. Diese besteht aus einer äusseren, stark gewölbten Schale, die
mit allegorischen Fresken des üblichen barocken Typs
bemalt ist. Doch sind sie nur durch eine Reihe von
öffnungen in der darunter­hängenden Decke sichtbar.
Sie ist flacher gewölbt und bildet eine Art Maske, die
von Augen­löchern durchbrochen ist, eine Decke, deren Konstruktion schwer durchschaubar ist. Die un­
tere Decke scheint auf ganz flachen Bogen - vielleicht
sogar nur Balkenlage - zu ruhen. Sie reicht von einer
Seite des Saals zur anderen und ist durch Stukkierung
zu den wunderbar ge­schwungenen Formen gehöht,
die dann auch um die Ausschnitte herumgeführt
sind, durch die man in die freskierte äussere Wölbung
blickt.
Der Saal empfängt sein Licht durch zwei Reihen von
Fenstern, deren eine auf die Piazza und deren andere
auf eine Terrasse mit einem kleinen hängenden Garten
geht. Zwischen den Fen­stern befinden sich dreigeteilte Spiegel in Rokokorahmen, deren hohe Mittelbekrönung im darüberliegenden Fresko wiederholt ist.
Wenn der Saal für einen Ball benutzt werden sollte,
wurden die Fenster durch Läden verschlossen, die mit
bemalten und vergoldeten Paneelen geschmückt sind,
so dass der gesamte Innenraum von der flimmernden Bewegtheit fragiler Rokokoornamentik erfüllt
scheint. Am Ende des Ballsaals befinden sich zwei
kleine Salons im gleichen Stil, die aber entsprechend
ihrer geringeren Grösse etwas leichter dekoriert sind.
Der Suite dieser Räume mag es an der handwerklichen Sorgfalt und Verfeinerung der Boiserien des
französischen Louis Quinze fehlen. Allein, sie besitzt
eine Heiterkeit und zeugt für eine Phan­tasie, wie sie
ausserhalb Siziliens selten zu finden ist.
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Bagheria
Bagheria, Dacia Maraini
Auszüge aus: Bagheria : eine Kindheit auf Sizilien / Dacia Maraini;
aus dem Ital. von Sabina Kienlechner – München ; Zürich : Piper,
2002
...»Das heute veraltete Eimer- oder Becherwerk
bestand aus einer Reihe von kleinen, an einem Ket­
tenband befestigten Eimern; das Kettenband be­wegte
sich über ein mechanisches Räderwerk, ent­weder von
einem Arbeitstier gezogen (gewöhnlich von einem
Esel oder Maultier) oder kraft einer hand­betriebenen
Kurbel. Die Eimer schöpften auf diese Weise das Wasser aus den Reservoiren zur Bewässe­rung der Felder«,
lese ich in Oreste Girgentis Buch über Bagheria, dem
einzigen, das die vollständige Geschichte des Städtchens aufzeichnet. Ein ehrenwerter Mann, dieser Girgenti, peinlich genau in seinen Ausführungen; und offenbar liebt er seinen Heimatort sehr. Auch wenn man
hinter sei­nen akkuraten Forschungen die grosse Sorge
ver­spürt, nur ja keinen der Honoratioren des Örtchens
zu beleidigen, etwa den Bürgermeister, die Prälaten
oder die Adeligen oder die »hervorragenden Lehr­
kräfte«. Ein sehr ordentliches, vertrauenerwecken­des
Buch, den »Autoritäten« absolut hörig.
Als Erscheinungsdatum wird das Jahr 1985 ange­
geben, aber ich nehme an, dass es sich um eine Wie­
derauflage handelt, denn das Buch wirkt, als sei es aus
einer Schublade des 19. Jahrhunderts hervorge­zogen
worden. Auch die Photographien in ihrem schlichten
Schwarzweiss sehen aus, als seien sie um die Jahrhundertwende entstanden; sie zeigen ein Bagheria, das es
nicht mehr gibt, ergreifend, wie man die Schülerschaft
des Manzoni-Konvikts auf­gereiht sieht, oder die aus
der Ferne aufgenomme­nen Teilansichten der Villen
inmitten von Oliven­bäumen, die bereits vor mindestens einem halben Jahrhundert abgeholzt worden
sind.
Mit keinem Laut verrät der ehrenwerte Herr Gir­genti
uns etwas über die mutwillige Zerstörung der Villen
von Bagheria, die er doch liebt und bewun­dert.
»Es begann mit einer Enteignung seitens der Ge­
meinde Bagheria um die Mitte der fünfziger Jahre«,
schreibt Francesco Alliata, einer der wenigen unter
meinen Verwandten (nebst meiner jungen Nichte
Vittoria), die ein soziales Gewissen bewiesen haben.
»Meine Tante Caterina und mein Bruder Giuseppe
konnten die Gemeinde einfach nicht dazu überre­den,
ein anderes Gelände für ihre Zwecke zu benutzen.«
Als Vorwand diente der Plan zum Bau eines neu­en
Schulgebäudes. Es handelte sich aber ganz gewiss um
einen Vorwand, denn man hätte die Schule sehr gut
auch ein wenig weiter rechts oder links erbauen können; das Privatgelände um die Villa Valguarnera aber
reizte die Bauspekulanten, denn es lag im Zen­trum
Bagherias. Eine der wertvollen »grünen Lun­gen«,
ein vor dreihundert Jahren entstandenes, von den
damaligen Gärtnern liebevoll entworfenes Ge­lände
wurde auf diese Weise brutal »gesäubert« und seiner
jahrhundertealten Bäume, seiner Brunnen, Gartenwe-
ge, Statuen und Sandsteinbalustraden be­raubt und ist
einem scheusslichen Schulgebäude ge­wichen, das aus
keinem ersichtlichen Grunde an eben diesem Platz erbaut werden musste.
Aber das war nur der erste Schritt, der scheinbar einem gemeinnützigen Interesse dienen sollte - wer will
sich schon dem Bau einer öffentlichen Schule widersetzen? -, dem alsbald die Erbauung der Mietskasernen und Einfamilienhäuser folgte.
Dass genaue Bebauungsgesetze zum Schutz der Landschaft, der Baudenkmäler und öffentlichen Grünanlagen existieren, kümmerte keinen. Bald nach der Enteignung wurde eine Strasse gebaut, dann noch eine
Strasse, noch breiter als die erste, ge­folgt von einer
wilden Parzellierung des Geländes.
Erst 1965, nachdem das Desaster bereits vollkom­men
war, wurde eine Untersuchungskommission aus Palermo eingesetzt, die nach Monaten eingehen­der Nachforschungen eine Liste von wahrlich be­ängstigenden,
alarmierenden Machenschaften er­stellte. Darauf
wurden all jene mit vollem Namen genannt, die an
der Zerstörung der beiden grünen Lungen Bagherias
beteiligt gewesen waren, um die­jenigen zu begünstigen, die man in Rom »palazzi­nari« (Bauspekulanten) nennt und die sich der teils unverhohlenen, teils
anbiedernden, versteckten Un­terstützung der lokalen
Verwaltungspolitiker er­freuen: der Bürgermeister,
Stadträte, Notare, Tech­niker und vieler anderer.
»Die Gemeindeverwaltung«, schreibt Rosario La
Duca, einer der aufmerksamsten Beobachter der si­
zilianischen Verhältnisse, »hat absichtlich die recht­
lichen Vorschriften ausser acht gelassen, die rechtzei­tig
erlassen worden waren; sie hat die private Speku­lation
begünstigt, sie hat uns ein eklatantes Beispiel von
Korruption und politischer Sittenlosigkeit ge­liefert ...
Nach Villa Butera geht die massakerhafte Stadtzerstörung von Bagheria gnadenlos weiter ... Die Verwaltung
ist hier und jetzt, mit diesem Be­richt, aufgerufen, sich
vor der Justizbehörde für die schweren Vergehen zu
verantworten, deren sie durch die Nachforschungen
einer gewissenhaften und wachsamen Kommission
bezichtigt wird. «
Der eine oder andere hat Francesco Alliata be­
schuldigt, zusammen mit seiner Tante und seiner
Cousine Marianna Alliata beim Ausverkauf der »grünen Lunge« mitgemischt zu haben. »Aber selbst
wenn meine Verwandten sich schuldig ge­macht haben sollten«, antwortete er weise »so wäre es doch
Aufgabe einer ernsthaften, verantwortungs­bewussten
Gemeindeverwaltung gewesen, in ihrer Funktion als
Bewahrerin der vom Staat erlassenen, bindenden Gesetze einzuschreiten und dies zu ver­hindern.«
Dank meiner Freundschaft mit Professor Antonio
Morreale, eine der ehrenwertesten, liebenswürdig­sten
und intelligentesten Persönlichkeiten Bagherias und
ein leidenschaftlicher Erforscher der siziliani­schen
Geschichte, sind die Forschungsergebnisse der Untersuchungskommission des »Assessorato ai Lavori
129
Pubblici del Comune di Bagheria« (Amt für Öffentliche Arbeiten der Gemeinde Bagheria) aus dem Jahre
1965 in meine Hände gelangt.
Beim Lesen dieser Blätter wird man sprachlos vor
der unverschämten Arroganz, mit der die Gemein­
deverwalter ihre skrupellosen Aktionen in Gang setzten, offenbar in völliger Sicherheit darüber, straffrei
auszugehen.
»Die grösste Manipulation an den gesetzlich ge­
schützten Geländen von Bagheria geschah im Juli
des Jahres 1963«, schreiben die Untersuchungskom­
missare. Ein paar Seiten weiter taucht erstmals der
Name eines Mannes auf, von dem dann noch häufig
die Rede sein wird, nämlich immer dann, wenn von
einem zwielichtigen Vertrag, einem Projekt, einer Parzellierung berichtet wird: ein gewisser Nicolo Giammanco, Ingenieur. Ein obskurer Protagonist, gefährlich und zäh, dem es im Guten und im Bösen gelingt,
überall seinen Willen durchzusetzen. Er hat etwas von
einem Dämon, einem schäbigen Dämon, der sehr an
die korrupte, unselige Gestalt des Solo­g ub erinnert.
Gemeinderäte und Bürgermeister werden ver­hört,
aber keiner weiss etwas, keiner kann sich erin­nern. Einige weigern sich sogar, zum Verhör zu erscheinen. Sie
verbarrikadieren sich in ihren Häu­sern, sind angeblich
krank oder »verreist«.
Einer der Gemeindesekretäre erklärt frank und frei,
»sich nicht erinnern zu können, je an einer Aus­
schusssitzung teilgenommen zu haben, bei der man
über den Preis des Schulgeländes oder über die Erweiterung des Baugeländes über die vom gesetz­lichen
Bauplan festgelegten Grenzen hinaus disku­tiert hätte.
Und er fügt hinzu, dass über solches mög­licherweise
erst geredet worden ist, nachdem die regulär festgesetzten Tagesordnungspunkte durch­gesprochen waren und er sich folglich bereits aus dem Sitzungssaal
entfernt hatte.«
Aber wohin ist er denn gegangen? In den Korridor,
um »eine Zigarette zu rauchen«? Oder hat er sich
ins Klosett eingeschlossen, um abzuwarten, bis der
Plan zurechtfrisiert und von den Gemeinderäten
abgesegnet wäre, oder ist er einfach nach Hause ge­
gangen? Darüber steht nichts im Bericht der Unter­
suchungskommission.
»Die Sache kam recht häufig vor«, erklärt der Ge­
meindesekretär, »und ich erinnere mich, dass jedes­
mal, wenn der Ausschuss über Themen der Öffent­
lichen Arbeiten diskutierte, ein Funktionär des Technischen Büros hinzugerufen wurde; dieser Funktionär
war fast immer Ingenieur Giammanco.«
Auch der Bürgermeister wird befragt, aber er sagt, er
wüsste gar nichts. Alle fallen aus den Wol­ken, fast als
hätte der Ausschuss nur aus leeren Köp­fen bestanden,
deren Hirne draussen vor der Tür ab­gelegt worden
waren.
Im Bericht der Kommission sind Fakten enthal­ten, die
ans Groteske grenzen und einen zum Lachen bringen
könnten, wenn die daraus entstandenen Folgen nicht
130
so tragisch wären: die Beschädigung und die Verkümmerung der Umgebung, die die Be­wohner Bagherias
hinnehmen mussten, die Zerstö­rung der architektonischen und landschaftlichen Schönheiten und damit
des ganzen Reichtums dieses Ortes.
So etwa erteilt die Gemeinde - um nur ein Beispiel
zu nennen - zu einem gewissen Zeitpunkt der Firma
Barone die Bewilligung, mitten im Bausperrgebietein
Gymnasium zu errichten. Die Firma rodet die alten
Bäume. Sie beginnt zu graben und Zement aufzuhäufen. Nach einigen Monaten aber verkün­det die
Gemeinde, dass die Arbeiten abgebrochen werden
müssten, da man »festgestellt« habe, dass das Gelände gesperrt sei und nicht bebaut wer­den dürfe, weder
für private noch für öffentliche Zwecke.
Die Firma Barone verlangt verständlicherweise Schadenersatz. Die Richter gestehen ihr diesen zu, und die
Gemeinde wird zum Zahlen aufgefordert, denn »obwohl sie den obengenannten gesetzlichen Bauschutz
kannte und kennen musste, schloss sie mit der Firma
Barone einen Vertrag ab und musste also damit rechnen, dass die für die Wahrung des Bauschutzes zuständige Behörde einschreiten und konsequenterweise
den Abbruch der bereits begon­nenen Arbeiten und
die Aufhebung des Projekts anordnen würde«.
Aber alle wissen, dass dies nur ein Betriebsunfall ist,
nicht schlimm, und dass man schon einen Weg finden
wird, die richterliche Forderung zu umge­hen. Mit
ein paar Einschüchterungen hier und der Verteilung
von etwas Schmiergeld da können die Arbeiten bald
wieder aufgenommen werden. Mit­ten im gesperrten
Gebiet werden nun ohne Geneh­migung der Aufsichtsbehörde die Fundamente für ein gigantisches
zehnstöckiges Gebäude gelegt. Die Projekte sind von
der Notarkanzlei sowie den Baukommissionen und
Technischen Büros der Ge­meinde ganz regulär bewilligt.
Bei allen Projekten aber hat Ingenieur Giam­manco
seine Hand im Spiel. Die Untersuchungs­kommission
vermerkt sogar: »Aus einer Besichti­g ung an Ort und
Stelle geht hervor, dass ein Teil der Strasse an das
Grundstück des Ingenieurs Nicolo Giammanco angrenzt. «
Derselbe Giammanco ist inzwischen ein Freund der
Prinzessin Alliata geworden, und mit ihr entwirft er
ein weiteres Parzellierungsprojekt »am oberen Ende
der Via Seconda, trotz der von derselben Frau Alliata erlassenen Bausperre, wie der Gemeinde in einem
Brief vom 24. 8. 57 mitgeteilt wurde«.
Die Kommission entdeckt, dass die Bewilligun­gen des
Technischen Büros häufig von Hand ge­schrieben sind,
und zwar von der Hand des Inge­nieurs Giammanco,
und dann von seinem Chef, dem Ingenieur Trovati,
unterzeichnet wurden. Ausserdem sind »alle Akten
unvollständig: die Li­zenzvergaben sind vorschriftswidrig, es fehlt der Stempel der Aufsichtsbehörde, es
fehlt die Hinter­legung beim Rechnungshof der Präfektur für Stahl­betonbau, es fehlen die regulären Sit-
zungen der Baukommission, es fehlen die Abgaben an
die So­zialkasse für Ingenieure und Architekten«.
Alle mit Privatpersonen abgeschlossenen Ver­träge
wurden im Beisein des Notars Di Liberto Di Chiara
aus Bagheria aufgesetzt, jedesmal »assistiert von Ingenieur Nicolo Giammanco, der als »techni­scher Berater« bezeichnet wird«.
Er hatte also die gesamte Spekulation über das ge­
sperrte Gelände unter seine Kontrolle gebracht.
»Einige Parzellen wurden ausserdem von Inge­nieur
Giammanco selbst aufgekauft.«
Vom Bericht der Untersuchungskommission alarmiert, erklärte die Aufsichtsbehörde (wie ist es nur
möglich, dass sie nicht schon früher darauf auf­
merksam geworden ist?), dass sie niemals die Geneh­
migung erteilen würde, das gesperrte Gelände zu
bebauen. Doch es scheint sich niemand um die Er­
klärungen der Aufsichtsbehörde zu kümmern, denn
»die Gemeindeverwaltung bewilligte zu eben dieser
Zeit neue Parzellierungen des Geländes an der Via Seconda und liess zu, dass weitere Mietshäuser im Bausperrgebiet entstanden«.
Kurz, sowohl der Bericht der Untersuchungs­
kommission als auch die Erklärungen der Aufsichts­
behörde sind leere Worte geblieben. Die Bauarbei­
ten gingen ungehindert weiter, die beiden grünen
Lungen Bagherias waren »im Nu verschlungen«. An
ihrer Stelle haben wir nun eine Grundschule, die auf
wüstenhaftern, schlammigem Terrain hochge­zogen
wurde, ein Gymnasium, das niemals zu Ende gebaut
wurde, und dazu eine Ansammlung von Neubauten,
die unter völliger Missachtung der ar­chitektonischen
und städtebaulichen Regeln in die Gegend gesetzt
wurden.
Als endlich der Bericht der Kommission veröf­fentlicht
wurde und die Sache auch in die Zeitungen kam, ging
man nicht etwa daran, die Schuldigen zu bestrafen
und den Schaden - im Rahmen des Mög­lichen - zu beheben; vielmehr wurde alles mit einer Indemnitätserklärung, einer Amnestie, gelöst, die den Spekulanten
nach einem kleinen Bussgeld Straf­freiheit zusicherte.
Genau gesagt: Herr Nicolo Giammanco wurde 1973
von der Beschuldigung, seine Amtspflicht veruntreut
und für private Inter­essen ausgenutzt zu haben, kraft
Amnestie und we­gen mangelnder Beweise freigesprochen; als er 1975 Berufung einlegte, wurde seine
Klage abgewiesen und er selbst dazu verurteilt, die
Gerichtskosten zu tragen.
Auf diese Weise wurden die grossartigen Villen Bagherias, die im 18. Jahrhundert entstanden sind und zu
den wertvollsten Kunstdenkmälern Siziliens gehören,
ihrer Umgebung beraubt; sie stehen nun da, inmitten
des Häusermeers, wie misshandelte und erstarrte Zeugen einer Vergangenheit, die offenbar nicht schnell
genug ausgelöscht werden kann.
Man denke nur an die berühmten grotesken Sand­
stein-Figuren der Villa Palagonia, die so ungewöhn­
lich und originell sind, dass Menschen aus aller Welt
herbeigereist kommen, um sie zu bewundern, zu photographieren, darüber zu schreiben. Aber wäh­rend
diese Meisterwerke des barocken Manierismus sich
einst elegant in den Himmel erhoben, sind sie heute
eingekesselt von hässlichen Häuserfassaden und willkürlich aufeinandergetürmten Wohneinhei­ten.
Ich habe Professor Nino Morreale gefragt, ob die Situation in Bagheria sich inzwischen gebessert habe.
Er antwortete: »Solange sich nicht irgendein Richter
dazu entschliesst, die Verwaltungsakte von Bagheria
bis auf den Grund zu erforschen, und so­lange alles
dem guten Willen der wenigen Bürger überlassen ist,
die sich dieser Mühe unterziehen, ist eine Besserung
kaum möglich. «...
...Wir nähern uns jetzt dem Flügel, in dem Tante Felicita gewohnt hat. Der prachtvolle Gummibaum verliert seine Blätter: sie sind so dick und saftig, dass man
meint, auf Fleischstücke zu treten. Seine Wurzeln haben den Terrassenboden durchbohrt und winden sich
fett und schamlos um die geborstenen Rohre.
Auch hier steht ein Brunnen mit den Resten eines
Nymphäums, das Wasser ist trüb und von Algen
durchwuchert. Wo einst Goldfische schwammen,
sieht man jetzt Stücke der Dachrinne liegen, die der
Wind abgerissen hat.
Die Häuser des neuen Räubernestes Bagheria um­
züngeln bereits die ganze nördliche Gartenseite der
Villa Valguarnera. Wenn es so weitergeht, werden
sie in wenigen Jahren auch den Rest des Besitzes ver­
schlingen und nur die Villa selbst, wie einen Stum­mel
inmitten der Zementhaufen, übriglassen. Und die
Stadt wird eines ihrer kostbarsten architektoni­schen
Denkmäler unwiederbringlich zerstört haben.
Die Gemeinde von Bagheria ist reich, aber die Be­
wahrung ihrer Kunstdenkmäler war bisher die letzte
ihrer Sorgen. Ich weiss nicht, was ich mir eher wün­
schen soll, dass die Villa von einer öffentlichen Insti­
tution oder von der privaten Industrie aufgekauft
wird. In Palermo habe ich gesehen, wie eine öffent­
liche Institution ein Theater aufkaufte, um selbst die
Angelegenheit seiner Wiederinstandsetzung zu »er­
ledigen«, das Theatergebäude wurde abgedeckt, doch
schon nach wenigen Monaten wurden die Ar­beiten
unterbrochen, und nachdem es so offenliegend ein
Jahr lang dem Wind und dem Regen ausge­setzt war,
war die Angelegenheit tatsächlich »erle­digt« und
das Gebäude ruiniert.
Andrerseits hatten meine Verwandten selbst dem
Druck der Schulden nachgegeben und grosse Teile des
Gartens im Stich gelassen, abgegeben und ver­kauft.
Sollte dies das Schicksal unserer phantasma­gorischen
barocken Wurzeln sein? Dass all unser Protest nichts
als ein Kampf gegen Windmühlen ist, nur mit einem
blechernen Schwert in der Hand?
Von jener niederen Tuffsteinmauer aus, die heute von
131
den Mietskasernen der überfüllten Peripherie von
Bagheria bedroht wird, habe ich einst ein gross­artiges
Schauspiel beobachtet, bei dem der Mensch sich mit
der Natur »vermählte«.
Es war in einer Nacht des Jahres 1948 oder 49. Im
Eckzimmer lag eine Frau mit sommersprossigem Gesicht, den Blick traurig nach innen gekehrt; und doch
schien sie von einer wahnsinnigen Freude be­lebt. Sie
erwartete ihr fünfzehntes Kind und hütete brav das
Bett, wie die Ärzte ihr befohlen hatten.
Alle vorangegangenen vierzehn Kinder waren schon
vor der Geburt gestorben. Und jedesmal hat­ten sie ein
Stück von ihrem Körper mitgenommen. Von diesem
Körper, der in regelmässigen Abständen wiederauflebte und freudig und begierig einen wei­teren kleinen
Eindringling ernährte, um ihn dann plötzlich, man
weiss nicht wie und warum, wieder zu verscheuchen,
als würde er ihn verabscheuen.
Ihr Mann, dem die Haare wie ein Turm über dem
Kopf standen und der eine dicke Brille trug, ging im
Zimmer auf und ab, wobei er an einer Zigarette sog,
die er zwischen seinen dicken, fleischigen Fingern
hielt.
In jener Nacht, wenige Jahre nach Kriegsende, standen wir draussen, an die Brüstung jenes Garten­teils
gelehnt, der nicht uns gehörte, und sahen den berühmten Feuerwerken zu, zu denen die Leute von
Ferne, sogar von Cefalu und Misilmeri, nach Ba­gheria
angereist kamen. Es war Sommer. Die Sonne war soeben untergegangen, noch sah man rosa Streifen und
violette Schatten über dem Horizont schweben, die
jedoch in grosser Eile von der aufstei­genden Nacht
verschlungen wurden.
Mit einem Mal erblüht vor uns ein Lilienfeld mit
glitzernden Blütenblättern, die einen Augenblick
lang aufleuchten und sogleich mit einem zischenden
Laut zu Boden fallen und erlöschen. Gleich darauf ein
Knall: bumm, woraufhin eine smaragdgrüne Kuppel
erscheint, die sich in ein silbernes Kirchen­gewölbe
verwandelt, dann in eine Handvoll Rubine, die hoch
aufspritzen und, weisse Rauchfähnchen hinter sich
herziehend, zu Boden sinken.
Das Feuerwerk wurde zu Ehren des heiligen Giu­seppe
veranstaltet, des Schutzpatrons von Bagheria. Ein
Fest, für das die Bagherianer, obwohl sie ständig über
ihre grosse Armut klagten, sich Jahr für Jahr kräftig
zur Ader liessen. Drei Familien von tüchtigen Feuerwerkern wurden fürstlich dafür bezahlt, dass sie alljährlich diesen Wettstreit der Glanzlichter aus­trugen,
dessen einziger Richter das Publikum war.
Inzwischen waren auf der Hauptstrasse tausend bunte
Lämpchen aufgeflammt. Auf hundert kleinen Strassenständen wurden unter roten und silbernen Girlanden die verschiedensten Knabbereien ange­boten:
Kürbiskerne, Sonnenblumenkerne, Hasel­nüsse, Erdnüsse, Kichererbsen, gesalzene und ge­zuckerte Mandeln; und natürlich Eis mit kandierten Früchten,
Meloneneis, gefüllte Törtchen und Schil­lerlocken,
132
Lakritze in Flocken, Zöpfen und Stangen.
Plötzlich aber wird, ohne warnenden Windstoss und
ohne Donner, der Himmel von einem langen Blitz
zerrissen, der seine grossen und kleinen Gold­äste nach
allen Seiten hin ausbreitet.
Das hatte noch niemand gesehen und niemand sich
erträumt: das Spiel der Blitze, das sich über das Spiel
der Feuerwerkskörper legte und sich mit ihm vermischte. Das Produkt der menschlichen Erfin­dung,
das mit der launischen Erfindung der Natur in einen
Wettstreit eintrat. Ein Duell, vor dem wir staunend
erstarrten.
Die Feuerwerksspiele enden mit einer Art Schlussstretta, die in Sizilien die »mascoliata finale«* ge­nannt
wird. Womit ein Erguss von männlicher Überschwenglichkeit gemeint ist, eine Imitation des Koitus, der eine männliche Herausforderung an Himmel
und Erde darstellen soll.
Bumm und bumm und bummtumtumm, die Funken
spritzten und wirbelten, grüne Blumen setz­ten sich
auf rote Sterne, während sich ein zitternder Vorhang
von dünnen, schneefarbenen Regenfäden vor den
Nachthimmel senkte.
Just in diesem Moment setzte, wie von den »Knal­
lern« hervorgerufen, der Donner ein und erschüt­
terte Himmel und Erde. Die Blitze wurden noch
länger, noch heftiger. Wir bekamen es mit der Angst
zu tun unter den Bäumen, in die es jeden Augenblick
einschlagen konnte. Aber wir konnten uns nicht lö­
sen von dem unerwarteten Schauspiel. So blieben wir
und beobachteten den gnadenlosen Kampf bis zum
Ende, in dem die Feuer der Erde die Feuer des Himmels herausforderten. Letzterer blieb schliess­lich Sieger; nachdem es minutenlang geblitzt und gedonnert
hatte, begann plötzlich ein harter, peit­schender Regen
herabzufallen. Tropfen, gross wie Kichererbsen, gingen über den Dächern nieder und überschwemmten
weltuntergangsgleich Strassen und Höfe; Tausende
von abgefallenen Blättern be­gannen zu schwimmen
und zu strudeln und wurden durch das ganze Dorf
getragen...
* Ein sizilianischer Dialektbegriff, zusammengesetzt aus »mes­colata«
(Vermischung) und »maschio« (männlich). A. d. Ü
133
Bagheria
Stadtentwicklung im 20. Jh
1912
1971
1981
Der Barock in Bagheria
Sizilianischer Barock / Anthony Blunt; übers. von Erika Schindel,
Frankfurt a. M.: Ariel 1972
Nachdem sich die sizilische Aristokratie Palermo
zum Wohnsitz erkoren hatte, empfanden ihre Mitglieder das Bedürfnis nach einem Ort, an den sie
sich während der heissen Jahreszeit in villeggiatura
zurückziehen konnten. Infolgedessen entstand ausserhalb der Stadt in einem Gebiet, das im Mittelalter
von den Gärten und Sommerpalästen der normannischen Könige erfüllt, aber im 16. und 17. Jahrhundert
ziemlich verlassen gewesen war, eine Fülle von Villen,
umge­ben von Gärten, Weinbergen, Orangen- und Zitronenhainen. Zwei dieser Villenbezirke lagen dicht
bei Palermo: Mezzo-Monreale, anschliessend an die
nach Monreale hinaufführende Strasse, und die Piana dei Colli, ein Tal zwischen Palermo, Sferracavallo
und Mondello, auf einer Seite von Monte Pellegrino
begrenzt, auf der anderen von den Monti Gallo und
Gibilforno. Zu gleicher Zeit, als diese Gebiete neu bebaut wurden, begann eine dritte Gruppe von Villen
em­porzuwachsen, die zwar an Zahl geringer, aber in
ihren Ausmassen grösser war. Sie konzen­trierte sich
um das Dorf Bagheria, 15 km östlich von Palermo gegenüber den Buchten von Palermo und Solunto, und
war im Norden vom Monte d‘ Aspra beherrscht (vgl.
Karte).
Von den Villen in Mezzo-Monreale ist fast die einzige noch vorhandene die Villa Napoli. Die übrigen
sind der Expansion Palermos nach Westen zum Opfer
gefallen. Doch selbst im heu­tigen Stadium des Verfalls spiegelt dieses eine Bauwerk die idyllische Vergangenheit dieses Ge­biets wider. Es steht im Garten
eines der grössten, von Orangenhainen umgebenen
normanni­schen Paläste, nur ein paar hundert Meter
von der Cubula entfernt. Die Villa selbst umschliesst
Teile des Palasts der Konstanze von Aragon, der im
16. Jahrhundert durch zwei Loggien er­weitert wurde.
Im 18. erhielt sie einen offenen Treppenaufgang von
phantasievoll kurvigem Verlauf.
In der Piana dei Colli und in Bagheria hatten die Villen einen Standort von Dauer gefunden. und viele
der im 18. Jahrhundert errichteten Bauten haben sich
erhalten, wenn auch nicht sel­ten in einem traurigen
Verfallszustand. Soweit sich die Daten zurückverfolgen lassen, sieht es so aus, als ob man in beiden Gebieten mit der Bautätigkeit etwa gleichzeitig begonnen
hätte, das heisst um 1700, und sie bis ans Ende des 18.
Jahrhunderts fortgesetzt hätte. Die Villen der Piana
dei Colli sollen zuerst behandelt werden, da die Villen in Bagheria anspruchsvoller und architektonisch
besser durchgeformt sind. Oft findet man Ideen darin
verwirklicht, die in einfa­cherer Form in den Villen der
Piana dei Colli angedeutet sind.
136
Die Villen der Piana dei Colli
Ehe die Piana dei Colli eine Villengegend wurde, war
sie hauptsächlich ein Obstbaugebiet und wurde auch
zur Jagd benutzt, eine Vergangenheit, die sich noch in
den im 18. Jahrhundert er­bauten Villen spiegelt. Oft
bilden kleine Bauernhäuser oder casene das Kernstück
der Villen, was zu gewissen Unregelmässigkeiten ihres Grundrisses führte, die heute noch sichtbar sind.
Auch die anspruchsvollen Villen zeigen im Äusseren
eine Schlichtheit, die zu ihrer ländlichen Umgebung
ausgezeichnet passt, und die Vegetation der Conca
d‘Ora ist in ihre Höfe einge­drungen, die noch immer
ihrem anfänglichen Zweck dienen, dem Wachsen und
Blühen von Oleandern, Bougainvilleas und anderen
südlichen Pflanzen. Von dem gleichen ländlichen
Charakter ist auch das Innere der Villen durchdrungen. Gelegentlich erscheinen die Götter und Göttinnen des Olymp in den Wandfresken, um die Tugenden ihrer Besitzer zu rühmen, aber weit öfter bestehen
die Decken aus buntbemalten Balken (Bild 132), und
die Wände sind mit Landschaften oder Trophäen geschmückt (Bild 130).
Der Gesamtentwurf dieser Villa war teils durch ihren
Verwendungszweck, teils durch lokale Traditionen
bestimmt. Da sie nur als Sommeraufenthalt gedacht
waren, sind sie den römischen Villen bei Frascati oder
den Villen des genuesischen Adels entlang der ligurischen Küste näher verwandt als den von Palladio für
seine venezianischen Auftraggeber erstellten Villen,
die als Zentrum eines Landguts entworfen waren.
Doch während sich die römischen und genuesischen
Villen frei in die Landschaft öffnen, häufig mit einem
weiten Blick in die Campagna oder über das Meer,
zeigen die Villen der Piana dei Colli und in Bagheria
einen merkwürdig verschlosse­nen Charakter, als ob
die Eigentümer sich nicht von der Gewohnheit befreien könnten, ein Haus zu bauen, das im Notfall gegen
Angriff von aussen zu verteidigen sei. Kaum eine der
Villen steht frei in der Landschaft. Entweder besitzt
sie einen Vorhof mit langen niedrigen Flügeln, oder
sie ist rundum von Verwaltungs- und Stallgebäuden
umgeben. In Bagheria liegen die Villen ge­wöhnlich an
einer langen, schmalen, von Mauern begrenzten Zufahrt, die sie vollends von der Aussenwelt abschliesst.
Die seitlich der Villen oder rundum angrenzenden
Nebengebäude waren meist von Terras­sen bedeckt, die
von grosser praktischer Bedeutung waren, weil man
sich in der Kühle des Abends darauf niederlassen oder
ergehen konnte. In manchen Villen sieht man noch
einzelne Bänke, wie sie in Zwischenräumen innen vor
den Ballustraden standen. Einige waren in Stein gehauen (Bild 133), andere mit Majolikafliesen belegt
wie die Bänke im Kloster S. Chiara in Neapel. Manchmal liegen die Terrassen am Ende des Hauptbaus der
Villa , und man tritt durch französische Fenster aus
den Räumen hinaus. In anderen Fällen sind sie nur
über den obersten Podest der Aussentreppe erreichbar (Bild 126). Oft ziehen sie sich lediglich zu beiden
130
132
133
Seiten des Hofs entlang und sind durch eine Mauer
verbunden, aber manchmal sind sie auch über die Eingangsseite weitergeführt, entweder in gerader Linie
oder in mehrfach gebrochenen Kurven, wodurch sie
dem Villeneingang einen echt barocken Charakter
verleihen (Bild 129 und Figur 9). Gewöhnlich nehmen die seitlichen Terrassen einen geraden Verlauf,
doch in einigen Fällen, wie bei der Villa Mortillara,
sind sie in einer Reihe von Vor- und Rücksprüngen
barock geschwungen.
Die Fassaden der Villen zeigen eine überraschend einfache Gestaltung. Im Höchstfall ist die Hauptfront
nach dem Hof oder Garten durch Pilaster aus goldbraunem Tuff oder aus Stuck von derselben Farbe betont. Oft unterbricht auch nichts die glatte Wandfläche als die Umrahmung der Fenster, die manchmal dekorative Giebel zeigen. Ungeachtet dieser nüchternen
Fassaden besassen die Baumeister gestalterische Phantasie und wirkten diese in einer Besonderheit, näm­lich
im Treppenaufgang, aus. Da die Untergeschosse der
Villen für die Küchen und die Diener­schaft bestimmt
waren - manchmal auch zur Unterbringung einer Kapelle -, war der pianonobile mit den Hauptwohnräumen nur über eine Treppe erreichbar. In den Villen der
Piana dei Colli sind diese Treppen der Fassade vorgelegt. Für die Baumeister war es offenbar eine reiz­volle
Aufgabe, den Aussentreppen möglichst komplizierte
Formen zu geben, und so brachten sie eine erstaunliche Vielfalt von Treppenformen hervor.
Immer sind es Doppeltreppen, die symmetrisch vor
die Mittelachse des Hauses gelegt sind und zwischen
ihren beiden Aufgängen einen Durchlass zum Garten
besitzen. Manche Treppen sind parallel zur Fassade
hochgeführt (Bild 128). Andere umschliessen in geraden Läufen ein Viereck. Bei anderen nehmen sämtliche Fluchten einen kurvigen Verlauf, wobei die obere
und die untere in gleicher Richtung gebogensein können (vgl. Bild 137) oder die obere Treppenflucht die
Richtung wechselt, so dass sich die konvexen Kurven
einander wieder nähern (Bild 122 und Figur 4, S.
153). In der Villa de Simone (Bild 125) sind sämtliche
Treppenfluchten und Podeste von Kurven bestimmt.
Die Treppen steigen in einer vom Hof abgewandten
kon­vexen Kurve auf, so dass der Blick des Besuchers
zunächst auf die Seitenflügel und dann erst auf die
Fassade des Hauses gelenkt wird, wenn er auf den Eingangspodest gelangt ist. Die Villa de Cordova (Bild
126 und Figur 5, S. 153) ist dadurch ungewöhnlich,
dass die Treppe zum Teil von der Terrassenmauer umschlossen ist, und in der Villa Partanna (Bild 127),
die überhaupt eine Sonderstellung unter den übrigen
Villen einnimmt, bilden die Flügelbauten einen Winkel von etwa 120°, in den ein ovaler Treppenaufgang
eingefügt ist.
In gewissen Fällen verkehrt sich die konstruktive
Phantasie in Willkür. Bei der Villa Lampe­dusa beginnt der Besucher seinen Aufstieg unmittelbar neben
der Wand des Seitenflügels, än­dert seine Richtung um
138
1800, so dass er auf einen Podest gelangt, der weiter
vorn als sein Aus­gangspunkt liegt, und wendet sich
dann erst zurück zum Eingang des vorspringenden
Vestibüls. Bei der Villa Castrofilippo (Figur 6, S. 154),
die heute infolge Kriegszerstörung in Trümmern liegt,
ist das gleiche Prinzip in noch komplizierterer Form
angewandt, da die oberen Treppen­fluchten kurvig geführt sind. Beim Treppenaufgang der Villa Malvagna
(Bild 124 und Figur 3, S. 153) schliesslich, der sich als
einziger Überrest erhalten hat, beginnt der Aufstieg
fast unter der Eingangstür des piano nobile, wendet
sich in Form einer Wendeltreppe in die Gegenrich­
tung und endet dann oben genau über dem Ausgangspunkt.
Die Herkunft dieser Treppenaufgänge ist schwer festzustellen, doch gibt es ähnliche Aussen­treppen auf
dem italienischen Festland und in anderen europäischen Ländern. In erstaunlich wenigen Fällen sind
solche Aufgänge aber an Villen zu· finden. Man darf
ruhig sagen, dass ausserhalb Siziliens Aussentreppen
an Villen: nicht das übliche sind. In Frascati zum
Beispiel be­finden sich die Wohnräume ausnahmslos
im Erdgeschoss, während es in den Villen rund um
Genua, wo der piano nobile wiederum das wichtigste
Geschoss ist, die Baumeister vorzogen, die Treppen in
das Gebäude selbst zu verlegen. Palladio verwendet gelegentlich in seinen Villen Aussentreppen, doch wenn
er dies tut, so nur in einfachster Form, ganz unähnlich
den dekorati­ven Treppenaufgängen in Sizilien.
Der Treppentyp mit zwei kurvig verlaufenden Fluchten, wie er sich in der Villa Spina findet (Bild 121),
lässt sich bis auf toskanische Vorbilder des 16. Jahrhunderts zurückverfolgen wie etwa Buontalentis Villa
Pratolina, die Villa Liccioli in Rufina, die das Werk
eines Ammanatischülers war, und die Villa Medici in
Poggio a Caiano, wo der Aufgang in eine breite Terrasse, ähnlich den Terrassen sizilischer Villen, mündet. Der Treppenaufgang mit geraden Fluchten, die
sich in doppeltem Lauf zurückwenden und dann parallel zur Hauptfassade der Villa aufsteigen, ist äusserst
selten, hat jedoch einen berühmten Vorläufer in der
Villa Caprarola.
Das spannungsreiche Spiel von kontrastierenden
Ecken und Kurven, das viele dieser paler­mischen
Treppen charakterisiert, war sicherlich von Guarinis
Beispiel inspiriert, mit dessen Bauweise die sizilischen
Baumeister vertraut waren, teils durch seine Kirchenbauten in Messina, teils durch Kupferstichillustrationen und schliesslich auch durch die Tatsache, dass er
für Vitto­rio Amadeo II., Herzog von Savoyen, tätig
war, der von 1713-18 König von Sizilien wurde, wodurch sich enge Beziehungen zwischen Palermo und
Turin ergaben. Guarinis Villa Govone (Figur 2, S.
153) zeigt eine Aussentreppe aus zwei geraden Fluchten, die sich in scharfem Knick zur Fassade der Villa
zurückwenden. Sein Treppenentwurf für die Villa
Racconigi dagegen steht den Aufgängen sizilischer
Villen noch näher, da hier die Fluchten kurvig verlau-
126
Figur 9
129
136
Figur 10
134
Figur 11
fen, wobei sich die obere in die entgegengesetzte Richtung wendet. Varianten dieses Typs von gegenläufigen, kurvigen Treppenfluchten finden sich ausserdem
in Neapel an den Kirchen des Baumeisters Sanfelice,
etwa an S. Giovanni a Carbonara. Hätte diese Kirche
die ursprünglich geplanten Balustraden erhalten, so
wäre ihr Treppenaufgang den Schöpfungen der Piana
dei Colli in der künstlerischen Absicht sehr ähnlich
gewesen. Die S-förmig gekrümmten Fluchten des
Treppenaufgangs der Villa Malvagna verraten eine gewisse Ähnlichkeit mit Felices einfallsreichem Entwurf
der kleinen Treppe der linken Hofseite seines eigenen
Palazzo in Neapel.
In einem Einzelfall besteht eine merkwürdige Beziehung zu einem französischen Modell. Der Treppenaufgang der Villa de Simone wurde als einziges Beispiel mit nur kurvig verlaufenden Konstruktionselementen genannt, und er ist auch für sizilische Villen
dadurch ungewöhnlich, dass sich seine Balustrade
nicht aus einzelnen Säulen zusammensetzt, sondern
aus durchbro­chenem Gitterwerk besteht, wie es in
Frankreich üblich war. Beide Merkmale finden sich in
der berühmten Hufeisentreppe in der Cour du Cheval Blanc in Fontainebleau, erbaut von Jean du Cerceau. Tatsächlich, wenn man die untere Treppenflucht
der französischen Treppe um 900 drehte, hätte man
fast genau den Aufgang der Villa de Simone, sogar
einschliesslich der Stütz­bogen. Eine solche Verbindung mit einem französischen Modell des frühen 17.
Jahrhunderts mag unwahrscheinlich wirken, aber die
Ähnlichkeit ist zu stark, um nur zufällig zu sein. Die
Treppe von Fontainebleau konnte einem sizilischen
Baumeister aus Stichen von Perelle und anderen französischen Stechern durchaus bekannt sein.
Eines der sonderbarsten Landhäuser der Piana dei
Colli ist die für die Principessa di Par­tanna zwischen
1722 und 1728 erbaute Villa (Bild 127 und Figur 8 ).
Sie hat einen drei­eckigen Grundriss und ist daher ohne
Parallele. Ihre Fassade nach dem Hofe zu ist von zwei
Flügeln flankiert, die im Winkel von 600 vorspringen
und die Treppe in sich einschliessen. Sie scheint von
einem Entwurf Carlo Fontanas für eine Villa im Veneto (Figur 7) inspiriert zu sein. Die Villa selbst wurde
offenbar nie gebaut. Trotzdem scheint der Entwurf
allgemein bekannt gewesen zu sein, denn er wurde
auch von den Baumeistern wie Fischer von Erlach im
Palais Althan in Wien und in einem Pavillon in KIesheim nachgeahmt sowie von Archer in dem Pavillon
von Wrest Park. Dabei ist es typisch, dass die sizilische
Villa als einziges Gebäude die­ser Gruppe eine Aussentreppe besitzt.
Bagheria
Die Geschichte Bagherias ist völlig anders als die der
Piana dei Colli. Bis zur Mitte des 17. Jahr­hunderts
war es nichts als ein von fruchtbarem Ackerland umgebenes Dorf. Aber im Jahre 1658 wählte Giuseppe
Branciforti, Principe de Butera, der sich nach vielen
140
Amtsjahren als Minister des Vizekönigs aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen beschlossen hatte,
als Bauplatz für sein Landhaus eine Stelle etwas oberhalb des Dorfes. Eine Zeitlang blieb dies die einzige
Villa, doch Anfang des 18. Jahrhunderts folgten mehrere grosse sizilische Familien seinem Beispiel, und so
entstand rund um das Dorf eine Reihe von Villen. Im
Jahre 1769 entwarf einer der Nach­kommen des Fürsten einen sorgfältig konzipierten Plan, der auf dem
Corso Butera als Hauptachse basierte. Diese Achse
wurde rechtwinklig geschnitten von einer anderen
Strasse, dem heu­tigen Corso Umberto, der von der
Chiesa Madre zu einem Paar schöner Barocktore
führte, die das Ende des ursprünglichen Dorfs anzeigten, und setzte sich bis zu zwei eindrucksvollen Villen,
der Villa Palagonia und der Villa Valguarnera, fort.
Mit dem Bau der Villa Palagonia (Bilder 134 und 136,
Figuren 10 und 11) im Auf­trag von Francesco Gravina, Principe di Palagonia, wurde 1705 begonnen. Seit
dem 18. Jahr­hundert ist sie berühmt für ihre Gruppen
von grotesken, ja monströsen Figuren auf den Gar­
tenmauern des Palazzo (Bild 140), die der Enkel des
Erbauers hinzufügte. Sie schockierten Goethe und
waren das Entzücken der Sitwells. Doch lenkten sie
die Aufmerksamkeit von den architektonischen Qualitäten der Villa ab.
Die Villa Palagonia und die benachbarte Villa Valguarnera (Bilder 135 und 137, Figur 12) wurden nach
Entwürfen von Tommaso Napoli, einem Dominikanermönch, erbaut, von dem wir nahezu nichts wissen, ausser dass er einen Traktat über die Perspektive
geschrieben hat. Die beiden Villen beweisen jedoch,
dass er ein begabter Baumeister war.
Die Villa Valguarnera (begonnen vor 1713 und im
wesentlichen um 1737 beendet) ist das einfachere
und edlere der beiden Bauwerke. Man nähert sich ihr
durch eine lange, von Mauern umschlossene Zufahrt,
die sich zu einem ovalen Hof öffnet, dessen kürzere
Achse zum Hause führt. Der Hof ist von niederen
Stall- und sonstigen landwirtschaftlichen Gebäuden
umgeben, die eine Terrasse tragen. In der Mitte jedes
Flügels befindet sich ein schmiedeeiserner Abgang in
den Park. An den Seiten ist der Park relativ schmal. Er
verbreitert sich jedoch hinter der Villa zu einem Parterre mit einem herrlichen Blick über die Bucht von
Solunto, wie er in Sizilien nicht seinesgleichen hat.
Genau wie bei den Villen der Piani dei Colli ist der
Bau im Äusseren einfach, unterscheidet sich jedoch
von ihnen durch seine konkav eingezogene Fassadenmitte. In diese ist der Treppenaufgang eingefügt. Jede
Treppenhälfte besteht aus zwei durch ein Podest getrennten Fluchten, die gleichlaufend eingekurvt sind,
genau wie die Treppe der Villa Mortil­lara in der Piana
dei Colli. Doch ist die Wirkung hier grosszügiger, weil
die Kurve der oberen Treppenflucht in der konkaven
Wand weitergeführt ist.
Bei der Villa Palagonia sind nur die sie umgebenden
Nebengebäude erhalten. Ursprünglich jedoch bilde-
127
Figur 8
Figur 2
124
Figur 3
Figur 6
121
Figur 7
125
122
128
Figur 4
ten diese den Endpunkt einer langen ummauerten
Zufahrt, auf der weitere groteske Figuren standen. Sie
sind längst dahin, doch kann man sich von dem Anblick des Ganzen durch einen Stich des französischen
Künstlers und Reisenden Jean Houel eine Vorstellung
machen. Er beschreibt zwar sein Entsetzen über die
Villa, fand sie aber doch interessant genug, um sie in
einer Skizze festzuhalten. Das Gebäude selbst ist von
sehr ungewöhnlicher Form. Der Mittel­teil der Vorderfront ist konkav eingezogen und schliesst die Aussentreppe ein, bei des wie bei der Villa Valguarnera.
Doch die rückwärtige Fassade beschreibt eine konvexe Kurve und setzt sich in zwei geraden Flügeln fort.
Dieser Grundriss ermöglicht eine grosse Vielseitigkeit
in der Ge­staltung der Innenräume und bietet auch
für die Aussentreppe einen geeigneten Hintergrund
(Bild 134). Sie besteht ganz aus geraden Fluchten, die
jedoch derart subtile Richtungswechsel vollziehen
und sich dem Blick des Beschauers in so unerwarteten
Schrägen vor den geraden und kurvigen Wänden der
Villa darbieten, dass ihre Wirkung noch reizvoller ist
als bei den Aussen­treppen mit stark kontrastierenden
Kurveneffekten. Das Innere der Villa, das hauptsächlich unter dem Enkel des Erbauers seine Ausstattung
erhielt hat marmorverkleidete Wände sowie spiegelbesetzte Stuckdecken (Bild 141) und war einst mit
aller Art von phantastischen Gegen­ständen ausgefüllt, die das Kuriositäteninteresse seines Bewohners
befriedigten.
Die beiden anderen Villen in Bagheria sind den geschilderten so nahe verwandt, dass man annehmen
kann, auch sie seien von Napoli entworfen. Die Villa
Cattolica (Figur 13) ist ein nahezu kubischer Block,
der an seinen beiden Fronten von halbkreisförmigen
konkaven Einsprüngen unterbrochen ist, deren einer
eine kurvig verlaufende Aussentreppe enthält, ein
Schema, das deutlich an die Villa Valguarnera erinnert. Darüber hinaus ist die Villa Cattolica von einer
Folge niederer Gebäude umgeben, die in ihrem allgemeinen Charakter dem ovalen Vorhof der Villa Valguarnera ähnelt und in ihrem komplizierten Grundriss
dem Entwurf der Villa Palagonia verwandt ist. Der
Plan der Villa Larderia (Bild 138, Figur 14) ist noch
komplizierter. Er enthält einen runden Mittelbau,
von dem in Winkeln von je 1200 drei Flügel­bauten
ausgehen. Vielleicht ist diese Planung von dem bereits
erwähnten Pavillonentwurf Carlo Fontanas abgeleitet. Doch hat Tommaso Napoli dieses Schema mit
einer für ihn typischen Frei­heit und Selbständigkeit
übernommen.
Zu diesen repräsentativen Barockvillen Bagherias
kommen andere, die ebenfalls recht an­sehnlich sind.
Die Villa Rammaca zum Beispiel liegt etwa 2 km von
dem Städtchen entfernt am Hang des Monte d‘ Aspra
und ist durch ihre Einstöckigkeit ungewöhnlich. Man
erreicht sie durch eine lange Zufahrt, die an beiden
Enden mit hübschen Torpfeilern geschmückt ist und
zu einer in Kurven verlaufenden Aussentreppe führt.
142
Auf ihr gelangt der Besu­cher zu einer Terrasse, die an
der ganzen Länge der Villa entlanggeht. Der Anblick
der Oran­gen- und Zitronenhaine, den man von dort
aus geniessen konnte, ehe Bagheria mit seinen Häu­
sern von dieser herrlichen Landschaft Besitz ergriff,
muss bezaubernd gewesen sein.
135
140
141
137
Figur 5
Figur 12
Figur 13
138
Figur 14
CAVE DI CUSA
SELINUNTE
Cave di Cusa und Cave di Barone
in: Die Steinbrüche von Selinunt : die Cave di Cusa und die Cave
di Barone / Deutsches Archäologisches Institut; von Anneliese
Peschlow-Bindokat; mit einem Beitr. von Ulrich Friedrich Hein –
Mainz am Rhein : von Zabern, 1990
In der näheren und ferneren Umgebung von Selinunt
sind bisher fünf antike Steinbruchgebiete bekannt, die
wegen ihrer Lage innerhalb des Territoriums der antiken Stadt als zu Selinunt gehörig anzusehen sind. Das
erste befindet sich am Rande der archaischen Stadt,
an den Hängen der Manuzza im Nordosten und vor
allem im Südwesten. 4 km weiter nördlich folgen
dem alten Gehöft Baglio Cusa die Cave di Barone.
Das dritte Steinbruchgebiet, die nach ihrem ehemaligen Besitzer benannten Rocca oder Cave di Cusa,
erstreckt sich südlich des Städtchens Campobello di
Mazara, etwa 13 km nordwestlich von Selinunt. Fast
ebensoweit enfernt, nur in nordöstlicher Richtung, ist
das vierte, das erst vor zwei Jahren auf einem Höhen
am Westufer des Belice entdeckt wurde. Am weitesten
entfernt sind die Brüche von Misilbes Menfi, die auch
heute noch ausgebeutet werden.
Entsprechend den geologischen Gegebenheiten der
Küstenregion von Selinunt stehen in allen Brüchen
Kalkarenite (»Kalksandsteine«) an, die jedoch in ihrer Beschaffenheit von Bruch zu Bruch Unterschiede
aufweisen. Das an den Bauwerken der antiken Stadt
verwendete Gestein zeigt die gleichen Merkmale, so
daß die Herkunft des Materials der verschiedenen
Bauten aus den einzelnen Brüchen im großen und
ganzen bestimmbar ist. Unverwechselbar ist der feine, hochwertige Kalkarenit der Misilbesibrüche, der
in Selinunt jedoch nicht als gewöhnlicher Baustein,
sondern fast ausschließlich für die Bauskulptur verwendet wurde.
Daneben treten an den Bauwerken der Stadt noch andere Gesteinssorten auf, wie sie im Gelände von der
Akropolis bis hin zu den Cave di Barone anzutreffen
sind. Ihre Variationsbreite reicht von den mergeligen
Kalken des Akropolisfelsens über Schillkalke, Konglomerate und Konglomerathaltige Kalkarenite mit
deutlichen Anteilen von Muschelschalen bis zu den
reinen Kalkareniten der Cave di Barone. Allein schon
wegen seiner Nähe zur Stadt wird dieses Gebiet, solange es für die Bauten verwertbares Gestein bot, als
Steinbruch gedient haben.
Eine Erinnerung an die ehemalige Nutzung lebt heute
noch in den Flurbezeichnungen »Latomie Landaro«
und »Valle Latomie Margio« weiter.
Das beste Baumaterial der Stadt stammt aus den Cave
di Cusa. Es ist ein in sich homogener Kalkarenit aus
gutgerundeten Körnern mittlerer Größe und hoher
Festigkeit. Aufgrund dieser Eigenschaften wurde er
ganz gezielt für die tragenden Teile des größten Tempels der Stadt, des Tem­pels G, verwendet, ebenso am
Tempel C und F. Das Gestein der Cave di Barone
weist demgegen­über größere Schwankungen in der
Kornform und der Korngröße auf, Im Bereich der
kleinen Korngrößen ist es von dem der Cave di Cusa
nicht zu unterscheiden, d. h., Werkstücke mit diesen
Merkmalen können sowohl aus dem einen wie aus
dem anderen Steinbruchgebiet stammen, aber nur, soweit es sich um kleinere Formate handelt. Die Gewinnung größerer Werkstücke wie etwa die der Säulentrommeln oder Architravblöcke des Tempels G wäre
in den Cave di Barone wegen zu geringer Schichtmächtigkeiten und aufgrund der weniger günstigen
Zementierung nicht mög­lich gewesen. Kalkarenit
wie der der Cave di Barone findet sich an Werkstücken der Tempel A, D und E wie auch an den Cella
wänden des Tempels G. Der Kalkarenit der von ihrem
Abbauvolu­men her bescheidenen Manuzzabrüche
war wegen der großen Schwankungen in der Korngröße im Vergleich zu dem der Cave di Cusa und dem der
Cave di Barone ein Baustein minderer Quali­tät. Teile
der Cella mauern des Tempels E und der Befestigungen der Akropolis könnten von hier stammen. Darüber hinaus läßt sich an diesen beiden Anlagen das
gesamte Spektrum des zwischen der Akropolis und
den Cave di Barone vorkommenden Gesteins beobachten. Aus der Tatsache, daß die Stadtmauern nach
der Zerstörung im Jahre 409 v. Chr. aus Werkstücken
der aufgegebe­nen archaischen Stadt und ihres Mauerrings wiedererrichtet wurden, ist ferner zu schließen,
daß man bei der Anlage der alten Stadt vorwiegend
auf das dort unmittelbar bzw, im näheren Umkreis
anstehende Gestein zurückgegriffen hat. Gleiches gilt
offensichtlich auch, nach dem bloßen Au­genschein zu
urteilen, für das Malophorosheiligtum. Der Kalkarenit der Brüche am Belice war wegen seiner geringen
Festigkeit noch weniger für Bauzwecke geeignet als
der der Manuzzabrü­che. Was dieses Steinbruchgebiet
jedoch vor den anderen auszeichnet, ist seine Lage an
einem Flusslauf. Die Werkstücke konnten direkt aus
dem Steinbruch verschifft und auf dem Wasserweg
nach Selinunt transponiert werden, so daß die Probleme des Landtransporres hier entfielen. Werkstücke
mit Gesteinsmerkmalen der Belicebrüche wurden von
uns jedoch nur an dem vor we­nigen Jahren entdeckten
kleinen Tempel südlich des Malophorosheiligrums
beobachtet. Da Ge­stein dieser Qualität aber auch in
der Zone zwischen der Akropolis und den Cave di
Barone vorkommt, ist seine Herkunft aus den Belicebrüchen unwahrscheinlich. Davon abgesehen übertrifft das Abbauvolumen dieser Brüche bei weitem die
für die Errichtung dieses kleinen Tempels benö­tigte
Menge an Gestein, so dass sie für andere, außerhalb
des eigentlichen Stadtgebietes gelegene, bisher nicht
bekannte Bauten ausgebeutet worden sein müssen.
Das Vorkommen dieser unterschiedlichen Kalkarenite an den Bauten der Stadt erlaubt bereits wichtige
Rückschlüsse auf die zeitliche Stellung der Brüche.
Bisher ging man davon aus, daß als erstes die der Stadt
am nächsten und anschließend die weiter entfernt
gelegenen ausgebeutet wur­den, eine Annahme, der
man im Hinblick auf die Transportkosten zunächst
145
uneingeschränkt zustimmen würde. Im Falle von
Selinunt muß jedoch zusätzlich ein weiterer Faktor
berücksichtigt werden, die schwankende Qualität
des Gesteins der Brüche und die daraus resultierende
unter­schiedliche Verwendbarkeit des Stein materials
am Bau, Die geologischen Untersuchungen haben
gezeigt, daß sich Material aus den weit von Selinunt
entfernt gelegenen Cave di Cusa bereits am Tempel C,
dem ältesten Großbau der Stadt, findet. Die Cave di
Cusa waren demnach bereits im zweiten Viertel des
6. Jahrhunderts in Betrieb und gehören damit zu den
ältesten Steinbrüchen der Stadt. Interessant ist ferner
die Feststellung, daß für die Errichtung eines Bauwerks verschiedene Brüche ausgebeutet wurden. Der
Tempel G ist dafür ein besonders markantes Beispiel.
Hier fin­den sich am Stylobat konglomerathaltige
Blöcke, die vom Fuß der Cave di Barone oder dem Ge­
lände südlich davon stammen können. Gleiches trifft
für die Schillkalke zu, einen sehr leichten Baustoff, aus
dem bezeichnenderweise Teile der Cellamauern bestehen. Beide Gesteinsarten kom­men in den Cave di
Cusa nicht vor. Von dort stammen jedoch Säulen, Kapitelle und Gebälk. Die Funktion des Werkstücks am
Bau war bei der Wahl des Bruches ausschlaggebend,
was bei der se­linuntinischen Bauhütte auf eine sehr
gute Kenntnis des örtlichen Gesteins schließen läßt:
man wußte genau, welche Gesteinsqualität für die
unterschiedlichen Belastungen ausgesetzten Archi­
tekturglieder eines Baus erforderlich und in welchem
der Stadt am nächsten gelegenen Bruch sie zu finden
war.
Wegen ihrer Größe und der Qualität ihres Gesteins
waren von den fünf genannten Brüchen nur die Cave
di Cusa und die Cave di Barone für die Bautätigkeit
Selinunts von Belang, Die Manuzzabrüche hatten
diesen beiden gegenüber zwar den Vorteil der unmittelbaren Nähe zur Stadt, können aber allein schon wegen des geringen Umfangs keine große Rolle gespielt
haben. Entschei­dender dürfte unter diesem Gesichtspunkt das als »Latomie Landaro« bezeichnete Gelände zwi­schen der Akropolis und den Cave di Barone gewesen sein, dessen Abbauvolumen jedoch nicht
mehr zu bestimmen ist. Die Brüche bei Menfi und am
Belice fielen hingegen kaum ins Gewicht:
Das Material der Menfibrüche wurde nur für besondere Zwecke benutzt, und bei dem der Belice­brüche
ist es, wie bereits erwähnt, zweifelhaft, ob es überhaupt für die innerstädtischen Bauvorha­ben Selinunts
verwendet wurde.
Die Bedeutung der Cave di Cusa und der Cave
di Barone für Selinunt erkannte bereits der Do­
minikanermönch T. Fazello, dem neben ihrer Wiederentdeckung auch die Identifikation von Seli­nunt
zu verdanken ist. Die erste Stelle gebührt dabei den
Cave di Cusa. Allein schon der Ver­gleich der an bei
den Plätzen gewonnenen Gesteinsmenge mag dies
verdeutlichen: Das Abbauvolu­men der Cave di Cusa
betrug mindestens 145000 m3, das der Cave di Baro146
ne nur ein Drittel davon, nämlich 45000 m3 14.
Die Bedeutung der Cave di Cusa liegt jedoch nicht
allein in ihrer Größe. Weshalb dieses Bruch­gebiet seit
seiner Wiederentdeckung bis zum heutigen Tag zu
einem Anziehungspunkt für Rei­sende aus aller Welt
geworden ist und es auch für die Wissenschaft einen
so großen Wert besitzt, hat andere Gründe. Unter den
selinuntinischen Steinbrüchen sind die Cave di Cusa
die einzigen, die bei ihrem Verlassen noch nicht vollständig ausgebeutet waren. Die Arbeiten waren kurz
vor der Aufgabe des Bruches noch in vollem Gang,
wie an den zahlreichen, hier liegengebliebenen, un­
fertigen Säulentrommeln, rechteckigen Blöcken und
Kapitellen zu sehen ist. Entscheidend ist fer­ner, daß
der Bau bekannt ist, für den diese Werkstücke bestimmt waren, und damit auch die Zeit, in der die
Brüche in Betrieb waren bzw, aufgegeben wurden.
Zu Recht wurden die Cave di Cusa bis in jüngste
Zeit daher als ein Unicum angesehen. Um so unverständlicher muß es erscheinen, daß sie bis heute noch
nicht aufgenommen und genauer untersucht worden
sind. Sieht man ab von den zahlreichen Reisebeschreibungen seit dem 16. Jahrhundert und den mehr oder
weniger ausführlichen Erwähnungen in der archäologischen Literatur, hat sich einzig G. Nenci vor eini­gen
Jahren etwas eingehender mit ihnen befaßt und auf
die wichtigsten Probleme hingewiesen, um die Fachwelt erneut auf diesen bedeutenden Platz aufmerksam
zu machen und um zu einer inten­siveren Beschäftigung mit ihm anzuregen. Unser Beitrag soll eine erste
Antwort darauf sein und Anstoß zu weiterführenden
Diskussionen geben.
Seit dem Erscheinen von Nencis Artikel haben die
Cave di Cusa durch die 1975 entdeckten Marmorbrüche von Milet mit ihren für den Apollontempel von
Didyma bestimmten Werkstücken zwar etwas voll
ihrer Einzigartigkeit, jedoch nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt, ganz im Gegenteil: ein Vergleich der
Steinbrüche beider Städte kann vielmehr zur Lösung
einiger Fragen in Selinunt beitragen, wo anders als in
Milet jegliche antike Überlieferung über die Bautätigkeit der Stadt fehlt.
ALLGEMEINE BESCHREIBUNG
Die Cave di Cusa sind am Nordrand einer Felsbank
angelegt, die sich südlich von Campobello di Mazara
in ostwestlicher Richtung bis nach Mazara dell Vallo
hinzieht und im Bereich des Ab­baugebietes maximal
500 m breit ist. Nach Norden fällt die Bank steil ab
und überragt die um liegende Ebene bis zu 8 m Höhe,
während sie sich nach Süden leicht senkt. Außer den
Cave di Cusa finden sich noch unbedeutende kleinere
antike Bruchstellen an ihrem südlichen Ende bei dem
Hirtengehöft Baglio Florio.
Das Aussehen der Cave di Cusa wird bestimmt durch
eine lange, senkrecht abgearbeitete Bruchwand, die
sich durchgehend mit Ausnahme der wenigen Bruchausgänge und einer größeren Unterbrechung im
westlichen Teil, wo sie an Höhe abnimmt, über eine
Entfernung von 1,7 km verfolgen läßt. Über kürzere Strecken verläuft sie geradlinig, meist springt sie
jedoch rechtwinklig vor und zurück, so daß unterschiedlich große Nischen und Vorsprünge entstehen.
Die Wand wurde maximal auf die Höhe der Felsbank
an die­ser Seite, also auf 8 m Höhe, abgebaut. Ein Abbau in die Tiefe fand nicht statt. Ganz anders ist das
Bild der gegenüberliegenden nördlichen Bruchwand.
Von ihr haben sich nur noch geringe Re­ste in Gestalt
vereinzelter Felsinseln, selten zusammenhängende Partien erhalten. Die Breite des Bruches beträgt
durchschnittlich 40 m.
Abgesehen von den oben genannten kleinen Bruchstellen bei dem Hirtengehöft am südlichen Ende der
Felsbank wurde nur dieser schmale Streifen im Norden abgebaut. Eine Verbreiterung des Bruches nach
Süden war nicht vorgesehen. Darauf weisen auch die
Abraumhalden auf der Felsbank entlang der Bruchkante und ein im Innern an die Bruchwand angelehnter Schutthang im zweiten Abschnitt des Steinbruchgebietes. Die südliche Bruchwand galt in der Antike
demnach als erschöpft. Nur an wenigen Stellen sollten
noch Werkstücke gewonnen wer­den. Aus geologischer Sicht gibt es dafür keine Erklärung. Die langgestreckte Form des Bruches und seine geringe Tiefe im
westlichen Drittel gehen zwar auf die Gestalt des hier
vorhandenen bauwürdigen Gesteinkörpers zurück,
doch wäre ein weiterer Abbau nach Süden ohne weiteres möglich gewesen. Weshalb dies nicht geschah,
bleibt vorläufig eine offene Frage. Archäologi­sche
Gründe lassen sich dafür - zumindest bisher - nicht
finden.
Die Hauptmenge des Abraums wurde hinter den Resten der nördlichen Bruchwand zu unter­schiedlich
hohen Schutthalden aufgetürmt, an die sich heute unmittelbar Felder, Weingärten, Oli­ven- und Mandelbaumhaine anschließen. In der Antike wird es nicht
sehr viel anders gewesen sein. Die fruchtbare Ebene
im Norden sollte offensichtlich vom Steinbruchschutt
freigehalten werden.
Orientiert man sich an den im Bruchinneren stehengebliebenen Querwänden, lassen sich die Cave di Cusa
in vier etwa gleichgroße Abschnitte (I-IV) einteilen,
nach denen im folgenden, von Ost nach West vorgehend, die detaillierte Beschreibung erfolgen soll.
Vor der Aufgabe des Steinbruchgebietes konzentrierten sich die Aktivitäten weitgehend auf die Reste
der nördlichen Felswand und auf das westliche Ende
des Bruches. Es sind vier Stellen, an de­nen bis zuletzt
gearbeitet wurde. Die erste liegt in Abschnitt II, die
drei anderen in Abschnitt IV. Gewonnen wurden vorwiegend großformatige Säulentrommeln, von denen
sich 62 nachweisen ließen, Sie werden der Einfachheit
halber hier tabellarisch aufgeführt, wobei die Numerierung ih­rer Fundlage in ostwestlicher Richtung entspricht.
DER TRANSPORT
Die Frage, auf welche Weise diese großformatigen
und schweren Werkstücke - die Trommeln wiegen
bis zu 70 Tonnen - aus den Brüchen nach Selinunt
transportiert wurden, hat bereits J. Houel unter Hinweis auf die von Vitruv überlieferte Erfindung des
Chersiphron und des Metage­nes zu beantworten
versucht. Demnach wurden die Säulentrommeln des
archaischen Artemi­sions von Ephesos in einen Holzrahmen gespannt und dann wie Walzen abgeschleppt,
während die Architrave zusätzlich noch mit Rädern
ausgestattet wurden, Im Unterschied zum Verfahren in Ephesos müssen in Selinunt jedoch auch die
Säulentrommeln wegen ihrer konischen Form mit
Rä­dern abtransportiert worden sein, zu deren Anbringung die quadratischen Löcher in der Mitte der
beiden Lagerseiten vorgesehen waren. Von den bereits
fertig gebrochenen Trommeln besitzt nur das außerhalb des Steinbruchgebietes liegende Stück Nr. 1, das
bereits über eine kürzere Strecke transportiert worden
war, bevor es liegenblieb, beidseitig ein solches Loch.
Im Steinbruch selbst sind es zwei Trommeln, bei denen mit der Vorbereitung zum Transport be­gonnen
wurde Sie weisen an einer Lagerseite eine derartige
Ver­tiefung auf.
Trommeln von über 4 m Höhe und Architrave von
über 6 m Länge erfordern einen entspre­chend breiten
Transportweg, Von dieser Straße ist heute im Gelände jedoch keine Spur mehr zu finden. Im Bereich des
Steinbruchgebietes wäre sie an der Nordseite zu vermuten, worauf auch die Lage der fertig gebrochenen
Trommeln hier hinweist. Die schmalen Ausgänge an
der südlichen Bruchwand können nur der Beseitigung
des Abraums gedient haben. Daß die Werkstücke auf
dem Landweg nach Selinunt gebracht wurden, steht
außer Frage. Die Transportstraße zwischen der Stadt
und den Brüchen ist vom 16. Jahrhundert bis zum
Beginn unseres Jahrhunderts zur Ge­nüge bezeugt.
Wegen ihrer Breite und Ausführung, den tiefen Radspuren im Felsboden sowie der Zahl der hier liegengebliebenen Werkstücke - Houel spricht von sechs bis
sieben Trommeln - galt ihr neben den Steinbrüchen
die besondere Aufmerksamkeit der Besucher. Will
man der Be­schreibung von J. Hulot und G. Fougeres
Glauben schenken, muß sie noch zu Beginn unseres
Jahrhunderts in ausgezeichnetem Zustand gewesen
sein. Danach ist es jedoch niemandem mehr gelungen, sie im Gelände zu identifizieren. Von den an ihr
liegengebliebenen Werkstücken fand sich immerhin
eine Trommel in der Nähe der Straßenkreuzung bei
der Zufahrt zu den Cave di Cusa. Damit ist wenigstens der Beginn des Transportweges gesichert. Für
sei­nen weiteren Verlauf kann man sich bislang nur
an den alten Reisebeschreibungen, Kartenwerken
und am Gelände selbst orientieren. Demnach müßte
der Transportweg mit der von Selinunt nach Westen
führenden Piste identisch sein, die parallel zur Küste
nördlich der Dünen auf etwa gleicher Höhe verläuft
147
und die heute stellenweise asphaltiert ist. Ihre geringe
Breite ließe sich mit Flurbereinigungen der jüngeren
und jüngsten Zeit erklären. Fraglich wäre hier jedoch,
an wei­chem Punkt die antike Straße nach Norden zu
den Steinbrüchen abbog, ob erst bei der Einmün­dung
der Piste in die von Campobella di Mazara nach Tre
Fontane führenden Asphaltstrasse oder nicht bereits
2 km vorher, wo ein weiterer Weg nach Norden abzweigt. Für letztere Vermutung sprechen zwei Argumente: 1. die Verringerung der Entfernung zwischen
den Brüchen und der Stadt um diese 2 km, sicherlich
ein wichtiger Gesichtspunkt im Hinblick auf die hohen Transport­kosten, und 2. die Lage der bereits erwähnten Trommel Nr. 1, die sich etwa 150 m östlich
der As­phaltstraße Campobello di Mazara nach Tre
Fontane auf einem Acker befindet. Es besteht kein
Anlaß, daran zu zweifeln, daß sie nicht mehr an der
Stelle liegt, an der sie während des Transpor­tes zurückgelassen wurde, d. h., der antike Weg aus den Brüchen müßte auf jeden Fall bis hierhin geführt haben.
Seine Fortsetzung in leicht südöstlicher Richtung bis
zur Piste und dann dieser fol­gend, wäre die bequemste
und kürzeste Verbindung zur Stadt. Ebenso wäre eine
Überquerung des Selinustales in der Nähe des Malophorosheiligtums wegen des geringen Geländeabfalls
leichter durchzuführen als weiter nördlich. Die einzige wirkliche Geländeschwierigkeit auf der gesamten
Strecke stellte am Ende des Weges die Überwindung
des Akropolishügels und des Osthügels der Stadt dar.
ZUSAMMENFASSUNG
Will man die bisherigen Beobachtungen zusammenfassen, läßt sich folgendes sagen: In ihrem gesamten
Erscheinungsbild erwecken die Cave di Cusa bei dem
unvoreingenommenen Betrachter den Eindruck, als
wäre der Betrieb von heute auf morgen eingestellt
worden. Berücksichtigt man dabei zusätzlich die auf
dem Transportweg liegengebliebenen Werkstücke,
vorausgesetzt, es han­delt sich dabei nicht um auf
dem Transport beschädigte und deshalb zurückgelassene Stücke, wird man in dieser Ansicht noch bestärkt. Der Gedanke an ein unerwartetes Ereignis, das
zum Verlas­sen des Steinbruchs geführt hat, wäre die
nächstliegende Erklärung. In Selinunt käme dafür nur
die Zerstörung der Stadt durch die Karthager im Jahre
409 v. Chr. in Frage.
Bis auf die vier genannten Stellen war das Gelände zu
diesem Zeitpunkt so gut wie erschöpft.
Bemerkenswert ist die intensive Nutzung des Felsgrundes, wie an den eng aneinander gereihten Werkstücken zu sehen ist. Um eine optimale Ausbeute zu
gewährleisten und unnötige Arbeit beim Schroten
zu vermeiden, wurde der Abstand der unmittelbar
benachbarten Säulentrommeln auf 20 bis 30 cm reduziert. Das setzt von Anfang an eine sehr genaue Planung und Aufteilung des bau­würdigen Felsgrundes
voraus. Die Hauptabbaurichtung verlief ostwestlich.
Als letzte wurde die vierte Bruchstelle eröffnet. Bei
148
den anderen drei, die sich vorwiegend auf die Reste
der nördlichen Bruchwand beschränken, fragt man
sich zunächst, weshalb sie nicht in einem Zuge mit
der übri­gen Nordwand abgebaut wurden. Besonders
augenfällig ist dies bei der ersten Abbaustelle, Achtet
man aber auf die Qualität des Kalkarenits - er ist hier
besonders gut -, wird dieses Vorgehen in einem Steinbruch mit schwankender Gesteinsqualität verständlich. Bei der Planung eines Baus von solch kolossalen
Ausmaßen, wie ihn die Trommelgrößen belegen, wird
man als erstes im Steinbruch die Stellen geprüft und
reserviert haben, an denen so große Werkstücke wie
Trom­meln, Kapitelle und Architrave zu gewinnen
waren. Je nach dem Stand der Arbeiten am Tempel
wurden sie dann sukzessiv abgebaut,
Gewonnen wurden vor dem Verlassen des Bruches
vornehmlich Säulentrommeln von 2,00 bis 3,60 m
Durchmesser. Fast zwei Drittel von ihnen sind noch
mit dem Felsgrund verbunden, Das Freischroten erfolgte bis auf eine Ausnahme durch Anlage eines runden Kanals von durchschnitt­lich 40 bis 60 cm Breite,
wobei die Verjüngung der Säule am Bau schon berücksichtigt wurde. Die Höhe der Trommeln ist unterschiedlich und wird vor allem durch die Mächtigkeit des anstehen­den bauwürdigen Gesteins bestimmt
gewesen sein, Änderungen während des Freischrotens
ließen sich an zwei Stücken, eine nach­trägliche Verkleinerung wegen Materialfehlers an einem bereits
gebrochenen Stück beobachten. Nach dem Brechen
war ein weiteres Bearbeiten und Glätten nicht mehr
nötig. Bis auf die Herrichtung der Lagerseiten, die am
Bauplatz erfolgte, waren die Trommeln versatz­fertig,
Selinunt
in: Sizilien: Insel zwischen Orient und Okzident/ Birgit Carnabuci.
