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NDL - Jugendliteratur im Kontext von Jugendkultur
Diese Mitschrift ist eine Kombination aus meinen persönlichen Mitschriften, den Folien
und den Redemanuskripten.
Inhaltsverzeichnis
1. Dr. Heidi Lexe – Jugendliteratur. Eine Einführung ............................................................... 1
2. Dr. Beate Großegger – Jugendkulturen und Medienkulturen im Wandel ............................ 11
3. Sébastien François - Fifty Shades of Potter.......................................................................... 17
4. Georg Huemer - Träume(n) von ewiger Jugend? ................................................................. 31
5. Robert Buchschwenter – Puzzlespielen Scherbenpark. ....................................................... 35
6. Thomas Walach - Fantasy-Rollenspiele im intermedialen Diskurs. .................................... 36
7. Kerstin Gittinger – Kämpfer der Zukunft............................................................................. 37
8. Ludwig Breuer – Stille Rebellion. Das Medium Comic ...................................................... 57
9. Sonja Loidl – „If the author is dead, who´s updating her website?” .................................... 64
10. Ernst Seibert – Geschichte der Jugendliteratur .................................................................. 72
11. Manuela Kalbermatten – „The world may need you, one day” ......................................... 76
12. Ulrike Eder – Vielerlei Deutsch ......................................................................................... 93
1. Dr. Heidi Lexe – Jugendliteratur. Eine Einführung
Beginn mit Wolfgang Herrndorf: Bilder einer großen Liebe Kapitel 10, S. 29f.
Dies ist eine kurze Szene aus „Bilder deiner großen Liebe“, einem – wie es im Untertitel heißt
– unvollendeten Roman von Wolfgang Herrndorf, der in diesen Tagen erschienen ist.
In dieser Szene verdichtet Wolfgang Herrndorf weibliche Adoleszenz, er verdichtet dasMoment
einer weiblichen Jugend im Spannungsfeld von Selbstbestimmung und Selbstverleugnung in
der Bewegung, die stets aufs Neue weg von etwas führt: „Nie hat mich einer gekriegt.“
Das Ich, das hier spricht ist Isa, das „Müllmädchen“, auf das Maik Klingenberg und Andrej
Tschichatow in ihrem Road-Trip in „Tschick“ treffen. In ihrem Beitrag über „Bilder deiner
großen Liebe“ nimmt Mia Eidlhuber im Standard darauf Bezug:
Wer Wolfgang Herrndorfs – nein, nicht bloß Jugend- sondern ganz großartigen Roman Tschick,
der 2010 erschienen ist und von dem mittlerweile über eine Million in 24 Sprachen übersetzte
Exemplare verkauft wurden, gelesen hat (wer nicht sollte das unbedingt nachholen), wird sich
an dieses Mädchen erinnern. (Eidlhuber 2014)
Ihre Lektüreempfehlung betreffend gehe ich ganz und gar Konform mit Mia Eidlhuber; was
aber will die Formulierung sagen, dass es sich hier nicht bloß um einen Jugend-, sondern
vielmehr um einen ganz großartigen Roman handelt? Wird der Begriff Jugendroman hier als
Qualitätskennzeichnung verwendet, die darauf verweist, dass man es bei Jugendliteratur per se
mit eine literarischen Schwundstufen zu tun hat? Weil eine an nicht vollständig ausgewachsene
Leserinnen und Leser adressierte Literatur gleichermaßen unvollständig sein muss?
Wolfgang Herrndorfs selbst hat „Tschick“ immer als Jugendroman bezeichnet – und er wurde
im Verlag Rowohlt bei seinem Erscheinen im Jahr 2010 auch als solcher präsentiert. Der große
Erfolg von „Tschick“ scheint jedoch Anlass zur Image-Korrektur zu geben, denn kann – so
1
scheint sich die Literaturkritik zu fragen – ein Jugendroman wirklich jene literarästhetischen
Qualitätskriterien erfüllen, die wir gemeinhin (und insbesondere im allgemeingermanistischen
Kontext) an richtig, echte Literatur stellen?
Zu fragen ist aber auch: Hat die große Bedeutung, die Wolfgang Herrndorf heute, bei
Erscheinen seines letzten, posthum veröffentlichten und unvollendeten Romans zukommt,
wirklich nur mit der Qualität und beeindruckenden Breitenwirkung von „Tschick“ zu tun?
Verleiht nicht auch – oder vielleicht sogar vielmehr – das tragische Schicksal von Wolfgang
Herrndorf dem Roman „Tschick“ Kultcharakter? Und lässt sich daher nicht auch „Bilder deiner
großen Liebe“ vortrefflich als Abschiednehmen lesen und Isa als Projektionsfigur eines Autors,
der mit dieser Figur letzte Wege beschreitet – bis hin zu jenem Zeitpunkt, an dem eine P8 ins
Spiel kommt? Denn auch Wolfgang Herrndorf selbst hat sich ja am 26. August 2013 in Berlin
erschossen, zu einem Zeitpunkt, als sein Körper durch einen irreparablen Hirntumor schon
weitgehend devastiert war.
Ein solcher Kultcharakter, der einzelne Werke auf Grund des Schicksals ihrer Figuren und/oder
Autor_innen umgibt, zieht sich als roter Faden durch die Geschichte einer Adoleszenzliteratur
und einer Kultur, an der junge Menschen exzessiven Anteil nehmen.
+ Ich erinnere an den Werther-Kult des 18. Jahrhunderts
+ oder den Teen Spirit der 1990er Jahre, der sich im Grunge und Kult um dessen Leitfigur Kurt
Cobain verdichtet hat
Weder an der außergewöhnlichen literarischen Qualität von „Tschick“ oder von „Die Leiden
des jungen Werther“ ist zu zweifeln; noch an jener musikalischen (gemeint sind damit auch die
lyrics) des Grunge-Albums „Nevermind“; dennoch ist der Kultcharakter dessen, was auf
textinternen Ebene durch die Nutzung ganz unterschiedlicher Formen und Ästhetiken erzählt
wird, durch textexterne Aspekte bedingt: durch den Kultcharakter der Kunstfigur Kurt Cobain
und den Kultcharakter der fiktiven Figur Werther. Oder jener von Wolfgang Herrndorf, der
über das Handlungsfeld der Jugendliteratur hinaus breite Bekanntheit durch seinen Blog
„Arbeit und Struktur“ erlangt hat; und dessen Werke zu seinen Lebzeiten im Feuilleton längst
nicht so breit rezipiert wurden wie nun, nach seinem Tod.
Wolfgang Herrndorfs Blog „Arbeit und Struktur“, der mittlerweile auch in Buchform
veröffentlicht wurde, beginnt mit dem Eintrag „Dämmerung“
Als in Garstedt das Strohdachhaus abbrannte, als meine Mutter mir die Buchstaben erklärte, als
ich Wachsmalstifte zur Einschulung bekam und als ich in der Voliere die Fasanenfedern fand,
immer dachte ich zurück, und immer wollte ich Stillstand, und fast jeden Morgen hoffte ich,
die
schöne
Dämmerung
würde
sich
noch
einmal
wiederholen.
(http://www.wolfgangherrndorf.de/ [13.10.2014; 16:54])
Fast drei Jahre lang folgt Wolfgang Herrndorf in literarisierten Einträgen ebenso wie
persönlichen Notizen seinem Leben mit der Krankheit, seinem Sterben.
Zu der in „Dämmerung“ formulierten Sehnsucht nach dem Kind-Sein führt er auch seine
IchErzählerin Isa, die in einer der letzten Passagen formuliert:
„Der Abgrund zerrt an mir. Aber ich bin stärker. Ich bin nicht verrückt … Ich bin dieselbe. Ich
bin das Kind.“ (S. 128)
Der Roman war ursprünglich als eine Art Neuerzählung von „Tschick“ aus der Sicht Isas
geplant und hat in den Jahren seit 2010 unterschiedliche Stadien durchschritten.
Wofür die Autorin Kathrin Passig, eine langjährige Freundin von Wolfgang Herrndorf und der
Lektor Marcus sich nun – im Einverständnis mit Wolfgang Herrndorf – als Herausgeber_innen
entschieden haben, ist das Moment der Fragmentarität. In Wolfgang Herrndorfs Namen wird
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hier erzählerische Linearität verleugnet und dabei auch auf die Tatsache verwiesen, dass
jugendliche Lebenswelt heute gar nicht mehr linear, sondern eben nur noch fragmentarisch
dargestellt werden kann.
Jugendliche Biografien verlaufen im 21. Jahrhundert längst nicht mehr linear; sie sind –
insbesondere im urbanen Bereich und vor dem Hintergrund einer digitalisierten,
multikulturellen Gesellschaft nicht mehr vorbestimmt; zwar sind wir uns dessen bewusst, dass
unser Bildungszugang immer noch durch unsere soziale Herkunft bestimmt wird; darüber
hinaus jedoch sind biografische Neu-Erprobung und Neu-Erfindung zum integrativen
Bestandteil jugendlicher Biografie geworden. Der Soziologe Ulrich Beck hat dafür den Begriff
der „Bastelidentität“ (siehe Beck 1986) geprägt. Vor dem Hintergrund einer Vielfalt an
angeboten werden Biografien immer neu zusammengesetzt; vor dem Hintergrund der sozialen
Netzwerke werden Biografie in präsentable Kleinteile zerlegt, und Rolle stetig gewechselt.
Wolfgang Herrndorf nähert sich dieser fragmentierten Wirklichkeit nicht zeitgeistig an;
sondern legt sie in seinem Erzählen offen; zuallererst indem er – auch schon in „Tschick“ einen
unzuverlässigen Erzähler nutzt, einem Erzähler also, dem nicht zu trauen ist. Herrndorf, so
formuliert es Wolfgang Paterno, „opfert einen guten Wortwitz gern der Plausibilität der
Handlung“ (Paterno 2014, S. 100).
Die tut er als Gegner gängiger Literaturvermarktungskonzepte, die die Autorenpersönlichkeit
vor das Werk stellen.
Wolfgang Herrndorf selbst gehört einer Erzähl-Generation an, die in den späten 1990er und
frühen 2000er Jahren sehr wohl große Aufmerksamkeit durch die angesprochenen
Literaturvermarktungskonzepte erregt, die sehr wohl die Autorenfigur vor das Werk gestellt
hat.
Ein Ihnen sicher bekanntes Beispiel dafür ist der Roman „Axolotl Roadkill“ von Helene
Hegemann, mit dem ganz auf den Authentizitätsfaktor gesetzt wird, der die „Wahrheit“ des
erzählten durch die Biografie der Autorin beglaubigt.
Helene Hegemann schickt ihre 16jährige Ich-Erzählerin Mifti durch die sich linksintellektuell
gerierenden Künstlerwohngemeinschaften Berlins, in denen Helene Hegemann, Tochter von
Frank Castorfs Chefdramaturgen Carl Hegemann, zu diesem Zeitpunkt angeblich selbst zu
Hause war. Die Literaturkritik reagiert auf die nicht uninteressante Motivik des Romans kaum;
die Authentizität des juvenilen Szenegeschehens jedoch wurde ihm ungefragt beschieden.
Der Literaturbetrieb liebt solche Grenzverwischungen zwischen Autor / Autorin und Erzähler /
Erzählerin und unterstreicht gerne die literarische Qualität eines Textes durch dessen
angeblichen Wahrheitsgehalt. Wie Helene Hegemann wurde in den späten 1990er Jahren
dieserart auch Alexa Hennig von Lange hofiert. Im Fall ihres Romans „Relax“ war es die
Techno- und Drogenszene, in dessen Nähe die Autorin sich dazumal gerne selbst stellte und
damit rasch zu einer Ikone der Pop-Literatur gemacht wurde. (Alexa Hennig von Lange war am
Cover der Erstausgabe ja auch selbst abgebildet.)
Genannt wurde sie gerne in einem Atemzug mit Benjamin von Stuckrad-Barre. Ein wenig zu
Unrecht wie ich meine, weil sich „Relax“ in seiner Erzählstruktur doch deutlich von einer nur
sich selbst verpflichtenden Fun-Poesie vom Zuschnitt des Romans „Soloalbum“ von Benjamin
von Stuckrad-Barre unterscheidet, der als strukturelle Referenz die Popmusik nutzt (erzählt
wird die Geschichte eines soeben von seiner Freundin getrennten Berufsjugendlichen, also
dessen Solo-Album; an den Beginn jedes Kapitel wird ein Zitat von Oasis gestellt).
„Soloalbum“ ist ganz aus dem popkulturellen Referenzsystem seines Autors heraus erzählt und
weist auch allein auf ebendieses Referenzsystem zurück.
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Es handelt sich dabei wohlgemerkt um ein Referenzsystem, das der Autor selbst erst mit seinem
Roman entwirft; im Stuckrad-Barre-Universum haben wir es also ausschließlich mit
Selbstreferenzialität zu tun.
Als eine „Baustelle des Zeitgeistes“ (Radisch 1999) hat Iris Radisch die Pop-Literatur 1999
beschrieben, basierend nicht auf Bildern oder Charakteren, sondern auf einem Rede-Sound, der
stets nur sich selbst zum Ziel hat.
Aus heutiger Sicht war die Pop-Literatur ein Zeitgeistphänomen, die für eine kurze Zeit die
Literaturszene aufgemischt und Lesungen zu Pop-Event gemacht hat. Einem Event also, der in
einem deutlich jugendkulturellen Kontext wahrgenommen und die Pop-Literatur als eine neue
Form der Jugendliteratur etabliert hat. Erst befeuert durch die Pop-Literatur haben Verlage im
deutschsprachigen Raum ihren Blick für die Jugendliteratur neu geöffnet und Erzählprojekte
ermöglicht, die jenseits einer konventionellen Vorstellung von Jugendliteratur liegen. (Und eine
konventionelle Vorstellung von Jugendliteratur entspringt ja immer noch einer sehr themenund problemorientierten Wahrnehmung von Jugendliteratur: Die Welle; Die Wolke; Rolltreppe
abwärts)
Auch der Jugendliteraturforschung hat die Pop-Literatur zu dieser Zeit einen deutlichen Kick
verpasst – um nicht zu sagen, einen dringend notwendigen Kick, indem sie das Forschungsfeld
und den Blick darauf deutlich geweitet hat.
Die Frage nach Jugendliteratur wurde neu gestellt; für eine Neudefinition zu Hilfe genommen
wurden literaturwissenschaftlich längst etablierte Begriffe aus dem Bereich der
Adoleszenzliteratur.
Was heißt das?
Sie kennen den Begriff der Jugendliteratur sicher zuallererst als Teil des Begriffes Kinder- und
Jugendliteratur
Was ist darunter zu verstehen?
Definiert wird die Kinder- und Jugendliteratur über das kinder- und jugendliterarische
Handlungs- und Symbolsystem (siehe dazu Hans-Heino Ewers 2000)
Einem Handlungssystem ordnet Hans-Heino Ewers bestimmte Rollen zu, wie Autor/Autorin,
Verleger/Verlegerin, Buchhändler/Buchhändlerin, Vermittler/Vermittlerin, Käufer/Käuferin,
etc. (Ewers 2000, S. 41).
Zu den Vermittlerinnen und Vermittlern, falls Sie diesen Begriff in diesem Zusammenhang
noch nicht gehört haben, gehören all jene, die Kinder- und Jugendliteratur an Kinder und
Jugendliche weitergeben: Lehrerinnen und Lehrer, Kindergärtnerinnen und Kindergärtner,
Bibliothekarinnen und Bibliothekare etc. Zum Handlungssystem der Kinder- und
Jugendliteratur gehören auch Jurys; gehören Lehrveranstaltungen wie diese; gehören Institution
wie die STUBE (siehe www.stube.at)
Dieserart entstehende Handlungsmuster unterscheiden sich dort von der Allgemeinliteratur, wo
sie spezifischen Einfluss auf die Literatur für Kinder und Jugendliche nehmen – insbesondere
natürlich pädagogischen Einfluss.
Das Handlungssystem meint also textexterne Aspekte der Kinder- und Jugendliteratur
Das Handlungssystem der KJL kann also, muss aber keine Auswirkungen auf deren
Symbolsystem haben
Mit dem Symbolsystem der Literatur für Kinder und Jugendliche sind textinterne Aspekte
gemeint
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Es umfasst „die Gesamtheit von Konstruktionsregeln und Semantiken der Literatur (in unserem
Fall der Literatur für Kinder und Jugendliche), soweit sie die Literaturproduktion, distribution
und -rezeption steuern […]“ (Ewers 2000, S. 176).
Beide Systeme, sowohl das Handlungssystem, als auch das Symbolsystem treffen eine
Unterscheidung zwischen der Kinderliteratur und der Jugendliteratur.
Das Handlungssystem über den Moment einer Alterszuschreibung von Literatur; das
Symbolsystem über poetologische Aspekte.
Beide Systeme werden in dieser Ringvorlesung relevant sein, wenn wir Jugendliteratur in den
Kontext von Jugendkultur stellen
Wir befreien uns also vom Begriff der Kinder- und Jugendliteratur und sprechen im weiteren
Verlauf dieser Ringvorlesung nur noch von Jugendliteratur und deren poetologischen
Grundlagen.
Was umfasst nun eine solche Poetologie der Jugendliteratur.
Ausgehen möchte ich dafür zuerst vom Begriff der Jugend,
darunter ist zuallererst ein Lebensalter zu verstehen; Lebensalter korrespondiert mit
unterschiedlichen Entwicklungsphasen
+ Pubertät, der sexuellen Reifung
+ Adoleszenz, als Reifung hin zum Erwachsensein, als Reifung im Sinne von Lebenserfahrung
und Lebenskompetenz, Reifung zur Eigenständigkeit (soziale Eigenständigkeit, finanzielle
Eigenständigkeit, sexuelle Eigenständigkeit … )
Pubertät kann also als biologischer, Adoleszenz als psychologischer Begriff verstanden werden;
der Begriff der Jugend selbst erscheint vor diesem Hintergrund als soziologsicher Begriff (diese
begriffliche Schärfung stammt von Ernst Seibert und ist dessen Vorlesungen entnommen).
Als ein solcher soziologischer Begriff ist er stark an so genannte Jugendbewegungen gebunden
Vielleicht gerade aktuellste, obwohl auch schon fast wieder vorbei:
+ Regenschirm-Revolution in Hongkong
+ mittlerweile ganz klassische: Punk
Heute hat sich Jugend viel eher zu einem Grundprinzipien unserer Gesellschaft
Die heutige Freizeitgesellschaft pflegt ihre Jugendlichkeit (sie tut das zum Beispiel mit
Wellness und Fitness …)
Und auch die Popkultur lässt die Grenzen zwischen den Generationen verwischen (Rolling
Stones: was in den 1960ern die Ikone der Jugendlichkeit war, zieht sich heute als popkulturelles
Phänomen durch alle Generationen)
Längst hat sich heute auch die Jugendkultur vom offenen Ausleben eines
Generationskonfliktes, von der inszenierten und sichtbaren Rebellion gelöst (siehe
Großegger/Heinzlmaier, S. 6f.) Sie ist, wie Beate Großegger und Bernhard Heinzlmaier das in
ihrem „Jugendkultur Guide“ formulieren, „aus ihren subkulturellen Nischen herausgetreten und
über weite Strecken mehrheitsfähig geworden“ (ebd.). Die Jugendkultur im Sinne einer
[FOLIE] „Alltagskultur der Jugendlichen“ (ebd., S. 6) hat sich zu einer „jungen, bunten und
vor allem überaus populären Freizeitwelt gewandelt“ (ebd., S. 7), an der heute letztlich jede/er
teilnehmen kann.
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Blickt man nochmals auf die beiden Entwicklungsphasen (Pubertät und Adoleszenz), so ist für
beide das Moment des Übergangs wichtig; beiden Phasen wohnt das Moment des
Transitorischen inne
Die Adoleszenz hat begrifflich auch Eingang gefunden in die Literaturwissenschaft: unter der
Adoleszenzliteratur, abgeleitet vom lat. Wort für Jugend = adulescentia, versteht man „Texte,
in denen die physiologischen, psychologischen und sozialen Aspekte des Heranwachsens […]
thematisiert werden“. (Kolk, S. 5)
Ausgegangen wird bei dieser Definition also vom Dargestellten (den „Aspekte[n] des
Heranwachsens“); als prototypisch werden gerne Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“,
„Frühlingserwachen“ (Wedekind), „Unterm Rad“ (Hesse), „Die Verwirrung des Zögling
Törless“ (Musil) und für nach 1945 natürlich J. D. Salingers „The Catcher in the Rye“ und
Plenzdorf mit „Die neuen Leiden des jungen W.“ genannt; und zuletzt natürlich auch Wolfgang
Herrndorfs „Tschick“
Sie finden an einigen Definitionsorten für die Adolesezenzliteratur auch konkreter Angaben
zum Lebensalter, auf das sich die genannten „Aspekte des Heranwachsens“ beziehen; dieses
Lebensalter wird gerne an das Alter der Strafmündigkeit gebunden, bezeichnen also jene
Altersstufen, die zwischen Minderjährigkeit und voller Strafmündigkeit liegen
Im Sinne der Gesetzgebung lassen sich solche Alterszäsuren setzen, im Sinne einer
Entwicklungsphase sicher nicht
Man spricht auch seit längeren davon, dass sich die Zeit der Adoleszenz deutlich verlängert hat
und hineinreicht bis in die 30er (Hotel Mama)
Während Jugend also ein sozilogisches Phänomen benennt, bezeichnet Adoleszenz genauer das
Moment des Heranwachsens und die Adoleszenzliteratur Texte, die dieses Moment des
Heranwachsens und alle damit verbundenen Übergänge thematisieren.
Ein Literaturlexikon wie jenes von Metzler spricht von Adoleszenzliteratur, weil neben dem
Roman auch das Drama mit einbezogen wird; aus der Sicht des heutigen Gattungsspektrum
müsste zum Beispiel auch die graphic novel berücksichtigt werden, auf die wir im Verlauf der
Ring-Vorlesung ja auch noch zu sprechen kommen werden.
Auf den eingeführten Begriff der Adoleszenzliteratur hat die Jugendliteraturforschung nun in
den ausgehenden 1990er Jahren zurückgegriffen, als ein bis dahin eingeführtes Verständnis von
Jugendliteratur von Literaturangeboten außen überholt wurde (Stichwort: Pop-Literatur)
Herauskristallisiert haben sich dabei zwei unterschiedliche Definitionsansätze:
Ergänzend sei vorweggenommen: diese beiden Definitionsansätze schließen aneinander
natürlich nicht aus, sondern nähern sich in der Theoriebildung !! der Jugendliteratur auf
unterschiedliche Weise an.
1)
Mit Jugendliteratur werden all jene Texte bezeichnet, die als solche
zugeschrieben werden. Jugendliteratur ist also eine Frage der Zuschreibung.
2)
Unter Jugendliteratur zu verstehen sind all jene literarischen Texte, in denen
Jugend zentral dargestellt wird. Diese Definition fußt also auf dem
Darstellungsgegenstand eines Textes und entspricht damit der eingeführten
literaturwissenschaftlichen Definition von Adoleszenzliteratur.
Ad 1
Unter Jugendliteratur versteht man also alles, was Jugendlichen an Literatur zugeschrieben wird
(nicht zu verwechseln mit allem, was Jugendliche lesen; dafür verwendet man den Begriff der
Jugendlektüre; vgl. dazu Ewers 2000, 16)
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Diese Zuschreibung werden im Handlungsfeld der Jugendliteratur (siehe Ewers 2000)
vorgenommen, also z.B. von den Autorinnen und Autoren selbst, von Verlagen, von
Vermittlerinnen und Vermittlern in Schulen oder Bibliotheken, von der Literaturwissenschaft,
die Literaturkritik …
Die Frage nach der Jugendliteratur ist in diesem Fall also keine Gattungsfrage.
Heinrich Kaulen plädiert hier für „ein ganz nüchternes Verständnis von Jugendliteratur“
(Kaulen, 4), die als ein „Subsystem des allgemeinen Literatursystems“ (ebd.) verstanden wird.
Als Jugendliteratur
gattungsunabhängig:
gelten
dieser
Definition
folgend
also
gleichermaßen
und
+Mats Wahl: Der Unsichtbare. (Krimi)
+John Boyne: Der Schiffjunge (moderner Abenteuerroman, der im historischen Kontext
verortet ist)
+ „Die Tribute von Panem“ (Future Fiction)
+ „Gretchen Sackmeier“ (ein tragi-komischer Familienroman)
+ John Green: Das Schicksal ist ein mieser Verräter. (Adoleszenzroman, Sick-Lit) + Tamara
Bach: jetzt ist hier (postmoderner Adoleszenzroman)
Jugendliteratur wird hier also verstanden als ein Segment im Kontext des Literaturangebots,
das sich per definitionem an Jugendliche – und damit traditionell an bestimmte Altersstufen
richtet. Ausgesagt ist damit – dies als klärende Ergänzung – nicht über die literarische
Gestaltung (Gattung, erzähltheoretische Gestaltung etc.) und/oder Qualität der jeweiligen
Beispiele. Alles oben genannten Beispiele haben in der Jugendliteratur prototypischen
Charakter.
Problematisch wird diese Definition von Jugendliteratur über das Moment der Zuschreibung
dort, wo die zuschreibenden Instanzen ein zu enges oder zu veraltetes Verständnis davon haben,
was aus ihrer Sicht für Jugendliche geeignet sei. Zuschreibung paart sich also gerne mit der
Frage der Eignung von Jugendliteratur für ihre jeweiligen Leserin_innen. Gebunden ist diese
Frage an die leidige Diskussion um Altersangaben.
Ad 2
Unter Jugendliteratur zu verstehen sind all jene literarischen Texte, in denen Jugend zentral
dargestellt wird.
In einem 1997 erschienen Beitrag mit dem Titel „Vom >guten Jugendbuch< zur modernen
Jugendliteratur“ hält Hans-Heino Ewers mit Blick auf die Entwicklung der Jugendliteratur seit
den 1970er Jahren fest, dass ein „eingetretener jugendliterarischer Wandel“ (Ewers 1997, 8)
mit sich bringt, dass „moderne Jugendliteratur […] keine dezidierte Zielgruppenliteratur mehr
sein“ (ebd.) will und der Leserbezug damit als definitorisches Kriterium für Jugendliteratur
ausfällt (siehe ebd.). Er schlägt daher eine „werkbezogene Definition“ (ebd.) vor:
„Jugendliteratur ist eine Jugend thematisierende, eine jugendliche Lebenswelten
vergegenwärtigende, eine mit jugendlichen Problemen nicht nur beiläufig, sondern zentral sich
auseinandersetzende Literatur.“ (ebd.)
Ergänzend sein darauf hingewiesen, dass der Theorie- und Analyseblick vor dem Hintergrund
dieser Definition nun auch auf Werke fällt, die ursprünglich nicht Jugendlichen zugeschrieben
wurden, wie Benjamin von Stuckrad-Barres „Soloalbum“ oder Paulus Hochgatterers
postmoderner Adoleszenzroman „Caretta Caretta“; das bezieht Werke wie Milena Michiko
Flašars Roman „Ich nannte ihn Krawatte“ mit ein, das betrifft Wolfgang Herrndorfs genannten,
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posthumen Roman „Bilder deiner großen Liebe“. Provokativ formuliert: Handelt es sich bei
„Die Leiden des jungen Werther“ um Jugendliteratur?
Ergänzung:
Mit der Definition von Hans-Heino Ewers wird eine deutliche Fokussierung auf den
realistischen Jugendroman vorgenommen – wobei es mir sozusagen wortwörtlich
problematisch erscheint, „jugendlich[e] Probleme“ begrifflich in diese Definition mit
hineinzunehmen. Ist dieser Begriff doch belastet durch die sogenannte problemorientierte
Literatur der 1970er und 1980er Jahre, die das allgemeinliterarische Bild von Jugendliteratur
auch heute noch stark prägt und von der sich eine moderne Jugendliteratur, wie Ewers sie im
Blick hat, deutlich unterscheidet – und zwar durch die literarischen Verfahren, die sie anwendet.
Mit einer problemorientierten Literatur ist eine ganz auf unterschiedliche Themenstellungen
hin fokussierte Literatur gemeint, die auf (siehe Anmerkung einer Teilnehmerin an der
Vorlesung) ganz auf Problemlösungen, nicht aber auf die Glaubwürdigkeit der Figuren setzt;
literarische Verfahren, Binnenstrukturierungen etc. werden hier ersetzt durch eine Reihung von
Ereignissen.
Ebenfalls ergänzend sei an dieser Stelle auf die emanzipatorische Jugendliteratur verwiesen,
die sich seit den frühen 1970er Jahren entwickelt hat (und zu der zum Beispiel die frühen Werke
von Christine Nöstlinger zählen). Hier wird zwar gesellschaftspolitisch bewegt, aber doch
basierend auf der Glaubwürdigkeit von Figuren erzählt; einbezogen werden nach und nach
unterschiedliche Erzählverfahren, die unter anderen dem modernen (psychologischen) Roman
entnommen sind: Mehrperspektivik, Collagenform, Innenperspektivierung etc. Mehr und mehr
tritt der Anspruch des emanzipatorischen in den Hintergrund, und es entstehen – auch durch
Impulse aus dem skandinavischen Raum neue Formen des Jugendromans / der Jugendliteratur,
die natürlich lebensweltliche Themen aufgreifen, aber jenseits einer ausschließlichen
Themenfokussierung literarische Verfahren anwenden, um jugendliche Biografien zu
fiktionalisieren. In der Vorlesung als Beispiel genannt: Laurie Halse Anderson:
Wintermädchen.
Zurück zu den beiden Definitionen:
+ Jugendliteratur definiert über Zuschreibung
+ Jugendliteratur definiert über den Darstellungsgegenstand
Im Vergleich der beiden Definitionen zeigt sich ein Unterschied in der Begriffsauffassung von
Jugend, an den beide Definitionen gebunden sind: Im ersten Fall ist mit Jugend ein Lebensalter
gemeint, womit auch eine Klassifizierungen von Jugendliteratur nach dem Alter ihrer Eignung
und damit eine pädagogische / pädagogisierende Verortung von Jugendliteratur fortgeschrieben
wird;
mit der zweiten Definition wird deutlicher auf Jugend im Sinne eines individuellen
Entwicklungsstadium verwiesen – und damit, wie bereits erwähnt, der Zusammenhang zur
allgemeinliterarischen Definition der Adoleszenzliteratur hergestellt.
Jugendliteratur wird dieser Definition entsprechend also über ihren Darstellungsgegenstand, die
Jugend, definiert;
Das entspricht der etablierten Definition von Adoleszenzliteratur, auf die nun auch begrifflich
wieder zurückgegriffen wird;
Um literarische Verfahren im Kontext eine sich neu etablierenden Form der Jugendliteratur
genauer herauszustreichen, wird der Begriff des Adoleszenzromans wieder nachhaltiger in die
Jugendliteraturforschung eingeführt
–
als
Gattungszuordnung
jenseits
eines
Jugendliteraturbegriffs, der über eine Zuschreibung eine Vielfalt an Gattungen umfasst.
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Eine Ausdifferenzierung dieses Begriffes der Adoleszenzliteratur wird nun – und mit nun meine
ich immer noch die späten 1990er Jahre – zur Möglichkeit, die Jugendliteratur definitorisch in
ihrem Eignungskontext zu belassen, in der Jugendliteraturforschung jedoch mit Hilfe des
Begriffs Adoleszenzroman auf neue jugendliterarische Entwicklungen zu reagieren und diese
in den Kontext der Literaturgeschichte an sich zu stellen – und damit die Jugendliteratur auch
aus dem Ghetto der Eignung herauszuholen.
Deutlich abzugrenzen ist der Adoleszenzroman dabei von All-Age-Literatur; All-Age definiert
sich ja weder über den Darstellungsgegenstand, noch über die Zuschreibung; AllAge sagt nichts
darüber aus, für wen ein Text geeignet ist, sondern für wen er gestaltet ist – denn All Age meint
eine Form der Textgestaltung, die bewusste Signale an unterschiedliche Altersstufen
gleichzeitig gibt.
Zurück zur Ausdifferenzierung des Adoleszenzromans, der nun nicht mehr allein auf Grund
seines Darstellungsgegenstandes definiert wird, sondern durch poetologische Merkmale, die
auch darüber hinausgehen. Ich beziehe mich hier wieder auf Heinrich Kaulen, der diese
Kriterien in einem Beitrag aus dem Jahr 1999 deskriptiv festgehalten hat: [FOLIE] Der
Adoleszenzroman schildert nicht nur die Adoleszenzphase eines oder mehrerer jugendlicher
Figuren, diese „Adoleszenzphase wird [auch] als Prozess einer prekären Identitäts- und
Sinnsuche aufgefasst und findet ihre Binnenstrukturierung in einer Reihe prägender
Krisenerfahrungen und Initiationserlebnisse“ (Kaulen 1999, 7)
Ergänzung:
Der wesentliche Begriff in diesem Zusammenhang ist jener der Binnenstrukturierung;
Krisenerfahrungen zu thematisieren, wie in der problemorientierten Jugendliteratur, sie auf der
Ebene des Plots zu reihen, anzusprechen, auszuformulieren ist von literarischen Verfahren zu
unterscheiden, durch die sich solche Krisenerfahrungen an der jeweiligen Struktur des Werkes,
an seiner Raum- und Zeitstruktur, an seiner Sprachstruktur etc. ablesen lässt.
Als Beispiele können hier Paulus Hochgatterer: Wildwasser oder Alina Bronsky: Scherbenpark
oder die Romane von Tamara Bach genannt werden.
Ausdifferenziert – und darauf möchte in nicht mehr genauer eingehen, werden auch die
Erzählverfahren, die der Adoleszenzroman anwendet; bestimmt werden sie von
Erzählverfahren des modernen psychologischen Romans, aber auch von Erzählverfahren, die
die Postmoderne in die Literatur einbringt: Zitate, das Spiel mit Codes etc. dazu zählen auch
Aspekte wie die Fragmentierung, die ich mit Blick auf Wolfgang Herrndorf bereits
angesprochen habe; dazu zählen aber auch Aspekte von Coolness und Selbstdesign, wie die
Pop-Literatur sie pflegt.
Ergänzend zu Heinrich Kaulen, den ich erwähnt habe und dessen Beitrag in 1000 und 1 Buch
im Jahr 1999 der zentrale Beitrag zur modernen Jugendliteratur, zum Adoleszenzroman und
postmodernen Adoleszenzroman ist, möchte ich kurz auf drei weitere, wichtige
Forschungslinien zum Adoleszenzromans verweisen
+ auf jene von Carsten Gansel
er hat die umfassendste Auseinandersetzung mit dem Adoleszenzroman, dessen
Begriffsgeschichte und dessen narratologischen Aspekten vorgelegt;
+ auf jene von Nicole Kalteis, die das Moment des Transitorischen der Adoleszenz aufgegriffen
und dessen Eingang in die formalen Gestaltungsmittel des Adoleszenzromans untersucht hat.
Sie hat eine Systematisierung unterschiedlicher Bewegungsmuster im Adoleszenzroman
erarbeitet (siehe dazu Kalteis 2006) und erstmals die Trickster-Figur in den Diskurs um den
postmodernen Adoleszenzroman eingebracht hat (siehe Kalteis 2008); prototypisches Werk in
diesem Zusammenhang ist „Caretta Caretta“ von Paulus Hochgatterer;
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Nicole Kalteis spricht hier vom Bewegungsmuster des Zickzack: „Trickreiche Helden im
Niemandsland“ nennt sie Figuren wie Paulus Hochgatterers Dominik in „Caretta Caretta“
+ und last, aber natürlich nicht least möchte ich auf die Forschungslinie von Ernst Seibert
verweisen, der in seinen mentalitätsgeschichtlichen Diskurs österreichischer
Gegenwartsliteratur den Adoleszenzroman als „eine Weiterentwicklung [literarischer]
Kindheitsreflexion“ (Seibert 2005, 218) eingebracht und dabei den wunderbaren Begriff
„Altersphasen-Kontrast“ (ebd.) etabliert hat. Dazu wird er Ihnen aber in seinem eigenen Teil
dieser Ring-Vorlesung sicher mehr erzählen.
Wichtig für den Adoleszenzroman ist das Moment des Ausschnitthaften: anders als der
Entwicklungsroman führt der Adoelszenzroman die Individuationsprozesse seiner
Protagonistinnen und Protagonisten nicht schlüssig zu Ende; er ist auf das Moment des
Übergangs selbst konzentriert, ist aus der Bewegung und Entwicklung seiner Figuren heraus
erzählt und erhält diese Bewegung auch aufrecht. Ein Kennzeichen des Adoleszenzroman ist
dann, wenn er nicht überhaupt mit dem Tod des Protagonisten oder der Protagonistin endet, ein
offenes Ende.
Noch einmal zurück zur Initialzündung dieses neuen Diskurses über Jugendliteratur und
Adoleszenroman, zum Definitionsvorschlag für Jugendliteratur von Hans-Heino Ewers:
[FOLIE]
„Jugendliteratur ist eine Jugend thematisierende, eine jugendliche Lebenswelten
vergegenwärtigende, eine mit jugendlichen Problemen nicht nur beiläufig, sondern zentral sich
auseinandersetzende Literatur.“ (Ewers 1997, 8)
Wenn also Jugendliteratur definiert wird als Literatur, die Jugend zentral darstellt, dann muss
diese zentrale Darstellung per definitionem jugendkulturelle Aspekte mit einbeziehen, wenn
Jugendkultur als „Alltagskultur von Jugendlichen“ (siehe Großegger/Heinzlmaier 2004, 6)
verstanden wird.
Ohne genauer darauf einzugehen, verwendet Hans-Heino Ewers hier sicher nicht zufällig den
Begriff der jugendlichen Lebenswelten. Es ist ein Begriff, der auch in der
Jugendkulturforschung zentrale Bedeutung bekommen hat (vgl. dazu Heinzlmaier 2009) – auch
hier wieder der Verweis auf die nächste Einheit mit Beate Großegger, die sicher genauer auf
diesen Begriff der Lebenswelt und jenen damit zusammenhängenden der Intersubjektivität
eingehen wird.
Geht man also von der Definition von Hans-Heino Ewers aus, muss Jugendliteratur per se
solche lebensweltlichen Aspekte mit einbeziehen. Das tut sie sicher dort, wo aus bestimmten
Szenen heraus erzählt wird – ich habe auf Alexa Hennig von Lange oder Benjamin von
Stuckrad-Barre verwiesen. Viel interessanter jedoch erscheint mir jenes Moment einer
fragmentierten Wirklichkeit, auf das Wolfgang Herrndorf sich in seinem Erzählen bezieht.
Daraus resultiert die Frage nach Zeichensetzungen, auf eine Literarisierung jugendlicher
Lebenswelten beruht.
Welche Zeichen, so könnte die Leitfrage unseres Semesters sein, nutzt also Jugendliteratur um
jugendliche Lebenswelt darzustellen?
In seinem Blog „Arbeit und Struktur“ hält Wolfgang Herrndorf am 31. 3. 2012 zu seinem
Vorhaben, „Tschick“ aus der Perspektive von Isa sozusagen neu zu erzählen, fest:
„Mit etwas Rumprobieren einen Ton gefunden, schreibt sich wie von selbst. Und praktisch:
kein Aufbau. Man kann Szene an Szene stricken, irgendwo einbauen, irgendwo streichen,
irgendwo aufhören.“ (Herrndorf, 2014, S. 134)
10
Mit Hilfe des posthumen Textarrangements von Kathrin Passig und Marcus Gärtner entsteht
sehr wohl Narration; das Moment des Ausschnitthaften jedoch, das dem Adoleszenzroman
innewohnt, wird durch das Lückenhafte Moment des Textes betont – und durch das Moment
der Edition als unvollendeter Roman sozusagen noch einmal gedoppelt.
Das Moment des Transitorischen, das sich in der Bewegung im Raum spiegelt, wird auch hier
aufgenommen: War „Tschick“ ein Roadmovie, so ist auch „Bilder deiner großen Liebe eines“
– allerdings ein Road-Movie zu Fuß.
Im Versuch, sich selbst zu erden steigt Isa von ihrem Müllberg herab; Wolfgang Herrndorf
entwirft dabei Bewegungsmuster die im Erzählrhythmus an Peter Handke erinnern. Er folgt
ihren Wegen und hält inne an Stellen, an dem sich diese Wege mit den Wegen anderer Figuren
für kurze Momente kreuzen:
Kapitel 20, S. 72
Festen Boden unter die Füße bekommt Isa letztlich jedoch nicht. Sie erinnern sich: „Der
Abgrund zerrt an mir. Aber ich bin stärker. Ich bin nicht verrückt … Ich bin dieselbe. Ich bin
das Kind.“ (S. 128) heißt es in einer der letzten Passagen.
Ein „kaputtes“ Werk nennen es Kathrin Passig und Marcus Gärtner den Roman in ihrem
Nachwort.
Es erzählt entlang des Abgrunds, entlang jener Bruchlinien, die durch die prägenden
Krisenerfahrungen und Initiationserlebnisse der Adoleszenz (siehe Kaulen 1999, 7) bestimmt
werden, er folgt einer verrückten Figur; und er folgt damit den emotionalen und geografischen
Verrückungen einer Figur folgt.
Literatur, so hält der Autor Nils Mohl bei der Verleihung des Kranichsteiner Stipendiums für
seinen Jugendroman „Es war einmal Indianerland“ fest,
Literatur ist für mich ein Singular ohne Präfix. Literatur, egal von wem und egal für wen,
funktioniert stets und immer gleich. Literatur, so wie sie mir gefällt, ist das Gegenteil von
Zerstreuung und Irrsinnskonditionierung.
Literatur sediert nicht. Und Literatur motiviert nicht, die eigene Gestörtheit noch
weiterzutreiben. Literatur, das wäre zumindest mein Wunsch, sorgt dafür, dass schlussendlich
unsere Ansprüche an die Literatur hoch bleiben.
2. Dr. Beate Großegger – Jugendkulturen und Medienkulturen im Wandel
Jugendkultur ist Lebensgefühl und Statement zugleich
Young adult literature bzw. all age literature – ist vom Markt erfunden worden
Jugendkulturen – worüber reden wir überhaupt?