Mit Beiträgen von Christoph Höcker und Helga Lehmkuhl. – Köln:
DuMont Buchverlag, 1992
Die Ausgrabungen der antiken Stadt liegen dicht bei
dem modernen Fischerdorf Marinella und umfassen
drei Bereiche: Osthügel, Akropolis und Sakralgebiet
der Malophoros. Der Name der Stadt verdankt sich
dem wilden Sellerie, der ehemals reichlich in den Tälern der Umgebung wuchs, heute aber nur noch sehr
selten vorkommt. Diese immergrüne Pflanze war dem
Apollon heilig, und ihr Blatt ist auf einigen selinuntinischen Münzen abgebildet.
Geschichte
Um 628 v. Chr. (nach anderen Quellen 650 v. Chr.)
baten die Einwohner der sikeliotischen Stadt Megara
Hyblaea die Mutterstadt Megara, ihnen einen Städtegründer zu senden, der sie in den Westen der Insel
führen könne, wo sie eine zweite Stadt anzulegen gedachten. Megara sandte daraufhin Pamillos. Gemeinsam mit ihm verließ eine Gruppe von Bürgern die
Stadt, die selbst erst ein Jahrhundert alt war, um sich
fern der anderen griechischen Städte Siziliens im Hoheitsgebiet der Karthager anzusiedeln. Nichts deutet
darauf hin, daß diese etwas dagegen einzuwenden
gehabt hätten. Auch sind keine Anzeichen von Widerwillen oder Widerstand seitens der Sikaner und
Elymer bekannt - eher lassen bestimmte Einzelhei­ten
an ein Einvernehmen aller Beteiligter denken.
So wählten die neuen Siedler auffällig viele ihrer
Schutzgottheiten unter denjenigen Göttern, die ursprünglich aus der phönizischen Götterwelt stammten und unter ihrem alten Namen auch bei den
Karthagern Verehrung genossen. Der mit dem Stier
kämpfende Herakles, der auf den Siegeln der Stadt,
den Münzen und einer der ältesten Metopen abgebildet war, entspricht dem Melkarth der Phönizier, Europa auf dem Stier, von der ebenso eine Metope und
andere Darstellungen existieren, der stierreitenden
Astarte von Sidon und schließlich Aphrodite mit der
Taube, häufig als Votiv- oder Grabbeigabe im Gebiet
von Selinunt gefunden, der Kybele.
Das Stadtgebiet von Selinunt war, typisch für die
westlichen Neugründungen, durch geradlinige Straßen in regelmäßige Flächen geteilt worden, die sowohl
das Sakralgebiet als auch dasjenige der öffentlichen
Plätze mit einbezogen - ein System, das vor allem den
phönizischen Städten eigen war. Ebenso war eine sich
verjüngende Bogenform wie bei den Eingängen der
Stadtmauer in ähnlicher Weise schon früher in Tiryns
angewandt worden. Eine zweite Form, der Rundbogen, war vor Selinunt und der Euryalosfestung in
Syrakus auf Sizilien nur in Erice und Segesta üblich,
beides Städte, die zum Reich der Elymer gehörten,
welche dem Mythos nach aus Kleinasien eingewandertwaren.
150
Den Karthagern standen die griechischen Interessen
nicht im Wege: Die Gier nach Land war ihnen fremd,
landwirtschaftliche Produkte erzeugten sie für ihren
Bedarf genügend in Nordafrika; der Westen Siziliens
war ihnen zwar als Handelsstützpunkt unentbehrlich, aber nur, weil er an einer für sie sehr wichtigen
Handelsroute lag, die nach Sardinien und Südspanien führte, wo sich die großen Metallvorkommen
befanden. Selinunt konnte sich also ungestört entfalten. Weiter westlich, beim heutigen Mazara, wo eine
größere Bucht den Schiffen Schutz bot, baute es seine
Handelsniederlassung auf, und sobald das griechische
Akragas gegründet wurde (582 v. Chr.), dehnten die
Selinuntiner ihren Bereich bis zum Fluß Halykos aus
(dem heutigen Platani), um die Grenzen zwischen
den beiden Reichen festzulegen.
Über einen etwaigen Widerstand der Sikaner, in deren
Land sie dabei eindrangen, gibt es keine Nachricht.
Mit dem vermehrten Besitztum wuchs der Wille zur
Macht, und 580 v. Chr., zu der Zeit, als die Selinuntiner ihren ersten großen Tempel errichteten, führten sie auch ihren ersten Aggressionskrieg gegen die
angrenzenden Segestaner. Sie wurden besiegt, da die
Karthager den elymischen Segestanern beistanden,
doch sollte dies nicht der einzige Kampf zwischen den
beiden Stadtstaaten bleiben. Die Wirtschaft Selinunts
kann allerdings nicht sehr unter der Niederlage gelitten haben, denn ohne Unterbrechung wurden die großen Heiligtümer weitergebaut, so daß heute die Ruinen der antiken Stadt nicht nur ein Beweis für deren
Wohlstand sind, sondern darüber hinaus ein gültiges
Dokument für die Entwicklungsstufen des dorischen
Tempels.
Das blühende Selinunt wurde 409 v. Chr. von Hannibal, dem Sohn des Giskon, zerstört. Der eigentliche
Grund des unerwarteten Angriffs der Karthager auf
die befreundete Stadt war schon der Antike unerklärlich, und bis heute können darüber nur Theorien
aufgestellt werden. Bei dem großen Angriff der Karthager auf die gesamte griechische Welt Siziliens 480
v. Chr. war Selinunt jedenfalls noch mit ihnen verbündet gewesen. Hannibal ließ die Mauern schleifen,
16000 Bürger auf der Agora hin­richten und 54000 als
Sklaven verkaufen; 3000 gelang es, nach Syrakus zu
ent­kommen.
Hannibal gab dem im Exil lebenden Syrakusaner
Hermokrates zwei Jahre später die Erlaubnis, den verödeten Ort wieder zu bewohnen, allerdings ohne die
Mauern wiederaufzurichten. Kurze Zeit später fiel das
Selinunt dieser zweiten Epoche unter die Herrschaft
Dionysios 1., wurde aber von ihm 392 v. Chr. an die
Karthager abgetreten und überlebte weitere 150 Jahre
als kleine, unwichtige Ortschaft, die diese dann endgültig 250 v. Chr. aufgaben und zerstörten, um sie
nicht den Römern in die Hände fallen zu lassen.
Dort, wo das antike Selinunt gelegen hatte, entstanden zu byzantinischer Zeit eine Festung und ein kleines Bauerndorf. Der arabische Geograph Ibn Gubayr
nannte den Ort Rahl‘-al-‘Asnam, ,Ort der Säulen«.
Über das Erdbeben, das zu der endgültigen Zerstörung der antiken Bauten führte, gibt es keine schriftlichen Quellen, doch muß es im Mittelalter stattgefunden haben, denn die Säulen der Tempel wurden über
den byzantinischen Bauernhäusern liegend gefunden.
Wanderdünen bedeckten alle Ruinen, so daß zwar die
Erinnerung an die antike Stadt fortbestand, das Wissen um ihren Standort jedoch verlorenging. Erst im
16. Jh. gelang es dem sizilianischen Gelehrten Tommaso Fazello, den einstigen Ort wiederzufinden.
Bei den nun folgenden Ausgrabungen wurden die ersten Tempelgebäude freigelegt schon Ende des 18. Jh.
waren die Ruinen der alten Stadt eines der beliebtesten Ziele der ersten europäischen Reisenden.
Die Ausgrabungstätigkeiten wurden im 19. Jh. intensiv wiederaufgenommen. Als 1824 von den Archäologen Hittorf und Zanth der Tempel B wiederentdeckt
wurde, fanden sie an diesem noch in kräftigen Farben
gemalte Details, die allen bisherigen Vorstellungen
- Tempel seien gänzlich weiß - widersprachen und
zu heftigen Kontroversen führten. Heute ist das Gebiet von Selinunt zum archäologischen Park erklärt
worden und soll mit Hilfe modernster Mittel systematisch erforscht, zum einmaligen Dokument einer
vollständigen griechischen Stadt werden.
Vorläufig sind die selinuntinischen Tempel nur mit
Buchstaben bezeichnet. Dank einer Tuffsteinplatte,
die aus den Trümmern des Tempels G gerettet wurde (Nationalmuseum von Palermo), sind zwar die
Namen der in Selinunt verehrten Götter bekannt,
doch konnten die ihnen zugehörigen Heiligtümer
noch nicht mit Sicherheit identifiziert werden: „Die
Selinuntiner sind Sieger im Namen folgender Götter:
Wir siegen dank des Zeus, des Phöbos, des Herakles,
des Apollon, des Poseidon und der Tyndariden, der
Athena, der Malophoros, der Pasikrateia und der anderen Götter, aber vor allem dank des Zeus ... «
GIBELLINA
Come una porta, Carola Susani
in: L’ infanzia è un terremoto / Carola Susani. – Roma: Editori Laterza
Le rovine di Montevago sono vicine al paese ricostruito. Montevago è stata rasa al suolo dal terremoto del
Belice, nel 1968. Per andarci si imbocca una strada
larga. Montevago, vecchia e nuova, come Santa Margherita Belice, sta su un al- topiano pianeggiante, una
placca calcarenitica quasi piatta: l‘acqua non scivola
giù, si infiltra. Dove ti giri, tutto il resto lo vedi dall‘
alto.
L‘altra estate eravamo in Sicilia occidentale, ma più
su, nel Corleonese, a Bisacquino, che è un paese di
montagna. Andrea e Ombretta con Eva di tre anni,
gli amicicon cui condividevamo una casa padronale
del Settecento, spoglia e simmetrica, sotto il santuario
della Madonna del Balzo, si muovevano in lungo e in
largo nel Belice, per esplorare e assaggiare vini. Sono
andati anche alle rovine di Montevago. lo non ricordavo di esserci mai stata.
Mi sono domandata: come mai? Quand‘ero piccola,
dai quattro agli otto anni, abitavamo a Partanna, a pochi chilometri, in baracca. Forse mia madre non se la
sentiva di portarci in una città di morti? Se è così, è
stato un errore. Per quel che mi ricordo dell‘infanzia,
per quel che so da tutti i bambini che conosco, da
piccoli proviamo per la morte, per la distruzione e
per il tempo una curiosità sfrenata. Nelle città morte
ci sguazziamo, la decomposizione non ci fa paura. Ci
serve perlomeno una storia, un personaggio inventato
o ben isolato dal contesto, per specchiarci nell‘ orfano e farci un pianto; ma neanche in quel caso si placa
la nostra sete di conoscenza, della condizione umana
e delle forze con cui l‘umanità baccaglia. A Partanna, a cinque anni, io e Luca disegnavamo scheletri:
scheletri addobbati, con crinoline e cappelli a larghe
tese. Era un trionfo della morte. Probabilmente, fino
all‘ adolescenza ci sentiamo felici e feroci spettatori;
non vediamo perché, tra i personaggi in campo, non
dobbiamo identificarci nel sasso, o ancora meglio nell‘
ailanto che cresce sui fossi. li sasso è un trionfo del
tempo, l‘ailanto no, è un trionfo della vita, inestirpabile, invasiva. L‘infanzia si diletta di trionfi. È vero, questa non è tutta l‘infanzia, l‘infanzia non disdegna la
commozione, le tenerezze, l‘amore. Però nell‘infanzia
c‘è anche questa fascinazione per le rovine.
Non mi ricordavo di essere stata a Montevago vecchia,
eppure la descrizione mi era familiare. Un lungo, monumentale viale di marmo, alberato di alberi giovani,
deserto. Ai due lati, rovine. Palazzetti rasi al suolo, di
cui si riconosce il muro perimetrale, qualche stanza,
terra accumulata, resti. Il viale che sbocca in una piazza lastricata di marmo, sulla quale incombe la chiesa
madre sventrata. La chiesa era dedicata ai santi Pietro
e Paolo, l‘avevano costruita nel 1712. Tutto attorno
alla chiesa, alti lampioni: si accendono per le iniziative estive, concerti, spettacoli teatrali. La notte tra il
14 e il 15 gennaio, nell‘ anniversario del terremoto del
Belice, una fiaccolata parte dal paese nuovo e arriva
fino alla chiesa. La descrizione delle rovine, insomma,
mi era familiare, forse altre volte Montevago vecchia
mi era stata raccontata, o forse c‘ero stata e né io né
mia madre ce ne ricordavamo. Quando ci sono andati Andrea e Ombretta non c‘era nessuno, era una
giornata d‘estate, ma fosca e piena di nuvolaglia che
si addensava. Forse c‘era anche vento. Hanno lasciato
la macchina e hanno imboccato la strada di marmo,
trascinandosi dietro il passeggino leggero della Chicco, tenendo la bambina per mano. Mi hanno raccontato che sulla soglia di un palazzo distrutto hanno
visto scarpe, tante paia di scarpe. E giornali degli anni
Sessanta. Le scarpe me le aspetto di più a Poggioreale,
ma i miei amici si ricordavano che fosse Montevago.
Sono passati quasi quarant‘ anni, per come conosco le
amministrazioni della zona escludo che abbiano messo apposta giornali e scarpe come attrazione turistica.
È facile che quelli fossero davvero giornali e scarpe lì
dal terremoto. Miracolosamente preservati. Forse in
quel posto c‘era un negozio di calzature. Le scarpe erano inve:chiate, non consunte, la foggia d‘altri tempi.
Andrea è andato avanti, si è addentrato nelle rovine,
con la macchina fotografica. Ombretta e la bambina
sono restate indietro, sullaslricato di marmo a raccogliere sassolini. Ombretta dice che era inquieta. A
Montevago vecchia il cielo è enorme. Si vede l‘intera
volta. Ma era un cielo grigio, la giornata umida. Da
una parte e dall‘ altra, dalle rovine, Ombretta sentiva voci interne, per colpa del silenzio. Andrea no. La
macchina fotografica lo aveva riportato alla curiosità
rapace dell‘infanzia. Esplorava. Entrava nella chiesa. Scendeva nelle case private. Cercava. La bambina
correva su e giù. Ancora piccola, prendeva la questione della vita e della morte alla radice, si occupava di
aghi di pino, raccoglieva foglie secche. Ombretta ha
chiamato Andrea. Voleva andare via. L‘ha chiamato
ancora. Non è stato facile strapparlo alla sua indagine.
Tornando verso l‘automobile hanno visto piombare
sul viale una faniglia di stupefatti turisti veneti, pallidi
e con gli zainetti.
A cena io e Andrea abbiamo parlato di fantasmi. Io
ero agitata. C‘era al capo del mio letto, nella casa sotto
la Madonna del Balzo, il ritratto di una donna pensierosa dagli occhi neri sfondamuri. Avevo detto ad
Andrea: «Mi sento invadente, estranea, mi sembra di
turbare un equilibrio». Lui aveva sorriso: «No, dai,
dormire sotto il quadro, anzi, mi metterebbe pace».
Adesso mi vendicavo, parlavo dei fantasmi avvinghiati
alle rovine. Gi dicevo: «Ma li hai sentiti? non haiavuto paura?». Senza la macchina fotografica, Andrea
era di nuovo permeabile come me. L‘indomani mi ha
raccontato che quella notte, non era ancora l‘alba e
ha sentito un rumore. So di che rumore parlava: era
il gancio della finestra che sbatteva contro il muro. Ha
continuato fino al mattino, ritmico e inesorabile. Nessuno di noi si è alzato per bloccare l‘imposta. Andrea
153
non riusciva a dormire. È sceso per le scale. È rimasto
sulla soglia della grande cucina di campagna. La prima luce del giorno, blu, illuminava la stanza, toglieva
colore agli oggetti. Proprio in corrispondenza del tavolo, un palloncino traslucido che avevamo comprato
alle bambine galleggiava a mezz‘ aria. L‘olio si stava
esaurendo. Andrea è uscito in fretta di casa, ha preso la macchina ed è andato in paese. L‘ho rassicurato:
sotto la Madonna del Balzo non c‘è spazio per fantasmi inquieti. Se ci sono, sono addomesticati, anime del
Purgatorio in visita.
Quest‘inverno sono andata a Montevago. Era dopo capodanno e prima del 15 gennaio, una giornata fredda e
piovosa. Avevo gli anfibi, ma la protezione che danno i
miei anfibi è un‘ apparenza, hanno un buco invisibile,
se finisco dentro a una pozzanghera imbarco acqua.
Mia madre mi accompagnava, lei lavora nel Sosio e
nel Belice con i progetti dell‘Unione europea perciò
in questa zona conosce molte persone. Mi voleva affidare a Giuseppe Triolo. Giuseppe l‘avevo conosciuto
quest‘estate, avevamo pranzato insieme alla Ficuzza,
in un agriturismo nato da una stazione ferroviaria dismessa. Giuseppe ha venticinque anni, è di Montevago.
Ha studiato fuori economia e commercio, ma ha deciso di tornare. Lui pensa che se tutti se ne vanno, la Sicilia, Montevago, non cresceranno mai (resisto al senso
di colpa: io sono nel numero degli emigranti che non
tornano). Giuseppe fa parte di un gruppo che elabora
progetti, s‘inventa lavori. Per esempio, hanno comprato una macchina che toglie le spine ai fichi d‘India e si
sono procurati delle commesse dai ristoranti.
Montevago non ha problemi di parcheggio. Lasciamo la macchina sola accanto a un lungo marciapiede
e scendiamo ad aspettare Giuseppe. Guardando giù
dalla placca calcarenitica la valle è verde, verde militare, perché ci si riflette sopra il grigio del cielo. Grigio
l‘asfalto, il marciapiede. L‘insieme degli edifici connessi che circonda la piazza della Repubblica e costituisce
la città istituzionale, invece, è bianco sporco. Dentro
uno degli edifici della cittadella delle istituzioni, dove
stanno il Municipio, i vigili urbani e la biblioteca,
mia madre e Giuseppe hanno un ufficio ancora in
allestimento, ma con computer, tavoli e telefoni. Gli
uomini che incontriamo, amministratori soprattutto,
sprizzano ilarità, distacco dalle cose del mondo e buon
umore. Marta, mia madre, dice che è una caratteristica
di qui, di Montevago. Uno racconta del suo progetto
di raccogliere tutte le ingiurie, cioè i soprannomi della
zona. Ma non uno dietro l‘altro come un elenco, no,
lui vuole farci raccontini, o forse l‘ha già fatto, in cui
alle parole correnti si sostituiscono i soprannomi. Un
altro, uno con la barbetta, dall‘ aria intelligente, dice
che ci vuole un‘appendice glossario, perché se no il libretto lo possono leggere solo quelli di qui. Noi signore ci trattano un po‘ con galanteria e un po‘ con deferenza, ma sempre anche un poco a sfottò. Ci portano
al bar, dove di femmine ci siamo solo noi. Giuseppe
mi conferma che a tutt‘oggi non usa che le femmine
154
vadano al bar. Se non qualche volta in pausa pranzo.
Il bar ha un odore di ricotta dolce bruciata che su di
me ha l‘effetto di una vertigine. Divento euforica. È
l‘odore dei bar del Belice che mi ricordo. È l‘odore del
Bar. 1‘Ur- Bar della mia coscienza. Odore di stanzoni
enormi e banconi minuscoli. Odore di lusso e povertà. Odore di: questo è quel che abbiamo, è tutto, altro
non c‘è.
Giuseppe mi accompagna dall‘ assessore al turismo. È
un uomo con la faccia larga, ridanciano, con me fa il
galante. Ma non come si fa con una signora, lo fa come
con una ragazzina.
Giuseppe mi aveva avvertito: dimostri meno anni. lo
però ho quarant‘ anni. Quando l‘assessore mi dà del
tu, sorrido e rispondo con il voi. Gli spiego che lavoro
devo fare. Un libro sul Belice terremotato, città vecchie, città nuove, storia orale e così via. Gli chiedo se sa
dove posso trovare del materiale. Mi procura tutti i depliant e le pubblicazioni che possiede su Montevago
nuova, il vino, la nuova chiesa madre e il Sole nascente
di Giò Pomodoro che sta in piazza. Anche un cd musicale. Gli chiedo del piano regolatore e dei progetti
che sono serviti a costruire la città nuova. Montevago
è una città di palazzine basse e orizzontali, strade larghe che s‘incontrano ad angolo retto. Passeggiando ho
trovato quartieriche mi piacevano, quartieri razionalisti con il giardino. Solo che sanno di vecchio, il ferro è
arrugginito, la mura tura corrosa, per via dei materiali
o della manutenzione. Lui mi dà tutte le indicazioni di
cui ho bisogno, però mi dice: «Non ne vale la pena».
Dice che questo paese nuovo è brutto. Non ci si è affezionato, non lo ama. Desidererebbe forse qualcosa di
più simile all‘ antico, anche imitativo, una fantasia di
stratificazione. Gli chiedo se hanno un progetto per le
rovine. Si ribella, ma sempre ridanciano: «Un intervento lo abbiamo fatto. Ci sei andata? lo hai visto?».
Intende dire il selciato di marmo con i lampioni. Poi si
entusiasma: «Con il tempo sarà come Pompei». Un
po‘ scherza, ma un po‘ no: «Assessore, vogliamo lasciar fare tutto al tempo?». Lui ride ma non dice niente.
Ci salutiamo, così Giuseppe e io ce ne andiamo alle
rovine.
Ma poi, penso, di che progetto parlo? Dove li trova
i soldi l‘amministrazione? Montevago è un Comune
povero, bastonato dall‘ assenza di lavoro e dall‘ emigrazione. Cosa voglio? L‘appalto per un albergo sulle
rovine, con le rovine a carico dell‘ albergo, che le metta
a disposizione della cittadinanza e le curi e le pulisca a
scomputo?
Oppure voglio tutto identico, soltanto un intervento
di Boltanski, che semini di foto il selciato di marmo e
lasci che le foto si sfaldino con la pioggia?
C‘è un‘aria di tempesta. È anche piovuto. L‘asfalto a
tratti è ancora bagnato. Dai finestrini della macchina
di Giuseppe per un po‘ si vede solo cielo plumbeo. Le
rovine ci si parano davanti, piatte, orizzontali, tranne i lampioni e la chiesa: il largo viale di marmo si è
riempito qua e là di terra e di pozzanghere. Giriamo
da dietro per posare la macchina. Attorno e dentro il
perimetro delle case c‘è fango. Chiedo a Giuseppe se
sa dov‘era la casa dei suoi nonni. Dice che se l‘era fatto
dire da suo padre, ma che non è facile trovarla. Non
manca l‘immondizia recente. Giuseppe mi spiega che
l‘opposizione ha contestato il lastricato di marmo, che
l‘opposizione dice che le rovine sembrano una discarica a cielo aperto. Quella che l‘altr‘ anno era all‘ opposizione in sostanza è la mia parte politica. Giuseppe,
la sua associazione e non so quali altri ragazzi hanno
ripulito di recente. Ma, a quanto pare, non dura. Chissà la munnizza come ci arriva? trascinata dal vento?
depositata apposta? abbandonata dopo il picnic come
capita nei cimiteri siciliani il 2 novembre?
Penetriamo nel fango. Alla spalle della chiesa madre.
Non c‘è nessuno. Nessun rumore. Soltanto i nostri
passi. Il cielo. Oltre la chiesa c‘è il boschetto della
memoria, un albero per ciascuno dei morti. Resto
fredda, senza inquietudine, anche se di sicuro qualche
corpo è rimasto sotto le macerie. Raramente ho paura
dei cimiteri. Giuseppe mi racconta che a tredici anni
lui e i suoi amici, tutti maschi, venivano qui per fare
le prove di coraggio. Chiamati dal sentimento della
propria storia, del tempo, della memoria, della morte.
Chiamati dalla contemplazione: trionfo della morte,
trionfo del tempo, trionfo dell‘ ailanto, trionfo della
finzione, trionfo della munnizza, trionfo dei corvi. Penetravano nei perimetri delle case. Scoprivano i cunicoli. Ci entravano dentro cercando oggetti. Da sempre
il Belice è terra di tombaroli, di gente che prende e scava il suo terreno, trova un vaso greco, lo vende o se lo
tiene. Quello che cercano Giuseppe e i suoi amici è di
più e di meno, roba più leggibile: un pezzo di coperta,
un 33 giri degli anni Sessanta, una crozza. Mi dice che
una volta hanno trovato ossa. Ma forse ossa di cani.
Mi ha fatto vedere l‘accesso di un tunnel. Ora l‘hanno
fatto chiudere. Per paura di perderci i figli dentro. Ma
non se li sono tenuti a casa. I ragazzini di Montevago alle rovine ci vengono ancora. Ombretta e Andrea
quest‘estate ci hanno incontrato un dodicenne in bicicletta. Sapeva tutto, del terremoto, delle baraccopoli, delle leggi. Sapeva tutto perché costruiva la sua
identità conversando con la storia e con le forze. Sono
così i ragazzini di Montevago. Sapienti. Racconto a
Giuseppe che prima che mia madre mi dicesse delle
loro esplorazioni, avevo scritto un libro per ragazzi, Il
Licantropo, in cui tre dodicenni, due femmine e un
maschio, facevano lo stesso. Cercavano le stesse cose e
alla fine le trovavano: il tempo, la storia, il compianto.
Giuseppe ne è contento.
I ragazzi di Montevago guardano con pietà quelli di
Gibellina. Come fanno a crescere a Gibellina? Gibellina è un altro dei paesi rasi al suolo dal terremoto dell
68. Ma a Gibellina non hanno le rovine, i perimetri
delle case intasati di fango, la matrice sventrata, le scarpe e i giornali. Gibellina nuova è lontanissima dal pa-
ese dov‘ era. Del paese vecchio non è restata traccia: al
suo posto c‘è un‘opera d‘arte, il Cretto di Burri. Come
fanno a Gibellina, si domanda Giuseppe, a diventare
adulti? Giuseppe odia il Cretto. Non lo odia solo Giuseppe. Tutti i suoi amici odiano il Cretto. Dicono:
questa colata bianca di cemento, che è? Ha tolto il
vecchio paese. Ora che c‘è sopra questa cosa, non ci si
può più tornare.
Io amo il Cretto. Prende la forma della collina, è più
chiaro del cemento, è bianco accecante, sembra gesso,
ma non è friabile come il gesso. All‘interno è attraversato da isolati e strade monocrome e indistinte: il tracciato viario di Gibellina. Sta dov‘era la vecchia città.
È una traccia che ne mantiene la memoria. Ci siamo
andati una volta, io, mio marito Carlo, i nostri amici
Tommaso e Franco. Tommaso che è penetrato dentro
il Cretto mi dice che è una città fantasma, ma più piccola. Guardi i tetti delle case dall‘ alto. Se la percorri ti
senti un gigante. È pulita, molto più pulita di quanto
non ti aspetti. Ci cresce qui e là dell‘ erba. Guizzano le
lucertole sotto il sole. La strada per arrivarci è una provinciale. È sconnessa e non ci passano quasi macchine.
Sembra la strada per nessun posto. Invece a un certo
punto ci arrivi. E ti fermi. Non sentilamorte. Non senti le forze. Non senti la storia di Gibellina. Non ce n‘è
traccia. Senti il pensiero della morte. La meditazione
sulle forze. Il pensiero sulla condizione dell‘umanità e
sulla sua storia. Burri ha usato Gibellina per pretesto.
Il terremoto dell‘ 68 per lui era un‘occasione, un esempio per parlare della condizione umana. Così fa l‘arte.
Il Cretto non parla alla gente di Gibellina, come un
monumento funebre sulla strada parla al viandante:
qui c‘era una città, una volta.
Giuseppe e i ragazzi di Montevago pensano che Burri abbia espropriato i ragazzi di Gibellina da se stessi.
Perché ha sostituito la sua meditazione universale,
venuta da un altro posto, al lento movimento che
dalla scoperta di un nonno morto, delle mura della
propria casa di famiglia a cielo aperto, porta al senso
dell‘identità, che è unica ed è per questo parte della
condizione umana. C‘è un fatto: non ho mai visto un
ragazzino di Gibellina al Cretto. È vero che è lontano.
Ma anche se hanno il motorino, non vengono di sicuro qui, se ne vanno verso il mare.
Devo ricordarmi di dire una cosa a Giuseppe. Ho
controllato. Gibellina quando è stato calato il Cretto
non c‘era più da decenni. Non c‘erano le rovine a cielo
aperto come a Montevago, a Poggioreale. Gibellina
era talmente distrutta che poco dopo il terremoto è
stata fatta esplodere con la dinamite. Poi il terreno è
stato ripianato con le ruspe. Solo poche rovine sono
rimaste in piedi. Burri non ha colpa. Burri ha soltanto
messo una lapide.
155
Gibellina Nuova
Gibellina Vecchia
Fraintendimenti , Marcella Aprile
24/02/08
La catastrofe
Il 14 gennaio 1968 la più violenta di una serie di
scosse di terremoto distrusse totalmente Gibellina e
Salaparuta e arrecò danni ingenti a uomini e cose in
altri paesi della Valle del Belice, per una estensione di
circa 280 mila ettari, prevalentemente ricadenti nella
provincia di Trapani. Il numero dei morti fu abbastanza alto, poiché la scossa distruttiva colse nel sonno le
sfortunate popolazioni e in un periodo di freddo piuttosto intenso. Ma, senza nulla togliere alla pietas per
la tragedia umana, si deve considerare come, in effetti,
quella catastrofe abbia rimesso in gioco un territorio
siciliano escluso, fino a quel momento, da un qualunque tipo di sviluppo; e come abbia prodotto le condizioni perché risorse economiche e iniziative politiche
dessero una opportunità imprevista a piccole città destinate, viceversa, all`abbandono.
I primi soccorsi
Accanto alle istituzioni, si mobilitò un notevole numero di volontari pronti a soccorrere con varie forme
di aiuto le popolazioni colpite. Ma, pur non sottovalutando il valore della solidarietà, si deve tuttavia
sottolinearne un carattere singolare: gran parte delle
persone (soprattutto intellettuali e studenti), sopraggiunte da varie parti di Italia e anche dall`estero, usarono - per così dire - quella occasione per sperimentare
utopie e ipotesi di politica partecipata su un campo
ritenuto (a torto o a ragione) fertile per la sua condizione di tabula rasa.
La ricostruzione, fase 1°.
All`indomani del disastro, si mise immediatamente
in moto una formidabile macchina per ricostruzione spinta, anch`essa, dall`idea della partecipazione
e ben oleata dal convincimento di far transitare verso la modernità le popolazioni coinvolte attraverso e
con l`intervento pilotato dello Stato. Il primo atto fu
la costruzione delle baraccopoli, seguito dalla stesura
di una ipotesi di infrastrutturazione dell’area con due
grandi arterie ­l’autostrada Palermo/Mazara del Vallo e
l’Asse del Belice, al cui incrocio (nei pressi di Partanna di Trapani) avrebbe trovato sede un grande polo
industriale - e di uno strumento urbanistico nuovo di
zecca, il piano comprensoriale. Ma l`unico e solo atto
di partecipazione delle popolazioni fu la scelta della
localizzazione dei nuovi insediamenti a fronte delle
conurbazioni` o delle addizioni - sostitutive, nei fatti,
dei vecchi paesi - concepite dai pianificatori. Il modello insediativo prescelto (proprio quello che doveva
garantire il transito verso la modernità!) fu una sorta
di commistione tra una città­giardino e un quartiere
operaio degli anni Venti, con una doppia rete viaria
carrabile e pedonale e con una densità piuttosto bassa.
Sicché tra il 1969 e il 1976, sull’intero territorio del
Belice, furono disegnati enormi plastici - a scala 1:1,
nei quali si potevano vedere strade carrabili e pedonali
158
asfaltate, con il disegno dei marciapiedi e dei parcheggi e con gli impianti a rete già realizzati - bidimensionali, se non fosse stato per i lampioni stradali, per
le cabine elettriche di trasformazione e per qualche
schiera di case, disabitate, costruite dallo Stato; e, inoltre, furono tracciati e realizzati l`autostrada Palermo
/ Mazara del Vallo e il gigantesco svincolo di Partanna, orfano di un Asse del Belice mai più costruito. Nel
frattempo, le popolazioni vivevano nelle baraccopoli,
i cui ricoveri temporanei subivano una metamorfosi
verso la permanenza` per opera degli abitanti; e alcuni
famosi progettisti redigevano i progetti degli edifici
pubblici che avrebbero dato il dovuto decoro ai nuovi
paesi, ancorché privati della possibilità - sempre prevista nelle opere pubbliche - di vedere destinata alla
dotazione di opere artistiche una piccola percentuale
dei finanziamenti.
La ricostruzione, fase 2°.
Una situazione particolare determinò una svolta nella
vicenda, l`accordo tra un comunista un democristiano
e un libero pensatore che pose le condizioni per trascinare gli altri Sindaci in una rivolta pacifica contro lo
Stato, con l`esito positivo: di ricondurre nelle mani
delle amministrazioni locali la ricostruzione; di trasferire direttamente ai destinatari il contributo per la
realizzazione di unità immobiliari nuove, congruenti
con quelle distrutte o non più utilizzabili, barattando
con i comuni la proprietà immobiliare abbandonata
con la proprietà nei nuovi quartieri o nelle nuove localizzazioni; di attingere al contributo, anche, per il recupero di unità immobiliari danneggiate in quei paesi
le cui popolazioni non avevano scelto il trasferimento
in altro sito. Da quel momento in poi e nell`arco di
pochissimi anni, le case furono costruite o riparate.
Ma rimase in vita la leggenda dei baraccati, ancora per
qualche tempo e fino a quando (siamo prossimi agli
anni Ottanta) ai Sindaci non fu imposto, prima, di interrompere l’erogazione gratuita di acqua e luce nelle
baraccopoli e, poi, di raderle al suolo, ponendo fine
a un uso improprio della baracca ormai configuratasi,
grazie alle addizioni e ai miglioramenti, come una vera
e propria seconda casa a costo di gestione zero.
La ricostruzione, fase 3°.
Il Sindaco di Gibellina (uno dei tre della rivolta) aveva
concepito un`idea di modernità affatto diversa e aveva
iniziato a porre la questione della ricostruzione non
tanto come il risarcimento dovuto del danno, ma
soprattutto come l`opportunità per innescare forme
di sviluppo e di incremento del reddito originate dai
beni culturali e da un artigianato rinnovato, non già
da una improbabile industrializzazione pesante o,
peggio, dall`assistenzialismo di stato. Da qui la mobilitazione di artisti e di esperti al fine di convogliare
su Gibellina Nuova pensiero e iniziative, nonché risorse per realizzarle. Nel nuovo paese - ancor prima
che lo Stato passasse la mano alle amministrazioni
locali - furono collocate - all`aperto - alcune grandi
sculture, opera di artisti siciliani famosi, realizzate gratuitamente da privati. Successivamente, a paese già abitato, ebbero inizio i cicli di rappresentazioni teatrali
d`avanguardia sul palcoscenico` dei ruderi di Gibellina Vecchia, in via di trasformarsi nel Grande Cretto
di Alberto Burri. Furono anche organizzate cooperative di ricamatrici e di ceramisti, che usavano la loro
maestria su disegni contemporanei, e attivati artigiani
per la realizzazione delle macchine sceniche. Ma tutto
questo fu riguardato - moralisticamente - come uno
spreco di risorse, come la distribuzione di brioches
quando, invece, mancava il pane; o, nel migliore dei
casi, come la bizzarria di un sindaco alquanto singolare. All`inizio degli anni Ottanta un`altra iniziativa,
di segno analogo, ipotizzò una nuova fase per la Valle
del Belice, cioè la sua uscita definitiva dall`emergenza
post terremoto e il suo riconoscimento come parte di
un territorio complesso, luogo di un sistema insediativo che si era consolidato nell`arco di 25 e più secoli
2 di
storia. I laboratori di progettazione di Gibellina individuarono questioni e proposero soluzioni possibili
per Segesta come per Salemi, per Alcamo come per
Vita; e inaugurarono una formula di lavoro - quello
della presenza contemporanea, in forma seminariale,
di gruppi di progettisti e di studenti universitari concentrati su temi precisi - che si è dimostrata molto efficace e che è stata più volte replicata con successo. Vi
parteciparono 14 Comuni alcuni dei quali (soprattutto Gibellina e Salemi) utilizzarono progetti redatti in
quella occasione o, comunque, si predisposero perché,
in un futuro prossimo, progetti simili potessero essere
eseguiti nelle loro giurisdizioni. Ma molte critiche si
sollevarono contro i progetti realizzati o previsti, sotto
l`ipotesi che fosse, comunque, privilegiato il versante
del superfluo a scapito dell‘ utile e che si stessero, comunque, costruendo o immaginando cattedrali nel
deserto.
Quarant‘anni dopo
Articoli, convegni, incontri hanno periodicamente
stigmatizzato la ricostruzione post terremoto e le modalità con cui si è svolta, ascrivendone il fallimento
alle inevitabili - quanto scontate - ruberie, malversazioni, scorrettezze amministrative e collusioni mafiose e portando a testimone le lagnanze (anche queste
scontate) delle popolazioni interessate.
Non nego che il versante oscuro delle forze in campo
sia stato presente; penso, però, che non abbia avuto
quel peso determinante che gli si attribuisce. Credo,
invece, che il fallimento - se c’è stato - si sia prodotto a
causa di successivi e continui fraintendimenti.
Il primo: aver pensato che la modernità fosse una formula, un dispositivo, un modello da trasporre meccanicamente per garantirsi il successo.
Il secondo: aver ignorato indizi e suggerimenti - tuttavia apparsi mentre le cose accadevano - che bizzarri
non erano e solo troppo innovativi, forse.
Il terzo: continuare a guardare la ricostruzione come
se non avesse innescato alcun processo e, quindi, come
un fenomeno da archiviare frettolosamente.
Sono, invece, convinta che lì si è accumulato un patrimonio di conoscenza e di potenzialità, che aspettano
ancora di sviluppare la loro energia e che, se inserite in
un circuito virtuoso, possono fornire risorse e criteri
per una nuova trasformazione.
159
Ein Fragment der Hoffnung, Rainer Franke
in: in: Bauwelt Heft 13. – Gütersloh : Bertelsmann Fachzeitschriften
GmbH, 1988
Ein Erdbeben 1968 in einer vergessenen Ecke Europas,
dem verarmten Westen Siziliens, ein zerstörtes und
18 Kilometer entfernt wiederaufgebautes Landstädtchen, auf den ersten Blick ein Januskopf aus Avantgarde und Fehlplanung, in einer Landschaft existentieller
Probleme aber eine Ausnahme und eine Hoffnung,
die zumindest keine Gleichgültigkeit verdient: Stichworte aus dem Valle del Belice, aus Gibellina.
Niemand verwechselt dort Dorfentwicklung mit Geranien und Biberschwänzen, das elende Mittelmass
fehlt vollständig. Was in den letzten zwanzig Jahren
scheinbar nicht, dann trotz allem geschah, ist - solche
Worte lernt man im tiefen Süden - eigentlich ein sizilianisches Wunder.
Wer einmal in einer Stadt wie Menfi war, wo sich seit
der Invasion 1944 nichts mehr tun will, weiss, was ich
meine.
Nicht nur Gibellina, das gesamte Belice-Tal lehrt die
unheilige Allianz aus Technokratie und römischem
Zentralismus, die zweifache Gewalt: Natur und Politik. Dass in der Realität manchmal auch das Klagelied
des Südens mitschwingt - «Meridionalismo doloroso» -, mag ich nicht bestreiten.
200 Jahre nach Goethes vermuteter (Übernachtung in der Poststation Salemi, bei Gibellina Nuova,
prägte eher das Wort «Sciopero» die italienische
Reise - Streik. Dass diese Arbeit dennoch möglich
wurde, trotz leerer Gemeindearchive, ist neben dem
Genius Loci («Warum sind Sie wiedergekommen?»
) der Hilfe der beteiligten Architekten sowie Regina
Hundemer, Alcamo, und Franco Messina, Gibellina,
zu verdanken. Die Übersetzungen besorgte Bruna
Flimm.
Ruderi
In Santa Ninfa teilen sich die Wege, nach Norden in
die Hügel führt die Strasse zu den Ruderi di Gibellina» , nach Westen ins Tal zeigt das Schild «Gibellina
Nuova» . Wer beiden Hinweisen folgt, für den ist die
Frage, welches nun die «Ruinen» sind, zunächst ambivalent.
In den alten Ort führt eine gewundene, nach Gewittern des öfteren von ausgespülter, zerrissener Erde
bedrängte Strasse, vorbei an vereinzelten Schafherden
und leeren Betonterrassen, Spuren der Vergangenheit:
Einer gegenwärtigen Vergangenheit, anders als die antiken Ruinen. Nach schier unendlichen Kurven irritiert ein ferner weisser Fleck in den Hügeln. Bei der
Stadt der Toten, dem intakten, weil wiederaufgebauten Friedhof, hat man die Reste Gibellinas beinahe
erreicht (nur ein Hügelrücken verdeckt sie noch).
Hier überschreitet man eine scheinbar inszenierte, fast
unmerkliche Schwelle - der seit jeher externe Friedhof,
nun das Zeichen einer «unsichtbaren» Stadt -, die so
gar nicht auf die Surrealität der «Ruderi» vorbereitet: Das in Dimension und Wirklichkeit kaum fassba160
re, weisse Betonrelief des Alberto Burri, sanft mitten
ins zerstörte alte Gibellina gelegt. Unterhalb ein paar
leere Gebäude, manchmal ein Bulldozer, der so vergeblich wirkt angesichts des Datums der Katastrophe,
1968, und immer noch Trümmer. Auf einem kleinen
Plateau ein provisorisches Amphitheater aus Stahlgerüsten, Theaterplakate des letzten Sommers bezeugen
die sich jedes Jahr wiederholende Inbesitznahme und
das Verlassen, sozusagen symbolische Spolien auf den
entleerten Hügeln des Belice: Die «Orestiade» , die
jährlichen Festspiele. Daneben in alten Blechhütten
das «Centro Hebron» - Drogentherapie.
Auch «Gibellina Nuova» , weit im Westen, wird,
nun deutlich sichtbar, von einem Stadttor repräsentiert, der 26 Meter hohen Inox-Skulptur von Pietro
Consagra: «Stella» . Wieder ist die Schwelle mehrdeutig, man muss ihr Angebot wahrnehmen, wer
nur auf der Landstrasse darunter hindurchfährt und
nicht ausdrücklich abbiegt, der lässt und verlässt den
neuen Ort «unberührt» . Das Tor als Einheit von
Wesen und Bild: Die Verkehrsplanung als generatives
Aufbauelement des Belice wie Gibellinas, ein «Vorbei» , der Massstabssprung zwischen Anspruch und
Wirklichkeit der letzten zwanzig Jahre, selbst Kunst
und Zeichen für Kunst, für den Korrekturwillen der
Fehler durch Kultur, vor der Stadt und in der Stadt.
Das Tor schliesslich als Teil des Freilichtmuseums
Gibellina wie Gibellina als Teil des Freilichtmuseums
Belice, eines Museums voller «Ruinen» , ein dialektischer Massstab.
Die neue Stadt selbst scheint zuallererst nur eine
lose Ansammlung von Avantgarde-Objekten zu sein,
voller bekannter Namen: Die Kugel von Quaroni,
der Turm von Mendini, der Kubus von Venezia, am
Rande ein Zwitter aus Schule, Ambulanz und Museum für moderne Kunst, sogar ein ambitioniertes, bei
knapp 5000 Einwohnern. Ein Katalog erinnert an die
Beuys-Ausstellung 1986, alles wirkt sehr improvisiert.
Reihenhauszeilen proben Chaos auf kleinstem Raum,
die unendliche Weite der Plätze und Strassen wird
von zahlreichen Skulpturen konterkariert, mitten im
Agrarland Westsizilien, dem es so oft am Nötigsten
fehlt, dem es deshalb auch an einer Sorge um den öffentlichen Raum mangelt - sie wird durch Staub und
Risse substituiert. Der Kontrast zwischen «Notwendigem» und «Überflüssigem» ist auch im neuen Gibellina erstmal irritierend.
Einen schlüssigen Eindruck dessen, was ich die «sizilianische Zeit» nennen möchte, vermittelt dagegen
der Aufbaucharakter Gibellinas wie des gesamten
Belice. Die unendliche Dauer und Widersinnigkeit
des Alltags, mit der alles passiert, liegt ausserhalb eines nachvollziehbaren Zeitgefühls; ein Beispiel dafür
sind überall die zahllosen Trümmer und Ruinen, nach
zwanzig Jahren, ein anderes die Bauten Vittorio Gregottis. Als eines der wenigen Büros, die sich beständig
um den Mezzogiorno kümmern, konnten die Gregotti Associati sogar grosse Projekte realisieren, aber:
Die Universität in Cosenza wurde ihnen dabei weggenommen, der Entwurf für die Naturwissenschaftli-
chen Fakultäten der Universität Palermo stammt aus
dem Jahr 1969.
1984 waren die Gebäude endlich fertiggestellt, mit
Ausnahme des nichttragenden Innenausbaues - bis
zur nächsten Finanzierungsstufe stehen sie seither
leer! Ebenfalls 1969 gewann Gregotti den Wettbewerb um das Quartier Z. E. N. in Cardillo, westlich
Palermos, geplant für 20000 Menschen. Letztes Jahr
(Text 1988) war gerade etwas mehr als ein Drittel gebaut - völlig ohne Zentrum, Freizeitanlagen oder Zufahrtsstrassen, sämtliche Feldwege hinein und hinaus
werden von starken, schwerbewaffneten CarabinieriStreifen kontrolliert, die mir von einer Besichtigung
eindringlich abrieten. (Nie allein, ohne Kamera, nur
um die Mittagszeit und in Gruppen, ansonsten riskiere man, nicht mit heiler Haut wieder herauszukommen.)
Z. E. N. wird von jugendlichen Banden so beherrscht,
dass sogar die Carabinieri sich schützen müssen, wenn
sie Autowracks abtransportieren.
Hierher werden Altstadtbewohner aus baufälligen
Bezirken umgesiedelt, hier ist ausserdem eines der Rekrutierungsgebiete der «neuen» Mafia, die sich vor
einigen Jahren von der «alten» abspaltete, weil sie
ohne jeden Ehrenkodex den bedingungslosen Drogenhandel wollte, auch in Sizilien - das schnellste und
grausamste Geld. Die «ehrenwerte» Gesellschaft
dagegen wird gejagt oder steht vor Gericht, sie war
natürlich noch eine der «Produktionsbedingungen»
des Wiederaufbaues im Belice, wenn auch nicht die
einzige Geissel.
Cronaca
Am Nachmittag des 14. Januar 1968 wurde Westsizilien von leichten Erdbeben erschüttert. Die Bevölkerung war verunsichert, viele übernachteten im Freien,
vor allem ältere Bewohner gingen jedoch wegen der
Kälte wieder in ihre Häuser zurück. Um 3.03 Uhr
in der Nacht, am Morgen des 15. Januar also, kamen
neue, schlimmere Erdstösse, die Folgen waren katastrophal, sind es bis heute.
52 Gemeinden waren betroffen, in den Provinzen
Trapani, Agrigent und Palermo, am schwersten das
Valle del Belice. Vier kleine Städte an der Westflanke
des Flüsschens Belice waren fast vollständig zerstört:
Gibellina, Santa Ninfa, Salaparuta, Poggioreale. Die
Zahl der Toten insgesamt war mit 1150 wegen der
Vorbeben nicht so hoch wie befürchtet, 98000 Einwohner aber waren obdachlos, 10 000 mussten in
schwer beschädigten Häusern leben.
Rettungsaktionen kamen oft zu spät, weil besonders
das Belice sehr schlecht erschlossen war, viele der Todesopfer sind darauf zurückzuführen. Die staatlichen
Hilfsmassnahmen liefen dennoch relativ zügig an,
Terrassen wurden in die Hügel planiert und mit Wellblechbaracken vollgestellt. Die Betroffenen fanden
dafür schnell einen treffenden Namen: «Baraccopoli» . Über die Dauer dieser Ersatzstädte machte sich
damals niemand eine Vorstellung, um jedoch von
vornherein grössere soziale Spannungen zu vermei-
den, teilte man jede Gemeinde in mehrere solcher
Barackensiedlungen auf, allerdings willkürlich durchmischt.
Gibellina, das zum Zeitpunkt des Bebens noch 6400
Einwohner hatte, wurde in zwei Lager verlegt, «Madonna delle Grazie» nördlich der Ruinen, das andere
auf halbem Wege nach Santa Ninfa, «Rampinzeri»
. Allgemeine Steuerbefreiung und finanzielle Hilfen
sollten ein unmittelbares Abwandern der arbeitsfähigen Bevölkerung verhindern. Der kulturelle und planerische Kolonialismus des Nordens begann mit der
Arbeit, das staatliche ISES, das römische «Institut zur
Entwicklung des Sozialen Wohnungsbaus» , wurde
mit dem Wiederaufbau der zerstörten Städte beauftragt. Zunächst stellte man Standortüberlegungen an.
Der Vorschlag, das baulich und ökonomisch vollständig zerstörte Gibellina ganz zu verlegen, kam schnell,
es gab keinen nennenswerten Widerstand. Nach acht
Monaten schlug ISES als neuen Standort das Rampinzeri-Gebiet vor, das bedeutete: Verbleib im alten
Tal, weit entfernt von den Feldern der Bauern, die immer jenseits der Hügel gelegen hatten. Am 31. August
1969 lehnte deshalb der Gemeinderat Gibellinas den
ISES-Plan ab und forderte (stattdessen) einen Wiederaufbau der Stadt im Salinella-Distrikt, 18 Kilometer entfernt an der Wasserscheide zwischen Alcamo
und Mazara del Vallo/Castelvetrano.
Dort nämlich lagen die meisten Felder sowie ein
Bahnhof, der allerdings bereits zu Salemi gehörte, brisanter noch, das zukünftige Baugebiet war im Besitz
des Padrone Corleo, des Schwiegersohnes der SalvoSippe: Den Bankiers der Mafia. Die Auseinandersetzung, die damit begann, hatte in Sizilien Tradition,
seit Jahrhunderten gab es Landbesetzungen, so war es
auch diesmal.
Ende 1970 legte ISES zwar den später auch verwirklichten Plan vor, aber das war noch lange nicht der
Beginn der Bauarbeiten. Wie der Kampf um das Land
gewonnen wurde, darauf bekommt man selbst heute
keine Antwort, der Bau der «Lebensader» Autobahn
direkt durch das Salinella-Gebiet bestärkte Gibellina
jedoch endgültig in seiner Absicht.
In den langen Jahren des Wartens und der Baracken
verkam «Roma» zum Schimpfwort. 1976 endlich
fingen die Urbanisationsarbeiten an. 1978 erhielten
die Belice-Gemeinden durch geänderte gesetzliche
Grundlagen direkteren Zugriff auf die Aufbaugelder,
neun Jahre nach dem Erdbeben konnten dann erstmals andere Gebäude als Wellblechbaracken gebaut
werden. Bis 1981 errichtete man in Gibellina Nuova
Reihenhauszeilen im Sozialen Wohnungsbau für die
Obdachlosen, Schulen und Kindergärten, einen Bauabschnitt des Rathauses, den neuen Friedhof - sowie
hunderte von Privatwohnhäusern, selten mit Genehmigung und noch seltener mit Architekt. Wer im alten Ort ein Haus besass, erhielt ca. 60000 DM Subventionen und eine Hypothek von ungefähr 50000
DM. Früheren Mietern wurden Wohnungen zur Verfügung gestellt. Seit Beginn der 80er Jahre leben etwa
5000 Einwohner im neuen Gibellina.
161
Deserto urbano
ISES liess einen riesigen Schmetterling nach Salinella
flattern, den Stadtplan von Gibellina Nuova, entworfen von ihrem Architekten Fabbri: «Un nuovo tipo di
vita a scala urbana» , dieser Massstab musste es wohl
sein. Die «Idee» dieses Entwurfes aus dem Jahr 1970
erklärt sich ein wenig, wenn man weiss dass Ebenezer Howards Buch «Garden Cities of Tomorrow»
(1902) erst 1962 in italienischer Übersetzung erschienen ist und eine breite Diskussion ausgelöst hat.
Alle Wohnhäuser sind als doppelte Reihenhauszeilen
konzipiert, jeweils von einem dazwischenliegenden
Fussweg erschlossen. Zur Rückseite hat jedes Haus
einen Garten und Garagen, dort befanden sich auch
die Strassen. Der Autoverkehr, in sizilianischen Landstädtchen eher Belebung denn Problem, funktioniert
folglich reibungslos, das Konzept jedoch nicht. Leben
entfaltet sich natürlich, wenn überhaupt, entlang der
Strassen, die Fussgängerzonen sind fast unbenutzt,
Eingänge, Läden, Werkstätten, alles verlagert sich
nach hinten.
Es wäre eine mehr als freundliche Interpretation,
wollte man Gibellina Nuova in die Tradition der Idealplanungen stellen, die es im Sizilien der Renaissance
und im Barock gab, etwa als demokratische Verwandte feudaler Stadtformen.
Da die Häuser ausserdem weit von den Strassen entfernt liegen, entstehen hier völlig diffuse Räume, ein
merkwürdiges Zwittergefühl ohne Fassaden, die angestrebte Hierarchie ist nicht wahrnehmbar. Auch
die Fusswege lassen einen im unklaren, ob sie nun
öffentlich oder privat sind, «halbprivat» , d. h. halbschwanger.
Die Massstabslosigkeit der grossen Wohnquartiere
setzt sich fort in den Platzfolgen, die diese jeweils
zerteilen, und auch die Mitte zwischen den beiden
Hälften ist leer, eine «Deserto urbano» . Hier waren
mit Ausnahme der Schulen und der Kindergärten an
der Peripherie alle öffentlichen Gebäude vorgesehen,
Kirche, Rathaus, Markt, Carabinieri, nicht genug jedenfalls für die zur Verfügung stehende Fläche, absehbares Stückwerk bis heute.
Superflua
Von Anfang an setzte deshalb Ludovico Corrao, seit
dem Erdbeben Bürgermeister Gibellinas, Kunst und
Kultur als Korrektiv und Mittel zum Aufbau ein. Er
forderte zunächst die Intellektuellen zu publikumswirksamer Mitarbeit auf. Am ersten Jahrestag des
Erdbebens traf man sich in den Ruinen zu einem Fackelzug, ein Jahr darauf erneut.
Renato Guttuso malte das Bild «La veglia di Gibellina» , die Wache von Gibellina, Künstler und Bürgermeister des Belice verfassten einen «Aufruf zur
Solidarität» , ... weil es viele Wege gibt, Freiheit zu
verhindern, zu unterdrücken, den Menschen seiner
Rechte und seines Stolzes zu berauben ... «. Die Klage
des Südens.
Als dann der ISES-Plan für die neue Stadt vorgelegt
wurde, begann Corrao eine renitente Auseinander162
setzung mit dem Ministerium in Rom: NO! 1971
schliesslich gestand man ihm deshalb allseits renommierte Architekten zu: Vittorio Gregotti und Gianni
Pirrone, zu der Zeit Professoren an der Architekturfakultät Palermo, planten zusammen mit Vater und
Sohn Samona Rathaus, Markt und Bibliothek, Ludovico Quaroni die Pfarrkirche. Sie stimmten sich selbst
untereinander ab und setzten ihre Gebäude in Beziehung, die Kirche als Stadtkrone auf einer Anhöhe, das
Rathaus als Beginn eines Rückgrates durch die Mitte
der Stadt. Pirrone bemühte sich um eine Verbesserung
des Stadtplanes, Franco Berlanda, Carlo Melograni
und andere entwarfen die Schulen.
Bis Ende der 70er Jahre blieb dies alles Papier. 1979,
also elf Jahre nach dem Erdbeben, konstatierte Corrao selbst: «Quod non fecit ,terremoto‘ fecerunt ...
Die Konstruktion des neuen Gibellina bleibt leider
episodenhaft und gelegentlich ohne eine klare Vision, um die kulturellen Wurzeln seiner Bevölkerung
wiederzugewinnen und ohne die deshalb notwendige
ökonomische Entwicklung. Die gesetzlichen Grundlagen haben beharrlich die Probleme total ignoriert,
nur einmal gab es einen zaghaften Versuch des Parlamentes, wenigstens eine symbolische Summe von 500
Mio. Lire für Kulturgüter bereitzustellen. Neun Jahre
nach diesem Gesetzesentwurf ist das Programm noch
nicht beschlossen, keine Lira davon ausgegeben.»
Dies betraf auch alle Konservierungsarbeiten in den
alten Orten, Kirchenfassaden usw. Für kulturelle und
künstlerische Eingriffe stellte Rom den kommunalen
Verwaltungen schliesslich zwei Prozent der öffentlichen Zuschüsse zur Verfügung, die berühmten zwei
Prozent! Corrao kritisierte scharf die staatlichen
Prioritäten dieses ,Erst machen wir die Häuser, dann
Kunst und Kultur‘: «Wir weisen diese eingebildete
Logik des ,Erst‘ und des ,Nachher‘ zurück, weil man
mit dem ,Erst‘ das ,Nachher‘ determiniert. Das Dilemma ist, dass man, statt Neues zu probieren, auch
nicht das ,Erst‘ machen will. Es ist festzustellen: Elf
Jahre sind vergangen, und das ,Erst die Häuser‘ blieb
ein Versprechen. Der Wiederaufbau hat kaum 20 %
erreicht, das neue Gibellina hat noch nicht die notwendigen und unentbehrlichen Schulen, keine Gesundheitsversorgung, kein Rathaus, nichts.»
Tempo senza tempo, die sizilianische Zeit. Trotz fehlender Mittel war Corraos Arbeit nicht wirkungslos
geblieben. Als 1977 fast als erstes der Friedhof der
neuen Stadt gebaut wurde, gestaltete der Bildhauer
Pietro Consagra die Tore und arbeitete weitere Projekte aus. 1978 gründete Corrao in den Räumen der
im Bau befindlichen Mittelschule das «Centro Studi
Belice» , ein Jahr später initiierte er grosse Künstlertreffen. Zum Manifest, «Gli artisti per la rinascita» ,
15. Juni 1979, wurden neun Lithographien aufgelegt.
Viele Teilnehmer entwarfen Skulpturen und Reliefs,
es begann ein kreativer Prozess, der noch lange nicht
abgeschlossen ist - hoffentlich -, die «Laboratori di
progettazione» .
Zusammen mit anderen betroffenen Gemeinden beauftragte Gibellina den Mailänder Augusto Cagnardi,
mit einer unvoreingenommenen Bestandsaufnahme
der Belice-Planungen, die er zwei Jahre später veröffentlichte: «Belice 1980 - Luoghi Problemi Progetti».
Im September 1980 fand wieder ein «Convegno Internazionale sui Parchi» statt, Mitglieder der Architekturfakultät von Palermo unter der Leitung Pierluigi
Nicolins (Chefredakteur der vierteljährlich erscheinenden Architekturzeitschrift LOTUS) und Gianni
Pirrone organisierten mit vier Bürgermeistern einen
Workshop, um «architektonische Antworten» zu
geben. Bruno Minardi, Franco Purini, Umberto Riva,
Alvaro Siza, Laura Thermes, Francesco Venezia u. a.
entwickelten exemplarische Entwürfe für elf Kommunen, die in Cagnardis Bericht und zum Jahreswechsel
81/82 auf der Triennale Mailand ausgestellt und veröffentlicht wurden.
Die Kritik der «Rekonstruktions-Kultur» fand ihre
Fortsetzung im Convegno «L‘intervento minimo»
, der minimale Eingriff, u. a. mit Lucius Burckhardt
und Bazon Brock. Fünf weitere Veranstaltungen zu
Themen der Anthropologie, der Literatur und des
Films im Mittelmeerraum haben seither stattgefunden. 1983 schliesslich begannen die jährlichen Theaterfestspiele, die «Orestiadi di Gibellina» in den
Trümmern der alten Stadt.
«L‘arte non e superflua» , Kunst ist nicht überflüssig:
Quantität und vor allem Qualität tragen inzwischen
Früchte, viele Künstler und Architekten konnten
Entwürfe realisieren, die Zahl der grossformatigen
Skulpturen wächst von Jahr zu Jahr, momentan sind
es schon über dreissig. Ludovico Corrao zu seiner Absicht 1979: «Unsere Initiative ist und will provokativ
sein, wie jede Einmischung der Kunst in die vergewaltigte und unterdrückte menschliche Gesellschaft wollen wir das Recht auf Kultur fordern und Einspruch
erheben gegen den staatlichen Plan, das grosse kulturelle, geschichtliche und künstlerische Erbgut dieser
Bevölkerung auszurotten und zu enteignen.»
La presenza del passato
Sizilien war geprägt von einer Feudalstruktur, die in
der Lethargie der Bevölkerung bis heute tiefe Spuren hinterlassen hat. Im Belice war das nicht anders,
der Standort des alten Gibellina war beispielsweise
absolut willkürlich, der Feudalherr hatte vom König
die Erlaubnis bekommen, sich an dieser Stelle niederzulassen, und nahm alle seine Bauern mit, basta.
Die Felder lagen deshalb weit entfernt, eben in jenem
Salinella-Distrikt bei Gibellina Nuova.
Als nach jahrhundertelangen Aufständen gegen die
Landverteilung keine Barone mehr existierten, war es
nach der Zerstörung für die Bewohner Gibellinas eine
selbstverständliche Entscheidung, zu ihren Feldern
umzuziehen und sich, wie Corrao sagt, «mit der Welt
zu verbinden» . Den alten Standort bezeichnet er
schlicht als eine «Klammer der Feudalherrschaft» .
Die allgemeinen ökonomischen Probleme Westsiziliens jedoch gaben keinerlei Anlass zur Hoffnung. Seit
den 30er Jahren schrumpfte die Bevölkerung, Arbeits-
losigkeit und Abwanderung prägten nicht nur das
Belice. Selbst die «parasitäre Ökonomie» (Nicolin),
die Mafia, im 19. Jahrhundert auf dem Lande gross
geworden, wanderte in die Städte ab. Siebzig Prozent
der Menschen lebten, soweit noch möglich, von der
Landwirtschaft, im Belice von einer Monokultur, dem
Getreideanbau.
Ansätze, dies endlich zu ändern, sogar eine Gebietsreform, gab es schon in den 60er Jahren vor dem Erdbeben, aber ohne grossen Erfolg. Wie Rom die Situation
wirklich einschätzte und wie effizient vor allem die
eigene Regionalregierung arbeitete, konnte jeder in
den langen zehn Jahren nach der Katastrophe sehen.
Beispielsweise im Vergleich mit Friaul (nach 1976),
was die immensen Subventionen angeht.
Das einzige, was sich zunächst tat, das war der Bau von
150 Kilometern Autobahn (seit 1972), eine gigantomane, aber insgesamt doch sinnvolle Verbesserung
der Infrastruktur Siziliens. Ihre zahllosen unerklärlichen Pilotis liessen den Zynikern der Mafia genügend
Raum, ihre Probleme zu lösen ... : Hilfsgelder verschwanden in Höhe von Dutzenden Lire-Milliarden,
die Mafia war wieder da.
Die Pläne flogen derweil so hoch wie die vermeintlichen Zuschüsse, sie gipfelten in einem Vorschlag des
ISES, Gibellina mit Santa Ninfa, Poggioreale und Salaparuta zusammenzulegen und ein Aluminiumwerk
mit 8000 Arbeitsplätzen zu bauen. Jedermann wusste,
dass das nie realisiert werden würde. Die Kleinökonomie, die neben der Monokultur noch existierte,
war mit dem Erdbeben fast erloschen, die familiären
Strukturen wurden durch das Leben in den Baracken
weiter zerstört. 20 Quadratmeter mussten hier für
fünf bis neun Personen ausreichen: Wohnen in unerträglicher Dichte, Hellhörigkeit und bei extremen
Witterungsbedingungen.
Junge, männliche Arbeitskräfte wanderten meist aus,
Frauen litten traditionellerweise besonders unter dem
Zerfall der Familienstruktur. Corrao und seinen Kollegen war deshalb von Anfang an klar, dass nur eine
neue ökonomische und dezentrale Organisation dem
Belice eine Chance lassen würde, und das bedeutete
für Gibellina eben: Umsiedeln, Anschluss an die Verkehrsachsen, Bewässerungsprojekte, vor allem weg
von der Monokultur, hin zum Anbau von Oliven,
Melonen, Wein, hin zu einer Verarbeitung dieser Produkte.
Wein gab es in Westsizilien zwar schon immer, aber
man schätzte ihn mit Ausnahme des Marsala nicht
höher ein als Wasser, er wurde verschnitten. Das ändert sich nun langsam. Corraos Konzept war, jedem
eine eigene Arbeit zu ermöglichen, und zwar nicht in
einer Fabrik, auch und gerade den Frauen. Deshalb
versuchte er, alte Handwerkstraditionen wiederzubeleben, er regte Kooperativen an. Zumindest bei
der Keramikmanufaktur funktioniert das inzwischen,
hier arbeitet man ausschliesslich nach Entwürfen von
Künstlern.
Diese bekommen nur Reise und Aufenthalt bezahlt,
sie spenden ihre Entwürfe. Soweit es geht, werden
163
selbst grossformatige Plastiken von örtlichen Handwerkern und Helfern realisiert, ein fruchtbares und
gegenseitiges Geben und Nehmen. Seit Ende der 70er
Jahre hat auf diese Weise nicht nur die Bauindustrie,
sondern ebenso die «überflüssige» Kunst vielen Arbeit gegeben, und nicht nur das. Neben einem massvollen Tourismus beschäftigen auch die Museen und
die Theaterfestspiele zahlreiche «Laien» .
Diese unmittelbare Verbundenheit der Bevölkerung,
die Beziehung über das Machen, ist nicht zu unterschätzen. Ein Indiz dafür sind zum Beispiel Skulpturen-Zitate auf Textilien, traditionellen Teppichen und
Zierbroten.
Il Luogo
Der Verlust eines Bezugspunktes, die reale, geistige
und kulturelle Enteignung, das war und ist das Problem Gibellinas. Das Erdbeben zerstörte die Identität; der lange andauernden Versteppungen der sizilianischen Agrarkultur folgte der Umzug und dann die
Versteppung der neuen Stadt.
Für ein Verständnis des heutigen Gibellina ist aber
nicht nur die Kenntnis der Kompetenzen und des Ablaufes, sondern auch der Hinweis auf eine Diskussion
notwendig, die in den 60er und 70er Jahren in Italien
ganz anders geführt wurde als bei uns, die Diskussion
um den «Luogo» , den Ort. Ich denke beispielsweise an die theoretischen Arbeiten und Grossprojekte
Vittorio Gregottis (,,Il territorio dell architettura» ,
1966). Nichts visualisierte das Problem der Entwurzelung eindringlicher als die Anfänge dieser neuen Stadt.
Der «Utopismo meccanocratico» , die Ideologie der
idealen, verkehrsgerechten und durchgrünten Stadt,
die im neuen Gibellina zum Ausdruck kommt - man
kann sie schlecht anders als «modern» bezeichnen,
oder besser «modernistisch» , wenn man die Frage
nach der Qualität stellt. Der Strassenbau war das erste
und einzige, was zunächst im Belice «funktionierte»
, und seine Überdimensionierung im Verhältnis zur
Grösse der Landstädtchen führte zu manchen Karikaturen, sozusagen Infra ohne Struktur, zumal die
Wohngebiete oft sehr viel später gebaut wurden. Die
Notwendigkeit zur Überwindung der verkehrsmässigen Isolierung sollte aber, wie andere Charakteristika
des Belice, weniger nach Ihrer Phänomenologie als
nach ihrem sozialen, historischen und ökonomischen
Sinn für den Ort befragt werden.
Zum Beispiel die Entscheidung, Gibellina zu verlegen, anstatt wie Poggioreale und Salaparuta, die alten
Nachbarn, direkt neben den Trümmern wiederaufzubauen - beide sind inzwischen neue, aber aussterbende
Pensionärsstädte.
Das Umziehen als Charakteristikum des Ortes: Die
oft willkürlichen Standorte der feudalen «Agrocitta» und die Anbaugebiete sind eher ein Hinweis darauf, dass Gibellina sich ursprünglich bereits an der jetzigen Stelle befunden hat. Deshalb behielt man auch
den Namen bei und nannte die Stadt nicht Salinella,
wie es die Provinzialregierung wollte.
Im Vergleich der massstabslosen neuen mit der dichten
164
alten Siedlungsform sind heute zwar Verteidigungsgesichtspunkte hinfällig, nicht aber räumliche und damit auch klimatische Argumente. Der Schatten der
Gassen und die Kultur der Höfe wäre angesichts der
extremeren Witterung als Folge der Verkarstung Siziliens wichtiger denn je. Zum Verlust des Stadtraumes
kam die erstmalige Konfrontation der Einwohner mit
Architektur. Die meisten waren damit beim Bau ihrer
Häuser völlig überfordert. Die einzige Gestaltungsregel - Höhe maximal 10,50 Meter, erdbebensicher,
das war alles, «vollendete» dann, was der Stadtplan
begonnen hatte.
Der neue Standort stellte nicht nur die Frage nach
Siedlungsform und Massstab, dies hat ja Rom präjudiziert, sondern zwangsläufig auch die Frage nach
der Erinnerung. Was war mit den Ruinen zu tun, wie
sollten gerade die Kinder der Baraccopoli die Öde der
neuen Stadt verarbeiten, worauf zurückgreifen? Die
kulturelle Initiative Corraos versuchte die Antwort:
«Das Bedürfnis, das frühere Eigentum zu konfrontieren mit dem gegenwärtigen und zukünftiges Eigentum zu schaffen» , also Identität im Chaos wie in der
Leere, das ist die sozialste Aufgabe der zahlreichen
Skulpturen und Architekturen, besonders der «überflüssigen» . Das Fragmentarische der Arbeiten, ihr
autonomer Charakter, ist dabei nicht Synonym der
Konzeptionslosigkeit, sondern durchaus bewusstes
Zeichen einer kritischen, illusionslosen Hoffnung.
Einer Hoffnung, die die realen Mängel überlagern soll
und die die Entwurzelung vielfältig reflektiert. Der
«Pluralismus der Imagination» ergibt kein einheitliches Bild, aber immerhin ein Bild. Der Widerspruch
als Prinzip ermöglicht eher eine gültige Antwort auf
die Frage nach einer Existenz im heutigen Sizilien als
ein «Hang zum Gesamtkunstwerk» sie geben könnte.
Das Auffüllen des öffentlichen Raumes mit Architektur muss sich mehr noch als die Kunst im direkten Gebrauch beweisen, besonders wenn sie sich nach dem
Willen ihrer Urheber schweigend in die Umgebung
einfügt. Dabei wird die Umkehrung alter Bräuche,
etwa der Wandel der feudalen Case di Stefano zum
öffentlichen Museum und der Baraccopoli zu Gartenhäuschen oder Werkstätten nicht hinderlich sein.
Ars longa vita brevis
«Die Kunst soll nicht mehr Genuss Weniger, sondern
Glück und Leben der Masse sein.» Arbeitsrat für
Kunst. «Wir müssen begreifen, dass Kunst und Leben keine voneinander getrennten Gebiete sind. Und
deshalb muss der Begriff ,Kunst‘ als Illusion, die mit
dem realen Leben nichts zu tun hat, verschwinden.»
Theo van Doesburg, Cornelis van Eesteren.
Zitate aus dem heroischen Aufbruch der Moderne, deren Pathos eine Spekulation erlaubt: Ein Marx könnte
kaum mehr erstaunt gewesen sein, seine kapitalistische
Theorie im Russland des Ersten Weltkriegs aufgehen
zu sehen, als Theo van Doesburg, Piet Mondrian oder
Bruno Taut, ihren alten avantgardistischen Lieblingsgedanken im Belice der Gegenwart wiederzuentdec-
ken. Was der ehemalige Kommunist Corrao und seine
Verwandten im Geiste in Gibellina erreichen, ist keine Hommage an de Stijl, keine Suche nach objektiven
Gestaltungsmitteln oder unmittelbarer Harmonie
mit dem Kosmos, es ist gleichwohl unmittelbar eine
reale Verbindung von Kunst und Leben.
Mag eine aktuelle, transatlantische «Post» -Theorie
auch inzwischen den «avantgardistischen Versuch,
von der Kunst her ein neues Leben zu organisieren,
... als schon im Ansatz verfehlt» einschätzen, warum
sollte es davon keine Ausnahme geben? Vielleicht gerade weil jede Voraussetzung für die Verwirklichung
dieses Konzeptes fehlte, negativ wie positiv. Bäuerliche Kulturen scheinen ein fruchtbarer Boden zu sein.
Mit Kunst und Theater hängen ja nicht nur neue Arbeitsplätze zusammen (wie schön, dies einmal nicht
als Entschuldigung zu hören), jeder Künstler, der
kommt, dokumentiert mit seiner Arbeit vor allem ein
Interesse, für das eine lange benachteiligte Bevölkerung dankbar ist. Der Nachholbedarf einer Agrarkultur, für die viele technische Neuerungen noch relativ
jung sind und die den Hunger noch nicht so lange
vergessen hat, gibt dem «Superflua» eine Chance.
Sicher gewöhnen sich besonders die Älteren schwer
daran, aber das gilt genauso für den Umgang mit zahllosen Baumaterialien oder die bedenkenlose Müllproduktion. Die Zeit wird dabei ihre Rolle spielen.
L. C.
Ludovico Corrao, Jesuitenzögling und Anwalt aus Alcamo - bei der D. C. berüchtigt ob seiner brillianten
Wahlkampfveranstaltungen, die er meist gleichzeitig
mit deren eigenen anberaumte und die das Publikum
der Christdemokraten schwinden liessen wie Wasser
nach einem Dammbruch -, war Senator der Provinz
Trapani in Rom, als im Belice die Erde bebte. Noch
in der Nacht kam er in die am stärksten betroffenen Städte, auch nach Gibellina. Das Entsetzen, die
Ohnmacht, der «Schrei der Verzweifelung» , diese
Eindrücke wurden zum Anstoss für seine Arbeit. Die
«Gibellinesi» nahmen ihn beim Wort, man wählte
ihn zum Bürgermeister, erst Kandidat der P. C. I.,
ist er heute unabhängig. Ohne ihn läuft in der Stadt
nichts. Mit allen Konsequenzen.
Der Anfang: «Die Idee war der Sieg über den Tod,
über die Agonie der vergangenen Jahrhunderte, Armut und Auswanderung. Analphabetentum, Mafia,
Anarchismus, es fehlten die Grundlagen, man war
gezwungen auszuwandern. ,Erdbeben‘ in den sozialen
Strukturen gab es schon lange, das Drama der Natur
kam nur dazu. Die Vergangenheit sprach gegen jede
Hoffnung, ökonomisch wie geschichtlich, das Erdbeben sagte eigentlich: Hört auf, geht weg, es reicht!»
Beeindruckt habe ihn aber auch: «Vier, fünf Tage
nach der Katastrophe heirateten Paare in den Zelten
vor den Trümmern, Kinder wurden geboren. Wie
nach einem Vulkanausbruch bereitete der Tod auf der
Lava neues Leben vor, die Natur hatte sich verjüngt.»
Trotzdem, «warum sollte man ein schlechtes Schicksal wiederholen, warum einen Friedhof der Armut
wieder aufbauen?»
Die Suche: «Der Traum nach Schönem» , sagt Corrao selbstverständlich, «mit Kunst und Kultur» .
Die Bereitschaft zu Neuem, normal für ein Volk der
Emigranten, der Überlebenswille trotz der unendlichen Jahre der Baraccopoli, die Fähigkeit dieser bäuerlichen Kultur, wiederaufzustehen, das bezeichnet er
als «eine grosse Lektion des Lebens. Und was, wenn
nicht das Leben, ist das Problem der Kunst?» So
möchte er auch seinen alten Satz verstanden wissen,
«L‘arte non e superflua» .
Die Tradition: Der ideelle, der geistige Anstoss war
wichtig, das Belice war am Aussterben. So beantwortet er die Frage nach einer ursprünglichen Tradition
mit einer Gegenfrage, «welche Tradition, bei der
bewegten Vergangenheit Siziliens, die elimische, die
griechische, römische, arabische, normannische, spanische? Die Sizilianer sind es gewohnt, dass immer
Neues kommt, nicht nur in chronologischer Abfolge,
sondern als gleichzeitige Kulturen, auch heute. Der
Mensch von Gibellina ist ein wenig wie Odysseus.»
Das Niveau: «Es ist für jeden Menschen ein Traum,
Neues zu erobern. Die Aufgabe der Kunst ist, voranzutreiben, nicht stehenzubleiben. Es ist kein Bruch,
sondern eine Entwicklung, ein Weiterlaufen, man
bringt immer die Tradition mit ein. Piero della Francesca würde heute nicht mehr so malen wie früher,
Raffael war seinerzeit ein Skandal. Der geistige Gehalt
bleibt wichtig, nicht die Form.»
Die Finanzen: «Hat man Geld, hat man keine Ideen, hat man kein Geld, hat man Ideen.» Wie er bzw.
die Gemeinde das alles finanziert, ein Achselzucken,
«immer war das Projekt da, dann kam irgendwie das
Geld, es gibt tausend Wege. Es ist die Leere, die den
Funken überspringen lässt. Statt eines Auftrages sage
ich dem Künstler nur: Mach‘ einen Akt der Liebe.
Keiner fragt, was es kostet, der Künstler nicht, ich
nicht. Der Massstab ist die Freiheit.» Genau dies
dürfte ein Grund sein, warum in Gibellina nun einige
Architekten bauen, die bisher nichts oder nur wenig
realisieren konnten.
Roma: Corrao sitzt in seinem 1971 geplanten Rathaus,
das im Sommer 1987 fertig wurde. Er lächelt. Die normale Verweildauer eines sizilianischen Bürgermeisters
im Amt liege so bei sechs Monaten, ein gewisses Vergnügen muss es ihm inzwischen bereiten, in Rom, im
Ministerium vorbeizuschauen. «Immer noch der!»
Die Klagen seines Pfarrers, die Gemeinde werde auf
ewig ohne Kirche bleiben, nur weil er einen so harten Kopf habe, hätte er immer mit einem «Jedenfalls
härter als Rom» beruhigt. Man hört allerdings so nebenbei, dass er ihn nicht mag ... «Meine Aufgabe ist
es, auf den Fehlern der anderen zu arbeiten. Dadurch,
dass ich mich Künstlern anvertraue, bin ich sicher,
denn auch der Fehler eines Künstlers bleibt Kunst.»
Auf die Öffentlichkeit, sagt er, habe er nie spekuliert,
obwohl er sich über die hilfreiche Wirkung bekannter
Namen natürlich im klaren ist. «Jede Sache hat ihre
eigene Kraft, und die Sachen rufen sich. Alles ist Zufall, aber irgendwo steht alles geschrieben.»
165
Pazienza
Ein frühes «Vorwort» zum sizilianischen Wiederaufbau findet sich im ersten Band der «Oevres complètes» Le Corbusiers. Er berichtet 1915 von einer Anfrage aus Italien, sein System des «Maison Domino»
im 1908 durch ein Erdbeben völlig zerstörten Messina anzuwenden. Das Domino wurde nicht realisiert,
gleichwohl stellt man seither genau so die Erdbebensicherheit her, nämlich mit einem Betonskelett, allerdings schematischer statt serieller Natur. Der Beitrag
des Belice zur italienischen Architektur heute und
darüberhinaus aber liegt eindeutig in der Entwicklung
einer kritischen Rekonstruktions-Kultur, die gerade
mit Entwürfen nach Antworten sucht.
Der Beginn dafür war das grosse «Laboratorium»
des «Belice 80» , als die Wunden, die die unberechenbare Natur und das bürokratische Kalkül des
Zentralismus aufgerissen hatten, zwar sichtbar wurden und nach Abhilfe verlangten, aber noch nicht
endgültig waren und die meisten Neuplanungen
hauptsächlich aus Strassen mit Peitschenmasten bestanden. Die «Modelle» des Belice boten in ihrer
Unvollkommenheit ein breites Spektrum: Gibellina
zog um, Poggioreale und Salaparuta wurden neben
die Ruinen verlegt, Santa Ninfas Altstadt wurde in
ihren alten Grenzen wiederaufgebaut, im Osten neue
Wohnviertel angelegt. Die weniger betroffenen Städte
Partanna, Salemi, Vita und Calatafimi erhielten ebenfalls neue, grosse Erweiterungen. Lange vorgesehene
Verkehrsschneisen durch alte Zentren konnten zum
Teil noch verhindert werden, die Baulücken wurden
mehr oder weniger wieder gefüllt.
Ein exemplarischer Kontrast ergibt sich dabei durch
Gibellina Nuova und Salemi. Beide liegen sich nun im
Tal gegenüber, durch die Autobahn getrennt, durch
den Bahnhof verbunden, beide Städte bilden aber
auch einen konzeptionellen Gegensatz zwischen der
Totalplanung für Gibellina und der Absicht, nach
1980 die Altstadt Salemis wiederherzustellen und mit
den neuen Vierteln im Norden zu einem Ganzen zu
verbinden. Beide Städte sind auch die einzigen, die
den Ideen und Architekten des «Belice 80» eine
Chance zur Realisierung gaben. In Salemi ist Venezias Amphitheater fertig, Alvaro Sizas Umwandlung
der Chiesa Madre-Ruine in einen Platz wird nach
sieben Jahren... gebaut. Die Gregotti Associati haben
unlängst den Wettbewerb für einen Stadtpark als Verbindung zwischen alt und neu gewonnen.
Versuch dualer Harmonie hier, Rettung im Kontrast
in Gibellina. Wenn man diesen Umgang mit Ruinen
im weitesten Sinne summarisch bewertet, wie Siza,
der Poet, mit «fast» Nichts, die Kirche eben nicht
aufbaut, wie Burris Relief oder Venezias leere Häuser
mit elementaren Gesten mehrschichtige Antworten
geben, wie Laura Thermes «unrealistisches» Gibellina-Projekt von 1980 eine harte Analyse der Mängel
lieferte, so ist diese Substanz, denke ich, durchaus mit
dem Niveau eines Carlo Scarpa vergleichbar. Es sind
archaische statt artifizielle Beiträge, aber genau das
entspricht dem Genius Loci. Im Belice geht es nicht
166
um sterbendes Handwerk, sondern um ein sterbendes
Land.
Jede Kritik erweist sich ausserdem als vorschnell,
wenn sie jene sizilianische Eigenart vernachlässigt,
die man dort sooo gedehnt ausspricht: Pazienza, Geduld. Das gilt für die Barackenbewohner, die lieber
dort statt in neuen Häusern wohnen wollen, weil es
viel billiger ist, das gilt auch für die Architektur; jahrelange Pausen zwischen Rohbau und Fertigstellung
sind keine Ausnahme, aber niemand weicht dabei
vom einmal beschlossenen Weg ab. Purinis Apotheke
von 1984 wird gerade mit dem Tuffstein verkleidet,
der von Anfang an auf den Zeichnungen zu sehen war,
Ungers Lageplan von 1982 für die Stadtmitte Gibellinas gilt, auch wenn Marcella Aprile jetzt dort ein neues Museum bauen soll. Corrao würdigt planerisches
Engagement loyal. Die Kehrseite der Geduld ist die
schwer zu überwindende ökonomische Agonie, das
Entwickeln eines wirtschaftlichen Selbstbewusstseins,
ohne das das Belice keine Zukunft hat.
Die Provokation der Kultur kann Gibellina wie der
Region dabei nicht schaden. Jede Plastik und jedes
Projekt visualisiert schliesslich das Bedürfnis nach
Korrektur, Schutz, Form, nach Symbolen und möglicher Erinnerung. Was mit den lausigen zwei Prozent
der öffentlichen Baumittel und Spenden entsteht,
beweist mit seiner Entstehung eigentlich schon seine
Notwendigkeit in dem Sinne, dass es genügend freiwilliges Engagement provoziert hat, um unter den
unmöglichen Bedingungen Gibellinas entstehen zu
können. Die Frage nach dem «Modell» Gibellina
beantwortet Ludovico Corrao: «Eine Sadt ist fertig,
wenn es keinen Pioniergeist mehr gibt. Jede Lösung
eines Problems ruft ein neues Problem hervor, das gelöst sein will. Das Projekt von Gibellina ist, dass man
kein Projekt hat. Es ist ein ständiges Suchen und Forschen.»
Offen dafür sollte nicht nur das Valle del Belice sein.
CATANIA
Italienische Reise, Johann Wolfgang von Goethe
Catania, Mittwoch den 2. Mai 1787
In unserer Herberge befanden wir uns freilich sehr
übel. Die Kost, wie sie der Maultierknecht bereiten
konnte, war nicht die beste. Eine Henne in Reis gekocht, wäre dennoch nicht zu verachten gewesen,
hätte sie nicht ein unmässiger Safran so gelb als ungeniessbar gemacht. Das unbequemste Nachtlager hätte
uns beinahe genötigt Hackens Juchtensack wieder
hervorzuholen, deshalb sprachen wir morgens zeitig
mit dem freundlichen Wirte. Er bedauerte, dass er uns
nicht besser versorgen könne: da drüben aber ist ein
Haus wo Fremde gut aufgehoben sind und alle Ursache haben zufrieden zu sein. - Er zeigte uns ein grosses
Eckhaus, von welchem die uns zugekehrte Seite viel
Gutes versprach. Wir eilten sogleich hinüber, fanden
einen rührigen Mann, der sich als Lohnbedienter angab und, in Abwesenheit des Wirts, uns ein schönes
Zimmer neben einem Saal anwies, auch zugleich versicherte, dass wir aufs billigste bedient werden sollten.
Wir erkundigten uns ungesäumt hergebrachter Weise,
was für Quartier, Tisch, Wein, Frühstück und sonstiges Bestimmbare zu bezahlen sei? das war alles billig
und wir schafften eilig unsere Wenigkeiten herüber,
sie in die weitläufigen, vergoldeten Kommoden einzuordnen. Kniep fand zum erstenmale Gelegenheit
seine Pappe auszubreiten; er ordnete seine Zeichnungen, ich mein Bemerktes. Sodann, vergnügt über die
schönen Räume, traten wir auf den Balkon des Saals,
der Aussicht zu geniessen.
Nachdem wir diese genugsam betrachtet und gelobt,
kehrten wir um nach unsern Geschäften und siehe!
da drohte über unserm Haupte ein grosser goldner
Löwe. Wir sahen einander bedenklich an, lächelten
und lachten. Von nun an aber blickten wir umher, ob
nicht irgend wo eins der homerischen Schreckbilder
hervorschauen möchte.
Nichts dergleichen war zu sehen, dagegen fanden wir
im Saal eine hübsche, junge Frau, die mit einem Kinde von etwa zwei Jahren herumtändelte, aber sogleich
von dem beweglichen Halbwirt derb ausgescholten
dastand: Sie soUe sich hinweg verfügen! hiess es, sie
habe hier nichts zu tun.-Es ist doch hart dass du mich
fortjagst, sagte sie, das Kind ist zu Hause nicht zu begütigen wenn du weg bist und die Herrn erlauben mir
gewiss in deiner Gegenwart das Kleine zu beruhigen?
Der Gemahl liess es dabei nicht bewenden, sondern
suchte sie fortzuschaffen, das Kind schrie in der Türe
ganz erbärmlich und wir mussten zuletzt ernstlich
verlangen, dass das hübsche Madamchen dabliebe.
Durch den Engländer gewarnt, war es keine Kunst die
Komödie zu durchschauen, wir spielten die Neulinge,
die Unschuldigen, er aber machte seine liebreiche Vaterschaft auf das Beste gelten. Das Kind wirklich war
am freundlichsten mit ihm, wahrscheinlich hatte es
die angebliche Mutter unter der Türe gekneipt.
Und so war sie auch in der grössten Unschuld dageblieben als der Mann wegging, ein Empfehlungsschreiben an den Hausgeistlichen des Prinzen Biscaris
zu überbringen. Sie dahlte fort bis er zurückkam und
anzeigte, der Abbe würde selbst erscheinen uns von
dem Näheren zu unterrichten.
Catania, Donnerstag, den 3. Mai 1787
Der Abbe, der uns gestern Abend schon begrüsst hatte, erschien heute zeitig und führte uns in den Palast,
welcher auf einem hohen Sockel einstöckig gebaut ist,
und zwar sahen wir zuerst das Museum, wo marmorne und eherne Bilder, Vasen und alle Arten solcher
Altertümer beisammenstehen. Wir hatten abermals
Gelegenheit unsere Kenntnisse zu erweitern, besonders aber fesselte uns der Sturz eines Jupiters, dessen
Abguss ich schon aus Tischbeins Werkstatt kannte
und welcher grössere Vorzüge besitzt als wir zu beurteilen vermochten. Ein Hausgenosse gab die nötigste
historische Auskunft und nun gelangten wir in einen
grossen hohen Saal. Die vielen Stühle an den Wanden
umher zeugten dass grosse Gesellschaft sich manchmal hier versammle. Wir setzten uns, in Erwartung
einer günstigen Aufnahme. Da kamen ein paar Frauenzimmer herein und gingen der Länge nach auf und
ab. Sie sprachen angelegentlich mit einander. Als sie
uns gewahrten, stand der Abbe auf, ich desgleichen,
wir neigten uns. Ich fragte: wer sie seien? und erfuhr,
die jüngere sei die Prinzessin, die ältere eine edle Catanierin. Wir hatten uns wieder gesetzt, sie gingen auf
und ab wie man auf einem Marktplatze tun würde.
Wir wurden zum Prinzen geführt, der, wie man mir
schon bemerkt hatte, uns seine Münzsammlung aus
besonderem Vertrauen vorwies, da wohl früher seinem Herrn Vater und auch ihm nachher, bei solchem
Vorzeigen manches abhanden gekommen und seine
gewöhnliche Bereit-willigkeit dadurch einigermassen vermindert worden. Hier konnte ich nun schon
etwas kenntnisreicher scheinen, in-dem ich mich bei
Betrachtung der Sammlung des Prinzen Torremuzza
belehrt hatte. Ich lernte wieder und half mir an jenem
dauerhaften Winkelmannischen Faden, der uns durch
die verschiedenen Kunstepochen durchleitet, so ziemlich hin. Der Prinz, von diesen Dingen völlig unterrichtet, da er keine Kenner aber aufmerksame Liebhaber vor sich sah, mochte uns gern in allem wornach
wir forschten belehren.
Nachdem wir diesen Betrachtungen geraume Zeit,
aber doch noch immer zu wenig, gewidmet, standen
wir im Begriff uns zu beurlauben, als er uns zu seiner
Frau Mutter führte, woselbst die übrigen kleinem
Kunstwerke zu sehen waren.
Wir fanden eine ansehnliche, natürlich-edle Frau,
die uns mit den Worten empfing: sehen sie sich bei
mir um, meine Herrn, sie finden hier alles noch wie
es mein seliger Gemahl gesammelt und geordnet hat.
Dies danke ich der Frömmigkeit meines Sohnes, der
mich in seinen besten Zimmern nicht nur wohnen,
sondern auch hier nicht das geringste entfernen oder
169
verrücken lässt was sein seliger Herr Vater anschaffte
und aufstellte; wodurch ich den doppelten Vorteil
habe, sowohl auf die so lange Jahre her gewohnte
Weise zu leben, als auch, wie von jeher, die trefflichen
Fremden zu sehen und näher zu kennen, die, unsere
Schätze zu betrachten, von so weiten Orten herkommen.
Sie schloss uns darauf selbst den Glasschrank auf, worin die Arbeiten in Bernstein aufbewahrt standen. Der
Sicilianische unterscheidet sich von dem nordischen
darin, dass er von der durchsichtigen und undurchsichtigen Wachs- und Honigfarbe durch alle Abschattungen eines gesättigten Gelbs bis zum schönsten
Hyazinthrot hinansteigt. Urnen, Becher und andere
Dinge waren daraus geschnitten, wozu man grosse
bewundernswürdige Stücke des Materials mitunter
voraussetzen musste. An diesen Gegenständen, so
wie an geschnittenen Muscheln, wie sie in Trapani
gefertigt werden, ferner, an ausgesuchten Elfenbeinarbeiten, hatte die Dame ihre besondere Freude und
wusste dabei manche heitere Geschichte zu erzählen.
Der Fürst machte uns auf die ernsterem Gegenstände
aufmerksam und so flossen einige Stunden vergnügt
und belehrend vorüber.
Indessen hatte die Fürstin vernommen, dass wir Deutsche sei(e)n, sie fragte daher nach Herrn von Riedesel,
Barthels, Münter, welche sie sämtlich gekannt und
ihren Charakter und Betragen gar wohl unterscheidend zu würdigen wusste. Wir trennten uns ungern
von ihr und sie schien uns ungern wegzulassen. Dieser Inselzustand hat doch immer etwas einsames, nur
durch vorübergehende Teilnahme aufgefrischt und
erhalten.
Uns führte der Geistliche alsdann in das Benedictinerkloster, in die Zelle eines Bruders, dessen, bei
mässigem Alter, trauriges und in sich zurückgezogenes Ansehn wenig frohe Unterhaltung versprach. Er
war jedoch der kunstreiche Mann, der die ungeheuere
Orgel dieser Kirche allein zu bändigen wusste. Als er
unsere Wünsche mehr erraten als vernommen, erfüllte
er sie schweigend; wir begaben uns in die sehr geräumige Kirche, die er, das herrliche Instrument bearbeitend, bis in den letzten Winkel mit leisestem Hauch
sowohl als gewaltsamsten Tönen durchsäuselte und
durchschmetterte.
Wer den Mann nicht vorher gesehen, hätte glauben
müssen, es sei ein Riese der solche Gewalt ausübe, da
wir aber seine Persönlichkeit schon kannten, bewunderten wir nur, dass er in diesem Kampf nicht schon
längst aufgerieben sei.
Catania, Freitag den 4.Mai 1787
Bald nach Tische kam der Abbe mit einem Wagen,
da er uns den entferntern Teil der Stadt zeigen sollte. Beim Einsteigen erreignete sich ein wundersamer
Rangstreit. Ich war zuerst eingestiegen und hätte ihm
zur linken Hand gesessen, er, einsteigend, verlangte
ausdrücklich, dass ich herumrücken und ihn zu meiner Linken nehmen sollte; ich bat ihn, dergleichen
170
Zeremonien zu unterlas­sen. »Verzeiht«, sagte er,
»dass wir also sitzen, denn wenn ich meinen Platz zu
Eurer Rechten nehme, so glaubt jedermann, dass ich
mit Euch fahre, sitze ich aber zur Linken, so ist es ausgesprochen, dass Ihr mit mir fahrt, mit mir nämlich,
der ich Euch im Namen des Für­sten die Stadt zeige«.
Dagegen war freilich nichts einzu­wenden, und also
geschah es.
Wir fuhren die Strassen hinaufwärts, wo die Lava,
wel­che 669 einen grossen Teil dieser Stadt zerstörte,
noch bis auf unsere Tage sichtbar blieb. Der starre
Feuerstrom ward bearbeitet wie ein anderer Fels,
selbst auf ihm wa­ren Strassen vorgezeichnet und teilweise gebaut. Ich schlug ein unbezweifeltes Stück des
Geschmolzenen herunter, bedenkend, dass vor meiner Abreise aus Deutschland schon der Streit über die
Vulkanität der Basalte sich entzündet hatte. Und so
tat ich‘s an mehrern Stellen, um zu mancherlei Abänderungen zu gelangen.
Wären jedoch Einheimische nicht selbst Freunde ihrer
Gegend, nicht selbst bemüht, entweder eines Vorteils
oder der Wissenschaft willen, das, was in ihrem Revier
merkwürdig ist, zusammenzustellen, so müsste der
Rei­sende sich lang vergebens quälen. Schon in Neapel
hatte mich der Lavenhändler sehr gefordert, hier in einem weit höheren Sinne der Ritter Gioeni. Ich fand in
seiner rei­chen, sehr galant aufgestellten Sammlung die
Laven des Ätna, die Basalte am Fuss desselben, verändertes Gestein, mehr oder weniger zu erkennen; alles
wurde freund­lichst vorgezeigt. Am meisten hatte ich
Zeolithe zu be­wundern aus den schroffen, im Meere
stehenden Felsen unter Jaci.
Als wir den Ritter um die Mittel befragten, wie man
sich benehmen müsse, um den Ätna zu besteigen,
wollte er von einer Wagnis nach dem Gipfel, besonders in der gegenwärtigen Jahreszeit, gar nichts hören.
»Über­haupt«, sagte er, nachdem er uns um Verzeihung gebeten, »die hier ankommenden Fremden sehen die Sache für allzu leicht an; wir andern Nachbarn
des Berges sind schon zufrieden, wenn wir ein paarmal
in unserm Leben die beste Gelegenheit abgepasst und
den Gipfel erreicht haben. Brydone, der zuerst durch
seine Beschreibung die Lust nach diesem Feuergipfel
entzündet, ist gar nicht hinaufgekommen; Graf Borck
lässt den Leser in Ungewissheit, aber auch er ist nur
bis auf eine gewisse Höhe gelangt, und so könnte ich
von mehrern sagen. Für jetzt erstreckt sich der Schnee
noch allzuweit herunter und breitet unüberwindliche
Hindernisse entgegen. Wenn Sie meinem Rate folgen
mögen, so reiten Sie morgen bei guter Zeit bis an den
Fuss des Monte Rosso, besteigen Sie diese Höhe; Sie
werden von da des herrlichsten Anblicks geniessen
und zugleich die alte Lava bemerken, welche dort,
1669 entsprungen, unglücklicherweise sich nach der
Stadt hereinwälzte. Die Aussicht ist herrlich und
deutlich; man tut besser, sich das übrige erzählen zu
las­sen.«
Catania, Sonnabend den 5. Mai 1787
Folgsam dem guten Rate, machten wir uns zeitig auf
den Weg und erreichten, auf unsern Maultieren immer rückwärts schauend, die Region der durch die
Zeit noch ungebändigten Laven. Zackige Klumpen
und Tafeln starrten uns entgegen, durch welche nur
ein zufälliger Pfad von den Tieren gefunden wurde.
Auf der ersten be­deutenden Höhe hielten wir still.
Kniep zeichnete mit grosser Präzision, was hinaufwärts vor uns lag: die La­venmassen im Vordergrunde,
den Doppelgipfel des Monte Rosso links, gerade über
uns die Wälder von Ni­colosi, aus denen der beschneite, wenig rauchende Gipfel hervorstieg. Wir rückten
dem roten Berge näher, ich stieg hinauf: er ist ganz
aus rotem vulkanischem Grus, Asche und Steinen
zusammengehäuft. Um die Mündung hatte sich bequem herumgehen lassen, hätte nicht ein gewaltsam
stürmender Morgenwind jeden Schritt unsicher gemacht; wollte ich nur einigermassen fort­kommen, so
musste ich den Mantel ablegen, nun aber war der Hut
jeden Augenblick in Gefahr, in den Krater getrieben
zu werden und ich hinterdrein. Deshalb setzte ich
mich nieder, um mich zu fassen und die Gegend zu
überschauen; aber auch diese Lage half mir nichts:
der Sturm kam gerade von Osten her über das herrliche Land, das nah und fern bis ans Meer unter mir
lag. Den ausgedehnten Strand von Messina bis Syrakus mit sei­nen Krümmungen und Buchten sah ich
vor Augen, entweder ganz frei oder durch Felsen des
Ufers nur we­nig bedeckt. Als ich ganz betäubt wieder
herunterkam, hatte Kniep im Schauer seine Zeit gut
angewendet und mit zarten Linien auf dem Papier
gesichert, was der wilde Sturm mich kaum sehen, viel
weniger festhalten liess.
In dem Rachen des Goldenen Löwen wieder ange­
langt, fanden wir den Lohnbedienten, den wir nur
mit Mühe uns zu begleiten abgehalten hatten. Er
lobte, dass wir den Gipfel aufgegeben, schlug aber
für morgen eine Spazierfahrt auf dem Meere zu den
Felsen von Jaci an­dringlich vor: das sei die schönste
Lustpartie, die man von Catania aus machen könne!
Man nehme Trank und Speise mit, auch wohl Gerätschaften, um etwas zu wär­men. Seine Frau erbiete
sich, dieses Geschäft zu über­nehmen. Ferner erinnerte
er sich des Jubels, wie Englän­der wohl gar einen Kahn
mit Musik zur Begleitung ge­nommen hätten, welche
tust über alle Vorstellung sei.
Die Felsen von Jaci zogen mich heftig an, ich hatte
grosses Verlangen, mir so schöne Zeolithe herauszu­
schlagen, als ich bei Gioeni gesehen. Man konnte ja
die Sache kurz fassen, die Begleitung der Frau ablehnen .. Aber der warnende Geist des Engländers behielt
die Oberhand, wir taten auf die Zeolithe Verzicht und
dünk­ten uns nicht wenig wegen dieser Enthaltsamkeit.
Catania, Sonntag den 6. Mai 1787.
Unser geistlicher Begleiter blieb nicht aus. Er führte
uns, die Reste alter Baukunst zu sehen, zu welchen der
Beschauer freilich ein starkes Restaurationstalent mit­
bringen muss. Man zeigte die Reste von Wasserbehäl­
tern, einer Naumachie und andere dergleichen Ruinen, die aber bei der vielfachen Zerstörung der Stadt
durch Laven, Erdbeben und Krieg dergestalt verschüttet und versenkt sind, dass Freude und Belehrung nur
dem ge­nauesten Kenner altertümlicher Baukunst daraus ent­springen kann.
Eine nochmalige Aufwartung beim Prinzen lehnte der
Pater ab, und wir schieden beiderseits mit lebhaften
Ausdrücken der Dankbarkeit und des Wohlwollens.
171
Catania
Vedute, vor 1669
Catania
Vedute von F. Orlando, 1761
Catania
Vedute von A. Vacca, 1780
Catania
Stadtplan von Sebastiano Ittar, 1832
Der Barock in Catania
in: Sizilianischer Barock / Anthony Blunt; übers. von Erika Schindel,
Frankfurt a. M.: Ariel 1972
Catania litt schwerer als jede andere grössere Stadt
unter dem Erdbeben von 1693. Ausser dem mittelalterlichen Castello Ursino und den drei Apsiden der
normannischen Kathedrale haben sich von älteren
Gebäuden nur ein paar Portale erhalten, einige an der
Kathedrale, andere an Adelshäusern. Im Grunde wurde die Stadt zwar an alter Stelle, aber doch ex novo
erbaut, wobei die Stadtplaner zwei breite Hauptstrassenzüge anlegten, die sich auf der Piazza deI Duomo
recht­winklig schnitten und das neue Catania in vier
Quartiere aufteilten.
Der Wiederaufbau wurde unter der Oberleitung des
Erzbischofs von Catania und mit Hilfe des einzigen
überlebenden Baumeisters, Alonzo di Benedetti, rasch
in die Wege geleitet. Doch wurden auch Baumeister
aus anderen Städten zu Hilfe geholt, wahrscheinlich in
der Haupt­sache aus Messina. Heute ist es nicht mehr
möglich, den Anteil Benedettos und seiner Helfer am
Gesamtwerk zu unterscheiden, doch müssen sie in ungewöhnlicher Harmonie zusammengear­beitet haben,
da der Stil ihrer Bauten erstaunlich einheitlich ist.
Die ersten Stadien der Bautätigkeit spiegeln sich in
den Gebäuden, die den grossen Platz um die Kathedrale umgeben. Die drei Palazzi der Südseite, das Erzbischöfliche Palais, das Seminario und ein Adelspalast
an der Südwestecke, bezeichnen die erste Bauphase
nach dem Erdbeben. Sie ähneln in ihrer Gestaltungsweise dem Municipio von Acireale und stellen zweifelsohne eine direkte Fortsetzung der im späten 17.
Jahrhundert herrschenden Stilrichtung dar. Die Dekors um die Fenster sind phantasievoll im Detail und
wirken, als ob sie mit der Laubsäge ausge­schnitten
wären, was an eine Herkunft vom Holzschnittornament denken lässt. Doch den grössten Einfallsreichtum zeigt die verschiedenartige Rustizierung der
durchgehenden Pilaster. Einzelne Teilabschnitte sind
flach und entweder rechteckig oder oval, oft mit Diamantschnitt verziert, andere sind mit verschlungenem
Dekor und wieder andere mit Akanthusblättern in
Flachrelief geschmückt. Bei späteren Bauten ist dieser
Dekorationsstil zu meisterlicher Vollen­dung entwickelt. Am Palazzo Massa z. B., der als einer von vier an
den vier Ecken einer Kreu­zung geplanten Palazzi entworfen wurde, wie wir es aus Palermo von der Piazza
Quattro Canti kennen, sind je drei Pilaster am Ende
der Hauptfronten gekuppelt, so dass die Fenster an
den abgeschnittenen Ecken von sechs Pilastern flankiert sind, die in verschiedenster Weise phantasie­voll
rustiziert sind. Die Fenster über dem Hauptportal
dieses Palazzo (Bild 24), an den Wänden des Palazzo Biscari (Bild 25) und .am Hauptflügel des Klosters
der Benedettini (Bild 26) sind ebenfalls überreich geschmückt. Sie haben ihren Ausschnittcharakter völlig
verloren und spren­gen ihren Rahmen durch eine Fülle
von Rollwerk, Masken, Fruchtgehängen, Kartuschen
und Muscheln, sowie von Putten und mythologischen
Figuren in Hochrelief.
Die gesamte künstlerische Situation änderte sich um
176
1730 mit der Ankunft von Giovanni Battista Vaccarini, der vom Senat mit höchst schmeichelhaften
Ausdrücken zum Stadtbaumei­ster ernannt worden
war. Vaccarini ist 1702 in Palermo geboren und wurde
wahrscheinlich kurz nach 1720 zur Ausbildung nach
Rom geschickt. Dort lernte er die römische Formen­
sprache kennen, die sich auf einer Synthese der von
Borromini und Bernini zwei Generationen vorher
vertretenen Architekturideen gründete. Bereits vor
1700 hatten einzelne Baumeister begonnen, die Methoden der beiden grossen Meister zu vereinen. Frühe
Beispiele dieser Fu­sion sind der Palazzo Altieri und
der Palazzo Asti-Bonaparte von Giovanni Antonio
de‘ Rossi. Eine zweite, noch einflussreichere Synthese
gelang Carlo Fontana (gest. 1714), dessen Bauweise
sich über ganz Europa verbreitete, zum Teil deshalb,
weil er eine gewisse französische Zurück­haltung mit
dem Monumentalstil des römischen Barock vereinigte. Dieser Stil behauptete sich auch weiter nach Fontanas Tod, und die relativ klassische Bauweise Galileis,
wie wir sie in der Fassade der Lateransbasilika vertreten finden, ist auf Fontanas Einfluss zurückzuführen.
Für Vaccarini scheint jedoch die rivalisierende Schulrichtung der Alessandro Specchi, Francesco de Sanctis
und Filippo Raguzzini eine stärkere Anziehungskraft
besessen zu haben. Diese Baumei­ster verwarfen Fontanas klassische Tendenzen und entwickelten einen
bewegteren Stil. Die bei­den ersten waren Meister im
Entwurf von Aussentreppen, wofür Speechis Treppe
von S. Ripetta von 1704, die heute nicht mehr vorhanden ist, und de Sanctis‘ Spanische Treppe von
1723-25 Musterbeispiele bilden. Raguzzinis Hospital
S. Gallicano (1725-26) und seine Bauten rund um die
Piazza S. Ignazio (1727-28) entstanden zu der Zeit,
als Vaccarini in Rom weilte, und beson­ders letztere
entsprachen sicherlich seinem Geschmack. Man sollte
auch daran denken, dass der grösste Baumeister seiner
Generation, Filippo Juvara, ebenfalls Sizilianer war
und demselben Kar­dinal Ottobuoni seine Förderung
verdankte, der Vaccarini von Palermo nach Rom geholt hatte.
Ein weiterer sizilischer Baumeister, Pietro Passalacqua, war zu dieser Zeit sehr wahrscheinlich ebenfalls
in Rom tätig, wenn auch seine frühesten nachweisbaren Bauten späteren Datums sind.
Die Folgen der Ankunft Vaccarinis in Catania spiegeln sich am deutlichsten im Municipio, das den Abschluss der Nordseite der Piazza deI Duomo bildet
(Bild 31). Das Erdgeschoss war schon begonnen, als
er die Bauleitung übernahm, und so zeigt es die für
den Frühstil Catanias charakteristische Rustizierung.
Vaccarinis Fenster und Obergeschoss erhielten jedoch
gänzlich andere Stilformen. Die Pilaster sind weiter
hochgeführt, aber ohne Rustizierung, und sie tra­gen
ein Gesims, wie es im zeitgenössischen Rom üblich
war. Auch die Fenster sind vom herge­brachten römischen Typ. Im Untergeschoss sind es halbrunde Segmentfenster, wie sie Rossi liebte, und die Fenster des
piano nobile zeigen gekröpfte Giebel mit rückläufiger
Endigung, die Vaccarini in späteren Bauten oft verwendete. Der Eindruck römischer Monumentalität
wird er­höht durch das mächtige Portal, dessen freiste-
Platz der Kathedrale
24
25
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33
26
hende Doppelsäulen einen geraden Balkon tragen.
Vor dem Municipio errichtete Vaccarini 1736 einen
Brunnen, der mit einem obeliskentragenden Elefanten geschmückt war, dem Wappensymbol Catanias.
In der Idee geht der Brunnen auf Berninis Elefant vor
S. Maria sopra Minerva in Rom zurück, aber während
dort der Sockel aus einem einfachen Quader besteht
und sich das Hauptinteresse auf die Bewegung des
Tieres richtet, trägt er hier figuralen Schmuck, und
der aus schwarzer Lava bestehende Elefant ist mehr
ein heraldisches Motiv und ziemlich primitiv gestaltet. Obelisk wie Elefant sind an­geblich alt, beide jedoch stark restauriert.
Vaccarini vervollständigte den Platz durch den Bau
der Domfassade an der Ostseite, ein Werk, das sich
über dreissig Jahre hinzog und erst 1768 beendet
war. In dieser Fassade kommt seine Vertrautheit mit
der Formensprache des römischen Barock sehr überzeugend zum Aus­druck. Es ist Vaccarini jedoch nicht
recht gelungen, die verschiedenen Partien der ungewöhnlich breiten Front zu einer überzeugenden Einheit zu verbinden. Wenn auch die über Eck gestellten
Säulen und die schwungvollen Kurven der Fensterbekrönungen ausserordentlich lebendig wir­ken, gilt
diese Dynamik nur für Einzelheiten und nicht für die
Gesamtfläche der Fassade.
In seinen anderen Entwürfen war Vaccarini mehr
Erfolg beschieden. Seine besten Palastfas­saden sind
im Mittelteil stark betont (Bild 33). Die Mitte des
Palazzo Valle besitzt zum Beispiel ein durch kräftige
und an den Seiten schräggestellte Konsolen hervorgehobenes Portal, das von einem dekorativen Balkon
bekrönt ist. Der Mittelteil des Balkons springt in einer
harmonisch ausgewogenen Kurve vor und setzt sich
nach beiden Seiten in schrägen Geraden fort, die ein
Stück über die Konsolen hinausgehen. Das diesem
Unterbau entsprechende, dreigeteilte schmiedeeiserne Balkongitter wäre im lebhaften Spiel seiner Kurve
in der zeitgenössischen Archi­tektur Roms undenkbar
gewesen. Sein Bewegungsrhythmus setzt sich in der
Giebelbekrönung der Mittelpartie der Fassade fort
sowie in den kleineren Balkonen entlang der Fassade.
Schmiedeeiserne Balkongitter dieses Typs waren in
der sizilischen Profanarchitektur des 18. Jahrhunderts
sehr beliebt und finden sich überall auf der Insel. Aus
Vaccarinis Entwürfen für arkaden geschmückte Höfe
geht hervor, dass er auch für hei­ter-beschwingte Architekturschöpfungen begabt war. Dazu gehört das
ihm mit grosser Wahr­scheinlichkeit zugeschriebene
Jesuitenkolleg mit seinen Arkaden im Obergeschoss,
die schwung­volle doppelte Bekrönungen tragen, sowie die Universität (Bild 34), deren Arkaden zwar
nüch­terner wirken, deren Innenhof jedoch durch ein
dekoratives Pflaster aus schwarzer Lava und Kieseln
belebt ist. Die - leider stark verfallene - Loggia seines
Wohnhauses (Bild 36) beweist, dass er auch reizvolle
Wirkungen in kleinerem Rahmen hervorzubringen
verstand.
Die Kirchenentwürfe Vaccarinis waren von grossem
Einfluss auf die zeitgenössische Bau­kunst Siziliens.
Er war der erste, der die in den letzten fünfzig Jahren
in Rom gültigen Grundriss­typen hier einführte. Sein
178
Entwurf von S. Agata basiert z.B. auf S.Agnese an der
Piazza Navona, und seinem Entwurf von S. Giuliano
hat er den ovalen Grundriss von S. Maria in Monte
Santo auf der Piazza del Popolo zugrunde gelegt.
Doch in beiden Fällen wandelte er diese Vorbilder
nach seinen Ideen ab. In S. Agata (Bild 40) hob er den
Chor dadurch hervor, dass er ihm zum Kir­chenraum
eine wesentlich höhere Öffnung gab, als sie die grösseren Seitenkapellen besitzen. Er erreichte damit die
Betonung der auf den Altar zuführenden Mittelachse
der Kirche und wirkte ihrem Charakter als Zentralbau entgegen, der für S. Agnese bestimmend war. In S.
Giuliano ist der überkuppelte Zentralraum ein längliches Oktogon und kein Oval mehr wie beim römischen Vorbild, eine Veränderung, die dem Raum eine
stärkere Dynamik verleiht. Für die Innen­dekoration
beider Kirchen war Vaccarini nicht mehr zuständig.
Sie wurde erst nach seinem Tod vorgenommen. S.
Agata ist mit leichten, stukkierten Rokokopaneelen
verziert, die zwar künstlerisch reizvoll sind, aber zur
römischen Monumentalität des Innenraums schlecht
passen, wäh­rend das Innere von S. Giuliano zu Beginn
des 19. Jahrhunderts erneuert wurde, wobei die Wände einen dunkelbeigen Anstrich erhielten und ein
ringsumlaufender vergoldeter Zahnfries hinzugefügt
wurde.
Vaccarinis Fassadengestaltung ist unterschiedlich. Bei
S. Giuliano (Bild 38) entschied er sich für einen einfachen gerundeten Vorsprung in der Mitte einer sonst
geraden Fassade, die er durch flache dorische und ionische Pilaster betonte. Der Giebel dieses Mittelteils
erhob sich fast bis zur Höhe der den Zentralraum
krönenden, oktogonalen Loggia, auf der die Nonnen
die kühle Abendluft geniessen und von wo aus sie an
Festtagen ungesehen die vorbeiziehenden Prozessionen beobachten konnten - eine übliche Einrichtung
in vielen sizilianischen Klöstern.
Die Fassade von S. Agata ist komplexer (Bild 27). Im
Grundriss ist sie doppelt S-förmig ge­krümmt wie die
Fassade von Borominis S. Carlo alle Quattro Fontane,
bei der jedoch umge­kehrt wie hier die äusseren Partien konkav und der Mittelteil konvex ist. S. Agata
besitzt ein Obergeschoss mit hoher Attika, in das der
Giebel des Mittelportals hineinragt. Ein ungewöhn­
licher Zug sind die schmiedeeisernen Körbe, die in
der Höhe der Kapitelle aufgesetzt sind. Für alle sizilischen Klosterkirchen war es charakteristisch, dass
sich auf der Westseite die Nonnen­emporen befanden.
Ihre ausladenden, vergitterten Balkone stellten eine
malerische Be­reicherung des Innenraums dar. Aber in
diesem Fall sind die Nonnenemporen nach aussen ver­
legt und zu einem Dekorationsmotiv der Fassade‘ geworden. Bei sizilischen Kirchen kommt dies hie und
da vor, vor allem in Catania (vgl. Bild 32). Aber selten
erstrecken sich diese Fenster­körbe über die volle Breite der Fassade und sind vom Baumeister so geschickt
in den Entwurf einbezogen.
Die Fassade von S. Agata zeigt Vaccarini auf dem Höhepunkt seines Talents für den Ent­wurf dekorativen
Details. Der glatte Kalkstein Catanias, der sich ausgezeichnet für die Her­ausarbeitung feiner Einzelheiten eignet, gestattete ihm die exakte Umsetzung der
34
36
38
40
bronze­nen Festonborte von Berninis Baldachin der
Peterskirche in Stein, und so liess er sie unterhalb Der
Barockstil Vaccarinis beherrschte die Architektur Catanias für mehrere Jahrzehnte, doch gab es auch Baumeister, die in anderem Stil bauten als er, wenngleich
deren Namen nicht über­liefert sind. Die Fassade der
Jesuitenkirche ist ein Entwurf in der konventionellen
römischen Bauweise, während das benachbarte S. Benedetto (Bild 32) sich enger an syrakusische Vorbilder anschliesst, zumindest in seinem Untergeschoss
mit dem durch schwere balkenkopfartige Gebilde
betonten Gesims und dem gebrochenen, figurenbesetzten Segmentgiebel. Diese Fassade ist ver­mutlich
ziemlich späten Datums, da das hinter ihr liegende
Vestibül die Jahreszahl 1763 trägt. Das Vestibül selbst
(Bild 43) hat eine ungewöhnliche und einfallsreiche
Form. Es diente vor allem dazu, die Treppenflucht
aufzunehmen, die das Kircheninnere mit der viel tieferliegenden Strasse verbindet. Auf halber Höhe ist
dann die Treppe von einem mit schwarzem und weissem Marmor eingelegten Podest unterbrochen, an das
sich beiderseits zwei runde Plattformen an­schliessen.
Sie führen zu den Klostereingängen und sind von Balustraden mit lebensgrossen En­geln in berninischer
Manier umgeben.
Es bestehen gute Gründe für die Vermutung, dass
Vaccarini 1756, als er damit beschäftigt war, Marmor
für die Kapelle des Königlichen Palasts in Caserta
auszuwählen, Neapel besucht hat. Bei dieser Gelegenheit scheint er die neue, klassizistische Bauweise kennengelernt zu haben, der Fensterkörbe als reizvolles
Relief an der gesamten Kirchenfront entlanglaufen.
Eine noch brillantere Leistung stellen die Kapitelle
dar. In bewundernswert scharfer Profilierung geben
sie die Lilien der Jungfräulichkeit, die Palmen des
Märtyrertums und die Krone der himmlischen Glorie
wieder, sämtlich Symbole der hl. Agata, der die Kirche
geweiht war. Fast mit Sicherheit holte sich Vaccarini
die Anregung zu diesen symbolischen Kapitellen von
Guarini (Bild 29), der in seinem Architekturtraktat
eine ganze Seite solcher Entwürfe bringt. Doch geht
Vaccarini über sein Vorbild hinaus, indem er nicht nur
die Akanthusblätter, sondern auch das Rosetten­ und
Rankenwerk, die typischen Merkmale des korinthischen Kapitells, durch Symbolmotive ersetzt, so dass
sein Entwurf ausschliesslich aus Palmen, Lilien und
Kronen besteht.
Angesichts der Neuartigkeit und Erfindungskraft
dieser Kapitelle ist man überrascht, als Mittelpunkt
seiner Fassade ein Portal anzutreffen, das in seiner
allgemeinen Form auf einen sizilischen Portaltyp des
17. Jahrhunderts zurückgeht, wie er sich etwa an der
Fassade von S. Se­bastiano in Acireale findet. Die Erklärung dafür mag in der Tatsache liegen, dass dreissig
Jahre lang an S. Agata gebaut wurde und die Mittelpartie der Fassade als Ganzes vermutlich wesent­lich
später entworfen ist als das Portal die Vanvitelli und
Ferdinando Fuga hier eingeführt hatten, so dass sich
der Einfluss ihres Stils in seinen Spätwerken, wie dem
Collegia Cutelli und der Picola Badia, bemerkbar
macht.
Im Vergleich zum Hof des Jesuitenkollegs ist die römi180
sche Dorik des Collegio Cutelli ebenso feierlich und
monumental wie die des Atriums in Caserta. Doch die
Tatsache, dass es sich um einen runden Hof handelt,
wirkt einer zu grossen Strenge entgegen. In der Mittelachse des Col­legio gegenüber dem Eingang steigt eine
imposante Treppe empor, die in einem Rechteck mit
halbrunden Schmalseiten endet. In die Treppe eingemeisselt ist die Jahreszahl 1779. Da dies elf Jahre nach
dem Zeitpunkt von Vaccarinis Tod war, kann sie nur
von einem seiner Schüler erbaut sein. Möglicherweise
liegt ihr jedoch ein Entwurf des Meisters zugrunde.
Sie würde sei­nem Altarstil genau entsprechen. Vaccarinis barocke Neigungen spiegeln sich in einem Detail
des Collegio Cutelli wider, der Fussbodenornamentik
aus weissen Steinen und Lava, die noch lebhafter bewegt ist als die des Jesuitenkollegs.
Ein profanes Spätwerk Vaccarinis war der Palazzo del
Principe di Reburdone, dessen Haupt­charakteristikum
die offene doppelläufige Treppe am Ende des Hofes
ist. Sie folgt in der Kon­struktion einem Muster, das
Felice Sanfelice häufig in neapolitanischen Adelspalästen ange­wandt hat. Hier besteht jedoch ein wichtiger
Unterschied. Während Sanfelice in echt barocker Manier die Treppenflucht als willkommenen Anlass für
eine starke Betonung der Diagonalen benutzte, hat
sich Vaccarini eine Komposition aus zwei horizontalen Arkadenreihen ausge­dacht, wobei nur das Ansteigen der seitlichen Balustraden des Untergeschosses
verrät, dass es sich um eine Treppe handelt und nicht
einfach um eine zweistöckige Loggia. Die Strenge des
Details entspricht den klassizistischen Tendenzen von
Vaccarinis Spätstil.
Es gibt in Catania zwei weitere Kirchen im Stil der
Spätphase Vaccarinis, die vielleicht von sei­ner Hand
stammen, die Chiesa del Crociferi und SS. Trinità.
Sie unterscheiden sich insofern von seinen früheren
Schöpfungen, als ihre Fassaden eine breite konkave
Mittelpartie besitzen, die von ziemlich schmalen, geraden Seiten flankiert ist. In SS. Trinità ist die Mittelpartie gleich­mässig eingezogen, während sie in der
Chiesa deI Crociferi zu drei geraden Flächen gebrochen ist. Dadurch wirkt die Gesamtfassade eckig, und
es ergeben sich unangenehme Unterbrechungen in
dem kurvig verlaufenden Giebel, der das untere mit
dem oberen Geschoss optisch verbindet. Auffallend
sind bei diesen Kirchen die römisch beeinflussten,
klassizistischen Details. ähnliche Schmuckformen
finden sich an Vaccarinis Fassade der Piccola Badia
von S. Benedetto. Hier müssen die durchgehenden
Pilaster einer früheren Phase angehören, während die
scharfgeschnit­tenen einfachen Schmuckmotive des
Portals für seinen Spätstil typisch sind.
Die späten Kirchenbauten Vaccarinis bilden ein Verbindungsglied zu den Werken Stefano Ittars, des bedeutendsten Baumeisters der nächsten Generation. Er
entstammte einer toska­nischen Familie namens Guidone da Hittar, die sich in Rom niedergelassen hatte,
wo er auch seine Ausbildung erhielt. Über seine Lehrer ist nichts bekannt, aber aus dem Stil seiner Werke
geht hervor, dass er die klassizistische Bauweise, die
um die Jahrhundertmitte im Kreis um den Kardinal
Alessandro Albani propagiert wurde, beherrschte. Im
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Jahre 1765 besuchte er Catania und lernte dort den
grossen Archäologen und Sammler Ignazio Paterno,
Fürsten von Biscari, kennen. Dieser veranlasste ihn
zum Bleiben und überredete den sehr angesehenen
örtlichen Bau­meister Francesco Battaglio, dem jungen Ittar seine Tochter zur Frau zu geben.
Battaglios Wirken an diesem Adelspalast stellt eine
merkwürdige Episode in der Geschichte der Baukunst
Catanias dar. Der Hof mit seinem unvollendeten
Treppenaufgang und seiner Einfahrt ist im ortsüblichen Stil gebaut, genauer gesagt, in der späten Manier
Vaccarinis, aber in den übrigen Teilen des Palazzo liess
Battaglia seiner überströmenden Bauphantasie freien
Lauf, so dass er Einfälle verwirklichte, die für Catania
ungewöhnlich sind. Auf der einen Seite des Palazzo
legte er eine Terrasse mit Pavillons an (Bild 25), die
in ihren Dachprofilen die Chinoise­rie-Mode widerspiegeln. Sie sind jedoch relativ unauffällig gegen den
Überschwang des grossen Salone, der den grössten
Teil des Palazzo an der Strassenseite einnimmt.
Während der Palazzo mit seinem Blick auf den Hafen von aussen kalt und klassizistisch wirkt, verkörpert der Salone ein Stück Rokoko, wie es In der Fülle
seines spielerischen Dekors in Sizilien einmalig ist.
Im Grundriss stellt er ein ovales Oktogon mit einem
Alkoven auf einer Seite dar, in dem ursprünglich ein
Paradebett gestanden haben soll. Die Deckenwölbung öffnet sich in der Mitte in einem Oval, durch
das der Blick auf eine mit Allegorien geschmückte,
höhergelegene Wölbung fällt, die durch unsichtbare
Fenster belichtet ist. Rund um die Öffnung zieht sich
eine Galerie, auf der die Musiker sassen, wenn ein Ball
stattfand. Man er­reicht sie über eine kleine Treppe,
die geschickt in einen Zwischenraum zwischen dem
Salone und den Fenstern der Hauptfassade eingepasst
ist. Der Reichtum der Stuckdekoration von Salone
und Treppenaufgang ist in der Tat ohne Parallele in
Sizilien, ja auch in Süditalien. Sie besteht aus eleganten Rocaille-Ornamenten von beträchtlicher Stärke,
die sorgfältig mit einem Spachtel herausgearbeitet
sind, und zwar in einer Technik, die an spätbayrische
Stukka­turen erinnert, wie sie im Kaisersaal in Nymphenburg oder in den Festsälen venezianischer Adelspaläste zu finden sind. Man kann nur vermuten, dass
der Fürst von Biscari, der Beziehun­gen zu halb Europa
hatte, Stukkateure aus dem Norden zur Ausgestaltung
dieses überwälti­gend reich verzierten Ballsaals herangeholt hat.
Francesco Battaglia scheint auf seinen Schwiegersohn
keinerlei Einfluss ausgeübt zu haben, denn dieser folgte der Richtung zum Klassizismus, wie ihn Vaccarinis
Spätstil verkörperte. Seine wichtigsten Arbeiten sind
Kirche und Kloster S. Placido (Bild 37), die er in alleiniger Ver­antwortung baute, und die Fassade der
Collegiata (Bild 39), deren Hauptteil bereits längere
Zeit stand. In beiden Kirchen bleibt Ittar bei einem
zurückhaltenden Wechsel zwischen kon­kaven und
ebenen Fassadenflächen, wie ihn die Chiesa deI Crociferi und SS. Trinid aufwiesen. In S. Placido ist die
konkave Mitte von zwei schmalen, ebenfalls konkaven Seitenflächen flan­kiert, die leicht nach hinten
gedreht sind, damit sich ein stärkerer Kontrast zur
182
Mittelpartie er­gibt. In der Collegiata sind die Seitenflächen nicht eingekurvt und stehen ausserdem in der
gleichen Ebene wie die Fassade. Sie enden jedoch in
Pfeilern, die aus einem Pilaster und einer freistehenden Säule zusammengesetzt und um 45 Grad aus
der Ebene der Fassade gedreht sind. Das Ganze ist
belebt durch Hinzufügung einer tiefen kassettierten
Nische als Hauptbetonung des Obergeschosses, und
die Fassade endet unvermutet in einem quadratischen
Glockenstuhl mit runder abgestufter Bedachung, die
entfernt an die Formphantasie Guarinis erinnert.
Ganz allgemein betrachtet stimmt Ittars dekoratives
Detail aufs beste mit dem zeitgenössi­schen römischen
Geschmack überein. Aber manchmal greift er auch
auf lokale Traditionen zu·‘ rück und gibt ihnen eine
persönliche Note wie zum Beispiel in den Klostergebäuden von S. Pla­cido. Hier besteht die nahezu einzige Dekoration in durchgehenden Pilastern an den
Ecken, die statt der Kapitelle‘ dreieckige guttae des
von Giacomo deI Duca eingeführten und im Osten
Siziliens ausserordentlich verbreiteten Typs besitzen.
Solche guttae finden sich sogar noch im späten 19.
Jahrhundert an den gusseisernen Fensterkörben Catanias.
Das Kloster der Benedettini war schon im ersten Stadium des Wiederaufbaus Catanias in Angriff genommen worden, aber es dauerte Jahrzehnte, bis wesentliche Fortschritte zu ver­zeichnen waren, und der Bau
wurde nie ganz vollendet. Als letztes blieb der Neubau
der Kirche übrig. Er wurde, wahrscheinlich nach einem Entwurf von Antonio Amato, 1730 begonnen,
aber im wesentlichen von Francesco Battaglio durchgeführt. Als das Kloster während der Na­poleonischen
Kriege vor dem finanziellen Ruin stand, war die
Fassade noch unvollendet. Das Innere der Kirche ist
ein weiter, kahler Raum auf der Grundlage des lateinischen Kreuzes und entbehrt fast allen Schmucks.
Eine Ausnahme bildet das geschnitzte Chorgestühl,
eine schöne Arbeit von Gaetano Francese und Niccolo Bargnaso aus Palermo, sowie die wundervolle
Or­gel, ein Werk des Donate dei Piano, das 1765 vollendet war. In den letzten Jahren des 18. Jahr­hunderts
wurden an den Klostergebäuden verschiedene bauliche Veränderungen vorgenommen, und 1794 baute
Antonio Battaglio, ein Sohn Francescos, ein neues
Treppenhaus ein (Bild 44). Es ist zwar noch barock
in der Gesamtplanung, aber in der Anwendung der
Säulen­ordnungen und im dekorativen Detail völlig
klassizistisch empfunden.
29
Chiesa della SS Trinita
44
ÄTNA
Der Ätna - Mongibello, Eberhard Horst
in: Sizilien - Königin der Inseln : ein Reiseführer / (Text) von Eberhard Horst ; (Photographien) von Josef Rast. – Olten : Walter, 1964
Von Enna aus sahen wir den Ätna zum erstenmal.
Ein Anblick, der sich einprägt: fern und von leichten
Dunstschleiern besänftigt, ruhte das breit abfallende
weiße Gipfeldreieck auf den Wolkenbänken, ein Bild
vollkommener Harmonie und Majestät. Dann schlugen wir einen großen Bogen nach Süden und Südosten,
sahen von den Hybläerbergen und vom Euryalosberg
bei Syrakus den Ätna und kamen in Catania, an der
Zyklopenküste, in seinen unmittelbaren Bereich. Den
schönsten [und am häufigsten fotografierten] Ätnablick gewährt Taormina. Bezaubernd im Frühjahr,
wenn das frische Grün des vorgelagerten Tals und der
Hänge von weißen und rosafarbenen Blüten übersät
ist, wenn das Schneedach des Berges blendend weiß
unter dem klaren Himmel liegt. Jedem Sizilienfahrer
ist der Ausblick von Taormina vertraut. Die meisten
sehen von hier aus zum erstenmal in der Dunkelheit
die Feuerkrone, die Glutfäden, die oberhalb des Gipfels auf und nieder steigen, Zeichen kleinerer Ausstöße, die in den Kraterschlund zurückfallen. Er ist immer in Bewegung, der größte tätige Vulkan Europas,
der die dreifache Höhe des Vesuv hat.
Die Schönheit seines Anblicks kann nicht über sein
zwiespältiges Wesen hinwegtäuschen. Er ist Segenspender und Todbringer, der despotisch die Insel beherrscht. Verschwenderisch schenkt er dem umliegenden Land eine strotzende Fruchtbarkeit. Dann reißt
er die Erde auf und schickt mit seinen Feuerströmen
Vernichtung. Aus eigener Macht hat er sich im Quartär von einem Inselvulkan zu einem landfesten, 3263
Meter hohen Riesen aufgetürmt, der fast ausschließlich aus Lava- und Tuffschichten besteht; wahrhaft
der Berg der Berge, der Mongibello [die abgeschliffene Zusammensetzungvon «monte» und dem arabischen « djebel»], wie der Vulkan genannt wird.
Ohne Zusammenhang mit den anderen Gebirgen,
von den Flußtälern des Simeto und Alcantara umzogen, ragt das kreisrunde gigantische Bergmassiv
aus der meernahen Ebene. Aber die weite Basis von
rund zweihundert Kilometer Umfang, eine Fläche
von etwa tausendfünfhundert Quadratkilometern
bedeckend, läßt die Hänge sanft ansteigen und gibt
dem Berg weiche, harmonische Konturen. Wenn man
hinaufkommt, ändert sich das Bild. Man sieht, daß
der Berg ein ganzes System größerer oder kleinerer
Kraterkegel versammelt, die meist in Gruppen zusammenstehen. An die zweihundert solcher Gruppen
hat man gezählt. Es sind die Wunden des Berges, aufgebrochene und wieder verkrustete Geschwüre, aus
denen irgendwann einmal Feuergestein ausbrach oder
glühende Lava herausquoll. Die unteren Kegel sind
überwachsene, freundlich ländliche Hügel. Oberhalb
der Vegetationsgrenze stehen die Krater in der trost-
losen, grauenhaften Mondlandschaft von Asche und
Lava. Ab zweitausend Meter Höhe haben wir die bewohnbare, bewachsene Erde verlassen und sind einer
formlosen, öden grauschwarzen Urwüste ausgesetzt,
die an den Anfang und das Ende der Welt denken
läßt. Jedoch liegt über dem Gipfelbereich während
acht Monaten des Jahres eine Schneedecke. Die Region ab tausendsechshundert Metern hat in der Regel
von Dezember bis Mai Schnee.
Der Hauptkrater bildet eine riesige unregelmäßige
Schale mit einem Umfang von mehr als zwei Kilometern, deren Sohle von kleineren Kegeln besetzt ist.
Ständig bewegt die kochende Lava den Grund, steigen
Rauchmassen auf und wallen über den Kraterrand.
Heftige Böen, die am Gipfel bis zu hundertfünfzig
Stundenkilometer erreichen, drücken die Rauchmassen nieder und zwingen ihnen die Richtung auf. Die
Kraterränder verändern sich, je nach der eruptiven
Tätigkeit. So wechselt die Gipfelhöhe, die auf den
neuesten Karten mit 3263 Metern verzeichnet ist,
jedoch 1900 3274 Meter betrug, 1942 3269 Meter,
1953 3242 Meter, 1960 3296 Meter. Nach den jüngsten Ausbrüchen im April 1964 hat sich der Zentralkrater wiederum auf 3355 Meter erhöht.
Trotz seiner ruhelosen Tätigkeit ist der Hauptkrater
relativ ungefährlich. Die großen Eruptionen brachen
aus den Ätnaflanken hervor und spalteten unter ungeheurem Druck die Erddecke. So mag vor Urzeiten das
gewaltige Einbruchstal der Valle del Bove entstanden
sein, das sich östlich unterhalb des Gipfels erstreckt.
Ein vulkanisches Urtal mit Steilwänden von sechshundert bis tausendzweihundert Metern. [Im Frühjahr als Skigebiet beliebt, mit Schutzhütte, Talhöhe
1685 Meter.]
Die größeren geschichtlichen Ausbrüche, deren Lavaströme das Meer erreichten, setzten in verhältnismäßig geringer Höhe ein. Der Ausbruch von 1381 trat
nicht weit von Mascalucia in 450 Meter Höhe hervor.
In 800 Meter Höhe liegen die Monti Rossi oberhalb
Nicolosi, die Krater des geschilderten Ausbruchs von
1669. Fast eine Milliarde Kubikmeter Lava und Feuergestein quollen aus der aufgerissenen Erde und kamen
erst nach vier Monaten zur Ruhe. Merian berichtet
aus dem Jahre 1669: «Unter andern ward der Flecken
Nicolosi jämmerlich zugerichtet; und mittlerweile die
Einwohner ihre geringe Armuth auffs Feld mit genauer Noth zu salviren vermeynten, wurden hinter ihnen
her die Häuser zerstoßen und übern Hauffen geworffen, daß sie sich also unterm freyen Himmel und dem
schröklichen Stäuben der Aschen auffhalten musten
und doch sich nicht sicher befanden.
Und weil sie sahen, daß sich die Erde an unterschiedenen Orten auffzuthun begunte und verschlungen zu
werden beförchteten, begaben sie sich Hauffenweise
nach Catanea zu.» Der verheerendste Ausbruch unseres Jahrhunderts, der 1928 das Städtchen Mascali
zerstörte, ergoß sich aus den nordöstlichen Ätnaflanken in tausendzweihundert Meter Höhe. Im zwan185
zigsten Jahrhundert wurden bisher zwölf Ausbrüche
registriert.
Die Vulkanologen haben die Gesetze des Vulkans
erforscht. Sie schrieben die Entstehungsgeschichte,
sammelten die Beobachtungen aller Eruptionen und
kontrollieren jede Bewegung des Ungeheuers. In 2942
Meter Höhe, nahe dem Gipfel, steht das Ätnaobservatorium. Von hier aus wird jede geringe Veränderung, jeder Atemstoß oder Auswurf gemessen, wird
ein Netz wissenschaftlicher Berechnungen über den
Feuerriesen geworfen, so daß Voraussagen möglich
sind. Bändigen läßt er sich nicht. Schon das Altertum
beschäftigte sich mit dem feuerspeienden Berg. Empedokles soll in einem Steinturm nahe dem heutigen
Observatorium gewohnt und den Vulkan beobachtet
haben. Jedoch sein Freitod im Ätna, der in Hölderlins
Dramenfragmenten aufgenommen wurde, gehört der
Legende an. Pindar und Aischylos beschreiben den
Ausbruch des Jahres 475 vor Christus. Griechen und
Römer sahen den Feuerberg als mythisches Wesen.
Homer, der den Ätna nicht namentlich nennt, spricht
von Polyphem und den Zyklopen. Später werden aus
den homerischen Schafhirten die Schmiedegesellen
des Hephaistos. Der Feuerschlund wird zur Esse.
Immerfort dröhnt aus dem Berg das Hämmern der
Gehilfen, die Rüstzeug und Schmuck für die Götter
und Heroen schmieden. In Vergils drittem Gesang der
Äneis ist es der Riese Encelades, der unter dem Berg
liegt, der Feuer ausspeit und bei jeder Körperdrehung
das Land erbeben läßt. Hesiod [Theogonie], Pindar
[Erste Pythische Ode] und Aischylos [Der gefesselte Prometheus] sprechen von dem hundertköpfigen
scheußlichen Giganten Typhon, der seinen Riesenleib unter dem Berg wälzt und aus den Kratern Feuer
schnaubt. Das Ungeheuer Typhon, als Sohn der Erdmutter und des Tartaros in der kilikischen Höhle geboren, war der Schrecken des Götterhimmels. Als sich
Typhon erneut empörte, hielt ihm Zeus seine Blitze
entgegen. Der besiegte und aus vielen Wunden blutende Typhon floh nach Sizilien. Dort stürzte Zeus
den Ätna über das Scheusal.
Allem, was je über den Ätna geschrieben wurde, stehen
die Verse Pindars voran. In der Hieron I. gewidmeten
ersten Pythischen Ode heißt es: «Im schrecklichen
Tartaros liegt der Götter Feind, / der hundertköpfige
Typhon, den einst gehegt I die vielbenannte kilikische
Höhle; doch nun I belasten über Kyme, umgürtet
vom Meer, I die Hügel und Sizilien ihm die zottige
Brust, / und die Säule des Himmels hält ihn fest, / der
schneeige Ätna, Amme I des schneidenden Eises das
ganze Jahr./ Heiligste Quellen un-/ nahbaren Feuers
werden I aus seinen Schlünden gespien; am Tag /
ergießen brennenden Strom von Rauch / die Flüsse;
in Nächten führt Felsen herab I mit Krachen zum
tiefen Grunde des Meers I die wälzende Purpurlohe.
Hephaists I gewaltigste Bäche sendet empor / das
Ungetüm. Das ist anzuschaun I ein Wunderzeichen,
186
ein Wunder auch / zu hören von denen, die nah sind,
I wie er gefesselt an schwarz-belaubten Gipfeln und
Hängen / des Ätna, und scheuert und stachelt das
Bett I den angelehnten Rücken ihm ganz.»
Aufstieg, Gärten und Krater
Aufstieg und Besteigung des Ätna machen heute keine
Beschwernis. Eine Tagesfahrt, sofern man keine Sondertouren vorhat. Von Catania führt die angenehme
asphaltierte Strada dell‘Etna mit mäßigen Steigungen
[sieben bis neun Prozent] bis zur Casa Cantoniera in
1881 Meter Höhe [35 km]. Dort kann man sich der
1958 gebauten Seilbahn anvertrauen, die zum Vulkanologischen Observatorium in 2942 Meter Höhe emporfahrt. [Die Funivia ist von Mai bis September in
Betrieb.] Nach einem Fußmarsch von einer knappen
Stunde erreicht man den dreihundert Meter höher
gelegenen Hauptkrater.
Der rasche Wechsel von der sommerwarmen Meeresküste zu der vulkanischen Urlandschaft, zu den
Schneefeldern am Gipfel und den schwarzen Kraterwänden ist ungemein reizvoll. Die schnelle, bequeme
Anfahrt sollte jedoch nicht dazu verführen, auf warme,
wetterfeste Kleidung und kräftige Schuhe zu verzichten. Das würde man sehr bereuen. Dem Unkundigen
- zumal bei unsicheren Wetterverhältnissen - empfehle ich die Auskunftsstelle der Sezione Etna del Club
Alpino Italiano in Catania, Via Bicocca 8. Dem Club
Alpino Italiano [C. A. I.] gehören die Schutzhütten
am Ätna. Er vermittelt auch Bergführer, die aber für
den normalen Anstieg nicht unbedingt nötig sind.
Über die Prachtstraße Catanias, die Via Etnea, verlassen wir die Stadt. Auf der ersten Wegstrecke passieren
wir Dörfer und Gärten, kommen durch Gravina di
Catania, Mascalucia [420 m] und erreichen Nicolosi
in 689 Meter Höhe. Nicolosi, das letzte Städtchen,
ist ein Wendepunkt. Hier endete vor noch gar nicht
langer Zeit die Fahrstraße; man zog weiter auf Maultieren, reichlich versorgt mit Decken und Mundvorrat, ein mühsames Unternehmen. Für uns ist Nicolosi
interessant, da hier die Vegetation wechselt. Bis hierher ziehen sich die üppigen mittelmeerischen Fruchtgärten, gedeihen Orangen und Zitronen, entfaltet die
Blumenflora ihre farbige Pracht. Zahlreich sind die
Rebgärten, die aus dem phosphat- und mineralhaltigen Boden den aromatisch rassigen Ätnawein ziehen.
Auch oberhalb von Nicolosi bis tausendzweihundert
Meter finden wir noch Weinkulturen, gedeihen Mandeln und die begehrten ätneischen Haselnüsse. Aber
hier wechselt das Bild. Im Übergang bis zu tausendsechshundert Meter sehen wir noch Obstbäume,
Kirsche, Birne, Apfel. Dann folgt die Waldregion mit
mächtigen Kastanien und Eichen, den hochgelegenen
Buchen und Schwarzföhren, eine Zone, die an Pindars
«schwarzbelaubte Gipfel und Hänge» erinnert.
Hinter Nicolosi beginnt die eigentliche Auffahrt. Wir
sehen zur Linken die Zwillingskrater der Monti Rossi,
friedliche Denkmäler des Ausbruchs von 1669. Zu-
rückblickend folgen wir den breiten Spuren hügelabwärts gezogener Lavaströme, sehen grün-bewachsene
Nebenkrater. Weit unten liegt Catania, schäumt das
Meer an die Küste.
Sobald die Straße die ersten Lavahalden durchschneidet, zeigt die Bergzone ihren eigentümlichen und
schönsten Schmuck. Auf dem schwarzen Boden erstarrter Lava, auf aschengrauem Geröll blüht goldgelb
der Ätnaginster. Oft bedecken die wetterfesten Büsche ganze Hänge und Kuppen. Ginster wächst noch
oberhalb der Waldregion. Hier treffen wir auch noch
den rosafarbenen Astragalus, ein kugelig-dorniges
Gesträuch, das die Sizilianer Spino santo nennen. Die
oberen Pflanzenzonen, die spärlich bewachsenen Halden zwischen den Bergwäldern, sind das Revier der
Ätnahirten. Sie leben mit ihren Schafen und Ziegen
oft wochenlang in der Einöde. Man sieht sie selten.
Aber mitunter wechseln sie die Plätze und folgen ein
Stück der Straße. Ich sah die Berghirten einmal an einem Regentag. Wolkenschleier trieben über die Hänge und machten das Gelände noch öder und gespenstischer. An einer Kehre tauchten sie auf, wetterharte
Burschen mit dunklen, schwarz bärtigen Gesichtern,
derbe, unverarbeitete Schaffelle und Decken über den
Schultern. Mit ihnen zogen die zu Boden geduckten
Schafe, struppige Hunde und ein Maulesel, der einen
großen, verrußten Kessel und Geräte trug. Als ich den
Hirten einen Gruß zurief, gaben sie irgend etwas zur
Antwort in einem Dialekt, den ich nicht verstand.
Noch unterhalb der Casa Cantoniera biegt nach
links eine Straße ab, die nach einem Kilometer zum
Grande Albergo Etna führt [1715m]. Das Berghotel
liegt reizvoll in der Pineta di Serra di Nave; herrliche
Ausblicke nach Süden und zum Golf von Catania!
Das Hotel ist geöffnet von Januar bis März und von
Mitte Juni bis Mitte September. Auch am Ende der
Fahrstraße, etwas oberhalb der Casa Cantoniera, liegt
eine bewirtschaftete Schutzhütte, der Rifugio Sapienza [1910 m]. Wer nicht zum Gipfel möchte, kann
von hier aus kleinere interessante Wanderungen unternehmen und in die ersten Kraterschlünde blicken.
Man wandert über schmutzig-rötlichen Grus, über
grauschwarze Geröllhalden und Lavabrocken, die
Abfälle des gigantischen Hochofens mit Hunderten
von Feuerstellen. Schon von hier aus umfaßt der Blick
die gesamte Ostküste. Talwärts ziehen die erstarrten
Flüsse der Lavamassen. Deutlich sieht man, wie ein
Lavastrom einen Hügel erreicht hat, sich teilte und
nur einen kleinen grünen Helm übrigließ, während er
das Leben ringsum erstickte.
Ein überwältigendes Erlebnis ist der Aufstieg zum
Hauptkrater. Für den Fußweg benötigt man vier Stunden. Auf gut halber Höhe liegt der Piccolo Rifugio
[2644 m], die kleine Schutzhütte des C. A. I. Der Anstieg zu Fuß ist nicht allzu beschwerlich, jedoch sollte
sich der Unkundige erfahrenen Begleitern oder einem Führer anvertrauen. Meist schwebt man mit der
Seilbahn hinauf zum Ätnaobservatorium [2942 m]
und überblickt die Formationen der trostlos stumpfen Urlandschaft. Oft umlagern während der letzten
dreihundert bis vierhundert Meter Wolkenbänke den
Berg, während die Gipfelzone frei liegt. Will man zum
Sonnenaufgang auf dem Gipfel sein, so kann man im
Touristenraum des Observatorium übernachten.
Das letzte Wegstück führt durch eine düstere, nicht
mehr irdische Wüste. Bis an den Fuß des Hauptkraters erstreckt sich das Hochplateau, der Piano del
Lago, nur von kleineren Erhebungen durchbrochen.
Man stapft über Asche und Lava oder über glitzernden Schnee. Alles Leben, alle Farben sind erloschen,
es sei denn, der Vulkan rührt sich und schleudert
Glutfontänen empor, die bis zu dreihundert Meter
hochsteigen können. Am oberen Kraterrand stehend,
während aus der schwarzen bodenlosen Tiefe ungefüge Rauchmassen hochquillen, sind wir dem Ungeheuren der Erdgewalt ausgesetzt. Ein Augenblick, der etwas Erschreckendes und Reinigendes hat. Hebt man
den Blick und schaut rundum, so liegt ein grandioses
Panorama ausgebreitet. Bei gutem Wetter ist die ganze Insel überschaubar : der Girlandensaum der Ostküste; im Süden das krause Bergland der Monti Iblei, der
Hybläerberge; im Nordosten beginnend die Bergzüge
der Peloritani, die nach Westen in die Nebrodi und
schließlich in die Madonie übergehen. Sehr gut kann
man die kalabrische Küste mit Reggio und den Bergrippen des Aspromonte erkennen. Im Norden steigen
die Vulkanberge der Äolischen Inseln aus dem Meer.
Bei klarem Frühlicht sieht man die äußersten Punkte
Siziliens, ganz fern im Westen den Monte Erice, an
der Südostspitze das Kap Passero.
187
Ätna
„Eruzione dell‘ Etna“ von A. Bova, um 1750
Ätna
Luftbild vom 22. 07. 2001
Case e Palmenti del‘Etna, Eugenio Magnano
di San Lio
in: Etna - il vulcano e l’uomo / scritti di S. Agati ... [et al.]; fotografie
di Franco Barbagallo – Catania : Maimone, cop. 1993
L‘architetto incaricato nel 1831 dal governo borbonico di delineare la mappa del territorio del nuovo comune di Giarre, appena staccatosi da Mascali, disegna
una grande superficie verde segnata appena dalle sottili venature di strade e torrenti e punteggiata da una
miriade di case di campagna grandi e piccole.
Accanto ad alcune case compaiono alcuni secolari
pini domestici che, con eguale rilevanza della casa padronale, contrassegnano il paesaggio etneo; non vengono invece rappresentati i corpi rustici bassi che pure
esistono accanto alle case padronali.
Forse nessuna immagine è più efficace e sintetica di
questa veduta a volo d‘uccello nel delineare quelle che
dovevano essere le caratteristiche fisiche del territorio
etneo nel secolo scorso, specialmente nei versanti orientale e meridionale.
Le viti basse coltivate ad alberello, dove oggi vediamo
soprattutto folti agrumeti e periferie urbane, esaltavano la presenza dei volumi squadrati delle case padronali, erette sui corpi bassi dei rustici o su terrapieni nei
siti più elevati dei fondi.
Le case punteggiavano col colore acceso degli intonaci
un vastissimo territorio, un unico grande vigneto che
andava da Belpasso fino a Mascali e Piedimonte e poi,
nel versante nord, fino a Randazzo.
Questo paesaggio fortemente antropizzato caratterizzava peraltro già nel secolo XVI gran parte del territorio dell‘Etna, specialmente nelle pendici meridionali a
ridosso di Catania dove sorgevano i casali di Misterbianco, S. Giovanni La Punta, S. Giovanni Galermo,
Viagrande, Trecastagni, Pedara, San Gregorio, le varie
Aci, anche se, invece di comode residenze padronali vi
erano soprattutto delle più sicure torri, alcune di antica data, altre appena costruite dai proprietari per se
stessi o per gli affittuari.
A partire dal 1624 il vescovo di Catania Massimo,
come conte di Mascali, concede in enfiteusi anche i
vasti territori della contea a nord di Aci Aquilia.
La regione etnea, rispetto ad altre aree della Sicilia,
sembra già da allora differenziarsi, così come molte
aree intorno alle città maggiori, per la limitata estensione della proprietà terriera connessa alla pratica
di colture intensive, prime fra tutte quella della vite
associata con gli alberi da frutta; e questo carattere
particolare del territorio etneo - o almeno dei versanti
orientale e meridionale - si riflette negli insediamenti
e nelle architetture rurali.
Forse la fertilità dei terreni vulcanici e la collocazione
geografica, sicuramente la grande tenacia delle popolazioni locali nel ricavare spesso terreno coltivabile
dagli ammassi pietrosi delle sciare vecchie e nuove, furono i fattori determinanti di un insediamento umano
così esteso e così fitto.
190
Sebbene le pendici dell‘Etna fossero relativamente ricche di acque sorgive rispetto ad altre aree della Sicilia,
per la presenza fino a primavera delle nevi del vulcano
e per la natura permeabile dei terreni, in antico queste
acque furono sfruttate solo in parte a causa delle limitate conoscenze tecniche dell‘epoca.
In mancanza di sorgenti, perché l‘uomo potesse abitare, era pertanto quasi sempre indispensabile costruire
una cisterna che desse una sufficiente riserva d‘acqua,
che servisse anche per abbeverare gli animali e, se in
esubero, anche per coltivare un piccolo orticello.
Alcune grandi cisterne erano condominiali e venivano
costruite dal signore del luogo per tutti gli abitanti del
villaggio; ne abbiamo un esempio in quella grandissima di Pisano, con il collo esagonale ornato da intagli in pietra lavica e chiusa all‘interno di un recinto
contornato di case al quale si accede da un bellissimo
portale a bugne; ma simili cisterne pubbliche vi erano
anche a Milo e a S. Venerina, per fare solo alcuni esempi fra quelli che ci sono noti.
Nelle case padronali più grandi talvolta le cisterne diventavano due o tre, una delle quali era riservata per
gli usi di casa.
L‘acqua piovana giungeva nelle cisterne dai tetti, attraverso imbriciate, catusate e canalate, quasi sempre
realizzate con elementi in terracotta impermeabilizzata; ma per l‘irrigazione di orti e giardini si utilizzava
anche l‘acqua di cisterne e gebbie che raccoglievano
l‘acqua da strade e da torrenti, o dalle sempre insufficienti sorgenti.
Le case ed il modo di abitare dell‘Etna derivano da un
lato dall‘influenza di culture egemoni succedutesi in
Sicilia, dall‘altro da inveterate e tenaci tradizioni autoctone nelle quali un ruolo fondamentale gioca la
presenza del vulcano che così fortemente contraddistingue il territorio.