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Jugendbegriff: 11 bis 29 – Ausdehnung der Jugendphase und Phänomen der
langanhaltenden Jugend (Kids/Pree-Teens, klassisches Jugendsegment/“Teenager“, junge
Erwachsene/Twentysomethings)
Kulturbegriff: Kultur = „whole way of life“ (Kultursoziologie und „Cultural Studies“);
„Gesamtheit der Gewohnheiten eines Kollektivs“ (Hansen 2003: 17f)
-
der Alltag als Zentrum kultureller Praktiken
-
Historizität als zentrales Merkmal von Kultur
Jugendkulturbegriff
11
-
Jugendkultur dient heute nicht als Begriff, der die Lebensphase Jugend eingrenzt,
markiert eher ein Lebensgefühl und damit verbundene bzw. daraus abgeleitete Lifestyles
(Jugendkultur als Lebensgefühl und Statement zugleich)
-
Jugendkulturelle
Ausdrucksformen
stellen
eine
Verbindung
Gesellschaft/Zeitgeist und dem eigenen Leben/persönlichen Erfahrungen her
zwischen
-
Jugendkulturen als Lebensstilgemeinschaften: „Jugend erscheint hier nicht als etwas
was man ist, sondern als etwas, was man tut (…)“ (Liebsch 2012: 27) – Szenen als typ.
Vergemeinschaftungsformen in der Gesellschaft der Altersgleichen
Jugendkultur als Generationenkultur
„Jugendkulturen sind diejenigen Teile der nationalen oder übernationalen jugendlichen
Population, die für das Jugend-Selbstverständnis einer Epoche oder eines ungefähr angebbaren
Zeitraums Leitbilder setzen (…) ‚Jugendkulturelle Jugendliche’ erfüllen in besonders
markanter Weise die Gestalt einer Epoche (…)“ (Baacke 2007: 227).
Zeitgeist schafft Perspektivität, die uns so uns handeln lässt, wie wir handeln
„Mich interessiert nicht irgendeine große Wahrheit, weil der Glaube an deren Existenz sowieso
die größte Lüge ist, die es gibt. Mir geht es fast ausschließlich um Statements. Und um
Unterhaltung.“ (Helene Hegemann) – „Augen zu und durch.“ (Rikki, Gothic)
Leben in Revisionsbereitschaft
Die Gesellschaft ändert sich, die Jugend auch …
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Unsicherheit wächst, am Ball bleiben wird zur ständigen Herausforderung, das digitale
„Always-on“ laugt aus
Die Frage lautet: Resignation oder Ablenkung – die Jugend hat sich für Letzteres entschieden
Nicht Position beziehen/sich nicht festlegen liegt im Trend: statt dafür oder dagegen zu sein,
„leidenschaftslose Überanpassung“ (Normopathie, Normcore)
Dynamische Beschleunigungsgesellschaft
Karl Mannheim und „das Problem der Generationen“
• In der Jugend/in der „formativen Phase“ gemachte Erfahrungen prägen unsere
Generationenperspektive; diese formt unser Denken und Handeln:
• Die Generationslagerung (Zugehörigkeit zu verwandten Geburtsjahrgängen) setzt nicht
notwendigerweise Generationenbewusstsein voraus und doch gibt sie unserem
Denken/Handeln eine Richtung (Perspektivität in der und durchdie „Zeitheimat“).
• Das Generationsbewusstsein wirkt als Schnittstelle zum Generationszusammenhang:
„Partizipation an den gemeinsamen Schicksalen“ (gemeinsam Erlebtes –
Verarbeitungskategorie).
• Alterskohorten sind soziokulturell nicht homogen – Generationseinheiten verarbeiten den
für den jeweiligen Generationszusammenhang typischen Problemhorizont auf
unterschiedliche Weise.
Mentalitätswandel in den Jugendkulturen
Seit Entdeckung des „Teenagers“:
• Jugendkultur zwischen Konsum und Rebellion
12
Gesellschaftl. Individualisierung und Pluralisierung bringen Wandel – auch in den
Jugendkulturen:
• Vom Generationenkonflikt (inter-generationelle Distinktion) zur Suche nach Abgrenzung
innerhalb der Gesellschaft der Altersgleichen (intra-generationelle Distinktion) –
Protest/Provokation waren gestern …
• Von
sozialmilieuspezifischen
Jugendszenen
Jugendsubkulturen
zu
individualitätsorientierten
• Von Appellfunktion zu einer Überbetonung der Ausdrucksfunktion
„Appell: der will die Welt bewegen, sich zu verändern, er ist Aufschrei, Anrede, Diskussion.
Wer sich ausdrückt, hat hingegen mit sich selbst zu tun, will sich darstellen, ein Stück
Selbstverwirklichung am eigenen Leibe erproben.“ (W. Ferchhoff, Jugendforscher)
Von den Cultural Studies zu Szeneforschung
• Britische Cultural Studies der 1970er/1980er verstanden Jugendkulturforschung als
Forschung über subkulturelle Stile: a) Re-Artikulation der bestehenden kulturellen
Verhältnisse in jugendkulturellen Ausdrucksformen, b) kulturell eigensinnige,
widerständige Praxen – Jugendkulturen als Freiräume jenseits bestehender
Machtverhältnisse
-
Subkulturen werden als kleinere, stärker lokalisierte und differenzierte Struktur
innerhalb eines größeren kulturellen Zusammenhangs begriffen: Beziehung zur
Stammkultur, aber eigenständige Ausdrucksformen und Strukturen, die von der
Stammkultur unterscheidbar macht (doppelt artikuliert – Beispiel Rocker: Rocker sind
in Bezug auf die Arbeiterkultur als ihre Stammkultur artikuliert, sie sind aber auch in
Bezug auf dominante Kulturen wie das Bürgertum artikuliert).
• Heute gelten jugendkulturelle Stile nicht mehr als abhängig von einer Stammkultur,
sondern als wählbar (und dann auch wieder abwählbar)
- Medien und digitale Technologien unterstützen die Globalisierung
jugendkultureller Stile – deterritoriale Vergemeinschaftungsnetzwerke (Communitys)
- Statt einigen wenigen großen Jugendbewegungen, viele kleine jugendkulturelle
Szenen: als post-traditionale Formen einer (lifestylevermittelten) Vergemeinschaftung
Szenen = Lebensstilgemeinschaften
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Szenen = kulturelle Netzwerke, in denen sich Menschen mit ähnlichen Interessen und
einer ähnlichen Lebenseinstellung („Attitude“) zusammenfinden
Wir-Gefühl basiert nicht auf Standes- oder Lebenslageninteressen: gemeinsames
Interesse für das Szene-Thema und für den gemeinsamen Lifestyle als sozialer Kitt
Szenen = Gemeinschaften der Gleichgesinnten und Gleichgestylten
Zugehörigkeit durch kompetente Anwendung des Szene-Codes (Dresscode,
Musikpräferenz, Sprache, Rituale= und performatives Bekenntnis zum „expressiven
Gruppenstils“
Jugendkulturelle Lebenswelten
• Jugendkulturelle Lebenswelten umfassen „alle relevanten Erlebnisbereiche, mit denen
Personen im Alltag zu tun haben (…). Diese Erlebnisbereiche wiederum sind bestimmend
für die Entwicklung und Veränderung von Einstellungen, Werthaltungen sowie
Verhaltensmustern (…)“ (Baacke 2007: 136).
13
• In den jugendkulturellen Lebenswelten spielen ästhetische Erfahrungen, die über Medien
und Konsumartikel vermittelt werden, eine zunehmend wichtig Rolle.
- (Jugend-)Kultur als „Such-Raum“ (Baacke 2007: 160): „(…) Offenheit des Horizonts,
der über kulturelle Praxen neue Muster in die Welt stellt, aber auch als maßstab- und
geschichtslose Versammlung von zerschmetterten KulturErbschaften unterschiedlicher
Art, die sich als beliebiges Sammelsurium präsentieren.“
- Jugendkulturjugendliche agieren als „symbolische Touristen“ (Hepp 2006: 137): Stile
dienen als Mittel der Identitätsartikulation
- „Kultur ist die Art, die Form, in der Gruppen das Rohmaterial ihrer sozialen und
materiellen Existenz bearbeiten … Eine Kultur enthält ‚Landkarten der Bedeutungen’,
welche die Dinge für ihre Mitglieder selbstverständlich macht“ (Clarke et.al. 1979: 41
zitiert in Liebsch 2012: 92).
„Du zeigst mir, wie du aussiehst, ich sage dir, wer du bist“
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Öko-Hippie versus Kommerzbarbie, HipHop versus Hipster: „Die Maske ist nicht die
falsche, sondern vielmehr die wahre Seite des Menschen. Durch sie erst gibt er sich
preis.“ (Ekkehart Baumgartner)
Jugendkulturelle Identität formiert sich aus nach außen hin gezeigter Differenz.
Wo man gerade ankommt, dort ist man und so lebt man – zumindest auf Zeit; als
Grundregel gilt: „Change your look and your mind will follow …“
Bedeutung des Stils: klarmachen, wer man nicht ist
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Stil dient der Orientierung und Abgrenzung: „Man will klarmachen, was man nicht
ist“ (Gerhald Schulze)
Lifestyle als Medium der persönlichen Lebensphilosophie: Man macht sich ein Bild
von denen, mit denen man sich nicht identifizieren will, und zeigt dann mit dem eigenen
Stil, dass man sich selbst völlig anders sieht, anders lebt und auch anders denkt.
Funktioniert auch bei Erwachsenen – Beispiel „Niveaumilieu“: geht nicht mit
„Baggy Pants“ ins Theater, liest Qualitätstageszeitungen und eher selten Comics und
hört vorzugsweise klassische Musik, nicht Black Metal.
Mainstream mit post-heroischem
Protestkulturen punkten mit „Style“
Selbstkonzept
–
Engagement
&
14
Protest von rechts außen: rechtsextreme Jugendkultur 2.0
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„Cooler Style“ mit linker Ästhetik und extrem rechter Ideologie
„We are not a part of your society, we are not of your kind.“
Elite und Geborgenheit und as Recht auf eigenständiges Handeln als Selbstkonzept der
“Nazissen”
Jugendkulturen – was man auch noch wissen muss
• Jugendkulturen sind außerpädagogische Sozialräume: außerschulisch, außerfamiliär,
freizeitbezogen
• Jugendkulturen müssen als Medium kultureller Selbstdeutung verstanden werden. Es
bestehen kaum Berührungsängste mit Konsumkultur und der so genannten
„Kulturindustrie“.
• In einem von populären Medien geprägten Alltag stehen ästhetische Erfahrung und sinnlichsymbolische Interaktionsformen im Vordergrund.
• Mit populärer Ästhetik ist eine Form des populären Vergnügens assoziiert, das sich von dem
in der Hochkultur dominanten Rezeptionsstil klar abhebt.
• Kreativität in den Jugendkulturen = gestaltendes Imitieren: Jugendkulturelle Kreativität ist
alltagskulturelle Kreativität: es fehlt die reflexive Komponente – Publikumsebene:
emotionales Involviertsein, Produktionsebene: Skills & Style (Selfperformance innerhalb
eines vorgegebenen Rahmens)
Co-Evolution von Technologie und Gesellschaft – Jugendkulturen als „Change Agents“
Die Welt als YouTube Clip?
„Wer in einem Buch blättert, ist doch dem roten Faden auf der Spur; verbunden der
Diskursivität der Sprache. (…) Die Optionenvielfalt heutiger Bilderfluten verstärkt diese
Tendenz zum schnellen Wechsel. Der keineswegs mehr auf das Ganze aus ist (…), sondern
wirkungsvolle Bruchstücke anzielt, die allenfalls im Rezeptionsvorgang blitzschnell collagiert
werden oder unverbunden liegenbleiben. Durch solche neuen Wahrnehmungsweisen
erschließen sich neue Verstehens-Prozesse. (…) Damit tritt das Signalentziffern häufig an die
Stelle der Tiefendeutung“ (Baacke 2007: 108).
Jugendzeit ist Medienzeit
Dynamischer Medien- und Technologiewandel verändert jugendliche Lebenswelten und
hinterlässt unübersehbare Spuren in jugendkulturellen Möglichkeitsräumen
Jugendkommunikation = digital + mobil!
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Konvergenz: „Zusammenwachsen“ unterschiedlicher Medien, z.B. TV und Internet
Verdichtung und Beschleunigung der Information
Mediatisierung/mediale Durchdringung sämtlicher Lebensbereiche: Offline- und
Online-Realitäten laufen (scheinbar gleichwertig) parallel
Pluralisierung: Vervielfachung der Angebote und Funktionen
Diversifizierung – Segmentierung der Zielgruppen: spezielle Radio- und TV-Kanäle
und Webangebote entstehen
Kapitelfetischisten vs. Gelesene Prozente
Assoziative Botschaften
15
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Informations- und Kommunikationskulturen im Wandel: Bildzentriertheit und
„verlinktes Lesen“– Prinzip der wählbaren Einheiten
Mixed-Media-Erzählstil und „Sehlesen“ bringen die klassische Schreib-Lese-Kultur
unter Druck: Text, der sich offline aus schriftlichen und grafischen/fotographischen
Elementen sowie online aus auditiven, grafischen, fotographischen und BewegtbildElementen zusammensetzt
Medien sind tragende Säulen des Kulturellen; jugendkulturelles Medienhandeln als
Spiegel breiter angelegter Gesellschafts- und Bewusstseinstrends.
Ästhetisierung
„Let me entertain you“ – Entertainment immer und überall („Always on“) und Leben in einer
Welt der schönen Dinge
„Broadcast Yourself“: Web 2.0 als Bühne

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Web 2.0 schafft eine Kommunikationskultur der Selbstthematisierung: die „Generation
Facebook“ bewegt sich zwischen Bekenntniskultur und Selbstvermarktung
Jugendliche sind zugleich RegisseurInnen und DarstellerInnen ihrer
Lebensgeschichte (LifestylereporterInnen in eigener Sache)
Wenn alle senden, hört niemand mehr zu. (G. Lovink)
Facebook & Co.: wo Marktgängigkeit trainiert wird
In der Erfolgsgesellschaft wird Leistung ohne entsprechende Inszenierung kaum mehr belohnt
(performative Ökonomie)
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Es geht um sich selbst Vermarkten: am Bildungsmarkt, am Arbeitsmarkt und privat
marktförmige Selbstbeschreibungen beruhen auf der Verwendung kultureller Skripte:
Grundlage für die Gestaltung der „wünschenswerten“ Persönlichkeit – Facebook und
Co. als Probebühne, „Selfies“ als Online-Trend
Jede/r und alles werden ständig evaluiert – kaum eine/r hat ein Problem damit: LikeButton und Kommentarfunktion = nach Marktkriterien definierte Evaluationstools
„Hey Mann, so famous ist nicht jeder in unserem Alter. Hey, ich bin ur famous: Ich hab 100
Freunde in meinem Handy drinnen.“ (Gespräch zwischen zwei Lehrlingen in der U-Bahn)
Die Online-Welt des jungen Mainstreams
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85% der 14- bis 29-jährigen Österreicher_innen nutzen Facebook – allerdings nicht
mehr ganz so begeistert wie noch vor kurzem; 69% nutzen WhatsApp (63% beides)
„Wenn du in der U-Bahn sitzt und zehn Minuten fahren musst, dann holst du halt das
Handy heraus und schaust, was es Neues auf Facebook gibt. Und wenn dir langweilig
ist, schaust auf WhatsApp, anstatt einfach die Zeit zu genießen, die du frei hast.“
Rund 60% der 14- bis 29-jährigen Mädchen/jungen Frauen und rund 40% der 14- bis
29-jährigen Jungs/jungen Männer stellen „Selfies“ online.
Ask.fm killt Langeweile: „Da posten die Leute dann uach immer auf Facebook: Fragt´s
mich, mir ist langweilig!“
Defriender – die neue digitale Avantgarde?
Typus: jugendkulturorientiert, weltoffen, höher gebildet und im Freizeitstil betont „outgoing“;
Werte: Individualität & autonomie
16
Online-Social-Media-Praxen im Update: digitales Ausmisten – „digital suicide“, um für einen
exklusiven Kreis von Leuten kurz darauf wiederaufzuerstehen
Am meisten nervt derzeit: Facebook
Vorbilder aus der Populärkulur: Sheldon Cooper, Harry Potter, Travel Shack Vienna
Daft Punk (Thomas Bangalter) : „Mit dem Computer arbeitest du (…) komplett im Virtuellen.
Es ist alles sehr einfach, aber auch sehr traurig. Es ist wie die ‚Truman Show’. Du erzeugst
eine künstliche Welt, speicherst alles ab und klappst den Computer zu. Wenn du ihn
wieder aufklappst, ist die Welt noch exakt dieselbe. Aber so ist das Leben nicht“
(Musikexpress 6/2013, S. 33).
3. Sébastien François - Fifty Shades of Potter.
- When Juvenile Literature Meets Fan Cultures
Introduction
To begin, allow me to introduce Steve Petrick. Who? Steve Petrick, the young man whose
pseudonym on YouTube is “HarryPotteHimself” (sic) and who posted there the following video
in 2010:
http://www.youtube.com/watch?v=I0VlIjXj9NA&list=UU9S-TFQRjcMfFVy6DMmQkbA
Nobody would deny that Steve Petrick is a Harry Potter fan. However, I’m not sure that if I had
asked the question “are there people in this room who consider themselves Harry Potter fan
(even if it was a few years ago)?”, I would have got the same results before and after the video…
This small example seems to call to the fundamental question (“what is a fan?”), doesn’t it?
Yet, S. Petrick is not perfectly representative of the fans academics usually study, and, above
all, isolated cases can rarely lead to good research…
The first thing one must keep in mind is that the objective of “fan scholars” is never to decide
who a fan is and who is not: questions of self-declaration, of vocabulary (think of people who
say “I’m not a fan”, but an “amateur”, a “lover” or sometimes a “connoisseur”), and even of
distinction (somewhere, there’s always someone who is more fan then you are…) are in fact
unavoidable. The second problem with that video is the reason why it has been made: thanks to
his YouTube’s appearance indeed, Steve Petrick has been selected for an American realTV
show about fans called FanAddicts!... and that’s very telling! Being a fan should be a kind of
pathology –an addiction–, and being a fan could be reduced to its most spectacular and
individual dimensions: collecting (sometimes extensively) merchandising and tie-ins from the
Harry Potter franchise, being able to dress up as Harry Potter or to wear everyday Harry Potter
clothes, or knowing everything about the young wizard and his adventures… Moreover,
according to the video, being a fan seems a very lonely activity: where are the other fans, for
instance those who waited with him before the release of the next book or the next movie
episode? And what has Steve Petrick really created himself, and not bought?
In fact, for social researchers, it is more important to know and to understand what fans are
doing and how they act collectively, than what they “are”. In particular, the collective
dimension of fandoms –the “kingdom of fans”, i.e. all the things a novel, a movie, a TV show
or a music band can inspire among their audiences, as well as the community they constitute–
is often a better starting point (and it will be several times during this lecture too!). Precisely as
a kind of introduction to researches in human and social sciences about fans and their fandoms
(but also to my own research), I would like to show how the scope, the visibility and even the
image of fan practices have recently changed, especially under the influence of
17
“juvenile literature”1, starting with the Harry Potter franchise. In particular, I hope you will
find here elements to understand why Harry Potter has played a role in the advent of
“megafandoms”: Prof. Anne Jamison has coined the word to depict the fact that some media
content are now able to raise fandoms with billions of participants from all over the world and
doing a wide range of activities (Jamison, 2013), and it is true that the many “potterheads” –
i.e. the fans of the Harry Potter franchise– have not only founded websites to discuss J.K.
Rowling’s fictional world, but have also gathered during giant conventions, produced drawings,
stories, songs or videos to celebrate the young sorcerer, and even created Quidditch teams to
play the wizards’ game… Even though fans and Rowling seem to coexist quite peacefully, with
mutual understanding, what is epitomized, among other things, by the launch of Pottermore in
2011–an official website which offers additional fictional contents and an online role playing
game–2, the relationship between fans and original authors and/or creative industries is
generally much more complicated: this lecture will also give some insights to understand why.
Above all, I would like to demonstrate here that studying fandoms has become crucial to
understand the original contents themselves, and not only fan creations: fan practices are less
marginal than ever before, and cultural industries tend to integrate them more and more in their
strategies; to sum up, I will argue that fan research is not only a matter of cultural reception, but
a question of cultural production.
My lecture starts with an introduction to the scientific production about fans and fandoms and
its origins to insist on the reasons why fan phenomena seem to have radically changed during
the last fifteen or twenty years. Then, fan fictions, i.e. the narratives written by fans for other
fans, are used as a case study to discover the diversity of fans’ profiles and their interactions,
and to demonstrate how these texts follow norms and rules that are socially elaborated, what
leads to reconsider more legitimate cultural phenomena, like authority or the circulation of
fictional worlds, especially regarding literature for instance.
Outline
I.
II.
Mainstreaming fan cultures
A.
Forever Fan(-atics)?
B.
Fan Studies: In Praise of the Active Viewer
C.
What is “Participatory Culture”?
The “World” of Fan Fictions
A.
DIY Storytelling
B.
Creativity under Constraints
I. Mainstreaming fan cultures
A. Forever Fan(-atics)?
1
I’m using the expression “juvenile literature” to consider both children and young adult (YA)
literatures: not only does the Harry Potter heptalogy operate a kind of transition from one to the other,
but subsequent works such as Twilight or Hunger Games, which are directly in the field of YA literature,
have also generated strong fandoms recently.
2
For those interested, this beautiful picture can be easily contested regarding the Harry Potter lexicon
case
which
led
the
prosecution
of
the
fan
Steve
Vander
Ark
(http://cyberlaw.stanford.edu/blog/2008/04/rowling-v-rdrbooks-trial-concludes-under-media-spotlight)
or the issues faced by the young Heather Lawver when she launched The Daily Prophet website and had
to endure Warner Bros.’s threats during the 2000s (see Jenkins, 2006: 175-216).
18
• Etymology and history
I could speak for hours about the marvelous things fans are inventing and doing today, but there
are some facts I wouldn’t be able to change, in particular the history and the etymology of the
word “fan” (at least in English or in French for the languages I know the best). Both are
important because they explain why so many stereotypes are still associated with fans, either in
the media or in general population… and why we’ve all started to smile or to laugh while
watching at Steve Petrick’s video!
In fact, “fan” is an abbreviation for the adjective or the noun “fanatic” which referred originally
to the most committed devotees of a religion or a cause… and quickly to the most excessive
devotees among them –you know that we’re still using “fanatic” in this meaning in the case of
terrorism… Even if the original word has a Latin etymology, it became abbreviated in English,
probably at the end of the nineteenth century, in the United States, in relation with sports and
perhaps influenced by the expression “the fancy”, a collective term for followers of a certain
hobby or sport (especially boxing), which dates back to the eighteenth century: the supporters
of some team or player, especially in baseball, due to the way they expressed their enthusiasm
collectively, began to be described as “fans” in newspapers at this time.
Quickly, the word’s scope was extended to cinema at the beginning of the twentieth century
with the development of the star-system: stars –the industrial counterpart of celebrities (who
have a much older history)– started to be a key-component of commercial strategies, first of the
silent movies companies, and then of Hollywood studios. The name of some actors and
actresses got famous and was used to attract viewers in theaters, in particular with the
publicization of their personal (and frequently invented) lives: fan magazines can be found as
early as the 1910s, stars started to receive “fan mails”, and the movie companies and studies
created the first “fan clubs” during the same period, even though the expressions were officially
used only from the 1920s and the 1930s respectively.
The success of fandom in the movie industry helped the diffusion of the word in other cultural
spheres which had already aroused fan phenomena, such as music or popular genres in literature
(detective stories, science-fiction, etc.). In particular, science-fiction had a leading role in the
1930s to establish what would be fan practices during the rest of the century: this genre could
be found on multiple media (literature, radio, cinema and later on television) and fans became
sufficiently numerous to organize themselves, sometimes at a national level: again in the 1930s,
their own fan-clubs got more visibility and they launched their first publications or
“fanzines”(for “fan magazines”), and their first conventions, i.e. events where fans of a specific
genre or a specific content gather and exchange ideas or creations.
Whether it regards sports, cinema, literature or music, it’s important to note therefore that the
word “fan” has always been linked to the massification of culture, and more precisely to
moments when some cultural spheres got a more popular audience. Several times, it has been a
way to distinguish the way people use and sometimes appropriate culture: since the word has a
pejorative connotation from the very beginning, it has been a way to stigmatize some collective
behaviors, especially when they belonged to popular social groups.
• Fan cultures & religion
It’s true that what fans do is sometimes frightening, and it evidently reminds the religious origin
of the term. Sometimes, fans act as pious devotees, gathering and doing the same thing at the
same time and at the same place (i.e. having rituals), or invent cults (“cult” is a very common
adjective within fans: “cult movies”, “that quote is so cult”, etc.), revering the same idol, be it
a rock star or Mickey Mouse… By the way, do you know that the fans of the famous Canadian
singer Justin Bieber call themselves the “Beliebers”? But these practices are really new kinds
of religions, aren’t they?
19
This question hides a debate between the specialists of fans and fandoms. For some of them,
who believe in the advent of a postmodern era, the religious metaphor can be appropriately used
while studying fans, because what they practice real lay religions: people have even substituted
to old religions these new cults… For others nevertheless, and I’m one of them, it’s important
to be more cautious: in some cases, the comparison with religion is perfectly justified when
some kind of devotion can be observed or when people have reproduced, towards literary or
pop stars, rituals what they had already practiced in religious contexts: for instance, from the
XIXth to XXth century, some people have tried to collect the belongings of the British author
Jane Austen, even her hair, treating them as “relics”! Likewise, after the death of the Brontë
sisters, hundreds of people came to their house to make a kind of pilgrimage… The problem is
that the motivations of the fans that collect “memorabilia” from their idols should be studied
carefully, since the desire to celebrate a defunct creator –which could be described as a new
“hagiology”– is frequently mixed with a financial appeal.
There are very interesting papers about the pilgrimages of fans towards the former places of
living of their idol, such as Graceland for Elvis Presley’s fans or more recently Michael
Jackson’s Neverland. However, if the word “pilgrimage” may be useful to describe the
mourning process some fans experiment or a kind of accomplishment in the fan’s career, it
cannot be directly applied to the recent “touristic turn” of fandom, with the creation of Jane
Austen tours in England or New Zealand’s touristic boom due to The Lord of Rings movies’
success for example.
Rather than giving a definite answer in this debate, it reveals how difficult it is for fans’ behavior
not be interpreted through a religious frame: fans have been for a long time despised because
they have appeared as excessive devotees, with incomprehensible practices and, in addition,
with illusory and sacrilegious objects of cult; their devotion does not match with the
rationalization of Western societies…
•
The psychology of fans
In the same way, many clichés about fans come from the emotional dimension of their
commitment: from the very beginning, it has been judged as excessive and irrational, all the
more so it is based on popular cultural culture, i.e. cultural goods which are considered as futile
or secondary and which are often commercial. Their attitude was also judged very childish,
especially since they seem unable to distinguish reality and fiction. As a consequence, being a
fan has quickly meant a pathologic love for any cultural product: a love with no distance, no
criticism and which may lead to dangerous behaviors. Besides, some fans have unfortunately
contributed to this image: you’ve probably heard of those fan who have harassed some pop
stars, or worse, kidnapped or killed them; remember for instance Mark David Chapman, a John
Lennon’s fan, who killed the Beatle on December 1980, 8th, only a few hours after having asked
him an autograph.
Media fundamentally “enjoy” this type of event, which is each time an opportunity to reactivate
the clichés around fandoms and to insist on their potential dangerousness. However, studies
show that such pathologic fans not only have psychological problems or practices which are
not linked to their object of passion (drug addiction, alcoholism, etc.), but that they also don’t
share the same profile and activities as the other “mainstream” fans… In particular, they often
act very lonely, not benefitting from the social bonds they can create within fan communities…
As the following of this lecture shows, social judgments about fandoms have changed since the
end of the 1990s, but it remains hard to depart from all the connotations linked to the word
“fan”: due to this kind of pathological discourse in particular, fans have been (and are still often)
considered as people apart from the rest of the audiences. As a consequence, the word “fan”
20
has long been a burden for the fans themselves, and that is why it has also taken years before
they become a proper object of study in the academia.
B.
Fan Studies: In Praise of the Active Viewer3
The academic interest about fans and their fandoms is very recent indeed. It can be considered
as a kind of reaction to the various stereotypes traditionally associated with fans –those I have
just described–, and especially with the most popular fans: it has lead to several books and
articles which have constituted the first wave of the “fan studies” tradition.
•
From Cultural to Fan Studies
Not all research about fans can be assigned to fan studies 4, but that’s under this name that the
majority of scientific works has been produced and kept, until today, a dominant position:
actually, fan studies do not represent a coherent school of research, nor a homogeneous group
of researchers following the same theoretical background; conversely, they have gathered
scholars from a wide range of disciplines, since they are themselves a ramification of another
interdisciplinary tradition, namely “cultural studies”.
Bear in mind that cultural studies are originally the result of the association, during the 1960s
and the 1970s, at the University of Birmingham, of several British social scientists, who had
first contributed to the study of the English working class, especially from a cultural point of
view. One of their initial ideas was to prove the workers’ culture was not entirely guided by
dominant and commercial media: Richard Hoggart, for instance, through an ethnographic
immersion within popular families, demonstrated that workers do not take for granted news
they read in newspapers or receive on TV. They’re not passive readers, listeners nor viewers
and can construct their own (sub)culture, even if they’re in a dominated position.
On the one hand, his followers deepened this approach by giving a particular focus into various
“subaltern groups”, i.e. social groups which had been largely neglected by social sciences until
then: the cultures of “minorities” such as black people, women, or homosexuals have been
studied to show their conflicting relationship with “hegemonic culture” and how they create
their spaces of resistance. On the other hand, studies about the reception process also started a
renewal in the 1980s however: whereas the dominant approach considered receivers as passive
people who directly absorb the messages from media, cultural studies researchers wanted look
at receivers during actual moments of reception, without preconceptions about their
understanding and appropriation of media. With a focus on TV viewers 5, the diversity of
receptions (according to social class, ethnic origin, or gender) has been clearly demonstrated by
these works, as well as the persistence of an active reception among all receivers, even in front
of the most popular TV shows (although its importance may be very different according the
same social demographics).
•
Fan Productivities
It is precisely an heir and a purveyor of cultural studies who initiated the shift to fan studies
during the 1980s. John Fiske, a British scholar who was close to the Birmingham school, who
taught in various places around the world, but who finished his career in the United States,
wanted to apply and to extend the program of cultural studies regarding reception: his goal was
to study the viewers that were generally considered as the most passive and naïve in front of
3
For more details about the research field about fans and fandoms, see Duffet, 2013.
Other scholars have evidently studied “fans” but without using the word; see for instance, among many
others, Robert Darnton’s work on Jean-Jacques Rousseau’s readers (1992).
5
For a wonderful study on readers however, see Radway, 1991 [1986].
21
4
media, namely –I’m sure you’ve guessed– fans, and to prove that they were in fact the most
active viewers or receivers.
As an illustration, one of his main articles (Fiske, 1992) is an attempt to show that the process
of reception can lead to three different kinds of productivities from the receivers, and fans are
precisely those who are able to cumulate these three forms of productivity at the same time.
First, as any other receivers, fans create meaning from the media they are consuming, and
especially from the semiotic resources they provide: that’s what Fiske calls therefore “semiotic
productivity”, and it is already a moment of content appropriation, since a same show can be
understood very differently by individuals with diverse social identities or experiences (as
shown by the previous works on reception made by cultural studies scholars). Secondly, a lot
of people, but fans in particular, talk about what they have received with other people. It could
be through informal conversations or today, through online discussions, but they are all
producing discourses and comments about media: consequently, through this “enunciative
productivity”, the meaning of original content can be once again altered and receivers
demonstrate that they are really active and sometimes very critical in front of media. Finally,
with “textual productivity”, Fiske underlines the fact that fans create new contents based on the
first one, be it new texts, pictures, videos, etc. (as cultural studies have broad conception of
what a “text” is): they extend the original media sometimes very differently and in a very
personal way, what is the ultimate form of appropriation.
•
A continuum of receptions?
Fiske’s work has therefore set the bases for subsequent studies on fans, by suggesting that fans
are always active during the reception process, and that is why researchers should focus on their
practical activities. It was an important rupture with dominant conceptions about fans and their
fandoms, all the more since it suggested that there are no impassable boundaries between fans
and the rest of the audience: everyone can engage in the three types of productivity at a moment
in his/her life, because it is just the extension of the reception process. This idea is not accepted
by all fan scholars, but it has led to various works showing that audiences are a continuum, and
not a juxtaposition of diverse receivers, especially with a more empiric proofs than Fiske.
Indeed, the essential limitation to Fiske’s thesis is his theoretical approach. He has written a lot
about fandom and television, but generally without verifying his assumptions by asking actual
fans according to scientific methods. Even though he is one of the founders of fan studies, with
very useful and referenced reflections, the development of this research traditional would not
have been so important without the contribution of scholars who wanted to know fans directly.
C.
What is “Participatory Culture” (Jenkins, 1992)?
Whoever wants to begin research on fans must know the name of Henry Jenkins: not
surprisingly, he is a former student of John Fiske, but with his major book, Textual Poachers,
published in 1992, he has actively defined fan studies. Although he is also well known today
for his promotion of the “transmedia” concept, he is still a major face of fan studies and his new
reflections about media are precisely based on his understanding of fans’ behaviors, what he
calls “participatory culture”.
•
Inside Fan Communities
Jenkins is representative of the ethnographic turn, typical of the early fan studies at the
beginning of the 1990s: unlike Fiske, he meets many fans, interviews a lot of them and makes
numerous observations inside fan communities; for instance, he goes to fan conventions and
visits groups of fans when they gather by one of their members. Thus, he is one the first scholars
to provide a living illustration of the textual productivity suggested by Fiske, through a study
of concrete fan productions, such as fanzines, fanfictions (see below), vidding (when fans make
22
short films from footages of their favorite shows, recorded via VCR) or filking (when fans
create songs inspired by a media content).
His immersion has been made possible because he is himself a fan (of Star Trek), what could
raise an important issue of objectivity. However, Jenkins addresses directly this issue by
explicating his position –he is an “aca-fan”– and weighting both its advantages and limitations.
For example, he has had access to some fans and communities which are normally close to
newcomers, but it implies to uncover all the stages it requires and to explain the vocabulary and
codes these people use with each others. As a result, he has brought very detailed descriptions
of fan practices and communities and influenced a lot of researchers within academia. In
particular, he is also the first to focus on fandoms as the support of sociability and demonstrates
from then on that fans acts barely alone: that was another great difference with previous ideas
on fans, since they were frequently considered as asocial individuals.
•
Anticipating “Convergence Culture” (Jenkins, 2006)
A decisive contribution of Textual Poachers finally regards what Jenkins says about the
relationship between fans and creative industries –those which precisely provide the media
contents fan are fond of. Thanks to the concept of “poaching”, this relationship ceases to be
uniquely hierarchical and one-way: under certain conditions indeed, fans can contest not only
the meaning proposed by media, but also the cultural industries’ strategies; for instance, fans
can launch mobilizations to prevent the end of their favorite TV show; they're not always
successful, but they’ve sometimes convinced producers or broadcasters, as it was the case with
the final season of Star Trek at the beginning of the 1970s.
Their resistance continues anyway with their diverse productions which can go very far from
the original content: fanfictions or fan arts –i.e. the drawings made by fans– can challenge the
story or the values of the original show so much, that creative industries have sometimes been
forced to intervene, even through legal actions. Thus, fans are participating to culture thanks to
their different productivities, but they are also interacting with the other cultural producers,
those which are generally regarded as more legitimate: that’s the double meaning the researcher
attributes to the adjective “participatory” when he uses the expression “participatory culture”.
In addition, Jenkins has been rather prophetic with such an analysis. In Textual poachers, he
described how audiences can get closer to creative industries, thanks to their active and
sometimes critical reception. But the reverse motion is possible too: facing the empowerment
of fans during the 1990s and the 2000s, especially thanks to the Internet, creative industries
have tried to anticipate further fan practices and to integrate them in their commercial strategies
from the very beginning. In a nutshell, interactions between fans and creative industries
strengthen themselves. Jenkins describes this double evolution as the “convergence culture”,
which is not a simple technological phenomenon in fact.
Clearly, fans have been for a long time an illegitimate object of study in social sciences due to their bad
reputation. Things have changed slowly, but unfortunately, it’s not solely the result of the fan studies’
efforts: the spread of the Internet which have made fandoms more visible and more massive, is rather
the key-factor to understand why the image of fans is evolving, even in media and general population.
Moreover, the first generation of fan studies has first had to struggle against all the stereotypes linked
to fan practices, and that’s why they insisted more on the positive aspects of fandoms: creativity,
capacity of mobilization and resistance, etc. Jonathan Gray, Cornell Sandvoss and Harrington (2007)
call that moment the “fandom is beautiful” period to mean that it has missed some important dimensions
of fan phenomena, such as the limitations of their creative liberty or the conflicts between fans
themselves. My proposition is therefore to illustrate this other side of fandoms and their recent evolution,
through an emblematic example of fan practices, namely fan fictions…
23
II. The “World” of Fan Fictions
“Fan fictions” are a strange world indeed: a textual universe where the famous detective
Sherlock Holmes can fall in love with his dear Watson, or where the brothers Winchester from
the TV show Supernatural can have babies… hum, hum… together! They can be also a very
encrypted world with its own terminology: do you know for example what
“hurt/comfort”, “slash”, “OOC”, “HP/DM”, or “beta-reader” means? Nevertheless, I won’t
explore the “world” of fan fictions, using the word “world” as a broad and vague metaphor:
after a description of the dominant analysis of fanfictions, the ones which come directly from
fan studies, I’ll show how “worlds” are a theoretical tool which I borrow from Howard Becker’s
concept of “art worlds”, to explain how these texts are the results of strong social norms, and
in order to identify the origin of these norms, both in the interactions between fans themselves
and between fans and creative industries.
A. DIY Storytelling
1) Some Historical Landmarks
Although most of fanfictions are nowadays published online, the history of fan fictions has
started much before the Internet. Fans themselves have started speaking of “fan fiction” at the
end of the 1960s, in the United-States (which is not a surprise after what I’ve said before about
the origin of the word “fan”): at this moment, science-fiction was attracting a more broader
audience thanks to the creation of new shows, on television this time, starting with Star Trek.
Consequently, more fans –even if it has led to tensions between the traditional science-fiction
fans (with literary references) and the new ones– began to discover and to take part into fan
activities: in particular, it opened a new era for fandoms with the multiplication of fanzines, i.e.
the magazines created by fans… But simultaneously the content of these fanzines evolved too.
Whereas first fanzines dedicated most of their pages to critical analysis of original contents
(“could this spaceship actually work?”, “is such plot coherent with the previous one?”, etc.) and
sometimes to the publication of original science-fiction stories written by fans, fictions inspired
by the original contents were denigrated and mostly invisible. Things changed precisely at the
end of the 1960s and in the 1970s thanks to a new generation of fans among which women
succeeded to have a more active and leading part 6: these fans made room in fanzines for
fictional pieces directly derived from the original universes – i.e. “fan fictions”– or even created
their own fanzines only dedicated to this type of texts, in particular during the 1970s. That can
be regarded as the first birth of modern fan fictions.
Compared to other fan practices, writing fan fictions had however little legitimacy since it was
based first and foremost on popular media products (i.e. TV shows) and since it was neither
commentary, nor “original” fictional content. That’s why fan fictions have remained for several
years a niche activity, but a stronger and stronger one: between the 1970 and the 1980s, fan
fiction writers found new sources of inspiration, outside science fiction (such as police dramas
like Starsky and Hutch, Miami Vice), outside the United States (with British TV shows, such as
The Persuaders! or Doctor Who), and outside TV (with movies success like Star Wars). They
also invented specific genres and specific words to design their texts which are still in use today:
“slash” indicates, for example, the fan fictions in which two male protagonists have a love
affair, even if they were definitely heterosexual in the original story; the word was first used to
identify some Star Trek fan fictions starring Kirk and Spock (and signaled as K/S, what you
6
Please do not believe that there were no women among fans before: gender stereotypes have for a long
time prevented them from belonging to the most influential fan groups (see, for instance, the gendered
divide among the Sherlock Holmes fan-clubs which has lasted until the 1990s), and from promoting
certain types of fan practices (such as fan fiction…).
24
must pronounce “Kirk slash Spock”), but it isn’t difficult at all to find HP/DM, i.e. fan fictions
in which Harry Potter and Draco Malfoy fall in love (on often more…), within the Harry Potter
fandom today!
Besides, fans are generally early-adopters of innovative media contents –I’ve just talked about
science-fiction TV shows in the 1960s–, but of new technologies too. Thus, nobody should be
surprised to discover that American fan fiction writers quickly took advantage of the Internet’s
ancestors in the 1990s (especially Usenet), because it made easier and less expensive text
sharing. Nevertheless, it kept the phenomenon very typical of English-speaking countries and
the general audience had still no idea of what was written and published by other fans.
The second birth of modern fan fictions (and more generally of fan activities) came in fact from
the generalization of the Internet in Western societies at the end of the decade: not only did it
make texts even more accessible and visible, but a larger part of the population became aware
of this activity too, and a larger proportion tried to participate. Fan fictions began to appear in
specific sections of specialized fan websites, next to general information about series or movies,
or next to fan discussions for instance; first fan fiction archives –i.e. websites specialized in the
storage of fan fictions– were also created during this period, such as fanfiction.net in 1998
which remains until today the biggest and the most diverse fan fiction repository.
Above all, fan fictions benefitted in parallel from the unexpected success of the literary saga
Harry Potter, whose successive episodes were released with months and sometimes years
between each others: the waiting time was obviously far too long for a lot of readers and that’s
why Rowling’s works have become the major source of fan creativity ever; as an illustration,
on fanfiction.net, there were in October, 2014 nearly 700,000 “potterfictions” and you must
remember that it is only one site of publications among others (general or specialized websites,
blogs, etc.). Harry Potter also helped younger fans to enter into this writing practice and set the
ground for other successes from juvenile literature to become the source of new fan fictions: as
a consequence, Percy Jackson by Rick Riordan, Twilight by Stephenie Meyer, or The Hunger
Games by Suzanne Collins more recently have generated a lot of fan texts 7. Besides, Harry
Potter and juvenile literature more broadly have been wonderful catalysts for the phenomenon
because they participate to the globalization of fan activities: English is not the unique language
of fan fictions anymore, and it has become easier to find fan fiction written in Spanish, German
or French since the 2000s, as well as translations from texts initially written in English.
But the migratory trend hasn’t stopped: new websites have recently become powerful fan fiction
archives. Kindle Worlds is a good example: in 2013, Amazon, the leader of ecommerce in the
Western world, has created a publisher service on its US website, through which everyone can
sell his or her fan fictions, provided Amazon has signed an agreement with the original author
in order to share money between the fanfic writer, Amazon and the original creator. But selfpublishing websites like Wattpad or Movellas are now in the game too: they’re more userfriendly than the previous archives, and defend the idea that people have a lot of imaginary
worlds to share. However, they attract not all kind of fan fictions and tend to specialize in RPF
(Real Person Fanfiction), such as stories involving the members of famous boy bands, like One
Direction or 5 Seconds of Summer. Finally, with the release and, above all, the editorial success
of the Fifty Shades of Grey novels, which are a former fan fiction written by E.L. James (under
the pseudonym “Snowqueens Icedragon”), the mainstreamization of this fan practice seems
difficult to stop…
2) At the Roots of Storytelling
7
In the same way, I could have mentioned The Mortal Instruments by Cassandra Clare, an author who
is a former fan fiction writer!
25
As said before, fans have become a scientific object of study since the turn of 1990s, especially
thanks to the seminal work of Henry Jenkins, Textual Poachers (1992). But what is particularly
striking is that entire chapters of his book were already dedicated to fan fictions, although it
isn’t the activity people intuitively associate with fans… Thus, fan fictions have started to
intrigue researchers long before their online propagation: the first scientific articles about it
were published in the 1980s, remaining mostly confidential 8, but as Jenkins’ work, they were
already asking why people spent time and energy writing and expanding existing stories.
Whereas fan fictions, like any other fan practice, can be considered as pointless, childish and
uncreative –in short, at odds with the ideals of rationality and originality of modernity –,
scholars have shown that they represent a kind of return to traditional (and perhaps “natural”)
forms of storytelling. First, referring to classical works in anthropology, several researchers
have tried to link this writing activity to the social function of storytelling in traditional
societies, and more broadly to the social circulation of stories before the invention of intellectual
property9: in numerous tribes for instance, members regularly gather around one storyteller
(whose role in the tribe is sometimes totally dedicated to this task) to hear and receive stories
which are common goods; the same stories are therefore repeated over and over, very often
with small or important (re)interpretations from the storyteller, and then by the listeners
themselves. These specific moments and stories are therefore used as a means to (re)assure the
community and to convey information, values or knowledge that all the members should share,
which implies a real appropriation of the stories and frequently their permanent transformation:
ancient mythologies are a good example of that process.
In non tribal societies, until the advent of legislations about intellectual property, the circulation
of stories was, of course, less ritualized, but very effective yet. Legends, folktales and fairytales
have been transmitted over generations thanks to their reframing by each of their storytellers:
for instance, Sleeping Beauty or Little Red Riding Hood were not stabilized stories until Charles
Perrault’s or the brother Grimm’s versions, respectively at the end of the XVII th and in the
XVIIIth century. However, they belonged to common knowledge in large portions of European
countries and they easily conveyed moral lessons to numerous children and adults. Hence, fan
fictions could be the continuation of this process, since everyone can appropriate stories: the
problem is that most of the media contents which inspire now fan fiction writers are not in the
public domain, what raises complex legal debates… and invites scholars to call the fan fiction
writers “poachers” very appropriately!
In any case, many researches on fan fictions tend to prove that the phenomenon has a very long
history, which has not begun in the 1960-1970s with the fanzine era. Even if the theoretical
frameworks can very different, their main argument remains the same: when people receive a
story, they tend to “fill in the gaps” to understand this very story, that is to complete the ellipsis
left by the narrator, to imagine what the characters or places look like even when they aren’t
fully depicted, or to assume what happened before or will happen next. Most of the time, these
additions, which can be very personal and not entirely dictated by the original story, remain
private and unelaborated, but when they become explicit and public, for instance as the base of
a new fiction, people are already inventing some kind of fan fiction…
“Fan fictions”, in this way, may seem as old as literature itself: from then on, researchers have
tried to identify their ancestors everywhere in literary history, each time a sequel or a prequel
had been produced for example (see the introduction of Pugh, 2005 to find illustrations of this
8
More details about the first studies about fan fictions can be found in the recent Fan Fiction Studies Reader,
edited by Christina Busse & Karen Hellekson (2014).
9
Legislations on copyright, on which are based actual laws on intellectual property, began to be established during
the XVIIth and XVIIIth centuries in Western societies, for example in France or in Great Britain.
26
academic tendency). However, from a literary perspective, this type of analysis has serious
consequences on the relationships between fictional works: not only do texts frequently
influence each others, with tropes such as citation, reference, pastiche or plagiarism –what can
be sum up as “intertextuality”–, but some are also supporting the same fictional universes, even
if they are written or composed very differently. Thus, the recent book of the French Canadian
scholar Richard Saint-Gelais, which is unfortunately not translated in English nor in German
yet and entitled Fictions transfuges (2011), is one of the most ambitious and rigorous attempt
to demonstrate this theoretical refinement10: based on the concept of “transfictionality”
(“transfictionnalité”), i.e. the fact that the same fictional universe can circulate among various
works and media, the first chapters systematically analyzes the ways two (or more) works can
combine the same fiction, with examples borrowed from canonical literature from the XVIIth
to the XXth century. As it could be expected, later in the book, another chapter is precisely
devoted to fan fictions and shows that the same operations are still active within fan narratives:
fan fiction are transfictional objects indeed and they can be included in longer genealogies and
traditions, especially into the diverse histories of the forms of transfictionality.
Some researchers think, at last, that the origin of fan fictions should be sought even more deeply,
saying that they express a biological need. This audacious thesis comes from a set of works
inspired by cognitive sciences which flourish under the name of “Neuro-Literary Criticism”:
scholars, such as Jonathan Gotschall (see his 2012 book The Storytelling Animal), consider that
the ability to tell, to understand and to retell stories is an evolutionary advantage of human
species. Consequently, each time the brain receives a story, it is already constructing his “own”
by anticipating and filling its gaps for adaptive reasons: that’s why humans learn in fictions
scenarios of action, discover feelings and emotions vicariously. It is therefore essential that
stories be appropriated and indefinitely retold.
An integrated theory explaining fan fictions from the cognitive roots of storytelling to the
modern practices is however far from being ready. Neurosciences, psychology, theories of
reading/creative writing are still segmented, and it could be premature and somehow dangerous
to apply theories with so strong assumptions such as “Neuro-Literary Criticism” with other
approaches. Nevertheless, this brief presentation shows how fan fictions can lead to a
reevaluation of the role of fictions, even in our modern societies, and why they have inspired
so many researchers.
3) Playing with genres and genders
The second dominant set of scientific works on fan fictions regards one of their most spectacular
dimension: the large amount of texts that contain explicit sexual content, in particular within
the fan fiction subgenre called slash (see above for definition). It’s true that any newcomer in
the world of fan fictions may face big surprises while searching his or her first readings: among
potterfictions for instance, on fanfiction.net or elsewhere, it is quite easy to discover stories in
which Harry has an affair with one of his schoolmates, like Hermione or (more often) Draco,
with one of his teachers, like Severus Snape or Albus Dumbledore, or even stories in which the
Weasley twins –the brothers of Harry’s best friend Ron– love each other, what can be very
disturbing and shocking11! With this type of texts, be they pornographic, or sometimes
including pedophilia or incest, fan fictions seem to fall in the dark side of the Internet where
everything has an pornographic counterpart. Moreover, these fan fictions, whose number is
significant but does not represent the majority of the publications, do not help the writing
practice to be taken seriously by media and people unfamiliar with it: fan fictions seem the
10
11
For other historical and theoretical approaches of fictional worlds, see Saler, 2012 or Wolf, 2013.
More details about this subject can be found in Tosenberger, 2008.
27
home of perverse writers who haven’t find anywhere else to publish their ideas and fantasies,
don’t they?
Actually, this trend within fan fictions is absolutely not linked to the Internet era and deserves
a much complex analysis. Every foundational works on fan fictions was aware of that issue
because pornography had already been a component of the phenomenon during the fanzine era:
be it the first articles of the 1980s, generally with a strong feminist approach (see the first
chapters in Busse & Hellekson, 2014), or the foundational works of fan studies at the beginning
of the 1990s (Jenkins, 1992; Bacon-Smith, 1992), they have all enlightened this aspect of fan
fictions by pointing out that, in any case, their authors are mostly women. As a consequence,
the “eroticization” of any original story (Jenkins, 1992)12 is not the doing of a specific kind of
fans, potentially with mental issues, but the result of the feminine dominance among fan fiction
writers. As said before, fan fictions have been a means for women to enter the realm of fans
which had always been male-dominated and in particular fanzines: female fans have therefore
introduced original approaches and forms of creativity, far from the dominant ones and
sometimes in opposition to the latter.
The focus on characters and on personal relationships is one of them, and slash as well as stories
with explicit content must be understood as a result of this central thematic: fan fictions enable
their authors to explore issues regarding sociability and to experiment indirectly the judgment
of others, thanks to the use of a shared fictional universe. Most importantly, research has been
able to question the subversive dimension of these particular fan fictions. For some scholars
indeed, subgenres like slash or “Mpreg” (i.e. fanfictions in which men can have children), are
a real challenge to the dominant hetero-normative values in our societies: they could offer
fictional worlds where gendered issues are more explicit, or even “post-gendered” worlds, i.e.
worlds in which roles are not attributed according the biological sex of individuals. For others,
what is at stake in these subgenres reflects more conservative conceptions of human
relationships: beyond first impression, the stages leading to a couple’s formation or sexual
intercourse look very much like romance novels, and do not debunk the clichés about love and
sexuality. It’s very difficult therefore to know the definitive meaning of a fan fiction –if we
assume there’s one– and albeit so much has been written on theses aspects of the phenomenon,
there’s still a need for more research.
B. Creativity under Constraints
In the previous subsection, I’ve presented a map to guide you through the content of fan fictions,
which have their own genres and their own narrative dynamics: the major researches on the
subject have helped to pave the way. However, these works show the same limitations as many
studies on fan practices (what is a direct result of the first generation of fan studies): they
consider fan productions as final products, whereas they are always works-in-progress. In
particular, they apply to fan fictions a strict structuralist model, studying texts for themselves,
whereas, even in literary studies, the sociology of texts has been taken into account. As a
consequence, they cannot expand the analysis to more than one or a few texts (otherwise, the
risk of over interpretation gets very high), and underestimate the role of the contexts of creation:
in fact, fan productions are always the result of contexts that implies some limitations13. From
my point of view, using the concept of “art worlds” is precisely a possible key to modify our
perspective, and to understand why so many stories published today remain fragmented, are not
well written or even not completed, while still remaining fan fictions…
It’s important to note that, in Jenkins’ work, “eroticization” is only one of the ten subgenres he
identifies within fan fictions.
13
I’m not the only to support that position : see also Stein & Buss, 2009 or Thomas, 2011.
28
12
1) Howard Becker’s “Art Worlds”
In 1982, the American sociologist Howard Becker published a masterpiece with his book Art
Worlds: its influence on the sociology of arts, the sociology of culture and other disciplines is
still perceptible indeed, and its 25th anniversary has been celebrated with a new edition I
obviously recommend. But you may wonder why his contribution has been so decisive: it’s
because his reflection disrupted traditional perspectives about art’s production.
His initial idea was to apply his sociological perspective (called “symbolic interactionism”) to
art: for Becker, there is no such thing as a pure creation, or as a pure artist; thus, no artist works
entirely alone, with his or her sole inspiration… Keep in mind that Becker’s theory does not
only say that artists are under many influences –what wouldn’t have been very new–, but that
artists cannot perform their works, from a very materialistic point of view, if they are not in
interaction with a lot of other people who aren’t necessarily artists themselves…Artists are used
to work with some people they know, and that’s how habits, norms and above all conventions
of creations may appear. For instance, if a composer wants that his or her music to be played
by an orchestra, he doesn’t need to invent every time a new way to transcribe notes, melody
and rhythm: he/she must write his/her piece on paper according to the official conventions (five
lines, with keys of G, etc.), otherwise, it will become more difficult to find musicians…
Likewise, if a painter regularly uses the same supplier for his colors, it will have an impact on
his/her paintings and what is defined as his/her “style”, by some critics or by his/her audience.
From then on, it is up to the artists to respect norms or established conventions, to play with
them, or to make a break. Artists are finally in the middle of chains of cooperation composed
of numerous individuals and art works are actually the result of the interactions between all
these people. That’s precisely their collective organization that Becker calls an “art world”,
what is well summed up in this sentence: “Art worlds consist of all the people whose activities
are necessary to the production of the characteristic works which that world, and perhaps others
as well, define as art” (Becker, 2008 [1982]: 34).
2) A transposition to fan fictions
This theoretical framework is useful while analyzing fan fictions since it offers an opportunity
to understand the textual production as a whole, i.e. it prevents from limiting the study to the
“best” ones: fan fictions’ format and content are clearly the result of their world’s organization.
My demonstration14 is therefore based on a transposition of Becker’s model, which could be
decomposed as follows:
•
Artists
According to Becker, artists rarely work alone: not only do they look at each other’s works, but
they frequently collaborate, even though collaborators’ names tend to disappear at the end of
the process. Similarly, many fan fictions writers invent stories together and constitute writing
teams very explicitly: they can use one pseudo for two (or more) authors for instance. In one of
my interviews, I have even discovered that two writers could attribute each other one character
to produce dialogs quite easily, before adding description and narrative passages within their
story. Thus the final structure of the texts appears totally dependent of these practical
collaborations.
•
Support Personnel
“Support personnel” design all the people whom artists use as human resource or to get access
to material resources: assistants, students, suppliers, etc. belong to that category. Regarding
14
See my articles : François, 2009, 2012a, 2012b.
29
literature, you may think of the role played by editors or publishers too: they clearly affect the
final version of the text. Though, things are not different with fan fictions since fans often
benefit from the help of other fans before publishing: they’re called “beta readers”. Their
function is to edit the texts, to make suggestions concerning the coherence of the plot and finally
to authorize publication. That’s another way to observe that there is no a unique author to fan
fictions, even in the case there is one official writer…
Similarly, fan fiction writers are very reliant on publication websites and their webmasters. Fan
fictions for instance are today very fragmented with a lot of unfinished attempts, very short
texts – this type of fan fictions is called “One Shot” – or structures made of a lot of brief
chapters: this is the result of the websites adopted by fans which encourage a publication process
with successive updates; a brief publication is already a publication, and publishing multiple
updates is a means to attract readers. By the way, fans are always under the threat that their
publishing websites ban their texts or that they simply disappear from the Internet!
•
Audience
An art work becomes to be known as an art work only if there are people to see it, watch it, hear
it, or read it… It may seem an evidence, but without an audience, playing with conventions is
impossible: their members are the people who come with expectations, who can recognize
conventions, or who may be offended by their transgressions. Consequently, artists rarely create
without thinking of their potential audience and seek opportunities to know it. In the world of
fan fictions, writers are actually very close to their readers, especially thanks to the reviewing
system. Once again, fan fictions are not published anywhere online,
i.e. mostly on websites where readers can publish comments (or “reviews”) after every update
of the fan fiction they are reading: beyond their content, the number of reviews is very important
because it is a kind of symbolic retribution for writers, and a way for readers to identify texts
of (apparently) good quality. The fact that fan fiction writers cannot ignore their readers and
often engage intense exchanges with them determines too how the texts are written and
published.
•
Theorists and Critics
In addition, among the audience of art productions, can be found some professionals, like art
critics or theorists, who act as the gatekeepers of the “official” art conventions, and that’s why
their point of view is also essential to help an art work to emerge and become famous.
Conversely, fan fictions have their own critical space which is represented by some websites or
online forums dedicated to the analysis of fan texts: there, their language correctness or their
plot are evaluated, sometimes very roughly. This additional textual production is called
“metatext” among fans, and when writers anticipate it, it impacts, once again, their stories.
•
Institutional Contexts
Finally, art worlds belong to broader institutional contexts according to Becker: in particular,
what is the role of the State? Are there places for artists to make exhibitions, to play concerts,
etc.? Is art encouraged or rather censored by authorities? Thus, the differences between
countries also explain why art worlds can be nationally very different… In the case of fan
fiction, the economic and the legal contexts are crucial to explain some of the texts’ features.
The presence of “disclaimers” at the beginning of the majority of fan fictions is one example,
among others, of their consequences: indeed, you can often read sentences such as “Harry
Potter and its characters belong to J.K. Rowling” (even though variations are infinite) before
your favorite potterfictions. It’s in fact a reference to the American legislation on intellectual
property, in which tolerance for derivative works is possible, among other conditions, if there
is no confusion between them and original works. As a consequence, fan fiction writers, even
30
outside the United States, have integrated this writing convention, despite the fact that it is not
at all a sufficient protection for their creations…
This brief overview of my own work is already a demonstration of the relevance of Becker’s
art worlds to study fan fictions. Identifying the various actors constituting the world of fan
fictions, as well as their interactions, reveals a lot about the conception process: since fan
fictions, like every fan creations, are an activity strongly based on communities and sociability,
they cannot be analyzed only as the result of their authors’ will.
Conclusion
I don’t pretend that this lecture is an exhaustive depiction of the growing interaction between
juvenile literature and fan cultures: I have more insisted on the conditions that have made
possible their encounter. On the one hand, the bad reputation of fans –all the clichés the research
on fans precisely has to struggle with– has reduced because fandoms have become bigger and
more visible in Western societies, especially thanks to development of the Internet. On the other
hand, Harry Potter’s success has happened at the right moment to amplify this evolution and
enable younger people to participate in fan cultures: Rowling’s novels, with their fantasy
background, their serial and cyclic structure, and their ability to be transposed on multiple media
have created inextinguishable expectations among readers (and then among spectators and
gamers) that has led to one of the major mega-fandoms of the recent years. In a nutshell, there
is more than “magic” behind the young wizard’s celebrity.
My other wish is that you have here discovered the basics about the research on fans and their
fandoms, in particular about the dominant tradition, namely fan studies. I have tried to
exemplify the strengths and limitations of this kind of scientific work thank to the example of
fan fictions. These texts cannot epitomize all fan creations, but their specificities are sufficiently
fascinating to have attracted many scholars –be they “aca-fans” or not–, and they are a
wonderful support for a reappraisal of more legitimate form of creation, such as literature. I
hope that their analysis, through the lens of Howard Becker’s art worlds, has made this point
clear, and convinced you there is still a lot to do concerning the understanding of how fan
express themselves.
If you’re not, please have a look at other signs suggesting that the mainstreamization of fandoms
is still at its early stages: fan fiction writers can now be the main characters of young adult
novels, like Fangirl by Rainbow Rowell, and one must be aware that Harry Potter keeps
mobilizing. The Harry Potter Alliance for instance, an non-governmental organization which is
typical of the recent trend called “fan activism”, has recently raised hundreds of thousands
dollars to support charities like the fights against poverty or illiteracy... Is somebody still
skeptical about the fans’ power?
4. Georg Huemer - Träume(n) von ewiger Jugend?
Teens, Twens und „Ich“ zwischen Selbstdarstellung Selbstinszenierung in aktueller Jugendliteratur
Kulturgeschichtlicher Überblick
1972 Das kleine Ich bin Ich
Zitat: aus dem Buch
Schilderung einer Idylle, Locus Amöbus (?), Ruhe durch Laubfrosch gestört, verlegene Antwort, bunte
Blumenwiese ist nicht mehr einladend, Beginn der Suche, kein Tier gleicht dem karierten Irgendwas,
Ich bin Ich (Erkennung), am Ende ist wieder Idylle hergestellt, alle freuen sich.
31
Selbstfindungsprozess in sprachlich sehr gekonnter weise. Darstellung von individueller Glück,
Kindheit oft Zeit des Unglücklichseins (auch in wohlhabenden Ländern), Erwachsenwerden künstlich
prolongiert, deutschsprachige Literatur in letzten zwei Jahrzehnten gekennzeichnet durch: Verlängerung
der Jugend (Prolongierung), weil das Ziel des Erwachsenwerdens nicht erreicht wird.
Antike – Traum von ewiger Jugend
Idealisierung der Jugend, Alter Krankheit und Tod von Abscheu geprägt,
Heroenbilder – nach Tod folgt Unsterblichkeit, archaische Zeit bis Hellenismus und wieder in
Aufklärung aufgenommen.
Herakles soll Äpfel stehlen, die unsterbliches Leben versprachen, einer seiner 12 Aufgaben
Winkelmann - Edle Einfalt und stille Größe, Grundsatz seines Kunstverständnisses. männlicher Torso
Beschreibung: hang zum Superlativ, Antike sei grau und farblos gewesen, jetzt wissen wir, dass Farben
nur verloren gegangen sind, seine Bewunderer Goethe und Rainer Maria Rilke: Gedicht vom Torso, das
sich auf Winkelmann bezieht:
Archaischer Torso Apollos 1908
Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,
sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.
Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;
und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.
Entstand als Rilke das Louvre besuchte, mit Theorie Winkelmanns verschränkt.
Yuval Noah Harari - Eine kurze Geschichte der Menschheit
Wissenschaftler aus Israel, Bestseller, 2013 in Deutschland erschienen, seit 2014 auf Englisch: Die
Ewigkeit wird als Last und Qual dargestellt. in ein paar Jahren wird es möglich sein, das Leben so zu
prolongieren, dass sich eine Elite es leisten kann, ewig zu leben, die Möglichkeit wird eine Qual
darstellen.
Wenn Medizin alles heilen könnte und ewiges Leben dadurch gewährleisten könnte, würden die armen
Schichten, die sich das nicht leisten können vor Wut und Zorn gegen die Eliten hetzen. Denn bis jetzt
waren alle zumindest vor dem Tod gleich, durch Medizin wäre ein Ungleichgewicht, denn nur Arme
müssten sterben. Außer der Zufall will es, dass durch Unfälle die Eliten sterben. Aber Würde ewiges Leben auch ewiges Glück bedeuten?
Alle Menschen sind sterblich - Simone de Beauvoir aus dem Jahr 1946
Ein Mensch, dem der Tod erspart wird, führt zur Beliebigkeit, jede Liebe verliert ihre Einmaligkeit, die
Begrenztheit des Lebens gibt alles seinem einmaligen Stellenwert, die Einmaligkeit macht sie wiederum
ewig.
32
Zeus und Sterblicher Ganymed, wird zum Mundschenk ersetzt die Göttin der Jugend Hebe, Gabe das
ewige Leben zu schenken.
Twilight: die Geschichte zwischen Unsterblichen und Sterblichen
Topos in der Literatur: Streben nach Unsterblichkeit. Ändert sich in der Postmoderne und besonders
jetzt in der Postpostmoderne, wird das aufgebrochen, völlige Hinterfragung, Ironisierungen.
Franzose Michel Houellebecq
Ist das Leben viel mehr mit Langeweile verbunden?
2010 – Karte und Gebiet, hohe Auszeichnung dafür bekommen
Elementarteilchen eher in deutschsprachigen Gebiet bekannt, wurde verfilmt 2006: Es geht um ein
ungleiches Brüderpaar, Molekularbiologe, Beziehungsunfähiger Lebensmann, mit 40 finden beide
Liebe, alte Jugendfreundin, die andere verliebt sich in Sexbessesene, beide nehmen sich das Leben
(unheilbare Krankheit), der eine wird verrückt, der andere entwickelt theoretische Grundlangen für neue
geschlechtslose und unsterbliche Menschenrasse, keine Individualität, klont sich, kennt altern und
sterben nicht.
Die Möglichkeit einer Insel (Klomotiv) 2005
Die Handlung des Romans spielt auf zwei verschiedenen Zeitebenen:
Im 20./21. Jahrhundert (Ich-Erzähler ist Daniel1),
etwa 2000 Jahre später (Ich Erzähler ist zuerst Daniel24, später Daniel25).
In der 1. Zeitebene beschreibt Daniel1, wie er zum gefeierten Star wird. Zahlreiche sexuelle
Begegnungen mit Frauen hinterlassen keinen bleibenden Eindruck. Lediglich zu zwei Frauen entsteht
so etwas wie eine Beziehung. Isabelle, die seine Frau wird, und, nachdem diese Ehe zerbrochen ist,
Esther, eine Nachwuchsschauspielerin, 25 Jahre jünger als er. Beide Beziehungen enden unglücklich
und Daniel bleibt allein und verlassen zurück. Sein einziger treuer Begleiter ist sein Hund Fox. Das
Leben des Ich-Erzählers ist bis zum Schluss bestimmt von der Suche nach Liebe.
In der 2. Zeitebene stellen erst Daniel24, dann Daniel25 Betrachtungen über Daniel1 an. Daniel25
entschließt sich erst am Ende des Romans, aus einem ereignislosen Leben der Kontemplation
auszubrechen. Er macht sich mit seinem Hund auf die Suche nach „einer Insel“, auf der vielleicht noch
ein erfülltes Leben möglich ist.
Klonen spielt wesentliche Rolle, autobiographische Züge zwischen Daniel und Autor. Lanzerote lernt
Daniel 1 eine Sekte wieder, dadurch ändert sich sein Leben, die werben fürs Klonen, Elohimiten, der
Führer wird umgebracht, Elohimiten geben dessen Sohn als Replikation aus.
Daniel 24/25 Lanzerote als Erinnerung des Glücks, Klone können nicht so gut Gefühle empfinden, keine
persönlichen Kontakte, Essen Mineralsalz, stirbt er, wird ein neuer Klon erstellt, Neo-Menschen, Daniel
25 will ausbrechen, will Bedürfnisse der Menschheit wieder finden. Findet das erste Mal das Meer –
Gedanken der Unendlichkeit.
Ewige Leben ist für Autor, nur eine Möglichkeit von vielen. Viele Parallelen zu Harari. Beschäftigt sich
mit Wirtschaftskrise, entwirft wenig Hoffnungsvolle Zukunftsszenarien.
Karte und Gebiet: Kritik als ausgefeiltester Roman dargestellt: Jugend und Ewigkeit zentrale Rolle. Jed
Martin ist Maler, zieht sich zurück, 2035 wieder unter Menschen, Zurückgezogenheit neue Phase
Verfallsprozesse dokumentiert, Jed filmte 10 Jahre den Wald, Zeitraffer, widmet sich Verfall von
Gegenständen 15 Jahre lang, stufenweise Darstellung, keine Zeitraffer, erkrankt an Krebs.
Zwei wichtige Aspekte:
33


Autor selbst im Buch eine Figur, wird ermordet.
Andere Figuren tragen Züge des Autors.
 zwei Karikaturen des Autors
Ist ein Zukunftsroman, Zeitsprünge, Frankreich Zeit um 2035 Science Fiction, Klonen ist keine Option
mehr, Monotonie, Einsamkeit, verzweifelter Versuch des Protagonisten der Vergänglichkeit zu
entgehen.
„Die zeitgenössische bildnerische Kunst, die jegliche ästhetischen Grundsätzen der vergangenen
Jahrhunderte trotzt, in dem sie nicht mehr die technische Ausarbeitung, sondern die Idee zum
obersten Dictum ernennt hat, wird zum Sinnbild der Vergänglichkeit schlechthin.“
Zeitgenössischen Jugendroma der letzten 20 Jahre
Sprung weg von allgemeiner Literatur, allgemeiner Topoi der Literaturgeschichte, hin zum
zeitgenössischen Jugendroma der letzten 20 Jahre.
Schoßgebete – Charlotte Roche
Zeitschriften und wissenschaftliche Aufsätze der letzten Jahre nennen gehäuft die Begriffe Generation
X, Generation Y. Begonnen in Nachkriegszeit 50er Jahre (Zeit des „Der Fänger im Roggen“),
Generationen wollte man fassen, Terminologie Entwicklung in der Soziologie.
In rezenteren Werken wird mit Träumen nach ewiger Jugend gespielt, Katastrophen Szenarien und
Monotonie ersetzen schwelgerische Lust.
Deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur
In letzten 20 Jahren geprägt durch Angloamerikanischen Erfolgsprodukten: Tagebücher von Craig,
Tribute von Panem, Harry Potter; gilt als zeitgenössischer Klassiker, Bände sind, (sagt Gerhard Lauer)
von durchaus unterschiedlicher literarischer Qualität, Popularität hat abgekommen.
Bestseller der letzten Jahrzehnte
Popliterartinnen: Charlotte Roche, Christian Kracht, Alexa Henning von Lange.
Grenze zwischen autobiographischen und literarischen verschwimmt, gerade in Popromamen, gewissen
Grad an Alltag scheitern, nehmen Drogen, Erwachsenenwelt ist Gegenpol, wollen Zeit anhalten,
Herausforderungen des Erwachsenenlebens Überforderung, Christian Kracht: Faserland, Standardwerk,
zentrales Werk für Popliteratur.
Zwei Jahre später: Relax von Henning von Lange: Chris und Omek, Liebesleben unbefriedigend für
Omek, die androgyn ist, Sex Ikone in ihrer Phantasiewelt. Kurze Handlung, Doppelperspektive, Chris
geht abfeiern, Omek in Wohnung sehnt sich nach Liebe und Sexualität, sucht ihn mitten in der Nacht,
findet ihn halb Tod (Drogensüchtiger).
Kritiker: Relax polarisierte, erste Mal Frau als Protagonistin, die ihre Perspektive schildert, Forschung:
Henning viele Studien, zählt zu meistgelesenen Popromanen in 90er Jahren, archaisches Sehnen und
Wünschen, beide passen irgendwie nicht in 20 Jhd., Adoleszenzroman bis dahin noch nicht so bekannt,
Autobiographische Züge, zumindest behauptet sie das. Literarischer Durchbruch, starke
Weiterentwicklung, Preis für „Ich hatte einfach Glück“, Relax: in Jugendlichkeit gefangen, da sie die
Elternrollen ablehnen, prolongierte Jugend, viel drastischer in Charlotte Roche – „Entweihung des
weiblichen Körpers“, als Antwort von Henning von Lange. Feuchtgebiete aus Ich-Perspektive, Helen
will Versöhnung der Eltern herbei, ist im Krankenhaus, Pfleger Robin ist ihr Geliebter, sie entspricht
nicht konventionellen Vorstellungen, steht nicht auf Hygiene, unterschiedliche Rezeption, Deutschland
heftige Debatte: eher öffentlich, wenig wissenschaftlich, Autorin schon vorher bekannt, Feuchtgebiete
als Film bzw. Hörspiel (Autorin liest selbst vor), typisch Popliteraten inszenieren sich andauernd selbst,
sind auf den Covers, feministischer Seite wurde Roche attackiert, bezeichnet sich selbst als Feministin
34
Schoßgebete: Protagonistin Elisabeth Kiel, ist erwachsen, stabile Beziehung, berichtet über Mann,
Beziehung, Liebe; viele autobiographische Züge, haben schlechte Beziehung zu Mutter, Kritik: Alice
Schwarze – Roman sei zweitklassig, verruchte Heimatschnulze über Sex und Liebe. Probleme
Erwachsenwerden, will Verantwortung umgehen, ist ihrem Mann mental ergeben, er übernimmt
Verantwortung.
Besonders die Autorin ist in der Diskussion im Vordergrund, auch bei Henning von Lange, nicht so sehr
ihre literarischen Qualitäten oder die Inhalte der Bücher. Charlotte Roche im englischen Raum viel
mehr in der wissenschaftlichen Diskussion als im deutschsprachigen Raum.
Wolfgang Herrendorf wird sehr positiv dargestellt, hat Block verfasst, unheilbar krank, im Internet
dokumentiert.
Selbstdarstellung ist zeitgenössisch zur gängigen Praxis geworden, auch in der Kinder – und
Jugendliteratur.
Zurück zum Ich bin Ich und Harari
Der Traum von ewiger Jugend ist Teil der Geschichte der Menschheit, vll wie der Traum fliegen zu
können. Bei Ikarus nicht möglich, jetzt durch technischen Fortschritt schon. Ewige Jugend wird mit
Schönheit assoziiert, mit Vollkommenheit, Winkelmann hat Einfluss auf Künstler der Moderne. Jung
bleiben ist für viele Protagonistinnen die einzige Möglichkeit dem Alltag zu entgehen.
Illustration von Ich bin Ich; Susi Weigel: Adjektive: lieb, herzig, großer Kopf, kleiner Körper, große
Augen, entspricht Kindchen-Schema, das Tier wird nicht als Schön bezeichnet, darin liegt vielleicht sein
Erfolg.
5. Robert Buchschwenter – Puzzlespielen Scherbenpark.
Vom Jugendbuch zum Comin-of-age-Film
Literaturverfilmung ist als Begriff falsch, denn Literatur kann nicht verfilmt werden.
Filmsprache hat zum Teil Ähnlichkeiten mit Sprache, aber eine Einstellung (analog ein Wort)
ist beim Film nicht nur ein Bild. Ein Satz ist beim Film eine Szene, eine Szene ist aber immer
gegenwärtig, im Gegensatz zum Satz, bei dem alle Zeiten möglich sind. Ein Absatz könnte als
Montage gesehen werden.
Vergleich Anfang des Buches/Filmes von Scherbenpark









Film hat ein Voice-Over
Buch lässt und hat mehr Zeit, um in eine Geschichte einzuführen. Problemkomplex
darstellen, Charakter beschreiben.
Ein Film muss ökonomischer arbeiten, in Bezug auf Zeit.
Film kann nicht subjektiv darstellen, sind also in gewisser Distanz, auch wenn die Figur
die Geschichte erzählt.
Durch die Distanz kann man viel schneller und anschaulicher Ängste/Probleme nahe
bringen bzw. ein Lebensgefühl darstellen.
Filme haben brachiale Linearität.
Im Film werden im 1. Akt alle Figuren und der Kontext etabliert, im zweiten Akt
beginnt die Konfliktphase/Fragestellung/Lösungsweg wird erzählt. Es dürfen nach dem
1. Akt keine neuen Figuren eingeführt werden, da sie sonst als Fremdkörper empfunden
werden.
Wie verfilme ich den Satz: „Ich hasse Männer“ Film ist ein anschauliches Medium.
Zu viele Rückblenden machen den Film unkonsumierbar.
35

Es ist schwer Adverbien darzustellen: seit, nie, immer. Man kann nur beispielhaft
handeln im Film, damit eine Idee ein Eindruck davon entsteht.
Vergleich der Schlüsselszene im Buch und Film:


förmliche Umkehrung der Handlung, um trotzdem auf das gleiche Ergebnis zu kommen.
Es handelt sich um eine Abweichung, die aber an der Substanz nichts ändert.
Innenleben im Roman durch Begriffe gut darstellbar, das ist so im Film nicht möglich.
Voice over würde oft Atmosphären zerstören
Film ist gewalttätig in seiner Unmittelbarkeit
Filmmusik



Buch kann natürlich nicht mit Filmmusik arbeiten. Musik ist das filmsprachliche Mittel,
das die Literatur vom Film am ehesten unterscheidet.
Regisseur hat jeder Rolle in Crazy eine Rolle zugeteilt.
Viele nicht erzählbare Dinge sind durch Musik vermittelbar.
6. Thomas Walach - Fantasy-Rollenspiele im intermedialen Diskurs.
("Ihr spinnt doch alle!")
Was ist ein Rollenspiel?
Die Rollenspielfamilie