Guardando al passato, si rileva un‘evoluzione, comune
ad una ben più ampia area geografica, nel passaggio
dalle residenze-torri cinquecentesche, costituite da due
o più stanze sovrapposte e collegate attraverso ripide
scale lignee alle prime casine del Seicento e della prima
metà del Settecento caratterizzate da una sequenza di
stanze terranee allineate su un unico prospetto con i
servizi sul retro, per arrivare infine alle sofisticate casine del secondo Settecento e dell‘Ottocento aventi
ambienti differenziati nelle dimensioni e nei collegamenti in funzione delle diverse destinazioni d‘uso e
di un modo più complesso ed esigente dell‘abitare in
villeggiatura.
Col passare del tempo muta l‘aspetto esterno delle case
sia dal punto di vista complessivo che nei particolari.
Tipici delle residenze dell‘Ottocento sono ad esempio gli archi ciechi che, anche con evidenti funzioni
antisismiche, girano spesso su ogni lato della casa padronale e ne sorreggono l‘ampio ballatoio; essi il più
delle volte sono privi di qualunque modanatura, come
le arcate solenni ed austere di un acquedotto romano,
e con la densa e netta ombra che creano con la loro
cavità segnano il volume dell‘edificio anche da notevole distanza.
Un aspetto che però caratterizza sempre, nel loro evolversi, le residenze rurali dell‘area etnea, più di altre
zone dell‘isola, è il contatto diretto degli ambienti con
lo spazio esterno, sia esso lo spiazzo del baglio, sia esso
l‘ampia terrazza sostenuta da archi o da un terrapieno
che circonda la residenza padronale.
La casa terranea generalmente viene assunta senza complessi come tipologia residenziale anche
dall‘aristocrazia per varie ragioni: la regione etnea per
la sua alta densità abitativa risulta in genere più sicura di altre, la campagna è ricchissima di pietra per le
murature ma povera della calce necessaria per i muri
più alti, inoltre anche a contatto col terreno, si hanno
buone condizioni igieniche per la natura estremamente permeabile dei suoli vulcanici; infine la casa bassa è
una risposta validissima al continuo ripetersi dei terremoti che caratterizza le aree vicine al vulcano.
La rarità della calce in aree dove un tempo si arrivava
solo a dorso di mulo da un lato, e l‘esigenza di terrazzare i ripidi pendii dall‘altro svilupparono fra le popolazioni etnee la tecnica della muratura a secco, realizzata
con la „pietra di sciara“ che la bonifica dei terreni continua a fornire in quantità illimitata.
La pietra dei muri a secco caratterizza non solo i fabbricati rustici, ma tutto il paesaggio etneo segnato
dalle armacie e dai paramuri dei terrazzamenti dei
pendii, dalle rasole che li congiungono, dai muri di
recinzione delle chiuse e dalle cosiddette torrette,
depositi di pietrame proveniente dalla spietratura dei
campi, organizzate spesso a terrazze digradanti come
Pavimentazione stradale con basalto lavico
in una ziqqurat babilonese.
Era perciò la pietra lavica ferrigna, dello stesso colore del vulcano, rude ed espressiva come poche altre
materie, a caratterizzare più di ogni altro materiale le
architetture dell‘Etna, che fosse usata in pezzi informi
di tutte le dimensioni saggiamente coricati sui muri o
in blocchi squadrati cui davano forma gli intagli faticosamente scolpiti dai pirriaturi, togliendo scheggia
dopo scheggia con la subbia e il martello, col mazzolo
o la bocciarda.
Imitando, per quanto il materiale lo consentiva, il
disegno e le ricche figurazioni del barocco cittadino,
la pietra lavica dominava le architetture dell‘Etna,
specialmente nelle campagne e nei paesi più lontani
dal mare, dove il maggior costo di trasporto della più
duttile pietra di Siracusa compensava la maggiore difficoltà di lavorazione del basalto lavico disponibile in
loco.
Quando agli inizi dell‘Ottocento si costruiranno le
prime strade carrozzabili sulle pendici del vulcano, allora la pietra di Siracusa soppianterà del tutto, almeno
nella costruzione delle ville padronali, la pietra lavica,
che resterà relegata per la sua maggiore durabilità nei
basamenti e nei corpi rustici, al punto da divenire segno di povertà per poi tornare ad essere, ai nostri giorni, materiale pregiato.
Altro materiale che un tempo caratterizzava le case
dell‘Etna era il legno, utilizzato allora anche per le grate, per i cancelli, per i balconi e le ringhiere e per tutta
una serie di manufatti di completamento, tanto che le
case dell‘Etna, ancora nel secolo XVIII ricca di boschi
nonostante lunghi secoli di disboscamento, dovevano
apparire come architetture lignee più di quanto oggi
non possa sembrare.
Molte di queste parti lignee, facilmente preda del fuoco e poco durature, vennero gradualmente sostituite
da analoghi elementi in muratura o in ferro, specialmente quando, col progredire dell‘industria siderurgica e del commercio nell‘Ottocento, il prezzo del
metallo divenne sempre più competitivo.
I fastosi ricami in ferro battuto, che già nel Settecento
ornavano le cancellate delle chiese, i portali e i balconi delle case più ricche in città, si estesero quindi
all‘architettura minore ed alle case di campagna, raggiungendo il massimo splendore nei cancelli che chiudevano gli accessi carrai ai fondi, opere di artigiani
locali certamente in grado di reggere il paragone con
la migliore tradizione europea del ferro battuto.
In legno erano le strutture che sorreggevano i tetti delle case, dei corpi rustici, della cantina e del palmento:
l‘ampiezza di questi ultimi locali richiedeva spesso la
creazione di grandi capriate o forfici nonché altri generi di strutture aeree nelle quali veniva messa a dura
prova la capacità inventiva dei progettisti e dei „mastri
d‘ascia“ locali che, con uno straordinario ed inventivo
empirismo, sopperivano spesso alla penuria di legname ed alle carenze di una ridotta tradizione di carpenteria.
191
I manti delle coperture, generalmente ad una falda
per i rustici, a due falde per la cantina e a padiglione
per la casa padronale ed il palmento, erano realizzati
con i coppi, che in ordinati filari poggiavano su sottili
asticelle lignee (costarelle) le quali, a loro volta, poggiavano sui travetti (coscialetti) disposti secondo la
pendenza.
La pietra lavica a vista, gli intonaci realizzati con la calce mescolata all‘azolo di colore ferrigno o con la ghiara
rossa oppure con la sabbia di fossa che dava alla casa lo
stesso colore del terreno circostante, il legno rustico
verniciato col solo olio di lino cotto oppure col verde
di Venezia o con la „terra rossa“, e le ampie superfici
dei manti di tegole nei tetti, che col passare delle stagioni si coprivano di muschi e licheni, davano alle case
dell‘Etna colori particolari, ingredienti essenziali di
quella „identità“ dell‘architettura antica con la quale
qualunque materiale „moderno“ entra in contrasto,
in maniera feconda e stimolante talvolta, in maniera
negativa e sgradevole il più delle volte.
Fra le tante, una caratteristica della casa rurale che
sembra particolarmente accentuata nell‘area etnea è
data dal contatto diretto dei locali rustici con la residenza padronale alla quale sono strettamente connessi
funzionalmente e figurativamente.
Il palmento e la cantina soprattutto, che sono gli ambienti più di frequente presenti nell‘area etnea, caratterizzata nei secoli XVIII e XIX dalla monocoltura
della vite, sono spesso allogati in un unico volume edilizio con la residenza, al di sotto o a lato di essa, collegati da scale lignee e porte interne direttamente con
l‘interno della casa, a sottolineare l‘origine pur sempre
contadina del possidente terriero che unisce le cure del
fondo alla villeggiatura.
Pur uniformandosi alle tradizioni locali, i nobili introducono spesso nelle loro casine di villeggiatura
elementi che richiamano le ville dell‘aristocrazia palermitana, come ad esempio gli scaloni scenografici a
tenaglia che ritroviamo nella villa del marchese di S.
Giuliano a Viagrande, nella casa del barone Musumeci a Femminamorta o nell‘ex casina dei Gesuiti a
Viagrande; ma le case dell‘Etna raramente ostentano
il lusso di quelle palermitane o napoletane perché più
forte rimane il legame con la tradizione contadina a
cui gran parte della nobiltà catanese affida la propria
ricchezza.
Gli spazi più suggestivi e particolari dei complessi rurali della campagna etnea sono il palmento e la cantina, architetture che come poche altre si legano in
maniera inscindibile con il processo di trasformazione
di un prodotto agricolo, in questo caso dell‘uva, trasformata in mosto e poi in vino secondo una pratica
consolidata da una tradizione antichissima. Poiché il
palmento è indispensabile per produrre il vino, ogni
vigna possiede il suo palmento: da quello grandissimo
o doppio delle grandi proprietà al palmentolo senza
cantina delle piccole vigne, dove il mosto veniva tenuto giusto il tempo di una prima fermentazione e poi,
192
appena possibile, trasportato nelle cantine in paese o
in città.
Chi non aveva il palmento era costretto a pigiare la
sua uva in quello degli altri, servitù onerosa sotto vari
aspetti, fra i quali quello di dover organizzare la vendemmia quando il vicino aveva terminato la propria.
Come in tutti i paesi dove si produce il vino, la vendemmia rappresentava uno degli avvenimenti più importanti dell‘anno e pertanto essa costituiva un vero e
proprio rito ed una festa codificati da precise regole
che si tramandavano di generazione in generazione,
affinché ogni anno tutto potesse funzionare nella
migliore mamera.
Le squadre dei vendemmiatori, fra i quali venivano
reclutati donne e ragazzi, riempita la cesta d‘uva fra
i filari di viti ad alberello, passavano in fila indiana
davanti alla doppia finestra del buttatoio, situato nel
punto più alto del palmento, e qui scaricavano nella
prima finestra la cesta piena d‘uva per riceverla vuota
dalla seconda.
Nel pista, che era impermeabilizzato con un pavimento (da cui il termine palmento) di pietra lavica o di
battume, l‘uva subiva una prima spremitura da parte
di una squadra di operai a piedi scalzi: quello così ottenuto era il mosto migliore che attraverso le bocche
di cane scendeva direttamente nei tini ricevituri per
sedimentare o fermentare con le vinacce, e quindi
passare, attraverso canali in muratura e in legno impeciato, oppure trasportato a spalla in otri, nelle grandi
botti della cantina.
Le vinacce, ancora ricche di polpa dopo la prima spremitura, venivano buttate dal pista nella vasca del conzo dove col torchio, venivano ulteriormente spremute
per dare ancora mosto, di qualità però inferiore a quello di prima spremitura.
A costruire il torchio, ingegnosa e robusta macchina
in legno di remote origini, erano dei veri e propri tecnici specializzati, mastri d‘ascia che dovevano essere in
grado di risolvere coi limitati mezzi tecnici a disposizione i non facili problemi di trasporto e messa in opera dei grandi tronchi di quercia, i legni di conzo, che
costituivano l‘elemento principale del torchio.
Il legno di conzo lavorava come una leva di secondo
grado, incernierata, con la spada e due robuste pietre annegate nella muratura, ad un massiccio pilastro
che irrobustiva in quel punto il muro del palmento;
all‘estremità opposta una vite in legno con una grossa pietra appesa la pietra di conzo costituiva la forza
applicata per la spremitura delle vinacce poste in una
catasta a strati fasciata con corde di vimini, sotto un
piatto di legno al centro del legno di conzo.
L‘operazione della spremitura col torchio, era estremamente laboriosa e veniva eseguita in varie fasi perché ad ogni tratto di spremitura bisognava riassestare
la catasta sotto il piatto.
L‘insieme del pista, dei tini, del tinozzo, del conzo e
l‘area di manovra attorno alla pietra di conzo ed alla
vite lignea che la sollevava era allocato in un grande
ambiente coperto da un tetto a capriate lignee che
spesso assumeva un aspetto monumentale, così come
monumentali erano le grandi cantine seminterrate con
due file di grandi botti dove il mosto diventava vino.
Le cantine dell‘Etna, come peraltro tutte quelle del
Mezzogiorno d‘Italia, erano costruite per essere fresche anche nella lunga stagione estiva, mentre gli
inverni miti non comportavano il rischio che si raggiungessero temperature troppo basse. Spesso venivano interrate, se il terreno consentiva lo scavo e, se
possibile, venivano collocate a nord della casa, mentre
esigue finestre venivano aperte a settentrione o tutt‘al
più verso est; a volte le pareti della cantina venivano
forate con lunghe e strette feritoie che miglioravano
l‘aerazione evitando nel contempo le costose grate e
gli infissi delle finestre.
Attorno alle case, come già accennato, tutto il fondo
e la vigna venivano antropizzati con una miriade di
piccoli e grandi manufatti che, nel loro complesso, costituivano la vera forma di un paesaggio nel quale un
ruolo complementare ed un peso equivalente hanno
natura e artificio.
Tutto comunque faceva perno sulla residenza: dai viali
che la congiungevano alla strada pubblica, ai cancelli,
spesso monumentali, che ne segnavano il punto di accesso sulla strada pubblica, dalle rasole che conducevano tutte al buttatoio del palmento, ai sedili in pietra
che ne segnavano il termine contro un muro di confine, dalle piante ornamentali e da frutto che rendevano
ameni certi angoli della vigna alle loggette-belvedere
spesso collocate sulle torrette di pietre, ad un tempo
postazioni dei guardiani, meta delle passeggiate e luogo di contemplazione del panorama.
Che si trattasse della piccola vigna del contadino o del
grande fondo di un aristocratico, ciascuna proprietà
era organizzata come un piccolo mondo a sé stante,
chiuso e difeso dai muri di confine, all‘interno dei quali il proprietario poteva organizzare un microcosmo a
proprio modo, nella misura in cui le esigenze contingenti di ogni giorno gli consentivano.
Per questo le case di campagna risultavano concepite
secondo modelli meno rigidi rispetto alle case di città
e nei mesi di villeggiatura trascorsi in campagna la vita
intima e familiare assumeva un ruolo più centrale, seppure fra le mille incombenze della vendemmia.
La civiltà dell‘Etna è soprattutto una civiltà contadina,
ed in essa la casa dell‘uomo rappresenta l‘espressione
più concreta e palpa bile per le caratteristiche intrinseche dei materiali e delle forme dell‘Architettura.
Interno di un palmento
Intagli in pietra lavica
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Santi e Demoni dell‘Etna, Vincenzo Pappalardo
in: Etna - il vulcano e l’uomo / scritti di S. Agati ... [et al.]; fotografie
di Franco Barbagallo – Catania : Maimone, cop. 1993
Presenza inquietante, di sconvolgente imprevedibilità,
col potere di spezzare nell'improvviso l'assetto delle
economie e delle società attorno ad essa sviluppatesi,
eppure fonte di ricchezza capace di garantire la stabilità di insediamenti umani plurimillenari, l'Etna ha
costituito il fenomeno naturale di maggiore incidenza
nella formazione dell'immaginario religioso e culturale delle popolazioni stanziate nelle fasce montane e
pedemontane del vulcano. Un' elaborazione di origine
autoctona, ben presto sincretizzatasi e diffusasi oltre
Stretto in seguito all' incontro con le civiltà migrate
nel tempo in Sicilia, accompagnando i primi coloni
greci e i tanti dominatori dei secoli successivi.
Un mito a due facce
Fertilità e distruzione: il fuoco ha da sempre stretto
la condizione dell'uomo in una inestricabile ambivalenza, destino di prosperità e alea di morte. Per questo
non vi è civiltà che non abbia costruito attorno ad esso
un complesso di riti e di articolate simbologie: una
cultura inscindibilmente legata al mondo dei contadini, la cui economia appunto risente degli effetti fertilizzanti del fuoco e ne soffre il potere di devastazione.
La mitologizzazione del fuoco ha perciò sviluppato
diadi inscindibili di divinità buone e malvage, simboli di peccato e purificazione, di verità e menzogna: in
Grecia, Apollo dio cosmico del fuoco ed Efesto maniscalco infernale; a Roma, Vesta dea del fuoco domestico e Caco spirito infernale della grotta dell'Aventino.
Più complessa la figura latina di Vulcano, divinità
ipoctonia cui si sacrificano le armi dei nemici, ma la
cui rappresentazione si pone accanto a quella di Maia
(Maia Volcant), alla Terra Madre, in una associazione
significativa col tema della fecondità agraria. Anche
per l'antica cultura ebraica la rappresentazione del fuoco è dialettica, "dal momento che Jahvé è presente nel
suo popolo come giudice che porta sia la salvezza che
la punizione, anche il fuoco che l'accompagna appare
deputato a una duplice funzione" (H. Bietenhard).
In un modo particolare si rivela allora il rapporto religioso-culturale delle popolazioni etnee di ogni tempo
con il loro vulcano. Un rapporto fervido di suggestioni e rappresentazioni che darà alimento ad una robusta esportazione di immagini e di miti, il cui attecchimento caratterizzerà in modo strutturale l'universo
di credenze e i modi di espressione religiosi del mondo
greco e romano prima, cristiano e occidentale dopo.
L'ambivalenza della rappresentazione del fuoco si articola presso le popolazioni etnee in numerosi miti di
distruzione e fecondità, arricchendosi della specificità
del tema della sotterraneità: la divina materia che distrugge le case e i raccolti, ma che alimenta e dà crescita
alle piante abita sotto terra, vive all'interno di cavità
misteriose e insondabili. Tifeo e Proserpina sono le
due raffigurazioni mitiche del tema.
Tifeo, il mostro partorito dalla Terra congiuntasi al
194
Tartaro, con cento teste di drago e gli occhi di fuoco;
le folgori di Zeus liberarono il mondo dal terrore di
lui percuotendolo ed ardendolo. Eschilo e Pindaro lo
immaginarono disteso sotto la Trinacria, con i piedi
al capo Lilibeo, il braccio sinistro legato al capo Pachino e il destro al capo Peloro: con la testa in direzione dell'Etna, il mostro sbuffava e si agitava dando
così terremoti ed eruzioni. Proserpina è la divina figlia
di Cerere, che Plutone rapisce, secondo la tradizione,
presso la grotta di San Giovanni Galermo; è la dea indigeta che agisce dal di dentro, che Varrone designa
come "quella che veglia sulla germinazione del grano",
e che in Arnobio è la vegetazione che in autunno si
cela nel grembo della terra, per poi, di nuovo apparire
in primavera.
Accanto ad essi, si addensa una folla di creature e personaggi nei quali la fervida fantasia di popoli vichiana
mente poetici volle animare fenomeni e luoghi geografici: così i Centomani, mostri con cento braccia
invisibili e cinquanta teste che emergevano nei tanti
crateri del vulcano; e i Ciclopi, Sterope, Bronte e tanti altri nei quali presero fattezze umane il fulmine, il
tuono e tanti altri accadimenti della natura.
Con l'evoluzione della civiltà, il mito si complica, si
raffina e l'originaria auguralità agraria si riveste di
significati morali: accanto alla diade fertilità-distruzione sorgono altre ambivalenze, bene-male, puroimpuro. L'affermazione del culto del dio Adranos,
"promotore del bene, vendicatore del male" (Radice),
divinità autoctona o forse importazione dell'iranico
Adar, è il segno di un progresso della concezione religiosa dei popoli etnei, e dell'acquisizione di contenuti morali nel fondo di una costruzione culturale che
vede sempre il rapporto con il vulcano come punto
di riferimento essenziale. Divinità ignea, ad Adranos era dedicato un tempio sulla cui ubicazione si è
molto discusso (l'odierna Adrano, l'area di S. Maria
di Licodia); immerso nel bosco, il tempio era protetto da mille cani i quali accoglievano mansueti i puri,
ma strappavano i vestiti e accompagnavano a casa gli
ubriachi, e mordevano mettendo in fuga assassini e
libidinosi. Testimonianza significativa di una società
che comincia a distinguere e a strutturare in diversi
gradi la colpa. Timoleonte vi andò, secondo la leggenda, a sacrificarvi; durante la battaglia si videro aprirsi
le porte del tempio ed il simulacro del dio "squassare la
lancia e grondare tutto sudore" (Radice).
In altri casi la sensibilità delle antiche popolazioni siciliane riconobbe all'Etna la capacità divina di premiare
la virtù e punire la malvagità. Così nella bellissima leggenda, conosciuta anche da Aristotele, di Anfinomio
ed Anapia, i due giovani salvati dalla lava del vulcano
mentre a spalla ponevano in salvo gli anziani genitori.
E il tiranno agrigentino Falaride, rispondendo ai Catanesi che gli avevano bruciato nelle fiamme del vulcano
in attività trenta emissari, commenta che" ... essendo
il fuoco partecipe della divina sorte, sta punendo con
l'eruzione l'oltraggio" (Diodoro Siculo).
Divinità fortemente legata al tema dell'auguralità,
l'Etna non tardò ad essere interrogata come fonte di
auspici e divinazione. Anch'essi ancorati alla simbolo-
gia del fuoco che man mano maturava. Così, in Pausania il Periegeta il fuoco è segno di benedizione, ed è di
sinistro augurio il fumo dell'Etna. L'irrompere del Cristianesimo e dei suoi simboli rovescia l'interpretazione
del fenomeno naturale: in Paolo Grosio ed in Servio,
autori di un'epoca già fortemente cristianizzata, è male
quando dall'" ... Aetna mons Siciliae non fumum, sed
flammarum egerit globos", non fumo, ma vortici di
fiamme vengono fuori. E' però un rovesciamento di
criteri su cui converrà ancora parlare. Intanto Pausania, autore di un'epoca di ancora radicato paganesimo,
racconta di altre pratiche divinatorie degli abitanti
dell'Etna, tutte fiduciose del carattere bene augurale
del fuoco. Così, erano gettate nelle fiamme del vulcano in eruzione monili d'oro e d'argento, vasi preziosi,
animali: se essi andavano giù, se il fuoco cioè li accoglieva, era buon segno; altrimenti, era sventura.
Umbilicus Inferni
Il trascorrere dall'epoca pagana a quella cristiana segna
una riconversione di criteri e modi di interpretazione
della cultura colta circa la rappresentazione religiosoculturale dell'Etna. Il vulcano siciliano mantiene
tuttavia una sua ferma centralità nell'immaginario
dell'Europa civilizzata.
La concezione siculo-greca subisce una radicale trasformazione a contatto con la tradizione giudaicocristiana del fuoco come luogo di punizione oltreterrena. L'immagine ebraica della Gehenna, la valle
di Hinnom nella quale bruciavano le mondezze di
Gerusalemme, viene presto ad evolversi nell'idea di un
inferno di fiamme; e il fuoco dell'Etna viene assimilato
a quel luogo di pene.
Il mito si radicalizza, viene a confondersi con una
concezione cristiana fortemente dualista, perdendo,
almeno apparentemente, quella caratteristica ambivalenza dell'epoca pagana. Il fuoco, che nella tradizione
vetero-testamentaria manteneva una connotazione
dialettica, assume invece, nelle 71 citazioni che si contano nel Nuovo Testamento, prevalentemente - anche
se non esclusivamente - i due sensi di tribolazione
terrena e punizione oltre terrena: " ...immagini provenienti dalla vita contadina servono ad illustrare il
giudizio escatologico di Dio" (H. Bietenhard). Viene
soppresso il corno positivo della diade ambivalente;
non troveremo più il fuoco benigno che fa crescere le
piante, ma il luogo terribile di espiazione e di monito
ai fedeli.
Si è già visto nell'accostamento di Pausania e Paolo
Grosio come, nel breve volgere dal II al V secolo, si rovesci la concezione augurale del fuoco dell'Etna. Isidoro da Siviglia si spinge addirittura in una improbabile
ricerca etimologica, facendo derivare il nome Etna
dal suffisso di Gehenna: Gehenna-Gehetna dunque.
I santi Gerolamo e Giovanni Crisostomo, Minucio
Felice, Paciano vescovo di Barcellona e Riccardo di
Siracusa, i martiri Patrizio e Pionio, il monaco Cesario
e papa Gregorio Magno designano l'Etna come bocca
dell'inferno, ed anche in epoca moderna " ... assai vi
propende il dottissimo Cardinale Bellarmino" (G.B.
Massa). Anche Cluverio testimonia come i vulcani
fossero considerati il Tartaro, oppure " ... Tartari spiramenta, et caminos". Né mancano i tentativi di reinterpretazione del mito antico: così Cluverio parla di
Tifeo e lo identifica con Satana, che vive perciò incatenato sotto l'Etna.
Venendo a mancare l'accento positivo sulla fertilità
che la civiltà contadina di epoca pagana aveva posto
sul fuoco, le eruzioni dell'Etna divennero presto manifestazioni diaboliche, e la distruttività in essi insita
espiazione di colpe collettive ed individuali. Il fenomeno darà spazio al sorgere di sante e santi taumaturghi in grado di controbilanciare il potere negativo
del vulcano con i meriti di una santità nella cui rappresentazione si mescolano elementi di complessa ed
articolata origine, e caratterizzerà le manifestazioni
religiose scaturite dal rapporto con il vulcano in senso
prevalentemente penitenziale.
Intanto il carattere demoniaco delle eruzioni e dei terremoti dell'Etna costituisce motivo per l'elaborazione
di alcune fascinose leggende. G.B. Masculo narra ad
esempio di un'apparizione diabolica che avrebbe preceduto l'eruzione del 1536. Un mercante di Messina si
imbatteva presso Taormina in uno strano uomo: diceva di essere un architetto e di voler costruire una casa
sulla cima dell'Etna, " ... hispida erat barba, horrida supercilia, statura supra vulgarem, color prorsus Aethiopis ... "; quando il mercante chiedeva come potesse
essere possibile costruire sin lassù, il finto costruttore
spariva facendo morire di spavento l'interlocutore. La
stessa sera avrebbe avuto inizio la tremenda eruzione.
In epoca di caccia alle streghe tali credenze si tradussero talora in drammatici episodi di cronaca: così,
secondo il Carrera, il demonio sarebbe stato l'artefice
del terremoto del 22 febbraio 1633, perché taluni " ...
guidati dalla persona malefica s'impiegarono di notte
a cercar tesori, nel che furono osservate brutte superstizioni, e atti indegni d'homo christiano". L'episodio
ebbe uno strascico giudiziario, poiché alcuni indiziati
vennero trascinati dinanzi ad una Corte ecclesiastica e
condannati con durezza.
Accanto a questa rappresentazione negativa, cristianizzata, dei demoni abitatori dell'Etna sopravvive tuttavia, residuo quasi miracoloso di una cultura violata,
qualche sporadica reminiscenza dell'antica concezione
popolare che vede ancora negli spiriti del vulcano gli
indispensabili compagni e i garanti della riuscita del
lavoro. Il Radice raccolse questa piccola invocazione:
Diavuli ch 'abitati Muncibeddu,
Calati ch 'aviti a fari 'na jurnata;
Purtativi l'incunia e lu marteddu:
c'è di vuscari 'na bona jurnata.
Lo stesso può dirsi della leggenda relativa alle origini del monte Mojo, che conosciamo grazie a Filoteo.
Essa racconta di due fratelli, proprietari di un grande
campo di grano; ma uno era cieco, e al momento di
spartire il raccolto l'altro, adoperando un moggio, beffava il fratello non vedente. Tale era la quantità della
mietitura che il grano rubato al fratello cieco cumulava, sino a formare un grande monte. Finita la sparti-
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zione però, un fulmine di Dio bruciava il fratello fraudolento e dava fuoco al cumulo illecitamente raccolto,
che così si trasformava nell'arido monte del moggio,
monte Mojo appunto. E' appena il caso di accennare
al legame agreste tra il gitano e il cratere eccentrico del
Mojo, ed al carattere igneo del fulmine vendicatore e
punitore.
Empedocle ed Elisabetta d'Inghilterra
Il tema dell'uomo malvagio che viene sprofondato nel
cratere del Mongibello torna più volte nelle leggende
e nelle tradizioni dell'Etna, attraversando il passaggio
dal mondo pagano a quello cristiano. In esso è possibile far risaltare nel modo più evidente quella caratteristica trasformazione che la concezione del fuoco
subisce nel trascorrere delle due civiltà.
L'origine archetipica del motivo sembra essere riconducibile al mito della morte di Empedocle: il filosofo
agrigentino venerato come un dio muore scomparendo nella bocca dell'Etna. Il senso originario del mito lo
si rileva dalle testimonianze di Ippoboto e di Pausania
- entrambe raccolte da Diogene Laerzio - per le quali il
filosofo si sarebbe lasciato precipitare nel vulcano per
dare suggello alla fama di essere un dio che attorno a
lui aleggiava. La restituzione dei calzari, l'indumento
che calpesta la terra, è simbolo dell' abbandono della
natura umana e dell'acquisto di una dignità superiore.
Significativi questi versi canzonatori riportati dallo
stesso Diogene, che si chiedono come fosse possibile
che i megaresi venerassero un sepolcro del filosofo se
questi "... si lanciò nei crateri di fuoco e bevve la vita".
La cultura antica, radicata in una concezione ambivalente del fuoco, interpreta l'essere accolto dalle
fiamme del vulcano come un'accoglienza nel mondo
degli dei. In clima cristiano lo stesso mito empedocleo
viene ripensato e modificato: così Filoteo degli Omodei, nel XVI secolo, dirà della superbia del filosofo
che credeva di essere un dio, ed era perciò divorato
dall'ira vendicatrice del vulcano. Il fuoco non santifica e non è più fonte di vita, ma punisce e vendica il
sacrilegio; il particolare dei calzari perde adesso ogni
significato sotteso, e resta inesplicabile. Già in questo
rovesciamento appaiono le coordinate di interpretazione del mito che sosterranno la riproduzione di altre
leggende obbedienti allo stesso schema: innanzi tutto,
il vulcano assume il carattere di forza negativa, mezzo
e luogo di punizione; in secondo luogo, le miracolose
apparizioni di anime che in esso vengono viste precipitare hanno come protagonisti personaggi potenti, di
diffusa influenza politica e sociale.
Il tema rivela dunque caratteristiche non popolari, apparendo denso di riferimenti colti, sottomesso ad obiettivi di parenesi ecclesiastica e, talora, di contingente
polemica politica.
Il motivo dell'Etna come luogo di punizione e di supplizio per malvagi era comunque in varia maniera diffuso nell'antica religione dei Siculi; esso era però qui
l'opposto dialettico e complementare della concezione ambivalente del fuoco. In questa prospettiva va ad
esempio inquadrato il culto riservato ai gemelli Palici
a Palagonia presso le acque sulfuree del lago Naftia.
196
E' interessante notare come in questo caso, nel rovesciarsi della prospettiva assunta, si capovolga pure la
simbologia dell'accoglienza di oggetti e persone nel
seno della Terra. Figli di Zeus e della ninfa Etna Talia, partoriti da una fenditura apertasi nel fianco della
montagna, i Palici erano divinità ipoctonie, sotterranee, che nelle fonti sulfuree trovavano il canale di
comunicazione tra il mondo degli inferi e quello degli
uomini. Presso il loro tempio erano condotti a giudizio i malfattori; il giuramento, scritto su una tavolozza
di legno, veniva immerso nel lago: se questa rimaneva
a galla gli dei confermavano la testimonianza del reo,
che veniva dunque liberato; ma se il legno andava a
fondo il malfattore spergiuro era annegato vivo nel
cratere. I malvagi che spergiurano e la tavoletta dello
spergiuro vengono cioè accolti dalla Terra, il cui fuoco
perciò stimmatizza e punisce il torto.
La letteratura e l'immaginazione cristiana dunque
riconoscono nell'Etna la principale, anche se non esclusiva, porta d'accesso all'inferno. Gregorio Magno
condannò l'eresia di Teodorico immaginando la sua
anima trascinata sin sul cratere di Vulcano dal pontefice Giovanni e dal nobile Simmaco. Già nel VII
secolo il re franco Dagoberto viene, secondo Aimonio, trascinato da una torma di diavoli nella bocca
dell'Etna; ma le preci dello sventurato commuovono
i santi Dionigi, Maurizio e Martino che, apparsi in
cielo, liberano il disperato supplice. Il mito segue le
dispute teologiche del tempo e, con Origene, dubita
dell'eternità dell'inferno: così anche s. Pier Damiani
afferma che si udivano dentro il vulcano i lamenti dei
dannati e che, grazie alle preghiere, alcune anime riuscivano a fuggire.
Nessuna di queste classiche leggende raggiunge
però il fascino e l'intensità di quella raccolta a Bronte dal Radice. La protagonista, la regina Elisabetta
d'Inghilterra, è una ripresa del motivo di propaganda
religiosa e politica. Come Faust, la grande regnante
inglese aveva concluso un patto col diavolo, in cambio di quarantaquattro anni di trono. Alla sua morte, Satana si recò a prenderla e intraprese il cammino
verso quella terribile e definitiva dimora: "stanco dal
viaggio e dal peso ... depose la regale preda in cima
alla rocca Calanna, tra Bronte e Maletto, dirimpetto
all'Etna"; quindi il corteo si precipitò fumando nella
bocca del vulcano. Un pastore lì presente corse atterrito a chiamare il prete, il quale, arrampicatosi sulla
roccia, vi trovò una pantofola tempestata di gemme e
con, arabescato, il nome di Elisabetta. Torna il motivo empedocleo del calzare; la sua connotazione è qui
tuttavia ambivalente: segno di dannazione e di fugacità di ogni gloria umana, ma anche oggetto augurale e simbolo premonitore. Davanti agli esorcismi del
sacerdote, prosegue la leggenda, la pantofola si sollevò
in aria e fu vista precipitare nei pressi della vicina abbazia di Maniace; proprio nel luogo in cui, quasi due
secoli dopo, gli eredi dell'ammiraglio Orazio Nelson
avrebbero stabilito la residenza della loro nuova ducea di Bronte: "Voglion dire che la regina era venuta a
mettere sotto la protezione della Gran Bretagna quelle terre". Dopo essere stato creato duca, quando era a
Palermo, una dama portò all'ammiraglio un cofanetto: apertolo, egli vi trovò la pantofola; ma la donna
era sparita. Nelson portò quella scarpa sempre con sé,
come talismano durante le battaglie. Poi ne fece dono
a lady Hamilton. Nella notte che precedette Trafalgar
la dama del cofanetto apparve in sogno all'ammiraglio,
e chiese della scarpetta; ma saputo che non era più con
lui, gli preannunziò la morte e scomparve. Lo schema
dello sprofondamento nell'Etna come punizione e purificazione non faticò a passare dal mito alla realtà del
supplizio: così durante l'alto Medioevo, il vescovo Leo
fece precipitare nel vulcano in eruzione il mago Eliodoro, residuo isolano di persistenti resistenze pagane.
Tema colto, non popolare, tuttavia il mito del potente
che sprofonda nella bocca del vulcano è recepito dalla
cultura bassa, entra a far parte del bagaglio dei fedeli
più umili; viene assorbito talora in forme puramente
esteriori, sovrappositive; talora viene interiorizzato e
adattato.
Difficile reperire le tracce del secondo, più interessante fenomeno. Nella Diavolata che si rappresenta
nelle domeniche di Pasqua ad Adrano si può cogliere
ancora, nelle forme corrose dell'adattamento letterario subìto dalla rappresentazione sacra nel corso del
XVIII secolo, la sopravvivenza di una modificazione
popolare del tema: qui i demoni che ingaggiano la lotta con gli angeli e l'umanità redenta vengono fuori da
una voragine che ha l'aspetto del vulcano, e gli attori
che sostengono la scena erano, almeno fino all'inizio
del secolo, scelti tra esponenti di specifiche fasce sociali. Esattori, avvocati prendono le sembianze del
diavolo, di Satana, della morte, sintomo di un'enfasi
negativa che la considerazione popolare pone sui ruoli
del potere economico e giudiziario, ma anche anelito
di riscatto e penitenza nei tormentati protagonisti di
tali categorie sociali.
Il tema della caduta di anime nel cratere dell'Etna
compare sporadicamente anche in qualche leggenda
popolare. Qui però scompaiono gli accenti propagandistici, e la cultura popolare si dispiega nella rappresentazione delle sue angosce e delle sue inquietudini
esistenziali. A parte il mito, conosciuto dal Pitré, di
Lucifero che si nasconde nel Mongibello perché inseguito dall'arcangelo Michele, suggestiva è la credenza
raccolta dal Calì Fragalà nel versante orientale del
vulcano. Una leggenda, che sarebbe risalente al secolo
VIII d.C., narra di una vecchia mendicante che si aggirava per il villaggio chiedendo ricovero; ma nessuno
le dava ospitalità. Allora la vecchia storpia, bestemmiando, si rifugiò in una caverna lì vicina, la grotta della
Vennia: allo scoccare della mezzanotte si udirono tuoni, boati e un grido di donna, mentre si apriva una
voragine di fuoco, e fulmini solcavano il cielo. Di lì
a qualche giorno, la vecchia fu trovata morta, con gli
occhi inceneriti e le labbra nere. Da allora, ogni notte, Satana celebra le sue nozze, e per il trascorrere dei
dodici colpi di campana si udirebbero grida strazianti
di dolore.
La mammella del Padre Iddio
Scossa da una rappresentazione infernale dei fenomeni vulcanici, la popolazione cristiana dell'Etna ha da
sempre cercato di esorcizzare la potenza distruttiva
delle eruzioni mettendo in opera una serie di gesti
e riti penitenziali e affidandosi al potere positivo di
santi e oggetti sacri. Le varie ed articolate leggende e
devozioni sorte a quest'ultimo riguardo si configurano nelle categorie di mentalità magica del popolo, e la
gran parte di esse può essere inquadrata in quell'area di
credenze che gli antropologi definiscono come magia
di contatto, per cui il tatto o la presenza dell'oggetto
magico-sacro produrrebbero il miracolo.
La devozione che ha costituito il più rilevante fenomeno di associazione tra fede cristiana e presenza del
vulcano è sicuramente quella riservata alla martire catanese Agata. Già l'elaborazione agiografica contiene
in sé i termini dell'utilizzazione magica del suo carisma: torturata, Agata cammina sui carboni ardenti;
vince cioè il potere distruttivo delle fiamme. Per similarità (altra categoria caratterizzante della mentalità
magica) la santa catanese si riveste così di un potere
esorcistico, apotropaico, sul fuoco e su quel luogo del
fuoco che è l'Etna. Sempre per similarità, tale potere
si trasferisce pure sugli oggetti personali, il velo, e, per
contatto, sugli oggetti che vengono toccati dal velo.
Il numero di miracoli attribuiti ad Agata è rilevante, non vi è praticamente eruzione o terremoto, che
abbia interessato l'area sud-orientale dell'Etna, in cui
non si sia riconosciuto un intervento sovrannaturale
della santa: già negli anni immediatamente successivi
alla sua morte, il popolo si sarebbe rivolto alla sua protezione contro le devastazioni del vulcano; Ugo Falcando ringrazia per la sua protezione in occasione del
terremoto del 1179 (o 1183); lo stesso per il sisma del
1329. Dell'eruzione del 1408 ci è rimasto un preziosissimo documento nelle 53 terzine di un canto del certo
Andrea Anfuso da Messina, il quale pone in riferimento la cessazione del fenomeno con l'intercessione della
santa e con la presenza della regina Bianca. E poi le
eruzioni del 1444 di S. Agata Li Battiati; quelle del
1536, documentate dal Filoteo e dal Selvaggio; del
1537 a Mompileri; le eruzioni dal 1603 al 1636 raccontate dal Carrera.
Interessanti alcuni particolari che emergono dalle
cronache. Il Filoteo narra ad esempio dell'improvviso
raffreddamento del magma al contatto col sacro velo,
sicché si vide qualcuno " ... pedibus etiam nudis ...
desuper illaesis deambularetur", camminare a piedi
nudi sulla lava. Le capacità miracolose della santa si
trasferiscono così anche sui fedeli. E Tomaso Tedeschi
Paternò, testimone dei terribili mesi del 1669 e splendida incarnazione della mentalità magica dell'epoca,
racconta alcuni fatti miracolosi seguiti al duello, così
vien detto, tra il velo e la lava: c'è chi prende in mano
i sassi infuocati, chi ci cammina sopra; c'è chi tocca le
reliquie con la bambagia che, gettata nel fuoco, non
brucia; e c'è ancora chi affonda una verga nel magma,
senza che essa prenda fuoco. Il naturale raffreddamento dei fronti lavici appena interrotta l'alimentazione
viene collocato in un tempo magico evocato dalla pre-
197
senza dell'oggetto miracoloso, e la minuziosa enumerazione degli episodi straordinari è testimonianza dello
stupore di chi si sente sollevato dalla realtà e immerso
in un momento di sospensione delle leggi naturali. Il
Carrera illustra una prassi devozionale di grande interesse. Nel 1634 la lava scende verso FIeri e Milo. Paolo Torrisi, beneficiale della Cattedrale, lì gode di una
proprietà che rischia di essere investita: allora, " prese
il drappo terzanello" e tagliatolo in più pezzi " le cinse
di cottone benedetto, ch'haueua toccate le reliquie, e
ne circondò le siepi della vigna". Operazione magica
di contatto: la lava passò senza toccare il podere. Ma
già nell'eruzione del 1536 un devoto aveva adottato
lo stesso metodo per un podere sito tra Nicolosi e il
Monastero di S. Nicola, che fu poi per un tempo conosciuto come la "vigna di sant'Agata".
L'eruzione del 1669 è quella che più sconvolge l'assetto
economico e sociale delle popolazioni dell'Etna
La figura di Agata travalica però in questo caso le categorie devozionali e magiche che si sono sin qui delineate e assume una carica culturale capace di assicurare
il permanere del senso d'identità in un popolo toccato
da una tragedia immane. Il 19 aprile, quando sembrava
che la lava dovesse seppellire il duomo, la folla accompagnava le reliquie della santa che venivano spostate
via mare nella chiesetta di S. Maria di Ognina. Poi, il
miracoloso galleggiare nel fuoco dell'icona di s. Agata
a Naumachia, dopo che la colata ne aveva distrutto la
base, l'arrestarsi della lava a 300 metri dalla Cattedrale
diedero speranza, impulso ad una volontà di ricostruzione e voglia di ricominciare. Nelle molte testimonianze dirette che ci rimangono di quell'evento è possibile rintracciare con chiarezza l'aspetto penitenziale
che caratterizza l'approccio religioso suscitato dal vulcano in eruzione. Una processione con le reliquie della
Madonna e di s. Lucia muove 1'11 marzo da Malpasso
a Nicolosi: " ... cinque mila persone, tutte in habito
penitente, e lagrimevole adatto ad impetrar pietà
dall'offeso Nume delle loro sciagure; qual battendosi
a sangue, qual con acute punte d'acciaio trafigendosi
il petto, qual mezzo ignudo trascinandosi per terra, e
quasi tutte coronate di spine" (Tedeschi Paternò). Il
giorno successivo, in una processione di Catania, lo
stesso vescovo Bonadies conduce per la città le reliquie
di Agata con il capo cinto di spine.
Quantunque la fede nei confronti della santa catanese
assuma un ruolo rilevante nel quadro della religiosità
popolare etnea, altre figure mistiche si affiancano nel
sentimento devozionale delle genti che popolano il
vulcano. Non ci risulta sia mai stata disegnata una
mappa che consenta di percorrere l'itinerario devozionale che segna il rapporto con l'Etna delle varie
comunità cresciute all'ombra del vulcano. Né del resto
il compito appare semplice, poiché molte devozioni
si sono succedute e talora mutamenti dell'asse antropologico hanno influito sull'universo simbolico della
religiosità popolare. Di sicuro si può affermare che le
devozioni di più sicura presa sociale sono quelle maturate presso gli stanziamenti di economia agraria: è infatti sulle campagne che si scarica il potenziale distrut198
tivo del vulcano, ed è sulle inquietudini dei contadini
che poggia il rapporto religioso dell'uomo etneo con
la sua montagna e con i suoi santi. Nessuna tradizione di rilevante interesse antropologico è perciò possibile rintracciare nelle pur numerose popolazioni di
pescatori dell'area etnea. L'invocazione al pescatore
Pietro rintracciata a Riposto in un santino del 1930
(Se dall'Etna o dal maTe ruggente/ci minaccia divino
flagello ... ) è conseguenza del dissidio tra il giarrese s.
Isidoro Agricola e il ripostese Apostolo, trasferimento
sul piano religioso della contesa civile che divise le due
comunità nel 1823.
Un rapido sguardo ai centri etnei interessati in epoca storica da eruzioni particolarmente drammatiche
consente di evidenziare alcune delle principali fedi
devozionali emerse nella sensibilità popolare. Molto
diffusi appaiono i culti mariani: l'eruzione del 1408,
la stessa della Regina Bianca, distrugge il territorio di
Pedara, lasciando intatta una cappelletta della Madonna dell'Annunciazione, che sarà poi eletta patrona della città; alla stessa Madonna era dedicata la chiesa di
Mompileri davanti alla quale si ferma la lava del 1669,
dopo avere però sepolto alcuni simulacri mariani; sempre all'Annunziata è legato un viscerale attaccamento
della fede brontese, emerso a partire dalle eruzioni
del '700; a Zafferana l'eruzione del 1792 costituisce
invece l'occasione del duraturo affetto nei confronti
della Madonna della Provvidenza. A Randazzo, una
madonnina bianca sovrasta il portale di meridione
della cattedrale di S. Maria, quello che guarda verso il
vulcano, e la fede popolare vuole che sia a vigilanza del
fuoco della montagna; molto bella la tela conservata
nella stessa chiesa, nella quale si vede una Madonna
spegnere con il latte del seno una colata che minaccia
la città: anche in questo caso il contenuto simbolico è
trasparente, con il latte bianco di purezza che vince il
rosso fuoco del peccato e della devastazione. Il Borzì
narra come, in occasione dell'eruzione del 1886, Nicolosi fosse sede di processioni a s. Agata, all'Immacolata,
a s. Giuseppe, a s. Antonio da Padova e a s. Antonio
abate; da Mascalucia il clero portò le reliquie di s.
„Diavolata“ ad Adrano
Vito, da Gravina quelle di s. Antonio; partirono processioni da Borrello con la Madonna della Guardia, da
Belpasso con s. Lucia, da Massannunziata con il nemico acerrimo dei demoni, l'arcangelo Michele. Altri
culti riproducono l'attaccamento cittadino alla patrona: durante il terremoto del 1693 il magistrato di
Acireale fa esporre l'immagine di s. Venera; a Paternò
s. Barbara ferma l'eruzione che nel 1780 minaccia il fedo di Ragalna; a Mascali, durante l'eruzione del 1865,
i popolani si rivolgono al patrono Leonardo abate,
addebitando al suo intervento la salvezza dell'abitato;
a Piedimonte invece, nel corso della stessa eruzione, i
fedeli si rivolgono a s. Ignazio, quando la lava ormai si
dirige alle porte della città. Il patrono Egidio è a Linguaglossa protagonista di una splendida leggenda raccolta dal Pitré. NelI556la città era minacciata da una
improvvisa eruzione, la gente scappava, le masserizie
erano poste in salvo; solo una vecchia inferma e senza
parenti non riusciva ad allontanarsi e inginocchiata
pregava il santo abate. A un tratto dal cielo apparve
Egidio; consolò la donna di-cendole di non preoccuparsi e le fece dono di un bastone; la vecchia si trascinò dinanzi alla colata e lì piantò il bastone: la massa
infuocata si fermò.
Scarso successo ha nella religiosità legata all'Etna la figura del Cristo, e nei rari episodi in cui essa appare ci
si trova quasi sempre davanti a manifestazoni del clero colto: il Carrera narra ad esempio dei monaci di S.
Nicola, i quali, nel 1536, si sarebbero opposti alla lava
che rischiava di investire il monastero con la reliquia
del sacro chiodo, riuscendo a fermare il fuoco. Quando invece il riferimento a Cristo si fa popolare, esso è
costretto a piegarsi al fondamentale schema agatino:
nel 1669 le chiese di Catania espongono l'Eucarestia,
"che pur d'alcuni Padri si chiama mammella del Padre
Iddio" commenta il Tedeschi Paternò. Lo stesso Dio
cristiano assume fattezze femminili, e viene accolto
dalla sensibilità del popolo etneo nelle forme del familiare riferimento ad Agata.
In generale comunque, pur con le eccezioni che si
sono evidenziate, il devoto dell'Etna ha riservato il
successo cultuale più rilevante a figure di sesso femminile. S. Agata, le Madonne dell'Annunziata, del Pileri,
della Vena e della Provvidenza, insieme ad altre figure
muliebri incarnano una dimensione religiosa che per
la civiltà etnea è inscindibile dal rapporto con il vulcano; che riesce anzi ad attecchire nella coscienza civile
e sociale della popolazione, dando origine a tradizioni religiose durature e documentate da una cospicua
produzione affabulatoria ed invocativa. Non mancano certo le figure maschili ed episodi di elaborazione
devozionale ad essi relativi: a Bronte l'eruzione del
1654 fu così all'origine di una fugace devozione nei
confronti di s. Felice da Cantalice, che in apparizione
avrebbe spazzato con una scopa la lava ormai prossima
al convento dei cappuccini; ma il culto non si radica,
e presto sparisce. Con più rilievo si delinea invece il
ruolo di Antonio Abate il cui culto appare ancor oggi
vitale nella fede di Nicolosi e Misterbianco: tuttavia il
legame col fuoco del santo viene testimoniato in molte regioni europee, ed esso si rivela dunque di origine
eteroctona, importazione felice di una devozione che
ha tratto altrove le radici del suo accostamento con i
simboli della devastazione ignea.
Un legame generico col fuoco piuttosto che uno specifico con l'Etna.
Solo nell'area settentrionale e nord-orientale dell'Etna,
nei comuni di Linguaglossa e Piedimonte, ma anche
di Mascali e Giarre, le figure di sacralità femminile paiono in ombra e, tutt'al più, come nel caso del vecchio
culto mariano di Vena, paiono solo accompagnare,
con la forza di una tradizione che si spinge sino al VI
secolo dell'era cristiana, più moderni attaccamenti religiosi maschili: qui però sembra pesare, più che altrove, l'importazione di modelli religiosi venuti al seguito
dei dominatori di epoca medievale e moderna: francesi sono infatti i santi Egidio e Leonardo, spagnoli
Isidoro e Ignazio. L'insediarsi di comunità straniere ha
in questi casi spezzato la continuità culturale dell'asse
antropologico locale, confondendo le radici di tradizioni plurimillenarie.
In altri luoghi però, laddove l'influsso dei popoli conquistatori non prevaricò e la tradizione culturale indigena mantenne una sua genuinità, la prevalenza di
figure femminili ci riporta ad una cultura popolare
ancestrale; al riemergere, negli schemi della rappresenta zione cristiana, di ataviche forme della civiltà
contadina. La fisionomia delle sante e delle madonne,
cui la sensibilità popolare chiede un potere di controllo sulla natura che distrugge e che punisce, rimanda a
quell'universo di credenze e di cultura religiosa legato al culto della Terra Madre. Nelle tante madonne e
sante cristiane, la civiltà religiosa dell'Etna fa rivivere
l'egiziana Iside, la greca Demetra, la romana Cerere, e
le altre divinità femminili con cui il mito antico raffigurò la terra e la continuità del mondo contadino.
La prospettiva cristiana, che aveva eliminato dalla
antica concezione ambivalente del fuoco la positiva
rappresentazione della fecondità della terra, svela qui
la sua limitatezza, la riduzione solo apparente del fuoco a mero simbolo infernale, la conquista incompleta
della cultura popolare. Calato nel vissuto del popolo
etneo, il rapporto della cultura contadina con il vulcano mantiene una continuità di simboli e di espressione religiosa in grado di transitare senza sostanziali
alterazioni da una civiltà pagana ad una cristiana. Simbologie e linguaggi culturali che, pur perdendo col
tempo coscienza delle loro origini, hanno mostrato la
capacità di esprimere inquietudini, ansie e speranze di
generazioni lontane tra loro migliaia di anni, ma tutte
accomunate da una ineliminabile labilità dell'uomo
quando esposto ai rischi dell'esistenza.
199
NOTO
Vorgängerstadt - Zerstörung - Neugründung
in: Noto : Idealstadt und Stadtraum im sizilianischen 18. Jahrhundert / Paul Hofer; Einf. von Werner Oechslin. – Zürich: Institut für
Geschichte und Theorie der Architektur, Eidgenössische Technische
Hochschule Zürich, 1996
Die alte Stadt Noto, in ihren vorgriechischen, griechischen, römischen und mittel­alterlichen Lebensabschnitten blühend oder darniederliegend, stand bis
Januar 1693 auf exponiertem, nach drei Seiten steil
abfallendem Sporn über dem Zusam­menfluss zweier
Wildbäche am Südrand der hybläischen Berge, sieben Kilometer nordwestlich der heutigen Stadt. Im
Mittelalter mit dem Ehrentitel Noto „l‘ inge­gnosa”
ausgestattet und noch im 16. Jahrhundert, nach Ausbau ihres Kastells unter dem Vizekönig Gonzaga, als
eine der fünf stärksten Festungen Italiens betrachtet,
zählt sie im Jahr 1681 12043 Einwohner und enthält,
nach Ausweis des Chronisten und Augenzeugen der
Zerstörung, Filippo Tortora, 56 Kirchen, wovon fünf
Pfarrkirchen, zwei Kollegialstifte, elf Mönchs- und
acht Nonnenklöster.“ Sie ist damit nach Syrakus die
zweitgrösste Stadt Südostsiziliens und gibt einem
Hauptteil der königlich-spanischen Verwaltung der
Insel den Namen Val di Noto.
In der Nacht vom 9. auf den l0.Januar 1693 erschüttert ein erster Erdstoss die Stadt und mit ihr fast
ganz Südostsizilien. Die aufgeschreckte Bevölkerung
flüchtet sich in die Umgebung; ein zweiter Stoss
folgt Sonntag, 11. Januar nachmittags, ein dritter, der
verheerendste, in der Nacht auf den 12. des Monats.
Der Stadtgrund gerät in wellenförmige Bewegung,
alles Gebaute stürzt, abgrundtiefe Erdspalten öffnen
sich; nach einer Serie von Nachbebenstössen verdunkeln schwere Staub­und Rauchwolken die Sonne,
sintflutartiger Regenfall, Blitz- und Hagelschlag folgen; in den Trümmern sind Plünderer am Werk; die
Zahl der Toten steigt auf 3000 an, um weitere 2000
vermehrt durch die im Sommer 1693 unter den Über­
lebenden ausgebrochene Epidemie. Erst nach einigen
Tagen kehren die Geflüchteten aus ihrem Hauptsammelplatz bei S. Maria di Gesu ausserhalb der Porta delia Montagna in die zerstörte Stadt zurück. Von den
durch Tortora auf 500 bezifferten Handwerkern um
1690 bleiben um 1700 noch 200. Laut dem zwei Jahre
später in Palermo erschienenen Bericht des Augenzeugen Domenico Guglielmini liegen insgesamt 42 südostsizilische Städte ganz oder partiell in Trümmern.
Mitte Februar 1693 treten die überlebenden Notabeln zu einer ersten Bera­tung zusammen. Sie bleibt
ohne greifbares Resultat. Kurz darauf trifft die Ankündigung eines ersten Augenscheins durch den neuernannten Generalstatthalter für den Wiederaufbau
Notos, Giuseppe Lanza, Herzog von Camastra ein. In
den Trümmern wird eine Notbaracke aufgestellt; tags
darauf, am 24. Februar 1693, er­gibt die Konferenz
des Herzogs mit den Giurati di Noto ein Inventar der
bis dahin erwogenen Standorte der Rekonstruktion;
ausser der von einer starken Partei vor­nehmlich des
Handwerkerstandes und von der ersten Meinung des
Herzogs ver­fochtenen Wiedererrichtung am alten
Ort stehen fünf Territorien zur Debatte: der Hafen
Vendicari, die Carruba dell‘ Advento oder Busulomone über dem rechten Ufer des Asinaro, die Terrasse
über der Einsiedelei von Madonna della Marina, das
Landgut Falconara in unmittelbarer Meeresnähe
und das Feudo delle Meti am Hang über dem linken
Asinaro-Ufer. Unter Einfluss des Stadtadels und der
unter diesem führenden Familie Landolina spricht
sich die Mehrheit der Versammlung für einen Standortwechsel aus. Am 9. Mai ergeht an die geflüchtete
Einwohner­schaft die formelle Aufforderung, sich auf
dem sito delle Meti niederzulassen; Ende Juni wird der
Schrein des Stadtheiligen S. Corrado in feierlichem
Zug dorthin überführt; ausser Ackerbau-Interessen
der grundbesitzenden Nobilität gibt die Verkehrslage
an der Fernstrasse zwischen Augusta, Lentini, Syrakus
und Modica den Ausschlag und dies trotz Fehlens örtlichen Grundwassers und trotz eher un­g ünstiger Territorialverhältnisse; tatsächlich ist das Gut dem Baron
Ignazio Astuto in Palazzolo, Erbpächter des Marchese
di Avola, zinspflichtig.
Im sicheren Glauben, die neue Stadt werde auf der
Hügelkuppe des feudo delle Meti errichtet, verlässt
der Generalvikar am 9. März den Ort, worauf die Giurati dem Vizekönig selbst den Dank für die Zustimmung zum neuen Standort entrichten. Mitte April
trifft der neu eingesetzte Generalkommissär Giuseppe
Asmundo, Richter an der Gran Corte, in Noto ein;
sein Auftrag lautet, Ordnung in den Wiederaufbau
zu bringen und dabei bis zu dessen Abschluss auszuharren; ein vierköpfiger Arbeitsausschuss, worin Adel
und Klerus mit je zwei Repräsentanten vertreten sind,
sehr ihm zur Seite. In diese Wochen, kurz vor oder
gleichzeitig mit dem Eintreffen des Bevollmächtigten,
muss, nach Lilian Dufour und Henry Raymond, der
Aufenthalt und Stadtentwurf des Jesuitenarchitekten
Angelo Italia gesetzt werden; im strengen Wortsinn
nicht urkundlich gesichert, ist dessen Autorschaft an
der Stadtanlage doch dreifach, zweimal durch den
Bericht Asmun­dos vom 28. August 1698 und einmal
durch den Anonimo des frühen 18. Jahrhunderts bezeugt. Im Gegensatz zur Meinung der Behördenvertreter, aber in Übereinstimmung mir den klerikalen
und privaten Bauwilligen wählt Italia als Weichbild
den Hügelfuss statt der Hügelkuppe; nur dort liesse
sich ohne über­mässige Kosten Trinkwasser zuführen.
Zwischen dem 8. und 14. Dezember 1694 stellt der
Herzog von Camastra die Konzentration der Niederlassungen auf den Hügelfuss Richtung linkes AsinaroUfer fest, worauf der Generalvikar, ohne Rück­sicht
auf die schwierige Wasserversorgung, mit Nachdruck
die Überbauung auf der Kuppe fordert. Die Kontroverse zwischen dem bereits im unteren Gutsteil
siedelnden Klerus und der Mehrzahl der Nobilität einerseits und den Bevollmäch­tigten der Regierung andererseits nimmt an Heftigkeit zu, bis der Herzog im
201
De­zember 1694 den Interimsbau der Stadtkirche, die
baracca della Madrice samt dem Schrein des Stadtheiligen handstreichartig auf den Pianazzo transportieren lässt. Anschliessend folgt die Hinaufverlegung des
Kollegiatsstifts SS. Crocefisso und zweier Klöster auf
die Hügelkuppe und die Aufforderung an alle noch in
der Um­gebung Notos Verstreuten, sich daselbst niederzulassen.
Ungeacht der offensichtlich regen Bautätigkeit und
der Haltung der Behör­den steht jedoch der Standort
noch nicht unverrückbar fest. Beträchdiche Teile der
geflüchteten Bevölkerung warten in umliegenden
Dörfern und Städten ab, was sich auf dem Meti-Gut
abspielt. Juni 1698 geht namens einer Mehrheit des
Adels, der Geistlichkeit und des Volkes von Noto ein
Memorial an den König von Spanien, in welchem,
nach ausführlicher Übersicht über die Problemlage,
Pro und Kontra der Wahl von 1693 einander gegenübergestellt werden. Die Tendenz des Aide­ Memoire
liegt auf der Bevorzugung des alten Standortes; beantragt wird die Ent­sendung eines zum endgültigen Entscheid bevollmächtigten königlichen Delegier­ten. Die
Parteigänger des Wiederaufbaus am alten Ort geben
sich jedoch noch nicht geschlagen. Drei Massnahmen
folgen auf das Memorial vom Juni 1698. Zum einen
wird der Generalkommissär Asmundo eingeladen,
über die Umstände und Beweggründe der Verlegung
in das feudo delle Meti einen detaillierten Bericht ab­
zulegen. Zum andern ergeht an die Giurati di Noto
Auftrag, auf Herbst 1698 eine allgemeine Befragung
der Einwohnerschaft über Rückkehr in die alte Stadt
oder Verbleib auf dem Meti-Gut durchzuführen; unmittelbar nach deren Abhaltung wird Antonio Impellizzeri, Marchese di Camporeale und Capitano di
Giusrizia im Zeitpunkt des Erdbebens, aufgefordert,
ein Gutachten über die Sachlage abzufas­sen. Gemäss
Bericht vom 8. und 12. Oktober über die inzwischen
durchgeführte Volksbefragung haben sich von den
749 Stimmenden des dritten Standes vorab der Kaufleute und Handwerker 481 für Wiederaufbau am alten und lediglich 266 für Verbleib am neuen Standort,
die führenden Stände jedoch einhellig wie die Reprä­
sentanten der Nobilität oder fast geschlossen wie der
Klerus und die freierwerben­den Ärzte, Notare, Apotheker und Gewürzkrämer für die im Werden begriffene Neustadt ausgesprochen. Am 20. Januar 1699
erhält der Bischof von Syrakus und neue Generalvikar
Auftrag, die Ergebnisse der Volksbefragung zu bestätigen und die Gemüter zu beruhigen.
Indessen führt die erneut und schärfer als zuvor zutagetretende Polarisierung der Überlebenden, wonach
Handel und Handwerk für Noto vecchia, Stadtadel,
Geistlichkeit und Freierwerbende für die neue Stadt
eintreten, zunächst lediglich zu neuer Überprüfung
der Kontroverse. Anfang Mai 1699 begibt sich der
General­vikar Bischof Asdrubale Termini in Begleitung des Ingenieurs Formenti ins um­strittene Gelände, veranlasst eine neue planmetrische Gesamtauf202
nahme bei der Standorte und erstattet darüber am
24, Mai einen ausführlichen vergleichenden, durch
Expertise Formentis vom 9. Mai ergänzten und durch
die zwei Planaufnah­men dokumentierten Bericht von
den zuständigen Instanzen überprüft und genehmigt,
geht das Dossier am 13. August an den königlichen
Hof in Spanien ab. Noch einmal schlägt das Pendel
zugunsten der zerstörten Berg­stadt aus; sowohl der
technische Bericht Formentis als auch das Gutachten
der ver­antwortlichen Behörde, des Tribunale dei Real
Patrimonio, empfehlen die Rück­kehr dorthin; nicht
nur seien die Lage gesünder, die Winde günstiger, das
Trink­wasser reichlich vorhanden, sondern die von
Karl V. ausgebaute Stadtbefestigung sei aufrecht und
das beschädigte Kastell mit der vergleichsweise geringen Summe von 5000 Scudi zu restaurieren. Anfang
September gleichen Jahres protestiert ein Brief des
Pfarrherrn Corrado Bellofiore gegen den RückkehrEntscheid der vorgesetzten Behörde und fordert den
Vizekönig auf, den Rücktransport von Baumate­rial
an den alten Standort zu unterbinden. Das Verhalten
der Behörden ist schwankend geworden; vorübergehend wird der Kompromiss erwogen, Noto Nuova als
entfernte Vorstadt von Noto Vecchia fortzuführen,
doch schreckt das Beispiel von Lentini und Carlentini
davon ab. Auf einen neuen Augenschein und Bericht
von Feliciano de Aponte, Militärgouverneur von Augusta, vom 22. Dezem­ber 1699 folgt der Befehl an die
Bevölkerung, an den alten Ort zurückzukehren; kurz
darauf befürwortet ein neuer Consiglio generale die
freie Wahl jedes Einzel­nen zwischen Alt- und NeuNoto.
Im feudo delle Meti jedoch nimmt die Bautätigkeit
unaufhaltsam zu. Klerus und Adel teilen das Gelände unter sich auf und errichten, unbekümmert um
das Auf und Ab der behördlichen und kommunalen
Beschlüsse, ihre vorerst noch interims­mässigen Sitze.
Gegen Ende 1702 reift an den entscheidenden Stellen, an den Hö­fen von Madrid und Palermo, der Entschluss, dem Wettstreit der Meinungen ein Ende zu
bereiten. Am 24. November erscheint der Vizekönig,
Kardinal Giudice, Erzbischof von Monreale, in Begleitung von Ferdinando d‘ Accagna, Gouverneur von
Messina, auf dem Platz. Angesichts von Anzahl und
Beschaffenheit der auf dem feudo delle Meti bis 1702
errichteten monastischen und privaten Bauten ent­
scheidet sich der Vizekönig für den neuen Standort.
Am 26. Dezember gibt er den Giurati di Noto eingehend Bericht. Es ist die Anonyme Chronik, die dessen
lapidaren Ausspruch am Schluss des Augenscheins
überliefert: las fabricas han deciso la lite. Nach Überwindung des Widerstandes seitens der am alten Ort
neu Nieder­gelassenen und ihres Anführers Landogna
bestätigt am 31. März 1703 ein Erlass des Königs gegenüber den Giurati di Noto und dem Tribunale del
Real Patrimonio in Messina den endgültigen Entscheid. Zehn Jahre und zweieinhalb Monate nach der
Katastrophe von 1693 fällt die Waagschale zugunsten
Noto Stadtplan
203
des meernäheren Stand­ortes, und Noto Vecchia wird
unwiderruflich zur Ruinenlandschaft aus Trümmern,
Macchia und einer einsamen Einsiedelei Dreieinhalb
Jahre später, am 25. No­vember 1706, läutet die in der
Woche zuvor neugegossene, von Bischof Asdrubale Termini getaufte und geweihte Grosse Glocke die
Periode der Verwandlung No­tos aus einer Notbautenund Barackenversammlung in eine steinerne Stadt
ein.
Die Transformation der Naturreliefs
Wohl jedes feste, auf Dauer berechnete Werk des
bauenden Menschen setzt sich aus dem allenfalls
vorgefundenen Bestand, aus Eingriff und Zutat, aus
Aggression und Kumulation zusammen. Allen anderen Unternehmungen voran gilt dieser Satz für
den Neubau einer Stadt. Ein bestimmtes Stück wenn
nicht jungfräulichen, so doch bis dahin nichtstädtisch
genutzten Landes wird auf seine klimatische, geologische, verkehrs- und versorgungstechnische Eignung
geprüft und, in Noto nach zehn Jahren eines aufreibenden Entscheidungsprozesses, für gut befunden.
Aus dem Wirkungsviereck zwischen Gründermotiv,
Stadtkonzept, Bewohnerwillen und Standortbeschaffenheit geht der Gründungsplan hervor. Kaum jemals
aber kann der Stadtgrund, selbst bei hervorragender
Lagequalität im allgemeinen, ohne kräftige Veränderung des vorgefundenen Geländeprofils überbaut
werden. Späte­stens seit den Neugründungen „hippodamischen Typs in Westkleinasien und auf Sizilien
gehört die aggressiv einschneidende Transformation
des Naturreliefs zu den Hauptarbeiten des kompromisslos zupackenden Städtebaus. Dramatischer noch
als Knidos, Herakleia am Latmos, Assos und Aigai
demonstriert Prime den Angriff des Machens auf die
widerspenstige Natur; dem lebhaft bewegten felsigen
Gelände ist das streng orthogonale Strassennetz ohne
jedes Ausweichen abgerun­gen. Selbst dort, wo weder
Felsriegel noch Bodenwellen zu durchstossen, noch
hemmende Geländesenkungen aufzuschütten sind,
greift der Bauende mit Fundamentgruben, Kanälen
und Stadtgraben in den gewachsenen Grund; indem
er aus­hebt oder ausbricht, ist er, per forza di levare,
Tiefbauer und darin, als ein Wegneh­mender, dem
Bildhauer der Briefstelle Michelangelos verwandt,
bevor er, per via di porre, die oberirdische Stadt aufführt.
Tritt in den Aussenquartieren Catanias überall die
von den Strassen durch­schnittene Lava des Ätnaausbruchs von 1669 in abweisendem Graphitgrau zutage,
so ist es in Noto der anstehende Kalktuff, dessen helles Honiggelb an den Sockeln der Gebäudefluchten,
an Palasthofdurchgängen, Freitreppenwangen und
Gassen­einschnitten allenthalben blossliegt. Die Präsenz des Felsgrundes ist mitprägendes Element des
Stadtbildes. Wo immer Strassen, Treppen, Korridore
in ihn ein­schneiden, sind die Erdgeschosse der anstossenden Hochbauten nicht gemauert, sondern, in Ein204
zelfällen bis auf das Niveau des ersten Stockwerks, aus
dem örtli­chen Gestein herausgebrochen. Was im Profanbau des italienischen Festlandes wohl nur, in grösserem Massstab, die Festungs- und Schlossarchitektur
kennt, das Aushauen des Felsgrundes zum Sockel monumentaler Quaderbauten, hat hier die übergreifende und damit Stadtbild prägende Doppelgestalt des
Artefakts in zwei werkstoffgleichen Gestehungsphasen: Die Basispartien sind in den Tuff einge­schnitten,
die Geschosswände darüber aus dem gleichen, nun
aber zu Quadern ge­brochenen und zusammengefügten Material aufgemauert - materia prima, einmal in
belassener, aber ausgehauener, dann, in losgelöster
Gestalt, als Hausteinver­band. Wo Sockelflächen der
Wetterungunst ausgesetzt sind, da greift die Erosion
die untersten Quaderzeilen und den abgeschroteten
Felsen, dem sie aufruhen, in völlig gleichem Grade an.
Die Grenze zwischen anstehendem und gebrochenem
Naturstein verwischt sich oft bis zur Unkenntlichkeit.
Die zwei Werkstufen des Artefakts werden wieder
eins. Den hier kartierten, frei sichtbaren grösseren
Fels­anschnitten innerhalb des orthogonalen Rasters,
steht daher eine mindestens ebenso grosse Anzahl von
Sockelstellen gegenüber, deren Grenze zwischen dem
ausgehauenen und dem gehauenen Kalktuff nicht
mit Sicherheit oder, noch häufiger, als unter Verputz
liegend überhaupt nicht abzulesen ist. Sie sind, mir
zwei Ausnahmen, in die Kartierung auch dort nicht
aufgenommen, wo die enge örtliche Nachbarschaft
frei sichtbarer Anschnitte die Annahme unmittelbar
nahe legt.
Die durchschichtete Aussenfront
Im Werk der führenden Architekten Notos bleibt die
Trennzone zwischen Bau­körper und Aussenraum, die
Fassade, bis auf einige qualifizierte, aber seltene Grenzfälle ein zunächst durchaus festes, tektonisch dichtes
Gebilde: zwar niemals starrer Panzer, wohl aber Schild
des Gebäudes unter Dach gegen Gasse und Platz unter
freiem Himmel. Die Mauer zwischen Innen und Aussen wird nicht als das Aufzubrechende, seines spezifischen Gewichts zu Beraubende aufgefasst. Es kommt
weder zum antimuralen Lichtfilter in der Art des
Flügels zwischen Cour d‘ honneur und parkseitigem
Hufeisen des Schlosses von Lunéville noch zur dünn­
schaligen Schatulle des allein zählenden Innenraums
in der Art der Wieskirche Dominikus Zimmermanns.
Es gibt sowohl Transparenz als Perforation, aber nie
als entmaterialisierend wandauflösendes Prinzip. Es
sind vielmehr gerade Dichtegrad, Ponderation und
murale Konsistenz, die im Kräftespiel der Gassenfront
den Pro­zess, der nachstehend analysiert wird, erst ermöglichen: die Umwandlung des öffentlichen Freiraumes aus scharfgeschnittener, schluchtartig abweisender Volu­metrie in ein von übergreifenden Impulsen reich durchwirktes, selbst aber stabiles, nie extrem
durchbrochenes Gefäss dialogischer Vitalität. Der
Mauerkörper wird nicht geschwächt. Er bleibt, wie
Noto La Cattedrale
immer schon im Barock, Stirnwand, Brustwehr des
Gebäudes gegen den Luftraum; gleichzeitig aber wird
der Träger seiner eigenen Aus­senschicht, Kern und
Splint zu seiner «Rinde», der Durchdringungszone
zwischen Mauerkörper, Gasse und Platz. Was noch
im Hochbarock Schrittmass zeremoniel­ler maniera
grande und Pathos deklamatorischer Portale war, verwandelt sich, in den Kompositionen ersten Ranges, in
hochspiriruelle Ordnungen dichtverflochtener, untief
gestaffelter, in die durchgearbeitete Fläche zurückgebundener Textur.
Wir gehen aus von einer beschränkten Reihe einfacher
Gliederungen, wie sie in jeder voll durchgebildeten
Gassen- oder Platzwand der Hang- und Mittel­zone
zwischen Via Trigona und Via Aurispa zahlreich vorkommen, Objekt ist noch nicht der Kontext, sondern
das Vokabular der geschichteten Fassade, die einzelne
Formgruppe in ihrer Relation zum Wandgrund. Lisenen, Pilaster, Wandvorlagen, zurückgestaffelte Fassungen von Portalen und Fenstern sind dabei nicht,
wie in der konventionellen Sehweise, als Instrumente
der Vertikalgliederung, sondern als Bestandteile der
Flächenrechnung gesehen und gewertet, als dreidimensional vor- oder zurücktretende, horizontal oder
vertikal begrenzte, „stehengelassene“ Elemente ihrer intermittierenden - Flächenschicht. - In einer zweiten
Näherung wird die einfache Staffelung als kategoriale
Norm des Gesamtreliefs anhand ausge­wählter Fronttypen des Sakral- und Profanbaus herausgearbeitet;
sie ist zugleich Ausgangspunkt des Versuchs einer
quantitativen Ordnung der Flächenkomposi­tion nach
Schichtzahlen, Aufschlüsselung der graduell zunehmenden Profilschärfe der Aussenfront in die Tiefe der
Wand hinein. Schon hier ist klarzustellen, dass dem
Versuch einer Differenzierung nach Verfeinerungsstufen keinerlei Parallel­vorsteIlung eines zeitlichen
Ablaufs zugrunde liegt. Einfache und hochentwickelte Formgruppen laufen in den entscheidenden Jahrzehnten zwischen 1725 und 1770 nebeneinander;
auch hier muss die Architektursprache des mittleren
Jahrhundert­drittels in Vokabular und Syntax als ein
Ganzes genommen und befragt werden. Ins Blickfeld
rückt zuletzt, aus grösserem Abstand, die Totalität des
geschichteten Reliefs im Erscheinungsbild der Platzund Gassenwand. In Sicht kommt damit das unterscheidende Grundverhalten spätbarocker Baufluchten im Kontext der öffentlichen Freiräume, aus dem
sich die „Kür“ der linear verschränkten Gliederungen
und die disziplinierte Regie von Ausladung und Einschwingung erst eigentlich entwickelt.
Formeln einfacher Schichtbildung
Wo immer Frontöffnungen, Portale, Hauseingänge
und Fenster durch gestaffelte Einfassungen aus dem
Wandgrund vortreten, da bleibt die Schar paralleler,
jeden­falls gegenständiger Rund- und Karniesstäbe,
Kehl- oder Kantprofile klar auf die Maueröffnung
bezogen: schattenwel{end plastische Konturierung,
206
dem Rahmen eines Tafelbildes unmittelbar verwandt
und, mindestens aus naher Sehdistanz, als isolierende
Begrenzung eines Frontteils der Öffnung, nicht der
Wandfläche zuge­ordnet. Zu dieser Basisformel gehören, wiewohl schon zurückgestaffelt, auch die Wandöffnungen, deren Rahmung nicht mehr stetig, sondern
in die zwei Ebenen des inneren Profils und einer nur
geringfügig, noch nicht flächig aus­ladenden Rücklage differenziert ist; noch ist die isolierende Wirkung
kräftiger als die ausladend überleitende (Abb 47).
Bereits innerhalb dieser noch umschliessenden, noch
nicht in die Wandfläche zurückprofilierten Reliefgruppe tritt ein «Topos» in die Motivsprache ein,
der beredter als jeder andere die Lust an Frequenzsteigerung der Aussenelemente durch Fächerung
untiefer Schichten ausdrückt. In die Frontflächen
dichter Lise­nen- und Pilasterstaffeln sind in Gestalt
vertiefter Lineamente schlanke Fülllmotive mir gekurvten Schmalseiten eingehauen; diese sind von der
je vorderen Schicht, hinter der die ihr nachfolgende
durchzulaufen vorgibt, scheinbar überschnitten;
durch einen oft virtuos, oft aber nur andeutend eingesetzten „graphischen“ Kunst­griff wird das Kompositionselement der Schar untiefer Schichten als
scheinarchi­tektonische Überlappung vorgetragen.
(Abb. 48.) Auf einer zweiten, illusionisti­schen Ebene
vollzieht der Architekt, gleichsam sich selbst paraphrasierend, nochmals nach, worum es ihm kompositionell geht: Staffelung nicht allein als Staccato des
Neben- und Nacheinander, sondern als Aufblätterung, vergleichbar einem geo­gnostischen Diagramm.