Pen & Paper RPG
LARP (Live Action RPG)
MMORPG (Massively Multiplayer Online RPG)
Definition Pen & Paper
"[...] an episodic and participitatory story-creation system that includes rules that assist a group
of players and a gamemaster in determining how their fictional characters' spontaneous
interactions are resolved.” Mackay 2001, S. 4.
Gamemaster ist der Spielleiter, im Deutschen wird er auch oft als Meister bezeichnet.
Geschichte
Table Top-Simulationen + Fantasy-Literatur = RPG
Erstes Rollenspiel 1973 Dungeons & Dragons
Rollenspiel und Fantasy-Literatur
Komplexe Erzählsituation
• Die Erzählung entsteht ad hoc und wird (außer im Kollektiven Gedächtnis der Spieler) nicht
erinnert.
• Diegetisches und extradiegetisches Sprechen (zB Sprechen über Regeln) wechseln sich
ständig ab.
• Spieler und Spielleiter sind sowohl Rezipienten als auch Produzenten des kollaborativ
erzählten Textes.
• Dabei darf nur der Spielleiter zeitweise die Rolle eines auktorialen Erzählers einnehmen. Die
Spieler müssen zwischen Spielerwissen und Charakterwissen differenzieren.
36
• Regeln und offizielle Spielweltbeschreibungen bilden einen Metatext außerhalb der konkreten
Erzählsituation.
• Über den durch Zufallsgeneratoren bestimmten Teil der Erzählung hat kein Spieler Kontrolle.
Zufallsgeneratoren sind zum Beispiel Würfel.
These
Fantasy-Settings sind im Rollenspiel besonders beliebt weil beide explizit der Hervorbringung
von Imaginationen dienen.
In beiden spielt der Aspekt von Selbst-Ermächtigung eine wesentliche Rolle. Sagen Sie aber
niemals "Eskapismus" zu dieser Funktion!
Die Dungeons & Dragons-Kontroverse
Do RPG promote
• Crime
• Suicide
• & Satanism
among children? Vgl. Lancaster 1994.
Akteure und Behauptungen
• James Dallas Egbert: Er ist verschwunden, man gab dem Spiel Dungeon & Dragon die Schuld,
auch als er wieder gefunden wurde, war das den Medien egal.
• Patricia Pullings: ihr Sohn habe sich umgebracht, weil ein Mitspieler ihn bei Dungeon &
Dragons mit schwarzer Magie belegt hat.
• Bothered About Dungeons & Dragons (BADD)
• National Coalition on Television Violence (NCTV)
• Radecki: 45 D&D related deaths.
• "The kids start living in the fantasy... and they can't find their way out of the dungeon."
 Zitat eines Psychologens
• "D&D is a [...] home study kit for 'black magic'"
• "Mazes & Monsters"
Medientheorie & Jugendkultur
1. Das Sender-Empfänger Modell (Claude E. Shannon/Warren Weaver)
2. Das Medium ist die Botschaft (Marshall McLuhan)
3. Der produzierbare Text (John Fiske)
7. Kerstin Gittinger – Kämpfer der Zukunft15
Jugendliteratur Im Kontext der proletarischen Jugendkultur in der Ersten Republik
15
Buchtitel eines Standartwerkes der sozialistischen Erziehung (Kanitz, Otto Felix: Kämpfer der Zukunft. Eine
systematische Darstellung der sozialistischen Erziehungsgrundsätze. Wien: Jungbrunnen 1929.)
37
„Das weiß ich jetzt: wir müssen uns das Märchenland erst erschaffen.“ 16
Der Diskurs des „neuen Menschen“ in der proletarischen Kinder- und Jugendliteratur
der Ersten Republik17
„Neue Menschen! – Das also ist das eigentliche Ziel einer revolutionären Erziehung“ (M. Adler
1924, 66) – Kurz und bündig benennt der Philosoph und Politiker, Max Adler, der zugleich als
einer der wichtigsten Theoretiker des Austromarxismus gelten muss, das Hauptziel aller
sozialistischen Erziehungsbemühungen innerhalb der Arbeiterbewegung der Ersten Republik.
Für die Sozialdemokratie der Zwischenkriegszeit, die sich in ihrer speziellen Ausformung als
Kulturbewegung versteht, ist ein stark ausgeprägtes pädagogisches Moment festzustellen. Das
Ziel, einen „neuen Menschen“ zu schaffen, ist dabei unmittelbar mit der Vorstellung nach einer
„Bewusstseinsrevolution“ oder, wie Otto Bauer es formuliert, nach einer „Revolution im
geistigen Leben“ (Bauer 1976, 742) verbunden. Denn nach austromarxistischen
Gesichtspunkten ist der Sozialismus weder durch ein spontanes, revolutionäres Aufbegehren
mit der gewaltsamen Aneignung der Produktionsmittel, noch parlamentarisch, per Dekret
durchzusetzen, sondern bedarf zuallererst der psychologischen Vorbereitung in den Menschen
selbst. (vgl. Pfoser 1980, 19) In diesem Zusammenhang ist der „neue Mensch“, laut dem
renommierten Sozialphilosophen, Norbert Leser, als missionarisch anmutendes Heilsziel zu
werten, da dieser in der theoretischen Auseinandersetzung zur Verwirklichung der klassenlosen
Gesellschaft als unbedingte Voraussetzung gesehen wird. (vgl. Leser 1988, 19) Das Ziel, ein
verändertes Bewusstsein zu entwickeln, wendet sich zwar ebenso an die erwachsene
Arbeiterschaft und wurde auch u. a. durch gezielte Vortragstätigkeit und den Ausbau der
Arbeiterbüchereien forciert, in erster Linie ist der „neue Mensch“ aber als Erziehungsziel an
die heranwachsende Generation zu verstehen. Die proletarischen Kinder und Jugendlichen
sollten es sein, die schließlich das Meisterstück des friedlichen Übergangs in eine klassenlose
Gesellschaft vollbringen sollten. (s. u. a. Jalkotzy 1922, 162; Winter 1924, 135)
Ausgangspunkt, Untersuchungsgegenstand, Thesen und Fragestellungen
Da hier ein wahrer Kult um die proletarische Jugend im Entstehen begriffen war, sich letztlich
alles Hoffen und Bangen auf eine bessere Welt auf das zukünftige Wirken und Walten der
heranwachsenden Generation konzentrierte und, wenn man auch selbst nicht mehr Teil dieser
neuen Gesellschaft sein sollte, man doch größtmöglichen Einfluss auf das psychologische Profil
der Kinder und Jugendlichen nehmen wollte, stellt sich die Frage nach den kulturellen
Ausdrucksformen, die dieser Jugendkult innerhalb der österreichischen Arbeiterbewegung
angenommen hat. Im Speziellen stehen in dieser Auseinandersetzung die
literaturpädagogischen Ambitionen der sozialistischen Erziehungstheoretiker im Vordergrund
und der Einfluss dieses Erziehungsdiskurses auf das Schreiben von Autoren, die der
austromarxistischen Bewegung nahe standen. Denn genauso wie im Zuge der
Aufklärungsbewegung im 18. Jahrhundert eine eigenständige Kinder- und Jugendliteratur mit
gezielt pädagogischer Absicht entstanden ist, nachdem (bürgerliche) Kindheit als besonderer
Zustand erkannt wurde, (vgl. Beutin/Ehlert et al. 2008, 178) genauso ist auch hinsichtlich des
Kults um die proletarische Kindheit zu Beginn des 20. Jahrhunderts anzunehmen, dass dieser
16
Feld, Friedrich (1957): Tirilin reist um die Welt. Eine Erzählung für denkende Kinder. Schutzumschlag, Einband
und Illustrationen von Karl Köhler. Wien: Jungbrunnen [1. Aufl. 1931]. S. 139
17
Die hier dargestellten Inhalte, Thesen und Forschungsergebnisse sind Teil des Diplomarbeitsprojekts der
Autorin. Diese Arbeit wurde im Mai 2013 mit einer Prämie der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und
Jugendliteraturforschung (OeGKJLF) im Auftrag des bmukk für herausragende Forschungsleistungen auf dem
Gebiet der Kinder- und Jugendliteraturforschung gewürdigt. Unter folgender bibliografischer Angabe ist diese
Diplomarbeit an der Universitätsbibliothek in Wien zu finden: Gittinger, Kerstin: Proletarische Kinder- und
Jugendliteratur. Eine Untersuchung zum Diskurs des "Neuen Menschen" in der österreichischen Kinder- und
Jugendliteratur der Ersten Republik. Dipl.-Arbeit der Universität Wien 2011
38
sich auf die literarturpädagogischen Bemühungen und auf die Literatur ausgewirkt hat. Zur
Überprüfung dieser These ist es zunächst notwendig, zu untersuchen, welche Vorstellungen
sich hinter dem Schlagwort des „neuen Menschen“ verbergen und wie man gedachte, die
Arbeiterkinder zu neuen Menschen zu erziehen. Um ein Profil des „neuen Menschen“ zu
erstellen, wird insbesondere auf theoretische Auseinandersetzungen, philosophische Diskurse
und sozialpsychologische Darstellungen der wichtigsten sozialistischen Erziehungstheoretiker
der Ersten Republik, die u. a. mit Otto Felix Kanitz, Max Adler, Max Winter, Alois Jalkotzy
und Alfred Adler zu benennen sind, zurückgegriffen werden. Daran anschießend stellt sich die
Frage, ob diese Theoretiker, die allesamt auch in die praktische Umsetzung der Erziehungsziele
maßgeblich involviert waren, innerhalb ihrer literaturpädagogischen Überlegungen gedachten,
Literatur bzw. insbesondere Kinder- und Jugendliteratur zur Erziehung des „neuen Menschen“
heranzuziehen. Hierzu sind Antworten innerhalb der Zeitschrift Die sozialistische Erziehung,
welche zwischen 1921 und Februar 1934 erschienen ist, zu erwarten. Diese Zeitschrift, die
einen stark wissenschaftlichen Charakter aufweist, fungierte primär als Organ für die
Funktionäre, Theoretiker und Pädagogen der sozialistischen Erziehung. Auf einer weiteren
Ebene sollen letztlich sechs kinder- und jugendliterarische Werke von Autoren, die sich im
näheren Umfeld der austromarxistischen Bewegung befanden, dahingehend untersucht werden,
inwiefern der Diskurs des „neuen Menschen“ deren literarisches Schaffen beeinflusst hat und
inwieweit das Bild des „neuen Menschen“, das in der vorangehenden Analyse bestimmt worden
ist, selbst in diesen Texten auszumachen ist.
Der Untersuchungszeitraum ist mit dem Ausrufen der Ersten Republik im November 1918 bis
zum Februar 1934 definiert, da hier das Theoriegebäude der sozialistischen Erziehung
entwickelt wurde. Die Bemühungen zu deren praktischen Umsetzung müssen mit dem
Bürgerkrieg im Februar 1934, dem anschließenden Verbot der Sozialdemokratischen
Arbeiterpartei (SDAPÖ) und aller mit ihr in Verbindung stehenden Vereine und Zeitschriften
sowie der darauf folgenden Konsolidierung des austrofaschistischen Ständestaates als beendet
betrachtet werden.
Der „neue Mensch“: Ziel und Fluchtpunkt aller sozialistischen Erziehungsbemühungen
Eingangs ist festzuhalten, dass die Vorstellung des „neuen Menschen“ keine Erfindung der
sozialistischen Erziehungstheoretiker der Ersten Republik ist, sondern eine Erscheinung der
säkularisierten Moderne darstellt. Der Religions- und Kultursoziologe, Gottfried Küenzlen,
weist die Idee des „neuen Menschen“ bis in die Renaissance nach, bestätigt sie ebenso für die
Aufklärungsbewegung im 18. Jahrhundert und sieht ihre Blüte dann insbesondere im 19. und
20. Jahrhundert. Hier wird sie Flucht- und Angelpunkt für die verschiedensten politischideologischen Bewegungen (vgl. Küenzlen 1994, 93-94):
So findet sich diese Vorstellung bei den französischen Utopisten, unter der Intelligentsia des
vorrevolutionären Russland und im frühen Sowjetstaat, bei den Anarchisten, etwa aber auch im
Zionismus, wie auch in der faschistischen Bewegung und im Nationalsozialismus. (Küenzlen
1994, 94)
Philosophisches und psychologisches Fundament des sozialistischen Erziehungsdiskurses
Für das Konzept des „neuen Menschen“ innerhalb der SDAPÖ ist speziell auf zwei Diskurse
zu verweisen, die maßgeblich zu dessen Konstitution beitragen und auf die fortlaufend seitens
der Theoretiker argumentativ zurückgegriffen wird: einerseits sind starke Anleihen auf die
Philosophie Immanuel Kants zu verzeichnen und andererseits wird die Möglichkeit, einen
neuen Menschen nach den sozialistischen Vorstellungen zu erziehen, mit Verweis auf die
individualpsychologischen Erkenntnisse Alfred Adlers untermauert.
Auf die große Bedeutung des Neokantianismus für die österreichische und deutsche
Sozialdemokratie ab den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts und dessen Einfluss innerhalb der
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sozialistischen Theoriebildung macht u. a. der Germanist, Alfred Pfoser, in seinem
umfassenden Werk Literatur und Austromarxismus aufmerksam. (vgl. Pfoser 1980, 32)
Hinsichtlich der Relevanz der Philosophie Kants auf die Entwicklung des sozialistischen
Erziehungskonzepts verweist insbesondere Peter Schneck in seiner Dissertation. Dabei wird
von den Erziehungstheoretikern vor allem Kants Schrift Über Pädagogik (1803) rezipiert. (vgl.
Schneck 1975, 24-25) Kants Plädoyer, „Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem
zukünftig möglich bessern Zustande (…) angemessen erzogen werden“ (Kant 1984, 33), wird
in direkter oder variierter Form unzählige Male aufgegriffen und diente dazu, wie unschwer zu
erkennen ist, dem Erziehungsdiskurs des „neuen Menschen“ ein theoretisches Fundament zu
geben.
Dass der „neue Mensch“ kein utopischer Entwurf darstellt, sondern dass die grundlegenden
Anlagen, die mittels der sozialistischen Erziehung aufs Höchste entwickelt werden sollten,
bereits von Geburt an in jedem Menschen vorhanden sind, wird mit der Verknüpfung dieses
Erziehungskonzepts mit Alfred Adlers Individualpsychologie aufgezeigt.
A. Adler stellt in der Psychologie des Menschen zwei Urtriebe fest: den individualistischen und
den gemeinschaftlichen Trieb. Letzterer wird durch die Fürsorge und Liebe, die das Kind in
seiner Umgebung erfährt, geweckt und stellt dabei die Grundlage für den menschlichen
Fortschritt dar. Die Fähigkeit zur Zusammenarbeit ermöglicht(e) letztlich jegliche kulturelle
und zivilisatorische Entwicklung. Zudem basiert das Überleben des einzelnen Menschen auf
seiner Fähigkeit, in Gemeinschaft mit anderen Individuen zusammenzuleben. Dem
angeborenen Gemeinschaftsgefühl steht der individualistische Trieb gegenüber. Dieser Trieb,
den Adler auch als das Geltungsstreben im Menschen definiert, speist sich vorrangig aus dem
Minderwertigkeitsgefühl, das aus der kindlichen Unmündigkeit und Hilflosigkeit seiner
Umwelt gegenüber erwächst. Um die elterliche Abhängigkeit, und damit indirekt den Ursprung
des Minderwertigkeitsgefühls, zu überwinden, strebt das Kind fortlaufend nach Anerkennung,
Selbstständigkeit und Unabhängigkeit. Beide Triebe, sowohl der individualistische als auch der
gemeinschaftliche, stellen zentrale Faktoren in der kindlichen Entwicklung dar. (vgl. K. Adler
1981, 166-169)
Allerdings führen unterdrückerische Strukturen in der Erziehung, ein auf Konkurrenz und
Wettkampf basierendes (bürgerliches) Schulsystem und schließlich auch ein auf Ausbeutung
fokussiertes Wirtschaftstreiben dazu, die Minderwertigkeitsgefühle jedes einzelnen
aufrechtzuerhalten und das individualistische Streben nach Macht und Geltung zur treibenden
Kraft zu machen. Dadurch verkümmert nach Erwin Wexberg, Psychologe und Anhänger von
Alfred Adlers Individualpsychologie, im schlimmsten Fall der soziale Trieb, womit die
grundlegenden Voraussetzungen für kapitalistische Strukturen fortlaufend gefestigt werden.
(vgl. Wexberg 1924, 428-429)
Da jedoch auch das Gemeinschaftsgefühl als Urtrieb in jedem Individuum von Geburt an
vorhanden ist, ist damit ebenso die Basis für eine sozialistische, schließlich kommunistische
Gesellschaftsordnung gegeben. Dementsprechend gelte es, so die sozialistischen
Bildungstheoretiker, die Bedingungen zu schaffen, um das soziale Denken und Handeln auf das
Höchste zu entfalten. Dies beispielsweise durch selbsterziehende Gemeinschaften, wie sie Otto
Felix Kanitz mit der Kinderkolonie in Gmünd (1919) oder der Kinderrepublik in Seekamp bei
Kiel (1927) beschreibt, durch gemeinschaftliches Arbeiten, wie es Alois Jalkotzy vorschlägt,
und durch ein Schulsystem, das nicht auf Konkurrenz, sondern auf gegenseitiger Hilfeleistung
beruht. (vgl. Kanitz 1929, 66-69; Jalkotzy 1922b, 84; Wexberg 1924, 429; Lazarsfeld 1923,
194)
Neben dem primären Ziel, das Gemeinschaftsgefühl zu stärken, wird damit ebenso die Absicht
verfolgt, den Heranwachsenden Selbstsicherheit und Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten
frühestmöglich zu vermitteln, um das kindliche Minderwertigkeitsgefühl abzubauen und
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folglich das individualistische Streben nicht zur treibenden Kraft werden zu lassen. (vgl.
Wexberg 1924, 428-429)
Das Profil des „neuen Menschen“: die ihn konstituierenden Erziehungsziele
Mit der Beschreibung von Alfred Adlers Inividualpsychologie ist bereits ein wesentliches
Teilziel innerhalb der sozialistischen Erziehung hin zum „neuen Menschen“ benannt: die
Erziehung zur Solidarität. Man betrachtete die Fähigkeit zur gegenseitigen Hilfeleistung
einerseits als wesentliche Voraussetzung, die Klassengesellschaft zu überwinden, indem alle
Unterdrückten und Ausgebeuteten gegenseitig Solidarität üben, und andererseits stellte ein
stark ausgebildetes Gemeinschaftsgefühl auch die Grundlage der zu errichtenden klassenlosen
Gesellschaft dar, in welcher durch kollektivistisches Arbeiten das Wohle aller gesichert werden
sollte. Deshalb habe, nach Kanitz, die Arbeiterklasse „alles Interesse daran, in ihren Kindern
den sozialen Trieb stark und mächtig zu entfalten (…).“ (Kanitz 1921a, 4) Die neue
Gesellschaftsordnung sollte zudem ohne Unterdrückung und Unterjochung bestehen können,
womit ein weiteres Teilziel innerhalb der sozialistischen Erziehung formuliert ist: die
Erziehung zur sittlichen Freiheit. Darunter ist die Fähigkeit zu verstehen, ohne äußeren Zwang
oder Gewaltandrohung gut zu handeln. Damit in Verbindung steht die sittliche Erkenntnis jedes
einzelnen, für das Gemeinwohl der Gemeinschaft freiwillig die eigene Arbeitskraft zur
Verfügung zu stellen. (vgl. Kanitz 1921b, 3) Dieses Erziehungsziel könne, Kanitz zufolge,
allerdings nicht im klassischen Sinne erlernt werden, sondern ist nur durch Vorbildwirkung der
Erwachsenen und der Erzieher sowie durch eigene Erfahrungen in selbsterziehenden
Gemeinschaften zu verinnerlichen. (vgl. Kanitz 1924, 9) Bevor jedoch mit dem Aufbau der
sozialistischen Gesellschaft begonnen werden konnte, fehlte noch eine wesentliche Fähigkeit,
welche zugleich das letzte Teilziel innerhalb der sozialistischen Erziehung darstellt: die
Erziehung zum klaren, selbstständigen und kritischen Denken. Indem die Urteilskraft der
Kinder gestärkt werden sollte, erhoffte man sich, dass die Heranwachsenden eigenständig,
abseits jeglicher Indoktrination, zu der Erkenntnis gelangten, dass die gegenwärtige
Gesellschaftsordnung nicht gottgeben, sondern veränderbar ist. In diesem Sinne schreibt
Kanitz:
Klare Vorstellungen und logisches Denken müsste die Kinder zu der Erkenntnis führen, dass
arm und reich, Ausbeuter und Ausgebeutete, Lohnsklaverei und Faulenzertum durchaus keine
Dinge seien, die immer so waren und immer so bleiben müssen, sondern, dass es nur von dem
allgemeinen Sieg der Vernunft innerhalb des Menschengeschlechts abhängt, dass all dies
geändert werde. (Kanitz 1921a, 4)
Dementsprechend ist der „neue Mensch“ nach den sozialistischen Erziehungsvorstellungen als
der klar und kritisch denkende, sittlich freie und solidarisch handelnde Mensch zu definieren.
In diese Vorstellung vom neuen Menschen sind zusätzlich noch die lebensreformatorischen
Ansichten der Kinderfreundebewegung, die mit der Erziehung der Arbeiterkinder betraut
wurde, zu integrieren. Diese beinhalten u. a. einen alkohol- und tabakabstinenten Lebensstil.
Der Weg hin zum „neuen Menschen“: die Methodik der sozialistischen Erziehung
An dieser Stelle werden noch in aller Kürze die Grundzüge der sozialistischen
Erziehungsmethodik erläutert, weil diese in der literarischen Inszenierung des „neuen
Menschen“ von Bedeutung ist, wie noch aufgezeigt werden wird.
Peter Schneck fasst in seiner Dissertation bereits die wesentlichen Momente derselben
zusammen: „Sozialistische Erziehung kennt keine bloßen Mittel der Erziehung, wohl hat sie
aber Methode. Da sozialistische Erziehung immer Selbsterziehung ist, kann die Methode nur
das Einleiten des Vorganges der Selbsterziehung sein.“ (Schneck 1975, 95) Die Forderung nach
Selbsterziehung richtet sich aber nicht nur an die Heranwachsenden, sondern zuallererst an die
Erwachsenen. Sie sollten durch Vorbildwirkung ein positives Beispiel abgeben: „Wer es
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zustande bringt, den Kindern zu zeigen, dass er an sich selbst arbeitet, das heißt sich selbst
erzieht, beweist seinen Kindern damit am stärksten, dass Erziehung notwendig ist (…).“
(Jalkotzy 1922b, 87) Die herkömmlichen Mittel der Erziehung, v. a. aber die Prügelstrafe, aber
auch das schulische Belohnungssystem, wurden als Erziehungsmittel vehement abgelehnt. (vgl.
u. a. Winter 1922a, 128; Glöckel 1927, 236; Kanitz 1921b, 4) Akzeptiert wurden nur Methoden,
die als geeignet erschienen, um den Vorgang der Selbsterziehung einzuleiten. Als Königsweg
hin zu einer Selbsterziehung galt es, wie der Soziologe und spätere Begründer der empirischen
Sozialforschung, Paul Lazarsfeld, es formuliert, „sich selbst erziehende Gemeinschaften zu
organisieren.“ (Lazarsfeld 1923, 191f.) Hierin knüpfte man wiederum an die
Individualpsychologie an, die den Menschen als „Gemeinschaftswesen“ erkannte. Durch
gemeinsames Spiel, Lernen und Arbeiten, durch das Übernehmen von Verantwortung und
durch das gemeinsame Bestimmen von Regeln des Zusammenlebens würde die Gemeinschaft,
nach dem Sekretariatsleiter der Österreichischen Kinderfreunde (1922-1934), Alois Jalkotzy,
in das Bewusstsein der Beteiligten treten und so „zum erziehenden Faktor“ gemacht werden.
(vgl. Jalkotzy 1922b, 84f.)
Noch einer weiteren Methode wurde im Prozess der Selbsterziehung große Bedeutung
zugemessen: dem aktiven Hinterfragen von bestimmten Vorgängen und Prozessen und dem
Erfragen von Unbekanntem. Hierin knüpfte man beim natürlichen Fragetrieb des Kindes an
(vgl. Kanitz 1929, 56) und versuchte so, einen von den Heranwachsenden selbst initiierten
Aufklärungsprozess einzuleiten. Dabei maß man auch dem „guten Jugendbuch“ eine große
Bedeutung zu, wie weiter unten noch näher erläutert werden wird. Karl Czernetz, der damalige
Bildungsreferent der SAJ-Leopoldstadt, vergleicht schließlich die Methode des aktiven
Fragenstellens auch mit der sokratischen Mäeutik. (vgl. Czernetz 1931, 176) Wie bereits weiter
oben angedeutet wurde, kam dem Verein „ Kinderfreunde“ innerhalb der sozialistischen
Erziehung eine wichtige Rolle zu. Auf der Reichskonferenz der Kinderfreunde im Dezember
1920 wurde diese Organisation zur Erziehungsorganisation des Proletariats ausgerufen. Sie
sollte in Zukunft die Grundsätze, Ziele und die Methodik der sozialistischen Erziehung
erarbeiten und die praktische Durchführung derselben übernehmen. (vgl. Lillich 2004, 61) Seit
November 1919 gab es überdies eine Erzieherschule mit Internat im Schloss Schönbrunn, die
sog. Kinderfreundeschule, unter der Leitung von Otto Felix Kanitz sowie ein Kinderheim, das
von Anton Tesarek geführt wurde. (vgl. Weiss 2008, 12, 21-27) Im Zuge der
schulreformerischen Bemühungen Otto Glöckels kam es im Jahre 1923 zur Vereinigung des
Vereins „Freie Schule“ mit den Kinderfreunden zur Organisation „Freie Schule –
Kinderfreunde“. Hierbei ging es um die Verknüpfung kindheits- und schulpolitischer
Interessen. (vgl. Andresen 2006, 36f.)
Das „gute Kinder- und Jugendbuch“ in der sozialistischen Erziehung
Da in dieser Auseinandersetzung die Frage im Zentrum steht, inwiefern der Diskurs des „neuen
Menschen“ in die proletarische Kinder- und Jugendliteratur der Ersten Republik Eingang
gefunden hat, wurde zunächst die sozialistische Erziehung in ihren Grundzügen dargestellt und
der „neue Mensch“ als ihr Haupterziehungsziel klar definiert. Um dem Forschungsgegenstand
weiterhin gerecht zu werden, stellt sich nunmehr die Frage, welche Rolle der Kinder- und
Jugendliteratur im Allgemeinen innerhalb der sozialistischen Erziehung zugemessen wurde und
inwiefern mit dieser Literatur auch die Absicht verbunden war, den „neuen Menschen“ zu
erziehen. Erst im Anschluss daran ist es sinnvoll, die eingangs gestellte Fragestellung an
konkreten Textbeispielen zu überprüfen.
Das Buch: „unsere stärkste Waffe“ – die Errichtung von Arbeiter(kinder)büchereien
Festgehalten kann an dieser Stelle werden, dass für die SDAPÖ die Errichtung und gute
Führung von Arbeiterbüchereien innerhalb der sozialistischen Bildungsarbeit ein bedeutendes
Anliegen war. Mit dem Ausbau der Arbeiterbüchereien, der am Ende des 19. Jahrhunderts
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seinen Ausgang nahm und während der Ersten Republik seinen Höhepunkt erlebte, sollte der
Arbeiterklasse das gesamte kulturelle und literarische Erbe zugänglich gemacht werden. (vgl.
Pfoser 1980, 78f., 115 f., 143f.) Welche Wertschätzung man dem Buche beimaß, kommt
insbesondere in den Worten Otto Glöckels, Schulreformer und damaliger Präsident des Wiener
Stadtschulrates, bei der Eröffnung einer neuen Arbeiterbücherei im Jahre 1930 zum Ausdruck:
Unsere stärkste Waffe (…) ist das Buch; es ist Inbegriff der Innerlichkeit, der Sammlung, es
revolutioniert die Hirne. So unblutig diese Revolution auch ist, so ist sie dennoch oft
schmerzlich, denn sie räumt mit den Lebenslügen auf. Leider wird das Wort Revolution nur zu
oft missverstanden, ihm nur zerstörende Bedeutung unterlegt. Aber Straßenkampf kann nicht
Dauerzustand sein. Kampf um die Seele ist dauernde geistige Revolution. Das Buch weckt in
uns die ewige Frage nach dem Warum, und das Warum ist der Motor der geistigen Entwicklung,
der Weg zur Erkenntnis. Wenn aber Menschen einmal den Mut der Erkenntnis haben, dann
müssen sie Sozialisten werden. (Glöckel 1930, 8)
Was auf dem Feld der Bildungsarbeit für Erwachsene zu verzeichnen ist, setzt sich auch
hinsichtlich der Arbeiterkinder fort. So entstanden in Wien bereits vor dem Krieg (zwischen
1911 und 1914) 13 Arbeiterkinderbüchereien. Besonders die Kinderfreunde bemühten sich von
Anbeginn ihrer Gründung im Jahre 1908 durch Anton Afritsch, das Führen einer kleinen
Bücherei als Mindestanforderung für die zahlreichen Ortsgruppen durchzusetzen. Mit
Aktionen, wie der Büchersparkarte, den Mühlsteinbibliotheken oder dem Werben für das „gute
Jugendbuch“, versuchte man überdies das Bücherlesen als wichtiges Erziehungsmittel zu
propagieren. (vgl. Uitz 1975, 489; Pfoser 1980, 78f., 115 f., 143f.; Afritsch 1921a, 16; Afritsch
1921b, 4) Auch die Gründung des Verlags „Jungbrunnen“ reiht sich in die Bildungsambitionen
der SDAPÖ gegenüber den Arbeiterkindern ein. Dieser Verlag ging 1923 aus der
Reichsbücherstelle der Kinderfreunde hervor und ermöglichte es dem Verein „Kinderfreunde“
einerseits, selbst Bücher zu publizieren, und andererseits konnte es damit für Mitglieder
arrangiert werden, eine nach sozialistischen Kriterien überprüfte und ausgewählte Literatur zu
günstigen Preisen zu erwerben. (vgl. Winter 1925b, 280f.; N.N. 1924b, 403; Uitz 1975, 488)
Das „gute Jugendbuch“ als Erzieher: inhaltliche und künstlerische Kriterien
Dieses Engagement für das Lesen der Kinder verdankte das Buch seiner erzieherischen
Funktion, die man ihm zumaß, wie u. a. aus den Worten von Max Winter, Bundesobmann der
Kinderfreunde von 1920 bis 1930, zu entnehmen ist: „Bücher sind Erzieher. Für die
Proletarierkinder, deren Eltern so oft noch weniger als die Besitzenden imstande sind, ihre
Kinder erzieherisch zu beeinflussen, für die Proletarierkinder, die so oft ganz auf sich selbst
gestellt sind, sind Bücher oft die einzigen Erzieher.“ (Winter 1925a, 162)
Nach Anton Afritsch sollte das „gute Jugendbuch“ „bildend und veredelnd“ auf die
Arbeiterkinder wirken. (vgl. Afritsch 1921b, 4) Überdies maß man dem Lesen von Büchern
eine entscheidende Funktion im Prozess der Selbsterziehung bei, wie der obigen Rede von Otto
Glöckel zu entnehmen ist. Es sollte einerseits der Aufklärung dienen und andererseits dazu
anleiten, die umgebenden Dinge (gleich welcher Art) kritisch zu hinterfragen. Kurz: Das „gute
Jugendbuch“ sollte zum klaren und selbstständigen Denken anleiten.
Auffallend ist, dass durchgehend vom „guten Jugendbuch“ die Rede ist und dass es nicht
gleichgültig sei, welche Bücher die Heranwachsenden lesen würden (vgl. Winter 1921, 25;
ders. 1925 a, 162f.) In diesem Lichte sind auch Max Winters Worte zu lesen: „Wir suchen vor
allem künstlerisch Hochwertiges. Zur Kunst gehören Sprache und Bild. Beides muss
zueinander in Einklang stehen. Ob der Form darf aber der Inhalt nicht übersehen werden.“
(Winter 1922b, 254) Nachdem es noch weitgehend an einer neuen, sozialistischen Kinder- und
Jugendliteratur mangelte, erfolgte schließlich im Jahre 1926 auf der Winterschule in
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Neulengbach die Zusammenstellung eines Drei-Punkte-Auswahlprogramms aus den Beständen
der bestehenden (bürgerlichen) Literatur:
Die Auswahl ist durchzuführen:
1. Nach dem Gesichtspunkt der künstlerischen Form.
2. Nach psychologischen Grundsätzen.
3. Danach, ob Stoff oder Tendenz des Buches den sozialistischen Anschauungen
widersprechen. In gewissen Fällen wird ein Hinweis im Buch der Ablehnung des ganzen
Buches vorzuziehen sein. (N.N. 1927, 44)
Diese Punkte finden innerhalb des Berichts über die Winterschule in Neulengbach keine
weitere Erläuterung. Lässt sich durch eine Analyse der Buchbesprechungen in der Zeitschrift
Die Sozialistische Erziehung (unter den Rubrik „Bücherschau“ und „Gute Bücher“) der
Bedeutungsumfang des ersten und dritten Aspektes rekonstruieren, so bleibt es allerdings
unklar, was im Speziellen unter „psychologische Grundsätze“ zu verstehen ist. Hinsichtlich der
künstlerischen Bildgestaltung ist grundsätzlich festzuhalten, dass die sozialistischen
Bildungstheoretiker insbesondere auf eine „realistische“ Darstellungsweise in der Form- und
Farbgebung der Bilder Wert legten. Eine klare und einfache Linienführung sowie die
entsprechende Farbwahl für das jeweils Abgebildete wurden bevorzugt. (s. u. a. Winter 1922b,
250) Ebenso wurden an die Vers- und Textgestaltung der Kinder- und Jugendbücher sehr hohe
Ansprüche gestellt. Nicht nur, dass jede orthografische oder grammatikalische Ungenauigkeit
nicht geduldet und angeprangert wurde, sondern auch bezüglich stilistischer Aspekte sollte den
Heranwachsenden Hochwertiges geboten werden. So erwartete man den gekonnten Umgang
mit Reimschemata und die Fähigkeit der AutorInnen, sich in die kindliche Vorstellungswelt
hineinzuversetzen. (s. u. a. Jalkotzy 1925, 299)
Der Inhalt der Kinder- und Jugendbücher steht schließlich primär bei der Buchauswahl im
Zentrum, aber auch hinsichtlich dieses Aspekts finden sich keine klaren Richtlinien, wie ein
„gutes Jugendbuch“ diesbezüglich beschaffen sein müsste, um den hohen Erwartung der
sozialistischen Erziehungstheoretiker zu entsprechen. Vielmehr werden in den Rubriken
„Bücherschau“ und „Gute Bücher“ der Sozialistischen Erziehung Kriterien deutlich, wie ein
„gutes“ Kinder- und Jugendbuch nicht aussehen sollte. Zunächst wurden Werke, in denen
klerikale Inhalte dominierten oder in denen die Monarchie verherrlicht wurde, grundsätzlich
vom Vertrieb ausgeschieden. Schon 1922 entfernte man in den Schulbibliotheken unter Otto
Glöckel, im sog. „Wiener Schulkampf“, all jene Bücher, die man unter die Rubriken
„frömmelnde Schundware“, „habsburgische Schundliteratur“ oder „Kriegsliteratur“ einstufte.
(vgl. Amann 1992, 63) Der Literaturwissenschaftler, Viktor Böhm, spricht diesbezüglich auch
von der „ersten Säuberung“ der Kinder- und Jugendliteratur in der Ersten Republik.18 (vgl.
Böhm 1997, 95) Daneben verurteilte man in der Literatur noch die Verherrlichung des
Militarismus als Spielart der Kriegsliteratur, die Darstellung von Gewalt gegenüber Mensch
und Tier, dabei stand die literarische und bildliche Inszenierung der Prügelstrafe allerdings
besonders in der Kritik, und letztlich wurde auch die allgegenwärtige und verharmlosende
Darstellung des Alkoholkonsums strikt zurückgewiesen. All diese Punkte sind u. a. der
nachfolgenden Textpassage zu entnehmen:
Bei der „zweiten Säuberung“, nach der Einrichtung des austrofaschistischen „Ständestaates“ im Jahre 1934, sind
mehr als 100.000 Werke aus den Beständen der Kinderfreunde vernichtet worden. (vgl. Bindel 1958, 23) Ein
drittes Mal wurde die Literatur schließlich nach dem „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische
Deutschland „gesäubert“. (vgl. Amann 1992, 60-62)
18
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Unsere Bestrebungen sozialistischer Erziehung lassen uns gewisse Dinge selbstverständlich
ablehnen. Wir verzichten auf Darstellungen, in denen Prügel als pädagogische Handlungen
vorgeführt werden; Prügel, die Erwachsene ihren Kindern geben, um sie zu „erziehen“,
erscheinen uns nicht nur als hoffnungslose Torheit, sondern auch als eine zu überwindende
Barbarei vergangener Tage. Wir lehnen jede Verherrlichung des bürgerlichen Militarismus ab;
wir erziehen nicht für „blinden Gehorsam“. Und ebenso selbstverständlich verzichten wir auf
alle Alkoholfreudigkeit, auf alle so zahlreich lebendige Ideologie rund um den Alkohol herum.
Wir wollen der Arbeiterschaft einen nüchternen Nachwuchs erziehen. (N.N. 1924a, 359)
Das Engagement für das
„gute Jugendbuch“ war
unmittelbar mit dem
Kampf gegen die
„Schundliteratur“
verbunden (siehe Abb. 1).
Als Schund bezeichnete
man im Wesentlichen
diejenigen Bücher, die die
soeben beschrieben
Elemente beinhalten.
Abb. 1.: Das Schundbuch ist Gift!
„Gebrauchsanweisungen“
Allerdings mussten die sozialistischen Erziehungstheoretiker auch zur Kenntnis nehmen, dass
eine große Zahl von Werken zu verzeichnen ist, die zwar vom künstlerischen und literarischen
Standpunkte als wertvoll zu erachten sind, aber einzelne Verse oder Textpassagen enthielten,
die der sozialistischen Weltsicht widersprachen. Bei solchen Büchern wurde es entschieden
abgelehnt, sie generell der Jugend vorzuenthalten oder sie aus dem Vertrieb auszuscheiden.
Max Winter findet diesbezüglich klare Worte: „Kein Pädagoge wird dem [Ausscheiden dieser
Werke] zustimmen. Wo kämen wir auch da hin? Da hätten wir bald fast gar keine Bücher für
unsere Jugend oder nur unkünstlerisches Tendenzschrifttum.“ (Winter 1922b, 254f.)
Stattdessen wurde bei solchen Texten ein Kompromiss angestrebt.
Dieser sah wie folgt aus: Bei betroffenen Kinder- und Jugendbüchern wurde auf den ersten
Umschlagsseiten eine Art „Warnung“, die als Gebrauchs- oder Leseanweisung für die Eltern
und Kinder fungierte, angebracht. Beispielhaft hierfür steht die „Gebrauchsanweisung“ für das
Bilderbuch Schweinchen schlachten, Würstchen machen, quiek, quiek, quiek! (illustriert von
Else Wenz-Viëtor, hrsg. von Charles Dieck). Dieses Werk wird in der Sozialistischen Erziehung
bereits wegen seiner verharmlosenden Darstellung des Tierschlachtens diskutiert, an dieser
Stelle steht es jedoch wegen seiner Alkoholverse in der Kritik.
Achtung, Eltern!
Zu diesem prächtigen Bilderbuch, das ob der Bilder und Verse alle Kinder lieb gewinnen
müssen, ist doch auch etwas zu sagen. Wir wollen unsere Kinder frei von Alkohol erziehen,
weil Alkohol Gift ist. Nun ist aber in dem Buch dreimal vom Wein die Rede. Gleich der erste
Vers erzählt den Kindern, dass sich so viele Erwachsene ein Fest noch nicht ohne Wein denken
können. Das wäre also Erziehung zu feucht-fröhlichen Festen. Die wollen wir nicht leisten,
aber doch auch das schöne Buch den Kindern nicht vorenthalten. So empfehlen wir also den
Eltern anstatt der Zeile: „Roter Wein und weißer Wein“ zu lesen: „Reitersmann und Hündchen
klein“. Das entspricht auch dem Bild. Der Reim wurde vom Volk früherer Tage gedichtet, das
Volk hat heute ein Recht darauf, ihn seinen gewandelten Sitten entsprechend umzugestalten.
Auf der nächsten Seite ist der rote Wein in Flasche und Glas abgebildet. Da gibt es also keine
„Umdichtung“. Es wäre auch nicht in Ordnung, etwas aus der alten Sammlung „Des Knaben
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Wunderhorn“ umdichten zu wollen. Erschwert wird die Sache noch, dass die „Kinderlein gerne
trinken roten Wein“. Da empfehlen wir den Eltern also zu sagen, dass heute den Kindern kein
roter Wein mehr gegeben wird, weil sie sonst krank werden und sogar sterben können. In der
alten Zeit haben die Erwachsenen das nicht gewusst, weshalb sie auch solche Verse gemacht
haben. Wein könnte höchstens als „Weinsuppe“ an kranke Kinder herankommen, auch diese
nur dann, wenn sie der Arzt verschreibt, was also bei dem heutigen Stande der Erkenntnis
immer seltener wird. Das könnte den Kindern gesagt werden, wenn ihnen der letzte Weinvers
– er ist auf der vorletzten Seite des Buches – vorgelesen wird.
Der Arbeiterverein „Kinderfreunde“. (In: Winter 1922b, 255)
Der pädagogische Duktus, der schon fast bevormundend wirkt, ist unverkennbar. Fraglich ist
die Reichweite solcher Beilagen, weil hier freilich von einem Idealbild ausgegangen wird: von
Arbeitereltern, die ihren Kindern vorlesen und das Gelesene überdies mit den
Heranwachsenden besprechen. Dass das eher die Ausnahme als die Regel war, braucht nicht
betont zu werden.
Der Mangel an einer sozialistischer Kinder- und Jugendliteratur
Die Frage, ob mithilfe einer den sozialistischen Vorstellungen entsprechenden Kinder- und
Jugendliteratur auch der „neue Mensch“ erzogen werden sollte, ist mit den bisherigen
Ausführungen noch nicht hinreichend beantwortet. Dass dem „guten Jugendbuch“ eine überaus
bedeutsame Rolle im Erziehungsprozess zugestanden wurde, ist bereits zum Ausdruck
gekommen, konkrete Hinweise darauf, dass diese auch der Heranbildung „neuer Menschen“
dienen sollte, finden sich, allerdings sehr wenige. Einer davon beispielsweise bei Erich Klupp,
einem Mitarbeiter der Sozialistischen Erziehung, im Jahre 1928: „Neue, sozialistische Bücher
werden die neuen Menschen schaffen. Die neuen Bücher sind Hilfe für das Befreiungswerk,
das wir am proletarischen Kinde vollbringen wollen.“ (Klupp 1928, 309) Allerdings beklagten
die sozialistischen Erziehungstheoretiker von Anfang an den Mangel an einer solchen Literatur.
Anton Afritsch spricht diesbezüglich von einer „große[n] Lücke in unserer Jugendliteratur“
(Afritsch 1921b, 9) und Anton Tesarek, Leiter des Kinderheims in Schönbrunn und Gründer
der Jugendorganisation „Rote Falken“, schreibt: „Es ist großer Hunger nach proletarischer
Literatur.“ (Tesarek 1921b, 29) Wie eine solche Literatur aussehen sollte, bleibt jedoch unklar
und wird an keiner Stelle definiert. Einig war man sich, dass die neuen Texte „die
Klassengegensätze nicht verschleier[n]“ (Eichler 1924, 258) sollten, wie es Otto Eichler,
Mitarbeiter der Sozialistischen Erziehung, formuliert. Aus den Buchkritiken geht auch hervor,
dass man Werke wünschte, die das Leben und die Probleme der arbeitenden Menschen zum
Thema machen. Stoffe und Motive sollten ebenso aus dem realen Leben entnommen sein.
Hierdurch sollte dem konsequenten Ausschluss des Proletariats aus der literarischen
Darstellung entgegengewirkt und den Arbeiterkindern mehr Identifikationsmöglichkeiten
geboten werden, um sie so zu klassenbewussten Menschen heranzubilden. (vgl. u.a. Tesarek
1921b, 29f., Lohmann/Winter 1924, 457) Auf die bereits bestehende proletarische Kinder- und
Jugendliteratur reagieren die sozialistischen Bildungstheoretiker eher zurückhaltend,
wenngleich man sie lobend, allerdings nicht euphorisch, zur Kenntnis nahm. So bemerkt Anton
Tesarek hinsichtlich Hermynia Zur Mühlens proletarischer Märchensammlung Was Peterchens
Freunde erzählen (1921) folgendes: „Es gibt fast noch gar keine sozialistischen Kinderbücher.
Nun ist da dieses Büchlein erschienen und es ist ein guter Anfang.“ (Tesarek 1921a, 23) Als
„guter Anfang“ wird dieses Kinderbuch bezeichnet, aber noch nicht als das Optimum eines
sozialistischen Schrifttums. Tesarek schließt seine Kritik mit den Worten:
Wir haben den Wunsch, recht bald viele ähnliche Bücher im Verlag der „Kinderfreunde“
erscheinen zu sehen. Das Proletariat muss endlich beginnen, die Flut der
bürgerlichnationalistischen Kinderliteratur mit guten, sozialistischen Büchern aufzuhalten und
zu verdrängen. (ebda., 23)
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Dann findet sich erst wieder im Jahre 1924 zu Robert Grötzsch’ Muz der Riese und Der
Zauberer Burufu eine ähnlich lobende Kritik, (vgl. Lohmann/Winter 1924, 457) aber auch hier
bleibt die Euphorie, endlich eine angemessene Form der sozialistischen Kinder- und
Jugendliteratur gefunden zu haben, im Wesentlichen aus. Prompt folgt im Jahr 1925 eine
vernichtende Kritik von Seiten der Horterzieherin, Gisa Stingl, zu den sozialistischen Märchen
im Sinne von Hermynia Zur Mühlen und Robert Grötzsch. Stingl findet diesbezüglich in der
Sozialistische Erziehung deutliche Worte: „Ich kann mich des Eindruckes nie erwehren, dass
diese Art der Literatur eine Vergewaltigung des kindlichen Lesers bedeutet, weil ‚die Moral
von der Geschichte’ in allzu aufdringlicher Form herausgearbeitet ist.“ (Stingl 1925, 296) Die
Redaktion der Zeitschrift Die Sozialistische Erziehung kommentiert zwar Stingls Artikel wie
folgt: dass sie „mit der Verurteilung der sozialistischen Märchen nicht einverstanden“ ist, aber
eine Diskussion rund um dieses Thema durchaus begrüße. (ebda., 298)
Diese Debatte rund um die sozialistische Kinder- und Jugendliteratur und das Zulassen einer
Kritik an derselben ist m. E. ein Indikator dafür, dass es den sozialistischen
Bildungstheoretikern nicht nur um das bloße Vorhandensein eines proletarischen
Jugendschrifttums ankam, das dann unhinterfragt den Heranwachsenden vermittelt werden
sollte, sondern dass diese speziellen Texte ebenso an den Vorstellungen einer qualitativ
hochwertigen Literatur gemessen werden mussten.
Zuvor jedoch musste erst eine derartige Kinder- und Jugendliteratur in entsprechendem Umfang
geschaffen werden. Dabei mangelte es an allen Ecken und Enden: Im Vergleich zu denjenigen
Büchern, die aufgrund ihrer kriegs- oder monarchieverherrlichenden Tendenz ausgesondert
wurden, bemerkt Jalkotzy durchaus selbstkritisch, wurde „zu wenig Ersatz geboten.“ (Jalkotzy
1924, 449) „Voraussetzung zu einem neuen Schriftentum für unsere Jugend ist“, stellt Winter
im Jahre 1923 überdies fest, „dass wir die Menschen haben, die es schaffen, also Künstler, in
deren Seele sich die Welt im Lichte der sozialistischen Weltanschauung widerspiegelt.“
(Winter 1923, 110) An genau diesen Menschen schien es allerdings lange Zeit zu fehlen. Denn
noch im Jahre 1926 heißt es im Protokoll der Winterschule in Neulengbach unter II b.
folgendermaßen: „Der Reichsverein wird ersucht, sozialistische Jugendbücher zu verlegen. Die
Schaffung sozialistischer Kinderbücher (Geschichtsbücher, Theaterstücke, sozialistische
Utopien) ist durch ein Preisausschreiben zu fördern.“19 (N.N. 1927, 43) Dieser Protokollpunkt
zeigt sehr deutlich, dass erstens Mitte der 20er Jahre der Bedarf an sozialistischer Kinder- und
Jugendliteratur noch immer nicht gedeckt war und weiterhin nach geeigneten Formen gesucht
wurde, die sozialistische Weltanschauung zu vermitteln, und es zweitens ganz entscheidend an
AutorInnen fehlte, die dieses Werk, ein sozialistisches Kinder- und Jugendschrifttum zu
entwickeln, vollbringen konnten.
Erst im Jahre 1931 (!) sollte schließlich euphorische Stimmung aufkommen. So heißt es von
Otto Felix Kanitz in der „Bücherschau“ der Sozialistische Erziehung wie folgt:
Endlich ein sozialistisches Märchenbuch!
Seit einer Reihe von Jahren führen wir in dieser Zeitschrift und auch anderswo darüber Klage,
dass es bisher noch nicht gelungen ist, ein Kinderbuch zu schreiben, das Märchenwelt und
Abenteuerlust glücklich mit sozialistischer Weltanschauung verbindet. (…) Aber nun hat uns
Fritz Rosenfeld ein Märchenbuch geschrieben, das ich bis auf weiteres das sozialistische
Märchenbuch nennen möchte. Es heißt „Tirilin reist um die Welt“ (…). (Kanitz 1931, 282)
19
Leider konnte nicht in Erfahrung gebracht werden, ob ein solches Preisausschreiben tatsächlich stattgefunden
hat und wer – sofern eines veranstaltet wurde – es gewann.
47
Festzuhalten ist an dieser Stelle hinsichtlich der sozialistischen Kinder- und Jugendliteratur im
Österreich der Ersten Republik, dass der Zeitraum, in welchem sich die sozialistischen
Erziehungsvorstellungen vollständig ausformten und sich in Folge in entsprechenden kinderund jugendliterarischen Texten manifestieren hätten können, zu kurz war, um tatsächlich
Gestalt anzunehmen. Trotzdem lassen sich einige Werke in diesem Kontext ausmachen, auch
wenn die repräsentative Literatur, zu welcher auch das soeben genannte Werk von Friedrich
Feld zu zählen ist, erst relativ spät – Ende der 20er-, Anfang der 30er-Jahre – zu verzeichnen
ist.
Die sozialistischen Erziehungsvorstellungen in der österreichischen Kinder- und
Jugendliteratur der Ersten Republik
Nachdem einerseits aufgezeigt werden konnte, welche Bedeutung man der erzieherischen
Funktion dem „guten Jugendbuch“ beimaß, und andererseits der Nachweis erbracht wurde, dass
man ein sozialistisches Jugendschrifttum, mit welchem man überdies das Ziel verknüpfte, den
„neuen Menschen“ hervorzubringen, nicht nur wünschte, sondern auch förderte, ist an dieser
Stelle eine Textanalyse von entsprechenden Werken hinsichtlich des Einfließens der
sozialistischen Erziehungsvorstellungen vorgesehen. Dazu wurden sechs Texte
unterschiedlicher Art (Erzählungen, Bilderbücher, Märchen, Theatertexte) ausgewählt, die im
näheren Umfeld der SDAPÖ im Zeitraum der Entwicklung des sozialistischen
Erziehungskonzepts, etwa zwischen 1920 und 1934, entstanden sind. Das Textkorpus umfasst
folgende Werke:
Anton Afritsch (1920): Ins neue Leben und andere ernste Erzählungen für die reifere Jugend.
Josef Pazelt (1924): Zizibe. Ein Wintermärchen für blonde und graue Kinder.
Otto Felix Kanitz (1925): Nazi und der Bücherwurm.
Anton Tesarek (1927): Kasperl sucht den Weihnachtsmann.
Alois Jalkotzy (ca. 1930): Die verwünschte Fabrik.
Friedrich Feld (1931): Tirilin reist um die Welt. Eine Erzählung für denkende Kinder.
Angemerkt muss nochmals werden, dass der Anteil am Büchermarkt an dezidiert sozialistischer
Kinder- und Jugendliteratur, die in Österreich der Ersten Republik entstanden ist,
verschwindend klein ist und dementsprechend als Randerscheinung zu werten ist.
Möglicherweise ist hierin auch einer der Gründe zu suchen, warum es bis zum gegenwärtigen
Zeitpunkt keine umfassende Darstellung zu diesem Thema gibt. Bislang ist einzig der Artikel
Der brave Maschinenknabe. Proletarische Kinder- und Jugendliteratur in Österreich
(18951938) von Bernd Dolle-Weinkauff, einem renommierten Kinder- und
Jugendliteraturwissenschafter, zum konkreten Thema erschienen. Im Untertitel dieses
Aufsatzes wird bereits ersichtlich, dass die Wurzeln dieser Literaturgattung bis ins ausgehende
19. Jahrhundert zurückreichen. Als frühestes Zeugnis einer proletarischen Literatur im Raum
Österreich nennt Dolle-Weinkauff das Buch der Jugend (1895) von Emma Adler, Gattin von
Viktor Adler. Als ebenso bedeutend gilt in diesem Zusammenhang die im Jahre 1909 zunächst
anonym erschienene Autobiografie Jugendgeschichte einer Arbeiterin von Adelheid Popp,
Begründerin der proletarischen Frauenbewegung in Österreich. Auch Ferdinand Hanusch,
sozialdemokratischer Abgeordneter in der Monarchie und Gründer der Wiener Arbeiterkammer
in der Ersten Republik, verfasste einige Erzählungen: u. a. Lazarus. Jugendgeschichte (1912).
(vgl. Dolle-Weinkauff 1997, 98f.; ders. 1988, 69) Anton Afritsch, Otto Felix Kanitz und
Friedrich Feld kommen bei Dolle-Weinkauff auch als Schriftsteller in diesem Zusammenhang
in den Blick. Keine Erwähnung finden allerdings Anton Tesarek, der sich im Bereich des Roten
Kasperltheaters verdient gemacht hat, Alois Jalkotzy, welcher sich intensiv mit der
Märchentradition im sozialistischen Kontext auseinandergesetzt hat, und überraschenderweise
48
ebenso wenig Josef Pazelt, der mit seinen Erzählungen zur damaligen Zeit doch einigen
Bekanntheitsgrad erlangte.
Terminologische Bemerkungen
Zunächst jedoch, vor den textanalytischen Erörterungen, sollen terminologische Überlegungen
hinsichtlich der hier im Zentrum stehenden Literaturgattung angestrengt werden.
Wie bereits erläutert wurde, ist seitens der sozialistischen Erziehungstheoretiker keine genauere
Definition vorgenommen worden bezüglich des von ihnen bevorzugten / gewünschten
Literaturtypus’. Mehrheitlich ist aber vom sozialistischen Kinder- und / oder Jugendbuch die
Rede, ohne diese Bezeichnung genauer zu erörtern.
Ein Blick in die Forschungsliteratur verweist auf die sehr umfassende DDR-Forschung zu
diesem Thema. Innerhalb dieser wissenschaftlichen Auseinandersetzung etablierte sich für die
zwischen 1918 und 1933 erschienene sozialistisch-kommunistische Literatur für Kinder und
Jugendliche die Bezeichnung „proletarisch-revolutionäre Kinder- und Jugendliteratur“. (vgl.
Dreher1975, 78) Angemerkt muss jedoch werden, dass in diesem Zusammenhang insbesondere
die Werke von AutorInnen erfasst werden, die im Umfeld der Kommunistischen Partei
Deutschlands während der Weimarer Republik (1918/19 – 1933) entstanden sind.
Umfassenderer Studien zu den im Vergleichszeitraum entstandenen Werken österreichischer
SchriftstellerInnen, die ihr Schaffen als Teil der austromarxistischen Kulturbewegung sahen,
sind nicht vorhanden. Es stellt sich nun die Frage, ob man den Begriff
„proletarischrevolutionäre Kinder- und Jugendliteratur“ ohne Einschränkung auf die
sozialistische Literatur für Kinder und Jugendliche in Österreich übertragen kann?
Es ist in dieser Auseinandersetzung nicht möglich, dieses als Forschungsdesiderat zu
bezeichnende Thema genauer zu untersuchen. Deshalb wird in Folge die Terminologie Bernd
Dolle-Weinkauffs, die er in seinem bereits erwähnten Aufsatz vorschlägt, übernommen. In
diesem Essay wählt der Kinder- und Jugendliteraturwissenschafter den Begriff „proletarische
Literatur“ für dieses spezielle Schrifttum und vernachlässigt dabei – ob beabsichtigt oder nicht,
wird nicht näher präzisiert – das Adjektiv „revolutionär“. Die exakte Definition, die auch dem
hier beschriebenen Textkorpus zugrunde liegen soll, lautet wie folgt:
Der „proletarischen Literatur“ werden (…) solche fiktionalen Texte zugerechnet, auf die
folgende drei Kriterien zutreffen: 1) Stoffe und Thematiken orientieren sich an Lebensweise,
Bedingungen,
Gegebenheiten und Problemen der lohnabhängig arbeitenden
Bevölkerungsschichten; Handlungen, Protagonisten und Milieus sind als mimetischrealistische
oder symbolisch-allegorische Figurationen des proletarischen Lebens zu verstehen. 2) Den
Werken liegt als sozialökonomischer Bezugsrahmen die Vorstellung von einer in Arbeitende
und Besitzende gespaltenen, d.h. auf der Trennung von Kapital und Arbeit beruhenden
Klassengesellschaft zugrunde, deren Aufhebung durch Emanzipation des Proletariats
angestrebt wird. 3) Die Autorinnen und Autoren verstehen ihre literarische Tätigkeit als Teil
der politisch-kulturellen Praxis der Arbeiterbewegung. (Dolle-Weinkauff 1997, 98f.)
Diese Definition ist sehr offen und breit angelegt, die Beifügung „revolutionär“ fehlt und
überdies spricht Dolle-Weinkauff von „Literatur“, nicht ausschließlich von „Kinder- und
Jugendliteratur“. Hiermit wird einer Haltung Rechnung getragen, die noch in der
Wolgast’schen Tradition wurzelt und die besagt, dass sich ein „gutes“ Buch nicht nur an Kinder,
Jugendliche oder Erwachsene wendet, sondern durchaus eine mehrfachadressierte Dimension
aufweist. (vgl. Afritsch 1921b, 8f.) Letztlich vermeidet Dolle-Weinkauff auch eine
Festschreibung der proletarischen Literatur auf eine bestimmte Form. Dies ist zu begrüßen, da
sich ein vielfältiger Formenbestand abzeichnet: Erzählungen, Märchen, Reise- und
49
Abenteuergeschichten sowie Theaterstücke sind innerhalb der proletarischen Literatur
durchwegs vertreten.
Das Drei-Phasen-Modell
Innerhalb des hier zu untersuchenden Textkorpus fällt auf, dass sich hinsichtlich der
Manifestation des sozialistischen Erziehungsdiskurses in der proletarischen Kinder- und
Jugendliteratur im Untersuchungszeitraum eine Entwicklung abzeichnet. Um diese näher zu
beschreiben, wird ein Drei-Phasen-Modell vorgeschlagen, welches sich nach folgenden
Themen gliedert: (1) Lebensreform und Lebenshilfe (ca. 1920-1925), (2) das proletarische
Märchen (ca. 1924-1930), (3) die märchenhaft-fantastischen Reiseerzählung (ca. 1927-1931).
Erste Phase: Lebensreform und Lebenshilfe (ca. 1920-1925)
Diese Phase in der Entwicklung einer proletarischen Literatur für Kinder und Jugendliche ist
noch nicht – wie das bei den anderen beiden Phasen der Fall ist – auf ein bestimmtes Genre
fixiert. Vielmehr spiegeln sich hier die lebensreformatorischen Ansichten der
Kinderfreundebewegung wider, die auch Teil des Diskurses des „neuen Menschen“ sind, und
sich folgendermaßen beschreiben lassen: Alkohol- und Tabakabstinenz als Teil eines neuen
Lebensstils des Proletariats, Freundschaft und Solidarität als bewusste Kontrapunkte zu
Rassismus, Antisemitismus und Ausgrenzung jeglicher Art, die Ablehnung des Militarismus
als ein Relikt vergangener Tage und der Erwerb von Wissen und Bildung als
Zukunftsperspektive. Charakteristisch für beide hier zur Diskussion stehenden Texte ist
überdies, dass einerseits noch nicht der Versuch unternommen wird, die kapitalistische
Gesellschaftsordnung zu erklären und andererseits werden in beiden Büchern keine oder nur
sehr subtil Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt, die Klassengesellschaft zu überwinden.
Am Beginn des Untersuchungszeitraums steht die Anthologie Ins neue Leben und andere ernste
Erzählungen für die reifere Jugend (1920) von Anton Afritsch, der bereits als Gründer des
Arbeitervereins „Kinderfreunde“ genannt wurde. Dieses Werk umfasst in der Erstauflage
zwölf Erzählungen, welche teils stark autobiografisch geprägt sind. Der Schwerpunkt liegt in
der Beschreibung der proletarischen Kindheit, wobei ein Wendepunkt der jeweiligen
ProtagonistInnen im Zentrum des Geschehens steht, mit welchem ein lebensreformatorischer
Wandel einher geht und ein positiver Zukunftsausblick erfolgt.
Das Bilderbuch Nazi und der Bücherwurm, publiziert 1925, illustriert von Ernst Kutzer und mit
den Versen von Otto Felix Kanitz versehen, der bereits als einer der wichtigsten sozialistischen
Erziehungstheoretiker in Erscheinung getreten ist, wirkt beinahe wie eine Werbeschrift: Denn
hier fließen in Vers und Bild beiläufig die sozialdemokratischen Vereine und Organisationen
ein, die sich in jeder Situation als eine Art von Lebenshilfe präsentieren. Frei nach dem Motto
„von der Wiege bis zur Bahre“ werden u. a. die „Schul- und Kinderfreunde“, die „Roten
Falken“, die „Naturfreunde“, der Turnverein „ASKÖ“, die Konsum- und
Siedlungsbaugenossenschaft, der Abstinenzverein, die Bildungsstelle sowie der Verlag
Jungbrunnen direkt (in den Versen) oder indirekt (durch die Illustrationen) beworben (siehe
Abb. 2). Die Botschaft lautet schließlich: Hier, innerhalb der sozialdemokratischen
Arbeiterpartei mit ihrem feingliedrigen Netz an Vereinen und Organisationen, findest du in
jeder Lebenslage Hilfe und Unterstützung, Gemeinschaft und Solidarität. Daneben fehlen
ebenso wenig die lebensreformatorischen Bestrebungen der Kinderfreundebewegung, die sich
u. a. in Alkohol- und Tabakabstinenz ausdrücken (siehe Abb. 3 u. 4). Auf insgesamt 28 Seiten
und neun Kapiteln wird der jugendlich wirkende Bibliothekar Nazi (wahrscheinlich Kurzform
von Ignaz) vom Bücherwurm begleitet. Als Freund und Helfer in jeder Lebenssituation steht
das Fabelwesen Nazi in den sehr lose miteinander verknüpften Geschichten treu zur Seite. In
der Figur des Bücherwurms nimmt die Vorstellung der sozialistischen Erziehungstheoretiker
50
Gestalt an, nach welcher das Buch als Freund, Erzieher und guter Kamerad in allen
Lebenssituationen zu verstehen ist.
Auch in diesem Werk unternimmt der Autor nicht den Versuch, die kapitalistische
Gesellschaftsordnung zu erklären. Der Grund hierfür liegt mit großer Wahrscheinlichkeit in
Kanitz’ pädagogischen Überlegungen, zusammengefasst dargelegt in seiner Schrift Kämpfer
der Zukunft (1929). Darin führt der Pädagoge aus, dass die sozialistische Kindererziehung bei
der sozialistischen Gefühlsbildung beginnen müsse. Auf das hier zur Diskussion stehende
Bilderbuch bezogen bedeutet das, dass sein Ziel darin besteht, die Kinder gefühlsmäßig mit der
proletarischen Arbeiterbewegung und ihren sozialen Netzwerken in Verbindung zu bringen.
Erst in späteren Jahren könne zum soziologischen Denken und damit mit der sozialistischen
Verstandesbildung begonnen werden. (vgl. Kanitz 1929, 32-45)
Zweite Phase: Das proletarische Märchen (ca. 1924-1930)
Zeichnen sich die Werke der Frühphase zwar bereits durch das Einfließen sozialistischer
Erziehungsinhalte und durch den Bezugspunkt auf das proletarische Leben aus, tritt ab Mitte
der 20er-Jahre das Märchen als zentrale Erzählgattung in den Vordergrund.
Dabei ist die Märchendiskussion innerhalb der Arbeiterbewegung schon in der Monarchie und
insbesondere in der Vorkriegszeit anzusiedeln. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde – früher als
in Österreich – in der Weimarer Republik wieder auf das Märchen als spezifische Gattung für
die proletarische Kinder- und Jugendliteratur zurückgegriffen. Die Literaturwissenschafterin,
Helga Karrenbrock, nennt als bedeutende Werke in diesem Zusammenhang u. a. Bruno H.
Bürgels Werk Die seltsamen Geschichten des Doktor Ulebuhle – Ein Buch für Junge und Alte,
die jung geblieben sind (1920) und Hermynia Zur Mühlens Kinderbuch Was Peterchens
Freunde erzählen (1921). (vgl. Karrenbrock 2008, 250f.)
Auch die sozialistischen Erziehungstheoretiker innerhalb der SDAPÖ versuchten sehr früh,
einen eigenen Standpunkt zum Märchen zu erarbeiten. Standen namhafte Philosophen, wie
Rousseau und Kant, aber ebenso Maria Montessori als zentrale Vertreterin der
Reformpädagogik, dem Märchen als Kinderlektüre sehr kritisch gegenüber, wenn nicht sogar
ablehnend, war für die sozialistischen Erziehungstheoretiker bald klar, dass man auf das
Märchen innerhalb der Kinderlektüre nicht verzichten wolle. Denn einerseits ging aus
statistischen Erhebungen hervor, dass das Märchen bis zum zehnten Lebensjahr den
gewichtigsten Teil der Gesamtlektüre ausmache (vgl. Jalkotzy 1952, 39, 42), und andererseits
berief man sich in der Befürwortung des Märchens auch auf aktuelle psychologische
Erkenntnisse und hier insbesondere auf die bedeutende Entwicklungspsychologin, Charlotte
Bühler. Diese benennt sogar ein ganzes Entwicklungsstadium des Kindes als das Märchenalter.
51
(vgl. Bühler 1918, 5ff.) Dementsprechend fällt auch das Urteil von Alois Jalkotzy aus: „Kinder
ohne Märchen aufwachsen zu lassen, wäre ein pädagogischer Irrtum.“ (Jalkotzy 1952, 39). Zu
einem ähnlichen Schluss kommt Max Winter: „Jedenfalls birgt der Schatz, den uns die Brüder
Grimm hinterlassen haben, soviel Ewigkeitswerte, daß um ihrerwillen eine besondere Pflege
der Grimmschen Märchen in unseren Büchereien gerechtfertigt erscheint.“ (Winter 1922b, 250)
An dieser Stelle klingt bereits die starke Affinität und Wertschätzung zu den Märchen der
Brüder Grimm an, an der sich bis 1934 nichts ändern sollte und sich sogar darüber hinaus, in
der Zweiten Republik, fortgesetzt hat. Trotzdem las man die alten Märchen kritisch und
bemühte sich um eine Humanisierung derselben. Hierbei orientierte man sich im Wesentlichen
an den Vorstellungen zum „guten Jugendbuch“, weshalb auch die Märchenneubearbeitungen
im Zusammenhang mit den sozialistischen Erziehungsvorstellungen gesehen werden müssen.
Zu verweisen ist diesbezüglich insbesondere auf die theoretische Auseinandersetzung zum
Märchen von Alois Jalkotzy in Märchen und Gegenwart. Deutsche Volksmärchen und unsere
Zeit (1930). In dieser Darstellung finden sich auch Beispiele von Märchen, die von
Grausamkeiten, einem überkommenem Rechtsverständnis und von veralteten Motiven
„bereinigt“ sind. Fortgesetzt hat der Pädagoge seine Arbeit in der Zweiten Republik: Hier sind
u. a. die Werke Alte Märchen neu erzählt (1954) und Grimms Märchen ohne Grausamkeiten
neu erzählt (1963) im Verlag Jungbrunnen erschienen.
Darüber hinaus ist in der Ersten Republik auch der Versuch unternommen worden, selbst neue
Märchen bzw. „proletarische Märchen“ zu schreiben. Bevor jedoch auf konkrete Beispiele
näher eingegangen werden kann, ist in diesem Kontext der Märchenbegriff zu konkretisieren.
Dolle-Weinkauff definiert diesen Begriff hinsichtlich des „proletarischen Märchens“
folgendermaßen:
„Märchen“ ist hier kaum als eine streng festgelegte Gattungsbezeichnung zu verstehen, es
finden sich darunter Fabeln, Parabeln, Tiergeschichten, visionäre Impressionen und Travestien
z.B. von biblischen Erzählstoffen. Die Rubrizierung unter „Märchen“ zielt vielmehr auf einen
im Angebot der zeitgenössischen Kunstmärchenliteratur allenthalben sich abbildenden
Erwartungshorizont, der im Wesentlichen mit den Topoi formelhafte Sprache, anthropomorphe
Tiere, Pflanzen und Gegenstände, wunderbare Requisiten, fantastische Handlungsvarianten zu
umreißen ist. (Dolle-Weinkauff 1997, 99)
Und weiter heißt es:
Die proletarischen Märchen (…) verstehen sich dabei jedoch in gewisser Weise als chiffrierte
Anti-Märchen. (…) [B]eabsichtigt ist (…) eine symbolisch-allegorische Instrumentalisierung
des Wunderbaren zum Zwecke der Aufklärung über gesellschaftliche Verhältnisse. Indem das
„märchenhafte“ Detail zum Verweis auf gesellschaftliche Wirklichkeit benutzt wird, hebt es
sich als solches auf (…). (ebda. 1997, 99)
Ein Beispiel für ein „proletarisches Märchen“ bzw. für ein „echte[s] Märchen unserer Zeit (…)“
(Jalkotzy 1952, 110) findet sich in Jalkotzys bereits genannter Abhandlung Märchen und
Gegenwart. Von diesem Märchen mit dem Titel Die verwünschte Fabrik, das sich nur in der
zweiten Auflage aus dem Jahre 1952 findet, heißt es, dass es von Wanderlehrern der
Kinderfreunde zur Zeit der Ersten Republik, als große Arbeitslosigkeit herrschte, vor Kindern
und Erwachsenen oftmals erzählt wurde. (vgl. Jalkotzy 1952, 110) Aus diesem Grund soll
dieses Märchen hier berücksichtigt werden; Jalkotzy ist in diesem Zusammenhang nicht als
Autor, sondern lediglich als ein nachträglich Aufzeichnender zu verstehen.
Die verwünschte Fabrik weist im Allgemeinen große Parallelen zum Grimm’schen Märchen
Hänsel und Gretel auf und funktioniert auch nach demselben Schema. Es werden lediglich die
Motive und Themen anders gesetzt: So orientieren sich die Inhalte an der proletarischen
Lebenswirklichkeit, Arbeitslosigkeit wird als Motiv neu aufgegriffen, Hunger und Not werden
52
als ständige Themen präsent gehalten. Eine Ruine, in der eine alte Frau mit ihren beiden Tieren
haust, wird schlussendlich durch Hansls Hilfsbereitschaft und solidarischem Verhalten in eine
Fabrik verwandelt, womit er den Fluch der Arbeitslosigkeit von seinem Dorf bannt. So heißt
es:
Hansl, du hast die verzauberte Fabrik durch deine gute Handlung erlöst. Sie war in eine Ruine
verwandelt, weil ihr früherer Besitzer habsüchtig und gemein war. Du hast den Zauber
gebrochen, weil du gut und hilfreich bist, selbst wenn es dir verboten wird. Die Fabrik gehört
dir, solang du so bleibst. (118)
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass dieses Märchen hier nicht nach sozialistischer
Manier endet: Anstatt, dass das Privateigentum an den Produktionsmitteln abgeschafft wird,
wird Hansl gerade wieder zum alleinigen Besitzer – und damit an den Produktionsmittel – der
Fabrik ernannt. Folgerichtig hätte das Märchen geendet, wenn alle Arbeiter des Dorfes zu
gleichem Anteil am Besitz an den Produktionsmitteln beteiligt worden wären. Generell ist
festzuhalten, dass in diesem Märchen noch nicht zum soziologischen Denken angeleitet wird,
d. h. es werden keine Versuche unternommen, das kapitalistische System zu erklären. Wie auch
schon die beiden Texte zuvor, bewegt sich auch Die verwünschte Fabrik auf der Gefühlsebene.
Anders gestaltet sich das proletarische Märchen Zizibe mit dem Untertitel Ein Wintermärchen
für blonde und graue Kinder aus dem Jahre 1924 von Josef Pazelt, der ein glühender Verfechter
der Glöckel’schen Schulreform war und u. a. das Amt als Bezirksschulinspektor in Wr.
Neustadt (1923-1934) ausübte. (vgl. Lehrl 2007, 503) In diesem Text werden eine Menschen-,
Tier- und Märchenwelt miteinander verwoben. Die Märchenwelt weist wieder deutliche
Bezüge zum Grimm’schen Märchen auf: dieses Mal zu Jorinde und Joringel. Von besonderem
Interesse ist allerdings die Tierwelt, da diese über symbolisch-allegorischen Charakter verfügt
und zu Aufklärungszwecke über die menschliche Klassengesellschaft dient.
Im Zentrum steht hier eine Mäusefamilie, die mit den Attributen „arm“, „hungrig“ und
„ungebildet“ versehen als proletarisch stilisiert wird. Im Gegensatz dazu tritt der Hamster, der
als reich und geizig gilt und sich gegenüber der notleidenden Familie gänzlich unsolidarisch
verhält, als Bürgerlicher auf. Über ihn heißt es: „Er hat viele Vorräte und ist reich. Aber er hat
kein Herz.“ (110) In die Rolle des großen Aufklärers schlüpft der flugunfähige Rabe, Silvester
Aaser. Er klärt die existenzbedrohten Mäuse über ihre Lage auf, in welcher der Mensch der
Hauptfeind ist. Die Mäuse schenken den Worten des Raben zunächst allerdings keinen
Glauben, worauf dieser wie folgt entgegnet:
„Da hat man’s ja“, greinte der Rabe. „Das ist wieder ein Beweis der Uneinigkeit unter uns
Tieren. Wenn wir alle zusammenhielten, wir könnten den Menschen ausrotten. Aber wenn ich
so einen Ochsen ansehe, wie der Kerl sich in einen Wagen spannen lässt und den ganzen lieben
Tag zieht und zieht, nur damit der Mensch nichts zu tun hat! Oder die kleinen Vögel, die sich
in einen Käfig sperren lassen und dem Menschen sogar noch schöne Lieder vorsingen dafür,
dass er sie um ihre Freiheit gebracht hat, da muss man jede Hoffnung verlieren.“ (116)
Silvester Aaser macht die Uneinigkeit innerhalb der Tierwelt für die bedrängte Lage der Tiere
verantwortlich. Solidarität und Einigkeit nennt der Aufklärer als Schlüssel aus Unterdrückung
und Versklavung. Der Mensch schlüpft im übertragenen Sinne in die Kapitalistenrolle, der die
Tiere ausbeutet und unterjocht, er ist der „Peiniger aller Geschöpfe“ (115). Zusätzlich lassen
sich in Zizibe, typisch für die sozialdemokratische Gesinnung, eine antimilitaristische und
antimonarchistische Haltung ausmachen. So verwundert es nicht, dass die erlöste Prinzessin
schließlich den Wandel ihres einstigen Königsreiches in eine Republik sogar begrüßt: „(…)
Lieber lebe ich in der Republik frei, als in der Monarchie in einem Gurkenglas!“ (142)
Festhalten lässt sich, dass in Zizibe der Versuch zur soziologischen Schulung auszumachen ist,
indem Pazelt in symbolischer Allegorie die menschlichen Verhältnisse auf die Tierwelt
53
überträgt. So finden sich hier erste Ansätze zur Erklärung der Beschaffenheit der Gesellschaft
und darüber hinaus werden Wege zur Überwindung von Unterdrückung und Ausbeutung
aufgezeigt.
Dritte Phase: Die märchenhaft-fantastischen Reiseerzählung (1927-1931)
Trotz Überschneidungen mit der zweiten Phase, lassen sich ab 1927 markante Veränderungen
in der literarischen Verarbeitung von Themen und Motiven ausmachen. Nun tritt der Bezug
zum Grimm’schen Märchen fast gänzlich zurück. Märchenhafte Requisiten sind zwar auch hier
vorhanden, dienen jedoch v. a. der Vermittlung von gesellschaftlichen Zusammenhängen,
liegen aber den Texten nicht mehr als maßgebende Struktur zugrunde. Indes kommt dem
Reisetopos eine zentrale Bedeutung zu: Durch das Motiv der Reise wird ein
Desillusionierungsprozess über den Weg der Selbsterkenntnis in Gang gesetzt. Anstoß für die
Reise bildet eine existenziell wichtige Frage der Protagonisten, deren Beantwortung fortan
angestrebt wird. Hieraus ergibt sich eine gewisse Nähe zum Detektivroman, da jeder noch so
kleine Hinweis zur Lösung des Rätsels verfolgt wird. Am Ende der Reise steht ein anderer, ein
desillusionierter, aber auch selbstbewusster und klassenbewusster Mensch, der über die
gesellschaftlichen Wirkungszusammenhänge aufgeklärt ist und neue Ziele und
Handlungsmöglichkeiten erkennt.
Dolle-Weinkauff bezeichnet diese literarische Grundstruktur als die „märchenhaftfantastische
Reiseerzählung“ und bezieht sich hier im Speziellen auf Friedrich Felds Tirilin reist um die
Welt (1931). (vgl. Dolle-Weinkauff 1997, 102f.) Diese Bezeichnung soll auch hier Verwendung
finden. Neben Friedrich Feld gibt es allerdings auch noch andere Autoren, die den Aufbau ihrer
Erzählung ähnlich gestalten und sich dem soeben beschriebenen Schema bedienen: Zu nennen
sind hier Anton Tesarek mit seinem Kasperlstück Kasperl sucht den Weihnachtsmann (1927)
und Josef Pazelt mit dem Heimatbuch Lambert Löffelmann und Silvester Aaser (1931).
Letzteres Werk soll hier aus Platzgründen allerdings nicht näher analysiert werden.
Festzuhalten ist, dass das Schema der „märchenhaft-fantastische Reiseerzählung“ im Kontext
der proletarischen Literatur nicht neu ist, sondern bereits in Paul Vaillant-Couturiers Jean sans
pain, histoire pour tous les enfants im Jahre 1921 Anwendung findet. Diese Erzählung erscheint
1928 in deutscher Übersetzung unter dem Titel Hans-ohne-Brot. Die bekannte Schriftstellerin,
Lisa Tetzner, greift diesen Stoff 1929 für das Märchentheaterstück Hans Urian geht nach Brot
auf, dessen Inszenierung der (Drehbuch-)Autor, Filmkritiker und Regisseur, Béla Balázs,
übernimmt. 1931 erscheint schließlich der Kinderroman Hans Urian. Die Geschichte einer
Weltreise ebenfalls aus der Feder Lisa Tetzners. (vgl. Dolle-Weinkauff 1984, 30, 37, 99) Die
Kinder- und Jugendliteraturwissenschafterin, Gina Weinkauff, weist in diesem Zusammenhang
nach, dass der Theatertext Hans Urian geht nach Brot, den Tetzner und Balázs in
Zusammenarbeit zur Aufführung brachten, als Prätext für Felds Erzählung gelten muss. (vgl.
Weinkauff 2011) Auch Selma Lagerlöfs Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit
den Wildgänsen (1906/07) muss in diesem Kontext als richtungsweisend betrachtet werden.
Tetzner hält sogar fest, ihr habe ein „Grundentwurf der Reise um die Welt, bei der das Kind die
Welt sehen soll (…) in Form eines Niels Holgersonbuches [sic!]“ vorgeschwebt. (Tetzner zit.
n. Dolle-Weinkauff 1984, 180 Anmerkungen zu Kap. 4) Gina Weinkauff weist ebenso für die
Texte von Vaillant-Couturier, Tetzner und Feld auf die Nähe zu Selma Lagerlöfs Werk hin und
bezeichnet die jeweiligen Protagonisten als einen „proletarischen Nils Holgersson“. (Weinkauff
2011) Hinsichtlich des Kasperltheatertextes von Anton Tesarek ist Vaillant-Couturiers Jean
sans pain allerdings nicht als Prätext anzunehmen, da die deutsche Übersetzung erst 1928
erscheint und Kasperl sucht den Weihnachtsmann bereits 1927 publiziert wird. Selma Lagerlöfs
Werk ist dem Gründer der „Roten Falken“ jedoch hinreichend bekannt. Auch ist anzunehmen,
dass Tesarek hinsichtlich des stark ausgeprägten Reisemotivs auf die alte Tradition der
54
Kasperlreise zurückgreift, die Franz Graf von Pocci bereits im 19. Jahrhundert für seine
Kasperl- und Marionettentheater entwickelt hat. (vgl. Weinkauff 2011; dies. 1986, 216)
Bezüglich der Figur des „roten Kasperls“ erfolgt eine Verortung „in der Tradition plebejischer
Clowns früherer Jahrhunderte“. (Bundschuh 1998, 80)
An dieser Stelle ist die eingangs genannte Forschungsfrage zu überprüfen, inwiefern sich die
Vorstellung des „neuen Menschen“ in den Protagonisten von Friedrich Felds Erzählung Tirilin
reist um die Welt und Anton Tesareks Kasperltheater Kasperl sucht den Weihnachtsmann
widerspiegelt. Hierbei ist der „neue Mensch“ nach den sozialistischen Erziehungsvorstellungen
als der klar und kritisch denkende, sittlich freie und solidarisch handelnde Mensch zu
bestimmen, der sich mit der Aufgabe des Erbauers der zukünftigen klassenlosen Gesellschaft
auf gewaltfreien Wege identifiziert. Dabei gestaltet sich der Weg hin zum „neuen Menschen“
als Selbsterziehungs- und Selbsterkenntnisprozess. Wie bereits erläutert, bildet den Anstoß für
Tirilins und Kasperls Reise die unmittelbare Erfahrung von Leid, Hunger und Armut in der
werktätigen Bevölkerung. So beschließt Kasperl:
Und ich werd ihn [= den Weihnachtsmann] suchen (…) und sage [zu ihm]: Herr
Weihnachtsmann, schauen Sie. Da ist ein Bauer und eine Bäuerin. Die zwei haben das ganze
Jahr fleißig gearbeitet. Sie haben gearbeitet, gearbeitet, nix wie gearbeitet. Und jetzt geht es
ihnen so schlecht. Der reiche Herr Gutsbesitzer, der hat nix gearbeitet und wieder nix gearbeitet
und ein drittes Mal nix gearbeitet und dem geht es gut, der hat ein Weihnachtsbaum. Aus diesem
Grunde fordere ich Sie auf, mache ich Sie aufmerksam, stelle ich an Sie das Ersuchen, habe ich
an Sie die Bitte und sage Ihnen: „Wenn Sie ein anständiger Weihnachtsmann sind, dann rennen
Sie, so viel Sie können und bringen denen zwei braven Leuten einen Baum“… (AT, 8)
Ähnlich gestaltet sich die Situation für Tirilin:
„Vater, muss man im Märchenland auch alles bezahlen? Oder bekommt man dort Kleider
und Essen ohne Geld?“ Der Vater lacht.
„Im Märchenland bezahlt man nichts. Dort gehören alle Dinge allen Menschen.“
„Warum wandern dann die armen Leute nicht ins Märchenland?“
„Weil sie den Weg nicht wissen, Tirilin.“
„Ich werde ihn finden“, sagte Tirilin. „Und ich werde ihn allen armen Leuten zeigen.“ (FF,
17-18)
Bereits zu eingangs deutet sich in der Charakterstruktur der Protagonisten ihre Fähigkeit zum
klaren Denken an, da sie die ungerechte Verteilung der Güter wahrnehmen und hinterfragen.
Dieser Charakterzug wird in Folge zum Motor in der Erforschung der gesellschaftlichen
Wirkungszusammenhänge und steigert sich bis hin zum kritischen Denken. Dabei spielt die
Methode des Fragen-Stellens, die für die sozialistische Erziehung weiter oben als zentral
dargestellt wurde, eine entscheidende Rolle. Das kindliche Wahrnehmen und Erfahren bildet in
diesem Zusammenhang immer den Ausgangspunkt. Das Erfragen, Hinterfragen und InFrageStellen von gesellschaftlich akzeptierten Verhältnissen bilden auch in Felds und Tesareks
Texten einen festen Bestandteil in der Erzählstruktur. So stellt der rote Kasperl u. a. keck und
frech die Daseinsberechtigung eines Königs in Frage, worin sich ein weiteres Mal die
antimonarchistische Haltung der SDAPÖ ausdrückt:
Also, Sie Herr König, ich möcht mich einmal vorstellen. Für Sie bin ich der Herr Kasperl. Sie,
ich bin ein ehrlicher Arbeiter. Hab mich das ganze Jahr fleißig geplagt. Was haben denn
eigentlich Sie gemacht? Sie, Sie, Sie. Glauben Sie denn wirklich, dass König auch ein Geschäft
ist? (AT, 14)
55
Kämpferisch muten dagegen bereits Tirilins Fragen an, als er während der Überfahrt auf einem
herrlichen Schiff nach Amerika erkennen muss, dass es auch auf der Yacht ein „Unten“ und
„Oben“ gibt. Die folgenden Fragen wirft der Holzfällerbub dem Inhaber des Schiffes, einem
reichen Industriellen, an den Kopf:
„Ist es denn in Ordnung, dass die einen arbeiten und schwitzen und zusammenbrechen,
während die anderen nichts tun und in der frischen Luft spazieren gehen? Ist es in der Ordnung,
dass die einen sich in der heißen Küche plagen und die anderen, die nichts gearbeitet haben, die
besten Speisen aufessen?“ (FF, 64)
Sittlich freies und solidarisches Handeln gehen dagegen oftmals miteinander konform: Indem
sich der rote Kasperl und Tirilin mit den arbeitenden Menschen solidarisch erklären und sich
ohne äußeren Zwang für sie einsetzen, handeln sie gleichzeitig sittlich frei. Dies ist
beispielsweise bei einer Begegnung Tirilins mit einem reichen Bauern und seinem Knecht
ersichtlich:
Tirilin aber drehte sich um und sah den Knecht müde durch den Staub der steinigen Straße
stolpern.
„Warum darf dein Knecht nicht reiten?“ fragte er den Bauer.
„Er ist ein Knecht“, sagte der Bauer. „Er soll sehen, dass ein Unterschied ist zwischen mir
und ihm. Mir gehört das Land, auf dem er arbeitet, er hat nichts, und wenn ich ihn heute
wegschicke, muss er hungern. Er ist nicht meinesgleichen. Die Esel gehören mir. Der
Knecht hat seine Füße. Für ihn füttere ich meine Esel nicht.“
„Es ist aber gar nicht schön von dir“, sagte Tirilin, „dass du deinen Knecht zu Fuß laufen
lässt. Er soll auf meinem Esel reiten und ich gehe wieder ein Stück zu Fuß. Dein Knecht
wird müde sein.“ (FF, 33-34)
Ähnliche Handlungsabläufe finden sich in Tirilin reist um die Welt auch an anderen Stellen. So
tauscht der Protagonist mit dem armen Balljungen für einige Stunden die Rollen und setzt sich
für Omar, dem betrogenen Kupferschmied, – ungeachtet dessen, dass er sein eigenes Leben
damit aufs Spiel setzt – ein. Auch bei Li-Hung, dem ausgezehrten Chinesenjungen, zögert
Tirilin keine Sekunde, ihm zu Hilfe zu eilen.
Im Laufe seiner Reise erfährt Tirilin, wie die Armut der Vielen und der Reichtum der Wenigen
mit dem Privateigentum an den Produktionsmitteln zusammenhängt, wie das kapitalistische
Handel mit Waffen zum Anlass von Kriegen werden kann und wie menschliche Laster (Geiz,
Gier, Egoismus, Machtstreben) zur Bürde der werktätigen Menschen werden. Letztlich kehrt
Tirilin geläutert, aber seine Handlungsoptionen klar sehend in sein Dorf zurück, wie aus der
Unterhaltung mit Purzelmann, dem Briefträger, hervorgeht:
„Ich will ein Holzfäller sein wie mein Vater. Aber ich will die anderen Holzfäller lehren,
Bäume zu schlagen und Bretter zu schneiden für Häuser, die allen Menschen gehören. Sie
werden mich verstehen, denn sie sind arm wie ich. Und wenn wir so viel Holz beisammen
haben, dass wir eine ganze Stadt daraus bauen können und viele Städte, ein ganzes Land, dann
wollen wir an die Arbeit gehen.
In diesem Land wird niemand hungern und niemand vor Not sterben. Die anderen Menschen
werden von uns lernen und es machen wie wir. Dann endet auf der ganzen Erde das Elend und
die Verzweiflung. Dann ist überall das Märchenland, das jetzt nirgends ist.“
„Du willst also das Märchenland erst erschaffen?“ fragte Purzelmann und schüttelte den Kopf.
„Ja, Purzelmann“, sagte Tirilin und umspannte mit der Hand fest den Schaft seiner Axt. „Das
weiß ich jetzt: wir müssen uns das Märchenland erst erschaffen.“ (FF, 139)
56
Hervorzuheben ist, dass das „Märchenland“, d. h. die klassenlose Gesellschaft, nicht durch
Klassenkampf und Revolution erzwungen, sondern durch genossenschaftliche Arbeit, Vernunft
und Vorbildwirkung, ganz im Sinne der österreichischen Sozialdemokratie der
Zwischenkriegszeit, errichtet werden soll.
In Kasperl sucht den Weihnachtsmann hingegen werden soziologische Erkenntnisse über das
Funktionieren der kapitalistischen Gesellschaft kaum oder nur oberflächlich vermittelt.
Trotzdem muss der rote Kasperl erkennen, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt und dass die
arbeitende Bevölkerung nur in der internationalen Klassensolidarität wechselseitige
Versicherung und gegenseitige Hilfeleistung finden kann. Dies erklärt der rote Kasperl
ernüchtert den Pächtern folgendermaßen:
Nix, nix, Weihnachtsmann. Setzt euch einmal her und lasst euch erzählen. Den
Weihnachtsmann, den hab ich net gefunden. (…) Da hab ich mir gedacht, jetzt werd ich selber
Weihnachtsmann sein. Und wo ich dann hingekommen bin, zu unseren Genossen – alle haben
mir geholfen. Die Holzknechte haben mir den Baum gegeben. Die Leute in der Kerzenfabrik
die Kerzeln, die Bäcker und Zuckerbäcker die Wuchteln und Strudeln, die chinesischen
Genossen haben gar einen Tee geschickt. Die Weber haben das Kopftüchel hergegeben und so
können wir jetzt fein Weihnachten feiern. Ja, ja, die Leut, die Freundschaft sagen, die halten
auch gut zusammen. (AT, 27)
Resümee
Innerhalb dieser Auseinandersetzung konnte aufgezeigt werden, dass auch die sozialistischen
Erziehungsvorstellungen der Ersten Republik, obgleich ihres geringen Wirkungszeitraumes
von ca. 1920 bis 1934, ihren literarischen Ausdruck in Kinder- und Bilderbüchern,
Jugenderzählungen und Theatertexten fanden. Dabei zeichnet sich eine Entwicklung ab, die
sich
zuerst
thematisch
an
den
lebensreformatorischen
Bestrebungen
der
Kinderfreundebewegung orientiert und sich dann zusehends an der Frage nach der
entsprechenden Form hinsichtlich der Vermittlung sozialistischer Erziehungsinhalte misst.
Dabei steht zunächst das proletarische Märchen zur Diskussion und gegen Ende der
20er/Anfang der 30er Jahre die märchenhaft-fantastische Reiseerzählung. Das Bild des „neuen
Menschen“ konnte schließlich nur innerhalb der märchenhaft-fantastischen Reiseerzählung
ausgemacht werden. Sowohl in Tirilin in Tirilin reist um die Welt als auch im roten Kasperl in
Kasperl sucht den Weihnachtsmann spiegeln sich die Fähigkeiten zum klaren und kritischen
Denken und zum sittlich freien und solidarischem Handeln wider. Letztlich erkennt sich aber
nur Tirilin auch als Erbauer der klassenlosen Gesellschaft, weshalb strenggenommen einzig
dieser als „neuer Mensch“ nach den sozialistischen Vorstellungen bezeichnet werden kann.
8. Ludwig Breuer – Stille Rebellion. Das Medium Comic
8.1 Form
Zeichen
Zum Beispiel die ausgestreckte Hand mit den ausgestreckten drei Fingern bei „The Hunger
Games. Catching Fire“ bzw. bei den Thai-Protesten.
Ziele und Wege