Wohl nur selten verschafft die Sprachgeschichte der
Ar­chitektur nicht im Entwurf, sondern am Bau selbst
Wahrnehmungen von ähnlich aufdeckender, wiewohl
nie aufdringlicher Eloquenz. Nie geräuschvoll in Szene ge­setzt und daher kaum jemals beobachtet, kommt
die Formel ausserhalb Notos und Südostsiziliens nur
ganz vereinzelt vor und auch dort, mit alleiniger Ausnahme ei­nes Vorläufers in Catania, nicht vor dem
zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts. Im Instrumentar
der Netiner Bauten Gagliardis fehlt bis auf drei knapp
wahrnehmbare Einzelfälle die Sinnestäuschung durch
«hinterschobene» Füllmuster, nicht aber die nach
Motivation und Wirkung genau übereinstimmende
partielle Überlappung der je tieferen Rücklage durch
die vordere Schicht (Abb. 49, 51) oder, so am Hauptportal von S. Maria dell`Arco, das «Unterlaufen»
der tordierten Frontsäulen durch lebhaft profilierte
Eintiefung der Sockel- und Pilasterstirnen im Rücken
bei der Säulenschäfte. Unter Verzicht auf jenes graphische Vortäuschen erzielt der Architekt die gleiche,
nun aber dreidimensionale, dem alliterierenden Vers
der Poetik verwandte Verdichtung und Steigerung des
zurückgestaffelten Reliefs.
Sobald aber das Rahmenwerk des Portals oder Fensters den eindeutig umschliessenden und konturierenden Charakter verliert, verändert sich die Zuord­nung.
Die zurückliegende, wandnähere Ebene wird ambiva-
Das Geländerelief
im heutigen Kurvenplan
1 Pianazzo, † Lage von
SS. Crocefisso
2 Steilhang;
3 Mittelstadt (Corso),
+ Lage der Chiesa
Madre;
4 Unterstadt;
5 Lage Kapuzinerkloster;
6 Coffitella;
7 Asinaro.
lent: einerseits noch immer Teil des «Bildrahmens»,
andererseits aber bereits Teil der Mauerflucht. Aus
Umschliessung wird Wandvorlage. Ohne ihre kräftig
plastische Silhouettierung im geringsten einzubüssen,
laden Fenster und Portal mit ihrer letzten Unterlage
breit­flächig aus und werden eins mit der geschichteten Wand. Die Stadt ist überreich an Vilriationen
dieser gleitenden Verwandlung. Wir begegnen ihr am
schlichten Bür­gerhaus und am Magnatenpalast, im
profanen wie im klösterlichen und parochialen Bereich. Wo Hauseingang und Erdgeschossfenster mit
der je achsengleichen Frontöffnung des Stockwerks
darüber durch ein: oder doppelschichtige Wand­
vorlagen flächig verbunden sind, da alterniert die
Fassade im stetigen Wechsel zwi­schen planem Wandgrund und risalitartig flach vortretender Portal- und
Fenster­achse. Für diese wiederum oft scharf artikulierten, oft nur leicht anspielend ein­gesetzten Varianten
der Ambivalenz zwischen Vertikalgliederung und flächiger Staffelung sei im folgenden der Oberbegriff der
gebundenen Achse verwendet (Abb. 50); als vertikales Übergreifen von Geschoss zu Geschoss innerhalb
ein und derselben Travee gesehen, entspricht er der
Formel des Enjambements von Strophe zu Strophe in
der literarischen Prosodie.
Bei unterscheidender Wahrnehmung des Verhältnisses zwischen den plastischen Elementen der Frontdisposition und ihrer Grundfläche vermehrt sich das, Vokabular der Überleitung vom Relief zurück zur Wand.
Zwei architektursprach­lich interessante, vom Prinzip
der gebundenen Achse völlig unabhängige Leit­formen
der Ambivalenz seien herausgegriffen. An der Hauptfront der Casa dei Rifugio im Ostteil des vorderen Pianazzo und an der Nordfassade von S.Maria del`Arco
teilt Gagliardi die stichbogige Bekrönung - dort der
Obergeschossfen­ster, hier des Seitenportals - in drei
Teilstücke, wobei die vortretenden Segmente, als Profilierungen des gebogenen Gesimses, fest eingeschriebener Bestandteil der Fenster- oder Portaleinfassung
bleiben (Abb.47/3; 51/1). Wo aber die Gesims­stücke,
immer bei Gagliardi, in Umbildung eines Motivs aus
dem Repertoire Guarinis auf kurze, meist stark eingeschwungene Basen gesetzt sind, wodurch sie sich, extremer als bei Guarini, zu fächerförmig silhouettierten
Ausladungen verselbständigen, da wechselt die Formel
ihren Stellenwert. Die Segmente sind nicht mehr, Brechungen oder „Risalite“ des profilierten oberen Rahmenwerks, sondern über­höhen es, der Mauerkrone eines Stadtwappens vergleichbar. Es ist diese signetartig
scharf geschnittene Folie der gefächerten Bekrönung,
durch die das Motiv zum „Autogramm“ Gagliardis wird: zeichenhaft geprägte, in Noto nur bei ihm
auftre-tende Leitform. Aufs neue wird aus Einfassung
Wandvorlage: durch Gesimsstücke konturierte, der
Frontfläche satt aufliegende Schicht (Abb. 51/4-6). In
seiner aus­gefeiltesten, bis ins letzte Profil durchdachten Fassade, der Corso-Front des Colle­gio, verleiht
der Architekt dem Bedeutungswechsel einer einzigen
208
Vokabel durch Veränderung allein ihres Stellenwerts
die formale Eleganz eines Lehrstücks. In den Traveen
zwischen den drei Portalen sind die vortretenden
Segmente der Fenster­bekrönungen im Obergeschoss
in die stichbogig geschlossene doppelschichtige Rahmung fest eingespannt (Abb. 51/3); am Erdgeschoss
jedoch akzentuieren die drei Gesimsstücke der Oberlichteinfassungen die vor den Wandgrund geschobene, intermittierend ausgeschnittene Wandvorlage
(Abb. 51/6). Um das frontgliedernde Gewicht der
drei - allein am Erdgeschoss auf die Gasse ausladenden
- Portale innerhalb der langgestreckten Front nicht zu
verschleifen, sind die ebenerdige Öffnungen zwischen
ihnen nicht mehr durch dichtgestaffeltes Rahmenwerk umschlossen, sondern binden über eine einzige
blattartig flache Rücklage in die Wand ein. Auch hier
ist das Detail nicht Dekor. Es ist vielmehr vollwertiges Ele­ment im gesamtkompositionellen Kalkül unter
dem Decknamen eines Orna­ments.
Lässt sich der Schritt vom Relief zur Schicht am Wechselbezug zwischen Rahmenwerk und Mauergrund
vornehmlich an der Frontbildung Gagliardis able­sen,
so gehört die genau analoge Verwandlung der Fensterund Nischenkonsole zum Wortschatz des Netiner
Spätbarocks weit über die Pilotbauten der Führungs­
gruppe hinaus. Die konvex oder plan ausladende,
füllig skulpierte Breitkonsole, wie sie ganz allgemein
den sakralen und profanen Aussenbau des 17. Jahrhunderts auf Sizilien und dem Festland kennzeichnet,
verschwindet auch in Noto nie ganz aus dem Repertoire der Frontgliederung (Abb. 52/1), wird jedoch,
spätestens seit 1730, zum Relikt jener älteren, formisolierenden, noch nicht formübergreifenden Relation
zwischen Motiv und Wand. Wo aber Fenster und Nische nicht mehr auf starkschattenden Reliefkonsolen,
sondern auf ein- oder mehrschichtigen, meist kurvilinear geschnittenen und nur noch schwach erhabenen
Blenden aufruhen, da erfasst die Verwandlung, die
wir an den Bekrönungen verfolgten, nun auch die
Basiszone. Auch da schichtet sich das Rahmenwerk
in die Wandfläche zurück (Abb. 52/2-6). Wiederum
kommt es dabei nicht zur Verdrängung des älteren
durch das jüngere Muster, sondern zu deren Mischung
oder Miteinander. Wir begeg­nen dem Motiv, für das
im folgenden das Kennwort Folienkonsole verwendet
sei: vereinzelt auch ausserhalb der Stadt.In Noto allein
verzweigt es sich zu breiter Variantenzahl. So spannt
sich, am Ende einer kurzen Sackgasse auf der Kuppe
des Agliastrello-Qartiers (Vico Scarrozza), die völlig
schmucklose Blende unter den sechs Kragsteinen des
Aussichtsbalkons an der Palazzina des Vico Rosmarino übel die ganze Breite der konkavkonvex geschweiften Südfront; an eingeschossigen Keinbürgerhäusern
bildet sie sich zur oft einzigen, oft nur noch schwach
ablesbaren Flächengliederung der Gassen- oder Platzfront zurück (Abb. 52/4, 5); in Gestalt des Lambrequin-Motivs greift die von der Fensterbank ab­fallende
Blende, in brauenförmig geschwungener Führung
Noto, Naturfelsanschnitte im Stadtinnern.
Hof des ehemaligen
Klosters S. Chiara, unterhalb der Klosterkirche. Unten: Pianazzo,
Palazzo Impellizzeri di
S. Giacomo, Sockel der
Südfront und SE-Ecke.
209
(Abb. 53/1) oder wim­pelartig, sowohl auf die Kämpfer- und Kapitälzone von Ecklisenen und -pilastern21
als auch auf Brüstungssockel von Palastterrassen über
(Abb. 53/2-4).27 Die «Kon­sole» ist selbst als Fiktion nicht mehr tragend, sondern hängend, ein Überlappen, dessen Raffung die Stirnfläche des Pilasters
oder Sockels teils verhüllt, teils freigibt gleich einem
halbgeöffneren Vorhang.
Die geschichtete Wand im Stadtraum
Zu den Paradoxien der Grundkonzepte im Wertfeld
der europäischen Architek­turgeschichte gehört, dass
in der Zahl der gemeingebräuchlichen Aspekte derje­
nige der Durchschichtung fehlt, obschon das Phänomen selbst spätestens seit der Hochromanik vor
aller Augen steht. Tritt im altrömischen Sakral- und
Profanbau die Staffelung der Wandfläche in mehrere
frontparallele Stufen fast ausschliesslich an Innengliederungen, am äusseren Aufbau jedoch nur ganz
vereinzelt hervor, so ist es die kirchliche Architektur
sowohl des byzantinischen als auch des mittel ­und
westeuropäischen 12. Jahrhunderts, in der die dreibis fünfstufig geschichtete Portal- und Chorfront
annähernd gleichzeitig in England und im englisch
be­herrschten Aquitanien, im Osten Frankreichs, im
Elsass und im Rheintal, „jenseits der Alpen in der Toskana und vollends im normannischen Sizilien erstmals
zur „Pathosformel“ der Aussenerscheinung aufsteigt.
In der Hoch- und Spätgotik verliert sie zugunsten der
linear oder vollplastisch geprägten Stab- und Gitterfront den Vorrang, ohne jemals ganz zu verschwinden.
In Florenz vor allem überlebt die Blendbogengliederung des Baptisteriums und von S.Miniato al Monte
im ganzen 14. Jahrhundert, wird von Leon Battista
Alberti in die Neuge­staltung der Fassade von S. Maria Novella virtuos integriert und verwandelt sich,
gleichzeitig mit der von Grund auf neuartigen Formulierung des Schichtprinzips an wand des Cortile
dei Belvedere in ihrer ursprünglichen eingeschossigen
Gestalt, der Hof- oder Aussenfront durch Wechsel
zwischen Doppelpilastern und planen Rücksprüngen
starkschattendes Relief verleiht, beschränkt er sich auf
drei- oder vierstufige Staffelung (Abb.67); spätestens
seit J. Ackerman steht fest, dass an den Hoffronten des
Cortile della Pigna die fünffache Stufung des Erdgeschosses auf die spätmanieristische Amplifikation des
Bramante- Wandsystems von 1504 durch Mascarino
(1582) zurückgeht (Abb.68). Erst in der Wendezeit
zwischen“ Hochklassik und Frühmanierismus tritt
das Prinzip der Flächenschichtung durch eine in die
Wandtiefe greifende Mehrzahl flacher Stufen führend
hervor. An den römischen Palastbauten Raffaels und
Giulio Romanos aus dem zweiten und dritten Jahrzehnt des Cinquecento lässt sich die zuerst unauffälige, dann immer entschiedenere Veränderung der
Wandstruktur Zug um Zug ablesen. Mit der metall-,
scharf geschnittenen Blendenfront von Giulio Romanos Mantuaner Wohnhaus (um 1544), mit der
210
Aussengliederung der Apsiden am Petersdom Michelangelos: (1546/1564)170 und, in später nie mehr
erreichter Durchschichtungsfülle, mit den:
Palast- und Kirchenprospekten Palladios in Vicenza
und Venedig (1550-1580) überspannt das Thema das
gesamte mittlere und spätere 16. Jahrhundert, durch-;
wirkt im römischen und piemontesischen Frühund Hochbarock die Frontkompo­sition sowohl der
Frühzeit Berninis als auch das Schaffen Borrominis
und Guarino Guarinis und mündet, in völlig ungeschwächter Verwandlungsenergie, an Hauptwerken
der Vittone, Raguzzini, Gregorini und Manieri ein
in den Formenkanon des Spätbarocks. Erst auf der
Hochstufe des Klassizismus kommt es zu der, proklamatorisch geschärften, sehr bald aber wieder aufgegebenen Lossage von der gestaffelten zugunsten der
stahlplattenartig glatten Wand.
Wir sahen, dass in den dreihundert Jahren zwischen
der Begründung der Re­naissance in Florenz und dem
Ausgang des Spätbarocks eine kaum überschaubere
Fülle reichdurchschichteter Aussenfronten respondierend Bezug nimmt auf den vorgefundenen oder,
spätestens seit Rossellinos Domvorplatz in Pienza,
mehrseitig mitgeschaffenen räumlichen Konnex. Mit
einigen Ausnahmen sind es Ein­zelbauten in fester Relation mit einem fassbaren innerstädtischen oder peripheren Teilkomplex: Ein Bau profanen, monastischen
oder öffentlich-kirchlichen Charak­ters tritt, in herausfordernd kontrastierendem oder diszipliniert eingliederndem Verhalten, in den gegebenen oder mitgeschaffenen Verband; selbst einer klar aus­senräumlich
gerichteten Sehweise erscheint der Dialog zwischen
Kirche und Vor­platz, Palast und Gasse, Markthalle
und Markt als der normale Fall. Was uns nicht, oder
bestenfalls im Ansatz begegnete, das ist das nicht planmässig gesteuerte, son­dern intermittierende Übergreifen eines eminent dialogischen Grundverhaltens“ der
Auffassung der Front als eines durchschichteten Körpers, auf eine ganze Stadt. Wir nennen „dialogisch“
jedes kategoriale Verhalten, das die Aussenwand nicht
als Brustwehr und Panzer des Baukörpers, sondern
als durchlässige Hülle oder mehr­schichtige „Rinde“ auffasst, durch die der Ball mit Platz und Gasse
kommuniziert; wo Frontteile vorspringen, formen sie
den Umraum; wo sie zurückweichen, dringt dieser in
den Frontkörper ein. Das Phänomen ist allgegenwärtig. Jede simultan oder sukzessiv durchstrukturierte
Stadtgestalt kennt eine Unzahl von Verschränkungen
zwischen Baukörper und Aussenraum. In spätmittelalterlichen, manieristischen und spätbarocken Gassenfluchten greift die horizontal und vertikal durch den,
bedarf es eines wahrnehmungskritischen Rückgriffs
auf die Ausgangslage. Wir stellten fest, dass der über
mindestens fünf Hauptepochen der Architekturgeschichte Europas greifenden Präsenz des Schichtprinzips das annähernd voll­ständige Fehlen der durch sie
geforderten, auf sie eingestellten Optik gegenüber­
steht. Tatsächlich entspricht der traditionellen Wahr-
Abb, 47 Einfach gesaffelte, noch nicht flächig
ausladende Fenstereinfassung
1 Seminario degli
Alunni (Collegio,
Westhot),
Fenster über dem inneren
Hofportal.
2 Casa dei PP. Filippini,
Hauptfronr Via Cavour,
Obergeschoscschossfenster.
3 Casa dei Rifigioio,
Via Trigona
Obergeschossfenster.
4 Via Galiko Galiki,
Ostflucht unterhalb S. Anronio Abate, Hauptfenster
der Gassenfront eines
Bürgerhauses; Rücklage
rechts: Ühergang zur
Staffelung
1
2
3
4
1
2
Abb. 48 Einfach gestaffelte Fensterter und
Portaleinfassungen mit fiktiv hinterschobener
Rücklage.
1 Eckhaus Via Ducezio
Nordflucht/Via Arnoldo
d. Brescia
2 Vi. Antonio Sofia, oberstes Privathaus gegenüber
Freitreppe S. Maria del
Gesu.
3 Piazza XVI Maggio,
Nordseite E, Eckhaus zu
Via Bovio, Südfront.
4 Via Fratelli Ragusa,
Bürgerhaus am Nordostaufgang zu Via Trigon
3
4
211
nehmung sowohl des Bau­werks als eines Solitärs als
auch seines Umraums als einer ihm zugeordneten,
von ihm mitgeprägten räumlichen Einheit genau der
frontale Aufriss, die vereinzelnde massstäbliche scenografia der Architekturtraktate. Die Aussenfront ist
als stabile Ebene eines zweidimensionalen Teilungssystems gesehen; die dritte Dimension ist die Sache des
ergänzenden Betrachterauges, nicht der Darstellung.
Wahrneh­mungssubjekt der Frontalansicht ist der
„objektfixierte“ stehende Beschauer. Auch bei Einbeziehung des Umraums ist sein Sehfeld fest begrenzt.
Anders Schrägperspektive, Vogelschau, Übereckenansicht, Axonometrie. Die Fronttiefe wird zur ebenbürtigen, bei starker Ausladung oder Einbuchtung klar
führenden Dimension. Die Teilungsebene, meist Alleingegenstand oder doch Gerüst der konventionellen
Frontanalyse, ist nun nicht mehr Projektion, sondern
Stirnfläche einer perforierten, gestaffelten oder mehrschalig strukturierten Grenz- oder Hüll­zone zwischen
Baukörper und Aussenraum. Der Standort wird variabel. Erst über die diagonale Sehachse tritt das grössere
Umfeld, der Platz, die Gassenflucht ins Blickfeld ein.
An Stelle des Stativs tritt die «fahrende Kamera»:
Apperzeption des Übergreifens, Gewahrwerden der
Sukzession. Dem axial gegenüberstehenden Betrachter und seinem «Sprecher», dem Darsteller der Frontalansicht, erscheint der Bau als Bild; dem diagonal
und ambulant Wahrnehmenden erscheint die Tie­
fendimension der Wande und gleichzeitig, durch ihre
Sukzession, der Stadtraum. Dass sich die zwei Sehweisen nicht alternativ, sondern komplementär zueinander verhalten, bedarf keiner Begründung. Die erste,
«normale», bleibt unangefochten in Kraft. Erst im
Übergang zur zweiten, «axonometrischen» Optik
kommt die Stadt als ein Kontinuum in Sicht.
Im mehrdimensional geschärften Bewusstsein des alpenüberschreitenden, kontinentweit pendelnden Verkehrs der Typen und Motive nach Noto zurückkeh­
rend, stellen wir zunächst fest, dass die Stadt zweierlei
nicbt ist: Erfinderwerkstatt für motivische oder bautechnische Innovation, Quellpunkt architektonischer
Fern­wirkungen, Von aussen hereingeführte Stränge
werden aufgelöst und neu geknüpft. Was Noto leistet,
heisst nicht genuine Findung, Urproduktion, sondern
Zusammenführung, Verdichtung und Verfeinerung
herangeführten Materials zu einer zuletzt von Grund
auf individuellen, diszipliniert durchgearbeiteten, jedoch unstarren Figur. An diesen hoch komplizierten
Werdeprozess kommt nur eindrin­gende Aufschlüsselung der führenden Wertgruppen und ihres Instrumentars heran. Wo sich aus klar übernommenem
Wortgut und bereits unverwechselbarem Vokabular
eine Architektursprache völlig eigenen Gepräges
bildet, da allein gewinnt auch der Stadtraum unterscheidbare Gestalt. Den Wertgruppen, denen wir in
den Stadtkernen des Kontinents zwar hundertfach,
jedoch ohne manifeste stadträumliche Verspannung
begegnen, stellen wir die durchschichtete Aussen­front
212
als unplanmässig wiederkehrende, keiner Norm botmässige Grundfigur sakraler, monastischer und privater Baukörper in offener Verteilung über einen ganzen
Stadtkern gegenüber. Soweit wir sehen, vereinigt sie
sich in keiner andern sizilischen oder festlanditalienischen Stadt zu vergleichbarer Dichte, Variations­fülle
und Permanenz.
Die insgesamt 18 Kirchen, Ordenshäuser und Paläste,
an deren Aussengestalt Flächenstaffelung nicht als
Einzelmotiv unter anderen, sondern als Grundformel
der Frontbildung zutage tritt, sind bereits mehrfach
unter konvergierenden Aspek­ten aufgeführt worden.
Sie sind daher nicht nochmals individuell, sondern
gesamthaft auf ihren Stellenwert „im Stadtraum befragt und im Zusammenhang des Kernzonenplans
verzeichnet. Vier Grundzüge des Gesamtverhaltens
treten markant hervor. Es sind einmal die massive
Konzentration des hier analysierten Fronttyps auf die
Mittelstadt zwischen den Nordfluchten von Via Cavour und Via Aurispa einerseits, der Via Galilei und
des Immacolata-Klosters andererseits; alsdann die völlig offene, keiner erkennbaren Regel folgende Orientierung, wobei die vorherrschende südliche der meerwärts gerichteten Hanglage der Stadt selbst entspricht;
keine einzige Platz- und Gassenwand kennt lückenlos
geschlossene Fluchten geschichteter Fassaden; selbst
in den langen West-Osttransversalen gibt es zwar benachbarte, nie aber einander gegenüberstehende, dem
Schichtungsprin­zip unterworfene Gassenfronten. Bei
manifester Verdichtung auf die Mittelstadt kommt es
an keiner Strasse und aufkeinem Platz zu beidseitig
einander antworten­den oder rechtwinklig gestellten
Fluchten mehrerer flächenhaft durchstrukturier­ter
Fronteinheiten.
Das Ergebnis ist von primordialer Bedeutung. Gibt
es in Noto öffentliche Freiräume von formal geschlossener, durch verbindlich auferlegte Muster verein­
heitlichter Durchgliederung? Nein. Die bindenden
Kräfte wirken nicht auf der Regelebene ein. Sie gerinnen nicht zur Norm. So auch das Grundprinzip der
maueraufschliessenden, nicht folienhaft vorgeblendeten, sondern in sie mehrstufig eindringenden Schichtung der Aussenwand. Das Prinzip versteinert nicht
zum Ritual. In meist verhaltener Sprache teilt es sich,
die häufigen Intervalle mühelos überspringend, den
Platz- und Gassenwänden mit. Es gibt weder das Fortissimo römischer Halbsäulenparaden noch den starr
filigranen Prunk zeremonieller Schauprospekte. In
der Verspannung mehrerer autonomer Formsysteme
kommt es da und dort bis zum Raffinement, nie aber
zu Draperie, Kulisse, Maskerade. Die Raumgrenzen
bleiben unangetastet. Nirgends entwickeln sie sich
zum Blendwerk. Architektur bleibt Architektur.
Am Schluss dieses Durchgangs steht die Wahrnehmung, dass mit dem Phänomen der unstetigen, intermittierenden Durchschichtung das Bauprinzip der
Stadtanlage selbst, die aus dem Felsgrund gewonnene,
aus ihm reichvariiert emporgeführte Staffelung der
Abb. 49 Partielle Überlappung der Rücklage in
der Eckpartie der Portaleinfassung
1 Cattedrale, Seitenportal E und W,
2 S. Maria del Carmelo, Seitenportal S (mit
Gewändeprofilen).
1
2
Abb. 50 Die ‚Gebundene Achse‘ in der Frontbildung des spätbarocken Palastbaus.
1 Palazzo Accardo, Via Aurispa Nordflucht W,
Ecke Vico Melfi.
2 Palazzo Villadorata, Hauptfront Via Nicolaci,
unterste Achse (Sockelpartie unten rechts nicht
ursprünglich).
3 Palazzo Battaglia, Fassade Via Cavour, Überleitung vom 1. zum 2. Obergeschoss
1
2
3
Abb.5I Die gefächerte Bekrönung am Aussenbau von
Hauptwerken Gagliardis.
1 S. Maria dell‘Arco, Nordportal (Giebelaufsätze weggelassen), Vgl. Casa deI Rifugio, oben
Abb.47/3.
2 S. Domenico, Hauptfront: Bekrönung der
Nischen unterhalb des Kranzgesimses.
3 Collegia, Front am Corso und S. Carlo,
Ostfassade Vestibül: Obergeschossfenster, vgl.
hier 6,
4 S. Maria det Carmelo, Frontfenster über
Hauptportal; vgl. Seitenportal S, oben Abb,
49/2.
5 Chiesa Madre (Cattedrale), Hochfenster der
Längsfassaden W und E.
6 Collegia, Corsofront, Oberlichter der Erdgeschosseingänge zwischen den Portalen; S. Carlo;
Ostfassade Vestibül, Erdgeschossfenster
1
2
3
4
5
6
213
vier Hauptstufen eindringt in den Innenraum des
Stadtkerns.
Die bewegte Front im Stadtraum
Angesichts der Tatsache, dass die leitmotivische Verwendung konvexer, konkaver, konvexkonkaver, elliptischer Grund- und Aufrisselernente im europäischen
Ma­nierismus und im Barock bis in dessen Endstufe
hundertfach variiertes Gemeingut bleibt, würden Hinweisreihen zu formlosem Ballast. So gibt es geschwungene und gekehlte Balkonplatten, Fensterbrüstungen
und Supraporten auf dem ganzen ita­lienischen Festland bis hinauf in die Alpentäler und, in Mitteleuropa, bis nach Schlesien und Polen. Zum gebauten Bestand treten die trotz schweren Verlusten immer noch
überreichen Zeichnungs- und Stichsammlungen, eine
kaum über­schaubare Fülle teils kühn ausladender,
teils nervös gebrochener oder phantasievoll gestufter
Projekte, Studien, Schnitte durch die Phasenvielfalt
der Entwurfs­prozesse,
Wir beschränken uns auf den durch Siracusa-Ortiga,
Catania, Modica, Ragusa, Scicli, Noto abgesteckten
südostsizilischen Horizont. Selbst bei summa­rischer
Bestandesaufnahme zeigt sich, dass in Zahl und Variationsspielraum der kurvilinearen Portal-, Balkon- und
Fensterprofile Regionalzentren wie Ragusa und Scicli
Noto nahekommen, währed das spätbarocke Ortigia,
Vaterstadt Gagliardis, in der Anzahl geschwungener
Balkone und Portalaufsätze die Stadt seines Wirkens
weit übertrifft. Ähnliches gilt für die ein- oder auswärts
gekrümmten Kirchen ­oder Klosterfronten: den fünf
Netiner Einzelbauten dieses Modus stehen deren acht
in Catania gegenüber. Eingedenk jedes Vorbehalts gegen tabellarisches Auf­rechnen, im Blick vielmehr auf
die qualitative Nähe der Hauptwerke Vaccarinis in
Catania und derjenigen Gagliardis in Noto, Modica,
Ragusa, Caltagirone stellt „sich doch, innerhalb unserer Bezugsebene der fliessend oder kantig bewegten
Aussenfronten, die Frage nach dem unterscheidenden
Rang des Netiner Stadtkerns. Mit einziger Ausnahme
der auf Sizilien wohl singulären doppelschalig konkaven Front von S. Carlo lässt sich die Frage von keinem
isolierbaren Bauwerk, nur vom Ensemble her beantworten. Weder Syrakus noch Catania, noch Ragusa,
Modica und Scicli kennen die numerisch kleine, aber
gleichmässige Verbreitung der kurvilinear geführten
oder akzentuierten Aussenfront auf Kirche, Kloster,
Btuder­schaftshaus, Magnatenpalast und Patrizierhaus
durch bald unauffällige, bald spek­takuläre Ausladung.
In dieser qualitativen Ebenmässigkeit und Variantendichte der Leittypen bei geringen Quanten innerhalb
der einzelnen Formreihe liegt eine der durch noch so
zutreffende epitheta ornantia nicht einmal andeutbaren Ursachen der Wirkungsintensität von Notos
Stadtkern.
Lassen wir, für einmal die Grenzfalle der platz- und
gassenseitigen Auskra­g ung, die trapezförmigen Vorsprünge und die allein im Eisenwerk konvex beweg­ten
214
Aussenfronten ausser Betracht, dann konzentriert sich
das hier verfolgte Phänomen im Stadtbild eindeutig
auf die Hangzone und die Mittelstadt. In diesem Perimeter des dichtesten Auftretens dürfen die Mikroelemente einschliesslich der wenigen verschwundenen
nicht von den grossbemessenen oder doch ins Auge
springenden Vorkommnissen getrennt werden. Wer
aus einem figurenreichen Relief nur die Protagonisten
wahrnimmt, verfehlt dessen Aussage. Erst durch das
Ineinandertreten der grossen und der lediglich quantitativ nachgeordneten, im kompositionellen Kalkül
aber ebenbürtigen kleinen Ausladung entsteht das
tep­pichartig satt geknüpfte Ensemble einer bewegten
Gassenflucht. Jene anderen, flä­chigen, in den zwei
vorausgehenden Abschnitten herausgearbeiteten
Strukmrie­rungen des Aussenbaus, die Staffelung der
Wand als Schichtungsfolge und die Verschränkung
des Vertikalsystems, werden durch die Bewegung der
Front nach vorn oder rückwärts weder abgelöst noch
überspielt. Das Kleid wird nicht abgelegt, son­dern
bewegt sich mit. Die Fassade lädt um einen kleinen
oder grossen Schritt nach, vorwärts aus oder tritt zurück; ihre Gliederung jedoch bleibt unverändert wie
in einer choreographischen Einheit das Kostüm. Hat
Ausladung, je nach Impuls­stärke, mit dem Elektrisierenden der Pantomime oder mit dem Zündenden des
ora­torischen Gestus zu tun so sind die Auslegerwirkungen der konkaven, kon­vexen, konkavkonvexen
Voraus- oder Zurückschwingung nicht Zwingen,
sondern Spangen der Fronteinheit und zugleich, in
der Horizontalen, Spangen zwischen Baukörper und
Aussenraum. Mehrmals war dabei zu beobachten,
dass die Ausfall­schritte nach vorn oder seitwärts eine
bestimmte Dimension niemals durchstossen; selbst
die Kreissegmentvorhallen von S. Domenico und
Palazzo Ducezio, Maxima des Ausladens im Stadtinnern, erreichen trotz ihrer Lage ausserhalb einer
beidsei­tig bebauten Gasse nicht den vollen Halbkreis.
Die fortissimi der Kathedralen­front von Syrakus, des
unvollendeten Prospekts von S. Antonio in Buscemi
und vollends von S. Nicola in Catania wären in Noto
irritierende Dissonanz. Es ist die bis ins Alliterierende
durchgliederte, nie aber drastisch überhängende Plastizität, die auch, in augenfälliger Analogie, die Dachlandschaft Notos auszeichnet. In die­sem Sinne lässt
sich das Flugbild der Stadt mit ihren zentralen Gassenfluchten in Parallele setzen: Aus der Vogelschau
tritt das Stadtrelief mit den Hohlformen des Strassennetzes als ein den Fenster- und Geschossintervallen
innerhalb einer Frontentwicklung unmittelbar Verwandtes prägnant hervor. So auch die nirgends breit
überschatteten Dachzonen: Ihr ebenso formdichtes
als ausgeglichenes Relief entspricht demjenigen der
Paläste, Kirchen, Klöster, Patrizier- und Bürgerhäuser
aus der Sicht des Besuchers, der die Gassen und Plätze
ruhig durch­schreitet.
Spätestens an dieser Stelle tritt ins Bewusstsein, dass
Schichtprinzip und ver­tikale Verschränkung als zwei
Abb.52 Die Folienkonsole: Nebeneinander der
traditionellen skulpierten Hochreliefkonsole und
der einschichtigen Flachblende ohne bildhauerischen Zierat (3-7)
Abb. 53 Die Lambrequin-Konsole und ihre
Übertragung auf die Kapitäl- und Kämpferzone des
spätbarocken Palastbaus
Abb.66 Pienza, Piazza
Axonometrische Einsicht in den Trapezplatz
mit Domfront und Palazzo Piccolomini.
Links: Schrägansicht von zwei Achsen der
Domfassade; Schichtfolge in den vier Hauptebenen: Wandgrund (0), Portalgewände (a),
Sockelfüllungen (b), Sockelstirnen (c); darunter
Horizontalschnitt durch den Frontkörper, in
halber Sockelhöhe, Gesims- und Portalprofile
leicht vereinfacht, Papstwappen im Tondo des
Tympanons weggelassen.
Abb. 67 Rom, Belvederehof, Nordfront des Cortile
dlla Pigna: Donaro Bramante, Wandsystem beidseits
der axialen Exedra, Erdgeschoss, entworfen 1503
O Wandgrund; A-D vierstufige Staffelung; die
(spätere) Quadrierung des Mauergrundes analog
Westtrakt (Abb, 68) und das Obergeschoss
(Aufstockung 1550-1555) weggelassen
O Wandgrund; A-E fünfstufige Staffelung. Zur
Quadrierung der Rücksprünge, s.
215
hochentwickelte Differenzierungen der Aussenwand
dem Aufbau einer stabilen, jedoch nicht starr verschlossenen Bauherrengesellschaft aus Klerus, Nobilität, Patriziat und Bürgerschaft genau gegenüberstehen; wir neh­men teil an einer wechselseitigen Identifikation, durch die Ausladung, Schritt aus dem Frontgrund hinaus immer dort Anerkennung statt Majorisierung des Stadt­raums bedeutet, wo das Schrittmass
beschränkt, frei von Einschnürung und Sperre bleibt.
Kennzeichnend dafür ist die - im Vergleich mit Stadtpalästen Mittelitaliens und ihrer Verklammerung von
Baukörper und öffentlichem Stadtgrund durch Sitz­
bänke am Mauerfuss - verwandte, formal aber kontrastierende Verzahnung von Palast- und Kirchenfronten
mit der Gasse in Gestalt jener botteghe, Rechteck-Ein­
buchtungen des Strassenvolumens in die profan oder
sakral genutzte Bausubstanz. Nehmen Säulenportal
oder Risalit ein Stück Strassenrand in Anspruch, so
dringt der öffentliche Freiraum über kommerziell
oder kleingewerblich geprägte „Marktnischen“ in
die Erdgeschosse ein; wo vollends Risalite mit sackgassenartig gefangenen Verkaufsläden alternieren,
entsteht aus Vorsprung und Eintiefung ein wellenförmiger Wechsel, in dem sich die belebte Gasse als ein
Pulsierendes erfüllt.
Aufs neue werden Platz und Strasse Orte dialogischer Interferenz zwischen Hohl und Voll, Anruf
und Antwort, von klösterlicher oder herrschaftlicher
Umschlos­senheit inmitten nichthierarchischen werkoder festtäglichen Verkehrs: con cio­sia che la citta non
sia altro che una certa casa grande, e per lo contrario
la casa una piccola citta. Im vollen Bewusstsein möglicher Überinterpretation oder blosser Metonymie sei
doch, abschliessend, die freilich einzeln nicht nachprüfbare These wenigstens im Umriss vorgebracht,
dass zwischen dem flächenhaften, langwelligen oder
polygonalen Relief des Stadtraums durch die Modulation der Baufluchten einerseits, der Schichtung und
dem Wechselverkehr der städtischen Sozietäten an­
dererseits Bezüge laufen, ähnlich jenen anderen zwischen Stufung der Baukörper und Terrassierung der
Landschaft vor Anlage der Stadt.
216
Abb. 69 Die geschichtete Aussenfronr im
Stadtraum. Übersichtsplan im Baubestand vom
Septem-ber 1977. Nicht kartiert: Schichtung
einzelner Prontteile ohne Dominantcharakter
Abb.130 Noto: kurvilineare und trapezförmige
ausladende Aussenfronten und Frontteile des 18.
und 19. Jahrhunderts einschliesslich Balkonplatten und -geländer.
Der Barock in Noto
in: Sizilianischer Barock / Anthony Blunt; übers. von Erika Schindel,
Frankfurt a. M.: Ariel 1972
Noto ist unter den sizilischen Barockstädten aus zwei
Gründen einzigartig: durch die Regelmässigkeit seines
Stadtplans und die Schönheit seines Baumaterials.
Die alte Stadt, die 15 km weiter nördlich gelegen hatte, wurde 1693 vollständig zerstört, und nach längerem Hin und Her beschloss man, vor allem unter dem
Einfluss des gelehrten Giovanni Battista Landolina,
das Gemeinwesen an neuer Stelle wieder aufzubauen,
wozu er mit Unter­stützung dreier örtlicher Baumeister
einen Gesamtplan entwarf. Die neue Stadt war durch
drei Parallelstrassen festgelegt, die sich waagrecht an
einem sanft ansteigenden Hang entlang­zogen. Sie
wurden rechtwinklig von einer Reihe schmälerer
Strassen geschnitten. Als Zentrum städtischen Lebens
waren drei Plätze eingeplant, deren jeder sich von der
Hauptstrasse hügelauf zog und als Abschluss eine
Kirche hatte. Diese Anordnung ergab einen Grundriss von grosser Übersichtlichkeit mit wirkungsvollen
Blickfängen. Meist bestanden sie in einer Kirche oder
einem Kloster, mit denen die Stadt in grosser Zahl
ausgestattet wurde.
Der Stein aus den unweit nördlich gelegenen Brüchen
ist in der Textur ebenso fein wie der Catanias, jedoch
von einem blassen Gelb, das in der Sonne einen unbeschreiblichen Goldschimmer annimmt. Er ist weich
genug für feines Relief, kann aber auch ebensogut
glatt verarbeitet wer­den, so dass die Schönheit des
Materials rein zur Geltung kommt.
Unter den zahlreichen Adelspalästen ist der bedeutendste der Palazzo Ducezio, das heutige Rathaus,
zugeschrieben Vincenzo Sinatra. Sein Entwurf ist in
mehrfacher Hinsicht un­gewöhnlich. Er ist langgestreckt, niedrig und auf drei Seiten von einem Säulenportikus umschlos­sen, der an den Ecken kurvig eingezogen ist. Ein Portikus mit ähnlichen Kurvaturen,
diesmal an einer Kirchenfassade, findet sich an der
Kirche S. Paolo in Palazzolo Acreide, die vermutlich
ebenfalls von Sinatra stammt. Besonders ins Auge
fällt der Palazzo Villadorata durch seine Balkone,
deren Konsolen mit Löwen, geflügelten Pferden,
aus Akanthusstauden hervorquellenden Engeln und
grotesken Halbfiguren geschmückt sind, wie man sie
sonst nur aus gotischen Wasserspeiern kennt. Dieser
Balkontyp ist an vielen Adelspalä­sten in Noto zu finden und überhaupt eine Spezialität des Südostens der
Insel. Der längste Balkon dieser Art befindet sich in
Palazzolo Acreide, und der merkwürdigste ist wohl an
einem Adelspalast in Scicli zu sehen, wo verschiedene
Köpfe offenbar karikierte Porträts sind und denselben grotesken Realismus zeigen wie die monströsen
Figu­ren der Villa Palagonia in Bagheria. Beim Palazzo
Villadorata liegt ein gewisser pikanter Reiz in dem
Gegensatz zwischen diesen Balkonen und dem von
klassizistischen Säulen gerahmten Hauptportal, über
218
dem sich ein Gurtgesims mit einem Fries aus fast klassisch empfundenen Greifen befindet.
Die kirchliche Architektur Notos ist recht verschieden. Manche Kirchen, wie S. Francesco, haben den
an der Ostküste im späten 17. Jahrhundert gängigen
Dekor. Im besonderen Fall der Fensterbekrönung des
Klosters S. Salvatore erscheinen Schmuckformen, die
eher apulischen als sizilischen Vorbildern ähneln.
Unter den kleineren Kirchen Notos gehört zu den
eindrucksvollsten die Chiesa del Monte­vergine, die
mit ihrer stark eingezogenen Mittelpartie den dramatischen Abschluss einer der erwähnten ansteigenden
Kreuzungen bildet. Das Ungewöhnliche dieser Fassade liegt darin, dass in ihre Kurvatur nicht nur die
Doppeltürme, sondern auch das Mittelschiff einbezo­
gen sind, eine Grundrisslösung, die sich auch in Fischer von Erlachs Dreifaltigkeitskirche in Salzburg
findet. Vielleicht kannte sie der sizilische Baumeister
aus einem Stich. Subtiler gestaltet ist der Belvedere
des Klosters S. Salvatore, der auf dem kurvig bewegten Unterbau von drei konkaven Fassadenpartien
ruht. Sämtliche Fenster sind mit einem ausladenden
Fenster­korb versehen, was die gefängnishafte Klausur
des Klosterlebens nach aussen betont.
Die Kathedrale, einer der spätesten Kirchenbauten
Notos, hat eine breite Fassade mit gebrochenem Giebel, der von acht freistehenden Säulen getragen und
von zwei niedrigen Türmen flankiert ist. Die Säulenordnung des Giebelgeschosses wiederholt genau die
der Mittel­partie des Untergeschosses, eine für Italien
sehr ungewöhnliche Fassadenform, die ein französi­
sches Vorbild, nämlich Mansarts Entwurf von Notre
Dame in Versailles, nachahmt . Es ist nicht überliefert,
ob der unbekannte Baumeister Frankreich besucht
hat oder ob er diese Kirche nur aus Stichen kannte.
Doch in Rücksicht auf die engen Kontakte zwischen
Sizilien und Frankreich nach der Mitte des 18. Jahrhunderts ist es nicht unmöglich, dass er dort­hin gereist ist. Der Typ der doppeltürigen Fassade wurde in
sizilischen Kirchen auf alle mög­lichen Arten variiert,
aber keine davon kommt dem französischen Modell
so nahe wie die Kathe­drale von Noto. In S. Domenico
in Palermo ist die untere Säulenordnung durch das gesamte Obergeschoss durchgeführt, so dass die Türme
über einem durchgehenden Gesims stehen und den
Mittelgiebel beherrschen. In der wundervollen Fassade der Chiesa Matrice in Palma di Montechiaro von
Angelo Italia aus dem Jahre 1703 folgt der Entwurf
dem Typ der Kathedrale von Noto, doch haben die
Türme ein drittes Geschoss erhalten und enden in
einer Zwiebelkuppel. In der Kathedrale von Caltanisetta ist diese Entwurfsidee aufgenommen, aber mit
pedantischer Trockenheit durchgeführt, während sie
in S. Flavia bel Bagheria mit neuem Leben erfüllt ist,
dadurch, dass sie in die spielerische Eleganz des Louis
Seize übersetzt und das Turmgeschoss zu einer kompakteren Form zusammengezogen ist.
Die bemerkenswertesten Kirchen Notos gehören zu
einer Gruppe, die sich mit dem Baumei­sternamen Rosario Gagliardi verbindet. Er war Stadt- und Bezirksbaumeister von Noto, aber seine wichtigeren Bauten
stehen in Ragusa und Modica. Die Fassade der Chiesa dei Collegio ist zwar noch stark beeinflusst von
den Schmuckvorstellungen der vorhergehenden Ge­
neration, zeigt jedoch die kühne überecksteIlung von
Säulen vor einer kurvig geführten Fas­sade, was eines
der Hauptmerkmale seiner Bauweise ist. Das gleiche
gilt für das Innere der Kirche S. Chiara, die ihm ebenfalls zugeschrieben wird, während die Chiesa dei Carmine, ein langgezogenes Oval mit reicher Gliederung
durch korinthische Pilaster, das im Grundriss auf Vaccarinis S. Giuliano zurückgeht, stärker mit Gagliaris S.
Giuseppe in Ragusa verwandt ist.
Der Barock in Ragusa
Die Baugeschichte von Ragusa nahm fast den gleichen
Verlauf wie die von Modica, was nicht überrascht, da
die beiden miteinander rivalisierenden Städte ähnlich gelegen waren, demselben Verwaltungsbezirk
angehörten und nur wenige Kilometer voneinander
entfernt waren. Für beide Städte war ihre steile Hanglage von entscheidender Bedeutung und hat die örtlichen Bau­meister zu szenisch effektvollen Entwürfen
veranlasst, die das Auffallendste an ihren Architek­
turschöpfungen sind.
Beide Städte wurden beim Erdbeben von 1693 zerstört, und beide betrieben ihren Wieder­aufbau in einem dem gleichzeitigen Wiederaufbau Catanias verwandten Stil. Die Kathedralen S. Giovanni in Ragusa,
entworfen im Jahre 1694, und S. Pietro in Modica,
vielleicht von den gleichen Baumeistern, illustrieren
diese Formensprache. Sie zeigen durchgehende Pilaster mit einer wesentlich nüchterneren Rustizierung,
als sie sonst im Osten Siziliens üblich ist, und viel
einfachere Fensterformen. In beiden Fällen steht die
Kirche auf einem Abhang, doch nutzte der Baumeister diese Lage in verschiedener Weise. S. Giovanni ist
auf eine Terrasse gesetzt, die weit in den Platz vor der
Kirche hineinspringt, während bei S. Pietro eine breite von Statuen flankierte Treppe vorgelegt ist, die eine
Lieblingslösung dieses Gebiets darstellt.
Erst in der nächsten Generation brachte die Architektur Ragusas und Modicas dank der schöpferischen
Persönlichkeit des Rosario Gagliardi ihre besten
Werke hervor. Über Gagliardis Werdegang ist wenig
bekannt, doch hatte er eine dominierende Stellung
im ganzen Bezirk, was aus der stolzen Signatur seiner
Entwürfe für S. Giorgio hervorgeht. Sie lautet ingegniere della citta di Noto e sua Valle, d. h. nicht nur
Baumeister der Stadt Noto, sondern des gesam­ten Val
di Noto, also des südöstlichen der drei Bezirke, in die
Sizilien eingeteilt war.
Für S. Giorgio in der Unterstadt Ragusas, auch Ragusa Ibla benannt, liegt alles klar. Die Entwürfe sind
nicht nur mit 1744 datiert, sondern auch mit dem
Vermerk versehen, dass sie vom parocco Don Felice
Gianpicciolo „gekauft“ wurden. Im Hinblick auf die
Vorsichtsmassnahmen der Zeit bei einem solchen
Unternehmen ist es interessant, festzustellen, dass die
Pläne zur Begutachtung Michele Longari, dem Stadtbaumeister von Messina, und Gio­vanni de Amico,
Baumeister des Patrimonio von ganz Sizilien vorgelegt worden waren.
S. Giorgio in Ragusa ist die einzige Kirche, deren Entwurf nachweislich von Gagliardi stammt, aber auch
die Fassade von S. Giorgo in Modica ist mit grosser
Wahrschein­lichkeit sein Werk oder zumindest die
Arbeit eines ihm sehr nahestehenden und begabten
Nach­folgers. Bei beiden Kirchen ist die besondere
Lage des Bauplatzes geschickt genutzt, um dem Ganzen eine repräsentative Treppenflucht vorzulegen. In
Ragusa führt diese auf einen Platz hinunter, dessen
Achse zur Kirche leicht abgeknickt ist, während die
Treppe in Modica in zwei­hundertfünfzig Stufen auf
die unten entlangführende Strasse zugeht. S. Giorgio
in Ragusa ist die kleinere Kirche mit nur drei Achsen,
S. Giorgio in Modica hat deren fünf. Aber in beiden
Kirchen et der Turm über der Mittelpartie den künstlerischen Höhepunkt des Entwurfs. Die konvexen
Mittelpartien zeigen bis hinauf zu den oberen Turmgeschossen durch freiste­hende Säulengruppen eine
grosse Reichhaltigkeit des Dekors. In Ragusa sind
die Säulen in Dreiergruppen angeordnet und in zur
Fassade parallele, konvexe Ebenen gestellt, wäh­rend
in Modica je eine Säule allein vorkommt und je zwei
gestaffelt vor dem stärker konvexen Mittelteil stehen.
Der Turm in Ragusa folgt Gagliardis Entwurfszeichnung genau. In Modica sollen das oberste Geschoss
und der Turmabschluss erst aus dem 19. Jahrhundert
stammen.
In beiden Kirchen ist versucht, die Wirkung der Fassade durch phantasievolle Ausgestaltung der Portale zu
steigern. Das Mittelportal in Ragusa ist mit Fruchtgehängen ge­schmückt, die von einem gebrochenen Rahmen in auffallend eckiger Skulptierung umgeben sind.
Er ist in der Mitte durch eine von Putten getragene
Kartusche unterbrochen. Darüber be­findet sich ein
konventioneller, ziemlich schwerer Segmentgiebel,
der lediglich durch zwei schwachreliefierte Kegel mit
dem Portal verbunden ist. In Modica hat der Baumeister mit Rücksicht auf die Breite der Kirche die Zahl
der Eingänge auf fünf vermehrt, und der Portal­dekor
ist noch wesentlich reicher. Bei den seitlichen Portalen herrscht eine ausgeprägte Zwei­teilung der Dekoration. Die beiden Gewändestützen sind in kurvigem
Verlauf zu einem ge­schwungenen Segmentgiebel emporgeführt. Zwischen diesem und der Portalöffnung
liegt ein Schmuckfeld mit einem Dekor aus Putten,
Rollwerk, Palmen und Sternen in Hochrelief. Einen
noch phantasievolleren, fast wilden Dekor zeigt das
doppelt so hohe Mittelportal. Die dynamisch bewegte Ornamentik zwischen dem völlig unverbundenen,
gewellten Giebel und der Portalöffnung enthält in ih219
ren Wappen und Putten Formen, die man als Rokoko
zu bezeichnen versucht ist. Die römischen Nachfolger Berninis und Borrominis hatten einen Portaltyp
ent­wickelt, bei dem der Giebel von dem darunter befindlichen Portal weitgehend isoliert war - man denke
etwa an die Fassade von S. Maria Maddalena in Rom,
aber sie hatten diese Zweiteilung nie mit derselben
Freiheit durchgeführt, wie sie S. Giorgio in Modica
zeigt. Man könnte hier eher an süddeutsche oder sogar portugiesische Barockportale denken.
S. Domenico in Noto und S. Giuseppe in Ragusa Ibla
pflegten ebenfalls Gagliardi zugeschrieben zu werden,
was aus stilistischen Gründen auch überzeugend ist.
S. Giuseppe ist eine etwas kompaktere Version von
S. Giorgio in Ragusa, und S. Domenico ist eine Art
Vorspiel für S. Giuseppe. Keine der beiden Kirchen
hat nur annähernd die gleichen dramatischen oder
szenischen Qualitäten, aber in mancher Hinsicht sind
sie im Entwurf von subtilerem Charakter. Auch hier
wird die konvexe Mittelpartie betont, und zwar durch
recht­winklig vorspringende Säulen, aber sie sind anders verteilt. In S. Domenico, wo im Unterge­schoss
ziemlich schwere dorische Säulen und darüber ionische verwendet sind, bestehen die Vorsprünge aus je
einer Säule. Eine Säule steht am Ausgangspunkt der
Ausbuchtung und eine weitere wesentlich näher zur
Fassadenmitte hin. In S. Giuseppe handelt es sich um
korinthische Säulen und solche mit Kompositkapitellen. Gagliardi hat ihre grössere Leichtigkeit dadurch
ausgeglichen, dass er ihr architektonisches Gewicht
zusammengefasst und an den Ausgangs­punkt der
Fassadenrundung eine Gruppe von zwei Säulen und
einem quadratischen Pfeiler ge­stellt hat. Der Effekt
dieser Fassadenverkleidung ist nicht nur einmalig,
sondern auch stark dramatisch. Bei bei den Kirchen
sind die Seitenpartien der Fassade im Obergeschoss
mit Voluten von ungewöhnlichem Erfindungsreichtum geschmückt, deren Gestaltung typisch für Gagliardi ist. Die Fassade von S. Domenico hat eine
Giebelbekrönung nach römischer Tradition, wäh­rend
Gagliardi seinen Entwurf von S. Giuseppe durch einen sizilischen Glockenstuhl abschliesst, den er in die
Gesamtfassade meisterhaft einbezogen hat.
Gagliardis grösste Begabung lag in seinen Fassadenentwürfen, aber auch seine Innenräume zeugen von seinem Ideenreichtum. Das Mittelschiff von S. Giorgio
in Modica war wahrscheinlich von einer früheren Kirche hinterblieben, aber für S. Giorgio in Ragusa geht
aus Entwurfs­zeichnungen hervor, dass mit Ausnahme
der Mittelkuppel, die erst im 19 . Jahrhundert hinzukam, die gesamte Kirche nach Gagliardis Entwürfen
erbaut wurde. Ihre Mittelschiffarkaden sind von quadratischen Pfeilern getragen, deren korinthische Pilastervorlagen auf sdtwarzen Marmor­sockein ruhen.
Das Gesims hat reichprofilierte Verkröpfungen, einen
plastisch durch­geformten Fries und ein Zierband mit
Kugelmotiven unterhalb des Gesimses, wie wir sie
schon einmal in den Trompen des 16. Jahrhunderts in
220
S. Francesco in Comiso beobachten konnten. Dieser
Formenreichtum in Verbindung mit den doppelten
Einsprüngen der Deck­platten über den Pilastern gibt
dem Entwurf einen überraschenden Grad von Lebendigkeit und Dynamik, wenngleich er in seinen Grundelementen auf die nüchternen Mittelschiffsarka­
den der Kathedrale von Catania zurückgeht. Wie S.
Giorgio hat S. Domenico in Noto als Grundriss ein
lateinisches Kreuz, während S. Giuseppe in Ragusa
und die Chiesa deI Carmine in Noto die Form eines
gelängten Oktogons von edlen Proportionen besitzen
und mit elegan­tem Rokokodekor auf weissen Feldern
ausgestattet sind.
Gagliardis Lösung des sizilischen Glockenstuhlproblems durch Umwandlung der Mittel­partie der Fassade in einen Turm: die sich schon in der Kathedrale
von Syrakus vorbereitete - war offenbar ohne Parallele in Italien. Sie entspricht jedoch, wahrscheinlich
mehr zufällig als durch direkte Beeinflussung, einem
in Nordeuropa weitverbreiteten Typ, der beispielhaft
in Balthasar Neumanns fränkischen Kirchenbauten
und in Hawskmoors Londoner Kirchen ver­treten ist.
Dieses Muster wurde im Val di Noto in weiten Bereichen übernommen und findet sich vielfach abgewandelt in kleineren Städten. Die eleganteste Variante ist
wohl S. Giovanni in der Oberstadt von Modica. Die
Kirche steht wie S. Giorgio oberhalb einer grossen
Treppe. Wenn das von örtlichen Historikern für die
Fassade angegebene Datum 1839 stimmt, ist die Kirche ein bemerkenswertes Beispiel dafür, wie lange in
manchen Teilen Sizi­liens ein ausgesprochener Stil des
18. Jahrhunderts, ohne an Lebendigkeit einzubüssen,
fort­lebte. Gagliardis meisterliche Anwendung kurviger Fassadenlösungen und seine phantasievol­len Portalentwürfe fanden im Südosten weite Verbreitung.
Ein besonders gelungenes Beispiel dafür ist S. Antonio in Buscemi. Wenn die Kirche auch unvollendet
geblieben ist, hat sie doch in ihrem Untergeschoss
die Lebendigkeit von Gagliardis Formensprache und
besteht aus einem weissen Kalksteinmaterial, das an
Syrakus erinnert.
Die Neustadt von Ragusa, die im frühen 18. Jahrhundert rund um die Kathedrale angelegt wurde, enthält
eine Anzahl schöner Adelspaläste von ziemlich ungewöhnlichen Formen. Sie sind fast alle langgestreckt
und niedrig, vielleicht um künftigen Erdbeben besser
standzuhalten, und haben nur zwei Geschosse. Ihre
Mittelachse ist durch einen Balkon betont, unterhalb
dessen ein Portal in den Garten führt. Die übrigen
Teile der Fassade haben regelmässige Fensterdurch­
brüche mit abwechslungsreich geschwungenen Giebelbekrönungen und schmiedeeisernen Balko­nen.
Wiederum stellt sich die Analogie zu portugiesischen
Adelspalästen, wie etwa in Braga, ein.
Das alte Ragusa Ibla betrachtete die Neustadt offenbar als einen etwas vulgären Abkömm­ling und fuhr
bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts fort, in seinem,
eigenen, engbegrenzten Be­zirk Palazzi im traditionel-
len Stil zu bauen. In der Nähe des Eingangs zur Stadt
befinden sich zwei Adelspaläste mit ähnlichen grotesken Figuren wie am Palazzo Villadorata in Noto. Am
Ende des Hügels, auf dem die Altstadt liegt, oberhalb
von S. Giorgio und S. Giuseppe, gibt es ausserdem
in einer geisterhaft stillen Gegend eine Gruppe von
Adelspalästen, die noch heute die klösterliche Atmosphäre der alten Stadt widerzuspiegeln scheinen.
Sie sind nicht so reprä­sentativ wie die Palazzi in der
Oberstadt, enthalten aber Einzelzüge von unerwartetem Reiz, einen barocken Balkon auf Konsolen, deren
Skulptierung noch einfallsreicher ist als der Portal­
schmuck von S. Giorgio, oder ein Klubhaus in strengem Klassizismus.
Am reizvollsten und wohl auch am spätesten entstanden ist ein kleiner Palazzo, der um einen runden Hof
mit offener Treppe nach bekannter barocker Manier
erbaut wurde, selbst jedoch klassizistisch mit den entsprechenden geraden Balustraden ist.
221
Noto
Vedute von Paolo Labisi, um 1760
Noto
Stadtplan, 1968
223
Bibliografie
Reise-Tagebuch 1786 : (Italienische Reise) / Johann Wolfgang Goethe; hrsg. von Konrad Scheurmann und Jochen
Golz. – Mainz : von Zabern, 1997
Das weinfarbene Meer / Leonardo Sciascia ; aus dem Italienischen von Sigrid Vagt – Berlin : Wagenbach, 1997
Sicily as metaphor : conversations / Leonardo Sciascia; pres.
by Marcelle Padovani; transl. by James Marcus – Marlboro,
Vermont : Marlboro Press, cop. 1994
Merian, Sizilien, 4/2004 – Hamburg : Jahreszeiten-Verlag,
2007
Sizilien: Insel zwischen Orient und Okzident/ Birgit Carnabuci. Mit Beiträgen von Christoph Höcker und Helga
Lehmkuhl. – Köln: DuMont Buchverlag, 1992
Die Sirene : Erzählungen / Giuseppe Tomasi di Lampedusa;
aus dem Ital. von Charlotte Birnbaum. – München : Piper,
cop. 1961
Umfrage in Palermo / Danilo Dolci ; deutsche Uebersetzung
von Hans von Hülsen. – Olten : Walter-Verlag, 1959
Das Magazin Nr. 39, 10 / 2000 – Zürich: Tamedia
Palermo sehen und sterben / Roberto Alajmo; aus dem Italienischen von Karin Krieger – München: Carl Hanser Verlag,
2007
Romanisches Sizilien / Giovanella Cassata, Gabriella Costantino, Rodo Santoro. – Würzburg: Echter Verlag, 1988
Noto : Idealstadt und Stadtraum im sizilianischen 18. Jahrhundert / Paul Hofer; Einf. von Werner Oechslin. – Zürich:
Institut für Geschichte und Theorie der Architektur, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, 1996
Abbilungen und Pläne:
Ferdinando Scianna - quelli di Bagheria : [mostra, Galleria
Gottardo, Lugano, 02.05.-24.08.2002] / Galleria Gottardo ;
[a cura di Alberto Bianda ... et al.] – Lugano : Fondazione
Galleria Gottardo, 2002
Catalogo ragionato generale dei dipinti di Renato Guttuso /
a cura di Enrico Crispolti – Segrate (Milano) : Mondadori,
1985
Cartografia generale della città di Palermo e antiche carte
della Sicilia / di Rosario La Duca – Napoli : Edizioni scientifiche italiane, 1975
Spazio e società : rivista internazionale di architettura e urbanistica. no. 41-44 – Rimini : Maggioli Editore, 1988
Dopo il terremoto : Belice 1980 : Laboratorio di progettazione = After the earthquake / testo: Pierluigi Nicolin e.a. ;
commenti: Vittorio Gregotti e.a. – Milano : Electa, 1983
Noto : Idealstadt und Stadtraum im sizilianischen 18. Jahrhundert / Paul Hofer; Einf. von Werner Oechslin. – Zürich:
Institut für Geschichte und Theorie der Architektur, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, 1996
Sizilianischer Barock / Anthony Blunt; übers. von Erika
Schindel, Frankfurt a. M.: Ariel 1972
Bagheria : eine Kindheit auf Sizilien / Dacia Maraini ; aus
dem Ital. von Sabina Kienlechner – München ; Zürich : Piper, 2002
Die Steinbrüche von Selinunt : die Cave di Cusa und die
Cave di Barone / Deutsches Archäologisches Institut; von
Anneliese Peschlow-Bindokat; mit einem Beitr. von Ulrich
Friedrich Hein – Mainz am Rhein : von Zabern, 1990
L’ infanzia è un terremoto / Carola Susani. – Roma: Editori
Laterza
Bauwelt Heft 13. – Gütersloh : Bertelsmann Fachzeitschriften GmbH, 1988
Sizilien - Königin der Inseln : ein Reiseführer / (Text) von
Eberhard Horst ; (Photographien) von Josef Rast. – Olten:
Walter, 1964
Etna - il vulcano e l’uomo / scritti di S. Agati ... [et al.]; fotografie di Franco Barbagallo – Catania : Maimone, cop. 1993
Seminarwoche Frühlingssemester 2008
Professur Wolfgang Schett
Departement Architektur, ETH Zürich
Organisation: Gianluca De Pedrini und Isabel Gutzwiller
Produktion Broschüre: Ralf Figi
Druck: Druckzentrale ETH Hönggerberg
© bei den Autoren
Zürich, April 2008
Sizilien
Seminarreise Frühlingssemester 2008
Professur Wolfgang Schett
Departement Architektur
Eidgenössische Technische Hochschule Zürich
Inhaltsverzeichnis
Palermo
Bagheria
5
Monreale
49
Selinunte
55
Gibellina
63
Catania
79
Noto
85
Karten
91
Touristisches
95
41
Teilnehmende
Adressen
Michael Adamina
Eugene Arvinte
Jan Berni
Rosanna Borsotti
Daniel Deimel
Nikolai Dunkel
Guillermo Dürig
Nuria Eugster
Colin Ferguson
Martina Fischer
Patrice Gruner
Christina Imfeld
Patrick Meier
Natascia Minder
Madeleine Ohla
Stefan Roos
Anna Salvioni
Martino Simoni
Françoise Vannotti
Diana Zenklusen
Jean-Claude Campell
Nadine Kahnt
Iris Moor
Stefanie Müller
Hotel Palermo (27.04. bis 30.04.)
Organisation
Gianluca De Pedrini
Isabel Gutzwiller
Hotel Cortese
Via Scarparelli n° 16
90134 Palermo
Tel/ Fax 0039 091 331722
Hotel Catania (01.05. bis 03.05)
Hotel I Vespri
Via Montesano 5
95131 Catania
Tel./ Fax.: 0039 095 310 036
Reise
Hinfahrt:
Samstag, 26.04.2008 Abfahrt Bahn: Abfahrt Bahn:
Abfahrt Schiff: Sonntag 27.04.2008 Ankunft Schiff: Rückfahrt:
Samstag 03.05.2008 Abfahrt Bahn:
Sonntag 04.05.2008 Ankunft Bahn:
Abfahrt Bahn:
Abfahrt Bahn:
Ankunft Bahn:
ab Zürich HB, 12.45 am Treffpunkt
Zürich HB 13.09 Uhr. Ankunft: Milano Cle. 16.42 Uhr
Milano Cle. 17.00 Uhr. Ankunft: Genova PP 18.42 Uhr
22.00 Uhr, Treffpunkt 20.45 Uhr im Hafen beim Terminal Traghetti (Einkaufszentrum mit Fähren-
büro Grandi Navi Veloci)
Palermo 18.00 Uhr
ab Catania, Treffpunkt 18.20 vor Bahnhof
Catania Cle. 18:44 Uhr.
Bologna Cle. 08.59 Uhr
Bologna Cle. 10.16 Uhr. Ankunft: Milano Cle. 12.00 Uhr
Milano Cle. 12.25 Uhr.
Zürich HB 16.51 Uhr
Programm
Samstag 26. April
ab Zürich HB, 12.45 am Treffpunkt
Sonntag 27. April
Schiffreise
Filme über Sizilien
Montag 28. April
Palermo
morgen
Wohnsiedlung ZEN
mit Prof. Andrea Sciascia
nachmittag
Stadtspaziergang
mit Prof. Marco Nobile und Emanuela Garofalo
Dienstag 29. April
Palermo
morgen
Villen in Bagheria
mit Dott. Domenica Sutera
nachmittag
Stadtspaziergang
mit Prof. Stefano Piazza
Mittwoch 30. April Selinunte, Gibellina ganzer Tag
Ausflug
mit Prof. Marcella Aprile
Donnerstag 1. Mai
Catania
morgen
Busfahrt nach Catania
nachmittag
Catania
Freitag 2. Mai
Noto
ganzer Tag
Ausflug
mit Dott. Mercedes Bares
Samstag 3. Mai
Catania
ganzer Tag
frei
abends
ab Catania, Treffpunkt 18.20 vor Bahnhof
Sonntag 4. Mai
an Zürich HB 16.51 Uhr
Palermo
Normannenpalast (Palazzo Reale)
(zweite Hälfte 11. Jh.)
Den ältesten dokumentierten Siedlungskern hier bilden die
Überreste eines Festungshaus mit einem Tor aus dem 6. bis 5.
Jahrhundert v. Chr. Unter den Römern und Arabern wurde
die Festung erweitert und verstärkt. In der zweiten Hälfte des
11. Jahrhunderts liessen Robert Guiscard und Roger I. die
alte arabische Festung umbauen und weiter befestigen: Diese
gut gesicherte Burg wurde ihre Residenz. Bereits die Araber
hatten das befestigte Gebäude als Verwaltungssitz genutzt
(831-1072) und dabei ältere byzantinisch und punisch-römische Bauteile verwendet.
Zeitgenössischen Textquellen zufolge, darunter al Idrisis
Buch Rogers von 1154 und den Schriften Romualds von Salerno, liess Robert Guiscard zur Stadt hin den so genannten
Roten Turm (Torre Rossa) errichten. Roger II. liess später
die Festung als Königspalast ausschmücken und ausbauen:
Hinzu kamen die Cappella Paltina, diverse neue Räume sowie drei Türme, nämlich im Süden die Torre Greca, im Norden die Torre Pisana mit der befestigten Schatzkammer und
gleich daneben die Torre Gioaria. Wilhelm I. setzte das Werk
seines Vaters fort und liess als weiteren Turm die möglicherweise erst von seinem Sohn Wilhelm II. vollendete Torre
Chirimbi errichten.
Die Mosaiken des „König-Roger Saals“ (Stanza di Regero)
stammen erst aus der Zeit der Regierung Wilhelms I. und
Wilhelms II. Nach dem Tod des Stauferkaisers Friedrich II.
(1250) war das Königsschloss nur noch Militärgarnison,
während der Hof als solcher zur Zeit der Vizekönige in den
Palast der Familie Chianmontc an der Piazza Marina umzog.
Palermo
Der Bau selbst ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts
nachhaltig umgebaut und erweitert.
Von den mit Bestimmtheit aus der Normannenzeit stammenden Teilen des Palasts sind heute noch erkennbar: die
Cappella Palatina mit Krypta, das Gebäude mit den Kerkern
für politische Gegner innerhalb der Befestigungen im Südteil des Palasts sowie die nebeneinander am Nordrand des
Komplexes stehenden Toren und ist mit einem Kreuzgewölbe überdeckt, die Wanddekoration zeigen überwiegend Elemente, wie sie für profane normannische Gebäude typisch
sind. Oberhalb des hohen Marmorsockels erstrecken sich
kostbare Mosaiken aus der Herrschaftszeit Wilhelms I. (um
1170) über Wände, Lünetten, Leibungen und Gewölbe. In
den grossen Lünetten stehen sich Leoparden, Löwen, Hirsche, Pfauen, Kentauren und Bogenschützen zwischen Obstbäumen und Palmen symmetrisch gegenüber. Blattvoluten
aus Zweigen mit Blättern und Blüten bilden die verschlungene Dekoration des Gewölbes, unterbrochen von geometrische Bändern an den Schnittpunkten und Medaillons mit
Löwen und Greifen. Eine dominante Rolle in der Komposition spielt der im Mittelpunkt des Gewölbes in einem Oktogon abgebildete staufische Gioaria und Torre Pisana. Nicht
erhalten sind die so genannte Torre Rossa, die Torre Greca
(von der heute eine spätere Renaissance-Rekonstruktion zu
sehen ist) sowie die 1571 zerstörte Torre Chirimbi. Im Inneren des Palasts gab es noch den „Tiraz“, eine bereits von
den Arabern gegründete Seidenmanufaktur, in der auch der
Mantel König Rogers so meisterhaft angefertigt wurde.
5
Normannenpalast (Palazzo Reale)
(zweite Hälfte 11. Jh.)
Die Hauptfassade zeigt nach Süden hin eine lang gestreckte.
regelmässig gegliederte Gebäudeeinheit mit zwei Portalen,
die 1616 vom Vizekönig Giovanni Fernandes Paceco. dem
Marchese di Vigliena, errichtet wurde. 1791 wurde auf der
Spitze; der Torre Pisana die von Giuseppe Piazzi gegründete
Sternwarte der Universität installiert.
Durch die Sala del Vicere und die Sala della Preghiera gelangt man zur Sala dei Venti und zur Stanza di Ruggero in
der Torre Gioaria. Bei der Sala dei Venti oder delle Quattro
Colonne wurde die Decke vollständig verändert. Das heutige hölzerne Zeltdach mit bemalter Unterseite stammt von
1713. Östlich an die Sala dei Venti i angrenzend befindet
sich der so genannte König-Roger-Saal (Stanza di Ruggero):
Der kleine rechteckige Raum ist an den Schmalseiten mit
Nischen versehen
In der Torre Gioaria liegt unterhalb der Sale dei Venti die
Sala degli Armigeri. Der (für Besucher geschlossene) Hauptsaal im Obergeschoss der Torre Pisana wird heute für Empfänge des Präsidenten des sizilianischen Parlament genutzt.
Der quadratische Raum mit Kreuzgewölbe liegt in der Mitte
des Turms; ein teilweise mit Spitztonnengewölbe versehener
Gang bildet die Verbindung zu einem zur Frontseite zeigenden Fenster in der Aussenmauer. Reste der ursprünglichen
Mosaiken, nach Meinung einiger Fachleute mit Jagdszenen,
bestätigen, dass auch dieser Raum kostbar. ausgeschmückt
war. Im Stockwerk darunter liegt die (für Besucher geschlossene) Sala del Conio e del Tesoro, in der noch heute in jeder
der vier Ecken ein in den Fussboden eingelassenen grosser
6
Krug zu sehen ist. Die nach dem Übergang des Gebäudes
vom Kronvermögen in Staatsbesitz und später das Eigentum
der Region Sizilien ab 1921/22 durchgeführten Restaurierungsarbeiten dauern bis heute an.
Capella Palatina
(ab 1131, geweiht 1143)
Geschichte
In jenem Jahr, in dem Roger H. zum König von Sizilien gekrönt wurde - es war das Jahr 1130 -, veranlasste er a auch
den Bau der Kö­nigskapelle, der Cappella Palatina. Sie war
ursprünglich als privates Bethaus des königlichen Palastes
geplant und sollte nach Ansicht einiger Experten die der heiligen Maria von Jerusalem geweihte Kapelle ersetzen, welche
ehemals im Palast Robert Guiscards stand. Patron der neuen
Kapelle wurde der Apostel Petrus.
Die Gründungsurkunde ist abhanden gekommen. Ein Dokument mit dem Datum vom 28. April 1140 bezieht sich
auf die Weihe der Cappella Palatina, die übrigens bereits im
Jahre 1132 Gemeindekir­che geworden war.
Was die Mosaiken der Kapelle anbelangt, so nimmt man an,
dass der Zyklus im Altarraum im Jahre 1143 abgeschlossen
gewesen sein muss, denn aus diesem Jahr stammt die griechische Inschrift an der Basis der Kuppel. Die Mosaiken des
Langhauses sind später entstanden. Romualdo Salernitano
(von Salerno) schreibt sie der Zeit Wilhelms 1., des Schlechten, zu. In dieser Zeit wurde auch die Decke fertiggestellt.
In der Einweihungspredigt des Theophanes Cerameus - sie
wird in die Zeit zwischen 1143 und 1149 datiert - heisst es,
die Mauern der Kapelle seien »mit seidenen Tüchern geschmückt«; dem­nach waren die Wände zu jener Zeit also
noch nicht mit Mosaiken verkleidet. Bei der Vollendung
der Mosaiken wich Wilhelm von der Idee sei. seines Vaters
ab, eine vollkommene Symbiose zwischen der »architektonischen. Konzeption und der Schönheit der Formen zu
Palermo
erlangen. Die für die Dekoration der Langhauswände eingestellten Mosaizisten_ waren mit Sicherheit abendländischer
Herkunft, was sichtlich den Charakter und das Gesamtbild
des Werkes veränderte. Man kann jedoch festhalten, dass sowohl der Bau der Palatina als auch dessen Ausschmückung
mit Mosaiken in die Herrschaftszeit der Normannen fiel.
In der Mitte des 14. Jhs wurden Unter Ludwig von Aragon
sämtliche Mosaiken erneuert. Damals entstand auch die
Darstellung des thronenden Christus mit den Heiligen Pe­
trus und Paulus.
Zahlreiche Restaurierungen wurden im Laufe des 15. Jhs
durchgeführt. Zwischen 1460 und 1468, unter der Herrschaft Johannes‘ von Aragon, ist unter vielen anderen die
Arbeit Domenico Garginis an den Mosaiken im linken
Seitenschiff erwähnenswert. Im Jahre 1478 begann die Renovierung der Decke über dem Haupt­schiff. Zwischen 1482
und 1499 folgte die Ausbesserung der Decken über den beiden Seitenschiffen.
Anfang des 16. Jhs (1506) wurde die äussere Galerie an­gefügt
und mit Mosaiken geschmückt.
Um die Mitte des 18. Jhs nahm Mattia Moretti, Leiter der
Restauratorenschule, die Karl III., König von Sizilien, 1733
in Palermo gegründet hatte, Arbeiten im Innern der Kapelle auf, wobei er versuchte, bei den Ausbesserungen den
ursprünglichen Stil nach­zuempfinden. Im Gegensatz dazu
adaptierte Santi Cardini di Arezzo, der ihm als Leiter der
Schule nachfolgte und die Restaurie­rungen weiterführte,
Stil, Gewänder und Formen seiner Zeit.
Die Arbeiten dieser Mosaizisten wurde zunächst von Pietro
7
Capella Palatina
(ab 1131, geweiht 1143)
Ca­samassima und schliesslich, zur Zeit Ferdinands II., von
Rosario Riolo fortgesetzt. Seit 1936 wurden die Bausubstanz und der Mo­saikschmuck der Palatina erneut mehrfach
restauriert. Die Mosaiken wurden gereinigt, die am meisten
gefährdeten wurden abgelöst und neu angebracht.
Nach all diesen Instandsetzungen und Überarbeitungen ent­
spricht die Cappella Palatina - abgesehen von der Baustruktur und einem Teil der Mosaiken - heute sicherlich nicht
mehr ihrem ur­sprünglichen Erscheinungsbild des 12. Jhs.
Trotz aller Er­neuerungen hat sich jedoch die Harmonie des
Gesamtwerkes bis zum heutigen Tag bewahrt.
Besichtigung
Im Gegensatz zu früheren Zeiten, als das Bauwerk frei im
Hof des Königspalastes stand, ist ein Rundgang um die
Cappella Palatina heute nicht mehr möglich, da sie fast ganz
hinter späteren Gebäuden verborgen liegt, die sie zum Teil
in ihre eigene Konstruktion einver­leibt haben. Die Kapelle
bildet gleichsam das Zentrum der königli­chen Palastanlage,
des heutigen Palazzo dei Normanni, der als Sitz des sizilianischen Parlaments dient. Einst wirkte sie durch ihre kubi­
schen Bauformen und den plastischen Wandschmuck aus
hohen, in die Seitenmauern des Altarraumes eingelassenen
Bogenstellungen. Diese Elemente verliehen ihr zusammen
mit der Kuppel und dem Glockenturm einen besonderen
Reiz. Die äussere Struktur ist jedoch, wie gesagt, heutzutage
durch die Gebäude des Palastes verdeckt.