Comic als Medium
o Semiose von Inhalt
o Form getrennt von Inhalt betrachten
o Comic als konventionalisiertes Zeichensystem
o Eigene Art „Geschichten“ zu erzählen (Inhalte zu vermitteln)
57
o
o
o
o
Semiotische Herangehensweise
In Abgrenzung zu anderen Medien zu betrachten
Zeichnhaftigkeit „intern“ und „extern“ betrachten
Spezifische Rezeptionserfordernisse
o Sprachliche Zeichen
o Strukturalistische Semiotik
o Beziehung zur Realität
o Referenz über Gedanken
o Konventionalität
o Comic  kein Lautereignis
„Selbst im entferntesten Winkel seines Bilderuniversums bietet der comic immer auch einen
Appell an die menschliche Imagination und Fantasie“
 Comic und Jugend
o Handlungs- und Symbolsystem
Abgrenzung
Sequenzielle Kunst
Begriff Comic nach McCloud (2001)
„Zu räumlichen Sequenzen angeordnete, bildliche oder andere Zeichen, die Informationen
vermitteln und/oder eine ästhetische Wirkung beim Betrachter erzeugen sollen.“




Sequenzierung (<-> Einzelbild)
Räumliche Sequenzierung (<-> Film)
Bildliche Zeichen (<-> Texte / Bücher)
Intentionale sequenzielle Informationsvermittlung (<-> Bildergalerie)
Probleme





„andere Zeichen“
Nicht alle Zeichen „bildlich“ (ikonisch)
Auch konventionalisierte Zeichen (symbolisch)
Unterschiedliche Abstraktionsgrade
Konventionalisierte „Comic“-Symbole
58
Zeichensystematisches Medium
„Danach sind Medien als Zeichensysteme zu verstehen, die Geistiges vermitteln. Die
Zeichenhaftigkeit macht Medien zu Medien. Zeichensysteme sind demnach Medien,
ungeachtet ihrer technischen Realisierung.“



Comic als hybrides medium: Bild & andere Zeichen
Zeichen operieren auf unterschiedlichen Ebenen miteinander:
o Mehrere Panels  Sequenzen
o In Panels  Verbindung verschiedener Zeichen
o Panelrahmen  Verbindung zu Objekten im Panel
o Kombination von Schrift- & Bildebene
Zeichensystematisches medium vs. Technische Realisierung
Definition
„Der comic ist ein zeichensystematisches Medium, das Informationen und ästhetische Wirkung
vermittelt. Die Vermittlung geschieht durch in räumliche Sequenzen angeordnete bildliche
und/oder andere Zeichen, die in einer (hybriden) Verbindung zueinander stehen.
Typischerweise findet eine solche Verbindung zwischen bildlichen und schriftlichen Zeichen
statt. Dem Medium steht ein typisches Forminventar zu Verfügung (Panels, Gutter,
Sprechblasen etc.) welches zur Verbindung der Zeichen eingesetzt werden kann, aber nicht
muss.“ (Breuer 2010)
Prototypische Defintion




Sequenzielle Informationsvermittlung
(hybride) Verbindung von Einzelzeichen
Oft Bild und Text
Typisches Forminventar
Strukturalistische Semiotik
Beziehung Zeichen zur Realität



Ikon: Ähnlichkeitsrelation zB Bilder, Fotos, Piktogramme
Symbol: konventionalisierte Relation zB Wörter, Schriftzüge, Signale
Index/Symptom: kausale Relation zB Rauch, Dialekt, Kleidung
Abstraktionsgrade des Comics
„Sprache des Comics“
Steigender Abstraktionsgrad

Auf Darstellungsebene
o Konventionalisierung
59

o Steigende Symbolhaftigkeit
o Sinkende Ikonizität
Auf bildebene
o Kausalität des Zeichens
o Steigende Indexikalität
o Sinkende Ikonizität
Grundannahmen zum Zeichensystem Comic







Jedes Zeichen ist optisch
Jedes Zeichen ist intentional
Jedes Zeichen kann gleichzeitig alle drei Beziehungstypen realisieren
Comics „lesen“ ist eine Kommunikationssituation
Comics simulieren Kommunikationsereignisse
Der Comic ist ein „hybrides“ Medium
Das Medium hat ein konventionalisiertes Forminventar
Raum & Rezeption





„Grammatik“ des Comics
Sequenzielle Raumordnung vermittelt bestimmte Information
Immer gleichzeitige Rezeption
Selbst indexikalisches Zeichen
Rezipierende ergänzen, was im „leeren Raum“ (Gutter) passiert
60





Verweis der Panels aufeinander
zB Vorzeitigkeit  Nachzeitigkeit
unterschiedliche „Übergänge“
gleichzeitig mehrere Übergänge
minimalster Zusammenhang: Zeichen stehen nebeneinander
Übergänge zwischen Panels
1.
2.
3.
4.
5.
6.
von Augenblick zu Augenblick
von Handlung zu Handlung
von Gegenstand zu Gegenstand
von Szene zu Szene
von Gesichtspunkt zu Gesichtspunkt
Paralogie – Panels haben im ersten Betrachten keinen Zusammenhang
Abstraktion & Induktion
„Bestimmte Zeichen tauchen in spezifischen Zusammenhängen auf, werden in diesen
verwendet und stehen als isolierte Zeichen für diese gesamten Zusammenhänge, mit denen sie
assoziiert werden.“
Semiose (vereinfacht)


Zeichenprozess (Zuschreibung von Bedeutung)
Abhängig von Zeichen, Bezugsobjekt, Interpretierenden
Induktion


Aus verschiedenen Einzelteilen (Zeichen) einen Gedankten erkennen
Entspricht indexikalischer Funktion von Zeichen
„Diese Kombination und Assoziation sind auf kulturelles Vorwissen angewiesen. Der Leser
[sic!] muss die Zeichen lesen und begreifen können, um die Aussage der Geschite zu
verstehen.“
Wichtige kulturelle Aspekte





Leserichtung (vgl. Mangas)
Medienerfahrung (zB aus Film: Zoom)
Wissen über Handlungsabläufe
Wissen über lebensweltliche Realität
Wissen über soziale Konventionen
Grenzen






Panels sind Bedeutungsausschnitte
Schritte der Narration
Reduktion auf „wichtige“ Aspekte (Abstraktion)
Können einen Rahmen haben
Können verschiedene Zeichen enthalten
Alles kann Panelbegrenzung sein (auch Seite selbst)
Raum & Zeit



Sequenzierung indiziert Verläufe
Häufig: räumliche = zeitliche Veränderung
Zeitliche Veränderung auch innerhalb eines Panels
Panelstruktur  Ortswechsel
61




Durch Schrift zB „NOW“
Durch Szenenwechsel
Durch Ortsangabe (Text)
Leserichtung: oben  unten
Panelintern



Durch Sprechblasen
Durch Bewegungsdarstellung
Leserichtung: links  rechts
Bild & Text





Unterschiedliche Textverweise
Verweise Panelintern & -extern
Text als Symbol (beschreibend)
Text aber auch ikonisch (zeigend)
Verweise zur Außenwelt (auditiv)

Soundword (ikonisch)
o Verweist auf Geräusch
Schriftart (indexikalisch)
o Verweist auf Lautstärke/Klang
Sprechblase (ikonisch)
o Verweist auf Sprecher
o Verweist auf Verlauf
o Verweist auf Lautstärke/Klang
Text (symbolisch)
o Gibt Inhalte wieder
o Verweist auf Textsorte
Schriftart (indexikalisch)
o Verweist auf Erzählebene




Forminventar


Typisches Forminventar
o Zeichenstil
o Panels
o Verbindung Bild & Text
o Sprechblasen
o Speedlines
o Soundwords
Indexikalische Nutzung des Forminventar als Verweis auf Comic
8.2 Inhalt
Handlungssystem
„Als ich klein war, wusste ich ganz genau, was Comics sind. Comics waren diese knallbunten
hefte mit schlechten Zeichnungen, blöden Geschichten und Typen in Strumpfhosen. Ich las
natürlich richtige Bücher. Ich war längst zu alt für Comics.“
Konventionalisierung


„bunte Bilder“
Nicht für Leser_innen
62





Superhelden-Klischee
Gewalt verherrlichend
Als „nicht erwachsen“ markiert
Als „Jugendkultur“ markiert
Comics vs. Graphic Novel
Altersausrichtung ist abhängig von



Komplexität der Form
Komplexität der Handlung
Prinzipieller Thematik
Beginn: Comics für Erwachsene





Anfänge des modernen Comics im späten 19 Jhd.
Erste comic-Strips in Zeitungen aus New York
Bedürfnis des allgemeinen Verstehens einer Geschichte
Zielgruppe: Erwachsene aus verschiedenen Kulturkreisen
Standardisierungs- / Konventionalisierungsprozess
„Im ethnischen Gemisch Greater Ne Yorks, in dem siebzig Sprachen geläufig waren, wurde der
gezeichnete Witz der neuartigen Bilderzählung von jedermann [sic!] verstanden und erzeugte
das Gefühl einer gemeinsamen Identität: Iren, Deutsche, Italiener und Russen konnten nun über
die gleichen Kalauer lachen.“
Rebellion: Jugendkultur






Ab 1933 Loslösung von Zeitung: Nachrucke und Reihen
Comicreihen vorwiegend von Jugendlichen verfasst
Erstes eigenständiges Comic-Heft:
 1939 Siegels / Shusters: Superman (Kriegszeit!)
Anschließend Superheld(innen)flut
Nach dem Krieg: Rückbesinnung auf „erwachsene“ Themen
„Jugendgefährdung“ angenommen
Schaffung des Comic Code (Normierung der Darstellung für (Kinder und)
Jugendliche)
„Das Comic-Heft wurde zu einer Jugendkultur, die von Heranwachsenden für Heranwachsende
geformt wurde.“
Comic als „Jugendkultur“:









Anfänge eigentlich als „erwachsenes“ Medium
Starke Assoziation mit „Jugend“  Produktion / Rezeption
Konventionalisierung als „jugendliches“ Medium
Comic Code = Normierung zum jugendgerechten Medium
Vermarktung und Rezeption greift das bis heute auf
Begriff „Jugend“ allerdings weiter
Heutzutage Produktion von und für alle Altersgruppen
Begriff „Graphic Novel“ zeigt:
o Starke Verbindung von „Jugend“ und „Comic“
o „erwachsene“ Themen und Formen allerdings häufig
Komplexität der Form, inhaltliche Themen entscheidend
Symbolsystem: Darstellung
63



Ist ein Comic eher für Kinder, Jugendliche, Erwachsene?
Ergibt sich aus Darstellungskomplexität
Beeinflusst durch
o Komplexität des Verweissystems (Panelübergänge)
o Grad der Abstraktion (Grad der Indexikalität / Ikonizität)
o Stil der Darstellung
Symbolsystem: Themen












Ebenso inhaltlicher Aspekt entscheidend
Themen(gebiete), dir für Jugendliche „relevant“ sind
Themen(gebiete), die „Jugendkulturen“ ansprechen
Kulturcharakter von Figuren ( Superhelden) (siehe Lexe VO)
Multimedialität ( Comic ist multimedial) (siehe Lexe VO)
Biografische neu-Erprobungen und –Erfindungen (siehe Lexe VO)
Pop-Kultur (siehe Lexe VO)
Pubertät, Adoleszenz, jug. Alltagswelt als Thema (siehe Lexe VO)
Normopathie (Großegger VO)
Suche nach Abgrenzung zu Altersgleichen (Großegger VO)
Symbole als Mittel der Identitätsartikulation (Großegger VO)
„Maske“ als wahre Seite der Menschen (Großegger VO)
Kultcharaktere: Alice
Pubertät, Adoleszenz, Alltagswelt: Vakuum
Comic von Jüliger 2012
Normopathie, Masken, biografisches Neuerfinden, Generationenkonflikt: Maus, Infinite
Crisis
Pupertät, Adoleszenz, Suche nach Abgrenzung, Popkultur: Persepolis
Resüme:







Comic ist als Medium identifizierbar
Komplexes Zeichensystem
o Ikonische Zeichen
o Symbolische Zeichen
o Indexikalische Zeichen
Comic als hybrides Medium
Spezifisches Forminventar stark konventionalisiert  Zitierbarkeit
Im soziosemiotischen Prozess selbst als Zeichen für „Jugendkultur“
Dadurch auch als an „Jugendliche“ gerichtet assoziiert, bedingt durch:
o Historische Faktoren
o Handlungssystem
o Spezifische Symbolsystem-Aspekte
„Stille Rebellion“
o Hybridität = Multimedialität (Zeitgeist)
o Unklare Grenzverläufe  fordert zur Überschreitung von Grenzen auf
o Hohe Zeichenhaftigkeit deckt Zeichensysteme auf, hinterfragt sie
9. Sonja Loidl – „If the author is dead, who´s updating her website?”
Kommunikationsprozesse zwischen Autor_innen und Leser_innen
64
„Die Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autors.“ 20
So lautet das Resümee von Roland Barthes Aufsatz Der Tod des Autors.
Ich möchte diesem radikalen Statement im heutigen Vortrag mit einer Frage begegnen:
“If the Author is Dead, who’s updating her Website?“
Dieses Zitat ist vom Titel eines Aufsatzes von Angua auf der Essay-Plattform der Harry PotterFansite The Leaky Cauldron entlehnt.21
FOLIE 2
Wenn wir hinunterscrollen sehen wir eine ausführliche Bibliographie, in der als vierter Punkt
Barthes Aufsatz aufscheint. D.h. zu der Fanaktivität des Schreibens von Fanfiction, von der wir
in der Einheit von Sébastien François gehört haben, kann man, neben vielen anderem, auch das
Schreiben von literaturwissenschaftlichen Aufsätzen hinzufügen. Der Aufsatz beschäftigt sich
mit der Kommunikation von J.K. Rowling mit Fans und kategorisiert dabei öffentliche
Stellungnahmen der Autorin wie folgt:



praktische Motive zu Werbezwecken
Wunsch der Autorin ihrem Lesepublikum Freude zu bereiten
Wunsch zu beeinflussen, wie sie als Person und ihre Texte aufgenommen werden
Punkt 1 verweist auf das Handlungssystem Kinder- und Jugendliteratur, auf die Praxis von
Textvermarktung und- vermittlung. Punkt 2 und 3 zielen auf den Kommunikationsprozess ab.
Punkt 2 stellt dabei die These auf, dass im Autorschaftskonzept der Wunsch zu unterhalten
enthalten ist: Der Wunsch eine Botschaft zu senden, die beim Empfänger positive Gefühle
hervorruft. Punkt 3 schließt die Fragen danach ein, wer die Kommunikation lenkt und wessen
Aussagen über einen literarischen Text bindend sind.
Wir greifen in diesem Zusammenhang auf ein Kommunikationsmodell Umberto Ecos zum
Dekodierungsprozess einer poetischen Botschaft zurück:
20 Roland Barthes: Der Tod des Autors. In: Jannidis, Fotis, Gerhard Lauer u.a. (Hg.): Texte zur Theorie der
Autorschaft. Reclam: Stuttgart 2000, S. 193.
21 Angua: If the Author is Dead, who’s updating her Website?“. J.K. Rowling and the Battle for the Books.
http://www.the-leaky-cauldron.org/features/essays/issue9/authordead/ (1.12.2014).
65
Dieses umfangreiche Modell bezieht z.B. diverse Codes und Subcodes mit ein, auf die Sender
und Empfänger zurückgreifen. Termini wie Signal (= hier: graphische Symbole) oder Kanal (=
hier: Sehsinn) sind dadurch mitbestimmt, dass Eco sein Modell von einem
Kommunikationsprozess zwischen Maschinen ableitet. Wir beziehen uns hier konkret auf einen
Bruchteil des Modells, und zwar auf den kleinen Pfeil rechts außen: „Interpretierte Botschaft
als Signifikat als System von gewählten Signifikaten (das seinerseits Quelle für andere
Empfänger werden kann).“ Damit stellt Eco einen Kommunikationsprozess als offenen Prozess
dar, der als Endlosschleife funktionieren kann.
Was in diesem Modell fehlt, ist der Bezug zum literarischen Markt und seinen Bedingungen,
der im Punkt 1 nach Angua angelegt ist und auf den wir noch zurückkommen.
AUTORSCHAFT
FOLIE 4
Auf der linken Seite des Modells sehen Sie den Bereich des Senders, der im
literaturwissenschaftlichen Kontext überwiegend mit der Rolle von Autor_innen gleichgesetzt
wird. In literaturtheoretischen Auseinandersetzungen können Sie zum Konzept Autorschaft
zwei Pole ausmachen: Zum einen „Autorschaft als Werkherrschaft“ und zum anderen den „Tod
des Autors“.
Autorschaft als Werkherrschaft steht in Zusammenhang mit dem Urheberrechtsgedanken.
Dieses Recht hat sich im deutschsprachigen Raum im 18. Jahrhundert entwickelt. Ursprünglich
war die begünstigte Person der Verleger und es gab sehr unterschiedliche Fristen, von 14 über
30 bis zu den heute geregelten 70 Jahren. Das Urheberrecht hat einen vermögensrechtlichen
und einen personenrechtlichen Aspekt. Auf der einen Seite geht es darum, dafür zu sorgen, dass
Verfasser_innen ihre Arbeit fortgesetzt entgolten wird und dass kein anderer Anspruch erheben
kann. Auf der anderen Seite geht es darum, dass Kunst – und das gilt nicht nur für Literatur –
als Ausdruck der Individualität ihrer Schöpfer_innen betrachtet werden kann. Das führt uns
weiter zum Genie-Gendanken und zur Vorstellung vom Original.
Die Genieästhetik bezieht sich, verknappt ausgedrückt, darauf, dass ein einzigartiges,
originales Werk aus der Schöpferkraft eines Künstlers oder einer Künstlerin entsteht, der/die
damit auch Kontrolle, also Autorität, über das Erschaffene hat. Dieses Verständnis prägt
spätestens seit der Weimarer Klassik und der deutschen Romantik Autorschaftskonzepte
dominant mit und hat sich im Bereich der Rechtsprechung nachhaltig etabliert: „Nirgends ist
daher die Genie-Periode so nachhaltig rezipiert und aufbewahrt worden wie in der
Jurisprudenz.“
Man kann die These aufstellen, dass die Popliteratur, wie Heidi Lexe sie in unserer ersten
Einheit anhand von Alexa Henning von Lange und Benjamin von Stuckrad-Barre vorgestellt
hat, eine Transponierung eines Aspekts der Genieästhetik darstellt. Dieser Strömung
zugerechnete Künstler_innen inszenieren zwar nicht ihr Genie, sehr wohl aber sich selbst und
ihr Schreiben als authentische „Originale“.
FOLIE 5
Als ein Beispiel für erzählerische Umsetzung einer Diskussion um Werkherrschaft möchte ich
Ihnen eine Sequenz aus dem Hörbuch zu Andreas Steinhöfels Der mechanische Prinz
vorspielen. Dieser Auszug besteht aus dem Prolog der Erzählung, wo in einer Rahmenhandlung
der fiktionale Autors der Erzählung und Max, der „Eigentümer“ der Geschichte, die Weitergabe
eben jener thematisieren. Die Frage, wem die Geschichte gehört, wird anhand des Namens
verhandelt, den der Protagonist der Binnenhandlung tragen soll. Als „Sieger“ geht Max hervor,
was sich einerseits darin spiegelt, dass die Hauptfigur – gegen die Einwände des fiktionalen
Autors – Max heißen wird („Hey, ich heiße aber nun mal so!“) und andererseits an den
66
angedeuteten Besitzverhältnissen („Aber was hältst du davon, wenn ich die Geschichte einem
anderen Schriftsteller schenke?“). 22 Die Tatsache, dass Andreas Steinhöfel selbst das Hörbuch
spricht und damit die Interpretationsleistung des Sprechers bei der Adaption seines Textes
erbringt, ist hier insofern interessant, als er damit den Kommunikationsprozess einer stärkeren
Steuerung durch die Seite des Produzenten unterwirft, als das der Fall wäre, wenn ein anderer
Sprecher oder eine Sprecherin eingesetzt würde.
Wenn Literatur im juristischen Kontext von Urheberschaft diskutiert wird, wird u.a. im
Zusammenhang mit kollektiver Autorschaft oder im Umgang mit literarischen Verfahren, wie
postmodernem Spiel mit Versatzstücken, klar, dass Rechtsprechung und Kunst mit anderen
Parametern arbeiten. Von literaturtheoretischer Seite wird die Eigentumsbeziehung, die im
Autorschaftsbegriff inhärent ist, u.a. von Michel Foucault als eines von vier Merkmalen
herausgestellt. In seinem Aufsatz Was ist ein Autor? hält er noch drei andere fest: (2) Der
Autorschaftsdiskurs ist historisch nicht durchgehend und nicht in allen Disziplinen (z.B. in den
Naturwissenschaften) gleich relevant. (3) Autorschaft ist immer eine Projektionsfläche für
Arten, mit Text umzugehen. Und letztendlich steht die (4) Autorfunktion für eine Aufsplittung
des Sprecher-Ichs: Das „Ich“ ist weder eindeutig dem Autor, noch der Figur zuzuordnen.
Foucault leitet seine Untersuchung ein mit „Wen kümmerts wer spricht?“ und gibt damit bereits
seine Position preis.
Sicher eine der radikalsten Absagen an Autorschaft als Werkherrschaft stammt aber von Roland
Barthes. Diese hat sich in seinem Aufsatz Der Tod des Autors niedergeschlagen, welcher aus
dem Jahr 1968 stammt und im Licht der literaturanalytischen Methode „explication du texte“
zu sehen ist: Dieser, zur Zeit der Veröffentlichung dominante, Methode, Texte unter
Berücksichtigung der Biographie der Produzierenden zu analysieren, wurde von ihm mit einem
leidenschaftlichen Plädoyer für die Verabschiedung von Autor- oder Autorinnenbezug aus der
Interpretation, begegnet.
Barthes bezieht sich, wie Foucault, auf den Erzähler als Vermittler, vergleichbar u.a. mit
mittelalterlichen Erzähltraditionen. Er stellt heraus, dass „nicht ‚ich’, sondern nur die Sprache
‚handelt’.“ Er spricht vom Textmonteur, der „Gewebe von Zitaten“ erstellt und dessen „einzige
Macht [darin besteht] die Schriften zu vermischen“, der sich also durch einen Zufallsgenerator
vertreten lassen könnte. Autorschaft ist für Barthes eine Leerstelle.
In einer Auseinandersetzung mit Kommunikationsprozessen zwischen textproduzierenden und
textrezipierenden Personen ist es allerdings schwer möglich von der Irrelevanz von
Autor_innen zu sprechen. Wir fragen vielmehr nach dem Potenzial der Barthschen Leerstelle
und nach der Geburt des Lesers23.
LESEPUBLIKUM
Dementsprechend ist es an dieser Stelle nur passend, auf rezeptionsästhetische Zugangsweisen
zurückzugreifen.
FOLIE 6
Roman Ingarden stellt in Konkretisation und Rekonstruktion fest: „Das literarische Kunstwerk
[…] ist seinen Konkretisationen gegenüberzustellen, welche bei den einzelnen Lesungen des
Werkes […] entstehen.“ Er spricht von „Unbestimmtheitsstellen“, die bei jeder Konkretisation
anders aufgefüllt werden könnten.
22 Andreas Steinhöfel: Der mechanische Prinz. Hamburg: Carlsen 2004, S. 8.
23 Wo es sich um einen geprägten Terminus bzw. eine Wendung handelt, wird auf die Nennung beider
Geschlechter verzichtet.
67
Der Begriff der Unbestimmtheitsstellen wird von Wolfgang Iser durch den der „Leerstelle“
ersetzt. Er hält fest, dass „Bedeutungen literarischer Texte […] überhaupt erst im Lesevorgang
generiert [werden].“ Darüber hinaus sagt er, dass das Lesepublikum in Textstrukturen als
„implizite Leser“ im literarischen Kommunikationsprozess „mitgedacht“ ist. Texte sind also
als Kommunikationsangebote zu verstehen, die sozusagen erst durch die rechte Seite im
Kommunikationsmodell, die der Empfänger_innen, endgültig realisiert werden.
Textinterpretation eröffnet einen Kommunikationsraum. Aber auch jenseits des Konstrukts des
impliziten Lesers hat Kommunikation zwischen empirischen Autor_innen und Leser_innen
Einfluss auf die Entstehung, die Gestalt und verschiedene Veränderungen eines Textes oder
Textkorpus.
KOMMUNIKATION
FOLIE 7
Umberto Eco (dessen Kommunikationsmodell aus den 1960er Jahren wir uns kurz angesehen
haben) spricht in Das offene Kunstwerk, vom Interpretationsprozess als nie abgeschlossenen
Vorgang. Diesen Zugang schränkt er, fast 30 Jahre später, also als er bereits selbst mehrfach
erzählende Texte veröffentlicht hat, in Die Grenzen der Interpretation dahingehend ein, dass
der Text bzw. die Textintention während der Lektüre entsteht, nicht an die Intention des
empirischen Autors gebunden ist und durch Ökonomie, also durch die am meisten
einleuchtende Interpretation, sinnvoll eingrenzbar ist. Im Essay Zwischen Autor und Text, der
etwa zeitgleich zu Die Grenzen der Interpretation entsteht, heißt es auch:
„Wenn sich ein Text […] selbstständig macht, wenn er also nicht einen, sondern viele Leser
erreichen soll, weiß der Autor, dass die Interpretation weniger seine persönlichen Absichten als
vielmehr eine komplexe Interpretationsstrategie betreffen wird, die auch den Leser mit seiner
Sprachkompetenz, einem sozialen Schatz, einbezieht.“
Vermutlich aus seiner Position als Autor heraus, lässt Eco sich aber auch ein Hintertürchen
offen: „Manchmal kann es jedoch interessant sein, auf die Absichten des empirischen Autors
zurückzugreifen, etwa wenn der Autor noch lebt und die Kritiker seinen Text gedeutet haben.“
Er schränkt aber ein: „Allerdings darf seine Antwort kein Urteil über die Interpretationen seines
Textes rechtfertigen. […] Schließlich kann der Autor zugleich auch Literaturwissenschaftler
sein.“
Text als Medium muss keineswegs auf Text beschränkt sein, der in einer bestimmten Ausgabe
belegt und somit als Quelle gesichert ist.
FOLIE 8
Dem trägt Foucault Rechnung, wenn er in „Was ist ein Autor?“ den Begriff „Werk“ kritisiert:
Er fragt, „ob Werk nicht das [ist], was der geschrieben hat, der Autor ist? […] Aber wenn man
in einem Notizbuch voller Aphorismen einen Bezug, einen Hinweis auf ein Rendevous oder
eine Adresse oder eine Wäschereirechnung findet: Werk oder nicht Werk?“ Auch wenn eine
Wäschereirechnung sicherlich kaum zum Werk gezählt werden sollte, ist es wichtig im
Gedächtnis zu behalten, dass „Werk“ eine variable Größe ist, die sich auch nach dem
biologischen Tod empirischer Autor_innen verändern kann. Das kann beispielsweise durch
Nachlassaufarbeitung oder posthum Publiziertes geschehen, wie bei Wolfgang Herrndorfs
Bilder deiner große Liebe, von dem in Heidi Lexes Einführung die Rede war.
Hier soll allerdings auf Publikationen zu Lebzeiten von Autor_innen eingegangen und dafür
auf einen weiteren Theoretiker zurückgegriffen werden: Auf Gérard Genette und sein Schema
der Transtextualität.
FOLIE 9
68
Transtextualität beinhaltet „alles, was [Text] in eine geheime oder manifeste Beziehung zu
anderen Texten bringt“. Unter diesem Überbegriff fasst Genette Metatextualität24,
Architextualitat25, Hypertextualität26, Intertextualität und Paratextualität zusammen. Für den
Kontext des Kommunikationsprozesses zwischen Autor_innen und Leser_innen ist vor allem
die Paratextualität relevant, die sich auf Begleiterscheinungen des publizierten Textes bezieht.
Paratext kann untergliedert werden in Peritext, der sich innerhalb des publizierten Buches
befindet, und Epitext, der außerhalb eines literarischen Werkes angesiedelt ist. Beispiele für
Peritext sind etwa Motto, Titel, Vorwort und Widmung. Letztere stellt, zusammen mit der oft
aber nicht immer synonym zu verstehenden Danksagung, ganz klar eine Manifestation von
Autor_in-Leser_in-Kommunikation dar. Beide können individuell ausgerichtet sein oder sich
an implizite Leser richten. Damit ist in diesem Zusammenhang ein Konstrukt des
Lesepublikums gemeint, das einer Vorstellung vom Ausfüllen dieser Rolle analog zum
impliziten Autor, gleichkommt.
FOLIE 10
Als Beispiele sehen Sie hier die Widmungen aus dem letzten Band der Harry Potter-Serie von
J.K. Rowling und dem letzten Band der Chroniken der Unterwelt-Serie von Cassandra Clare,
die beide (zumindest u.a.) hier ihren impliziten Lesern als Fans begegnen und – wohl nicht zu
Unrecht – davon ausgehen, dass auch die früheren Bände der jeweiligen Serie rezipiert wurden.
FOLIE 11
Als Epitext definiert Gérard Genette Elemente „im Umfeld eines literarischen Werkes, mit
denen ein Autor, beispielsweise ein Werk aus seiner Sicht erläutert“, wie Pläne, Briefe,
Tagebücher, Interviews oder Gespräche bei Lesungen. In vielen Epitextvarianten findet man
Vortexte oder unveröffentlichtes Material, das unter gewissen Umständen zu Haupttext werden
kann. Dieser Prozess ist einerseits stark mit ökonomischen Aspekten des Handlungssystems
Literatur verknüpft und andererseits mit Kommunikationsprozessen von Autor_innen und
Leser_innen. Ein gutes Beispiel hierfür ist Umberto Eco, diesmal nicht in seiner Rolle als
Semiotiker, sondern als Autor von Der Name der Rose: 1983, drei Jahre nach dem Erscheinen
von Der Name der Rose, seinem ersten Roman, erschien Nachschrift zum »Namen der Rose«.
Dieses Buch beinhaltet Informationen zu verschiedenen Zitaten und Direkte Bezugnahme auf
andere Texte, Präsenz eines Textes in einem anderen, z.B. durch ein wörtliches Zitat.
Anspielungen in Ecos Roman. Ausgehend von der Annahme, dass Vortexte, Notizen,
Interviewfragen etc. in diese Publikation eingegangen sind, ist es berechtigt hier von einer
Migration bzw. Transformation von Epitext in Kerntext zu sprechen. Darüber hinaus heißt es
in Nachschrift zum »Namen der Rose«: „Seit ich den Namen der Rose geschrieben habe,
bekomme ich häufig Briefe von Lesern, die wissen möchten […]“. Natürlich kann es sich hier
um fingierte Kommunikation handeln, aber die grundsätzliche Möglichkeit des
Leser_innenbriefes als tatsächliche Kommunikationsform zwischen Autor_in und Leser_in
kann nicht bestritten werden. Ausgehend von der Annahme, dass zumindest ein Teil dieser
Briefe existiert hat, liegt hier eine Vielzahl von reellen Einzelkontaktaufnahmen vor. Der
Leser_innenbriefe kann als individuelles Kommunikationsmittel und das publizierte Buch, das
Zusatzmaterial enthält, als Massenkommunikationsmittel verstanden werden. Selbst wenn es
keine Briefe gegeben hat, liegt nichtsdestotrotz eine spezielle Form von Kommunikation vor:
Zwischen dem biologischen Autor Umberto Eco und einem potenziellen Lesepublikum von
24
Eine Kommentarbeziehung zweier Texte, etwa in Form einer literaturwissenschaftlich Arbeit oder
Literaturkritik.
25
Ein Verweis auf frühere Texte derselben Gattungszuordnung oder desselben Gattungsstils.
26
Ein Hypertext bezieht sich in seiner Gesamtheit auf einen Hypotext ohne ein Kommentar zu sein, etwa im Fall
einer Umarbeitung, Satire, Fortsetzung oder Parodie.
69
Nachschrift zum »Namen der Rose, dessen Publikation mit der Intention der Lenkung des
Lesepublkiums und Einschränkung von Leerstellen verbunden ist, und klar auf implizite Leser
baut, die dieses Spiel auch mitzuspielen gewillt ist.
Auch hier bezieht sich der Begriff implizit vor allem auf die Konstruktion einer Rolle als
Autor_in/Leser_in im literarischen Kommunikationsprozess, die mit gewissen Annahmen des
Kommunikationspartners verbunden ist: Umberto Eco (und Vertreter_innen seines Verlages)
gehen davon aus, dass es ein interessiertes Publikum für Zusatzmaterial zu Der Name der Rose
gibt.
Zusatzmaterial in dieser, ähnlicher oder anderer, nicht-kommentarischer Form stellt eine
wesentliche Form von Epitexttransformation dar, die besonders im Kontext nichtrealistischer
Jugendliteratur floriert.
FOLIE 12
Als Beispiel sehen Sie hier Quidditch im Wandel der Zeiten, Phantastische Tierwesen und wo
sie zu finden sind und Die Märchen von Beedle dem Barden als Bonusbücher im Umkreis von
J.K. Rowlings Harry Potter-Serie. In allen drei Fällen handelte es sich (vor der Publikation der
gerade gezeigten Texte) um ein Buch-im-Buch. Die ersten beiden Beispiele sind en passant als
Schulbücher in der Zauberschule Hogwarts erwähnt, während das dritte eine wichtige Rolle in
der Hinweiskette des Rätsels um die so genannten Heiligtümer des Todes im letzten Band der
Serie darstellt. Alle drei Texte beinhalten neuen Erzählinhalt und tragen so zur Erweiterung
der Kernnarration bei.
Hier wird eines der sieben Prinzipien des medienübergreifenden Erzählens nach Henry Jenkins
bedient: Das Prinzip des Worldbuilding, des Weltenbaus, demzufolge phantastische Welten
offen gestaltet sind, sodass sie nach einer inneren Logik aufgebaut sind, die potenziell
unendlichen Raum für mehr Material bietet, was Institutionen, Funktionsweise der erzählten
Welten, Gegenden etc. angeht.
FOLIE 13
Ein Beispiel für Bonusbücher, durch die kaum neues Material zur Verfügung stellt wird, ist
Stephenie Meyers Biss-Handbuch. Es beinhaltet zwar, u.a., zahlreiche Kurzbiographien von
Figuren, bietet aber dennoch relativ wenig narrativen Inhalt, der nicht entweder aus der BissSerie bekannt ist oder bereits lange vor der Publikation des Handbuchs auf Stephenie Meyers
Website zu finden war.
Damit gelangen wir zu einer Kommunikationsstrategie, die wesentlich offenkundiger als
Zusatzmaterial in Form von Bonusbüchern dem Handlungssystem zuzuordnen ist: Der
Autorenwebsite.
Alicia Wajs geht in ihren Überlegungen zum Internet als Raum der literarischen
Kommunikation neben Werk-Vermittler-Leser-Kommunikation, und einer LeserLeserKommunikation auch auf Autor-Leser-Kommunikation ein und führt die Websites hier
als treibende Kraft an. Dieses Medium dient der Information, dem Aufbau eines Kontaktes und
natürlich der Vermarktung. Um offenkundig einseitige Kommunikation handelt es sich dann,
wenn etwa kein Forum Teil des Konzepts ist. Mit dem zur Verfügung stellen von epitextuellem
Material wie Informationen, die über das in den Texten erzählte hinausgehen, im
Lektoratsprozess Entferntes oder vortextuelle Skizzen findet gleichzeitig der Versuch einer
Steuerung von Rezeption und Dominanz im Kommunikationsprozess statt.
Steuerung kann insofern durch das Umwandeln von Epitext in Haupttext unterstützt werden als
Leerstellen des Textes von Autor_innen dadurch scheinbar verbindlich gefüllt werden. Es lässt
sich eine Verbindung zu Beobachtungen Lothar Müllers in seiner Analyse zur Geschichte und
dem breiten Einfluss des Papiers herstellen: „Weil Publizieren mit Drucken identisch war, war
70
das Unpublizierte optional, das Publizierte definitiv.“ Durch die Transformation von Epitextes
zum Kerntext wird er definitiv. Durch seine Publikation wird Licht auf bislang
unausgeleuchtete Bestandteile erzählter Welten geworfen und der Interpretationsspielraum des
Lesepublikums damit einerseits eingeschränkt, aber natürlich gleichzeitig mit neuem Material
versorgt, das seinerseits im Rezeptionsprozess Potenzial für neue Ansätze bietet.
ROLLENWECHSEL
Wie anfangs durch den Verweis auf Umberto Ecos Modell bereits erwähnt, ist in
Kommunikationsprozessen grundsätzlich ein Rollenwechsel angelegt: Empfänger_innen
können zu/r Sender_innnen werden. Das Internet ermöglicht Unpubliziertem den Zustand des
Definitiven:
„Mit der Entwicklung der besonders benutzerfreundlichen Anwendung des Internets, der
Hypermedia-Technologie Word Wide Web, die neben Bildern, Animationen und Tönen vor
allem auf der geschriebenen Sprache beruht, wurde jeder Benutzer zwangsläufig zum Leser und
auch jeder schreibwillige User zum Schreiber.“
FOLIE 14
Eine diesbezügliche Möglichkeit stellt Fanfiction dar, wie sie von Sebastién Francois in seiner
Einheit der Ringvorlesung näher besprochen wurde. Daneben gibt es eine scheinbar unendliche
Auswahl an Schreibportalen und Literaturtreffpunkten, wo Texte eingestellt und von den
Mitgliedern auch gelesen und kommentiert werden können. Ein derartiges Projekt finden Sie
beispielsweise unter www.keinverlag.de. Eine Aktion, die zum Ziel hat, eine große Menge an
Ausgangstext (50 000 Wörter), mit dem weitergearbeitet werden kann, zu produzieren, ist der
National Novel Writing Month (www.nanowrimo.org), der mittlerweile auf internationaler
Basis jeden November stattfindet. Ziel zahlreicher Teilnehmer_innen solcher Aktionen ist das
Eintreten in den Buchmarkt über die reguläre Publikation in einem Verlag.
Ein bekanntes Beispiel dafür, wie die Transformation von privatem zu öffentlichen Schreiben
stattfinden kann, ist der Weg von Fifty Shades of Grey von einer Fanfiction zu einem
selbstpublizierten Buch zu einem im klassischen Sinn publizierten und auch übersetzten Buch.
Als literaturästhetisches Kontrastbeispiel möchte ich hier die Luna-Chroniken von Marissa
Meyer anführen, die aus einem National Novel Writing Month hervorgegangen sind – Wie man
auf der Website der Autorin erfährt.
ZUSAMMENFASSUNG
Ausgehend von kulturtheoretischen Positionen zur Bedeutung der Autor_inneninstanz ist zu
sagen, dass Überlegungen zu Autorschaftskonzepten direkt oder indirekt auf Fragen nach einer
dominanten Position im literarischen Kommunikationsprozess kreisen. Als rudimentäre
Kategorisierungsmöglichkeiten von Kommunikation zwischen Auto_innen und Leser_innen
lassen sich die Oppositionspaare individuell-kollektiv und implizit-explizit vorschlagen. Damit
ist gemeint, dass literarische Kommunikation einerseits auf persönlichem Level zwischen
empirischen Leser_innen und Autor_innen stattfinden kann, was beispielsweise in Widmungen
oder Leser_innenbriefen zu Tage tritt, oder kollektiv wie über eine Sammlung von Briefen,
online Foren oder (von der Seite der Produktion ausgehend) Autor_innenwebsites . Daneben
findet Kommunikation auf Basis gewisser Erwartungshaltungen an die Rolle des
Kommunikationspartners, des impliziten Autors oder impliziten Lesers statt.
Als Ergebnis und Spiegel der literarischen Kommunikation hat eine einführende
Auseinandersetzung mit der Transformation von epitextuellen Varianten zu Kerntext
stattgefunden.
Am Ende bietet es sich an, die Brücke zurück zu Angua zu schlagen, die in Ihrem Essay If the
71
Author is Dead, who’s updating her Website? sagt: „The writer's contribution is frozen at the
point of time that he or she finished writing. But it seems that nobody has informed the authors
of that.” Wie auch immer sie aussieht, Kommunikation zwischen Autor_innen und Leser_innen
ist ein essentieller Bestandteil im lebendigen Literaturbetrieb.
10. Ernst Seibert – Geschichte der Jugendliteratur
Als Spiegel der Jugend-Kultur-Geschichte
Pars pro toto


Locus amoenus (Klassiker), der gute Ort
Locus terribilis (Schwarze Pädagogik), der schlechte Ort
Intermezzo



Genre und Metier
Poetik und Metapoetik
Klasseiker-Diskurs
Neulandvermessung


Mythologie
o Metamorphosen
o Ganymed
o Ikarus
o Telemach und Robinson
Poetik
o Bürgerliches Trauerspiel
o Entwicklungsroman
Eine der wichtigsten Entwicklungsroma von Marie Eschenbach war das
Gemeindekind, in Hellers Forschung hat sie aber keinen Eingang gefunden, da
er sich ausschließlich mit Illustrationen und Bildern auseinandersetz und das
Gemeindekind ist nicht illustiert.
o Generationenroman
o Nonsense
Prinz Eugen der edle Ritter (1915)
•
•
Vergleich Mütter von Eugen und Jedermann
Mitteleuropagedanke
Kinder Kalender 1936
Würde er eher als locus terribiles bezeichnen, obwohl versucht wird locus amoebus zu
illustrieren. War als Massenliteraturgedacht. Darin enthalten, das Dolfußlied, infantiler Einfalt
vs. Bürgerkriegspropaganda: Das Lied wurde nach der Bundeshymne gesungen und kann als
schwarze Pädagogik angesehen werden.
Der vitruvianische Mensch
„Ferner ist natürlicherweise der Mittelpunkt des Körpers der Nabel. Liegt nämlich ein Mensch
mit gespreizten Armen und Beinen auf dem Rücken, und setzt man die Zirkelspitze an der Stelle
des Nabels ein und schlägt einen Kreis, dann werden von dem kreis die Fingerspitzen beider
Hände und die Zehenspitzen berührt. Ebenso, wie sich am Körper ein Kreis ergibt, wird sich
auch die Figur eines Quadrats an ihm finden. Wenn man nämlich von den Fußsohlen bis zum
Scheitel Maß nimmt und wendet dieses Maß auf die ausgetreckten Hände an, so wird sich die
72
gleiche Breite und Höhe ergeben, wie bei Flächen, die nach dem Winkelmaß quadratisch
angelegt sind.“
 anno 1591 wurde das von Giordano Bruno „Über die Monas, die Zahl und die Figur als
Elemente einer sehr geheimen Physik, Mathematik und Metaphysik) und später von der
Pädagogik – Struwwelpeter.
Der Struwwelpeter ist keine Geschichte, er wird nur beschrieben.
Metier und Genre
Jugendkultur
Literarisiert
Inszeniert
Außerliterarische
Wirklichkeit
Metier
Genre
(Handlungssystem (Symbolsystem)
Unmittelbare
Mittelbare
Rezeption
Rezeption
Sparten
Kinderbuch (-literatur) „Buch“ im
Sinne von Buchkunst verstanden
Jugendbuch
Jugendliteratur
„Buch“
als
nüchterner
Medienbegriff
Das Handlungssystem ist eingebettet in Institutionen.
Präpubertär
Postpubertär,
adoleszent
Außerliterarische Wirklichkeit meint die Wirklichkeit, wo Jugendkultur stattfindet neben
Jugendliteratur
Metapoetologisches Gattungsmodell
Inhalt Irreal
Real
Formen
Magisch
Mythogen (1)




Rational
Märchen
Sage
„einfache Formen“
Mythologische Erzählung
Antilogozentrisch (4)




Science fiction
Gruselgeschichten
Horrorgeschichten
Fantasy
Antimythogen (2)


Phantastische Erzählung
Lügengeschichten
Logozentrisch (3)




Robinsonade
Realistische Erzählung
Historische Erzählung
Abenteuererzählung
Kriterium der Irrealität fehlt in österreichischer Literatur.
„die Klassiker“
73
Klassiker-Kriterien-Systematik
Metaebene
-
Zeitlosigkeit
Autorenebene
-
Singularität, Intentionalität
Form
-
Werkebene
-
Aventuire, Irrationalität, Reiseliteratur
Reduktion auf Einheiten des Ortes, der Zeit und
der Handlung
Rezeptionsebene
Inhalt
-
Elternferne,
Fremdes
Kind,
Lebensbedrohung, Rebellenmotiv
Inselmotiv,
-
Programmatik der Titelfigur, Internationalität
Seiner Meinung nach überdauern die Klassiker der Kinderliteratur, da sie Ideologien
überdauern und nicht Ideologien vermittelt werden.
Besonders markant ist die Elternferne. Auch interessant: Moment der Herkunft, viele
Autor_innen sind aus den Kronländern. Mit der postkolonialen Theorie wird die Herkunft
erklärt, es bestand eine Spannung der Randgebiete gegenüber Wien.
Literatur ist auch geprägt durch Konjunkturen, aufgrund von zB jahrestagen werden bestimmte
Autoren oder Werke wieder aktuell.
Periodisierung
74
Die Jungen von der Paulstraße
Drama mit Mario Adorf. Budapest 1910. Nemecsek ist der Sohn des Schneiders Nicolaus. Als
Nicolaus eines Tages von der Affäre seiner Frau mit dem reichen Kaufmann Kovacs erfährt,
wirft er sie kurzerhand aus dem Haus. Die Trennung von der Mutter ist für Nemecsek, aber
auch für seine Mutter eine Katastrophe. Nemecsek ist kleiner als seine Klassenkameraden, aber
er hat Mut wie ein Löwe. Kaum einer Rauferei geht er aus dem Weg, und sein größter Wunsch
ist es, zu einer der Cliquen in seiner Schule zu gehören.
Psychoanalytisches Kindheitsbild  Ödipus
„ephemere Kinderliteratur“
Österreichische Literatur ist geprägt durch ironische Bilderbücher bzw. Satire getarnt als
Kinderbücher.
•
•
•
•
•
•
Viktor Halbnarr,
Maus im Haus,
Gutenachtgeschichte für Maria Carolina,
Rosie und der Urgroßvater,
Michael. Ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft.
Jörgi, der Drachentöter
75
Conclusio:
Letzte „Bastion“, gleichzeitig Höhepunkt der Kinderliteratur vor dem Paradigmenwechsel: Ich
Bin Ich.
Danach:
•
•
•
(Kinder-) Jugendliteratur nähert sich immer mehr der Allgemeinliteratur (Pop-Literatur)
Autor_innen der Allgemeinliteratur schreiben immer mehr (Kinder-) Jugendliteratur
Kindheitsliteratur tritt an die Stelle von (Kinder-) Jugendliteratur
11. Manuela Kalbermatten – „The world may need you, one day”
Kulturkritik, Identität und Geschlecht in aktueller Future Fiction für Jugendliche
I. „It is in conflict that our values are exposed“
„Viele Wissenschaftler kritisieren unsere Neigung, Geschichte nur anhand von Konflikten zu
beschreiben, aber ich glaube, sie täuschen sich“, sagt Anaximander, Protagonistin von Bernard
Becketts Jugendroman Das neue Buch Genesis. Und begründet: „In Konflikten manifestieren
sich unsere Werte“ ; im Englischen Original: „It is in conflict that our values are exposed.“
Wenn wir einmal annehmen, dass Anaximander, kurz Anax genannt, mit dieser Behauptung
Recht hat, dann ist die Future Fiction geradezu prädestiniert dafür, Aufschluss über kulturelle
Werte, Normen und Diskurse zu geben: Konflikte individueller, vor allem aber
gesellschaftlicher und nicht selten gar globaler Art und Tragweite sind der zentrale
Handlungsmotor dieser auf dem jugendliterarischen Markt seit einigen Jahren höchst
erfolgreichen Gattung. Genesis, 2006 erstmals erschienen, ist zum einen selbst ein spannender
Future Fiction-Text; tatsächlich liest sich der kurze, grösstenteils in Dialogform verfasste
Roman des neuseeländischen Autors Bernard Beckett aber darüber hinaus wie ein MetaKommentar auf deren Themen, Diskurse und Gattungstraditionen. Ich leihe mir die junge
Nachwuchshistorikerin Anax deshalb als Assistentin für einige einführende Bemerkungen zu
dieser jugendliterarischen Trend-Gattung, ihrer Themen, Konflikte und Spielarten aus und
mache gleichzeitig von der Vielfalt der Cover-Illustrationen für die unterschiedlichen
Ausgaben und Auflagen von Genesis Gebrauch.
Die Handlung von Genesis ist ganz auf die minutiöse Schilderung einer vierstündigen
mündlichen Aufnahmeprüfung fokussiert, die Anax mit drei Vertretern der Akademie führt, der
geistigen Elite ihres vermeintlich utopischen Inselstaats. Seit einer Weile schon strebt die
begabte Schülerin eine Karriere als Mitglied der Akademie an, und sie begründet diesen
Wunsch damit, dass „die Akademie das erreicht hatte, was keiner anderen Gruppe bisher
gelungen war“ (135); dass die Bürger nämlich nach dem letzten grossen Krieg (Zitat) „einen
tiefen und dauerhaften Frieden“ (134) erlebten. Anax reflektiert ihren Zukunftswunsch so:
„Der Akademie beizutreten, hiess, der Gesellschaft zu dienen. Der Gesellschaft, die sie liebte. Der
besten Gesellschaft, die der Planet je gesehen hatte. Der Akademie beizutreten, hiess,
Verantwortung für den Frieden zu übernehmen, der sich über die Unterkünfte gelegt hatte, und für
das Lachen auf den Strassen. Die Akademie legte das Ausbildungsprogramm fest. Die Akademie
kontrollierte die technologische Entwicklung. Die Akademie brütete über den Einzelheiten der
Vergangenheit und lernte aus jedem Fortschritt und jedem Fehler. Die Akademie war der Idee
entgegengetreten und hatte mit ihr einen dauerhaften Frieden geschlossen.“ (135f.)
Bereits die klassische Utopie, wie sie von Thomas Morus’ gattungskonstituierendem Text
Utopia (1516) massgeblich geprägt wurde, stellte der als mangelhaft kritisierten Gegenwart des
Lesers, der Leserin einen fiktiven, als ideal inszenierten Staat gegenüber. Sie lieferte, um mit
Thomas Schölderle zu sprechen, „konstruktive Gegenbilder zur historischen Wirklichkeit“ mit
der Absicht, sowohl neue Idealbilder und Reformziele zu etablieren als auch Kritik an der
eigenen Gegenwart zu generieren. In der Utopie erfolgt die detaillierte Beschreibung der
76
alternativen, besseren Gesellschaft in der Regel durch die Figur eines Reisenden, der von einem
„Einheimischen“ eine „guided tour“ erhält. Die Gefühle des Besuchers steigern sich von
anfänglicher Ablehnung und Distanz zur allmählichen Akzeptanz und schliesslich Idealisierung
des zumeist räumlich isolierten eu topos – besseren Ortes.
Genesis übernimmt zwar die Inselmetapher und die enthusiastische Lobpreisung der neuen
Welt, diesmal durch die Hauptfigur selbst; in der Struktur der Narration vollzieht sich aber eine
Gegenbewegung. Dies geschieht zunächst, indem der Text in Form fiktiver
Geschichtsschreibung nicht den erreichten Idealzustand, sondern den Konflikt ins Zentrum
stellt; den von ideologischen Auseinandersetzungen und gewalttätigen Ausschreitungen
geprägten Prozess, der zur Entstehung der „besten Gesellschaft“, führt. In einer langen
Rückblende spricht Anax über das apokalyptische Ende der Welt, wie wir sie kannten, um die
Mitte des 21. Jh. herum. Sie gibt Auskunft über parallel ablaufende politische
Gedankenexperimente und Platos daraus hervorgehende Republik, die als klassisch-isolierte
utopische Inselgemeinschaft konzipiert war; als Versuch, „einen idealen Staat zu schaffen, in
dem das Volk und die Gesellschaft ihr Potenzial am besten verwirklichen konnten“ (23). Genau
wie die klassische Utopie entspricht Platos Republik der Vision einer konfliktfreien, stabilen,
ja statischen Gesellschaft mit verstaatlichtem Eigentum, klarer Arbeitsteilung und eindeutig
zugewiesenen Rollen – hier mit einer an Platons „Politeia“ angelehnten Polisgesellschaft und
ihren Trägerschichten. Paarbeziehungen, Eltern-Kind-Familien und Individualität wurden, so
Anax, zugunsten der Identifikation mit dem Kollektiv unterbunden – ein Konzept, dem die in
der ersten Hälfte des 20. Jh. aufkommende Dystopie eine vehemente Absage erteilt.
Die Gesellschaften, die Utopie und Dystopie entwerfen, sind sich in ihrer Konzeption zwar oft
sehr ähnlich; ihre Wertung, die auch bei den RezipientInnen antizipiert wird, ist allerdings eine
grundsätzlich andere. Die Dystopie entwirft ihre Gesellschaft, so Simon Spiegel, als „die
schrecklichste aller möglichen Welten (...), indem sie als negativ empfundene Entwicklungen
ins Monströse steigert“ . Als Anti-Utopie warnt sie zugleich sehr direkt vor einer
politischideologischen Umsetzung kollektiver Glücksversprechen. „Ganz im Gegensatz zu
ihrer Schwester“, so Spiegel, „ist die Dystopie eine individualistische Gattung; wofür sie in der
Regel einsteht, ist das Recht des Einzelnen, sich von der Masse zu unterscheiden.“6 Im Zentrum
der Dystopie steht denn auch nicht ein abgeschlossener, stabiler Gesellschaftszustand, sondern
der Widerstand gegen die beschriebene Ordnung; nicht das rational geplante Gemeinwesen,
sondern die Abweichung von der Norm, nicht Deskription, sondern Rebellion. So reflektiert
auch Anax’ Platos Bemühungen eines sicheren, stabilen, weil starr geordneten und entindividualisierenden Kollektivismus im Rückblick kritisch und im Vornherein zum Scheitern
verurteilt, indem sie Individualismus und unabhängiges Denken hochhält:
„Die Gründer der Republik versuchten, den Einzelnen zu verleugnen, und haben dabei eine
schlichte Wahrheit ignoriert. Das Einzige, was Individuen miteinander verbindet, sind Ideen. Ideen
verändern und verbreiten sich. Sie verändern ihre Wirte genauso, wie ihre Wirte sie verändern. (...)
Obwohl die Republik die Informationen, die in die Kommunen gelangten, kontrollieren konnte,
konnte sie nicht kontrollieren, wie sich die Informationen in den Köpfen der Männer und Frauen
veränderten.“ (61)
Aus der Perspektive einzelner und dann einer zunehmenden Anzahl von Bürgern, so Anax,
habe sich Platos Republik deshalb in einen dystopischen Überwachungsstaat verwandelt. In der
Folge erzählt sie von nonkonformen Individuen, die sich der Kontrolle des Staates entzogen,
um ihr Recht auf Individualismus einzufordern – allen voran der als Held gefeierte Rebell Adam
Forde, der die Überwindung der alten und die Entstehung der neuen Ordnung massgeblich
geprägt hat. Sie reflektiert die komplexe Beziehung zwischen Mensch und Maschine, die
zwischen dem inhaftierten Adam und dem lernfähigen Androiden Art im Rahmen eines
Experimentes ausdiskutiert wird; sie berichtet von Grenzgefechten an der Schwelle zum
posthumanistischen Zeitalter und stellt sich immer wieder die Frage, was einen Menschen
77
ausmacht, und wie Identität und Bewusstsein letztlich beschaffen sind; eine Frage, die sich als
roter Faden durch die Future Fiction der Gegenwart zieht.
Mit ihrer Erzählung steckt Anax die Karte der (post)apokalyptischen Landschaften ab, auf
denen die Konflikte aktueller Future Fiction ausgetragen werden. Dazu einige Bemerkungen.
Wie Gabriele von Glasenapp (2012) verwende ich den Begriff Future Fiction für Romane, die
eine zukünftige Welt imaginieren; in aller Regel ist diese Darstellung von dystopischen
Szenarien geprägt. Innerhalb des deutschsprachigen jugendliterarischen Marktes hat sich, wie
anhand der Verlagsprogramme gut zu beobachten ist, der Begriff Dystopie durchgesetzt; ich
möchte aber anhand meiner provisorischen Kartierung des Geländes zeigen, dass die Future
Fiction in Themenvielfalt, Motivik, Erzählstruktur und Genre-Hybridität sehr viel breiter ist.
Schema: Manuela Kalbermatten, November 2013 / Januar 2015
Future Fiction nährt sich von

der Apokalypse oder Katastrophenerzählung, wobei die modernen
Vernichtungsszenarien populärer Unterhaltungsmedien die soziokulturell und historisch
geprägten Ängste einer Gesellschaft spiegeln. Anax führt das Ende der „alten Welt“ auf
Klimawandel und Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts, schwindende Rohstoffe,
ausser Kontrolle geratene gentechnische Versuche, die destruktive Macht der Medien und
v.a. auf politische Instabilität aufgrund von Terrorismus und Fundamentalismus zurück;
ausschlaggebend aber sei ein Klima von Pessimismus, Bedrohung und Misstrauen gewesen
(14-17). In der aktuellen Future Fiction sind apokalyptische und postapokalyptische
Elemente v.a. in Texten anzutreffen, die man als Öko-Dystopien und Survivor-Texte
bezeichnen könnte: Sie nehmen die didaktisch-aufklärerische Erkenntnis-, Warn- und
Erziehungsfunktion des Umweltromans auf, wie er sich v.a. in den 1980er-Jahren
(prototypisch mit Gudrun Pausewangs Roman Die Wolke) heraus78