Vom Erdgeschoss aus gelangt man über eine Treppe zum ers8
ten Stockwerk, in dem sich links in der Galerie der Eingang
zur Kapelle befindet. Vorgelagert ist ein schmaler Portikus,
dessen sechs stark gedrückte Spitzbögen auf sieben Säulen
mit hohen Basen stehen. Sechs der Säulen sind aus ägyptischem Granit, eine ist aus Marmor. Bis auf ein Kapitell im
maurischen Stil sind die Kapitelle korinthisch. Durch die
fünfte Arkade, die breiter ist als die übrigen, gelangt man
zum Seiteneingang der Kapelle. Der Portikus liegt zwischen
zwei vorgeschobenen Baukörpern, genauer gesagt zwischen
der Aussenmauer des rechten Querhausarmes der Kapelle
und dem Unterbau eines Glockenturmes. Innerhalb des
Portikus befinden sich an den Unteren Mauerpartien Marmorplatten, die von Mosaikbändern mit geometrischen
Motiven eingefasst sind. In den oberen Wandpartien folgen
auf die gemauerten, die Fenster umrahmenden Voluten Mo­
saiken aus den ersten Jahren des 19 . Jhs, die die Geschichte
Davids erzählen. Sie haben das aus dem 16. Jh stammende
Werk des Mosaizisten Pietro Oddo ersetzt, das nur in einem
ganz kleinen Ausschnitt an einer der Bogenlaibungen erhalten blieb. Das Thema dieser früheren Mosaiken ist uns nicht
mehr bekannt.
Die heutige Abfolge der Bilder aus der Geschichte Davids
wird unterbrochen durch ein grosses Bildwerk, in dessen Mitte ein alter gekrönter Mann - Symbol Palermos - dargestellt
ist. In der Hand hält er zwei kleine Medaillons mit den Porträts Ferdinands von Bourbon und Marie-Carolines, des damaligen Herrscherpaares von Sizilien. Auf der Rückwand ist
links in einem Werk von Casamas­sima Roger II. dargestellt.
Die Inschrift besagt: »Rogerius rex tradit Simoni Palatinae
cappellae cantori institutionis chirographum anno MCLX«
(König Roger übergibt Simon, dem Vorsänger der Cappella
Palatina, die Gründungsurkunde im Jahr 1140). Das darunter in die Wand eingelassene Hochrelief mit vollplastischen
Figuren erinnert an die 1800 gefeierte Taufe des damaligen
Erbprinzen Francesco. An der gegenüberliegenden Wand,
der Aussenwand des Querhauses, ist die Stadt Palermo abgebildet, darunter wiederum ein Hochrelief mit Figuren zum
Andenken an die Hochzeit Marie-Christines mit Char­lesFelix von Savoyen zu Beginn des 19. Jhs. Man wird in der
Tat daran erinnert, dass die Königskapelle im Laufe so vieler
Jhe Zeuge vieler religiöser Feierlichkeiten der verschiede­nen
Herrscherhäuser war, die Sizilien regierten.
Bevor man zum Portikus gelangt, sieht man an der linken
Mauer in der Loggia eine Marmorplatte mit dreisprachiger
Inschrift, die an eine Wasseruhr erinnert. Jene Uhr hatte
Roger II. erbauen lassen; sie war einst im Glockenturm untergebracht.
Der Eingang der Kapelle liegt gegenüber der grössten Arkade des Portikus und stammt aus dem späten 19 . Jh. Die
Tür wurde von dem Bildhauer Rosario Bagnasco nach einer
Zeichnung von Patricolo ausgeführt. Es ist eine Holztür,
deren beide Flügel in einzelne Felder mit floralen Motiven
unterteilt sind. Nur die beiden mittleren Tafeln sind als
Hochrelief gearbeitet und stellen bildliche Szenen, die Berufung des heiligen Petrus und die Übergabe der Schlüssel, dar.
Vor der Hauptfassade der Kapelle liegt ein Vestibül, durch
das man früher direkt in die königlichen Gemächer gelangte.
Von diesem Vestibül aus betritt man links die Sakristei, in
der unter anderem das »Tabularium« (das Archiv) aufbewahrt wird. Es umfasst bedeutende Urkunden, die wertvolle
Hinweise auf die verschiedenen Bauabschnitte der Kapelle
und auf die Entstehung ihrer Ausschmückung liefern. Rechts
erhält man durch zwei Bronzetüren Zutritt in die Palastkapelle.
Die Kirche beeindruckt durch ihre ausgewogenen Proportionen. Es ist eine dreischiffige Basilika, deren von einer
Kuppel überwölbter Altarraum höher liegt als die übrigen
Teile des Gebäudes. Die Baustruktur stellt eine Verbindung
aus dem langgestreckten Grundriss des lateinischen Kreuzes,
hier vertreten durch das drei­schiffige Langhaus, und dem
typischen Zentralbau der byzantini­schen Kirchen dar, den
wir in dem von der Kuppel überwölbten Al­tarraum wiederfinden. Weder der Altarraum mit seinen drei Apsiden noch
das Querhaus ragen über den rechteckigen Grundriss der
Kir­che hinaus.
Hinzu kommt als islamisches Element die prächtige, skulptierte und bemalte Stalaktitendecke aus Holz.
An der Westmauer der Kapelle steht links des Eingangs,
fünf Stu­fen über dem Bodenniveau erhöht, der grosse Königsthron, dessen Wangen reich mit Mosaiken verziert sind.
Die als Rückenlehne des ‚Thrones dienende Wand besteht
aus einem Quadrat, das von einem Dreieck aus Marmor mit
verschiedenen geometrischen Einlegearbei­ten überfangen
ist und in der Mitte das Wappen von Aragon trägt. An den
Seiten sind zwei Löwen in weissen Marmormedaillons einge­
lassen, umgeben von Mosaiken mit floralen Motiven und
Vögeln. Im oberen Wandteil ist ein thronender Christus
dargestellt. Zu seinen Seiten stehen die Apostel Petrus und
Paulus; über ihnen sind die Büsten der Erzengel Michael und
Gabriel dargestellt.
Die Schäfte der beiden Weihwasserbecken rechts und links
der ‚Thronwangen sind aus Porphyr. Sie tragen vielfarbig
verzierte Scha­len. Schaft und Schale stehen jeweils auf einem
Marmorsockel aus vier kauernden Löwen.
Das Langhaus der Kapelle besteht aus einem grösseren Mittelschiff und zwei kleineren Seitenschiffen. Daran schliesst
sich der Altarraum an, der genauso breit ist wie das Mittelschiff, jedoch fünf Stufen höher liegt. Hinter der letzten
Stufe verläuft eine Schranke aus durchbrochenem Marmor
mit geometrischen Motiven; in der Mitte befindet sich ein
kleines Messinggitter. Zu beiden Seiten des Chores sind
hinter dem neuzeitlichen Chorgestühl breite, mit Mosai­
ken verzierte Marmorplatten angebracht. Der Chor wird
begrenzt durch zwei Bögen, die auf Säulen aus ägyptischem
Granit ruhen. Da­neben stehen zwei weitere Säulen aus Zwiebelmarmor, die den Triumphbogen tragen. Rechts und links
des Altarraumes schliessen sich auf gleicher Höhe zwei rechteckige, tonnengewölbte Räume an, auf die sich jeweils eine
Apsis öffnet. In der rechten Apsis steht der dem Apostel Petrus geweihte Altar, in der linken Apsis der Altar des Heiligen
Sakramentes. Beide Altäre stammen aus dem frühen 19. Jh.
Am Ende der Seitenschiffe führen zwei Treppen zur Krypta
un­ter dem Altarraum hinab. Die Seitenschiffe sind vom Mittelschiff auf jeder Seite durch fünf Säulen aus ägyptischem
Granit getrennt, zwi­schen denen Säulen aus Zwiebelmarmor
stehen, die bis auf ihre mitt­lere Höhe kanneliert sind. Sie
tragen vergoldete korinthische Kapi­telle oder Kompositkapitelle. Das Langhaus wird durch fünf Fenster in jeder Seitenschiffwand und durch ebenso viele oberhalb der Arka­den
erhellt. Das Fussbodenmosaik setzt sich aus kleinen Hartsteinen Zusammen: aus Porphyr, gelbem und grünem Serpentin und Granit, die so gelegt sind, dass sich eine Vielfalt
sehr schöner Motive ergibt. Dieses Dekor ist auch deshalb
besonders wirkungsvoll, weil die un­terschiedlichen Farben hervorragend mit dem Gold harmonieren. Der Boden
»gleicht einer Frühlingswiese; während jedoch die Blu­men
welken und sich verändern, ist diese Wiese unzerstörbar und
ewig, hier können nur unsterbliche Blumen wachsen« (aus
der Predigt des Theophanes Cerameus, des Erzbischofs von
Taormina, zur Weihe der Kapelle).
Die geschnitzte und bemalte Stalaktitendecke ist ein seltenes
und prächtiges Zeugnis für die Kunstfertigkeit der maghrebinischen Kunstschnitzer und der persischen Dekorateure.
Die Flachdecke über dem Mittelschiff ruht auf einem mächtigen, nischenverzierten Fries. Das Holz dieses Frieses ist mit
einer Leinwand bedeckt, auf die die arabischen Dekorateure
in Temperafarben gemalt haben. Die Ta­feln der mittleren
Zone tragen arabische Inschriften aus kufischen Schriftzeichen. Die Decke des Mittelschiffes unterscheidet sich in ei­
nigen Dingen von den Decken der Seitenschiffe. Diese stützen sich auf zu den Seitenmauern hin geneigte Balken mit
Nischen und Hohl­räumen, in denen Tiere, Menschen oder
Pflanzen abgebildet sind.
Die Motive ähneln denen an der Decke des Mittelschiffes,
die jedoch wesentlich stärker ausgestaltet ist. Sie ist flach und
weist an den Rän­dern Waben und zahlreiche Nischen und
Hohlräume auf. Im Mittel­bereich befinden sich sternförmig
ausgebildete, achteckige Kassetten, deren Ränder Inschriften
aus kufischen Schriftzeichen tragen. Dieses Gesamtwerk aus
konkaven und konvexen Zonen, die mit vielfältigen Motiven
bemalt und zum Teil vergoldet und mit Einlegearbeiten ver­
sehen sind, machen die Decke der Palatina trotz der im Lauf
der Jhe durchgeführten Erneuerungen zu einem wertvollen
Zeugnis für die Arbeit der Maghrebiner. Bemerkenswert ist,
dass Roger. II. in der Gestaltung dieser Decke eine Lösung
suchte, die mit den von den Byzantinern ausgeführten Mosaiken harmonierte und nicht etwa in Konkurrenz zu ihnen
trat, sondern mit ihnen im Ein­klang den Besucher der Kapelle noch tiefer in ein ihn bezauberndes Reich eintauchen liess.
Daher ist auch die Decke über dem Haupt­schiff - abgesehen
von den mittleren Kassettenreihen - mit vielen Malereien
verziert. Personen in königlichen Gewändern oder Szenen
aus dem täglichen Leben sind hier dargestellt. Auf vielen
Bildern sieht man Männer, die mit gekreuzten Beinen am
Boden hocken: Harfenspieler, Trommler, Männer mit Kastagnetten und Tanzsze­nen. Öfter noch sind Tiere gemalt:
Rinder, Enten, Tiger, Kamele, Elefanten und Adler, Falken,
Pfauen und Gazellen, die von Männern auf den Schultern
getragen werden. Bei den Pflanzen ist die Palme das Hauptmotiv.
Herrlich und von strahlender Kraft sind die Mosaiken, die
das Innere der Kapelle schmücken. Die Mosaiken in der
Kuppel und im Querhaus sind älter als die im Langhaus
und auch von einer anderen Hand geschaffen. Aus der In-
9
Capella Palatina
(ab 1131, geweiht 1143)
schrift an der Basis der Kuppel können wir schliessen dass
die Mosaiken hier bereits 1143 vollendet waren während die
des Langhauses in die Zeit zwischen 1160 und 1170 datiert
werden müssen.
Im Zentrum der Kuppel ist der Christus Pantokrator, umgeben von vier Engeln und vier Erzengeln, in hieratischer
Haltung dargestellt. In dem Oktogon, das die Kuppel trägt,
sieht man im Innern der Trompen die vier Evangelisten in
sitzender Pose, auf dazwischenliegenden Flächen vier stehende Gestalten der grossen Propheten und in den Zwickeln
darüber Büsten weniger bedeutender Propheten. An einem
der Bögen, die die Kuppel tragen, genauer gesagt an dem Bogen vor der Apsis, ist die Verkündigung dargestellt, an dem
gegenüberliegenden Bogen die Darstellung im Tempel. Die
seitli­chen Bögen sind mit Propheten geschmückt und die
Bogenlaibungen mit Heiligen in Medaillons.
Vom Halbkuppelgewölbe der Hauptapsis schaut ein segnender Christus herab. Die Jungfrau Maria mit den Heiligen ist
ein Werk aus dem 18. Jh. Die Bildnisse seitlich der Bogenstel­
lung, die Erzengel und darunter die Heiligen Gregor und Silvester sind in der nachnormannischen Epoche entstanden.
Das Halbkuppelgewölbe des Diakonikon wird von einer
Halb­figur des heiligen Paulus beherrscht. Darunter, dort, wo
sich ursprünglich das Fenster befand, ist die heilige Anna mit
der Jung­frau Maria zwischen den Heiligen Philippus und Sebastian gezeigt. Diese Werke stammen sämtlich aus dem 18 .
Jh. Oberhalb der Apsis des Diakonikon begegnet uns nochmals eine Christusbüste und darunter ein Weihnachtsbild.
An der linken Mauer des Querhauses ist auf gleicher Höhe
wie die vorher genannte Szene der Traum des heiligen Joseph
und die Flucht nach Ägypten dargestellt, im zweiten Register die Taufe Christi, die Verklärung und die Aufer­stehung
des Lazarus und im dritten und letzten Register der Einzug
in Jerusalem.
Im Halbkuppelgewölbe der Prothesis hat im 16. Jh die
Halbfigur des heiligen Andreas jene des Apostels Paulus ersetzt. Das Bild darunter mit dem heiligen Joseph und dem
Jesuskind datiert aus dem 18. Jh; es wird von den Heiligen
Stephanus und Bar­nabas flankiert. Darüber erscheint eine
Hodegetria - Maria als Halb­figur, das Kind auf dem linken
Arm tragend - mit Johannes dem Täufer. An der gegenüberliegenden Wand sind drei Heiligenfiguren dargestellt, an der
linken Wand vier Bischöfe aus der griechischen Kirche: Johannes Chrysostosmos, Basileios, Gregorios von Nyssa, der
„Theologe“, und der heilige Nikolaus. Am Gewölbe erblickt
man die Himmelfahrt Mariens, umgeben von den Aposteln.
An den Wänden des Mittelschiffs sind in zwei Zonen Episoden aus dem Alten Testament dargestellt, von der Schöpfungsgeschichte bis zum Kampf Jakobs mit dem Engel. In den
Mosaiken der bei den Seitenschiffe wird die Geschichte der
Heiligen Petrus und Paulus er­zählt. Diese Arbeiten wurden
vor dem Ende des 12. Jh unter Wilhe1m II. abgeschlossen.
Im rechten Seitenschiff befinden sich zwei Objekte von grosser historischer und künstlerischer Bedeutung: der Ambo
und der Oster­leuchter. Der Ambo besteht aus zwei gegeneinander versetzten Kuben. Sie werden von Säulen getragen, von denen einige kanneliert und aus Zwiebelmarmor,
andere aus Porphyr sind. Von den Stirnseiten ist eine aus
10
Porphyr, während die andere mit vielfarbigen Mosaikeinle­
gearbeiten verziert ist. Die Lesepulte stellen einen Löwen
und einen Adler dar - die Symbole der Evangelisten Markus
und Johannes.
Der 4,50 Meter hohe marmorne Osterleuchter ist eines der
her­vorragendsten Beispiele romanischer Skulptur in Sizilien.
Er ist in fünf Register eingeteilt, die durch Kränze von Akanthusblättern zu­gleich gegeneinander abgesetzt und miteinander verbunden sind. Der Sockel wird durch vier Menschen
und Tiere verschlingende Lö­wen gebildet. Darüber erhebt
sich der Schaft mit figürli­chen und floralen Motiven und
heiligen Symbolen. Im dritten Regi­ster‘ sind in der Mitte ein
von Engeln getragener Christus und, kniend, König Roger
II. dargestellt. Den oberen Abschluss bil­den drei halbnackte
Figuren, die die Kerzenfassung des Leuchters tragen.
Der zwischen 1930 und 1935 durch den Architekten Francesco Valenti restaurierte Narthex besteht aus drei Jochen, die
durch schmale spitzbogige Rippen, welche auf vier schlanken
Marmorsäu­len aufliegen, voneinander getrennt sind. Bis auf
eines wurden sämt­liche Kapitelle erneuert. In den Narthex
gelangt man entweder durch den südlichen Portikus oder,
aus der Kapelle kommend, durch zwei Bronzetüren, über denen sich Fenster mit steinernen Gittern öffnen. Ein Fenster
befindet sich über der Tür, die zum Portikus führt, und Zwei
weitere in dem Durchgang, durch den man in die Sakristei
ge­langt. An der linken Wand ist ein Fresko aus der Krypta
angebracht, das Maria mit dem Kinde zeigt. Es wird in das
12. bis 13. Jh datiert.
Von dem Narthex aus betritt man auch die Sakristei, die mit
zahlreichen modernen Werken ausgeschmückt ist, da ein
grosser Teil der alten Ausstattung 1963 durch einen Brand
zerstört wurde. Daneben. liegt der Kapitelsaal. In der Sakristei werden der Kirchenschatz und das Archiv aufbewahrt,
das, wie gesagt, viele interessante Ur. kunden birgt, griechische, arabische und lateinische, insgesamt annähernd.
200 Stück. Sie stammen aus dem 11. bis 18 . Jh. Eine aus
historischer Sicht besonders bedeutsame Urkunde ist ein in
Gold. schrift beschriebenes Pergament aus dem Jahre 1140,
das heisst aus der Zeit Rogers II. Hier in der Sakristei finden
wir auch liturgisches Gerät. Neben anderen Dingen gehört
zum Kirchenschatz eine umfangreiche und wertvolle Sammlung ägyptischer, byzantinischer und arabisch-sizilianischer
Kästen. Eines der seltenen Stücke ist eine ovale ägyptische
Schatulle aus Holz, die mit kleinen, mit Menschen und Tiermotiven verzierten Plättchen bedeckt ist und aus dem 12. bis
13. Jh stammt.
Die Krypta unter dem Altarraum ist älter als die Kapelle
selbst. Zwei Treppen am Ende der Seitenschiffe führen hinab. Der Eingang wurde bei den Restaurierungsarbeiten 1927
freigelegt. Der Raum hat einen quadratischen Grundriss,
wobei sich vorn ein Durchgang mit einem Kruzifix befindet, das eine Zeitlang dem Steri gehörte. Bei den Arbeiten
wurde 1927 neben anderen Räumen und Durchgängen
auch die Kammer freigelegt, in der die sterblichen Überreste
Wilhe1ms II. beigesetzt waren. Hier ruhten auch die Ge­
beine der Pfarrherren der Kapelle. Schliesslich brachten die
Restau­rierungen von 1927 noch die Grundmauern des unter
Roger 11. er­bauten Kirimbiturmes zutage.
Cubala
(zweite Hälfte 12 Jh.)
Palermo
Der von Wilhelm II. während seiner Regentschaft angelegte
prächtige königliche Park wird uns von verschiedenen Autoren als reich an Brunnen und üppiger Vegetation, bevölkert
von Vögeln und Tieren aller Art geschildert. Ausserdem befand sich hier, wie Fazello schreibt, eine Reihe von Kiosken,
offenen Pavillons, die nahezu ei­nen Portikus bildeten: Sacellis testudinatis ex omni parte patentibus ad delitias Regum
orbiculari opere extructis frequens (reichlich ausgestat­tet
mit kleinen, nach allen Seiten offenen, überwölbten Gebäuden, die im Rund gebaut waren, zum Entzücken des Königs).
In Italien findet man eine vergleichbare Anlage nur noch im
Garten des Pa­lazzo Rufolo in Ravello.
Einer dieser Pavillons ist heute noch am Ende des Corso
Calatafimi in gutem Zustand erhalten. Er steht im Garten
der Villa Napoli und ist bekannt unter dem Namen Cubula
oder Piccola Cuba. Dabei handelt es sich um einen Kiosk aus
einem typisch arabisch wirkenden, würfelförmigen Unterbau
und einer kleinen, rötlichen Kuppel die über Ecktrompen
mit dem Unterbau verbunden ist. In den vier Steiten öffnen
sich Spitzbögen mit abgestuften Archivolte und maurischem
Ornament. Dieser Dekor, der sich am letzten Geschoss des
Glockenturms der Martorana, an der Kirche Santo Spirito
und besonders an den Portalen der Chiesa della Ma­gione
wiederfindet, erlaubt die zeitliche Einordnung der Cubula in
die letzte Periode der normannischen Architektur Siziliens,
die durch die intensive Suche nach der Wirkung von Licht
und Schatten ge­kennzeichnet ist.
11
Zisa
(1165-1180)
Geschichte
Die Zisa ist einer der prächtigen, inmitten der Gärten und
der er­frischenden Wasserläufe der Conca d` Oro angelegten Bauten, die den normannischen Königen als Orte der
Entspannung dienten. Die Zisa gilt als das prunkvollste der
Solatia, der islamisch-normannischen Lustschlösser. In erstaunlich kurzer Zeit unter Wilhelm 1. errichtet, war der Bau
mit erheblichen Kosten verbunden. Ihren Abschluss fanden
die Arbei­ten unter Wilhelm II. zwischen 1164 bis 1180.
Romuald von Salerno und Hugo Falcandus zufolge - beide
waren Zeitgenossen der letzen Normannenkönige - wollte
Wilhelm 1. mit den prächtigen Solatia Favara und Minenio
seines Vaters, Ro­gers H., rivalisieren. Minenio hielt der Historiker Michele Amari für den »Scibene«, einen heute leider
verfallenen Normannenbau im Vorort Altarello di Baida.
Seit jeher hat die Zisa das Interesse von Archäologen und
Kunsthistorikern geweckt: von dem arabischen Reisenden
Ibn Gubair, der Palermo im Jahre 1183 besuchte und ihre
Herrlichkeit pries, oder dem Dominikaner Leandro Alberti
aus Bologna, der sie 1526 in einer detaillierten Beschreibung
würdigte, bis hin zu den Archäologen des letzten Jahrhunderts: Gioacchino Di Marzo, Salvatore Morso und Michele Amari. Letzterer lieferte den bedeutendsten Beitrag zur
Datierung des Gebäudes. Es war Amari, dem es gelang, die
teilweise noch erhaltenen arabischen Schriftzeichen auf den
Friesen zu entziffern. Die erste Inschrift, die in kufischen
Lettern gehalten war, schmückte die Mauer der Attika auf
der der Stadt zugewandten Seite. Die Attika der vier Seiten
12
Palermo
wurde im 14. und 15. Jahrhundert - wohl um die Verteidigungsfähigkeit des Baus zu sichern - zu einem Zinnenkranz
umgestaltet. Die zweite Inschrift, in der arabischen Schrift
Neschi gehalten, befand sich auf der inneren Archivolte den
Eingangsbogens zum Brunnensaal.
In den letzten Jahren lieferten Giuseppe Spasitrano und
Wolfgang Krönig einen bemerkenswerten historischen Beitrag zur Untersuchung dieses bedeutenden Bauwerkes. Sie
stützten sich dabei auf archäologische Funde ausserhalb des
eigentlichen Gebäudes und auf Entdeckungen bei den jüngsten Restaurierungs- und Instandsetzungsarbeiten, die nach
den schweren Einstürzen des linken Flügels und eines Teils
der Westfassade 1971 nötig geworden waren. Besichtigung
Die Baustruktur der Zisa, die Bestimmung ihrer Räume
sowie die Gesamtanlage mit den zugehörigen Elementen
- dem Bassin vor der Fassade, der Kapelle 40 Meter rechts
der Fassade und dem Thermal­bad - scheinen heute endgültig geklärt zu sein. Dies verdanken wir der überaus exakten
Beschreibung des Dominikanermönches Lean­dro Albertis
sowie den Funden, die die jüngsten Restaurierungsarbeiten
ans Licht brachten. Das dreigeschossige Bauwerk ist auf einem rechteckigen Grundriss von 36,36 x 19,60 m errichtet
und hat eine Höhe von 25,70 m. In der Mitte der Seitenmauern springen zwei Türme von der Grundfläche 4,35 x
2,35 m hervor.
Das Mauerwerk bilden Kalksteinquader aus den Steinbrü-
chen von Carini (Foresta). Obwohl die Gewölbe, die die
drei Etagen über­fangen, ebenfalls aus Kalksteinquadern gesetzt sind, handelt es sich in den quadratischen Räumen um
Kreuzgratgewölbe und in den recht­eckigen Räumen um sich
durchdringende Tonnengewölbe. Bis auf den Marmorfussboden im Brunnensaal bestehen die Fussböden über­a1l aus
in Fischgrätenverband angeordneten roten Tonziegeln. Das
Äussere des Gebäudes - und das gilt für sämtliche Bauten
jener Epo­che - überrascht durch den perfekten würfelhaftkompakten Zu­schnitt des Gesamtbauwerkes (Stereotomie)
und durch die ausge­suchte Eleganz, in der die Aussenmauer
mit Gesimsen in jeder Etage und abgestuften Blendbögen
um die Fenster gegliedert sind.
Das Erdgeschoss mit seinen drei Eingangsportalen, Vor denen die Fischweiher lagen, besteht aus einem Vestibül, das
die gesamte östliche Fassadenfront einnimmt, dem grossen
Brunnensaal und zwei symmetrisch angelegten Raumgruppierungen, die durch zwei enge Flure zu erreichen sind. Von
hier aus führen zwei Treppen zu den oberen Stockwerken.
Der quadratische Brunnensaal nimmt die gesamte Höhe
von zwei Stockwerken ein und weist drei grosse Seitennischen auf, die oben mit Muqharnas (Stalaktitengewölben)
versehen sind. Dieser prächtige Fest- und Empfangssaal ist
besonders wegen der grossen Quelle in der Wand gegenüber
dem Eingang bemerkenswert, deren Wasser aus zwei kleinen
Sammelbecken in einen kleinen Kanal fliesst, unter der Türschwelle hindurch in das Vestibül gelangt und schliesslich in
die Fischteiche mündet, Der Brunnen selbst besteht aus ei-
ner geneig­ten Platte, über die das Wasser sanft zwischen zwei
mit Mosaiken verzierten Treppen hinabfliesst.
Man fühlt sich unversehens in den Orient versetzt. Dies
liegt nicht nur an den Muqharnas, sondern auch am Mosaikschmuck der Innenwände (über der Quelle die Darstellung
einer Jagd in einem Paradiesgarten) und an den schlanken
Säulen, die in die Kanten der hohen Sockelleisten eingestellt
sind. Darüber erhebt sich über einem schmucklosen Kalksteinmauerabschnitt ein Kreuzgratgewölbe. Der Mittelteil
des ersten Stockwerks wird durch die Vorhalle und den
Brunnensaal eingenommen. Symmetrisch dazu liegen zwei
durch einen entlang der Westseite verlaufenden Korridor
verbun­dene Räume in den beiden Gebäudeflügeln, Das
zweite Stockwerk war um ein grosses offenes Atrium ange­
ordnet, das genau über dem Brunnensaal lag. Die Wohnräume wa­ren sowohl durch den an der Westseite verlaufenden
Korridor als auch durch den Aussichtssaal über der Vorhalle
an der Hauptfassade verbunden. Im Jahre 1600 wurde das
Atrium mit einem grossen Kreuzrippengewölbe überdacht.
An die zur Zisa gehörenden Gebäude erinnern heute nur
noch die 1973 wiederentdeckten, nahe der Nordwestecke
gelegenen Ther­men (die Ausgrabungsarbeiten sind noch
nicht abgeschlossen) und die Kapelle. Letztere, in einer
Urkunde von 1274 »Chiesa della Tri­nita« (Dreifaltigkeitskirche) genannt, bestand nur aus einem einzigen Schiff und
war durch einen Komplex aus niedrigen Gebäuden mit dem
Palast verbunden.
13
Cuba
(fertiggestellt 1180)
Geschichte
Der Palast der Cuba steht etwa einen halben Kilometer von
der Porta Nuova entfernt an der Strasse von Palermo nach
Monreale. Lange hielt sich die These, die Cuba sei arabischen Ursprungs, bis sich schliesslich die Zuordnung zur
Romanik durchsetzte, wie sie be­reits von Girault de Prangey
vorausgesehen wurde und auch durch spätere Untersuchungen bis hin zur Deutung der Inschrift am Gebäudeabschluss
bestätigt wurde. Diese bezieht sich ausdrücklich auf Ihren
Gründer Wilhelm II. und trägt die Jahreszahl 1180, die mit
Si­cherheit den Abschluss der Bauarbeiten angibt.
Um den Namen »Cuba« rankten sich die verschiedensten Legen­den, bis dahin, dass man annahm, »Cuba« und
»Zisa« seien die Na­men zweier Töchter eines sizilianischen
Königs. Heute sind sich die Experten darin einig, dass der
Name »Cuba« aus dem Arabischen kommt und im Laufe
der Zeit praktisch unverändert blieb. Ebenso einmütig lehnen Fachleute heute einen griechischen Ursprung des Gebäudes ab. Man nimmt an, dass der Name auf das arabische
Wort cubat zurückgeht, was soviel bedeutet wie Gewölbe,
überwölbtes Ge­bäude, fornix concameratum opus, und sich
wohl auf eine Kuppel über dem Gebäude oder eher noch auf
einen überwölbten Portikus vor dem Bauwerk bezieht.
Die ältesten und sichersten Auskünfte über die Cuba, die
meist deskriptiver Art sind, verdanken wir dem Historiker
Fazello (16. Jahrhundert) der neben seinen eigenen Eindrücken sehr sorgfältig über alles berichtet, was andere vor ihm
über die Schönheit und die Pracht des Gebäudes geschrieben
14
Palermo
haben. Der inmitten eines kleinen künstlichen Sees gelegene Palast erhob sich in einem ausgedehnten Park, umgeben
von einem dichten, reizvollen Garten. Man weiss dass dieser
Lustgarten im Jahre 1194 während der Herrschaft des Staufers Heinrich VI. zerstört, später jedoch in seiner ursprünglichen Schönheit wiederhergestellt wurde.
Die Cuba gehörte als Ort der Entspannung bis ins 14. Jahrhundert zum königlichen Besitz und wurde dann an Privateigentümer veräussert. 1516 wurde sie Eigentum des Fürsten
Monroy von Pan­dolfina. In der Folgezeit ging sie jedoch wieder in den königlichen Besitz ein, denn aus einem im Staatsarchiv von Palermo aufbewahrten Dokument geht hervor,
dass die Ehegatten Bettina Battaglia und Michele Ariaca
1571 den Palast für den königlichen Hof zurück­kauften.
Dank desselben Dokumentes ist uns auch, wenn auch nur in
groben Zügen, der damalige Zustand der Cuba überliefert.
Sie war noch mit einem Marmordekor und durch Terrassen
verschönert und von einer dichten Vegetation aus Bäumen
und Reben umgeben.
1575, als die Pest auch Palermo erreicht hatte, wurde die
Cuba in ein Hospital umgewandelt. Im 18. Jahrhundert wurde dann im Palast und im Garten eine Kaserne eingerichtet,
in der die Kavallerie der Bourbonen ihren Standort hatte.
Noch heute ist die Cuba von einer Kaserne umschlossen, und
von ihrer ursprünglichen Anlage ist recht wenig erhalten.
Nur einmal, 1936, wurde eine Reihe von Ausgrabungen
durchge­führt, um festzustellen, ob Pfeiler vorhanden waren,
die eine Mittel­kuppel getragen haben könnten.
Bombenangriffe und Erdbeben haben schweren Schaden
ange­richtet und das Gebäude fast völlig zerstört, so dass
seine ursprüngli­che Schönheit heute nur noch schwer zu
erkennen ist.
Um die einstige Schönheit zu bezeugen, sei an Boccaccio
erin­nert, der in der sechsten Erzählung des fünften Tages
seines »Deca­merone« von der Cuba als den case bellissime
spricht; ein arabischer Dichter jener Zeit beschreibt sie als
eine der kostbaren Perlen, die Wilhelm II. in den Schoss des
glanzvollen alten Palermo gelegt hat.
Besichtigung
Der in einem ausgedehnten königlichen Park errichtete Palast War früher ringsum von einem kleinen künstlichen See
umgeben, so dass man ihn nur über eine Brücke erreichen
konnte. Tatsächlich ist das Gebäude auf einem hohen Sockel
errichtet, der ehemals gänzlich Unter Wasser gestanden haben muss. Die wuchtigen, kubischen For­men spiegelten sich
demnach in der Oberfläche des Sees. Die Aussenmauer erfuhren dadurch eine gewisse Belebung, dass jeder Seite ein
Vorbau in Gebäudehöhe wie ein schmaler Turm vorgelagert
war. Die hohen, typisch arabischen Blendbögen bildeten die
einzigen Schmuckelemente der Cuba. Im Gegensatz zu anderen Bauten der damaligen Zeit, bei denen diese Blendbögen nur die Fenster einfassen, erstrecken sie sich bei der Cuba
mehrfach abgestuft über die gesamte Höhe und umrahmen
eine grosse Anzahl blinder oder offener Fenster, die einfach
oder gekuppelt sein können und harmonisch angeordnet
sind. Als krönenden Abschluss trug das Gebäude einen Fries
mit einer arabischen Inschrift, aus der das Baudatum 1180
und der Name Wilhelms II., des Königs und Gründers der
Cuba hervorging.
Nicht nur vom äusseren Aufbau sondern auch vom Grundriss her weist die Cuba bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit
dem ebenfalls rechteckigen, jedoch kleineren Palast der Zisa
auf. Das Innere be­stand aus einem einzigen quadratischen
Mittelsaal, der die gesamte Höhe des Bauwerks einnahm.
Aus dem, was von diesem Saal noch erhalten ist, schliesst
man, dass sich in ihm Pendentifs aus Stuckstalaktiten befunden haben müssen. Nach den kleinen Fenstern zu ur­teilen,
kann der Raum nicht besonders hell gewesen sein, das ein­
dringende Licht reichte jedoch gewiss aus, um die prunkvollen Deko­rationen der Wände und des Fussbodens zur Wirkung kommen zu lassen. Tatsächlich wurden im Innern der
Cuba Reste eines Mosaikfussbodens und der Marmorverkleidung gefunden. Bei den oben er­wähnten Ausgrabungsarbeiten hat man die Fundamente von vier Säulen freigelegt,
die sich nahezu in der Mitte des Saales befanden.
Wie das Gebäude ursprünglich gedeckt war, lässt sich heute
noch nicht mit Sicherheit sagen. Die Reste der Fundamente der vier Säu­len sowie die Spuren von Verbindungsbögen
zwischen dem MitteI­quadrat und den vier Wänden, die den
Saal umschliessen, haben zahlreiche Experten zu der Annahme veranlasst, der Raum könnte von einer Kuppel mit sehr
grossem Durchmesser überwölbt gewesen sein. Da sich in
der Raumkonzeption jedoch diejenige des Mittelsaa­les im
oberen Geschoss der Zisa wiederholt, ist anzunehmen, dass
auch dieser imposante Mittelsaal der Cuba nach oben hin
offenstand.
Tatsächlich weist das Innere der Zisa keinerlei Gewölbe auf,
und in den Fussboden ist ein von vier Säulen umstandenes
Impluvium ein­gelassen. So erscheint es wenig glaubhaft, dass
die vier Säulen der Cuba eine Kuppel getragen haben sollen.
Heute befindet sich der kaum jemals restaurierte Bau in einem völlig vernachlässigten Zustand. Nur Ruinen sind erhalten, der Sockelbau und ein kleiner Teil der Aussenmauer, an
dem gerade noch die auflockernde Wandgliederung durch
die Blendbögen zu erken­nen ist. Die Abdeckung des Palastes
ist wie alles übrige eingestürzt, und die Trümmer, die den Innenraum des Gebäudes zugeschüttet haben, versperren den
Zugang, so dass genauere Untersuchungen nicht möglich
sind.
15
Santa Maria dell‘ Ammiraglio ( La Martorana)
(1143-85)
Geschichte
Eines der bedeutendsten sakralen Bauwerke, das zur Zeit der
Normannenherrschaft in Palermo errichtet wurde, ist die
Kirche Santa Maria dell‘ Ammiraglio oder dell‘ Antiocheno,
die allgemein unter dem Namen »La Martorana« bekannt
ist. Georg von Antiochien, Grossadmiral des Königreiches
Sizilien unter Roger II., liess sie zu Ehren der Heiligen Jungfrau erbauen, aus Dank für ihren Schutz bei seinen Unternehmungen auf den Meeren. Dass Georg von Antiochien
tatsächlich der Stifter der Kirche war, be­sagt eine arabischgriechische Urkunde, die im Archiv der Cappella Palatina
aufbewahrt wird. Ein weiterer Hinweis ergibt sich aus einer
heute nur noch teilweise erhaltenen Inschrift, die oben am
Aussenbau der Kapelle zu lesen ist, sowie aus dem Stiftermosaik im Innern der Kirche. Die arabisch-griechische Stiftungsurkunde gibt nicht nur Aufschluss über den Auftraggeber, sondern auch über die Entste­hungsdaten der Martorana.
In der Tat scheint der Bau bereits 1143 errichtet gewesen zu
sein. Nach einer dreijährigen Pause wurden die Arbeiten
wiederaufgenommen und bis 1185 fortgeführt. In diesem
zweiten Abschnitt wurde die Kirche um einen inneren, an
die ursprüngliche Fassade angebauten Narthex, ein Atrium
mit herrlichen Mosaiken, einen äusseren Narthex und einen
Campanile erweitert. Diesem Glockenturm widmet der
Araber Ibn Gubair in seinem sizi­lianischen Reisebericht eine
ausführliche Beschreibung.
Die ursprüngliche Kirche weist die Form eines in ein Quadrat eingeschriebenen Kreuzes auf. Die vier Kreuzarme sind
16
Palermo
tonnengewölbt, während niedrige Kreuzgratgewölbe die
quadratischen Eckjoche decken. Die Kuppel in der Mitte
ruht auf vier Säulen, und ein achteckiger Laternenturm überragt die Kirche.
Die drei Ostapsiden und die Reste des durchbrochenen
Zinnenkranzes, der einst den Bau krönte, erinnern an die
im Orient zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert nach dem
byzantinischen Kanon erbauten Kirchen. Diese in Süditalien weitverbreiteten Formelemente verbinden sich hier mit
typisch sizilianischen Stilmerkmalen wie den Spitzbögen,
den Tonnengewölben, den abgestuften Trompen im La­
ternenturm und den Ecksäulen. Aus einigen Dokumenten
geht her­vor, dass Honorius III. die Kirche im Jahre 1221
dem griechischen Klerus anvertraute, doch scheint die Betreuung der Martorana ab 1226 in denselben Händen gelegen zu haben wie die der Palatina.
1282 wurde die Kirche in politische Ereignisse verwickelt:
Nach dem Vespergottesdienst zu Ostern, einem Ereignis,
das als »Siziliani­sche Vesper in die Geschichte einging, fand
sich das Parlament im Narthex zusammen, der als Sitz der
Schutzgarde von Palermo diente, um Peter von Aragon die
Krone Siziliens anzutragen.
1435 überliess König Alphons von Aragon die Kirche den
Non­nen eines nahegelegenen, von Eloisa Martorana im Jahre
1194 ge­gründeten Benediktinerklosters, dessen Schicksal sie
hinfort teilte. Auf diese Weise erhielt sie auch den Namen,
unter dem sie heute be­kannt ist.
Nach dieser Übernahme musste die Kirche eine Vielzahl von
Ver­änderungen über sich ergehen lassen, bis sie 1451 fast
nicht mehr be­nutzt werden konnte, und die Universität von
Palermo das Eingrei­fen König Alphonsos forderte, der die
notwendig gewordenen Siche­rungsmassnahmen veranlassen
sollte. Der erste entscheidende Ein­griff, in dessen Verlauf die
Westfassade abgerissen wurde, erfolgte 1588.
Auch die Portalvorhalle und der Narthex verschwanden, und
die Kirche wurde bis zum Campanile verlängert, so dass ihr
Grundriss nun die Form eines lateinischen Kreuzes annahm.
Weiterhin errich­tete man eine neue, monumentale Fassade,
die sich an der heutigen Piazza Bellini erhebt. In der Zeit von
1683 bis 1686, der Amtszeit der Äbtissin Giuseppa Caterina
deI Castillo, empfanden die Nonnen die Mittelapsis für ihre
liturgischen Zeremonien als unzu­länglich, liessen sie daher
mitsamt ihren Mosaiken entfernen und an ihrer Stelle den
heutigen Altarraum errichten, der aus einer wesent­lich tieferen, mit einer Kuppel gedeckten Kapelle besteht. Anfang des
18. Jahrhunderts beschlossen die Nonnen, die neue Kirche
mit einem Dekor aus unterschiedlichen Marmorsorten zu
bereichern und das Gewölbe mit Fresken auszumalen. 1726
wurde der Campanile durch ein Erdbeben beschädigt, und
man beschloss, sein letztes Stockwerk, das von einer originellen, rötlichen Kuppel bekrönt war, abzutragen.
Die Renovierungsarbeiten wurden dem Architekten Giuseppe Patri­co übertragen und begannen 1870. Dabei wurde ein
Teil des ur­sprünglichen Gebäudes wiederhergestellt, doch
gingen gleichzeitig kostbare Arbeiten aus der Barockzeit, die
man für wertlos erachtete, gänzlich verloren.
Besichtigung
Blickt man von der Piazza Bellini auf die Martorana, so fällt
so­fort der deutliche Kontrast zwischen der Barockfassade
und den Tei­len des ursprünglichen Gebäudes auf, an denen
die architektonischen Merkmale aus der Zeit seiner Gründung noch erhalten sind. Zu die­sen Merkmalen gehören die
schlichte, kubische Kontur des aus klei­nen Quadern zusammengesetzten Bauwerks, die kleinen Spitzbogen­fenster, die
nach aussen stark ausgeschrägt sind, und die Kuppel auf dem
hohen, achteckigen Unterbau. Noch heute kann man den
wert­vollen Türsturz über der kleinen Tür bewundern, die
früher zum Sprechzimmer des Klosters führte: Die äusserst
elegant in Medaillons aus Blattvoluten eingefügte Jagdszene
scheint von einem byzantini­schen Künstler zu Künstler zu
stammen.
Besonders stark ist der Kontrast zwischen der Barockfassade
und dem an der Westmauer des Langhauses anlehnenden
Campanile. Der in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts
erbaute Turm hat einen quadratischen Grundriss und umfasst vier Stock­werke. Das letzte Stockwerk, das die Kuppel
trug, wurde 1726, nachdem es durch ein Erdbeben beschädigt worden war, abgetragen. In jeder Etage öffnen sich nach
allen Seiten grosse, gekuppelte Spitz­bogenfenster mit eleganten Mittelsäulen. In den letzten beiden Ge­schossen sind
die Ecken, in die weitere bogentragende Säulchen ein­gestellt
sind, abgerundet.
Um zur Kirche zu gelangen, durchquert man einen kleinen
Gar­ten, zu dem einige Stufen hinaufführen, und geht dann
unter dem Campanile hindurch. Innen weist die Kirche wie
schon aussen eine Mischung aus normannischen und barocken Zügen auf. Diese Durchdringung zwingt uns, hier auch
solche Elemente zu berück sichtigen, die eigentlich den zeitlichen Rahmen dieses Bandes Sprengen.
Sobald man die von zwei Säulenreihen aus orientalischem
Granit mit korinthischen Kapitellen in drei Schiffe unterteilte Kirche betritt, kommt man mit dem barocken Teil
des Bauwerks in Berührung. Man gelangt zunächst in einen
grossen Vorraum, dessen acht Säulen - zwei von ihnen sind
mit sarazenischen Inschriften versehen - die Sängerempore
tragen. Die Gewölbe sind 1744 von Olivio Sozzi mit Fresken
ausgemalt worden, die in lebhaften Farben Maria, umgeben
von verschiedenen benediktinischen Heiligen, darstellen.
Rechts be­findet sich eine kleine Seitentür, deren hölzerne
Türflügel vermutlich von dem im 12. Jahrhundert entfernten
Hauptportal stammen. Sie bestehen aus 28 rechteckigen Feldern mit geschnitzten Palmetten, die in der Mitte eine Art
Vielpassmedaillon bilden.
Der mittlere Teil der Kirche ist vollständig mit Fresken bedeckt, die 1717 von Guglielmo Borremans geschaffen wurden und Szenen aus den Evangelien zeigen. Dank der im
Jahre 1870 von Patricolo durch­geführten Restaurierungen
können wir uns anhand einiger gut sicht­bar gebliebenen
Bauelemente den Umriss des ursprünglichen Bau­kerns aus
der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts vorstellen.
Der ursprüngliche Zentralbau bestand - wie noch heute zu
sehen ist - aus einem Quadrat mit vier durch gedrückte Spitzbögen verbun­denen Säulen im Mittelteil. Über ihnen erhebt
17
Santa Maria dell‘ Ammiraglio ( La Martorana)
(1143-85)
sich ein hohes oktogo­nales Prisma mit gestuften Trompen in
den Ecknischen, die eine halbkugelförmige Kalotte tragen.
Während die Kreuzarme tonnengewölbt sind, tragen die
Seitenschiffe Kreuzrippengewölbe.
Das Bauwerk ist nicht ‚nur in seiner architektonischen
Konzep­tion interessant, sondern auch in seiner vollkommenen Anpassung an die Anforderungen der byzantinischen
Liturgie, nach der hier die Gottesdienste gefeiert wurden
und werden; denn bis heute wird die Messe im griechischorthodoxen Ritus gehalten. Die Wände sind mit Mosaikzyklen bedeckt, die der religiösen Unterweisung dienen sol­len:
Jedem Abschnitt des Innenraumes entspricht ein bestimmter
Teil der östlichen Liturgie. Die ursprüngliche Atmosphäre
des normanni­schen Bauwerks ist durch den tiefen und hellen
Altarraum verändert, der zwischen 1683 und 1686 an Stelle
der ganz mit Mosaiken ausge­kleideten Hauptapsis errichtet
wurde. Der neue Altarraum ist mit bunten Marmorintarsien
und Stuck ausgestaltet. Auf dem Altar steht ein wertvoller
Tabernakel aus Lapislazuli. Das Kuppelgewölbe trägt Fresken von Antonino Grano aus dem frühen 18 . Jahrhundert.
Ursprünglich waren die Mauern des Kernbaus bis zu einer
Höhe von vier Metern mit Platten und Kreuzen aus Porphyr
und Serpentin bedeckt, während alle übrigen Flächen mit
Mosaiken ausgelegt waren. Die Mosaiken der Hauptapsis
und die der Westmauer, die we­gen der Verlängerung der Kirche abgerissen wurde, sind für immer verloren. Alle anderen
Mosaiken kann man aber noch heute in ihrer vollständig erhaltenen Schönheit bewundern.
Die Anordnung der vier Mosaiken folgt einem so vollendet
kla­ren und symmetrischen Plan, wie er sich in keiner anderen zeitglei­chen Kirche Siziliens findet. Die Bestimmung
der Martorana für die Ansprüche der griechischen Liturgie
lässt sich bereits daraus ersehen, dass sämtliche Inschriften
der vier Mosaiken griechisch geschrieben sind. Mittelpunkt
der Ausgestaltung ist die Kuppel, in der in einem zentralen
Medaillon der thronende Christus Pantokrator dargestellt
ist, die rechte Hand zum Segen erhoben, mit der linken ein
geschlos­senes Buch auf den Knien haltend. Im äusseren Ring
der Kuppel umgeben vier Engel in anbetender Haltung das
Medaillon des Pantokrators. Die Kuppel ruht auf einem hölzernen Fries, der eine von Patricolo entdeckte Inschrift trägt.
Diese wurde von Amari als der ins Arabische übersetzte Text
einer byzantinischen Hymne identifiziert. In dem zylindrischen Unterbau der Kuppel sind die Propheten dargestellt,
in den Nischen der Trompen die Evangelisten. Der Triumphbogen ist mit einer Verkündigungsszene ge­schmückt, in den
Apsidiolen sieht man links den heiligen Joachim, rechts die
heilige Anna. In den Laibungen der vier Bögen, die das Ganze tragen, sind in jeweils sieben Kreisen Heiligenbildnisse
eingefügt. Es ist bemerkenswert, wie die Darstellungen, die
die himmlische Liturgie und die biblische Geschichte dem
Menschen ver­ständlich wiedergeben, sich von der Kuppel
ausgehend bis in den Teil fortsetzen, den man als Querhaus
bezeichnen könnte und der von den nördlich und südlich
an die Kuppel angrenzenden Tonnen­gewölben überfangen
ist. In diesem Querhaus sind acht Apostel­gestalten einander
gegenübergestellt. Gegenüber dem Altarraum, in dem im
18
Westen an das Mittelquadrat grenzenden Tonnengewölbe,
ist die Geburt Christi und der Tod Mariens darge­stellt. Hier
wird noch einmal deutlich, dass die Kirche der Gottes­mutter
geweiht ist.
Die bestimmte Themenverteilung im Bildprogramm
byzantini­scher Kirchen sollte dem Gläubigen den Zugang
zur Realität des Jenseits erleichtern.
Mit grosser Wahrscheinlichkeit war in der Hauptapsis Maria als Orantin dargestellt. Schwieriger ist es, Rückschlüsse
auf die Aus­schmückung des Narthex und des Vorhofes zu
ziehen. Heute sind nur zwei Mosaiken an Wänden von Seitenräumen der neuen Kirche erhalten. Es ist gut möglich,
dass sie sich hier von Anfang an befanden, Vorausgesetzt die
Hypothese, nach der diese Mauern Überreste der ursprünglichen Westwand des Narthex seien, erwiese sich als Zu treffend. Auf den Mosaiken ist rechts der Stifter der Kirche, Georg von Antiochien, gezeigt, wie er vor Maria kniend ihren
Segen empfängt, und links König Roger, dem Christus die
Königsskrone aufsetzt. Die Bilder sind vermutlich zwischen
1143 und 1151 entstanden. Diese Datierung wird dadurch
bestätigt, dass mehrere Experten die Mosaiken der Martorana für eine verkürzte Version des Mosaikschmuckes der Palatina halten, auch wenn die ikonographischen Schemata der
letzteren weitaus komplexer und detaillierter sind.
Palazzo Chiaramonte (Palazzo Steri)
(ab 1307)
Palermo
Die Familie Chiaramonte ist die mächtigste der grossen Feudalherren Siziliens im 14.Jh. Ihr Ursprungsgebiet ist die Gegend von Agrigent. Zahlreich sind ihre Burgen. Gewaltig ist
ihr Machtzuwachs in grossen Teilen Siziliens seit dem späten
13.Jh.; er wird sichtbar in dem seit 1307 in Palermo errichteten Palazzo Chiaramonte (meist bekannt unter dem Namen
10 "Steri", von "hosterium"), an wichtiger Stelle innerhalb der
Stadt (Hafennähe, Piazza Marina). Der Bau wurde begonnen
von Manfredi 1. Chiaramonte, Graf von Modica und Seneschall des Königreichs, bis 1380 weitergeführt, im zweiten
Obergeschoss nie vollendet. Dem steilen Aufstieg der Familie folgte der jähe Sturz: 1396 wurde Andrea Chiaramonte
vor seinem Palast in Palermo enthauptet als Rebell gegen
König Martin 1. von Aragon. Der mächtige Baublock ist ein
Quadrat von 40 m Seitenlänge mit quadratischem Säulenhof, im Erdgeschoss zwei Arkaden auf jeder Seite, im Obergeschoss je drei. Die zur Piazza Marina gerichtete "Ostseite
zeigt ein Erdgeschoss von enormer Höhe: völlig abweisend,
ungegliedert und ohne Eingang (das vorhandene Portal ist
nach-mittelalterlich), das Obergeschoss mit prachtvollen
Fenstern in Form von dreiteiligen Säulenarkaden unter gemeinsamer spitzbogiger Blendarkatur. Das Innere hat auf der
flachen Balkendecke seines Hauptsaales berühmte GemäldeFolgen, deren Darstellung mittelalterlicher Legenden und
Geschichten besonderes Interesse beanspruchen (Trojanischer Krieg; Tristan und Isolde). Nur Nord- und Südseite des
Palastes hatten kleinere Eingänge; vor letzterer liegt die gut
erhaltene Kapelle des Palastes: S. Antonio allo Steri.
19
Dom (Cattedrale)
(geweiht 1185)
Die Südfront der Kirche blickt auf den weitläufigen Kirchhof, der 1761 mit Marmorbalustraden eingefriedet wurde.
Auf dieser Fläche stand bereits in frühchristlicher Zeit (im 4.
Jahrhundert) eine Friedhofskapelle. Über deren Ruine liess
Bischof Viktor im Auftrag von Papst Gregor I. dem Grossen
592 eine Marienkirche bauen und weihte sie 604 ein. Nach
der arabischen Eroberung wurde die Kirche im 9. Jahrhundert in eine grosse Moschee für die Einwohner der Zitadelle
im Cassaro umgewandelt, der bis 938 Sitz der Emire war.
Nach der Eroberung Palermos, durch die Normannen wurde wieder eine christliche Kirche daraus (1072) die Bischof
Nikodemus zurückgegeben wurde. Nach dem Erdbeben von
1169 wurde sie unter Wilhelm II. nach den Entwürfen des
Erzbischofs Walter of the Mill (von 1169 bis 1190 im Amt)
vollständig neu gestalltet. Der Neubau wurde 1185 geweiht.
Von Anfang an war die Kirche sowohl Gotteshaus als auch
Festung und sogar königliche Grablege, die den Monarchen
ihrer Familie und den Erzhischöfen vorbehalten war, Für
diesen Zweck reservierte man zwei symmetrisch zu beiden
Seiten des Altarraums gelegene Bereiche in Übereinstimmung mit der Position von Königs- und Bischofsthron. Der
Bau von Walter of the Mill war eine dreischiffige Basilika.
Der erhöhte Altarraum bestand aus dem Querschiff und einem Riegel mit drei Apsiden. Deren mittlere grösser als die
Seitenapside war. Das lange Kirchenschiff war durch zehn
Spitzbögen gegliedert, die auf neun Viererbündel korinthischer Säulen an jener Seite des Mittelschiffs ruhten, plus
einem korinthischen Säulenpaar an jedem Ende. Nach Os20
Palermo
ten erstreckt sich über die Apsidien hinaus eine Krypta, zu
der man durch die Tür links im Presbyteriumrium gelangt.
Dort stehen die Sarkophage Palermitanischer Erzbischöfe
aus verschiedenen Epochen. Wann die Krypta gebaut wurde
ist ungewiss. Einige Autoren nehmen an, dass sie zeitgleich
mit der Kirche des Waller of the Mill entstand, andere hal­ten
sie für älter.
Von der alten normannischen Basilika erhalten ist noch ein
quadratischer Raum mit Apsis, in dem Spuren des ursprünglichen Fussbodenbelags zu erkennen sind, sowie symmetrisch
dazu ein weiterer Raum mit Resten einer darüber angebrachten Loggia und zwei Einzelbogenfenster unter einer grossen
Rosette und einem kleinen muqarnas Ornament.
Um 1429 wurde vor der Südfassade der Portikus angebaut
ein Werk Antonio Gamharas, Das Ostwerk ist an der Aussenseite durch zweifarbige Einlegearbei­ten und verschränkte Blendbögen verziert, ein Motiv, das sich am Dom von
Monreale wieder findet.
Fortlaufend versuchte man, di. Kirche dem jeweiligen Zeitgeschmack anzupassen. Unter anderem wurde 1767 der königliche Architekt Fenlinando Fuga mit dem Entwurf für eine
vollständige Neugestaltung der Ausschmückung der Kir­che
beauftragt. Ausgeführt wurde sie unter der Leitung von Giuseppe Venanzio Marvuglia und Salvatore Attinelli von 1781
his 1801. Die Arbeiten umfassten eine komplette Neugestaltung des Innenraums nach klassizistischem Vorbild. Die
Seitenschilfe wurden verbreitert, wofür man einen Teil der
Seitenkapellen opferte, die Vierer-Säulen-Gruppen wurden
aufgeteilt und die Schäfte der alten Säulen umgestaltet und
an die neuen Pfeiler angelehnt, die alten Kapitelle durch
neue ersetzt. An den Jochen der Seitenschiffe wurden kleine
Säulen mit einem Überzug aus farbigen Majolikaplättchen
aufge­stellt. Das Mittelschilf erhielt ein Tonnengewölbe mit
Lünette und wurde von ursprünglich 10 auf acht Joche verkürzt. Schliesslich wurde auch der Chor umgestaltet und mit
einer klassizistischen Kuppel überspannt. 1840-1844 kamen
noch die Westtürme im neugotischen Stil nach Entwürfen
von Emanuele Palazotto hinzu. Bis heute folgten mehrfach
Res­taurierungs· und Sanierungsarbeiten.
21
Piazza Pretoria
Im Herzen der Stadt vor dem Rathaus, begrenzt von zwei
bedeutenden Kirchenbauten und der Via Maqueda, dazu
nahe den »Quattro Canti“, füllt der grossartige Brunnen
mit seinem mehrgeschossigen Rund fast den ganzen Raum
des Platzes. Dieser Brunnen ist das Werk zweier Florentiner
Bild­hauer, des Francesco Camilliani (t 1586; mehrfache
Signaturen und das Datum 1555) und seines Mitarbeiters
Michel­angelo Naccherino, vollendet um 1555; ausgeführt
im Auftrag des Don Pietro di Toledo, Vizekönig von Neapel,
für seine Villa in Florenz. Durch den Tod des Auf­traggebers
kam es nicht zur Aufstellung. Die Stadt Palermo erwarb
den Brunnen im Jahre 1573. Transport der 644 Stücke und
Aufstellung (durch den Sohn Camillo Camilliani) nahmen
Jahre in Anspruch. Die ungewöhnliche Grösse und Opulenz
des Brunnens rechnete mit freier, parkar­tiger Umgebung; in
Palermo hat man durch Absenkung des Platz-Bodens und
Zufügung des äusseren Stufenrings dem Ganzen zu besserer
Wirkung verholfen. Der zweigeschossige Aufbau ist durch
vier flache Treppen verbunden und zu­gleich gegliedert, und
in die konzentri­sche Ordnung des Ganzen ist der reiche figürliche Schmuck in symmetrischen Entsprechungen harmonisch eingefügt:
In den vier durch die Treppen abgeteilten Abschnitten der
unteren Plattform befin­den sich vier Wasserbecken mit
den vier liegenden Personifikationen der ursprünglich toskanisch benannten Flüsse, nunmehr aber als Palermitaner
Wasser­läufe umbenannt, jeweils flankiert von zwei Tritonen und Nereiden. Die vier Treppenläufe, unten und oben
22
Palermo
von Paaren antiker mythologischer und Götter-Ge­stalten
flankiert, überbrücken ein rundes Wasserbecken, dessen
Rückwände der zweiten, höheren Plattform angehören und
deren Nischen grosse Tierköpfe zie­ren in der Funktion von
Wasserspeiern. In der Mitte des Wasserbeckens der oberen
Plattform erhebt sich der steile Schaft dreier nach oben kleiner werdender Was­serschalen, bekrönt von einer Statuette ­so
dass das Wasser von dieser Höhe aus von Schale zu Schale
herabströmt.
Schon Giorgio Vasari sprach von 15jähri­ger Arbeit des Bildhauers am Brunnen­schmuck und bezeichnete diesen Brunnen als einen, der in seinem Reichtum in Flo­renz, ja in ganz
Italien nicht seinesglei­chen habe. Kein Zweifel aber kann
dar­über bestehen, dass die Stadt Palermo diesen Brunnen
erworben hat im künstle­rischen Wettstreit mit Messina um
den Rang der Hauptstadt, den diese kurz zu­vor durch die
beiden stattlichen Brunnen des Toskaners Montorsoli bekräftigt hatte.
Chiesa di S. Maria della Catena
(ab 1500, geweiht 1540)
Chiesa di S. Caterina
(ab 1566-1596)
Die Marienkirche am alten Hafen von Palermo, der hier
durch eine Kette geschlossen werden konnte (daher ihr zusätzlicher Name), ist ein hervorragend schöner Bau jener
für Sizilien in der Zeit um und nach 1500 eigentümlichen
Stilform, welche spätgotisch-spanische mit solchen der Renaissance des italienischen Festlandes verbindet. Sowohl die
Vorhalle mit ihren drei flach bogigen Arkaden über Säulen
mit antikisierenden Kapitellen, mit den fein ziselierten Formen der turmartigen Eckpfeiler und des Masswerks an den
abschliessenden Gesimsen (dieses vor allem auch an den Apsiden) zeigt die Verbindung dieser beiden Elemente ebenso
wie das Innere der dreischiffigen gen Säulenbasilika mit ihren
verschiedenen Gewölbeformen (gotische Kreuzrippen- und
Sterngewölbe und Tonnengewölbe in den Seitenschiffen).
Die Kirche, um 1500 begonnen, war wohl kaum vor 1540
vollendet; Baumeister ist doch wohl Matteo Carnilivari,
vielleicht in der Ausführung auch Antonio Scaglione, der an
dem verwandten und fast gleichzeitigen Bau von S. Maria di
Portosalvo nachweisbar ist.
Kirche und Klosterkomplex der Dominikanerinnen im
Zentrum der Stadt, ausgezeichnet durch die glanzvoll einheitliche Innendekoration des Barock. Als Bau 1566 begonnen, 1596 geweiht, folgt die Kirche dem Typus weiblicher
Ordensbauten: einschiffig, kreuzförmig mit dominierender
Vierungskuppel, mit Seitenkapellen und Westernpore über
dem Eingang. Die Fassade im Westen und die freiliegende
Flanke zeigen die einfachstrenge Pilasterordnung dieser
Zeit; im ganzen römischen Vorbildern verpflichtet. Das
"Innere der Kirche aber ist im Laufe des 17. und 18. Jh. im
Zusammenwirken aller Künste mit einem Dekor überkleidet, bei welchem ausser Reliefplastischem sich vor allem in
der Technik der farbigen Stein-Intarsien ein Hauptelement
sizilischen Barocks in grosser Virtuosität zeigt.
Palermo
23
Porta Nuova
(1583)
Die Porta Nuova befindet sich auf dem höchsten Punkt der
Stadt neben dem Königspalast und am Ausgang des »Cas­
saro“, der die ganze Stadt durchschnei­denden, aus arabischer
Zeit stammenden Strassenachse (heute Corso Vittorio Ema­
nuele), die am Hafen endet, und der dort gelegenen »Porta
Felice“. Hier war 1535 Kaiser Karl V., von seinem siegreichen
Feldzug in Tunis zurückkehrend, nach einer Woche des Aufenthalts in Monreale im Triumph wird noch gesteigert durch
die vier weit überlebensgrossen nackten Dreiviertel Figuren
der in Hermen-Form aus den Pila­stern herauswachsenden
„Mauren“, der besiegten afrikanischen Gegner des Kai­sers.
In Gegensatz zu der militärisch-for­tifikatorischen Architektur-Sprache des gesamten Unterbaus steht die graziöse
Leichtigkeit der fünfbogigen offenen Säu­lenloggia oben, bekrönt von einem Pyra­midendach mit Majolikaschmuck und
dem Motiv grosser Adler.
24
Palermo
Quattro Canti
(1609)
Mitte der Stadt ist die Kreuzung zweier gradliniger Hauptstrassen: des von der Höhe der Porta Nuova im Süden der
Stadt (neben dem Königspalast) zum alten Hafen, zur „Cala“
und zur Porta Felice hinabführenden, schon aus arabischer
Zeit (9.-11. Jh.) stammenden „Cassaro“, des heutigen Corso
Vittorio Emanuele, und der am 21. Dezember 1608 feierlich begonnenen „Via Nuova“, später nach dem Vizekönig
genannten Via Maqueda. Durch Abschrägung der Ecken
(hinter deren einer die Kirche S. Giuseppe dei Teatini) bildet
sich hier die achteckige „Piazza Vigliena“ (der spanische Vizekönig), doch gemeinhin allein als „Quattro Canti di Citta“
bezeichnet.
Die gleichmässige architektonische und plastische Ausgestaltung dieser vierkurvig einwärtsschwingenden Palastfronten,
in den Jahren 1609-20 vollendet, im statuarischen Schmuck
sich noch weit länger hinziehend, ist von bedeutender
städtebaulicher Wirkung. Mit dem „Teatro dei Sole“ dieses
oktagonalen Platzes, in Permanenz von der Sonne beleuchtet, Werk des Architekten Giulio Lasso, gewann die Stadt
Palermo Anschluss an die im 16. Jh. erfolgte neuzeitliche
städtebauliche Systematik, wie sie z. B. in Rom in der Strassenkreuzung der „Quattro Fontane“ erfolgt war, hier jedoch
der gesamten Stadt eine neue Mitte gab.
Jeweils in drei Achsen und drei Geschossen gegliedert,
nimmt die breitere Mitte im Erdgeschoss einen Brunnen auf
mit den weiblichen Statuen je einer der vier Jahreszeiten und
grossen Inschrifttafeln; im Geschoss darüber die Nischenstatuen der vier spanischen Könige Karl V., Philipp II., III. und
Palermo
IV.; im Obergeschoss die vier Statuen der weiblichen SchutzHeiligen von Palermo: Cristina, Ninfa, Oliva und Agata.
25
Palazzo Abatellis
(1953-54)
Carlo Scarpa
Der Palazzo Abatellis wurde zwischen 1490 und 1526 von
Matteo Carnelivari erbaut; nach verschiedenen, im Laufe der Jahrhunderte erlittenen Schäden brachte 1943 eine
Bombe die Loggia, den Portikus, den Südwest-Flügel und
den West-Turm zum Einsturz. Der Auftrag an Scarpa erging
im Anschluss an die von ihm entworfene Einrichtung der
Antonello-Ausstellung in Messina und aufgrund der Empfehlung von Professor R. Calandra, der nach einem Besuch
des Museo Correr die Bedeutung von Scarpas MuseumsArchitektur erkannt hatte. Nach Beendigung der Arbeiten
erhielt der Architekt den Premio Nazionale für ein Werk,
von dem Walter Gropius sagte: »Die beste Museums-Einrichtung, die ich jemals in meinem ganzen Leben gesehen
habe.« Das Gebäude auf rechteckigem Grundriss ist ganz
auf einen Innenhof mit umlaufenden Loggien ausgerichtet.
Scarpa behielt den mit Flusskieseln gepflasterten Hof bei,
der durch Diagonale gegliedert ist, die zu den vier Ecken
und damit zu den Eingangstreppen führen. Die Fenster in
der Fassade setzte Scarpa hinter das Masswerk, also in eine
von den Dekorationselementen getrennte Ebene, so dass
sie diese nicht stören. Aus der Notwendigkeit heraus, das
Überkommene in seinem Entwurf zu respektieren, trennte
Scarpa die verschiedenen Ebenen der Fensteröffnungen und
der Einfassungen. Er übertrug so nach Palermo die sehr venezianische Art der Raumbehandlung mit verschiedenen, sich
überlagernden Ebenen. Die ausgestellten Werke wurden so
ausgewählt, dass die Räume des Museums nicht überladen
wirken; die anderen sind im Magazin in eigens dafür vor26
Palermo
gesehenen Ständern untergebracht, die deren Besichtigung
erleichtern. Das Beeindruckendste an dieser Arbeit ist die
Anordnung der Bilder und Skulpturen, ihre dreidimensionale Einrahmung. Scarpa verband in dieser Arbeit eine fast
instinktive Sensibilität den Werken gegenüber, die ihn das
richtige Licht, die richtigen Materialien und Farben wählen
liess, mit seinem aussergewöhnlichen Formempfinden. Er
liess bei der Aufstellung der Gemälde auf Trägerelemente einen Zwischenraum zwischen Stütze und Wand, so dass dort
Luft zirkulieren kann, während die Leinwände so angebracht
sind, dass sie bequem Untersuchungen ermöglichen. Scarpa
will dem Besucher einen bestimmten Rundgang nahelegen,
indem er ihn dazu bringt, bei den Objekten zu verweilen,
die er für wichtig hält. Dies gelingt ihm, indem er auch den
lustlosesten Besucher motiviert, ihn anlockt, seine Neugier
weckt, ihn um eine Skulptur herumführt und ihn veranlasst,
ein Bild zu drehen, um es im besten licht zu sehen. Eine neue
freitragende Innentreppe, deren Steinstufen in sechseckigem
Zuschnitt auf einer Eisenwange aufliegen, verbindet das
Erdgeschoss mit der ursprünglichen Haupttreppe, die zum
ersten Stock führt. Der Palazzo Abatellis ist ein Beispiel für
architektonische Poesie und gleichzeitig für die Umsetzung
grosser kritischer Urteilskraft. Die Architektur übernimmt
eine kritische Rolle; Ihre Fähigkeit, die ausgestellten Kunstwerke durch die Repräsentationsweise zu interpretieren, ist
eine besonders originelle Form der Kunstkritik.
27
Quartiere ZEN 2 (zona espansione nord) 1969
V. Gregotti, F. Amoroso, S. Bisogni, H. Matsui, F.
Purini
Dopo Palazzo Abatellis, immersi nel quartiere della Kalsa, è
opportuno ampliare lo sguardo e aggiungere alla lettura del
palazzo del Carnilivari, che introduce alla comprensione del
centro storico, due architetture progettate alla fine degli anni
60, che trovano la loro ragion d‘essere nel confronto con il
territorio urbano, estesosi ben oltre il recinto della città murata.
Due architetture che, a partire dal dialogo con la geografia,
intesa come il modo di essere fisico della storia, sviluppano il
loro principio insediativo. Protagonista di queste due opere
è Vittorio Gregotti che progetta con Gino Pollini, a Parco
d‘Orléans, i Dipartimenti di Scienze dell‘Università degli
Studi di Palermo e con Franco Amoroso, Salvatore Bisogni,
Hiromichi Matsui, Franco Purini, nella parte piu a nord della cosiddetta Piana dei Colli, il quartiere ZEN 2.
La lettura dei Dipartimenti e dello ZEN 2, inserita successivamente alla visita nel centro storico e ad una indispensabile
sequenza di prospettive colte dai tornanti che si inerpicano
su Monte Pellegrino, amplia lo sguardo sull‘intera città facendo cogliere le qualità morfologiche della nuova dimensione urbana.
I due interventi, concepiti ad un anno di distanza l‘uno
dall‘altro, e a quindici anni dal lavoro di Scarpa, introducono
nell‘ ambito palermitano temi di ricerca progettuale assolutamente innovativi, iniziando a concretizzare quel „punto di flesso“ della cultura architettonica italiana attenta ad
enucleare «le questioni connesse alla relazione tra oggetto
e contesto». Entrambe le architetture, accomunate da una
28
Palermo
forte caratterizzazione ideologica, hanno avuto una diversa
fortuna critica. Mentre il tema del quartiere di edilizia residenziale pubblica, in auge in Europa fra le due guerre e in Italia nel secondo dopoguerra, registrava alla fine degli anni 60
l‘ultimo momento di grande attenzione, per poi essere quasi
completamente dimenticato, all‘ opposto il tema dell‘università resterà, almeno per tutti gli anni 70 e 80 al centro dell‘
attenzione disciplinare.
Questa condizione ha fatto SI che lo ZEN 2, a parte i commenti dei primi anni 70, restasse come isolato, trascurato, in
balia di chi, additandolo a capro espiatorio delle insufficienze
dell‘ architettura contemporanea, ha preferito mistificare e
nascondere responsabilità precise, in buona parte gravanti
sulla sfera politica ed amministrativa, riversandole esclusivamente sulle spalle dei progettisti.
Fatta questa premessa, si può svelare l‘essenza del progetto
dei Dipartimenti, partendo da alcune considerazioni suggerite da un dipinto della metà del Settecento: Veduta della città di Palermo a volo d‘uccello da Boccadzfalco di Juan Ruiz.
li quadro contiene un nucleo di verità indispensabili nel
mettere a fuoco quelle riflessioni sulle interazioni tra architettura e luogo su cui si fondano i Dipartimenti di Gregotti e
Pollini (hanno fatto parte del gruppo di progettazione Spartaco Azzola e Hiromichi Matsui). Nella prospettiva di Ruiz
è facilmente rintracciabile, quasi centralmente, Porta Nuova
trafitta dall‘asse Cassaro-Strada Colonna (gli odierni corso
Vittorio Emanuele e Calatafimi), poco piu a destra la traccia
del fiume Oreto, sullo sfondo la città murata e lo spettacolare
golfo commentato dall‘ ampia distesa verde della piana.
Dalla tela si possono estrapolare alcune caratteristiche insediative dell‘ architettura extra-moenia che sembrano, a distanza di piu di due secoli, rintracciabili nei Dipartimenti. I
piccoli oggetti, dispersi fuori le mura, segnano alcuni incroci
fondamentali, presidiano le direzioni della futura espansione proponendosi come fulcri delle nuove borgate, senza mai
confondersi con il paesaggio agreste. Essi sembrano prismi
centrifugati ed espulsi dal cuore urbano per svolgere una premeditata azione pianificatrice. Con questi volumi dalla stereometria perfetta i Dipartimenti stabiliscono un rapporto
fortissimo compiendo a posteriori, rispetto all‘ espansione,
un‘azione complementare tendente a rasserenare ciò che del
nuovo mondo urbano è sfuggito al controllo dei „piccoli oggetti“ dipinti da Ruiz. Il progetto, quindi, sembra fondarsi su
una necessità di ordine rispetto al contesto piu vicino e disgregato della città nuova, e sulla volontà di riapprezzare, con
una traccia chiara, la ricchezza della condizione geografica
che tanto affascinava lo stesso Pollini. Tralasciando l‘immagine dell‘intera Piana ed approssimandosi al Parco d‘Orléans
(compreso nel dipinto settecentesco tra l‘alveo dell‘Oreto e
il solco del corso Calatafimi), caratterizzato nella parte terminale dalla Fossa della Garofala da cui sgorgava il fiume
Kemonia 17, sarà possibile capire come hanno preso forma
quelle motivazioni geografiche ed urbane nell‘ architettura
di Gregotti e Pollini.
Nel passaggio dall‘immagine pittorica alla realtà è opportuno
precisare gli attuali confini del Parco, e riflettere sulle relazio-
ni stabilite dalle nuove facoltà realizzate, al suo interno, dagli
anni 50 in poi. Come primo limite va ricordato, a nord, il
tracciato della via Altofonte, che ricalca il letto del Kemonia,
ad est la villa d‘Aci-Orléans e la via Brasa, a sud la via Basile
e ad ovest la circonvallazione che taglia il perimetro fusiforme del Parco prima che questo si sia richiuso. All‘interno di
quest‘ area a losanga, che sembra incunearsi nel tessuto del
centro storico, è evidente il solco di Viale delle Scienze sui
bordi del quale, spesso con casualità rispetto alla sua giacitura geometrica, hanno preso forma le nuove sedi accademiche. All‘ opposto i Dipartimenti di Scienze, sorti come
testata conclusiva dell‘insediamento universitario, accolgono l‘assialità del percorso valorizzandolo come radice del
proprio principio insediativo. Dalla corrispondenza stradaarchitettura nasce il sistema delle piazze che segue i diversi
livelli del terreno valorizzando con la sua forma la flessuosa
incisione della Fossa. Su questo sistema, colonna vertebrale
dell‘intero progetto, si attestano, oltre ai volumi realizzati di
Biologia, Chimica e Fisica, le residenze universitarie (poste
sul margine della Fossa della Garofala) e i corpi di fabbrica
di Matematica e Geologia, che avrebbero definito il margine
di ponente componendosi con il fondale della corona di alti
colli, elemento determinante nella geografia di Palermo.
L‘organismo architettonico fondato sulla esaltazione dello
spazio pubblico e collettivo degli studenti, comprendente
anche un teatro all‘aperto, ricavato nel dislivello del terreno, e
una ampia serie di servizi a scala urbana, nasce, quindi, come
fulcro di un nuovo rapporto università-città.
29
Quartiere ZEN (zona espansione nord) 1969
Con le motivazioni urbane che propongono i Dipartimenti come « ... cellula simbolica di una città futura del­
l‘immaginazione e della libertà sociale al potere» si fondono
gli studi di Gregotti sulla geografia, «intesa come il modo di
descrivere il solidificarsi e sovrapporsi dei segni della storia
in una forma», già espressi nelle riflessioni de Il territorio
dell‘architettura, ed ulteriormente esplicita ti, insieme ad
altri temi progettuali, ne La città visibile. Fra i principi che
il progettista espone, in quest‘ultima pubblicazione, è indispensabile richiamare almeno «l‘applicazione del principio
dei recinti e dei loro nessi di congiunzione come fondamenti
della struttura urbana».
« ... Atto di architettura per eccellenza, il recinto è ciò che
stabilisce un rapporto specifico con un luogo specifico ed
insieme il principio di insediamento con il quale un gruppo
umano propone il proprio rapporto con la natura cosmo. Ma
anche il recinto è la forma della cosa, il modo con cui essa si
presenta al mondo esterno, con cui essa si rivela».
Come si rivelano i Dipartimenti? Quale rapporto specifico
stabiliscono con il luogo? In quale relazione stanno i molteplici interni con la chiara ed univoca sagoma esterna?
Se la risposta alla seconda domanda ha, di fatto, costituito lo
spunto di partenza di questo scritto, è necessario, contemporaneamente, conoscere da una descrizione piu attenta come
il principio dei recinti, e gli altri temi progettuali, hanno influenzato gli spazi dell‘ architettura.
Evidente è il valore di limite che assume la veste grigia con cui
i Dipartimenti emergono dal suolo, costruendo il diaframma
fra la parte urbanizzata, del complesso universitario, e quella
terminale del Parco. Tra i lunghi «spalti di fortezza», larghi
3,60 m, trovano posto tra sversalmente gli spazi dei Dipartimenti di Biologia, Chimica e Fisica ognuno dei quali « ... è
costituito da due corpi tra loro collegati, uno essenzialmente
dedicato alla didattica dei corsi preparatori ed uno alla ricerca e allo sviluppo didattico degli studi avanzati. Ciascuno di
questi corpi si sviluppa su due piani, oltre ad un piano interrato di parcheggi e servizi, ed è fondato su un modulo base
strutturale e di impianti di 7,20 x 7,20 m».
Le tre piazze costituiscono sia lo strumento di cònnessione
tra strada e architettura e tra architettura e città, sia il punto
di vista privilegiato dal quale apprezzare e coniugare il paesaggio degli alti colli con quello architettonico nascosto
dietro gli spalti di fortezza. Infatti, oltrepassando le lunghe
quinte grigie ci si accorge come la «fabbrica per studiare»
celi all‘interno una ricchezza spaziale dall‘ esterno assolutamente inimmaginabile.
Nel passaggio da esterno a interno si possono mettere in luce
altre fondamentali componenti dell‘architettura descrivibile,
altrimenti, facendo riferimento al solo rigore insediativo e al
tono duro dell‘architettura industriale richiamato da Pierluigi Nicolin. Valicare i murifacciata obbliga, invece, a prendere
coscienza della miscela delle influenze fra i due progettisti. La
contrapposizione fra esterni austeri e ricchezza spaziale degli
interni, tipica dell‘atteggiamento progettuale di Gregotti,
viene precisata ed esaltata dalla griglia strutturale (prefabbricata e precompressa) che diventa fattore linguistico determinante degli spazi della ricerca e della didattica.
30
Si deve ricordare come il tema dell‘ approfondimento strutturale emerga dalla ricerca di Figini e Pollini sin dal tempo
dei progetti concorsuali per il Palazzo del Littorio (1934)
e per le scuole di Brera (1935), forse piu che dalla raffinata
interpretazione data da Gregotti alla lezione di Perret. I Dipartimenti, allora, si possono descrivere come momento di
sintesi fra il metodo razionale di Pollini, che esalta il valore
spaziale della struttura, e quella tensione verso una „irraggiungibile obiettività“ che Gregotti eredita da Perret.
A questo impianto di principi e forme si devono aggiungere
altri due temi che contribuiscono a determinare la ricchezza degli interni: la luce e il gioco delle trasparenze. Tutto il
progetto in realtà sembra essere influenzato dalla luce, anche
se l‘aspetto ancora disadorno delle piazze porta a scoprirlo
solo dopo aver oltrepassato la soglia tra esterno ed interno.
Le piazze dovrebbero distinguersi per il peculiare rapporto
che ognuna di esse intrattiene con la luce. Come ha notato
Nicolin «la prima, alla quota piu bassa, ha le ombre geometriche delle forme in cemento che si staccheranno sul pavimento assolato; nella seconda i recinti di terra consentiranno
ad una piantagione di lecci di formare l‘ombra vegetale di un
pergolato; la terza, alla quota piu alta, sarà arricchita dalle riflessioni di uno specchio d‘acqua». Quest‘ultima immagine
richiama temi cari sia alla progettazione islamica sia a quella
di Mies van der Rohe.
Proprio Mies, maestro delle trasparenze, può offrire una ulteriore chiave di lettura per svelare le qualità degli interni.
L‘eco proveniente dalle cristalline composizioni del Maestro
del less is more, abile come pochi ad intersecare, con velature
e trasparenze, spazi interni ed esterni, agisce complementarmente a quella derivante dalla spazialità delle Carceri piranesiane o a quella, piu vicina e non meno suggestiva, dell‘Archivio Storico Comunale di Palermo di Giuseppe Damiani
Almeyda. La essenzialità dello skyline della sagoma esterna si
frantuma nelle infinite prospettive offerte dalla sezione, sottolineate e moltiplicate dalla luminosità che si diffonde dai
lucernai. Ma alla sezione che taglia trasversalmente le insulae
non bisogna sacrificare quelle che dall‘interno guardano gli
horti conclusi recintati dai corpi della didattica e della ricerca
e dai lunghi spalti grigi. Questi spazi, tra interno ed esterno,
inquadrati dalle grandi vetrate miesiane, insieme alla qualità
della luce zenitale, sembrano recuperare, con tutte le differenze di scala, alcune basilari esperienze di Figini e Pollini,
dalla villa studio per un artista alla V Triennale di Milano
(1933), all‘Asilo Nido al Borgo Olivetti a Ivrea (1939-40).
Tutti episodi che rivivono a Palermo, risplendendo nella memoria, accesi da una reale e calda luce mediterranea.
La definizione del principio insediativo dei Dipa­rtimenti costituisce l‘indispensabile premessa per capire il radicamento
architettura-territorio del quartiere ZEN 2. Come la „fabbrica per studiare“ si relaziona al Viale delle Scienze COSI il
quartiere si fonda sul prolungamento, previsto dal Piano Regolatore Generale del 1962 e mai realizzato, di via Libertà.
Il rapportarsi alla continuazione dell‘asse concretizza una
prossimità fisica e spaziale con la città e, nello stesso tempo,
àncora il nuovo insediamento ad una geometria non casuale,
generata da una filiazione diretta del tracciato Oreto- Ma-
queda - Ruggero Settimo-Libertà che segna la planimetria di
Palermo da sud a nord.
Questa scelta potrebbe essere inclusa come la prima „negazione“ fra quelle enucleate nel primo paragrafo della relazione di progetto, „struttura dell‘immagine“. Negazione rispetto alla casualità con cui molti quartieri di edilizia economica
e popolare si ponevano rispetto al territorio e, negazione, nel
caso specifico, nei confronti dell‘ ingiustificata disposizione
planimetrica del primo nucleo del quartiere (ZEN 1) che
non stabilisce alcun tipo di relazione né con la trama piu minuta delle vicine borgate di Pallavicino, Partanna e Cardillo,
né con la struttura morfologica della città.
La matrice dell‘immagine del quartiere di Amoroso, Bisogni, Gregotti, Matsui e Purini, è la natura compatta della
città mediterranea. «Non tanto la dimensione empirica
dell‘insediamento murato medievale, difeso verso l‘esterno,
quanto piuttosto nell‘ accezione dello stretto rapporto tra
suddivisione agricola del terreno e costruito, tra il segno semplicissimo (del quadrato e del rettangolo) immediatamente
ricostruibile e la complessità della crescita interna». Questa
matrice morfologica spinge a leggere in maniera differente la
similitudine imposta dai documentari televisivi, fra le insulae,
a volte bruciate o abbandonate, del quartiere e alcuni luoghi
sfiniti e degradati del centro storico. Ma associare lo ZEN 2
ad un centro storico spettrale fa cogliere, indipendentemente
dalla volontà dei giornalisti, ed inizialmente soltanto per la
relazione esistente fra immagini negative, una verità di fondo
che evidenzia un‘analogia fra il quartiere di edilizia popolare
e il nucleo storico palermitano.
L‘affinità, apparentemente indimostrabile, esiste e si di svela
con forza, se non ci si accontenta, allo ZEN 2, di passeggiare all‘ esterno, lungo i muri perimetrali delle insulae e, nel
centro storico, lungo i due assi, Maqueda e corso Vittorio
Emanuele1 che, incrociandosi nel 1600, hanno diviso la città
murata in quattro mandamenti.
li tessuto interno di ogni mandamento, formato da spazi nati
da necessità concrete, vicoli, piccole e grandi corti, in cui si
stabiliva e si rafforzava la solidarietà fra gli uomini, è come
racchiuso da una città ufficiale, la cosiddetta quinta città,
di cui ha scritto Edoardo Caracciolo, che ha il suo tesoro
piu prezioso nella piazza Vigliena. A questa „ufficialità“ del
centro storico corrisponde, nel quartiere ZEN 2, la chiarezza di impianto e alla vitalità dei mandamenti va associata la
„domesticità“ degli interni pubblici delle insulae. Per capire
queste analogie bisogna superare le prove comparative proposte da Pasquale Lovero ed entrare in un‘ insula, occupata
dai regolari assegnatari, per verificare come all‘austera geometria dell‘impianto planimetrico faccia da contraltare una vita
interna tutt‘ altro che rarefatta e formale.
Solo COSI è possibile scoprire le peculiarità di un progetto,
attento alle qualità private dell‘ alloggio ma soprattutto proteso ad affermare l‘importanza della vita in comune che viene
esaltata utilizzando come riferimento quel tessuto minuto di
vie e di cortili che sono l‘essenza della città murata.
Si tratta di un progetto per certi versi rivoluzionario rispetto alle altre proposte presentate al concorso bandito dallo
IACP di Palermo nel 1970 ma, pur sempre, di un frutto
ancora acerbo che presenta qualche comprensibile asprezza.
Fra queste, comunque, sarebbe un grave errore includere la
ripresa dell‘isolato come una eredità ottocentesca accolta per
moda e subita con passività.
L‘isolato nello ZEN 2 rinasce dopo l‘attento studio delle acute interpretazioni fatte in Olanda da Brinkman allo
Spangen, da Oud nel Tusschendijken, COSI come la strada,
riproposta in tutte le sue accezioni, viene riscoperta dopo il
ventaglio di possibilità mostrato ed offerto da Le Corbusier
nelle sue estenuanti ricerche sull‘ abitare. I riferimenti moderni, tuttavia, possono spiegare parte del progetto e mai
potranno costruire l‘intero retroterra culturale che si basa su
una conoscenza profonda degli spazi storici della città che
sono stati letti, interpretati, e nello stesso tempo riproposti
con distanza critica.
F atte queste brevi considerazioni sulle misconosciute qualità dell‘insediamento di edilizia economica e popolare, è
obbligatorio riferirsi all‘ attuale condizione della Piana dei
Colli. Oggi, a venticinque anni di distanza dal progetto originario, le scelte del gruppo Gregotti si stagliano con chiarezza
e la forte caratterizzazione formale, piu che isolarlo, consente
al quartiere di conferire identità ad un insieme urbanizzato
che va ben oltre i suoi limiti fisici. La sigla ZEN infatti può
indicare, in senso metonimico, l‘intera parte nord della Piana
che, COSI, si identifica con l‘ultimo frammento di città che
si contrappone alla frantumazione del territorio provocata
dalla serie infinita di tristissimi recinti privati.
ZEN 2 e Dipartimenti, basati su un rapporto intenso con il
luogo e con la storia della città, si propongono, a loro volta,
come indizi di due itinerari alternativi.
Lo ZEN 2 può essere utilizzato come termine di paragone
implicito con cui confrontare, a posteriori, due prece denti
quartieri palermitani di edilizia residenziale pubblica, entrambi della metà degli anni 50, ma programmaticamente
opposti nella loro formulazione progettuale: Borgo Ulivia e
Borgo Nuovo e il successivo Complesso di edilizia residenziale pubblica ed attrezzature sociali di Villabate.
I Dipartimenti, invece, possono essere visti come la prima
tappa del lavoro di Gino Pollini a Palermo, che, dopo Parco
d‘Orléans, si è impegnato, tra il 1974 e il 1978, a coordinare
la parziale ristrutturazione interna della Facoltà di Architettura di via Maqueda.
31
Ristsrutturazione della Facoltà di Architettura
via Maqueda n. 175
Architekt:
Gino Pollini
Il progetto coordinato da Gino Pollini, nonostante le difficoltà realizzative esposte da Marcello Panzarella in una prima
presentazione dei lavori33, concretizza la scelta di stabilire un
rapporto organico tra alcuni nuovi collegamenti verticali, il
rifacimento di alcune aule e il preesistente e pluristratificato
complesso architettonico, in altre parole tra «l‘insieme di
edifici» che costituisce la Facoltà e le esigenze che quest‘ultima comporta.
«La natura del complesso è particolare: si tratta di un‘ aggregazione di edifici tra via Maqueda, via Calderai, vicolo Bellini e piazza Bellini, una stratificazione frutto di piu di duemila anni di storia, a ridosso delle mura puniche e del letto
coperto del fiume Kemonia. Ne fanno parte un convento seisettecentesco, resti della cosiddetta casa Martorana, di epoca
normanna, e addi­zioni ottocentesche, anche se non mancano
testimonian­ze e reperti di numerose altre epoche storiche.
A questa natura particolare, somma di tante stratifi­cazioni,
si aggiunge il progetto contemporaneo guidato da uno dei
maestri del razionalismo italiano, che coordina e progetta
direttamente alcuni episodi della ristrutturazione.
Fra i momenti piu significativi vanno ricordati l‘in­tervento
dello stesso Pollini nell‘ Aula Magna, in collaborazione con
Tilde Marra e Giuseppe Laudicina, quel­lo di Anna Maria
Fundarò, e le due scale, una di Pas­quale Culotta e Giuseppe Leone, l‘altra dello stesso Po­llini, che rispondono al tema
32
Palermo
funzionale valorizzando le relazioni fra i livelli diversi.
Pasquale Culotta, nel suo scritto sull‘ esperienza di Pollini
a Palermo, coglie, soprattutto nella trasformazio­ne dell‘aula
magna, quella tensione poetica che ha anima­to tutta la ricerca architettonica del maestro razionalista.
Per Culotta infatti, « ... il caposaldo dell‘intervento di Pollini
rimane l‘architettura dell‘ aula magna. Trasfor­ma un‘ anonima, grande aula rettangolare, controsoffitta­ta con un incannucciato piano, con una sola porta di accesso su una manica
di corridoio, in un luogo che rias­sume progettualmente tutti
i temi spaziali e architettoni­ci esplorati e contenuti nell‘intero organismo. Pollini scopre che il controsoffitto nasconde
un tetto a due falde a capriate di legno e decide di progettare
l‘aula magna, mettendo a nudo il tetto di legno e aprendo
una parete con una grande finestra a nastro, per leggere la
complessità dei percorsi esterni, e di modo che dalle quote
piu alte si possa avere una vista sull‘ aula magna e viceversa.
Nella copertura Pollini opera una interessante invenzione.
Fa disporre un tavolato a doghe per nascon­dere l‘orditura
secondaria del tetto, tessendolo secondo la direzione del
puntone della capriata e fa dipingere con il carbolineum con tinta che vira sul nero - sia il tavolato sia le capriate. In
questo dettaglio, in cui colgo la chiave della sottile procedura
progettuale seguita da Pollini, il maestro fa emergere la sua
ricerca poetica della forma, alta espressione della costruzione
dello spa­zio, non vincolata dalla natura dei materiali o di una
scontata tecnologia ma resa significativa dal „senso“ conferitole dall‘ autore dell‘ opera».
In sintonia con la tensione poetica espressa da Pollini, è l‘intervento di Anna Maria Fundarò che ha ricomposto alcuni
degli spazi didattici intorno all‘ Aula Magna. Il progetto,
in particolar modo, ha saputo risol­vere con eleganza molti
dei problemi posti dalla difficile coesistenza, in un volume
articolato, fra aule e spazi di distribuzione. Nel disegno dei
tompagni, che dividono le une dagli altri, l‘architetto Fundarò è riuscita, con calibrati tagli, a preservare l‘intimità della
didattica e ad illuminare il percorso che si avvolge alle spalle
dell‘ Aula Magna. Questo duplice obiettivo è stato raggiunto
costruendo anche alcuni interessanti squarci prospettici in
cui confluiscono entrambi gli ambienti.
Culotta e Leone utilizzano il tema della scala per ridefinire, in
pianta, la geometria del vestibolo d‘ingres­so successivo al cortile della casa Martorana e, al piano d‘arrivo, per organizzare
lo spazio che divide l‘ingresso posteriore dell‘ Aula Magna
da quello dell‘Istituto di Disegno Industriale. La chiarezza
della soluzione plani­metrica viene confermata dalla sezione
verticale in cui la scala ritaglia uno spazio a doppia altezza
all‘interno del quale interagiscono gli sguardi di chi proviene
dalle rampe con quelli di chi sosta nella zona di arrivo e di
partenza della scala.
La scala di Pollini, a cui si accede da uno spazio che precede il
cortile Martorana, è, per gli studenti, pur nella sua semplicità, un punto di riferimento certo per orientarsi nella ricchezza spaziale e di percorsi che caratterizza la Facoltà di via Maqueda. L‘immagine della scala ritagliata all‘interno dell‘arco
si staglia nella memoria di ogni allievo che scopre poi, nel
corso degli anni, che il suo punto di riferimento è una lezione di architettura, Poche ma incisive scelte caratterizzano il
progetto che spiega, forse piu di intere architetture, come la
ricerca della semplicità sia un percorso arduo che solo illindore del risultato finale spinge a conside­rare facile.
L‘intradosso che segue l‘andamento dei gradini, il fluido tubo
metallico che accompagna nella sua salita ogni piccolo movimento della scala, le aperture che re1azionano, prospetticamente, il percorso con il prossi­mo e verdeggiante cortile
delle Palme, sono alcune delle caratteristiche dell‘intervento
di Pollini, che ha il suo vertice nel nuovo valore figurativo
attribuito all‘arco. Questo viene trasformato da necessario
elemento strut­turale della vecchia macchina architettonica a
indispen­sabile strumento formale del nuovo progetto.
Il suo profilo viene esaltato dalla presenza di alcuni gradini
che il progettista „spinge“ al suo interno denun­ciando, dal
confronto degli spessori, come la leggerezza dell‘intervento
moderno possa convivere con la possente dimensione della
vecchia struttura.
33
Edificio Sges
via Marchese di Villabianca n. 121
Architekten:
Giuseppe Samonà, Alberto Samonà, Giuseppina Marcialis
Samonà
Da quest‘ultimo intervento di edilizia residenziale pubblica
prende l‘avvio la riflessione sull‘ attività di Giuseppe Samonà
a Palermo.
Dalla villa Scimemi (1950), che precede l‘espe­rienza di Borgo Ulivia, al Piano Programma (1978-81) si può tracciare,
all‘ interno dell‘ itinerario principale, un percorso speciale
compiuto da uno dei protagonisti del­l‘architettura italiana
del XX secolo.
Tra la lezione wrigthiana recepita ed espressa con sicurezza
nella villa a Mondello e le proposte del Piano Programma dei
primi anni Ottanta, il Direttore dello IUAV realizza, in collaborazione con Alberto Samonà e con Giuseppina Marcialis Samonà, una delle architettu­re piu significative della sua
carriera: la sede della SGES, oggi ENEL, in via Marchese di
Villabianca.
Per comprendere a fondo le ragioni di quest‘ope­ra, il cui primo progetto è del 1953, il secondo del 1955, mentre l‘esecuzione va dal 1961 al 1963, si dovrebbero, anche se solo en
passant, ricordare alcuni di quei progetti elaborati e realizzati
tra i primi anni 50 e gli anni 60, a distanza di poco tempo
l‘uno dall‘altro.
L‘Ospedale di Bari (1948-53), la sede dell‘ INAIL a San
Simeone a Venezia (1952-56), la villa Scimemi (1950­54),
gli isolati della Palazzata di Messina (VI-1956, IV­1958,
34
Palermo
IX-1959), l‘insieme delle esperienze dei quartieri di edilizia
economica e popolare realizzati tra il 1951 e il 1959, sia in
Veneto che in Sicilia, dimostrano come le diverse espressioni formali siano sempre in relazione al piu coeren­te rispetto
delle caratteristiche urbane. Queste, ad esempio, vengono
rimarcate nell‘edificio della SGES di Palermo, come in molti isolati della Palazzata e nella sede INAIL a San Simeone,
quando Samonà, dall‘incredibile miscela di rimandi che vanno da Wright a Mies, da Terragni a Le Corbusier, nel «suo
„comporre“ che procede assoggettan­do frammenti, fa prevalere la lezione di Perret. In particolar modo, la sede della
SGES di Palermo stabilisce con l‘INAIL di Venezia dei legami molto forti che vanno indagati sia sul piano linguistico
che su quello urbanistico.
Infatti le sedi della SGES e dell‘INAIL possono essere utilizzate sia da un punto di vista compositivo, per esemplificare
una interpretazione del principio della verità strutturale, promossa da Viollet le Duc, sia da quello urbano, per capire che
importanza avesse sce­gliere come riferimento privilegiato,
tra la fine degli anni 40 e i primi anni 50, il linguaggio di Auguste Perret. Questo implicava una attenta valutazione degli
elementi dello spazio urbano tradizionale (strada, piaz­za,
lotto, isolato, monumento) riproposti, dal maestro francese,
nella ricostruzione di Le Havre.
Ad emergere, quindi, al di là delle infinite scompo­sizioni
linguistiche presenti in qualsiasi opera di Giusep­pe Samonà,
sono le motivazioni urbanistiche che indiriz­zano le scelte formali dell‘ architettura. Se quindi per le partiture verticali, per
il gioco tra il posizionamento del­l‘infisso e lo spessore della
struttura si possono recupera­re alcuni dei commenti fatti da
Vittorio Gregotti per l‘INAIL di Venezia e precedentemente
da Francesco Tentori per l‘isolato IX di Messina, edifici accomunati dal riferimento al poeta del abri souverain, a queste
let­ture bisogna aggiungere, per la sede SGES, un‘annota­zione
che tenga conto sia dell‘eleganza con cui Samonà procede fra
i suoi frammenti, sia del complesso di rela­zioni che stabilisce
tra la sua architettura e la città.
Per l‘edificio di via Marchese di Villabianca, però, si sono
chiamati in causa molti dei cosiddetti Maestri del Movimento Moderno, facendo sorgere immediata una domanda: come
si può affermare che esiste una intima coerenza nella ricerca
di Samonà, che fa leva sulle moti­vazioni urbane, quando questi fa convivere nelle sue ar­chitetture linguaggi che derivano
da un retroterra cultu­rale diverso e che spesso approdano a
formulazioni urba­ne opposte?
Come si fa, in altre parole, a far convivere Le Havre con Broadacre City e queste con la provocatoria Ville Radieuse?
Tutto si spiega facendo emergere il modo in cui l‘architetto
palermitano aveva interpretato l‘ideologia dell‘ avanguardia
da cui derivavano molte delle proposte urbane che Samonà
non condivideva affatto.
Significativa e chiarificatrice, a questo proposito, è l‘interpretazione data da Tafuri sul particolare assorbimento da parte del Direttore dello IUAV della lezione di Le Corbusier.
«Non a caso, il Le Corbusier che inte­ressa Samonà in questi
anni (e anche dopo) non è l‘au­tore del Pian Obus per Algeri,
né l‘infaticabile polemi­sta, né colui che cerca nuovi ruoli per
il lavoro intellet­tuale‘ scontrandosi con le piu varie resistenze istituzio­nali. Nasce ora, si può dire, non tanto l‘ostilità,
quanto la piu totale estraneità di Samonà per ogni forma di
„avanguardia“. Il Le Corbusier su cui Samonà riflette, non
permettendosi di far trapelare ancora i frutti di tale difficile
assorbimento, è quello che si presenta, a sua volta, come erede del monumentalismo cubista: l‘inter­prete di una sintesi
formale „senza tempo“, metafisica, sospesa nella contemplazione del „miracolo“ dei propri astratti equilibri. Senza averne compiuta coscienza, Samonà stava compiendo una spietata critica dell‘ideo­logia dell‘avanguardia. Decantandone e
facendone pre­cipitare le valenze utopiche, egli la riduceva a
linguag­gio puro: vale a dire, dato il contesto in cui operava, a
sistema di segni svuotato di senso.
Allo stesso modo Samonà, fedele alla tradizione europea,
aveva rifiutato il modello urbano proposto dall‘ architettura
organica, pur apprezzandone, a livello architettonico, « ... la
forza di espressione e la capacità di rinnovamento».
Per le ragioni sopraesposte non sorprende, nel­l‘osservare il
prospetto della SGES su via Autonomia Siciliana, vedere
come il tema dei pilotìs, espressi con una forte matericità,
possano convivere sia con le stria­ture orizzontali del corposcala cilindrico sia con le perrettiane aperture verticali che
contraddistinguono tutto il volume. Ai segni derivanti dalle ricerche del vecchio continente si aggiunge, alla base del
corpo­scala, una finestra a losanga, matrice geometrica di
tante composizioni wrightiane, che contamina e corrode,
insieme ai piccoli scarti delle aperture orizzontali, il volume
cilindrico. Sempre questo prospetto consente a Samonà di
recuperare il tema della smaterializzazione del pian terreno,
argomento progettuale che si concre­tizza per la prima volta nel Palazzo postale al quartiere Appio a Roma del 1934 e
che viene espresso con mag­giore enfasi nell‘edificio ANAS,
sempre a Palermo, del 1965, ed in modo emblematico nella
proposta per la nuova sede degli uffici della Camera dei Deputati a Roma del 1967.
Nel prospetto su via De Cosmi, invece, vengono riletti alcuni passaggi di due fra le piu elitarie ricerche del XX secolo:
quella di Mies van der Rohe, nel volume che accoglie il pubblico, e quella di Giuseppe Terragni nel blocco che serra l‘angolo con la via Maggiore Toselli.
Quest‘ultimo, che sembra nato dalla reiterazione di una porzione di uno dei „cinque“ prospetti della Casa del Fascio a
Como, probabilmente quello su via M. Bianchi, si accosta
con eleganza all‘intelaiatura metallica dell‘ architettura miesiana.
Le velature del vetro cemento incorniciate dai telai in beton
brut, del corpo ad angolo tra la via Toselli e la via De Cosmi,
si propongono sia come sfondo di un ipotetico padiglione
del M.LT., che ritrova nella Magna Grecia il suo originale archetipo, sia come interpretazione del tema della trasparenza
caro all‘ artista del less is more e al piu importante architetto
italiano fra le due guerre.
„Contaminazioni e sovrapposizioni“: questi sem­brano essere in sintesi i soggetti compositivi esplorati da Samonà nella
sede della SGES, che, comunque, non dimentica in questo
suo „vagare tra i linguaggi della tra­dizione“ di commentare
la specifica condizione di con­testo. Infatti i volumi sottolineano con le loro altezze la diversa ampiezza delle strade e affrontano, in modo del tutto innovativo, il rapporto stabilito
tra il ventre del lotto e la strada.
Questa connessione non è piu mediata, sul filo della via Marchese di Villabianca, da un paramento oltre il quale scoprire,
come nel centro storico, la corte. Alla sorpresa implicita nella
tipologia storica i progetti­sti hanno preferito uno spazio che
si denunciasse subito, proponendo un piccolo giardino appartenente tanto all‘architettura quanto alla città. Tale scelta
riformula la soglia fra isolato e struttura urbana e trova una
risposta al diverso rapporto, sempre piu ottico e meno tattile,
tra uomo e architettura, che si stabilisce in un contesto profondamente diverso da quello del nucleo antico.
Il giardino, quindi, che si offre alla città senza restare racchiuso in una corte privata sembrerebbe riproporre il principio, tipico nella ricerca funzionalista, del rifiuto dell‘isolato
chiuso ma, in realtà, trova fonda­mento anche nella ripresa
della tradizione palermitana di fine Ottocento, che si era caratterizzata nel completa­re la via Libertà con due preziosi
giardini.
35
Banca Commerciale Italiana
via Mariano Stabile n. 152
Architekten:
BBPR (Gian Luigi Banfi, Ludovico Barbiano di Belgiojoso,
Enrico Peressutti, Ernesto Nathan Rogers
Coetanee delle opere di Samonà sono quelle realiz­zate dai
BBPR53 e quelle appartenenti al progettista palermitano
Leonardo Foderà.
Se per Giuseppe Samonà il richiamo, almeno in una fase della sua esperienza progettuale, a Perret è un dato certo, per descrivere l‘esperienza palermitana dei BBPR non è superfluo
dire che questa sembra essere tesa fra due poli apparentemente opposti: da una parte il „principio del rivestimento“, che
ha la sua prima formulazione nell‘ o­pera teorica e progettuale
di Gottfried Semper, dall‘ altra la sincerità strutturale derivata dalla lezione di Viollet le Due.
Iniziando dall‘edificio della Banca Commerciale Italiana
(1962-65) di via Mariano Stabil‘e si motiva il rimando al
Prinzip der Bekleidung perché quest‘edificio ricorda la poetica wagneriana della Plattenverkleidung, utilizzata dall‘architetto austriaco, con varie decli­nazioni, in numerose architetture.
Sulla facciata i leggerissimi aggetti segnano pro­gressivamente
la distinzione tra basamento e paramen­to; ed è proprio
questa parte a presentare i pannelli marmorei che lasciano
intravedere, nello spessore degli interstizi compresi tra lastra
e lastra, un piano di faccia­ta leggermente arretrato che costituisce il supporto, l‘ordito, su cui si disegna la trama.
36
Palermo
I piccoli scarti che distinguono la composizione sono frutto di una tensione che, seppur imbrigliata dal rispetto della
morfologia dell‘intero isolato, spinge verso l‘esterno. L‘avanzamento del prospetto, è un tema ricorrente nelle realizzazioni urbane dei BBPR, i cui casi piu significativi sono: l‘edificio per uffici e abitazioni tra piazza Statuto e corso Francia
a Torino (1959), e con ancor maggiore enfasi, la convessità
che caratterizza l‘e­dificio per uffici e sala d‘esposizione per la
Hispano Olivetti a Barcellona (1964).
In via Mariano Stabile il basamento è leggermente arretrato
rispetto al paramento ed include, oltre all‘in­gresso, un primo
ordine di finestre.
il passaggio tra interno ed esterno è definito spa­zialmente
da due pareti curve fascianti una breve rampa di scalini che
introduce il cliente in una vasta e lumino­sa sala rettangolare.
Sarebbe spropositato richiamare la Postparkasse ma l‘attenzione ai valori della superficie, tipica della Wagnerschule, è
testimoniata anche da altre scelte che caratterizzano la spazialità interna. Questa tensione figurativa è esaltata nella
parete concava della scala che collega, attraverso lo spazio
della grande sala, il piano seminterrato al primo piano, e nel
rivestimento floreale di Renato Guttuso (con il quale i BBPR
avevano già collaborato nel 1935 quando realizzarono la Sala
della Tecnica Sportiva) che cromaticamente, per contra· sto,
esalta la tonalità bianca del grande invaso a scala urbana.
Edificio del Giornale di Sicilia
via A. Lincoln n. 21
Architekten:
BBPR (Gian Luigi Banfi, Ludovico Barbiano di Belgiojoso,
Enrico Peressutti, Ernesto Nathan Rogers
Diverso, forse opposto, è il tema sviluppato nel complesso
edificio del Giornale di Sicilia di via Lin­coln55 (1966). Le
differenze vanno cercate al di là delle specificità funzionali
che possono distinguere due distinte progettazioni. Il Palazzo del Giornale di Sicilia, di fronte l‘Orto Botanico, a
pochi metri dalla Porta Reale e dal grande complesso della
Kalsa, si differenzia da tutte le altre architetture palermitane dei BBPR per­ché, piu che i temi compositivi legati alla
superficie, che accomunano la Banca e il successivo Palazzo
Amo­roso, si inserisce in quel filone di ricerca che ha la sua
origine nella casa in Rue Franklin n. 25 bis di August Perret.
In quest‘ultima per la prima volta si distinguo­no, in un edificio di abitazioni, gli elementi strutturali in cemento armato,
in realtà rivestiti da gres flamé, dai tompagni.
Ma gli interessanti ragionamenti sull‘impaginato compositivo non riescono a contenere una volumetria eccessiva rispetto
alle specifiche caratteristiche della morfologia urbana. Quindi, pur essendo interessante il modo in cui il gruppo milanese
declina il tema della „sincerità strutturale“, modulando la distinzione fra parte basamentale, di pertinenza del Giornale,
e quella superiore destinata ad abitazioni, si avverte, in modo
ineludibile, il prepotente fuori scala nei confronti della piu
minuta volumetria di Porta Reale. La parte basa­mentale, definita elegantemente da otto paraste, indivi­dua una relazione
Palermo
con il sistema della porta ma, il volu­me sovrastante, che si
sviluppa a partire da un piano interamente loggiato, contraddice evidentemente il ten­tativo di dialogo. Questa soluzione,
l‘ultima in ordine cronologico, sostituisce le tre precedenti
le quali dimostrano il difficile iter incontrato dai progettisti
nello sta­bilire una compatibilità interna al volume fra funzioni assai diverse, ed una esterna tra il nuovo edificio ed un
intorno ricco di importanti preesistenze storiche, La proposta realizzata riesce, rispetto alle precedenti, ad acquietare lo
stridore fra le funzioni ma non a smorzare quello venutosi a
creare tra architettura nuova e città storica,
37
Palazzo Archimede
via Ricasoli n. 59, via Libertà n. 33
Architekten:
Leonardo Foderà, Andrea Nonis
Per l‘edificio di via Ricasoli, alla spazialità „Neo­Liberty“ dell‘
androne si accompagna un uso morfolo­gicamente diverso
del telaio strutturale. In questa archi­tettura, di cui si può proporre una analogia con la sezio­ne trasversale dell‘edificio del
1955 per uffici e abitazio­ni tra piazza Statuto e corso Francia
a Torino dello stu­dio BBPR, sono i soli elementi verticali ad
emergere e a definire le partiture di facciata dopo aver accompagnato un leggero sbalzo in avanti a partire dal primo piano.
Questa architettura va comunque letta complementar­mente
all‘ edificio Miraglia che, continuandone il fronte su via Libertà, definisce l‘angolo con la via Archimede. Le differenze
funzionali fra i due edifici (quello con ingresso in via Ricasoli
prevalentemente destinato ad abitazioni, a parte la fascia del
piano terreno e dell‘ am­mezzato, e quello Miraglia esclusivamente adibito ad uso commerciale e ad uffici) vengono esaltate per costruire all‘interno del medesimo fronte due volumi
distinti e, nello stesso tempo, profondamente relazionati.
Si potrebbe sostenere che buona parte del progetto stia nella
soluzione di attacco fra le due architetture, dove le scansioni verticali delle aperture delle abitazioni lasciano spazio a
delle logge leggermente arretrate che si saldano al volume
interamente dedicato ad attività com­merciale e ad uffici.
Quest‘ultimo, nato come blocco chiuso monocromatico, si
stacca dall‘ edificio adiacente oltre che per differenza cromatica, soprattutto per l‘uso di nastri continui di finestre che
38
Palermo
disegnano l‘intero para­mento. Tale parte, prevalente nell‘
estensione dei pro­spetti, è nettamente distinta dal coronamento caratteriz­zato da una lastra di copertura leggermente
aggettante, e dal basamento staccato dal paramento da una
opportu­na risega, oggi malauguratamente coperta da una
troppo ampia, e quindi sbagliata, insegna pubblicitaria.
La scelta finale ha in parte compromesso la volon­tà di Foderà e Nonis, evidente in una prospettiva d‘in­sieme, tendente
a sottolineare l‘unità complessiva delle due parti mediante
un‘unica lastra di coronamento. Dal disegno, infatti, si evince
che lo sbalzo della copertura dell‘edificio commerciale era accompagnato, sullo stes­so filo, da una identica sporgenza che
concludeva il volume delle abitazioni.
Il comune limite nel coronamento, interrotto sol­tanto nella
porzione delle logge, rinsaldava la difficile dualità compositiva.
Edificio Per Abitazioni
Corso Pisani
Architekten:
Culotta e Leone
Dalla Pretura, proseguendo in direzione di piazza Indipendenza, si può proporre una sosta in corso Pisani dove è stato
realizzato un edificio dalla grande forza volumetrica, progettato da Pasquale Culotta e Giuseppe Leone, con Salvatore Incorpora, Nicola Mineo, Sergio Verace, Attilio Milan
e Giuseppe Mangano, per incarico dell‘ IACP di Palermo.
Quest‘ architettura «la cui ese­cuzione non affidata ai progettisti, tradisce alcuni impor­tanti „materiali“ organizzativi
del linguaggio architettoni­co, come il disegno degli infissi,
il monocromatismo del­l‘intero impianto e la scelta del colore (un tenue e lumi­noso celeste di progetto sostituito da
un colore ocra) consente di approfondire i ragionamenti sui
rapporti fra architettura e città. 1: edificio alto sette piani,
contenente 26 alloggi per piano, permette di esaminare due
temi fon­damentali: il primo afferente al modo in cui si può
inter­pretare il nuovo ai margini della città storica; il secondo
connesso allo svolgimento del tema dell‘ abitare teso oltre i
problemi posti dalla ricerca sull‘ alloggio.
Questi due argomenti si coniugano con il rispetto per la
struttura storica che viene esplicitato dalla sottoli­neatura del
tracciato viario potenziato dal corpo unico, lungo 234 metri,
e si snoda «descrivendo e sottolinean­do le diverse situazioni
spaziali che lo fronteggiano: l‘andamento sinuoso del tracciato viario di corso Pisani, l‘angolo retto tra via Onorato e
Palermo
Corso Pisani. Insie­me alla chiarezza della traccia planimetrica e alla effica­cia del volume, il nuovo edificio segna la fine
dell‘isola­mento del quartiere Porrazzi dall‘intorno. Prima
della realizzazione della nuova architettura il sistema del Porrazzi viveva al di sopra di un alto zoccolo che di fatto ne impediva l‘integrazione, in termini di relazioni fisiche e sociali,
con il resto della città. Il grande edifi­cio, quindi, se da una
parte marca corso Pisani come strada corridoio, dall‘ altra è
promotore di un attento progetto di suolo che raccorda le
quote dell‘importante vena urbana con il resto del quartiere.
I passaggi lasciati liberi al pian terreno, su corso Pisani, sono i
segni tangi­bili di questa integrazione decisamente piti spinta
nel progetto che nella realizzazione.
39
Bagheria
Villa Palagonia
(1715)
Bagheria
Die Villa Palagonia, seit 1715 er­baut von Ferdinando Gravina, principe di Palagonia, durch den Dominikaner-Ar­
chitekten Tommaso Maria Napoli, ist wohl die bekannteste
der Villen von Pala­gonia. Hier ist in einer grossen axialen
Gesamtanlage alles gleichsam in Schwingung versetzt: die
das Herrenhaus, das Casino, umgebenden Gartenmauern
mit den Ne­bengebäuden ebenso wie das Hauptge­bäude
selbst. Konvex vorschwingend ist die Eingangsfront zur
Bergseite; zwei schräggestellte Flügelbauten flankieren die
konkave Mitte der Gartenseite, in welche die mehrfach umbrechende, doppelläufige Aussen- und Freitreppe in den piano nobile hinaufführt; sie ist in fast al­len Villen um Palermo
das entscheidende, der gesellschaftlichen Selbstdarstellung
dienende Wirkungselement und erlebte zahlreiche, immer
neue Lösungen. Schon die Reisenden des 18. ]h., unter ihnen zu· mal auch Goethe (1787, in seiner „Italieni­schen Reise“), haben die Villa Palagonia mit herber Kritik bedacht,
und zwar kaum deren architektonische Anlage, sondern die
zahlreichen Steinskulpturen, welche die den Hauptbau umgebenden Mauern und Portale bekrönen und ihr Entstehen
erst dem Enkel des Erbauers verdanken. Es ist in der Tat ein
ganzes Heer von menschlichen und tierischen Phantasiegebilden, Ungeheuern, ja Mon­strositäten, die allem Gewohnten und erst recht einem klassischen Geschmack zu­wider
sein mussten
41
Villa Valguarnera
(1914)
Die Villa Valguamera, 1714 durch den Architekten Tommaso M. Napoli be­gonnen für die principessa Anna Valguar­
nera, ist noch heute ausgezeichnet durch die relativ gute Erhaltung des gesamten Baukomplexes und der ausgedehnten
Gartenanlagen. Das Casino erreicht man auch hier über lange mauerbegrenzte Wege mit Toren, zu den Seiten die Gärten
abgesondert lassend. Man steht dann vor der Fassade, deren
breiter Mittelteil kon­kav zurückschwingend die doppelläufige Freitreppe aufnimmt, festlich bekrönt durch das Giebeldreieck mit seinem pla­stischen Schmuck (Ende 18. Jh.), in
der bedeutenden Gesamtwirkung gesteigert durch den querovalen Vorplatz, den die niedrigen Flügelbauten umgrenzen.
Die Rückseite des Hauses präsentiert eine vor­springende
Terrasse mit Blick auf Küste und Meer, zugänglich im piano
nobile durch einen querovalen mittleren Festsaal.
42
Bagheria
Villa Cattolica
(1736)
Bagheria
Die Villa Cattolica [27], im ersten Jahr­zehnt des 18. Jh. von
Francesco Bonanni, principe di Cattolica, erbaut, stellt sich
dar als ein kompakter, fast quadratischer Bau­block in erhöhter Lage, seine Dominanz über die Nebengebäude durch
die unge­wöhnliche Dreigeschossigkeit noch stei­gernd. Die
Mitte der Vorder- und der Rückseite sind kurvig einwärts
geschwun­gen; an der Front fügt sich die doppelläufige Freitreppe dieser Kurve ein, in den axial betonten Eingang des
piano nobile führend. Die Anlage ist erst vollständig mit
den sie rings umgebenden, dienend untergeordneten Nebengebäuden, die das Herrenhaus in eine zentrale Grundrissordnung einfügen von zwei senkrecht sich durchkreuzenden Achsen mit halbkreis­förmigen Endungen über einem
grossen Quadrat mit geknickten Ecken, über de­nen das
fortifikatorische Element von Ba­stionen mit Zinnenkranz
anklingt. - Seit 1974 ist die Villa Sitz der städtischen „Gal­
leria d‘arte moderna“, deren Grundstock eine grosszügige
Schenkung des aus Bagheria stammenden Malers Renato
Guttuso bildet.
43
Villa Cuto
Sulla fondazione della villa non si hanno notizie certe, ma
per impianto e caratteri stilistici può essere datata tra la fine
del XVII e gli inizi del XVIII secolo. Si tratta probabilmente
dello stesso edificio appartenuto in origine al principe Baldassarre Naselli di Aragona, come sembrerebbero dimostrare
i busti leonini che decorano i timpani delle finestre e fiancheggiano uno dei portali interni della villa, motivo questo
presente anche nello stemma dei Naselli. È possibile inoltre
riscontrare qualche analogia tra questa villa e il palazzo baronale costruito per gli Aragona, intorno allo stesso periodo,
entrambi caratterizzati dall‘uso compatto e serrato dei volumi e dal loro prevalente slancio verticale. Soltanto nel primo
Ottocento, la proprietà sarebbe stata acquistata dalla famiglia Filangeri principi di Cutò, il cui monogramma è visibile
nella raggiera in ferro battuto che decora il portale esterno,
per poi passare, come lascito ereditario, ai Tasca di Cutò.
Nella staticità dell‘impianto e nell‘uso di volumi puri, simmetricamente disposti intorno alla corte, oltre che nell‘uniformità della cortina muraria che avvolge la fabbrica, è rintracciabile ancora un‘impo­stazione manieristica, assimilabile più
ai palazzi cittadini che non alle contemporanee residenze di
cam­pagna. Di queste, manca inoltre la graduale mediazione
fra natura e architettura, mantenute in questo caso come due
entità autonome.
L‘edificio si chiude infatti intorno ad una ridottissima corte quadrangolare, schermata sul quarto lato da un possente
muro di cinta, percorribile in quota. Questo è scandito
all‘esterno da lesene binate che sostengono la cornice di coro44
Bagheria
namento e tra le quali si inseriscono l‘arco del portale, lungo
l‘asse lon­gitudinale del palazzo, e due nicchie laterali. Il loro
profilo è marcato da mostre sporgenti in pietra da taglio, che
risaltano scure sul fondo chiaro dell ‚intonaco, come avviene
in tutte le altre aperture. Due statue femminili sono inoltre
accolte nelle nicchie, le quali rappresentano uno dei pochissimi ornati di gusto settecentesco presenti nella villa.
Al piano terra, il corpo principale è attraversato trasversalmente da una galleria rettilinea, inquadrata sui due fronti da
archi a pieno centro, che permetteva la diretta comunicazione tra la corte e l‘area del giardino, estesa davanti alla villa.
Proprio dall‘interno della galleria si accede al ricco scalone di
marmo rosso, con rampe doppie a tenaglia, le quali si appoggiano prima alle due ali della fabbrica per ricon­giungersi poi
al centro, nell‘ ampio ballatoio di servizio al piano nobile.
È anche questa una struttura molto singolare per una residenza estiva, in quanto ripropone un modello di scalone di
facciata coperto, più comunemente utilizzato nei palazzi di
città. Esso occupa l‘intera larghezza della corte, ma non è
da questa visibile perché occultato da una cortina muraria,
scandita da un ordine gigante di lesene. Queste inquadrano
i cinque archi aperti in corrispondenza del piano nobile, per
essere poi riprese in alto sino alla cornice di coronamento
del fronte. L‘arco centrale è inoltre servito da un balcone
che sporge all‘interno della corte sopra tre grosse mensole di
tufo scolpite, motivo ripro­posto anche nei balconi dei fronti
esterni.
Assai interessante è la distribuzione degli ambienti nei due
piani su cui si eleva l‘intero edificio perché, grazie alla galleria, al piano terra, e all‘ampio vestibilo fruibile dallo scalone,
viene qui proposto un esempio anche se parziale, al piano nobile di „appartment double“. Attraverso il vestibolo si accede
infatti al grande salone centrale, che prospetta esclusivamente sul fronte principale, e a due appartamenti laterali, le cui
stanze si distribuiscono in enfilades lungo le ali. Fra cui, sono
quindi contenuti sia il corpo scala che il salone ed il vestibolo
del piano nobile, presentando, tra l‘altro, questi ultimi due, la
stessa estensione planimetrica.
Proprio al di sopra di questo blocco centrale è stata realizzata, in epoca posteriore, un‘ altana. Essa è aperta da una serie
continua di archi a tutto sesto su pilastri, ed è coronata da
un muro d‘attico dal quale emerge il tetto a quattro falde. Le
pile che lo scandiscono proseguono in alto, oltre la cornice, il
ritmo dettato dalle lesene sovrapposte ai pilastri inferiori.
La loggia è accessibile, attraverso una scala esterna, dalla terrazza ricavata sul tetto dell‘edificio, e di conseguenza, nella
parete di fondo della corte, è stato sostituito il coronamento. Il muro d‘attico sormontato da vasi di pietra e la cornice
sporgente, che corrono lungo tutto il perimetro della villa,
si interrompono per fare qui posto ad una tipica balaustra
settecentesca a colonnine e pile. La struttura dell‘ altana si
differenzia dal loggiato inferiòre sia per i materiali utilizzati,
sia per il mancato salto cromatico tra le cortine murarie e gli
elementi decorativi, sia per la carente modulazione plastica
delle masse. Queste caratteristiche permettono quindi di
considerarla con sicurezza come un‘aggiunta effettuata in
epoca più recente.
I piani di facciata presentano una duplice scansione verticale:
la prima è affidata a semplici fasce d‘intonaco che circondano
i pannelli, entro i quali si distribuiscono le aperture; la seconda, ad un ordine di paraste, realizzate in blocchi di tufo,
che si sovrappongono a quelle solo sul fronte principale, e
marcano gli spigoli della fabbrica. Questi sono arrotondati in
corrispondenza del piano terra, sino alla sottile fascia marcapiano che lo delimita, così da conferire maggiore robustezza
all‘intera struttura.
Il fronte principale, quello rivolto in origine al giardino, è
quindi suddiviso in cinque partiti. In ognuno di essi si aprono un arco a pieno centro, al piano terra, che porta in chiave
un grosso blocco di tufo, e un balcone, al piano nobile, oltre
il quale una cornice ellittica simula le finestre di un ammezzato. I vani dei balconi sono circondati da mostre di pietra e
sormontati da comici mistilinee, entro la cui concavità sono
contenuti i busti leonini. Essi si appoggiano a mensole ornate da dentelli, che sporgono al centro dall‘architrave. Solo
il vano centrale si differenzia per l‘uso di un timpano triangolare, portato più in alto dal prolungamento delle mostre
verticali.
Anche i fronti laterali sono divisi in cinque settori, di cui
il più interno contiene qui tre ordini di aperture. Mentre
al piano nobile è riproposto lo stesso motivo del prospetto
principale, il piano terra si apre con finestre, circondate sempre da mostre di pietra e concluse in alto da archi ribassati. Il
tema dell‘ oculo ellittico viene raddoppiato, per disporsi in
alto tangenzialmente alla cornice e sotto le finestre del piano
terra, con l‘asse maggiore orizzontale.
Un‘analoga distribuzione si ha nelle facciate di testa delle due
ali, dove vengono soltanto eliminati i balconi a petto d‘oca,
ma le ampie finestre conservano lo stesso apparato decorativo.
Nessuna traccia rimane infine del giardino, la cui area è oggi
occupata dalla stazione ferroviaria di Bagheria. Esso presentava una flora organizzata in parterres regolari, bordati da
siepi e attraversati da viali rettilinei, paralleli ai fronti della
villa. Filari di cipressi o pergolati dovevano inoltre arricchire
l‘impianto. (N. D.)·
45
Villa Villarosa
(1766)
Sita a Bagheria alle falde del Monte Giancaldo, circondata
oggi da costruzioni che ne occultano persino da vicino la
vista, la villa Notabartolo di Villarosa non rientra tipologicamente fra le ville barocche del bagherese, pur essendo
coeva alle stesse. L‘impostazione chiaramente razionalistica
(che rimanda al Peti t Trianon, a Versailles, di J. A. Gabriel,
1762-68) ha creato non pochi problemi circa la sua esatta datazione, spesso quasi aprioristicamente collocata nell‘ultimo
decennio del secolo XVIII. Più recenti ricerche d‘archivio
hanno accertato che l‘edificazione è avvenuta nel quadriennio 1763-66, e che al 1790-92 sarebbero da ascrivere, invece,
le opere di restauro e di sistemazione del complesso. Circa la
realizzazione è accreditata l‘ipotesi che vi abbia preso parte
l‘architetto G.Venanzio Marvuglia (autore anche del palazzo
Notabartolo di Villarosa, a Palermo) pur non potendo se ne
documentare i rapporti con la famiglia, per la costruzione
della casina, se non dal 1766.
Il blocco parallelepipedo, impostato su un‘ ampia terrazza
balaustrata, con portico ottastilo sul fronte principale, che
occupa le due elevazioni di cui la fabbrica è costituita, ha alle
sue spalle un giardino recinto di forma rettangolare. L‘impianto della villa, simmetrico rispetto al suo asse trasversale,
è orga­nizzato secondo una sequenza di spazi di rappresentanza (portico d‘ingresso, salone rettangolare da ballo a doppia
altezza, col lato lungo parallelo al piano di facciata, sala quadrata comunicante col fronte posteriore) intercomunicanti e
di disimpegno per gli ambienti di residenza ai due lati. Scale
interne, ricavate in appositi vani, mettono in comunicazio46
Bagheria
ne il piano terra con il piano superiore ed il piano cantinato
(presenza, quest‘ultima atipica, che rimanda da vicino, tipologicamente, alle dimore urbane).
Il prospetto principale è informato dalla presenza del portico
con colonne corinzie scanalate e capitelli finemente scolpiti,
affiancato ai due lati da partiti architettonici con ampie finestre e mostre e timpani di disegno classico, al piano terra, e
finestre di forma quadrata ornate da doppie comici; partiti
che ritmano allo stesso modo i prospetti laterali. Il prospetto
posteriore, in pietra tufacea non intonacata, articolato anch‘
esso dal medesimo partito, è inquadrato al centro, ove al
posto della finestra si trova una porta-finestra, da parastrea
bugne lisce poste altresì a segnare tutti i cantonali della fabbrica. Il cornicione continuo aggettante è sormontato, in
corrispondenza del portico, da un muretto d‘attico balaustrato; in corrispondenza del partito centrale del prospetto
posteriore, da un timpano.
Del disegno del giardino, di impianto presumibilmente coevo alla costruzione della fabbrica, non rimane traccia se non
nei viali sinuosi ancora parzialmente riconoscibili tra la flora
alberata all‘interno del recinto. (G. L. T.)
Villa Larderia
(1745)
Bagheria
Il tipo a blocchi articolati ha nella villa Larderia l› esempio
maggiore, essendo impostata secondo una rigorosa legge geometrica di aggregazione che ha tre assi di simmetria inclinati
tra di loro di 120° in ognuno dei quali è ricavato un blocco rettangolare. Questi di saldano al centro con opportuni
raccordi in un blocco cilicndrico, che rappresenta il cuore
figurativo e distributivo della villa, la cui caratterizzationi al
piano nobile ha un taglio planimetrico per la prima volta dei
vani, che vanno dal circolare, all ovale, oltre che a quelli tradizionali quadrati e rettangolari.
Questo schema tipologico, basato su una rigorosa articolazione geometrica si affiancava a Bagheria a quello piu frequente, detto palazzo, e costituito dal blocco rettangolare,
dal quale fuoriesce lo scalone all aperto.
In generale le ville erano circondate da muri di cinta ed arevano a delimentarli corpi bassi, in base ad una scenografia
gerarchica delle fabbriche, che esaltava il feudalismo agricolo
ancora esistente.
47
Monreale
Duomo di Monreale
(1172-1189)
Geschichte
Wenige Kilometer von Palermo entfernt liegt der Dom von
Mon­reale, von dem gesagt ist, er sei der »schönste Tempel
der Welt«. Der Dom, gehörte zu einem grösseren, auf eine
königliche Stiftung zu­rückgehenden baulichen Ensemble,
das aus drei unterschiedlichen Teilen bestand: der Kirche,
dem Kloster und dem königlichen Pa­last.
Wir verdanken diese Anlage dem jüngsten Normannenkönig, Wilhelm H., »dem Guten«, der, nachdem er den Thron
bestiegen hatte und 1172 volljährig geworden war, mit dem
Bau der Kirche be­gann. Sie sollte mit dem Kloster und dem
Palast ein Ganzes bilden: Sumptibus propriis et laboribus
sub ipso principio nos tri regiminis aedi­ficatum (zu Beginn
unserer Herrschaft auf unsere Kosten und durch unsere Arbeit erbaut).
In diesem Satz aus einer Urkunde des Königs weist der Begriff regiminis auf die Regierung des Königs nach den Jahren der Regent­schaft hin. Die extrem kurze Zeit, in der das
so mächtige architekto­nische Werk entstand - der Bau der
Kathedrale war bereits im Jahre 1185 vollendet -, ist der Entschlossenheit des Königs zu verdanken, der, kaum mündig,
dem Ruhm seines Grossvaters Roger H. in nichts nachstehen, ja ihn sogar übertreffen wollte. Diese neue Kirche, mit
der auch der theokratische Charakter der neuen Regierung
unterstri­chen werden sollte, rivalisierte mit derjenigen, die
gleichzeitig auf Geheiss des Erzbischofs Walter in Palermo
errichtet wurde. Nach einer alten Legende erschien die Muttergottes selbst dem König im Traum, als dieser sich, von der
Monreale
Jagd erschöpft, unter einem Baum ausruhte. Sie hiess ihn, ihr
zu Ehren eine Kirche zu bauen, nachdem sie ihm den Ort
gezeigt hatte, an dem sein Vater einen Schatz ver­steckt hatte.
Tatsächlich weihte der König die Kirche im August 1176 der
Himmelfahrt Mariä. Die Benediktinermönche, die er mit ihrem wenig später zum Bischof geweihten Abt Theobald aus
Cava dei Tirreni hatte kommen lassen, stattete er reichlich
mit Privilegien und Gütern aus, wie es aus der Urkunde von
1176 hervorgeht.
Im Jahre 1183 erhebt Papst Lucius III. Monreale mit der Bulle Licet Dominus in den Stand eines Erzbistums. Der Bulle
ist zu ent­nehmen, dass der Bau der Kirche damals bereits abgeschlossen war. 1185 wird am Hauptportal die Bronzetür,
ein Werk des Bonannus von Pisa, angebracht. 1190 erhält
das Portal des nördlichen Seiten­schiffes eine Bronzetür von
Barisanus von Trani. 1257 weiht der päpstliche Legat Kardinal Rudolph, Bischof von Albano, die Kirche im Namen des
Papstes Clemens IV. der Heiligen Jungfrau in ihrer Geburt.
Im Laufe der Jahrhunderte wurde die Kirche und besonders
ihr Innenraum häufig umgestaltet.
1492 liess Kardinal Giovanni Borgia, Neffe Alexanders III.,
das Portal vor dem Diakonikon und der Sakristei errichten.
1498 wandte König Ferdinand II., der Katholische, eine
bedeu­tende Summe zur Instandsetzung der Kathedrale, des
Klosters und des Bischofspalastes auf.
1524 beauftragte Kardinal Cardona den aus dieser Gegend
stam­menden Mosaizisten Pietro Oddo mit der Restaurierung der Mo­saiken und eines Teils des Fussbodens. Zwischen
49
Duomo di Monreale
(1172-1189)
Rom ausgeführt wurde. Im November 1811 zerstörte ein
Feuer das hölzerne Chorgestühl, die Fenster, die Orgeln, die
Emporen sowie die Bedachungen des Sank­tuariums und der
Seitenschiffe. Auch der Marmor und die Mosaiken wurden
in Mitleidenschaft gezogen. Durch das gesamte 19. Jahrhun­
dert hindurch und auch in unserem Jahrhundert wurden
umfangrei­che Restaurierungsarbeiten durchgeführt. Zur
Zeit werden die Dä­cher instandgesetzt, und man befasst sich
mit der schwierigen Auf­gabe, die von Termiten befallenen
Holzdecken zu restaurieren.
1536 und 1537 liess Kardinal Alessandro Farnese, damals
Erzbischof von Monreale, zahlreiche Reparaturen an der
Kirche und dem Kloster durchführen und erteilte 1547 den
Brüdern Giovanni und Fazio Gagini den Auf­trag, den seitlichen Portikus der Kathedrale wieder aufzubauen. 1595 liess
Kardinal Ludovico II. de Torres, der zu dieser Zeit Erz­bischof
war, die Cappella San Castrense bauen und veröffentlichte
im Jahr darauf unter dem Namen seines Sekretärs Giovanni
Luigi Lello das Buch Historia della chiesa di Monreale.
Im Jahre 1658 liess Msgr. Los Cameros die bleiernen Gitter
von den Fenstern abnehmen und die Ikonostase entfernen,
die das Lang­haus vom Altarraum trennte und die Sicht verstellte. Die Kapelle des Kruzifixes wurde zwischen 1687 und
1690 nach den Plänen des Bru­ders Giovanni di Monreale
und auf Anordnung des Msgr. Roano er­baut, der sicherlich
mit seinem Landsmann de Torres konkurrieren wollte. In
eben jenen Jahren wurden auch die Bronzetüren von Bo­
nannus und Barisanus restauriert.
In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde die Kapelle des heiligen Benedikt in den rechten Querhausarm
eingelassen. In der zweiten Hälfte desselben Jahrhunderts,
einem wahrhaft goldenen Zeitalter für das Land, war Msgr.
Francesco Testa, Erzbischof von Monreale, der zweifellos
grösste Mäzen des Baukomplexes. Ihm sind viele Instandsetzungsmassnahmen an der Kathedrale zu verdanken, der
Ausbau der Kapellen, Höfe und Portale und besonders der
neue Hauptaltar aus vergoldetem Silber, der bei Louis Valadier in Auftrag gegeben und zwischen 1770 und 1773 in
50
Besichtigung
Bis auf die beiden Säulenvorhallen hat der Dom von Monreale sein ursprüngliches Erscheinungsbild bewahrt. Der
Hauptportikus war womöglich bereits im ersten Bauplan
vorgesehen. Da die Kirche von Anfang an sowohl mit dem
Kloster als auch mit dem königlichen Palast verbunden war,
gab es stets nur zwei Eingänge, den Nordein­gang und den in
der Hauptfassade. Beide sind durch montu­mentale Bronzetüren geschmückt, die auf Anordnung Wilhelms II. hergestellt wurden. Vor jedem Eingang liegt ein später angefügter
Portikus, der sich jeweils auf einen Platz hin öffnet. Beide
Plätze ha­ben im grossen und ganzen ihr ursprüngliches Aussehen bewahrt. Sieht man von der oberen Partie der Fassade,
die nicht durch den Portikus verdeckt ist, und natürlich von
den drei nach Osten ausgerichteten Apsiden ab, die den aus
Palermo kommenden Reisen­den durch ihre Schönheit und
ihren Reichtum in Bewunderung und Erstaunen versetzen
sollten, ist die wuchtig und imposant wirkende Kathedrale
von aussen betont nüchtern gehalten.
Die Hauptfassade im Westen erhebt sich an dem nach Wil­
helm II benannten Platz. Sie wird von zwei Ecktürmen flankiert, wie. sie bei den grossen religiösen Bauwerken Siziliens
in jener Zeit üblich waren. Diese beiden Türme, die in den
beiden ersten Abschnitten eher massig wirken und im zweiten Abschnitt je ein Spitzbogenfenster haben, unterscheiden
sich dadurch, dass der Süd­turm noch zwei weitere, jeweils
zurückgesetze Stockwerke mit einfachen~und gekuppelten
Fenstern aufweist, während der Nordturm mit dem zweiten
Stockwerk abschliesst. Darauf liess der Kardinal Ippo­lito
dei Medici den Glockengiebel mit seinen Zinnen errichten.
Die steinere Turmspitze auf dem rechten Turm fiel 1807
einem Blitzschlag~­schlag zum Opfer. 1770 wurde anstelle
des eingestürzten ursprünglichen Narthex der Portikus zwischen den beiden Türmen errichtet. Ober diesem sich in drei
Rundbogenarkaden öffnenden Portikus er­blickt man am
oberen Teil der Fassade die typischen Kreuzbogen­stellungen
mit ihren vielfältigen Inkrustationen, durch die ein lebhaf­tes
Farbenspiel entsteht. An dem mit reichgeschmückten Archivolten eingefassten Hauptportal sind in dem Rankenwerk
mit seinen Men­schen- und Tierfiguren eindeutig griechische
Motive zu erkennen. Dieses Portal aus dem 12. Jahrhundert
umfasst die grosse Bronzetür des Bonannus von Pisa aus dem
Jahre 1186. Sie be­steht aus zwei in 46 Tafeln unterteilten
Flügeln, auf denen Szenen aus dem Alten und Neuen Testament dargestellt sind. Die vier unter­sten Tafeln sind mit
Löwen- und Greifenpaaren verziert.
In die Seitenschiffe sind 17 Fenster eingelassen, wobei sich
klei­nere offene und grössere Blendfenster abwechseln. Sämtliche Fenster sind mit Einlegearbeiten aus farbigem Stein geschmückt. An der Nordseite liegt der herrliche Portikus aus
dem 18. Jahrhundert, ein Werk Gian Domenicos und Fazio
Gaginis. Darunter öffnet sich die zweiflügelige Bronzetür
des Barisannus von Trani aus dem Jahre 1179. In einen rechteckigen Rahmen mit geometrischen Motiven eingepasst,
weist die Tür 28 Tafeln mit Kampfesszenen, Episoden aus
dem Leben von Heiligen und Wappentieren orientalischer
Art auf. In Bändern aus Flechtwerk und Blumen sind Medaillons aufgereiht.
Das Äussere des Chorhauptes ist der am reichsten geschmückte Teil des gesamten Bauwerks. Sich überkreuzende Blendarkaden überziehen die drei Apsiden. Das reiche Far­benspiel
entsteht nicht nur durch die polychromen Inkrustationen
aus braunem Kalkstein und schwarzem Lavagestein, sondern
auch dadurch, dass die kleinen Säulen auf hohen, bunten Sockeln stehen und in die Blendfenster farbige, runde Scheiben
unterschiedlichen Durchmessers eingelegt sind.
Die Kirche ist dreischiffig und hat den Grundriss eines
lateini­schen Kreuzes. Sie folgt dem Typus der frühchristlichen Basilika. Der Altarraum mit den drei Apsiden ist gegenüber dem Langhaus erhöht. Das Mittelschiff ist beidseitig von den Seitenschif­fen durch je neun Säulen getrennt, die
auf hohen Sockeln stehen und korinthische oder figürlich
gestaltete Kapitelle tragen. Auf letzteren Stand in Medaillons die Gesichter der Göttinen Ceres und Juno dargestellt,
umrahmt von den symbolischen Füllhörnern. Die Kapitelle
tra­gen reich mit Mosaiken geschmückte Kämpferaufsätze,
auf denen die Spitzbögen ruhen.
Mit Ausnahme der Säulen, Kapitelle und Sockel ist das gesamte innere der Kirche mit herrlichen Mosaiken verkleidet.
Diese nehmen eine Gesamtfläche von über 6000 Quadratmetern ein und wurden in sehr kurzer Zeit - vermutlich
zwischen 1180 und 1190 - von byzantinischen Mosaizisten
gefertigt, die es verstanden, ihre Arbeit mit derjenigen der
islamischen Bautrupps in einen gelungenen Einklang zu
bringen. Experten haben jedoch die kurze Entstehungszeit
bezweifelt und sind der Ansicht, dass an den Mosaiken bis
ins 13. Jahrhundert hinein gearbeitet wurde. Wie dem auch
sei, das gesamte Werk sowohl die eher expressiv als auch die
realistischer gehaltenen Mosaiken, bildet eine Einheit von
tiefer poetischer Harmonie.
Die Restaurierungsarbeiten, die im Laufe der Jahrhunderte
vorgenommen wurden, haben die Einheitlichkeit des Gesamtwerkes nicht beeinträchtigt. Sämtliche bildlichen Darstellungen folgen einer eigenen Logik, und zwar sowohl vom
dekorativen und künstlerischen als auch vom theologischen
und dogmatischen Standpunkt aus. Die Inkarnation des
Wortes Gottes ist dreimal in drei verschiedenen Momenten
dargestellt: in der Erwartung der versprochenen Fleischwerdung, in Szenen aus dem Alten Testament; in der Mensch­
werdung; in dem Wort, dessen Botschaft durch die Kirche
weiter­wirkt. Vom Halbkuppelgewölbe der Mittelapsis blickt
die grandiose Gestalt eines segnenden Christus Pantokrator
herab. Am Triumphbogen ist in zwei Bildern Wilhelm II.
dargestellt. Auf dem einen Mosaik empfängt er von Christus
die Königskrone, auf dem anderen übergibt er der Gottesmutter das Modell der Kathedrale von Monreale.
Das Mittelschiff zeigt Szenen aus dem Alten Testament.
Im Querhaus ist das Leben Jesu geschildert. In den Seitenschiffen wird die Geschichte der Kirche illustriert, und es
fol­gen weitere Ereignisse aus dem Leben Jesu. In den beiden Jochen der Nebenapsiden schliesslich wird das Leben
der Apostel Petrus und Paulus erzählt. Die Holzdecken, die
wir heute bewundern können, sind sämtlich im Zuge der
Restaurierungsarbeiten originalgetreu erneuert, nach­dem
die ursprünglichen Decken 1811 durch ein Feuer zerstört
wor­den waren. In den einzelnen Teilen der Kirche wurden
unterschiedli­che Deckentypen verwendet: Der Ostteil ist
überwölbt, wodurch der Altarraum hervorgehoben wird,
während der Westteil Holzdecken trägt. Die Seitenschiffe
sind flachgedeckt, und die Balken sind ab­wechselnd mit
bunten geometrischen. und floralen Motiven geschmückt.
Dagegen trägt das Mittelschiff einen offenen Dachstuhl, der
nur zum Teil bemalt ist. Der Fussbodenbelag des Altarraums
stammt aus dem 12. Jahrhun­dert. Auch wenn dieser Boden
in späterer Zeit an einigen Stellen er­neuert wurde, so weisen
doch die noch vorhandenen Partien aus porphyr, Serpentin
und anderen Gesteinsarten typische Motive der islamischen
Kunst auf, wie etwa die achtstrahligen Sterne in sternförmigen Vielecken. Der Fussboden des Langhauses, der im 16.
Jahrhundert entstand, nimmt zwar die Motive des älteren
Boden­belages auf, wurde jedoch um Muster aus dem späten
Manierismus bereichert. Im Sanktuarium ist am linken Ostpfeiler der Königsthron ange­lehnt. Seine spitzgiebelig zulaufende Rückenlehne besteht aus rotem Porphyr und Marmor
und ist mit floralen Motiven geschmückt. Die Thronwangen
bilden zwei Platten aus durchbrochenem Marmor mit Greifenpaaren, die Anklänge an die islamische Kunst erkennen
las­sen. Unter dem Triumphbogen steht der 1771 von dem
französischen Künstler Louis Valadier in Rom geschaffene
Silberaltar. Es sei noch auf den Altar im linken Seitenschiff
hingewiesen, unter dem eine Zeitlang die sterblichen Überreste des Königs Ludwig IX. von Frankreich begraben lagen.
Beachtenswert sind auch die in der Mitte des 19. Jahrhunderts erneuerten Sarkophage der Königin Margarete von
Navarra und ihrer Söhne Roger und Heinrich.
Nahe der rechten Apsis werden die Sarkophage Wilhelms
1. und Wilhelms II. aufbewahrt. Der Sarkophag Wilhelms
1. ist aus Porphyr und stammt aus dem 11. Jahrhundert, der
Wilhelms II. wurde im 16. Jahrhundert erneuert.
Auf das rechte Seitenschiff öffnen sich die Cappella San
Benedetto und die Cappella San Castrense aus dem 16.
Jahrhundert. Im linken Querschiffarm befindet sich die
Cappella del Crocifisso. Sie ist ein herrliches Beispiel für
die Kunst des Barock und wurde Ende des 17. Jahrhunderts
nach einem Plan von Fra Giovanni da Monreale errich­tet
und unter Angelo Italia fertiggestellt. Von diesen Kapellen
aus gelangt man zum Kirchenschatz mit sei­nen zahlreichen
Goldschmiedearbeiten und wertvollen Handschrif­ten. Er
umfasst auch ein kleines kupfernes Reliquiar, das vermutlich
aus normannischer Zeit stammt.
51
Chiostro di Monreale
(1172-82)
Der Kreuzgang ist der einzige noch erhaltene Teil des
ehemali­gen, im späten 12. Jahrhundert im Süden der Kirche
errichteten Be­nediktinerklosters. Gegenwärtig ist nur der
Südflügel, ein grosser unbedeckter Raum, zu besichtigen,
den man durch eine Tür des Kreuzgangs betritt.
Obwohl einige Experten die Datierung für problematisch
halten, richtet man sich meist doch nach der Entstehung der
Kathedrale. Der Bau der Kirche wurde mit Sicherheit im
Jahre 1172 begonnen, während der Anfang der Arbeiten für
den Kreuzgang vermutlich etwas später, nämlich um 1176,
anzusiedeln ist. Damals schon be­wohnten die aus La Cava
dei Tirreni kommenden Benediktiner das Kloster.
Man nimmt an, dass die Bauarbeiten schnell voranschritten
und gegen 1189, dem Todesjahr Wilhelms II., abgeschlossen
waren. Si­cher ist die unterschiedliche Qualität der Kapitelle
dem Drängen des Auftraggebers zuzuschreiben. Ausserdem
waren hier offensichtlich aufeinanderfolgend verschiedene
Hände am Werk. So haben Fachleute den Kreuzgang als ein
typisches Ergebnis der Arbeit eines mit­telalterlichen Bautrupps betrachtet, in dem die Arbeiter eines Werk­verbandes
einem einzigen Meister unterstellt waren.
Der Kreuzgang von Monreale ist das vollkommenste, prächtigste und grösste Beispiel seiner Art. Er weist exakt die Form
eines Qua­rates auf. Seme 208 Säulen stehen auf einer Art
Stylobat. Auf jeder Seite des Quadrates tragen Doppelsäulen
26 Spitzbögen, deren Anfangssteine am Innenlauf über die
Deckplatte der Kapitelle hinausragen. Die Bögen und deren
Umrahmungen sind an der Aussenseite mit geometrischen
52
Monreale
Inkrustationen aus Bimsstein und Lava geschmückt. Unter
dem mächtigen Gesims, das gleichförmig alle vier Flügel
des Kreuzgangs umläuft, entfaltet sich ein aussergewöhnlicher Formenreichtum: Das gilt sowohl für die Säulen, deren Schäfte glatt belassen, mit bunten Einlegearbeiten oder
mit zickzack-, schachbrett- und winkelförmigen Mosaiken
verziert sind, als auch für die Kapitelle in der Vielfalt ihrer
Gestaltung.
Auch die Säulenbasen mit ihren Rundstäben und Eckverzierung_ gen weisen einen reichen plastischen Dekor auf,
wie etwa die Blattwerkmotive und die Masken zwischen
den doppelten Basen. Ein wei­teres gemeinsames Merkmal
der vier Galerien des Kreuzgangs ist die symmetrische Anordnung der Schmuckmotive und Inkrustationen an den
gekuppelten Säulen rechts und links des Mittelpaares. An
den Ecken des Kreuzgangs sind die Säulen zu Vierergruppen
zusammengefasst, und an der Nordwestecke bilden sie einen
kleinen Hof mit einem Springbrunnen in der Mitte. Auf
jeder Seite durch drei Bogenstellungen begrenzt, stellt dieser quadratische Raum einen sehr gelungenen Innenwinkel
dar. Vier Säulen und drei Kapitelle wurden in jüngerer Zeit
vollständig erneuert. Über der grossen Brunnenschale erhebt
sich ein sehr schlanker Schaft mit horizon­tal verlaufendem
Zickzackornament. Auf den Schaft ist ein runder Knauf
aufgesetzt, in den ringsum zwölf Figuren von Bacchanten
und Musikern eingemeisselt sind. Darüber sind abwechselnd Lö­wen- und Menschenmasken dargestellt, und grosse
Blätter umrah­men die Öffnung, aus der das Wasser hervor-
quillt. Stilistisch gesehen sind in diesem Kreuzgang ganz
unterschiedliche bildhauerische Ele­mente vertreten, die den
verschiedenen Strömungen der romanischen Kunst - etwa
der apulischen, der kampanischen, der lombardischen, der
provenzalischen, der burgundischen Romanik oder jener der
Ile­de-France zugerechnet werden können. Da ein einheitliches gestalte­risches Programm fehlt, haben die Kunsthistoriker die Kapitelle ent­weder nach Stilrichtungen oder nach
den bevorzugt dargestellten Motiven klassifiziert.
Tatsächlich ist es möglich, fünf verschiedene Meister zu
identifi­zieren, von denen zwei im eigentlichen Sinne Bildhauer, zwei weitere Bildhauer und Marmorarbeiter waren
und ein letzter ausschliesslich als Marmorarbeiter betrachtet
wird, als »Marmorarius«, wie er sich selbst bezeichnete. Einer der fähigsten Meister, die an diesem Kreuz­gang gewirkt
haben, ist nach Ansicht Salvinis der Bildhauer mit dem
Beinamen »Meister der Dedikation«. Er schuf eines der
bedeutendsten Kapitelle des Kreuzgangs, nämlich das des
Königs Wilhelm, der als Stifter des Domes der Gottesmutter
die Kirche überreicht. Auf der anderen Seite dieses Kapitells
sind allegorische Darstellungen der Tugenden skulptiert.
Während dieser Meister dazu neigt, die Figuren zu verkleinern und gerne Miniatur­darstellungen in den Stein schneidet, ist der »Meister der Aussen­dung der Apostel« (benannt
nach dem von ihm bevorzugt bearbeite­ten Thema) leicht an
seiner Vorliebe für reiche figürliche Darstellun­gen und an
einer grosszügigen Gestaltung der Gesichter und Gewän­der
zu erkennen. Ein weiterer, eindeutig zu unter­scheidender
Bildhauer von ebenfalls bemerkenswerter Begabung ist der
»Meister der Putten«, so genannt, weil er häufig Kinder dar­
stellte, die akrobatische Kunststücke vollführen, oder halbwüchsige Atlanten. Die Handschrift dieses Meisters lässt
sich an einer grossen Zahl von Kapitellen erkennen.
Mit dem Namen »Meister der Adler« wird ein Bildhauer
bezeich­net, der auf den Kapitellen mit Vorliebe Motive aus
der Vogelwelt in grosser stilistischer Übereinstimmung gestaltete. Auf einem Kapitell mit rein dekorativen Motiven ist
schliesslich der Name Filius Costantinus Marmorarius eingemeisselt, der Name eines Künstlers, von dem wir als einzigen mit Sicherheit sagen können, dass er römi­scher Herkunft
war. Vielleicht trieb ihn die Eitelkeit, seinen Namen auf einem Kapitell zu hinterlassen, obwohl dieses nicht sonderlich
geglückt erscheint.
53
Selinunte
Osthügel,Akropolis,
Malophoros
Die Tempel des Osthügels
Die drei erhaltenen Bauten sind mit Gewissheit nicht die
einzigen in diesem Gebiet gewesen. Bis jetzt konnten indes
weder eine Einfassungsmauer des Tempelbezirks noch die
Altäre der drei existierenden Heiligtümer gefunden werden.
Moderne Bautätigkeit hat viele Spuren sicherlich unwiederbringlich zerstört, allerdings erhofft man sich von den noch
nicht abgeschlossenen geophysischen Untersuchungen weitere Einsichten.
Der südlichste, der Tempel E, ist der jüngste dieser östlichen
Tempelgruppe. Er entstand kurz nach der Schlacht von
Hirnera, wohl zwischen 470 und 450 v. Chr. Der mit seinen
Stylobatmassen von 67,80 x 25,30 m zweitgrösste Tempel
der Stadt wurde 1956 wiederaufgebaut. Das Gebäude bietet gleichsam ein Musterbeispiel eines klassischen Tempels.
Seine Ringhalle von 6 x 15 Säulen umschliesst eine Cella
mit Opisthodom und Pronaos in antis, deren Längswände auf der Achse der zweiten Säule der Schmalseite präzise
eingefluchtet sind. Nicht nur der Grund-, sondern auch der
Aufriss war mit den 10,15 m hohen Säulen ausgewogen proportioniert. Der selinuntinischen Tradition folgend wurde
jedoch das archaische Adyton beibehalten .
Seitlich neben der achtstufigen Treppenrampe, die an der
Ostfront zum Eingang führt, Sind zwei Sockel erhalten, die
der Form nach zu urteilen liegende Figuren trugen, wahrscheinlich Tiere oder Sphingen. Der Pronaos lag erhöht,
vom Säulengang durch ein Gitter getrennt. Seine zwei Eingangssäulen weisen weniger Kanneluren auf als die der Peri-
Selinunte
stase (18 und 20). Der noch einmal um einige Stufen höher
liegende Naos ging in das Adyton über, das sich auf einem
wiederum höheren Niveau befand, so dass der Weg zum Allerheiligsten, in dem die Kultstatue aufbewahrt wurde, ein
ständiges Emporsteigen erforderte - der Unterschied betrug
insgesamt 1,30 m. Der im Adyton aufgestellte quadratische
Stein könnte der Sockel gedient haben. Eine kleine, in der
Nähe des Tempels gefundene Weihgabe mit einer Aufschrift
an Hera lässt vermuten, dass ihr das Heiligtum geweiht war.
Eine zweite Theorie hält es für dem Dionysos geweiht.
Die fünf gefundenen Metopen des Frieses über Pronaos und
Opisthodom bestanden aus Tuffsteinreliefs. Sie zählen zu
den schönsten erhaltenen Werken des ,strengen Stils< (Nationalmuseum von Palermo; s. Abb. 85, 86, 89, 90). Den
äusseren Metopenfries schmückten Malereien.
Dem Tempel gegenüber liegt ein altes Bauernhaus, in dem
ein kleines Antiquarium (2) untergebracht ist: Eine fotografische und graphische Dokumentation unterrichtet über
Wiederaufbau und vorherigen Zustand des Tempels, zudem
enthält es höchst interessante architektonische Fragmente,
an denen noch deutlich die ehemaligen Farben zu erkennen
sind:
Triglyphen - blau, Regula - rot, Mutuli - blau, untere Geisonplatte - zinnoberrot usw. Zwei vortrefflich erhaltene Palmetten weisen als Dekor ein stark abstrahiertes, gemaltes Gorgonenhaupt auf. Tönerne Dachplatten und die dazugehörigen
Verbindungsziegel machen die Technik der Dachbedeckung
verständlich, zeigen aber auch deren dekorativen Aspekt.
55
Osthügel,Akropolis, Malophoros
Bleiklammern in T- oder Z-Form, die zum Verklammern der
Quadersteine dienten, veranschaulichen die Bautechnik des
Tempels. Das Antiquarium ist verschlossen, wird jedoch auf
Nachfrage vom Aufsichtspersonal jederzeit geöffnet.
Die Grundmauern zwischen dem Tempel E und dem folgenden Tempel F gehören zu einem byzantinischen Bauernhaus,
das bei einem Erdbeben von den fallenden Säulen des Tempels zerstört wurde.
Der archaische Tempel F (3; um 530 v. Chr.), der älteste der
erhaltenen Sakralgebäude des Osthügels, ist eine recht eigenwillige Peripteralkonstruktion mit 6 x 14 Säulen, in der Substanz ähnlich dem Tempel C der Akropolis und den frühen
Heiligtümern von Syrakus. Sie alle haben die Betonung der
Vorderfront durch eine doppelte Säulenreihe gemein, die auf
der Achse der dritten Säule der Längsseiten liegt. Durch dieses ,Überspringen einer Reihe von Säulen entstand vor dem
eigentlichen Heiligtum, der Cella, eine ausgedehnte Halle.
Von den syrakusanischen archaischen Tempeln unterscheiden sich die beiden selinuntinischen durch das Fehlen der
zwei Säulen und der Anten des Pronaos, dessen Eingang bei
ihnen von starken Quermauern flankiert ist.
Wie bei den meisten archaischen Tempeln liegen auch beim
Tempel F die Längswände der Cella noch nicht auf der Achse der zweiten Säule der Vorderfront - wie später bei den
klassischen -, sondern auf der Mitte des Interkolumniums
zwischen zweiter und dritter Säule. Dadurch wird die Cella dieses Tempels, der mit Stylobatabmessungen von 61,80
x 24,40 m doch recht grosszügig proportioniert ist, sehr
schmal und langgestreckt. Ein Opisthodom existiert noch
nicht, die Cella bzw. das in Selinunt übliche Adyton wird
an der Rückseite von einer glatten Mauer abgeschlossen. Die
Säulen beim Tempel F wirken ausser-gewöhnlich leicht. Sie
weisen noch keine Entasis auf und enden mit einem flachen,
weitaus-ladenden Echinus. Ihre Kanneluren sind nicht sehr
tief, die Kanten der Hohlkehlen sind - als einziges Beispiel in
Sizilien - nicht scharf, sondern bilden schmale Bänder.
Als ebenfalls ungewöhnlich dürfen die weiten Säulenabstände und vor allem die sie verschliessende, 4,50 m hohe Mauer
gelten, in der sich an der Vorderfront zwischen den Säulen
fünf Tore öffneten. Ringsum waren an den zugemauerten Interkolumnien Türen vorgetäuscht, die in allem den vorderen,
wirklichen Eingängen glichen. Die Betonung der Stirnseite
verstärkten die reliefierten Metopen (Fragmente von zwei
1823 gefundenen Metopen im Nationalmuseum von Palermo; s. Abb. 91). Architrav und Fries sind relativ schmal. Alle
diese Einzelheiten lassen leichte ionische Tendenzen erkennen, die in dem nebenanliegenden Tempel G noch verstärkt
hervortreten.
Am Fussboden sind noch die halbkreisförmigen Schienen
zum Öffnen des Cellatores zu sehen. Mit grösster Wahrscheinlichkeit war der Tempel der Athena geweiht.
Der gewaltige Tempel G (4), der letzte der Dreiergruppe,
ist mit seinen Stylobatabmessungen von 50,10 x 110,10 m
und einer Ringhalle von 8 x 17 Säulen (Säulenhöhe 14,70
m, Säulendurchmesser 3,26 m) der grösste dorische Ringhallentempel, der je gebaut wurde - das noch etwas grössere
Olympieion in Akragas war kein eigentlicher Ringhallen56
tempel. Er wurde kurz nach der Fertigstellung des Tempels
F begonnen, doch zog sich seine Bauzeit wie bei den grossen
Heiligtümern des griechischen Ostens über eine Spanne von
einem halben Jahrhundert hin (520-470 v. Chr.).
Der Bau ist, nicht nur, was seine Grösse anbetrifft, deutlich
von den ionischen Riesentempeln Kleinasiens beeinflusst,
die im 6. Jh. v. Chr. in Ephesos, Didyma und auf Samos entstanden. Diese Tempel waren Dipteroi, also Bauten mit zwei
ineinanderliegenden Säulenkränzen. Als markantes Kennzeichen wiesen sie, wie auch der Tempel G, acht Frontsäulen
auf, im dorischen Tempelbau eine seltene Erscheinung. Der
fehlende zweite Säulenkranz des Tempels G findet sich nur
in der inneren Säulenstellung vor dem Pronaos angedeutet
-der Tempel G wird deshalb als Pseudodipteros bezeichnet.
Auch der zwei Joch tiefe Abstand der Ringhalle von der Cella, der diese zu einem eigenständigen Gebäude innerhalb des
Tempels werden lässt, hat ostgriechische Vorbilder. Der älteste Teil des Gebäudes, die Vorderfront, ähnelt derjenigen
des Tempels F.
Drei vergitterte Tore, je eines pro Schiff, schlossen die Cella
ab. Die Schiffe wurden, ähnlich wie in Ephesos oder Milet,
durch zwei doppelstöckige Reihen von je zehn monolithischen Säulen getrennt; an ihrem Ende lag eine kleine Kapelle, gleichsam ein »Haus im Haus<. Auf der Höhe der ersten
Reihe lief über den Seitenschiffen eine Galerie entlang, zu
der beidseitig Stufenrampen führten. Es ist nicht sicher, ob
das Mittelschiff zum Himmel hin offen war, wie früher angenommen wurde; bei jüngeren Untersuchungen scheint der
Ansatz für das Dach gefunden worden zu sein.
An den Kapitellen kann man die Veränderung der Form von
der archaischen zur klassischen Zeit sehr gut verfolgen: Archaisch flach und weit ausladend an der Frontseite, werden
sie an den Langseiten immer voller, um an der Westseite
die runde Form des klassischen Kapitells anzunehmen. Der
Tempel war einst in kräftigen Farben bemalt, wovon Spuren
gefunden wurden. Allerdings sind manche Feinarbeiten
nie vollendet worden: So weisen nur die älteren Säulen an
der Vorderfront schon die Kannelierung auf. Dass in einem
Steinbruch (Cave di Cusa) gleich grosse Säulentrommeln
wie die des Tempels gefunden wurden, beweist nicht, dass
dieser nie vollendet wurde, da sie ja bei ihm nicht fehlen.
Die eingangs zitierte Inschrift, im Adyton des Tempels gefunden, nennt ausserdem eine goldverkleidete Zeusstatue,
die die Selinuntiner im Apollonheiligtum aufstellen liessen,
nur ist nicht sicher, in welchem. Der Tempel G scheint entweder Apollon oder Zeus geweiht gewesen zu sein.
Akropolis
Vom Osthügel aus ist das Gelände jenseits des Flusstals gut
zu überblicken (s. Abb. 55). Die Akropolis befand sich auf
einem Plateau, dessen Südseite aus dem Meer aufstieg und
das im Osten und Westen die Flüsschen Hypsas und Selinus
begrenzten (heute Gorgo Cottone und Modione). Bei ihren
Mündungen schnitten nun versandete Buchten in das Land
ein, die sich vortrefflich als kleine Häfen eigneten. Bei der
Mündung des Gorgo Cottone, den man auf dem Weg zur
Akropolis überquert, sieht man, halbverdeckt von Sand,
noch einige Steine des antiken Anlegestegs und Reste der
Magazine.
Dicht daneben, wo einst das Stadttor lag, erhebt sich die grosse Stadtmauer, die ehemals das gesamte Siedlungsareal umschloss, 409 v. Chr. zerstört und nicht wiedererrichtet wurde.
Dahinter sieht man eine in Stufen errichtete zweite Mauer,
die die Erdaufschüttungen, durch die das Stadtgelände vergrössert wurde, stützte.
Am Rand des Südhangs befand sich ein antiker Leuchtturm
(heute steht an dieser Stelle ein Haus). Nicht weit davon
entfernt beginnt die 8 m breite Hauptstrasse, die geradlinig
das Stadtgebiet bis zum Nordtor durchschneidet. Sie wird
neben weiteren, schmaleren Querstrassen von einer ebenfalls
fast 9 m breiten Strasse gekreuzt, die die beiden Häfen miteinander verband und vom südwestlichen zum südöstlichen
Stadttor führte. Schon im späten 7.Jh. v. Chr. hatte die Stadt
dieses regelmässige Strassennetz erhalten, das dem Ort urbane Strukturen verlieh. Im Südosten wurde etwa ein Drittel
der Akropolisfläche aus dem Siedlungsgebiet ausgegrenzt
und für zwei grosse Heiligtümer nördlich und südlich der
grossen Querstrasse reserviert. Beide Heiligtümer wurden
im 5. Jh. v. Chr. von einer niedrigen Ternenosmauer umgeben, die, wie in griechischen Städten üblich, die Trennung
von Siedlungs- und Sakralgebiet unterstrich.
Die Bezeichnung Tempel 0 (5) steht für eine Plattform, die
vielleicht nie die Basis eines Tempels werden sollte. Jedenfalls
sind nicht einmal, wie bei einem Tempelbau üblich, die geplanten Standorte für Säulen darauf angegeben. Südöstlich
davon lagen mehrere kleine Kapellen, darunter auch eine
phönizische. In byzantinischer Zeit war die Plattform Teil
der Festung; die ausgehöhlte Vertiefung gehörte zu einem
Backofen. Stark unter Steinraub litt der nahe Tempel A (6),
ein Ringhallentempel mit 6 x 14 Säulen und Stylobatabmessungen von 40,30 x 16,13 m, wie Tempel 0 südlich der
grossen Querstrasse gelegen. Er besass Pronaos und Opisthodomos in antis mit je zwei Mittelsäulen. Cella und Adyton
lagen jeweils um eine Stufe erhöht. Innerhalb der Quermauern an beiden Seiten des Eingangs befanden sich steinerne
Wendeltreppen, und die Decke der Cella war mit verzierten
Platten verkleidet. Ausser dem Beibehalten des Adytons
weicht der um 480-470 v. Chr. errichtete Tempel in nichts
von einem dorischen Tempel ab. Am Fussboden vor dem
Pronaos des Tempels A sind die Symbole des Baal-Hadad
(Stierkopf ) und der Tanit wieder-gegeben. Der Bodenbelag
geht auf die Zeit nach 409 v. Chr. zurück. Westlich dieser
zwei griechischen Heiligtümer befinden sich die Reste eines
karthagischen Sakralgebietes. Es bestand aus einem rechteckigen, von einer Mauer umgebenen Hof, an dessen Nordseite ein Gebäude mit zwei vortretenden Seitenflügeln und
einem kleinen Bezirk zur Aufbewahrung von Urnen lag.
Wesentlich dichter bebaut und von komplizierterer Struktur
war das Heiligtum nördlich der Querstrasse. An seine Südmauer angelehnt finden sich Reste eines grossen Opferaltars,
der vermutlich älter ist als das Strassensystem von Selinunt
und bei der Anlage der grossen Querstrasse z.1. abgetragen
werden musste. Daneben ist die neunstufige Rampe des
57
Osthügel, Akropolis, Malophoros
Tempels B (7) zu erkennen, eines kleinen hellenistischen
Heiligtums (8,40 x 4,60 m) aus dem 3-4. Jh. v. Chr. mit vier
vorgelagerten dorischen Säulen, einem Pronaos und einer
quadratischen Cella; der Sockel der Kultstatue steht noch an
Ort und Stelle.
Neben dem grossen Tempel C lag ein kleines archaisches
Heiligtum (17,65 x 5,50 m; um 580 v. Chr.) in der alten
Form des Megarons, dem ringhallenlosen Vorläufer des dorischen Tempels. Der erste Raum zeigt in der Mitte noch
den Ansatz zweier quadratischer Pfeiler, die das spitze Dach
stützten. Der zweite Raum hatte die Funktion eines Adytons. Ein dritter kleiner Raum wurde später angefügt, steht
aber nicht mit den älteren in Verbindung.
An der Stelle eines nebenanliegenden zweiten Megarons errichteten die Selinuntiner 570-560 v. Chr. ihren ersten grossen Ringhallentempel, den heutigen Tempel C (8). Seine 6
x 17 Säulen, die sich ohne Entasis kontinuierlich verjüngen,
erreichen eine Höhe von 8,65 m. Die Eck- sind stärker als
die anderen Säulen (Durchmesser 1,95 zu 1,77 m), Eck- und
Fassadensäulen weisen jeweils 20 gegenüber sonst 16 Kanneluren auf. Mit 63,70 x 24 m im Stylobat ist Tempel C der
grösste auf der Akropolis.
Tempel C ist wenig jünger als die archaischen Tempel von
Syrakus und ihnen im Plan sehr ähnlich - es fehlen nur die
zwei Säulen am Eingang zum Pronaos. In seinem Aufbau
zeigt er jedoch bereits eine weit grössere Ausgeglichenheit
der Proportionen als jene. Die Säulenabstände sind entschieden breiter, die Säulen höher und mit mehr Kanneluren versehen, Architrav und Fries leichter, und die Raumeinteilung
der Triglyphen und Metopen ist im Gegensatz zu Syrakus
harmonisch und gut proportioniert. Reliefmetopen waren an der Fassade angebracht, ein reicher Dekor verzierter
Tonplatten schmückte den Giebel, der im Zentrum in einer
grandiosen Darstellung des Gorgonenhauptes gipfelte (drei
Metopen, Reste der Gorgone und der Terrakottaverkleidung im Nationalmuseum von Palermo). Der Tempel wurde 1925/27 teilweise wiederaufgebaut und vielfach falsch
rekonstruiert.
Dem Heiligtum scheint das städtische Verwaltungsarchiv
angeschlossen gewesen zu sein. In seinem Bereich, westlich
an die Hauptstrasse grenzend, befindet sich eine Reihe kleiner, teils miteinander verbundener Räume, in denen Bruchstücke von Schreibtäfelchen und Hunderte von Tonsiegeln
gefunden wurden; sie alle zeigen Darstellungen des Herakles. Den grossen freien Platz östlich des Tempels begrenzte
zum Hügelende hin ein Portikus (57 m lang, 2,80 m breit).
Zwischen diesem und dem Heiligtum lag der Opferaltar.
Ähnliche Gestaltungsprinzipien wie Tempel C weist auch
der nördlich von ihm liegende Tempel D (9; um 540 v. Chr.)
auf, allerdings deuten einige Strukturen bereits auf eine Loslösung von archaischen Bautraditionen. Mit einer Ringhalle
von 6 x 13 Säulen stellt dieser Tempel eine absolute Ausnahme unter den westgriechischen Tempeln und einen kühnen
Vorgriff auf klassische Gestaltungsmuster dar. Da die Stylobatproportion von 56 x 24 m ungefähr der des Tempels C
entspricht, die Längsseiten jedoch jeweils vier Säulen weniger besitzen, kam es zu ungewöhnlich weiten Säulenabstän58
den, und in dieser weiten und lichten Ringhalle lag erneut
eine sehr langgestreckte Cella mit Pronaos und Adyton. Der
Verzicht auf die tiefe Vorhalle mit doppelter Säulenstellung,
wie sie bei Tempel C begegnet, half bei der Kaschierung dieses Entwurfproblems und rückt den Tempel näher an die
klassische Form heran.
Die Säulen haben eine leichte Entasis und steigern ihre Eleganz durch eine grössere Zahl von Kanneluren als die beim
Tempel C (25 bzw. 16 an den dem Pronaos vorgelagerten
Säulen). Die Veränderung der Kapitelle wirkt dagegen weniger glücklich, die geschwungene Linie ist dabei verlorengegangen, und so hält hier das Resultat den Vergleich mit
Tempel C nicht aus. Die Westfront des Tempels grenzte
an die Nord-Süd-Hauptstrasse, der Altar lag im Osten. Der
Fussboden der Cella und des Säulengangs der Tempel C und
D weist runde oder quadratische Vertiefungen auf, vielleicht
zum Befestigen von Statuen oder Weihgeschenken.
Nicht weit entfernt vom Nordostwinkel des Tempels D blieb
die Basis eines kleinen archaischen Heiligtums mit seinem
Opferaltar erhalten. Diesem sog. »Tempel der kleinen Metopen< (15,20 x 5,40 m) werden, ohne es sicher beweisen
zu können, die sechs kleinen Metopen im Nationalmuseum
von Palermo zugeschrieben (s. Abb. 87 und 92). Das Gewirr
von Grundmauern östlich der Tempel geht hauptsächlich
auf Bauten aus der zweiten Epoche von Selinunt zurück, als
hier der Markt eingerichtet wurde.
Bei den Wohnhäusern, einem chaotisch anmutenden Gewirr
von Grundmauern, liegen die Gebäude aus den verschiedenen Epochen der Stadtgeschichte über- und nebeneinander.
Ab Mitte des 6. Jh. v. Chr. waren die älteren, aus Lehm, Holz
und Fachwerk errichteten Häuser durch geräumigere Steinbauten ersetzt worden, die sich um einen Innenhof gruppierten und mindestens zwei Stockwerke besassen; die unteren,
zur Strasse hin gelegenen Räume wurden oft als Geschäfte
vermietet. Die Reste dieser Häuser erkennt man an den sorgfältig bearbeiteten Tuffsteinquadern.
Bei dem Wiederaufbau nach der Zerstörung 409 v. Chr. wurden die noch verwendbaren Überreste der alten Gebäude in
die neuen integriert oder lieferten das dafür nötige Baumaterial. Die Bautechnik war nun phönizisch, d. h. grosse, senkrecht stehende Steine (Orthostaten) bildeten das Skelett der
Wände, während die Zwischenräume mit kleinen Steinen
aufgefüllt wurden. Die Fassaden erreichten nur eine Breite
von 4-9, die Türen von etwa 1 m.
Befestigungsanlagen
Die ursprüngliche, aus grossen, eckigen Tuffsteinen errichtete Stadtmauer, 10 m hoch und an ihrem oberen Rand 2,50
breit, war von aussen mit Verstärkungskonstruktionen und
an allen Eingängen mit Türmen versehen und umschloss das
gesamte Wohngebiet, Akropolis und Asty. Bei der Akropolis
blieben einige Abschnitte mehr oder weniger gut erhalten.
Dort wurden später die alten Anlagen mit jeglichem zur
Verfügung stehenden Material ausgebessert; darunter wurden auch zwei archaische Metopen entdeckt, die sich jetzt
im Museum von Palermo befinden. Mehrere Zugänge wurden vermauert. An der am meisten gefährdeten Nordseite
entstanden die mächtigsten Verteidigungsanlagen: beim
Stadttor wurde die Schutzmauer auf einer Länge von 22 m
durch einen 2 m starken Anbau verstärkt, der beidseitig symmetrisch mit einem quadratischen Turm endete.
Das Tor selbst wurde dabei von 9,10 m auf 2,85 m verengt.
Ihm vorgelagert, entstanden auf unterschiedlichem Niveau
zwei langgestreckte Plätze, durch ein dreistöckiges Bauwerk
getrennt und von zwei mächtigen Türmen im Norden und
Westen geschützt. Der tiefer gelegene Platz (Höhenunterschied 5 m) diente wohl als Sammelplatz für ausstürmende
oder sich zurückziehende Truppen, denn die weiteren Anlagen sind auf seinen Schutz hin ausgerichtet: Zwölf Bogeneingänge öffnen sich auf den unteren Stock der Anlage,
die von den drei oberen Stockwerken aus verteidigt werden
konnten. Die dahinter liegenden parallelen Gänge standen
mit dem Westturm in Verbindung, der obere Teil des hohen
Gebäudes dagegen mit dem Nordturm. Weitere Konstruktionen an den übrigen Seiten des Platzes hatten die Aufgabe,
Massenanstürme zu erschweren und eventuelle Rückzüge zu
decken.
An Nord- und Ostseite wurde, der Stadtmauer vorgelagert, eine zweite, niedrigere Mauer errichtet, die heimliche
Truppenverschiebungen ermöglichte. Dicht beim Westturm
konnte die Stadt durch einen unterirdischen Ausgang verlassen werden. Diese Verteidigungsbauten wurden wahrscheinlich während der kurzen Oberherrschaft des Dionysios von
Syrakus errichtet (397-392 v. Chr.). Auf spätere Zeiten geht
eine weitere, im Nordosten der Stadt-mauer angeschlossene
Anlage mit halbrundem Turm zurück, deren Bautechnik allerdings minderwertiger ist.
Demeter Malophoros-Heiligtum
Das westliche Sakralgebiet mit dem Heiligtum der Malophoros (»die Granatapfeltragende<) ist Demeter als Göttin der Unterwelt gewidmet. An keinem anderen Ort kann
man die Verschmelzung phönizischer und griechischer
Mythen deutlicher erkennen als in diesem Sakral Bezirk an
der ehemaligen Flussmündung; die ehemals tiefe Bucht ist
indes heute versandet. An dergleichen Plätzen pflegten die
Phönizier Memmonia anzulegen - Kultstätten, in denen der
sich auflösende Fluss, der über den Regen wieder zur Quelle und somit zum Fluss wird, den Zyklus von Vergehen und
Werden versinnbildlichte. Ein ähnlicher Symbol gehalt liegt
dem Malophoroskult zugrunde, in dem Demeter als Spenderin von Leben und Tod, als grosse Urmutter, verehrt wurde. Eine vergleichbare Funktion hatten auch die thrakische
Unterwelts- und Mondgöttin Hekate, deren Name ebenfalls
auf einer Inschrift in diesem Sakral Bezirk zutage kam, und
Aphrodite in Verbindung mit Adonis inne, von der Hunderte Terrakottendarstellungen gefunden wurden.
Schon während die Siedler ihre ersten Wohnhäuser bauten,
errichteten sie ein kleines Megaronheiligtum jenseits der
Mündung des Selinus. An der Wende vom 6. zum 7. Jh. v.
Chr. wurde dieses erste Heiligtum vergrössert. Andere waren
in seiner nahen Umgebung entstanden, und im 5. Jh. v. Chr.
wurde das Gebiet mit einer Mauer umschlossen, und der Ternenos der Malophoros erhielt einen monumentalen Eingang
(Propylon). Kurz vor den Mauern des heiligen Bezirks steht
ein kleiner Tempel mit vorgelagertem Altar, Pronaos, Naos
und Adyton (1). Im letzteren blieb die Basis erhalten, die
noch die Vertiefungen zum Verankern der drei Bethel aufweist - drei abgestumpfte konische Säulen, die für die Phönizier die magische Quelle allen Lebens versinnbildlichten
(beth-el = Haus Gottes).
Angeschlossen an den Ternenos der Malophoros, mit diesem
zwar verbunden, aber mit eigenen Eingängen von aussen her
versehen, liegt ein quadratischer Sakral Bezirk mit einem
sehr kleinen, ebenfalls quadratischen Heiligtum und verhältnismässig grossen Wasserbecken (2). Allem Anschein nach
war er für den Kult der Hekate bestimmt. Hinter diesem und
vor dem Propylon ist ein Kreis aus Steinen erhalten (3), der
entweder als Imitation des eleusinischen Brunnens oder als
Sockel für ein Abbild der dreigesichtigen Hekate betrachtet
wird. Vom Propylon (4) sind die Stufenrampen, Ansätze
der Säulen und die Sitzbänke des Innenraums erhalten. Von
hier aus führte eine von Zypressen und Pinien beschattete
Strasse zum Tempel der Malophoros. Auf dem freien Platz
sind verschiedene archaische Altäre auszumachen. Vor dem
Tempel liegt der grosse Altar (5), flach und ohne Stufen. In
einer steinernen Rinne (6) wurde das Wasser einer als heilig
betrachteten Quelle an dem Altar vorbeigeleitet.
Trotz mehrerer Umwandlungen blieb die sehr archaische
Form des Tempels (7) unverändert. Er besteht aus einem
Pronaos, Cella und Adyton, ohne erhöhte Basis oder Säulen. Das mit einer Nische versehene Adyton überdachte ein
Tonnengewölbe (der Ansatz ist noch erkennbar), Cella und
Pronaos dagegen eine flache Decke. Die Wände waren mit
Stuck überzogen, den Aussendekor bildeten verzierte Tonplatten.
An der Ostseite befand sich ein Doppelportikus (8) mit innen und aussen entlanglaufenden Sitzbänken. Dahinter lag,
allerdings nur von ausserhalb des Ternenos zu betreten, ein
langer Korridor (9), der zu zwei Räumen unbekannter Funktion führte.
Nach Norden hin liegt ein weiteres ummauertes Gebiet,
in dessen Nordostwinkel ein quadratischer Ternenos (17 x
17 m) das sog. Heiligtum des Zeus Meilichios umschliesst
(10). Zeus Meilichios scheint eine Gleichsetzung mit BaalHadad, dem Vater Aleyins (Adonis), zu sein, der im Mythos
durch seinen Aufenthalt in der Unterwelt mit Persephone in
Zusammenhang stand. Ausser dem kleinen, völlig ungriechischen Tempel (5,20 x 3 m, mit zwei monolithischen Säulen)
im Innenraum enthält es Altäre und Räume unbekannter
Verwendung. An Nord- und Südseite lief je ein Portikus
entlang.
In dem Urnenfeld (11) westlich dieses Bezirks wurden
Grabstelen gefunden (Nationalmuseum von Palermo), deren Art in der Antike keine Parallelen findet und die wahrscheinlich auf einen alten, vorgriechischen Brauch zurückzuführen sind. In dem Gelände befinden sich wiederum drei
Bethelsteine.
59
Cave di Cusa
Cave di Cusa: three „journeys“
Alvaro Siza Vieira
with Roberto Collova, Nuno Lopez, Eduardo Sauta Moura
Collaborators: A. Ali, B. Asaro,
I. Bertrand, S. Lentini, P. Mincio, Olivier, V. Trapani
The Rocche di Cusa are ancient quarries of calcareous tufa,
where materials were extracted for construction of the town
of Selinunte and its temples. After the conquest of Carthage
in 409 B.c. the quarries were disused; it is still possible to
see the incisions made in the rock, during extraction of the
stones for the pillars, or a capital roughly hewn out.
The subject of the project was access to the quarry area, a sort
of „gateway to the past.“
But at Cusa it is hard to distinguish between past and
present: the situation is so fleeting that work in the quarries
might have been broken off yesterday and this makes any
chronological concern insigntficant.
Everything here remains discrete, humdrum and the suspension, the cut in time, has seemingly fixed certain allusions, almost certain rules for this place, which ends up perhaps having absolutely nothing in common with the Greek temples.
The Cave di Cusa are the condensation of transformation
and continuity: the pieces of semi-finished limestone are
parts of a building, it is true, but also the geography of that
landscape: these pieces of architecture keep their roots in the
ground, they are still rocks.
60
Selinunte
Steinbrüche (Cave di Cusa)
Das meiste Baumaterial gewannen die Selinuntiner in einem
nur 5 km entfernten Steinbruch, den sog. Latomien. Für den
Bau ihres grössten Tempels holten sie das Gestein aus den
13 km entfernten »Cave di Cusa< (Richtung Campobello
di Mazara), deren Steinqualität kompakter und deren Farbe
heller war. Dort sind einige der Trommeln von den Massen
des Tempels G in den verschiedenen Arbeitsphasen stehengeblieben, andere, gespaltene auf dem Gelände verstreut.
Anfang unseres Jahrhunderts sollen einige noch auf der antiken Zufahrtsstrasse nach Selinunt gelegen haben.
Bei einer Gruppe sind zwei schon vollständig isolierte Säulentrommeln neben einer dritten im Anfangsstadium zu sehen. Die Arbeit wurde von oben her begonnen, wie es scheint
mit doppelten Rundsägen, so dass nur der in der Mitte der
Spuren stehengebliebene Teil des Felsens herausgeschlagen
werden musste - Kalkstein lässt sich mit Wasser- und Sandzufuhr leicht sägen, auch mit weniger hartem Material. Kanäle für die Wasserzufuhr kann man in dem Fels gut erkennen. Bei genauerer Beobachtung sieht man, dass jeder Kreis
wie in einem Quadrat steht, d.h. es sind im Gestein deutlich
rechtwinklige Vertiefungen auszumachen, die eventuell zum
Aufstellen einer Maschine gedient haben könnten.
61
Gibellina
Il Creto di Gibellina
Alberto Burri
(1968)
Gibellina
Nach dem Erdbeben 1968, das im sog. Tal des Belice mehrere Ortschaften mehr oder weniger stark beschädigte, wurde
den Einwohnern des fast völlig zerstörten Bergdorfes Gibellina untersagt, ihre Häuser wieder aufzubauen. Zehn Jahre
waren sie gezwungen, in ungesunden Wellblechbaracken
zu leben, bis der Staat entschied, 28 km entfernt, dicht an
der Autobahn, ein Gibellina Nuova zu errichten. An dem
Wiederaufbau waren Architekten und Künstler ganz Italiens
beteiligt (Pietro Gonzaga, Gino Severini, Fausta Melotti, Arnaldo Pomodoro, Ignazio Moncada u. a. m.). Das Resultat ist
sehr umstritten.
Auch die verlassene Ortschaft in den Bergen entging nicht
dem Kunstrausch: Nach einem Projekt von Alberto Burri
wurden die Ruinen mit weissem Zement eingegossen, und
nur die tiefen Gräben des alten Strassensystems durchschneiden das kompakte Ensemble aus Zement. Nach der Meinung
einiger Intellektueller sei der Ort in seiner Trostlosigkeit nun
vorzüglich dafür geeignet, Theaterstücke, vornehmlich Tragödien, aufzuführen. Doch über die Jahre hinweg erwies sich
die Initiative als wenig erfolgreich.
63
Il Creto di Gibellina
Alberto Burri
(1968)
You reach it after kilometres of passing scarcely another vehicle, with next to no inhabited houses. More than thirty years
after the earthquake, in almost total silence, amidst stillstanding ruins you can make out the tiled floors of a home,
concrete beams with their reinforcements twisting in the air,
or doors opening onto nothingness, If you go there at night,
the Cretto offers an eerie presence: its white surfaces dimly
but clearly reflect the moonlight and stand out against the
absolute darkness of its surroundings.
Alberto Burri‘s idea for Gibellina is linked to his monochrome series, Cretti. They went on show in Bologna for the
first time in 1973, and are in fact aqueous masses compounded of vinyl glues and zinc or kaolin white, which Burri leaves
horizontal to dry on trestles, constantly controlling their evolution; he examines and manipulates them daily during the
drying process until the paste finally splits and cracks. The
matter acquires corporeity and a cracked landscape appears
in it, furrowed with manifold fissures which will abound in
the gradual objectualisation of Burri‘s painting,
The central theme of these paintings is the process of reorganisation of matter when submitted to a sudden change
in state. But this is not nostalgic matter which activates our
memory by associating colour and texture with memories. It
is abstract, monochromatic, deprived of all external references and remaining opaque to everything but its own processes,
anything beyond its system of transformation. As a result, the
artist accepts forms and configurations which he can neither
completely foresee or anticipate, and becomes an apparently
64
non-central factor in his work, adopting a tangential, foreign,
distanced attitude. His role then lies in initiating processes,
setting them under way and letting them follow their course,
controlling their development, accelerating or slowing it, inverting or restructuring the external conditions -humidity,
density of load, configuration of limits-, yet without directly
modifying or transforming any but secondary aspects.
What becomes manifest in this series of works, as in so many
contemporary works and authors, is the total independence
of the painting and, by extension, of the artistic proceedings
and products. What Burri refers to in his Cretti is not, as a
first glance would seem to indicate, the ground cracked by
drought and sun. Even horizontal work, like in Pollock‘s
drippings, checks the traditional means of visual control
over the result. This underlines their radical autonomy: their
purpose lies within them, in the event that produces them.
What we are presented with in the Cretti is merely a selfreferring process, unrelated to any figurative allusion which
points up the properties of the matter and the course of time
in the configurations -temporary states of balance- it gradually adopts,
One night in January 1968, while Alberto Burri‘s work was
obsessively, slowly turning around matter and its processes,
an earthquake shook the valley of the river Belice, which
crosses the western edge of Sicily from north to south. Over
a thousand people died and almost a hundred thousand lost
their homes. Twelve towns were completely destroyed, including Gibellina. Situated in an impoverished area but one
of great cultural richness, between Segesta and Selinunte, at
that time it had over six thousand inhabitants. Only the cemetery was left standing.
Unlike other communities affected by the quake -Salaparuta,
Santa Ninfa or Poggioreale- which decided to rebuild their
towns from scratch over the ruins of their houses, the new
Gibellina was to be built along the lines of the garden city
model, near the train line and a motorway, on a plain some
20 kilometres from the remains of the original town destroyed by the seism.
After his visit to the town in 1981, Alberto Burri proposed
a great white Cretto which would blend in with the lie of
the land over part of the ruins of Gibellina Vecchia, like a
sudden solidification of a mass in fluid state: a large waving surface, cracked with passable fissures and rifts which
roughly reproduce the layout of the old town. In this way, a
mesh of paths is woven between the 122 blocks into which
this great white outflow is split: „People can walk along
the paths to the places where the church, the town square
used to stand, where the fiestas were held .. ,“ Rather than
removing the ruins with all their rubble, they are left inside
the blocks: cases built with side walls of white concrete shuttered with plastic and sealed with a layer of concrete. They
form a discontinuous archaeological landscape, composed of
warped white surfaces containing the remains of walls, roofs,
personal effects: the material possessions of a disappeared,
exiled population which has moved its homes to a distance
of some kilometres.
In the fissures of the Cretto, the visitor looks out slightly
above the warped planes which seal the ruins. This spatial
mechanism generates a constantly changing multiplicity of
perceptions of these surfaces: some sloping, some almost vertical; on occasion merely disappearing into the sky, and often
into the abstract hills of the Belice valley, But the Cretto of
Gibellina should not be seen or analysed as a mere transposition in scale of the Cretti of the seventies, Neither the process nor the materiality could ever be the same; the coherence
of Burri‘s career precludes an interpretation of it as a simple,
unreflective repetition or an artistic discovery.
THE CRETTO IS ABOVE ALL AN ACT OF NEGOTIATION WITH THE PLACE AND MEMORY, WHICH
BURRI GIVES TO AN ALIENATED, UPROOTED
POPULATION; BY IDENTIFYING THE FORM OF
A PROCESS OF RESTRUCTURING OF MATTER
-IN SOME WAYS SIMILAR TO WHAT HAPPENED
TO GIBELLlNA- AND THE FORM OF THE DESTROYED TOWN, HE CREATES A MECHANISM
TO LINK EVENTS, CONFIGURATION AND TIME.
In Burri‘s artistic work, just like in the actuations of certain
American artists -Robert Smithson, Michael Heizer, Walter
de Maria .. ,to which this work may be likened for its scale
and relation with the landscape, we see an interest in the entropy of the processes of self-organisation which characterise
material systems. In the Cretto, this concern with explaining, manifesting a time which regulates the fluctuations in
levels of organisation, becomes an active attempt to stabilise
65
Il Creto di Gibellina
Alberto Burri
(1968)
a process, cancel it out, by proposing an actuation which, in
turn, makes this dissipating instability -the 1968 earthquakevisible. In the form of the streets of old Gibellina, it identifies
with a stable situation of non-balance, what physicists call a
„stationary state“.
SUPERPOSED OVER THIS OBJECTIVE NOTION
OF TIME, SEEN AS A MAGNITUDE OF LINEAR
REFERENCE WHICH MEASURES THE LEVELS OF
ENTROPY OF MATTER, IS A RETROSPECTIVE time
which delves into the past to link memory -broken, fractured
by the cataclysm- and place, seeing that it is impossible to
recognise signs, physical imprints of habitation in it. But
this on-site project has nothing to do with the conceptions
that the architecture discipline is developing. Burri‘s proposal does not attempt to be a founding act that signposts
a place and aspires to be permanent or essential; it does not
celebrate its tectonicity as a metaphor for building, that existential task which uses what is stable to link man with his
land and his past. This more complex, open concept of place
is a field of forces marked out by directions and points of intensity in which the work is introduced and which it must
question, denying or affirming it, and in any case manage to
transform.
The Cretto does not seek to withstand forgetting by accumulating memories, by a nostalgic operation that challenges
the passing of time, that evokes and perpetuates irretrievable
images; it aims to build another town, unlike the new Gibellina, which will condense its identity and give its inhabitants
66
an untraumatic link with their past; one which will manipulate time to give memory and place an abstract, unallusive
image, thereby creating an artificial landscape of maximum
intensity in this desolate spot in inland Sicily.
Municipio (Rathaus)
(1971-87)
Gibellina
Architekten:
Giuseppe Samona, Alberto Samona,
Venedig/Rom
1970, nach dem Erdbeben, wurden Giuseppe Samona, Vittorio Gregotti, Gianni Pirrone und AIberto Samona beauftragt, das neue Centro Civico für Gibellina zu entwerfen.
Das Projekt folgt als offene Linie der vorhandenen Topographie. Während das Gesamtprojekt auf eine gemeinsame
Planung zurückgeht, wurde das Rathaus von Giuseppe und
Alberto Samona entworfen, der Markt von Vittorio Gregotti, das Centro Sociale von Gianni Pirrone, die Bibliothek von
Gregotti und Alberto Samona sowie auch die Gebäude, die
diverse öffentliche Einrichtungen zusammenfassen.
Wieviel Rücksicht das Rathaus auch nahm, es wurde nur
teilweise ausgeführt, z.B. fehlt der Büroflügel, der den Rathausplatz abschliessen sollte. Das architektonische Konzept
basiert auf dem Kontrast der Struktur des grossen Versammlungsraumes aus Sichtbeton mit der Linearität des Bürogebäudes, verkleidet mit örtlichen, gelben Tuffsteinen 30 x 30
cm. Sie vereinheitlichen die Volumen, die eine einfache Aufreihung von verschienen Büro-Einheiten sind. Der Ratssaal
im Erdgeschoss ist von vorgelagerten Arkaden umgeben.
67
Case di Lorenzo
(1981-87)
Architekt:
Francesco Venezia, Neapel
«Bedda»: Das sizilianische Wort für wundervoll. Architettura metafisica, in der Faszination höchstens vergleichbar mit Aldo Rossis Friedhof San Cataldo, sonntags. Das
Fragment einer Palazzo-Fassade aus dem alten Ort wird Teil
eines elementaren Museums, am Stadtrand wie früher, aber
vollkommen verhüllt und geschützt vor der Leere des neuen
Gibellina, wie beiläufig steht es an der Strasse.
Ein abgesenkter Weg führt durch die Erde, die den Palazzo
hervorbrachte und zerstörte, in eine Welt aus Stein: Den Innenhof mit der Fassade, eingefasst von Tuffsteinstreifen aus
Enna, wieder symmetrisch. Getrennt durch Fugen. Die übrigen Wände ausgefacht mit Steinen aus Mazara und Alcamo.
Den Weg weiter, die mit Lavastein belegte Rampe hinauf,
hinaus aus dem Hof in eine schwebende Stirnhöhle ohne
Ausblick, ein harter Schatten an der Südwand, ein Schlitz im
Boden. Wieder hinein in den Gang zwischen Hof und Strasse, Blicke durch leere Fenster, das Piano Nobile. Eine einzige
Öffnung durch den Hof zur Stadt. Am Ende ein abgelöstes
Refugium, Steinbank, Wasserbecken von einer Schlange bewacht, die «verdoppelte» Nordwand. Durch den Schatten
wandert der Lichtstreifen der Fuge, das Gegenteil der Südseite. Die Rampe soll in einen terrassierten Limonenhain
münden. Das offene «Grab» der Case di Lorenzo stellt die
Beziehung zwischen innen und aussen nicht nur in einen
räumlichen Zusammenhang.
68
Gibellina
Farmacia Girardi (Apotheke)
(1981-84)
Gibellina
Architekten:
Franco Purini, Laura Thermes, Rom
Die Apotheke ist das erste realisierte Haus des virtuos zeichnenden Paares Purini/Thermes nach Purinis Trennung von
Gregotti, ein Auftrag in der Folge des «Belice 80». Sie sehen es als Summe «kontrollierbarer» Elemente (Fassade,
Kolonnade, Treppe, Studio, Kurve), als bewusste Antwort
auf die Dauer des Bauens im Süden, die Beschreibung dieses
Zeitraumes als Fragment selbst und der Fragmente darumherum.
Der Entwurf wird geordnet von einer autonomen Achse, beginnend mit dem Bild einer «Urhütte» über dem Eingang,
ein mit Glas und Blech gedeckter Patio für das private Obergeschoss. Quer dazu eine sekundäre Achse mit Treppe und
aufgeständertem Studio, eine exhibitionistische Antwort auf
den Platz, an dessen Stirnseite die Apotheke liegt. Die Fassade stellt mit ihrem Bild den Massstab in Frage, sie «verweigert» sich hin zur Nebenstrasse, ebenso wie die Kolonnade
ohne Abschluss entlang eines engen Fussweges: gebrochene
Elemente des Bauens.
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Giardino (Garten)
(1985-87)
Architekt:
Francesco Venezia, Neapel
Lange Zeit lag eine Sammlung alter Steine auf einem Bürgersteig Gibellinas, das waren die Vorboten des gerade realisierten «Giardino» von Francesco Venezia als existenzielle
Variation eines Steingartens, die Definition einer Ecke. Ein
Haus unter Häusern, aber ohne Dach als Bild des Unvollendeten und Zerstörten, das sich nun in einen Garten verwandelt hat. Eine Mauer folgt der Strasse und berührt dabei
die Kante des angehobenen «Gartens», der sich in eine der
Fussgängerstrassen schiebt, von einer Rampe erschlossen.
1m Zentrum einer quadrierten Spirale ist ein Brunnen vorgesehen, ein etwas abgesenkter Travertin-Zylinder, der durch
das Wasser erodiert wird. Die inneren Mauern werden mit
den alten Tuffsteinen aus Caltanissetta errichtet, die äusseren
betoniert. Die horizontale Streifengliederung entsteht durch
Zuschläge von Marmorpulver oder Flusskieseln und Auswaschen der Oberfläche. Lavaplatten vom Etna sollen den
Boden bedecken. Durch leere Fenster blickt man über die
Resträume zur Kurve - nicht begehbare Distanzgärten - auf
Ausschnitte von Strasse und Häusern, hier soll ein Eukalyptusbaum gepflanzt werden.
70
Gibellina
Case di Stefano
(1985-88)
Gibellina
Architektinnen:
Marcella Aprile, Teresa la Rocca, Palermo, 1985-1988
Das alte Feudalgut der entschädigten Barone di Stefano, denen früher der Salinella-Distrikt gehörte, wird momentan zu
einem Museum umgebaut, oberhalb der neuen Stadt. Vorgesehen sind zwei parallele Höfe, der hangseitige wird von
den alten Gebäuden gebildet. Der ehemalige Kornspeicher
mit seinen charakteristischen Spitzbögen soll das Museum
der Scuola Media aufnehmen, das Wohngebäude gegenüber
ist als Sommerakademie der Universität Palermo vorgesehen. Der Hof ist traditionell mit Kieseln gepflastert, er wird
für Aufführungen der Orestiade genutzt. Neubauflügel für
Wohn- und Verwaltungsräume schliessen die Anlage gegen
Tal und Stadt ab, eine jahrhundertealte Palmenallee führt in
die ehemaligen, inzwischen verkarsteten Jagdgründe.
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Torre Civica
(1986)
Architekt:
Alessandro Mendini, Mailand
Je eine Turmhälfte hat Mendini dem Nord- und Südteil Gibellinas zugeordnet, verbunden durch eine Pop-Wolke, der
Turm als Zeichen der Stadtmitte und des Rathausplatzes in
der Achse des zukünftigen Gartens.
Fünfmal täglich sendet sein Lautsprecher Geräusche aus,
der Mailänder Musiker Mosconi hat den Computer für 99
Jahre programmiert, jeweils zwischen zwei Sekunden und
zehn Minuten, Während der Woche wechselt das Programm
ständig, u. a. mit elektronisch verfremdeten Volksliedteilen,
sonntäglichem Vogelgezwitscher und Todesklagen sizilianischer Frauen, Festtage wie Weihnachten werden durch rituelle Wiederholungen gekennzeichnet. In Ohrhöhe soll ein
weiterer Lautsprecher die Uhrzeit flüstern.
72
Gibellina
Cimitero Nuovo (Friedhof )
(1977)
Gibellina
Ein Mysterium sizilianischer Verwaltungslogik ist der neue
Friedhof Gibellinas, nördlich der Stadt. Er wurde 1977 angelegt, trotzdem muss noch 40 Jahre der alte rekonstruierte
Friedhof benutzt werden, Vorschriften ... Wer es sich leisten
kann, kauft aber schon einen Platz auf Vorrat. Erdgräber
setzen sich nur langsam durch, sie gelten als armselig, einige Tomben stecken deshalb schon im Rohbau. Ihr Entwurf
stammt von Nanda Vigo, die Kuppeln geben dem Friedhof
den Charakter eines arabischen Dorfes, allein in den Hügeln.
Im einzigen Grab ist die sechsjährige «Cudduredda» bestattet, benannt nach einem traditionellen Weihnachtsgebäck
mit Feigenmarmelade. Sie wurde 1968 nach 60 Stunden aus
den Trümmern geborgen, sah ihre Mutter, lächelte und starb,
vermutlich durch Schock und Unterkühlung. Seither wird
sie als Symbol der Hoffnung verehrt.
Pietro Consagra entwarf die bei den Tore des Friedhofs, Mirko einen Bronzesarkophag, der die Kapelle bewacht (Architekt Giovanni Militello).
73
Stadtzentrum
(1982)
Architekten:
Oswald Mathias Ungers, Simon Mathias Ungers
«Der Vorschlag für das neue Stadtzentrum basiert auf drei
städtischen Bildern: dem Stadtgarten, dem städtischen Platz,
der städtischen Arkade, den wichtigsten Bereich bildet der
öffentliche Garten im Westen. Der Garten, der aus Hecken
und einem Baumraster besteht, ist von einer «Wand» aus
zweigeschossigen Reihenhäusern umgeben. Den westlichen
Abschluss der Insel und des neuen Stadtzentrums insgesamt
bildet ein Eckblock, bei dem drei verschiedenartige Plätze
von Wohnhäusern umschlossen werden. Der Garten öffnet
sich zu einem weiteren öffentlichen Platz in Form eines Viertelkreises. Dieser Platz ist als der repräsentative Mittelpunkt
der Stadt gedacht; er wird vom Rathaus begrenzt, das zusammen mit dem Hotel ein Eingangstor zum Stadtgarten bildet.
Jedes Gebäude prägt einen deutlich erkennbaren «Ort», sei
es eine Ecke, sei es ein Tor, an Platz, eine Mauer, eine Passage,
ein Sockel oder ein Block. Alle städtischen Elemente fügen
sich wie Objekte zu einem öffentlichen Bereich zusammen,
der die Vorstellung eines artifiziellen städtischen Gartens
zum Ausdruck bringen könnte.»
Oswald Mathias Ungers
Die Morphologie der Baumassen wurde inzwischen regional
«thematisiert», die südlichen Höfe sollen zu traditionellen
Handwerkerhöfen transformiert, der Garten von einem Museum umschlossen werden. In der Fortsetzung der «Spina»
74
Gibellina
des Rathauses, des Rückgrats, werden «Treppenhäuser» den
Kirchgarten erschliessen.
Le Piazzze di Gibellina
(1987)
Gibellina
Architekten:
Franco Purini, Laura Thermes,
Vittorio Bitto, Mario Trimarchi, Rom, 1987
Ein neuer Entwurf von Laura Thermes (zusammen mit Franco Purini) für die Platzfolge, die sie schon 1980 bearbeitet
hatte, wird gerade gebaut. Parallele zweigeschossige Arkaden
fassen die linearen Räume, eine grosse Voute definiert das
Innen, der Obergaden ist begehbar. Querstrassen werden
überspannt oder von Torbauten begrenzt, ebenso Anfang
und Ende der gesamten Anlage. Der Raum als Angebot wird
seine Nutzung finden, vorhandene Skulpturen werden integriert.
75
Paolo Schiavocampo
«Spirale Doppia», 1973
Stahl gestrichen
Pietro Consagra
«Testi», 1983
Stahl
Nanda Vigo
«Tracce Antropomorfé» (Spuren), 1981
Treppenaufgang, Spolie des alten Ortes
Ettore Colla
«Ellittica» (links) und «Meridiana», 1987, Stahl
Pietro Consagra
«Stella - Ingresso al Belice», 1981
INOX_Stahl
76
Arnaldo Pomodoro
Bühnenbild aus der Aischylos-Trilogie
Carlo Ciussi
«Frequenza di Onde», 1982
Edelstahl
Paolo Schiavocampo
«Piazza per Gibellina», 1980
Travertin
Giuseppe Spagnuolo
«Bezugspunkt», 1983
Stahl
Igino Legnaghi
«Tavolo dell`Alleanza», 1980
Igino Legnaghi
«Ritmi Spezzati», 1982
Stahl
Giuseppe Uncini
«Sacrario ai Caduti», 1986
Tuff, Lava, Beton
77
Catania
Dom
(nach 1693, Fassade 1733-61)
Domplatz und Dom
Der barocke Wiederaufbau Catanias erfolgte im grossen
und ganzen nach der mittelalterlichen Stadtanlage, nur wurden die Hauptstrassen breiter, die Nebenstrassen geradlinig
angelegt, die freien Plätze erweitert und zu repräsentativen
Zentren des städtischen Lebens gemacht. Zwei breite Strassenzüge, die sich auf dem Domplatz rechtwinklig schnitten,
durchzogen die Stadt (heute Via Etnea und Via Vittorio
Emanuele). Das Ziel, schnell wieder eine Stadt mit all ihren
Funktionen erstehen zu lassen, gleichzeitig aber durch genügend freien Raum der Bevölkerung einen Fluchtweg bei einem neuen Erdbeben zu garantieren, wurde im wesentlichen
in einem halben Jahrhundert erreicht.
Ausgeschlossen von der Konzeption der Neustadt und in
krassem Gegensatz zu ihr entstanden ausserhalb des einstigen Mauerrings die engen, planlos wuchernden Viertel für
die Ärmeren. Im Zentrum dagegen reihten sich die zwei-,
höchstens dreistöckigen Wohnhäuser der Begüterten, im
harmonischen Höhenverhältnis zur Breite der Strassen (19
m). Sie lagen weit genug auseinander, um viel Sonnenlicht
einfallen zu lassen, wodurch der Kontrast zwischen dem
schwarzen Lavagestein und dem weissen Kalkstein besonders zur Geltung kommt. Auf der Mitte des Domplatzes,
des traditionellen Zentrums Catanias, errichtete Giovanni
Battista Vaccarini (1702-1768) nach römischem Vorbild
einen Brunnen mit dem Wahrzeichen der Stadt, dem Elefanten. (Vaccarini, der Hauptvertreter des römischen Stils, war
1730 vom Senat zum Stadtbaumeister ernannt worden). Die
Catania
Skulptur aus schwarzem Lavagestein, wo ehemals Zielstein
des römischen Amphitheaters, hatte das Erdbeben freigelegt
- nur seine Hinterbeine waren gebrochen. Auf seinen Rücken plazierte Vaccarini den antiken ägyptischen Obelisken,
der wohl in römischer Zeit nach Catania gelangt war (s. Abb.
1). Er trägt der Göttin Isis gewidmete Hieroglyphen.
Den Abschluss des Platzes nach Norden bildet das Rathaus,
nach Westen zu führt die auf der Domachse liegende Via Garibaldi (früher Via S. Filippo) zu einer Art Triumphbogen,
der Porta Ferdinandea von 1768 (heute Porta Garibaldi), die
einst die Innenstadt begrenzte. Auf der Südseite des Domplatzes liegen das Erzbischöfliche Palais, das Seminar sowie
ein Adelspalast. Sie spiegeln die erste, vorvaccarinische Phase des Wiederaufbaus wieder, für die die Rustizierung der
durchgehenden Fassadenpilaster als typisch gelten darf.
Der von der Formensprache des römischen Barock deutlich
beeinflussten Fassade des „Doms (1768 beendet) sind die
Säulen in dezenter Schwingung vorgelagert . An der leichten
Unausgeglichenheit der Konzeption, die nicht gerade eines
der gelungensten Projekte Vaccarinis darstellt, mögen die
Säulen schuld sein, die z. T. aus dem antiken Theater stammen und sich hier nicht völlig harmonisch einfügen.
Der Dom wurde um 1097 als erster Normannendom Siziliens errichtet, eine Ecclesia munita, eine Wehrkirche also, die
in ihrer langgestreckten Form mit den vier Türmen an den
Ecken einer arabischen Festung glich. Nachdem Erdbeben
in den Jahren 1140 und 1169 die Stadt und auch den Dom
schwer beschädigt hatten, wurde ein teilweiser Wiederauf-
79
Dom
(nach 1693, Fassade 1733-61)
bau erforderlich. Nach dem grossen Erdbeben von 1693 erhielt der Dom durch den Architekten Girolamo Palazzotto
(ca. 1686-1754) seine heutige barocke Gestalt, wobei jedoch
die Baustrukturen und der Grundriss einer dreischiffigen
Basilika mit Querschiff sowie - unter den barocken Dekorationen - die gesamte Ostpartie des Doms mit Querschiff und
den drei halbrunden Apsiden erhalten blieben.
Die Apsiden, einst wie das Dach mit Zinnen und Verteidigungsgängen versehen, wurden durch Restaurationsarbeiten
in den fünfziger Jahren von ihrem barocken Stuckschmuck
befreit. Dieser einzige vollkommen intakt erhaltene Teil des
ersten Baus stellt eines der interessantesten Objekte der arabisch beeinflussten Baukunst des sizilianischen Mittelalters
dar - am beeindruckendsten ist der Blick auf den Aussenbau.
Die mittlere Apsis erhielt ein modernes Glasfenster, die Fresken jedoch stammen noch aus dem 16. Jh. An den Wänden
des Querschiffs öffnen sich schmale Fenster, durch die das
Licht einst auf die im Mauerwerk angebrachten mittelalterlichen Treppenrampen fiel, einen Bestandteil des Verteidigungssystems. An den Mauerkanten sind die für arabische
Bauwerke typischen eingestellten Säulen zu sehen.
In der Muttergotteskapelle, der südlichen Verlängerung des
Querschiffs (ursprünglich der untere Raum eines der vier
Verteidungstürme), enthält ein römischer Sarkophag des 3.
Jh. aus Kleinasien die sterblichen Überreste einiger Angehöriger des aragonesischen Königshauses, u. a. Friedrichs
II. (gestorben 1337) und Friedrichs III. (gestorben 1377).
In der Kreuzkapelle auf der gegenüberliegenden Seite, ur80
sprünglich dem unteren Raum eines weiteren Turms, blieb
noch das originale normannische Gewölbe erhalten. Nebenan in der Sakristei zeigt ein von einem Augenzeugen des
Ätnaausbruchs von 1669 gemaltes Fresko die Stadt vor dem
grossen Erdbeben sowie die ehemalige Lage des Castello Ursino, das, von Laven umflossen, nun im Stadtinnern liegt.
Von der ersten Bauphase hat man im Mittelschiff, neben
den ersten beiden Pfeilern links und dem zweiten Pfeiler
rechts, die Basen der Säulen freigelegt, die ehemals die drei
Schiffe trennten. In den Seitenschiffen stehen, vor den leeren Wänden etwas verloren wirkend, schöne Intarsienaltäre.
Die Gemälde darüber stammen vorwiegend aus dem 17. Jh.
Am ersten Pfeiler rechts befindet sich das einfache Grab des
Komponisten Vincenzo Bellini (1801-1835; sein als Museum eingerichtetes Geburtshaus steht an der Piazza S. Francesco in der Nähe des römischen Theaters).
Von der Nordseite des Doms, an der sich noch ein beim
barocken Wiederaufbau übernommenes Renaissanceportal
befindet, liegt ein weit gelungeneres Werk des Architekten
Vaccarini: die 1735 begonnene, erst 1767 vollendete Badia
di S. Agata Die unteren, konvex geschwungenen Formen des
Bauwerks verkehren sich im oberen Teil in ihr Gegenteil, um
die Baumassen auszugleichen. Die Kuppel harmonisiert optisch die umliegenden Gebäude; sie selbst ist mittels starker
Rippen, die von der Laterne bis zur Trommel verlaufen, in
die Architektur der Kirche eingebunden. In dem schneeweissen Innenraum, ein Zentralbau mit vier Kreuzarmen, bilden
der schöne zweifarbige Fussboden und die etwas plumpen
gelblichen Marmoraltäre die einzigen farblichen Nuancen.
Wenige Meter weiter die Via Vittorio Emanuele in Richtung Meer hinunter treffen wir auf die Kirche S. Placido, ein
Werk Stefano Ittars (1769)mit ihrer schmalen, tief einwärts
schwingenden Fassade.
Castello Ursino
(1239-50)
Die Herkunft des Namens Castello Ursino für das letzte Kastell, das Friedrich II. in Sizilien bauen liess, ist nicht sicher
bekannt. Man vermutet, dass es sich um eine volkstümliche
Verballhornung von castrum sinus handelt, „Kastell am
Golf “; dies macht den besonderen Impuls für die Besiedelung deutlich, den die Burg vom Moment ihrer Gründung
an ausübte, vor allem dank der höchst geschickte Wahl des
Standorts durch den parepositus aedificiorum Riccardo da
Lentini (der genau dafür vom Stauferkaiser in einem am 17.
Novemher 1239 in Lodi verfassten Brief gelobt wurde). Diese Anziehungskraft ging allerdings 1669 durch den Ätnaausbruch verloren, der die Küstenlinie, über der das Kastell erst
stand, weiter hinausschob und die Höhenunterschiede an
der Landseite nivellierte. Zusammen mit den älteren Wehrbauten von Syrakus (Castello Maniace) und Augusta bildete
das castrum am Ätna den am weitesten vorgeschobenen und
am besten organisierten Teil einer mächtigen Kette von Beobachtungsposten und Festungen, zu denen auch die weiter
im Landesinneren gelegenen normannischen Burgen von
Motta Sant‘ Anastasia, Paterno und Adrano gehörten. Der
umfangreiche Schriftwechsel zwischen dem Stupor mundi
und Ricardo da Lentini belegt zum einen die relativ schnelle
Fertigstellung des Bauwerks zwischen 1239 und 1250, zum
anderen aber auch die finanziellen Schwie.rigkeiten in der
letzten Bauphase des Castello Maniace, in der man dazu
überging, das Mauerwerk als opus incertum mit viel Mörtel
lmd Lavaschotter anzulegen.
Die Anlage des Castello Ursino bestätigt die offensichtli-
Catania
che Vorliebe der staufischen Architektur für geschlossene,
nüchterne Bauwerke, strenge Symmetrien und schlichte
Proportionsverhältnisse zwischen den Bauteilen. Die Burg
weist einen quadratischen Grundriss von 50 m Kantenlänge auf. Vier grosse Flügel mit je drei kreuzgewölbten Jochen
verlaufen rings um den ebenfalls quadratischen zentralen
Innenhof und sind durch kleinere Eckräume verbunden, die
Zugang zu den vier Rundtürmen in den äusseren Winkeln
des Grundquadrats gewährten. Im Inneren der Türme liegen achteckige Räume mit Zellengewölben, deren Rippen
von einem mittigen Fleuron ausstrahlen und in exquisiten
Hängeknäufen enden. Weitere vier Türme, diesmal halbrund und kleiner im Format, waren in der Mitte jeder Seite
angebracht.
Die Grundrissform lässt sich vor allem angesichts der Rundtürme auf einen ursprünglich persischen Festungstypus zurückführen (es bestehen beispielsweise erstaunliche Analogien zum Kastell im Tal von Faraschband in Iran). Nach Sizilien gelangte dieses Modell mit den Arabern was die Mitarbeit
von Handwerkern und ,Technikern arabischer Herkunft in
den Bauhütten bestätigt. Mit den übrigen staufischen Bauwerken, insbesondere dem Castel del Monte, verband das
Castello Ursino die umsichtige Konzeption der Be- und
Entwässerungsanlagen, die auf (für die damalige Zeit) fortschrittlichen hygienischen Vorgahen beruhte.
Seit 1934 enthält das inzwischen restaurierte Castello Ursino das Museo Civico.
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Badia di Sant`Agata
(1735-67)
Die Kirche für das Nonnenkloster Sant‘Agata (Patronin der
Stadt), gegenüber der Nordseite des Domes, ist ein Hauptwerk des Architekten Giovanni Battista Vaccarini; begonnen 1735, vollendet erst 1767, ein Zentralbau mit grosser
achtseitiger Kuppel und vier ungleich grossen Kreuzarmen,
von welchen der des Eingangs, dem Altarraum gegenüber
befindliche der grösste ist und zugleich die Nonnenempore
enthält. Die dreiteilige Fassade ist fein kurviert, das Ganze
jedoch einbezogen in den rechteckigen Baublock der Kloster-Anlage.
82
Catania
Univervsitätskirche La Collegiata
(1700/20, Fassade 1758)
Catania
Die Kirche hat eine stolze Tradition: ‹cappella regia› schon
im 15. Jh. gewesen zu sein. Der Neubau, wohl noch von Angelo Italia entworfen, ist eine dreischiffige gewölbte Basilika.
Die Fassade jedoch wurde erst später errichtet; sie ist das
Werk des Stefano Ittar, für die das Datum 1768 überliefert
ist. Das Neue und zugleich Originelle innerhalb der reichen
Fülle architektonischer Lösungen im Sizilien dieser Epoche
besteht in der vergleichsweisen Strenge der Säulenordnung
zumal des Erdgeschosses, zusammen mit der römischen Tradition borromineker Kurvatur, kombiniert mit dem spezifisch sizilianischen Motiv der turmartigen Überhöhung der
Mitte zur Aufnahme der Glocken.
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Noto
Dom
Ss. Nicola i Mira E Corrado
(ca. 1700-70)
Chiesa del Crocifisso
(1715)
Der Rang der Stadt Noto als einer der drei Namen gebenden Provinzen („Valli“) Siziliens und deren Hauptstadt (Val
di Noto) bestand seit der arabischen Periode Siziliens im 9.
.Jh. und bis ins 19. .Jh. Von dem Erdbeben des Jahres 1693
war die Stadt so schwer getroffen, dass ein Wiederaufbau an
neuer Stätte beschlossen wurde, mehr in Küstennähe und
etwa 15 km vom alten Ort entfernt. Noto ist die schönste
der sizilisehen Barockstädte durch die Fülle bedeutender
kirchlicher und profaner Bauten, die im Rahmen eines regelmässigen Stadtplanes bei überschaubarer Hanglage zu
ausserordentlicher Wirkung gelangen. Der Dom, erst seit
1844 Bischofskirche, erweist sich als Hauptkirche der Stadt
durch seine zentrale Lage und die (in Sizilien seltene) in voller Breite dominierende doppeltürmige Prachtfassade über
hoher Freitreppe.
Die Chiesa del Crocifisso gilt als das erste architektonische
Werk Rosario Gagliardis (1715) und zeigt sich noch sehr
traditionsgebunden. Die Fassade, in zwei Ordnungen, wurde
am oberen Abschluss nie ganz fertiggestellt. Die zwei Löwen,
die das grosse Portal flankieren, stammen noch aus dem alten Noto. Im Aussenbau finden sich nur ganz schüch­terne
Hinweise auf ein Verhältnis des Äusseren zum Innenraum ein Problem, das sich als Leitmotiv in allen Werken dieses
Architekten findet.
Den basilikalen Innenraum teilen wuchtige Pfeiler in drei
Schiffe. Die Schwere der Pfeiler könnte auf ein Gesetz zurückgehen, das für den Aufbau des neuen Noto starke, erdbebensichere Baustrukturen bestimmte. Die mit Stuckarbeiten und Malereien geschmückte Cappella Landolina links
im Querschiff stammt erst von 1787 . Die Kirche beherbergt
das einzige signierte Werk des Francesco Laurana in Sizilien, die sog. Schneemadonna (z.Zt. wegen Einsturzgefahr
geschlossen).
Noto
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Chiesa San Chiara
(1717-30)
Chiesa San Carlo al Corso
(1736-46)
Die weibliche Ordenskirche S. Chiara mit ihrem Konvent
und seiner charakteristisch abweisend verschlossenen Fassade an der gleichen, leider um 2 m abgesenkten Hauptstrasse
gelegen, ist ein ovaler Zentralraum. Die blockhafte Fassade
überbaut die Vorhalle und die darüber befindliche Empore
mit dem Nonnenchor und seinen Fenstern auf die Strasse.
Das längsovale ·Innere erhält durch die vollplastisch vor die
Wand vortretenden Säulen mit ihren verkropften Gebälken
einen stark bewegten Ausdruck; paarweise in einem Rhythmus kleinerer und grösserer Wandabschnitte zusammentretend, verstärkt sich die Bewegung nach oben in den Aufsätzen der Attika und den Statuen der 12 Apostel über den 12
Pfeilern; in deren Mitte über dem Chorbogen die Gestalt
Gottvaters zwischen Engeln. Das Ganze, von R. Gagliardi
entworfen, war jedenfalls 1748 schon im Bau.
Wieder an der Hauptstrasse liegt die Kirche des ehemaligen
Jesuitenkollegs, S. Carlo al Corso, vielleicht von Rosario
Gagliardi entworfen (1736-1746). Die konkave Fassade
mit drei Säulenordnungen ist elegant in den Baukomplex
des Klosters, der sich bis zur Piazza XXIV Maggio erstreckt,
eingefügt. Die kontinuierlichen horizontalen Linien sind
Kirche und Klostergebäuden gemeinsam, die leicht unterschiedlichen Vertikalen heben die Konventsfassade diskret
hervor. Im dreischiffigen Innenraum mit dem rechteckigen
Querschiff wurden einige eigenwillige architektonische
Lösungen angewandt, um das Aufsetzen der unregelmässig
oktogonalen Kuppel zu ermöglichen. Fresken schmücken,
typisch für die Jesuitenkirchen, die Decke des Mittelschiffs.
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Noto
Chiesa del Carmine
(vor 1770)
Noto
Die Chiesa del Carmine ( und auch der Komplex des Karmeliterklosters wurden nach dem Entwurf Rosario Gagliardis
errichtet - ausgenommen allerdings die Kirchenfassade, die
Fra Alberto Maria di San Giovanni Battista zugeschrieben
wird (Erbauer der Chiesa del Carmine in Scicli) und nicht
mit den Ideen des Gagliardi übereinstimmt. Sie ist nicht
konvex - was dem Innenraum entsprechen würde - sondern
konkav und zeigt gewisse Schwächen im Aufbau; so dringt z.
B. das runde Tympanon der ersten Ordnung in das Fenster
der zweiten Ordnung ein.
Der Innenraum dagegen ist das Resultat der schöpferischen
Reife des Architekten (einzige Dokumente der Bauzeit: die
Bezahlung des Daches 1770). Das längliche Achteck des
Grundrisses erinnert noch an den Longitudinalbau, doch
werden diesem erstmals seitlich tiefe, zylindrische Baukörper zugefügt, die in den Raum eindringen und die vorher
üblichen Nischen ersetzen. In dem Deckenfresko wird eine
damals sehr aktuelle theologische Streit­frage ausgetragen:
Der Triumphwagen der Muttergottes mit Kind zerquetscht
einen Mann, der eine Fahne mit der Aufschrift „Mater non
Virgo« (»Mutter, nicht Jungfrau<) trägt. Vier »rechtgläubige< Ordensbrüder, die u.a. Tafeln mit der Aufschrift
„Mater et Virgo« (»Mutter und Jungfrau<) tragen, bringen
andere, nur mit einem Lendenschurz Bekleidete zu Fall, die
ihre unterschiedliche Meinung zur Schau tragen.
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Chiesa di San Domenico
(1703-1727, Fassade 1732-36)
Palazzo Ducezio
(1746)
Etwas zurückgelegen und erhöht über der Piazza XXIV
Maggio erhebt sich imposant die Kirche S. Domenico und
das ehemalige Kloster der Dominikaner (12; 1703-1727,
heute Handelsinstitut; Portal von Vincenzo Sinatra). Bei
der Kirche gelang es dem Architekten Rosario Gagliardi
vorzüglich, den ihm zur Verfügung stehenden engen Raum
zu nutzen und von aussen die Form des Innenraums deutlich zu machen. Mit der stark vorgewölbten Fassade und der
halbkreisförmig angelegten Treppenrampe davor erzielt er
eine starke optische Erweiterung, zu der ausserdem an den
Inversionspunkten der Kurven die frei in zwei Ordnungen
übereinanderstehenden Doppelsäulen beitragen. Der Innenraum stellt eine sehr eigenartige Verschmelzung eines Longitudinal- und eines Zentralbaus dar. Durch die Abkantungen
der zentralen Stützen (Pfeiler) ergibt sich das unregelmässige
Achteck, auf dem die Kuppel ruht. Der Zentralzone sind auf
den Achsen und auf den Diagonalen rechteckige Räume hinzugefügt, so dass das Schema eines verlängerten griechischen
Kreuzes entsteht. Dabei bedient sich der Architekt der für
den Barock sehr ungewöhnlichen Art des Aufsetzens von
Bogen auf Säulenstellungen.
Etwas weiter folgt der zentrale Platz mit dem Rathaus, dem
Palazzo Ducezio (6), das 1746 nach einen Entwurf von Vincenzo Sinatra errichtet wurde. Der obere Stock, ein moderner
Aufbau von 1951, stört die ursprünglichen Proportionen erheblich. Es handelte sich vormals um ein harmonisches, einstöckiges Gebäude ohne Innenhof, auf drei Seiten von einem
durchgehenden Portikus umgeben, der auch den vorderen,
konvexen Teil umschliesst und an den Ecken den konkaven
Linien des Palastes folgt. Das Innere enthält eine Reihe funktional angelegter Räume mit unterschiedlichen Grundrissen
(rund, oval etc.; Besichtigung während der Bürozeiten).
88
Noto
89
Karten
91
Palermo
92
Catania
93
Touristisches
Essen
95
Palermo
96
Palermo
97
Catania
98
Catania
99
Notizen
100
101
Bibliografie
Sizilien: Insel zwischen Orient und Okzident / Birgit
Carnabuci. Mit Beiträgen von Christoph Höcker und Helga
Lehmkuhl. – Köln: DuMont Buchverlag, 1992
Kunstdenkmäler in Italien: e. Bildhandbuch / hrsg. von
Reinhardt Hootz. Text und Bildauswahl von Wolfgang Krönig. – Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1985
Sizilien / Helmut Scharf. – Zürich; München : ArtemisVerlag, 1986
Sicilia: Antike- Mittelalter- Barock, Band II Objekte / Professur für Kunst- und Architekturgeschichte Dr. Werner
Oechslin. – Zürich : Institut für Geschichte und Theorie
der Architektur, Eidgenössische Technische Hochschule
Zürich, 2007
Romanisches Sizilien / Giovanella Cassata, Gabriella Costantino, Rodo Santoro. – Würzburg: Echter Verlag, 1988
Architettura in Sicilia nelle età islamica e normanna (8271194) / Giuseppe Bellafiore. – Milano : Lombardi, 1990
Sicilia Barocca: Architettura e Citta› 1610-1760 / Salvatore
Boscarino. – Roma: Officina Edizioni, 1981
Le ville a Palermo / Eliana Mauro; fotografie di Vincenzo La
Rosa. – Palermo [etc.] : La Rosa, 1992
Architettura contemporanea a Palermo / Andrea Sciascia. –
Palermo : L’EPOS Società Editrice, 1998
I Samonà: Fusioni fra architettura e urbanistica / Francesco
Tentori. Con la collab. di Antonio Cortese. – Torino: Testo
& Immagine, 1996
Architekturführer Carlo Scarpa / Sergio Los. – Stuttgart :
Hatje, 1995
Dopo il terremoto : Belice 1980 : Laboratorio di progettazione = After the earthquake / testo: Pierluigi Nicolin e.a. ;
commenti: Vittorio Gregotti e.a. – Milano : Electa, 1983
Ein Fragment der Hoffnung: Gibellina / Rainer Franke; in:
Bauwelt Heft 13. – Gütersloh : Bertelsmann Fachzeitschriften GmbH, 1988
Alberto Burris Cretto in Gibellina / Efren Garcia Grinda
und Christina Diaz Moreno; in Quaderns Heft 223. – Lleida : Punctum & Trilcat, 1999
Noto : Idealstadt und Stadtraum im sizilianischen 18. Jahrhundert / Paul Hofer; Einf. von Werner Oechslin. – Zürich
: Institut für Geschichte und Theorie der Architektur, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, 1996
Seminarwoche Frühlingssemester 2008
Professur Wolfgang Schett
Departement Architektur, ETH Zürich
Organisation: Gianluca De Pedrini und Isabel Gutzwiller
Produktion Broschüre: Ralf Figi
Druck: Druckzentrale ETH Hönggerberg
© bei den Autoren
Zürich, April 2008