gebildet hat, und werden von Gabriele von Glasenapp deshalb auch als
problemorientierte Jugendliteratur der Gegenwart bezeichnet . Darüber hinaus fokussieren
sie, ähnlich wie Susan Sontag dies für den Katastrophenfilm festgehalten hat, auf die
„Ästhetik der Destruktion“ , projizieren diese aber hauptsächlich auf einzelne Individuen,
deren Überlebensstrategien sie ins Zentrum stellen. Ein zentraler Fokus dieser Erzählungen
liegt trotz der Makro-Ebene, auf der die Katastrophe angesiedelt ist, auf dem Individuum,
genauer: auf der Auslotung von Tugenden, die sein Überleben sichern.
 der bereits erwähnten klassischen Dystopie oder auch Gesellschaftsdystopie, in der
als negativ empfundene Entwicklungen der Gegenwart in die Zukunft extrapoliert werden,
wobei die Beziehung zwischen der zumeist hoch-technologischen, totalitären
Überwachungsgesellschaft und dem Individuum ins Zentrum gestellt wird und die Rebellion
die Handlung bestimmt
 einer dritten Spielart, die ich vorläufig als Cyborg-Romane bezeichnen würde.
Hierunter fasse ich Texte, die man als Science Fiction im engeren Sinn bezeichnen kann;
Texte, welche die Auswirkungen neuster Technowissenschaften auf das Soziale, das Bild
des Menschen und die Identität des Einzelnen ins Zentrum stellen . Ausgelotet wird die
Stellung des Menschen in einer zunehmend virtuell geprägten Gesellschaft, seine
Vernetzung mit neusten Technologien und der damit einhergehende Zusammenbruch
klassischer Grenzziehungen zwischen Mensch, Tier und Maschine, wie er bereits 1985 von
Donna Haraway in ihrem Manifest für Cyborgs beschrieben wurde.
Sichtbar wird, dass das Utopische Gebiet, zumindest in der Jugendliteratur, unbesiedelt bleibt.
Genau wie die aktuelle Erwachsenenliteratur kennt die FF keine Utopien im Sinne von Texten,
die den perfekten Staat, die bestmögliche Gesellschaftsordnung inszenieren – darin spiegelt
sich die anti-utopische Haltung des 20. und 21. Jahrhunderts, das aus politischer Erfahrung
gespeiste Misstrauen gegenüber kollektiven Stabilitäts-, Ordnungs und Glücksversprechen.
Staats-Utopien tragen in der Gegenwart immer negativ behaftete Züge, die sich nicht unbedingt
der Figur, wohl aber den Lesenden auf Anhieb erschliessen sollen.
So verwundert es auch nicht, dass in Genesis am Ende auch Anax’ eigene Gesellschaft, die sie
ihr Leben lang als Endpunkt einer Progression hin zum idealen Staat aufgefasst hat, als
dystopische entlarvt wird. Wir können uns von dieser utopischen Gesellschaft lange Zeit kein
genaues Bild machen, weil Anax eine unzuverlässige Erzählerin ist – erst im Lauf des
Gesprächs entwickelt sie eine Vorstellung davon, wie das System tatsächlich beschaffen ist und
welchen Preis die Akademie für dessen Stabilität bezahlt: Sie ortet mithilfe eines perfiden
Beobachtungssystems unkonventionell denkende, wissbegierige Subjekte, lädt sie zum
Aufnahmegespräch ein, lässt sie ihre Ideen äussern, um auf dem neusten Stand zu bleiben, und
schreitet endlich zur Exekution. Ironischerweise büsst Anax ihr Leben nicht im Kampf für ihre
Individualität ein, wie das bei den rebellischen Subjekten klassischer Dystopien der Fall ist,
sondern im Versuch, ihre Fähigkeiten in den Dienst des Kollektivs zu stellen.
Anders als ihre klassischen Vorgänger begnügen sich Dystopien für Jugendliche aber selten
damit, Zeitkritik durch Extrapolation, also Weiterentwicklung negativer Gegenwartstendenzen
in die Zukunft zu üben und, wie Peter Werder schreibt, „den Teufel an die Wand zu malen“ .
Zwar ist die Warnfunktion auch in der Jugendliteratur enthalten. Dennoch finden sich stets auch
utopische Ansätze bzw. Impulse, die im Sinne dezidierter Gegenwerte oft explizit formuliert
und direkt in der Figur des rebellischen Individuums verortet werden. Das ist auch in Genesis
nicht anders. Ohne die Schlusspointe des Romans zu verraten, lässt sich sagen, dass der
utopische Impuls hier darin besteht, dass Adam Fordes unkonventioneller Geist in und dann
über Anax hinaus weiterlebt. Das aber knüpft an eine traditionelle binäre Geschlechterordnung
an, die Männlichkeit mit Geist und Intellekt, Weiblichkeit hingegen mit Körper und
Emotionalität verknüpft. Anax hat, wie ihr Mentor Perikles einmal zu ihr sagt, ein „Gespür“ für
79
Adam, das ihr weit über das rationale Verarbeiten der Quellen hinweg zu einem tiefen
Verständnis seines „Wesens“ verhilft (23). Und obwohl diese intuitive, verstehende
Komponente als positiver Gegenwert zu dem kalten Rationalismus des Systems gesetzt wird,
ist es letztlich doch der männliche Intellekt, der Zeit und Evolution überdauert. Wenn Anax
also recht damit hat, dass sich im Konflikt die Werte einer Gesellschaft zeigen, und sich die
Kontinuität des männlich geprägten Geistes über die Zeit als eigentlich utopischer Impuls des
Textes erweist, dann ist das nicht das erste und nicht das letzte Mal, dass die Frau als Verliererin
aus dem zentralen Wertekonflikt hervorgeht.
II. The Match that light’s the Fire
„Jeder historisch-soziale Kontext hat eigene künstliche Wesen hervorgebracht“, schreibt Silke
Bellanger in ihren Begegnungen mit den Cyborgs. Ich stelle analog dazu die These auf, dass
auch die unterschiedlichen kulturkritischen Praktiken und utopischen Impulse der Future
Fiction ihre eigenen, künstlichen Wesen hervorbringen – weibliche Kunstfiguren, auf die ich
mich im Folgenden konzentrieren werde.
Werfen wir, ehe wir uns endgültig von ihr verabschieden, einen letzten Blick auf Anaximander.
Zu Beginn ihrer Ausführungen hält sie fest, dass Adam Forde gegenwärtig nicht mehr derselbe
ausserordentliche Status zugeschrieben werde wie noch vor einigen Jahren. 'There need to be
nothing special about the match that lights the fire,' laute das Motto der neuen
Geschichtsphilosophie, 'save that it is the match that lights the fire.' Auch Anax selbst erliegt
trotz ihrer Faszination für Adam nicht der Versuchung, ihn zu idealisieren oder zu heroisieren,
sondern stellt klar, dass es nicht einzelne Helden sind, die grosse Umwälzungen bewirken,
sondern bestimmte Verknüpfungen von Diskursen, Ereignissen und Interessenskonflikten, die
ein Individuum als Symbol des Widerstands hervorbringen.
Selbstverständlich geht mit diesem Prozess eine Reduktion des Individuums einher. Wenn am
Streichholz weiter nichts zählt, als dass es das Feuer entzündet, sprich: zum Symbol des
Widerstands und der Revolution wird; wenn die Idee und nicht das konkrete Individuum zur
entscheidenden Instanz erhoben wird, dann erfolgt eine Auslöschung dieses Individuums
mitsamt seiner persönlichen Biografie, seinem Körper, seinen Beziehungen, Erfahrungen,
Verletzungen und Vernetzungen. Die Frauenbildforschung hat diesen Prozess vor allem im
Rahmen traditioneller Geschichtsschreibung wiederholt beklagt, weil er ganz besonders oft zu
Lasten der Erfahrungen und des Leidens realer Frauen ging und universalisierte, ja
essentialisierte Frauenbilder generiert und zementiert hat. Versuche feministischer Autorinnen,
Frauen aus ihrer Zeichenhaftigkeit zu befreien, hat es einige gegeben, auch im Zukunftsroman
für Erwachsene. In Die Republik der Frauen von 2010 beschreibt die nicaraguanische
Schriftstellerin Gioconda Belli den mühsamen Weg hin zu einem wenn nicht utopischen, so
doch besseren Staat, der fiktiven Republik Faguas, die für eine Weile ausschliesslich von
Frauen regiert wird. Durch ein sich vom patriarchalen Führungsstil des Präsidenten massiv
abhebendes Programm gelingt der „Partei der erotischen Linken“ unter der Führung der
Fernsehmoderatorin Vivica Sanson bei den Wahlen ein Erdrutschsieg. Doch weil sich die
Regierungsgeschäfte aufgrund massiven männlichen Widerstands schwierig gestalten,
entlassen Vivica und ihr Stab für eine Weile sämtliche Männer aus dem Staatsdienst – mit
folgendem Resultat:
„Die Frauen allein regieren zu lassen bestätigte, was sie schon lange gespürt hatte: Wenn die Frauen
unbehelligt waren, nicht von den Machos argwöhnisch beobachtet und beurteilt wurden, dann
legten sie sehr schnell ihre nachgiebige Art ab, liessen die Legende hinter sich, dass Frauen nicht
gern das Kommando führen, dass es ihnen nicht liegt, Herausforderungen anzunehmen. Doch dazu
mussten sie auch den verinnerlichten Richter abschütteln, das Männchen, das mit erhobenem
Zeigefinger und dem Gesicht des Vaters oder des Priesters oder Onkels oder Bruders wie eine
ehrwürdige Büste im dunklen Park ihrer weiblichen Hirne stand und sie daran erinnerte, dass sie
80
Töchter Evas waren: Sünderinnen; ungeratene Töchter: Huren; Barbie-Töchter: Dummchen;
Töchter der Jungfrau Maria: brave Mädchen, Frauen, die wohlerzogen schwiegen ... Die endlose
Reihe verehrter oder verachteter weiblicher Vorbilder bestand aus eindimensionalen
Schwarzweissporträts: entweder so oder so; ausnahmslos verneinten sie die Gesamtheit all dessen,
was es bedeutete, Frau zu sein.“
Aktuelle feministisch-politische Literatur prangert also auf sehr explizite Weise die Prozesse
und Diskurse an, in denen Frauen auf starre Bilder und Symbole reduziert werden, um sie dann
aus ihrer Zeichenhaftigkeit, ihren „eindimensionalen Schwarzweissportraits“ herauszuholen
und sich der Gesamtheit ihrer Erfahrungen zuzuwenden.
Auch in der Future Fiction werden junge Frauen im Dienste kultur- und machtkritischer
Diskurse zu Zeichen gemacht. Die Streichholzmetapher, die Anax benutzt, sticht im Vergleich
mit Katniss Everdeen, dem „girl on fire“, sofort ins Auge. Die Protagonistin von Suzanne
Collins’ Hunger Games-Trilogie und ihren Verfilmungen ist eine eigenwillige, zuweilen
egozentrische Heldin mit Ecken und Kanten, eine Kämpferin in eigener Sache, denn ihre
Überlebensstrategien zielen zunächst nur darauf ab, sich selbst und die ihr nahe stehenden
Menschen zu retten. Dass sie aus einer Verkettung zufälliger Ereignisse und geschickter
Manipulationen zu einem Symbol des Widerstands in der aufkeimenden Revolution gemacht
wird, das sich im zweiten Teil, Catching Fire, zunehmend verselbständigt, entsetzt sie zunächst
zutiefst. Weil aber all ihre Bemühungen, diesem Ikonisierungsprozess zu entgehen, scheitern,
distanziert sie sich schliesslich freiwillig von der eigenen Biografie und Leidensgeschichte und
beschliesst, ihre Verwandlung in ein Symbol aktiv mitzubetreiben und sich selbst dabei
auszulöschen:
„And for the first time, I distance myself from the personal tragedy that has consumed me since
they announced the Quell. (...) everyone in the Districts will be watching me to see how I handle
this death sentence, this final act of president Snow's dominance. They will be looking for some
sign that their battles have not been in vain. If I can make it clear that I'm still defying the Capitol
right 'till the end, the Capitol will have killed me, but not my spirit. What better way to give hope
to the rebels! The Beauty of this Idea is that my decision to keep Peeta alive, at the expense of my
own Life, is itself an act of defiance. A refusal to play the Hunger Games by the Capitols rules. My
private Agenda dovetails completely with my public one. And if I really could save Peeta, in terms
of a revolution, this would be ideal. Because I will be more valuable dead. They can turn me into
some kind of martyr for the cause, and paint my face on banners, and it would do more to rallye
people than anything I could do if I was living. But Peeta would be more valuable alive, and tragic,
because he will be able to turn his pain into words that will transform people."16
Katniss ist hier also bereit, sich auf ein stummes Zeichen reduzieren und die Männer sprechen
zu lassen, denen sie die Fähigkeit zuschreibt, als Subjekte zu agieren, während sie von ihnen
zum Objekt stilisiert wird. Damit reiht sie sich ein in eine lange Tradition. Man könnte die
Geschichte dieser zeichenhaften Wesen, dieser Streichhölzer, die den utopischen Impuls
zünden und dabei verbrennen, damit beginnen, dass man an die vielen toten Frauen in der
dystopischen Literatur erinnert – oder besser: an jenen Typ Frau, die als „disruptive force“, als
zerreissende Kraft, wie Chris Ferns es in seiner Studie „Narrating Utopia“ nennt, den
männlichen Protagonisten zum Widerstand gegen das totalitäre System aufstachelt, diesem
System am Ende aber auf spektakuläre Weise unterliegen muss, damit seine Kontinuität
gewährleistet bleibt.
Nehmen wir Jewgenij Samjatins I-330 in dem dystopischen Roman „Wir“ von 1920. Sie
verführt den überzeugten Utopisten D-503, Konstrukteur des Raumschiffes Integral, das bald
ins All fliegen und das gesamte Universum der Ideologie des – deutlich stalinistischen – Einen
Staates unterwerfen soll, mit Insignien klassischer Weiblichkeit: mit femininen Kleidern und
Make-Up, das sie gegen die asexuelle Uniformität der Masse setzt, und einer üppigen,
ausufernden Sexualität, die den Rahmen des gesellschaftlich Tolerierten sprengt. Genau wie in
81
der bei Beckett inszenierten geschlechtersegregierten Polis werden Intimität, Weiblichkeit,
heterosexuelle Zweisamkeit und die klassische Familie als in sich individualisierend wirkende
Kräfte, ja geradezu als Keimzellen des Widerstands inszeniert und vom Text als Gegenwerte
zum dystopischen System gesetzt. Mehr noch: der Protagonist entwickelt seine Individualität,
Aktivität und Männlichkeit erst dann, als ihm eine Frau diese Männlichkeit kraft ihrer
dezidierten Weiblichkeit spiegelt und ihn dadurch aus seinem infantilen Status „reisst“. I-330s
später Versuch, gemeinsam mit einer Gruppe von Rebellinnen ein symbolisch befrachtetes,
phallisches und noch dazu imperialistisches Objekt wie das Raumschiff Integral zu erobern,
geht im Vergleich zu den üblichen Waffen der Frauen sehr weit und wird mit einer deutlich
sexualisierten öffentlichen Exekution bestraft. Im Fall von George Orwells Julia in 1984 und
der gleichnamigen Verfilmung beschränkt sich die Rebellion hingegen darauf, dass sie mit dem
Mann ihrer Wahl kurzfristig ein traditionelles Idyll heterosexueller Zweisamkeit feiert. Die
klassische Dystopie zeigt damit eine deutliche Tendenz, Widerstand in einem sehr traditionellen
Wertesystem zu verorten und vom Politischen ins Private zu verlagern: „For the most part,
resistance manifests itself more in the sexual than the political realm – and then most often in
the form of the reassertion of more traditional sexual values.“ Ferns geht sogar so weit, der
Dystopie allgemein eine Tendenz zum Konservatismus und zur nostalgischen Idealisierung der
Vergangenheit zu bescheinigen.21 Doch während der männliche Protagonist auch andere Wege
findet, seine Identität zu festigen; das Schreiben eines Tagebuchs etwa, die Beschäftigung mit
der Vergangenheit oder anderem verbotenem Wissen, fungiert die Frau meist lediglich als
Symbol für Sexualität, Liebe und den verlorenen, als erstrebenswert inszenierten
„Naturzustand“.
Die heutigen Protagonistinnen wirken demgegenüber weitaus emanzipierter, zumindest im
Umgang mit ihren männlichen Antagonisten und Verbündeten. Sie treten der diktatorischen
„Vaterfigur“ nun direkt gegenüber, entwickeln sich vom hilflosen Objekt patriarchaler
Zurichtung zum Subjekt, das nicht nur angeschaut wird, sondern zurück-schaut, dem
Machthaber direkt in die Augen blickt – und nicht selten auch vorübergehende Siege
davonträgt. So richtet Katniss in Catching Fire ihren Pfeil direkt auf die Kuppel der Arena, die
das propagandistische Universum das Übervaters Snow bildet. Die Umkehrung von
schauendem Subjekt und betrachtetem Objekt wird in Francis Lawrences Verfilmung noch
forciert, indem die Leinwand, auf der Katniss’ Aktion zu sehen ist, plötzlich durchlässig und
Snow selbst dem Blick der jungen Frau ausgesetzt scheint. Das Schlussbild zeigt Katniss’
Gesicht in extreme Close Up und zeichnet dabei eine ganze Bandbreite von Emotionen nach,
die mit Verzweiflung beginnen, aber bei unverhohlener Aggressivität enden. Figuren wie
Katniss nehmen nicht länger nur die Rolle der verführerischen Gegenkraft ein, sie setzen selber
Zeichen . Die Zeichen, die Katniss setzt, erweisen sich oft als besonders aggressiv und
gewalttätig: Während ihr Verbündeter Peeta beim Einzeltraining vor den Jubiläumsspielen
einem in den letztjährigen Spielen gefallenen Mädchen ein Denkmal setzt und der Monstrosität
des Capitols damit einen Akt liebevoller Erinnerung entgegen setzt, ist Katniss’ Installation des
an ihren rebellischen Akten gescheiterten und in der Folge getöteten Spielemachers Seneca
Crane eine direkte Kampfansage.
Doch wenn junge Frauen wie Katniss heute auch aktiv gegen das dystopische Regime antreten
und es nicht selten sanfte männliche Figuren wie Peeta sind, die als „disruptive force“ zu ihrer
Politisierung beitragen, möchte ich die These aufstellen, dass der kulturkritische Impuls
aktueller Texte die Frau nach wie vor als Symbol und als „disruptive force“ benötigt. Allen
emanzipatorischen Gesten zum Trotz muss die individuelle Frau erneut und wiederholt geopfert
und auf ein Zeichen reduziert werden, damit die Botschaft greifen kann. Nun ist zu fragen, aus
welchen skeptisch beäugten Tendenzen der Gegenwart sich die Kulturkritik aktueller Future
Fiction denn überhaupt speist. Gemeinsam ist sowohl den Klassikern als auch den aktuellen
Texten, dass sie wenig über die Zukunft und umso mehr über die Gegenwart aussagen : über
82
ihre Denkmodelle, Ideale und Konzepte, über Ängste und Hoffnungen. Diskutiert werden die
Folgen von Globalisierungsprozessen, Machtkonzentration und Ausbeutung, die Effekte neuer
Datenerhebungs- und Überwachungsinstrumente, der Bedeutungsverlust der Buch- und
Schriftkultur und der klassischen Familie, die Aufweichung traditioneller Geschlechterrollen
und Beziehungen. Klimawandel und Artensterben sind ebenso Thema wie die Auswirkungen
Neuer Medien, virtueller Welten und Körpertechnologien auf unser Menschenbild und unser
Verständnis von Identität.
Was den kritisch-politischen Gehalt der Future Fiction betrifft, gehen die Meinungen allerdings
weit auseinander. Während klassische Dystopien wie 1984 oder Brave New World oft sehr
explizit auf politische Tendenzen und ganz speziell auf totalitäre Systeme ihrer eigenen
Gegenwart oder jüngeren Vergangenheit Bezug nehmen, kritisiert Ralf Schweikart, dass sich
in der Dystopie als jugendliterarischem Trendthema selten ein „deutlicher,
gesellschaftspolitisch motivierter Erzählansatz“ zeige – im Zentrum stünden vielmehr „zeitlose
Elemente der Abenteuer- und Liebesgeschichte“, der Kampf zwischen Gut und Böse, die
Heldengeschichte. Die Herrschaftsform spiele eine untergeordnete Rolle: „Stattdessen
verschiebt sich die Katastrophe ins Private, in das Miteinander der Protagonisten (...).“25 Dazu
drei Bemerkungen.
1. Ich stimme Schweikart in der Beobachtung zu, dass die Herrschaftsformen in vielen Texten
zur Folie werden, auf der sich „private“ Konflikte abspielen. Meines Erachtens mindert das
aber gerade nicht den gesellschaftspolitischen Gehalt der Texte: Ich möchte im Gegenteil
dafür plädieren, Liebe, Sexualität und Geschlechterverhältnis als zentrale, wenn nicht in
bestimmten Fällen sogar als eigentliche gesellschaftspolitische und kulturkritische Themen
dieser Texte zu betrachten. Der Sprengstoff liegt in der Verknüpfung der dystopischen
Vision mit aktuellen Geschlechterdebatten und ist lesbar als Teil eines Diskurses, in dem
Konzepte und Ideale von Identität, Geschlecht und Weiblichkeit verhandelt werden.
Ausgehandelt werden zeitgenössische Werte, die auf den ersten Blick nicht unbedingt als
politische erscheinen müssen, wohl aber unsere politisch-sozialen Strukturen rahmen:
Welche Beziehungs- und Lebensformen sind erwünscht und welche nicht? Welcher Umgang
mit Identität und Körper gilt als erstrebenswert? Wie sollen sich die Beziehungen und
Hierarchien zwischen den Geschlechtern gestalten? Wie ist mit Multikulturalität und
Differenz umzugehen?
2. Betrachtet man die Flut der in den vergangenen 7-8 Jahren erschienenen Texte, wird
ausserdem deutlich, dass viele von ihnen junge Frauen als die am stärksten bedrohten
Subjekte dystopischer Szenarien imaginieren. Insbesondere die Zukunft des
Geschlechterverhältnisses und des weiblichen Handlungs- und Identitätsspielraums werden
oft als prekär inszeniert. Frauenrechte erweisen sich angesichts der Katastrophe als
besonders fragil, und nicht selten wird der weibliche Körper zum eigentlichen
Kampfschauplatz.
3. Wie die klassische Dystopie oder Katastrophenerzählung nimmt auch die Future Fiction
Bezug auf den gesellschaftlichen Hintergrund, vor dem sie entsteht. In Bezug auf die in ihr
verhandelten Geschlechterdiskurse möchte ich diesen gesellschaftlichen Hintergrund mit der
britischen Kulturwissenschaftlerin Angela McRobbie
als „postfeministisch“
charakterisieren: als seit den 1990er-Jahren ablaufender „Prozess der fortgesetzten aktiven
Unterminierung der Erfolge des Feminismus in den 1970er und 1980er Jahren“, der sich
zugleich den Anschein gibt, „eine fundierte und sogar gut gemeinte Reaktion auf die
Forderungen feministischer Bewegungen und der Kritiken innerhalb der feministischen
Theorie zu sein“. McRobbie stellt in ihrer Studie Top Girls. Feminismus und der Aufstieg
des neoliberalen Geschlechterregimes (2010708) eine „doppelte Verwicklung“ fest, die sich
in einem zeitgenössischen Nebeneinander von neokonservativen familienpolitischen Werten
83
einerseits und Prozessen der Liberalisierung in Partnerwahl, Familien- und Lebensgestaltung
andererseits äussert. Die postfeministische Bewegung, die sie v.a. in Bezug auf
Grossbritannien untersucht, integriert laut McRobbie liberale feministische Werte als Teil
des „Alltagsverstandes“ und lehnt den (radikalen) Feminismus & seine Reaktivierung
zugleich vehement ab.
In dieser Form des „undoing“ von Feminismus beruft sich der Postfeminismus auf den
Feminismus, indem er seine Aufgaben als erfüllt, d.h. Gleichberechtigung als erreicht inszeniert
und den Feminismus mit dieser Bewegung verabschiedet und „historisiert“. Feministische
Positionen und Kritik werden zugunsten einer Rhetorik der Freiheit und der Wahl als überholt
dargestellt – der Imperativ weiblicher Individualisierung tritt an die Stelle einer aktiven und
sozialkritischen Bündnispolitik. Im Zentrum dieses Diskurses stehen erfolgreiche junge Frauen,
die als „Metapher für sozialen Wandel“ und als „Subjekte der Exzellenz“ bzw. „Symbole der
Meritokratie“, also der Leistungsgesellschaft, inszeniert werden; sie sollen sich unter dem
Versprechen der Teilhabe und Lusterfüllung vom Feminismus als politischer Bewegung
distanzieren. McRobbie spricht in diesem Zusammenhang von einer Politik der
„Desidentifizierung“, in der sich junge Frauen zunehmend vom Feminismus abwenden.
Zugleich erfährt traditionelle Weiblichkeit eine – wenn auch zuweilen ironisch und nostalgisch
gebrochene – Wiederaufwertung in Popkultur und Arbeitsalltag. Insbesondere der an Frauen
gerichteten Popukultur wirft McRobbie vor, als „Multiplikator für den neuen Traditionalismus
zu fungieren“.
Kann man, so stellt sich die Frage, diesen Vorwurf auch der Future Fiction machen? Welche
Subjekte werden in ihren krisenhaften Geschlechterdiskursen und Ermächtigungsfantasien
hervorgebracht? Zu welchem Preis wird diesen jungen Frauen, die nun in aller Regel als
rebellische Individuen auftreten, Teilhabe und individualisierte Handlungsmacht verwehrt –
oder gerade in Aussicht gestellt? Und welche Diskurse und politischen Bewegungen werden
im Gegenzug desartikuliert?
III. "More than a piece in their Games“ ?
Ich fokussiere zunächst auf Texte, in denen Figuren entworfen werden, deren Identität als
soziales, aber auch persönliches Konstrukt oder Projekt thematisiert wird. Beginnen möchte
ich, indem ich auf Katniss zurückkomme. Intensiver, detaillierter und in gewisser Hinsicht auch
analytischer als Vorgänger und Nachfolger fokussiert Catching Fire auf den Kampf um
Bedeutung, der im vor-revolutionären Panem entbrennt. Nun lebt Katniss in einer Gesellschaft,
in der die Differenzen zwischen den Geschlechtern weniger ausgeprägt erscheinen als in
unserer; Frauen kommen prinzipiell dieselben Rechte und Pflichten zu wie Männern. Während
die Männer des reichen Capitols sowohl in den Romanen als auch in den Verfilmungen als
effeminiert inszeniert werden, wird die Aufhebung der Geschlechtergrenzen in der
vollkommenen Gleichstellung von männlichen und weiblichen Tributen in der Arena auf die
Spitze getrieben, auch wenn die Binarität erhalten bleibt – sind es doch dezidiert jeweils ein
Junge und ein Mädchen, die unter den minderjährigen Tributen ausgelost werden. Im scharfen
Kontrast zu der Uniformierung der Spiele stehen die Shows, die ihnen vorangehen: Sie kreieren
ein individualisiertes und zugleich hochgradig zeichenhaftes „Image“ der Tribute und
animieren das Publikum damit zur Identifikation mit bestimmten Tributen. Dazu werden die
Tribute entsprechend männlicher und weiblicher Geschlechtercodes inszeniert.
Als Teil ihrer Strategie, Katniss zu retten, versuchen Cinna, Haymitch und Peeta bereits im
ersten Teil, sie in der heterosexuellen Matrix zu lokalisieren, jener von Judith Butler
beschriebenen binären Ordnung, die sicherstellt, dass sexuelles Begehren, körperliches
Geschlecht, Geschlechtsidentität und -ausdruck mit der Zwangsordnung der Heteronormativität
übereinstimmen. Das heisst: Katniss’ auf der Bühne „aufgeführte“ Identität muss dahingehend
getrimmt werden, dass Weiblichkeit und heterosexuelles Verlangen suggeriert und aufeinander
84
abgestimmt werden. Cinna erreicht dies durch ihre „Maskierung“ mit einem besonders feminin
erscheinenden Kleid und entsprechendem Make-Up; Haymitch und Peeta, indem sie Katniss’
als Peetas Objekt des Begehrens inszenieren. Die Strategie funktioniert beim MainstreamPublikum tatsächlich und wird von Katniss als Überlebenstaktik akzeptiert, auch wenn
insbesondere im Text wiederholt auf die Verletzungen verwiesen wird, die sie aufgrund dieser
Maskierung erleidet. So streichelt sie etwa in einer Geste des Bedauerns über ihre
Beinbehaarung, ehe ihr Prep-Team sich mit Wachs darüber hermacht.
Die „Maskerade“ wird hier, um mit der von Angela McRobbie zitierten Joan Riviere zu
sprechen, als eine Art der „Weiblichkeitsproduktion“ eingeführt, die Katniss’ Zorn in
„Verführung und Koketterie“ verwandelt. Katniss wird gezwungen, sich mittels dieser
postfeministischen Maskerade wieder ins Feld des „beruhigend Weiblichen“ einzuschreiben
und ihre männlich-aggressiv konnotierten Identitätsaspekte zu verschleiern. Der Text kritisiert
damit meines Erachtens gezielt eine neue Form „regulierender, vergeschlechtlichter
Machtverhältnisse“, wie sie McRobbie beschreibt.
Diese auf die weibliche Identität und den weiblichen Körper zielenden Machtverhältnisse
verschärfen sich im Zuge der zunehmenden sozialen Spannungen markant. Erneut wird Katniss
medial im heteronormativen Schema verortet, um mit der Demonstration traditioneller Liebe
von den politischen Konflikten abzulenken. Katniss’ Körper wird hier im wahrsten Sinne des
Wortes zum Kampfschauplatz divergierender Konfliktstrategien. Ich möchte das anhand eines
Filmausschnitts aus Francis Lawrences Catching Fire und der entsprechenden Passage in
Collins Roman37 zeigen. Beide zeigen die „Opening Ceremonies“ der Jubiläumsspiele, in
denen die bereits zum Symbol des Widerstands gekürte Katniss endgültig vernichtet werden
soll.
Der Ausschnitt zeigt, wie Katniss’ Körper von drei männlichen Figuren im Kampf um die
jeweils angestrebte Gesellschaftsordnung imaginiert wird als „passiver Leib, der ihren
Bezeichnungspraktiken beliebig unterworfen werden kann“ . Sowohl Präsident Snow als Kopf
des unterdrückerischen Capitols als auch Katniss’ Stylist Cinna als Mitglied der
Untergrundorganisation und ihre Verbündeten Peeta und Haymitch eignen sich Katniss’ Körper
als „Resonanzraum für ihre rhetorischen Strategien“ an. Katniss kann nur überleben, indem sie
diese Rollen übernimmt. Dass die damit verbundenen Akte auch bei ihr jeweils die Illusion
einer bestimmten Identität generieren, kommt insbesondere im Roman zum Ausdruck, indem
sie die jeweiligen regulierenden Verfahren reflektiert: „It's so barbaric, the president turning
my bridal gown into my shroud, that the blow strikes home, leaving me with a dull ache inside“
(298), lautet ihre Reaktion auf Snows Versuch, sie auf ein besonders weibliches Bild, das der
Braut, zu reduzieren. „Cinna has turned me into a mockingjay“ (304); staunt sie wenig später
über ihre Metamorphose in das Symbol der Revolution, von der sie im Roman, anders als dies
der Film suggeriert, vorgängig keine Ahnung hatte. Peetas Deklaration ihrer vorgängigen
Verheiratung und Katniss’ Schwangerschaft schliesslich trifft einen wunden Punkt in ihrer
persönlichen Biografie: „Because for a moment, even I am working through what Peeta has
said. Isn’t it the thing I dreaded most about the wedding, about the future – the loss of my
children to the Games?“ (310) Zugleich wird hier die Bedeutung deutlich, die dem Bild der
traditionellen Familie nach wie vor zugemessen wird – es dient in den Hunger Games sowohl
auf Handlungs- wie auch auf der normativen Ebene immer wieder als Gegenbild zum
dystopischen System. Zentral erscheint mir hier allerdings der männerbündlerische Blick, den
Peeta und Haymitch tauschen. Nachdem sie sie gemeinsam zu einem Objekt des Begehrens
stilisiert haben, haben sie als raffinierte Denker der ahnungslosen Frau als passiver
Empfängerin nun auch noch ein Kind auf den Leib geschrieben und ihr damit das Bild der
Mutter übergestülpt.
85
Katniss kann diesen illusorischen Identitäten zwar keine kohärente, ‚wahre’ Identität
entgegensetzen; Text und Verfilmungen stellen Identität und Geschlecht im Sinne Judith
Butlers als performativ, als durch Handeln, durch die ständige Repetition kulturell geprägter
Akte, Gesten und Codes erzeugt dar. Zugleich aber ist das Individuum nie nur passives,
formbares Objekt oder „Leinwand“. Katniss ist der Aneignung durch mächtigere Subjekte,
ihren Bezeichnungspraktiken und Projekten zwar ausgesetzt, aber nicht vollkommen hilflos
ausgeliefert. Immer wieder tritt sie mithilfe kleiner subversiver Akte selbst als Akteurin auf,
wobei sie die ihr zugeschriebenen Bedeutungen zwar nicht aufheben, aber zuweilen unterlaufen
kann, um „more than a piece in their games“ (292) zu sein. Als sie in der Show spontan die
Hände der anderen Tribute ergreift, geht dieser Akt sofort in bewusste Reflexion um seine
Wirkung über: „the first public show of unity among the districts“ (311).
The Hunger Games lässt sich, um den Definitionen Andreas Mahlers zu folgen, durchaus als
„Diskursdystopie“ lesen, in der die Sprache der usurpatorischen Macht den Diskurs bestimmt
und die Unterdrückten innerhalb dieses hegemonialen Systems des Denkens und
Argumentierens verdammt sind, die ‚fremde Sprache’ zu übernehmen oder zu schweigen.
Doch während sich Joanna Mason im Film die ihr aufgezwungenen zeichenhaften
Einschreibungen in einer amüsanten Szene im Lift einfach vom Leib reisst und später nur mit
offenkundiger Zensur zum Schweigen gebracht werden kann, finden die anderen Tribute
Möglichkeiten, die ihnen vom System aufgezwungene Zeichenhaftigkeit direkt gegen dieses
System selbst zu richten.
Junge Frauen werden laut McRobbie im postfeministischen neoliberalen Geschlechtervertrag
dazu gezwungen, eine „illusorische Identität aufzubauen, die entsprechend einer rigide
durchgesetzten Skala weiblicher Eigenschaften definiert ist“ und der mit Hilfe unzähliger
Optimierungs- und Beratungsangebote zum Erfolg verholfen wird. Eine Möglichkeit aus
diesem Eingesperrt-Sein könnte ihr zufolge eine Subkultur sein, in der gegenseitige
Abhängigkeit und intensive Sozialität gefeiert wird. Wenn die Art und Weise, wie Katniss im
Zuge diskursiv ausgetragener Konflikte auf ein vergeschlechtlichtes Symbol reduziert wird,
von Text wie Film als Kritik an der Zurichtung weiblicher Identität inszeniert wird, dann liegt
der utopische Impuls in der zunehmenden politische Sozialisierung ihrer Figur. So arbeitet sich
Katniss an unterschiedlichsten politischen Vor- und Schreckbildern ab, entzieht sich immer
wieder dem Imperativ der Selbstoptimierung und knüpft stattdessen Bündnisse mit jenen
Subjekten, die im Wettbewerb, den das Capitol erzwingt, rücksichtslos zur Seite geschaufelt
werden. Gerade das aber ist ein klassisches feministisches Anliegen einer klassen-,
geschlechter- und „rassen“-übergreifenden Bündnispolitik und Sozialkritik.
In einer klassenübergreifenden Bündnispolitik scheint auf den ersten Blick auch der utopische
Impuls von Divergent (2011) zu bestehen. Der Auftakt von Veronica Roths Roman-Trilogie,
deren erster Teil von Neil Burger verfilmt wurde, folgt einem Musterschema dystopischer
Future Fiction: Die jugendliche Hauptfigur, die vom entsprechenden System sozialisiert wurde
und die LeserInnen in seine Strukturen einführt, betrachtet es zunächst als sinnvoll. Das
Erzählschema fokussiert sodann auf den Erkenntnisprozess, der das „nonkonforme“
Individuum von der Systemtreue über die kritische Hinterfragung zur offenen Rebellion führt,
wobei eine Liebesbeziehung oft als Katalysator fungiert. An Beatrice – Tris’ – Priors
Werdegang lässt sich das nachvollziehen.
Gezeigt wird eine „Kastengesellschaft“, in der die Individuen in ihrer jeweiligen Fraktion als
Wächter, Politikerinnen oder Philosophen ihren Beitrag für das Kollektiv leisten. Die von Kate
Winslet als kühle, skrupellose Frau verkörperte Jeanine Matthews, Kopf der Denkerfraktion,
tritt als eine Art Neo-Platon auf: Sie hält die Kernfamilie für überholt, ja hinderlich für ein
rational durchstrukturiertes System. Als Folge dieser Weltanschauungen trennen sich die
Jugendlichen mit 16 Jahren von ihrer Familie, um in den ihnen nach einem Test empfohlenen
86
Fraktionen zu leben. Jeanines Kontrastfigur ist Tris, die sich als "Unbestimmte" weder auf eine
Kaste festlegen lässt noch dazu bereit ist, die Beziehung zu Eltern und Bruder zu kappen, als
sie aus der Kaste der Selbstlosen in die Kaste der Furchtlosen übertritt.
Das System dient im ersten Teil von Roman und Film als Folie für eine als positiv inszenierte
Identitätsfindung. Tris wird dargestellt als ‚Top Girl’ – als eine der weiblichen Vorbildfiguren
des neuen Geschlechterregimes, wie es McRobbie beschreibt. Der im Rahmen dieses Regimes
ausgehandelte Geschlechtervertrag macht jungen Frauen aus westlichen Ländern das Angebot,
„öffentlich sichtbar zu werden, die Möglichkeiten des Arbeitsmarktes zu nutzen, sich
weiterzubilden, reproduktive Selbstbestimmung zu praktizieren und genug Geld zu verdienen,
um an der Konsumkultur teilzuhaben, die sich ihrerseits gerade zu einem der bestimmenden
Züge zeitgenössischer Modelle weiblicher Staatsbürgerschaft entwickelt.“ Der Preis, den
Frauen dafür zahlen, ökonomisch wertvolle, öffentlich sichtbare Subjekte zu sein, ist, dass sie
nach den grundlegenden Regeln des neoliberalen Geschlechtervertrags spielen.
Chancengleichheit erfolgt nicht mehr aufgrund radikal formulierter Sozialkritik, sondern in
Form einer weiblichen Individualisierung. Als vielversprechende künftige Arbeitskräfte
werden junge Frauen zu Vorbildsubjekten ausgerufen, die ihre Karriere
verantwortungsbewusst, autonom und mit dem Ziel sozialer Mobilität planen (Abb. 1); die aktiv
an ihrem Körper arbeiten (Abb 2), ihn laufend optimieren, fit halten und zugleich dafür sorgen,
dass er dem Ideal weiblicher Schönheit bei aller Angleichung an männliche Kompetenz gerecht
bleibt (Abb 3). Im Film betont die Kamera immer wieder Tris’ wallendes Haar und ihre
weiblich-weichen Linien, die auch gern in Kontrast zu den markanten Zügen des von ihr
begehrten Four gerückt werden. Gefragt sind Frauen, die viel Zeit und Energie in ihre
lebenslange Weiterbildung stecken; die wie Tris (Abb 4) ihre Position in den sozialen Rankings
sorgfältig überwachen und eventuelles Versagen auf mangelnde eigene Leistungsfähigkeit,
nicht auf systemische Schranken und Ausschlussmechanismen zurückführen. Frauen, die
sexuell befreit auftreten, sich aber rechtzeitig für ein heterosexuelles Beziehungsmodell
entscheiden, um später Berufstätigkeit und Mutterrolle kompetent zu managen.
Bilder aus: Neil Burger: Divergent (2014)
87
Ironischerweise ist es gerade das nicht eben auf Individualismus ausgerichtete Klassensystem,
in dem Tris sich zum vorbildhaften liberalen Leistungssubjekt entwickelt: Als „Unbestimmte“
verkörpert sie diesem als dystopisch markierten System gegenüber den Gegenwert: den Aufruf,
sich nicht etwa im Gewohnten einzurichten, sondern sämtliche Fähigkeiten aktiv auszubilden.
Aus der Kaste der Selbstlosen kommend, die sich u.a. durch fehlenden Stolz auszeichnet, lernt
sie zunächst die Freude an der aktiven Gestaltung des eigenen Körpers kennen; sie beklagt zwar
die dem Leistungsdruck nicht gewachsenen und daher aus der Fraktion ausgeschlossenen
KollegInnen, nimmt selbst aber bereitwillig und mit grossem Einsatz am Wettbewerb teil,
indem sie wie eine Raubkatze um ihren Rang im Punktesystem kämpft und sich beweist, anstatt
gegen das Leistungssystem anzutreten. Und während Tris sich schliesslich mit ihrer
Ursprungsfamilie vereinigt, kann die fehlgeleitete Präsidentin (Abb 5) als das Schreckgespenst
feministischer Politik gelesen werden, die traditionelle Verhältnisse zu Gunsten anderer
Lebensmodelle radikal hinterfragt: „Der Roman und seine Verfilmung zielen damit nicht auf
Transformation, (Abb 6&7) sondern auf die Stabilisierung aktueller Verhältnisse und
neoliberaler Werte wie Selbstoptimierung, Leistungssteigerung und Konkurrenz.“ Bei einer
Bekräftigung stabiler Geschlechterbeziehungen erfolgt zugleich eine Aufwertung der Frau als
ökonomisch wertvoller und sozial kompetenter Ressource.
Tris’ kompetente Teilhabe in einem durch Wettbewerb und Leistung geprägten Umfeld mag
emanzipatorisch erscheinen, gliedert sich aber, wenn man die Geschichte mit McRobbie liest,
nahtlos ein in eine neoliberale Geschlechterpolitik, in der junge, leistungsstarke Frauen
aufgefordert werden, Sichtbarkeit zu erlangen und nach „glamouröser Identität“ zu streben –
gerade auch auf Kosten weniger leistungsstarker und privilegierter Geschlechtsgenossinnen.
Dystopische Texte, welche auf die soziale Konstruiertheit von Identität fokussieren und dabei
eine radikal gefährdete junge Frau ins Zentrum stellen, können also mit ganz unterschiedlichen
Aussagen verbunden sein. Sie können Räume für eine Reflexion und Dekonstruktion von
Geschlechterregimes, Zuschreibungspraktiken und Weiblichkeitsbildern öffnen. Sie können
aber auch in Diskurse einstimmen, in denen junge Frauen jenseits sozialkritischer Analysen als
Leistungssubjekte angerufen und aufgefordert werden, sich ihre Teilhabe in bestehenden
Geschlechterregimes mittels spezifischer Individualisierungstechnologien zu sichern.
IV. „Céleste duftete nach warmer Erde“
Ich wende mich nun Texten zu, die nicht die Konstruktionsprozesse weiblicher Identität
thematisieren, sondern die Imagination prekärer weiblicher Zukunft mit einer Essentialisierung
von Identität und Geschlecht verbinden. Als aussagekräftiges Beispiel möchte ich Céleste
vorstellen. Es handelt sich um die Titelfigur eines an jüngere Jugendliche gerichteten Romans
des französischen Autors Timothée de Fombelle, der von Julie Ricossé illustriert wurde.
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Illustrationen: Julie Ricossé in: Céleste (2010/09)
Erzählt wird die Geschichte nicht von der Titelfigur selbst, sondern von einem männlichen IchErzähler. Dieser hat zwar keinen Namen – dafür aber einen ausgeprägten Charakter und
individuelle Eigenschaften. Mehr noch: Er ist nicht nur der aktiv Handelnde, sondern auch der
Chronist und Berichterstatter, wenn er rückblickend und handschriftlich die Ereignisse
schildert, in deren Verlauf er Céleste kennen und lieben gelernt hat.
Céleste hingegen, deren Herkunft unbekannt bleibt, hat einen Namen und einen Körper, der
vom Erzähler am markantesten mit den Worten „Céleste duftete nach warmer Erde“
beschrieben wird. Ansonsten werden ihr keine persönlichen Eigenschaften zugeschrieben; sie
kann so beliebig mit Attributen traditioneller Weiblichkeit versehen werden.
Célestes Körper ist nicht nur das Objekt der Beobachtung, Beschreibung und des Begehrens
des Ich-Erzählers; sie personifiziert "Mutter Natur", verkörpert ihr Leiden an der
zerstörerischen – und sehr phallischen – gläsernen Zukunftsgesellschaft: Alle
Umweltkatastrophen zeichnen sich direkt auf ihrem Körper ab. „Céleste litt an nichts anderem
als an der Krankheit unseres Planeten.”52 Célestes Leib dient damit als Zeichen, das für die
LeserInnen Warnfunktion übernimmt. So folgert der Ich-Erzähler: „Wenn jemand erfuhr, dass
ein vierzehnjähriges Mädchen in jeder Sekunde am eigenen Körper erlebte, was wir unserem
Planeten antun, (...) wenn die Welt darüber Bescheid wüsste, wäre nichts mehr wie vorher.“
Mit ihrer Krankheit verkörpert Céleste aber auch die ohnmächtige, leidende Frau. Es ist die
Ausstrahlungskraft ihres Leidens, die sie zu einer kollektiven Mahnfigur und zu einer
"disruptive force" macht, indem sie den noch kindlichen Ich-Erzähler ausschliesslich durch ihre
Körperlichkeit zum Widerstand gegen ein ökologisch desaströses Wirtschaftsimperium bewegt.
Folgt man den Arbeiten von Ralf Konersmann und Georg Bollenbeck zu Formen und
Funktionen moderner Kulturkritik, dann ist die in "Céleste" geübte Kritik trotz humorvoller
Elemente und Ironisierungen klar als restitutiv erkennbar: Die Entwicklung der Menschheit
wird als Abkehr von einem imaginierten Naturzustand, einem „ursprünglichen Sinn“ erzählt,
den es wiederherzustellen gilt; der Zustand der Gegenwart wird mittels stark normativer
„Pathologiebefunde“ in eine „Verlustgeschichte eingeordnet“. Das Kind, insbesondere das
romantisch aufgeladene weibliche Kind, fungiert dabei als „kulturkritische Projektion“, als
„Versprechen des ganz Anderen“, des paradiesischen Naturzustandes. Céleste wird die Mutter
des Ich-Erzählers als Kontrastfigur entgegen gestellt, die rund um die Uhr berufstätig und auch
visuell in die phallische Ordnung der Türme integriert ist, anstatt ihre „natürliche“ Mutterrolle
zu erfüllen. In dieser Kontrastierung wird Weiblichkeit schematisch ab- oder aufgewertet und
auf die von Gioconda Belli beanstandeten „eindimensionalen Schwarzweissporträts“ reduziert.
Zugleich werden traditionelle Geschlechterdualismen und -rollen, deren Allgemeingültigkeit
irrtümlicherweise als revidiert gelten, restauriert. Am Ende erfahren wir, dass es der Welt „viel
besser“ geht, weil die online verbreiteten Bilder von Célestes versehrtem Körper ihre
Warnfunktion erfüllt hätten. Welche konkreten strukturellen, sozialen, politischen und
wirtschaftlichen Veränderungen eines globalen Ultra-Kapitalismus dazu nötig waren, erfahren
wir nicht: Stattdessen wird suggeriert, dass das in trauter Zweisamkeit und im Schoss der Natur
vereinte Paar für diese Besserung zuständig ist. Anstatt die eigene Gesellschaft durch
Extrapolation kritisch zu reflektieren, werden der dystopischen Welt also auch in Céleste
liebevoll ausgemalte traditionelle Werte entgegen gehalten, wie Spiegel dies für die klassische
Dystopie konstatiert. Die konkrete weibliche Figur wird zu diesem Zweck idealisierend
überhöht, zugleich aber auf eine Allegorie reduziert, die mit einer einzigen
Deutungsmöglichkeit oder doch zumindest starken Vorzugslesart aufgeladen wird. Und die
Kulturkritik, die sich als Besorgnis um eine fragile Umwelt ausgibt, zielt letztlich mehr auf eine
Wiederherstellung traditioneller Geschlechterbilder und -verhältnisse.
89
Mit diesem Konservatismus ist Céleste nicht allein. Zahlreiche Öko-Dystopien und
SurvivorTexte propagieren, wie Eva Horn dies für die Katastrophenfantasie der Moderne
festhält, angesichts der Katastrophe die Besinnung des Menschen auf die „wirklich wichtigen
Werte“ und das Erlernen von Verhalten, das sein Überleben wie seine Humanität sichert. So
wird die klassische Kernfamilie im Bild der Arche wiederholt als Symbol des Lebens und des
Widerstandes gegen eine anarchische Gesellschaft beschworen und der Frau dabei die Funktion
der utopischen Ressource zugewiesen. Etwa, wenn im 3. Band von Susan Beth Pfeffers Last
Survivors-Trilogie ein Freund der Familie sagt: „Our future is in this house right now. The
children Syl will bear. Miranda and Julie, too. Their babies, born and unborn, are God’s gift to
the future, just as the ark was.” Die Beispiele zeigen, dass die Imagination der Zukunft mit
einer narrativen Restauration traditioneller Geschlechterverhältnisse und -rollen einhergehen
kann, wobei die Protagonistin als kulturkritische Projektion fungiert, während ihr Handlungsund Identitätsspielraum dramatisch eingeschränkt und wieder auf klassische Rolle und Räume
begrenzt wird. Die Kritikfunktion in Bezug auf ökologische Fragen ist dabei gering; in ihrem
Ursprung oft diffus, wird die Katastrophe als Gefährdung humanistischer Werte inszeniert, die
nur in klassischen Geschlechterstrukturen verteidigt werden können.
V. Of „techno-semantic marvel(s)“
Zum Abschluss komme ich auf eine Figur zu sprechen, die dezidiert zur Reflexion traditioneller
Identitäts- und Geschlechterkonzepte einlädt. Wir lernen Rose aus John M. Cusicks Girl Parts
im Moment ihrer Geburt kennen.
„The Sakora logo protruded from the surface of the case like a button. David pressed it. Something
hissed inside, and the panels of the box began to slide away. Steam rose from within, machinery
turned and whirred, and the panels tipped outward so that now the egg was a padded pink flower
blossom. The mist cleared, and she was standing there, eyes open.“
Mit Rose gesellt sich im Rahmen einer Science Fiction-Erzählung eine Kunstfigur ganz anderer
Art zu den bisher vorgestellten Wesen. Rose ist wohl kulturkritische Projektion, aber keine,
die auf Restauration pocht. "Geboren" wird sie aus einem „Ei“, Symbol von Fruchtbarkeit,
Leben und Geburt; entstanden aber ist sie im Hightech-Labor, produziert vom fiktiven
japanischen Techno-Konzern Sakora Solutions. Ihr Gehirn, ein Prozessor, der aufgrund von
einprogrammierten Befehlen hochkomplexe Datenverarbeitung leistet, ist über Satellitenlink
mit der Datenbank von Sakora verbunden. Eine eingebaute Intimacy Clock erlaubt oder versagt
ihr sexuelle Kontakte mit David: Vorzeitig von ihm berührt, versetzt sie ihm einen
Elektroschock von 250 Volt. Trotz ihres Hightech-Körpers aber zeigt Rose Eigenschaften, die
mit Menschlichkeit assoziiert werden: Sie ist lernfähig, kreativ, entwickelt eigene Interessen,
Ansichten und sogar eine eigene Ethik, die sich nicht mit Davids deckt. Kurz: Rose, dieses
„Mädchen“, dessen „Ursprung“ und Blumenname „Natürlichkeit“ suggerieren, während ihr
Körper ein technowissenschaftliches Konstrukt ist, gehört zur „Spezies“ der Cyborgs. Als
"kybernetische Organismen, Hybride aus Maschine und Organismus, ebenso Geschöpfe der
gesellschaftlichen Wirklichkeit wie der Fiktion" hat Donna Haraway die Cyborgs in ihrem
(nicht nur) in den Kulturwissenschaften kontrovers diskutierten Manifest für Cyborgs
beschrieben. Ausgehend von den Cyborgs der feministischen Science Fiction konzipiert
Haraway die Cyborg als „eine Fiktion [...], an der sich die Beschaffenheit unserer heutigen
gesellschaftlichen und körperlichen Realität ablesen lässt“, als „verdichtetes Bild unserer
imaginären und materiellen Realität, den beiden miteinander verbundenen Zentren, die jede
Möglichkeit historischer Transformation bestimmen“. Hier stellt sich nun die Frage, ob ein in
den 1990er-Jahren mit grosser Hoffnung in den feministischen und kulturwissenschaftlichen
Geschlechterdiskurs eingebrachtes Wesen auch in aktuellen Texten einen Beitrag zur
Kulturkritik leisten kann. Ich würde behaupten, dass auch Rose als „verdichtetes Bild“ und als
konkreter Ausdruck gegenwärtiger körperlicher und sozialer Erfahrungen gelesen werden.
90
Auch ihr ist nebst ihrem kulturkritischen Potenzial ein durchaus utopischer Impuls
eingeschrieben. Bildhaftigkeit, Ausdruck konkreter Erfahrung und Möglichkeiten der
Transformation verschränken sich in ihr auf ironisch-kritische Weise.
Cyborgs werden nach Haraway, „im Rahmen der herrschenden gesellschaftlichen
Wissenschafts- und Technologieverhältnisse hervorgebracht“. So zeugt Rose als „verdichtetes
Bild“ ganz konkret von dem, was „als Erfahrung der Frauen“ in einem spezifischen
soziokulturellen Kontext zu betrachten ist. Cusick siedelt ihre Hervorbringung im Kontext einer
hochtechnologischen, materialistischen und dezidiert westlichen Konsum- und
Informationsgesellschaft mit ausgeprägter Konzernmacht und einem prekären
Geschlechterverhältnis an; in einer "Hyperkultur kommerzialisierter Sexualität" , wie
McRobbie sie wohl bezeichnen würde. In dieser postfeministischen Kultur sind junge Frauen
rechtlich zwar gleichgestellt, im Alltag aber in Bezug auf ihren Körper nicht nur einem
ständigen „Optimierungsgebot“ unterstellt, Von Interesse ist hier, wie Weiblichkeit und
Heteronormativität produziert werden, und zwar konkret in Konsumgesellschaften, die in
sozialer, politischer und ökonomischer Hinsicht davon profitieren. Die Thematisierung dieses
Konstruktionsprozesses in einer von der Kybernetik inspirierten Rhetorik, wie sie für sie SF
konstitutiv ist, hat also nicht allein den Zweck, die Figur für die LeserInnen plausibler bzw.
„wissenschaftlicher“ zu gestalten. Nur als materielles Symbol vermag Rose Auskunft zu geben
über Sexualität, Produktion, Reproduktion, Arbeit, Kommunikation und Vernetzung in einer
Cyborgkultur, in der Maschine und Organismus machtvoll verkoppelt sind und diese
Verkopplung sowohl Albträume als auch utopische Visionen generiert.
Das lässt sich anhand ihres ersten Auftritts im Roman demonstrieren. Produziert wird sie als
Companion im Rahmen eines neuen „Therapieprogrammes“ für männliche Teenager, bei denen
eine Entfremdung von der Realität durch zu viel Online-Zeit und, damit einhergehend, fehlende
Empathie und Bindungsfähigkeit diagnostiziert wurden. Auch David Sun wird mit diesem – im
Roman ironisierten - Pathologiebefund ins Companion-Programm aufgenommen und mit einer
entsprechend auf ihn programmierten Begleiterin beliefert. Begeben wir uns also in die
Auffahrt seiner Villa am Seeufer, wo Sakora Solutions Roses Ei abgesetzt hat und die Cyborg
„zum Leben erwacht“ ist.
„She was unbelievably, unspeakably hot.
David had taken Sakora’s online personality test – favorite movie, most embarassing memory, even
really private stuff like ‚How many times a day do you masturbate (on average)?’ But there’d been
no ‚Do you prefer redheads?’ or ‚Are you a tits man or an ass man?’
The Companion wasn’t just beautiful; she was his kind of beautiful. Tumbling red hair, pouty
mouth, emerald eyes, and that small, soft body he liked. With his crew, David hollered after spindly
supermodel types.
But privately he liked girls round in all the right places. And this girl was round in all the right
places. This ‚girl.’ There was a fiberglass skeleton under that creamy skin, and a CPU behind those
eyes. But she stared back at him, eyes fixed to his, lips slightly parted, as if he was the miracle of
science. David was speechless. (...) He never felt awkward in front of girls, but this was somehow
different. Say something! David’s mind, faced with unfamiliar territory, became a feedback loop,
asking itself over and over again what to do. None of his trusty icebreakers seemed right, and so
David resorted to a default, the lamest thing imaginable: a handshake.
Meanwhile, in Rose’s brain, nothing was that complicated.
If David’s mind was a loop, Rose’s mind was an arrow. It pointed to David. The rest of reality,
whatever didn’t fall along the length of the arrow, was insignificant.
A satellite link connected Rose to a data bank at Sakora HQ in Japan. As her emerald eyes passed
over the lawn, information queued for access. Grass. Flower pot. Stairs. Driveway. Tree. Each node
was the center of its own web. Tree connecting to Green, Poplar, Seasons, Paper...
91
This complex veil, pierced by Rose’s unwavering arrow, was a techno-semantic marvel. And yet
at three minutes old, her thoughts were as simple as Dr. Roger’s red wooden bird dipping its beak
into a glass of water over and over and over.
David extended his hand. Without hesitation Rose shook it, and as she did, spoke a message: „Hello,
David. My name is Rose. It is a pleasure to meet you. We are now entering minute two of our
friendship. According to my Intimacy Clock, a handshake is now appropriate.’ ‚Oh! Uh, OK. I...’
‚As we get to know each other, we’ll have access to more intimate forms of expression.’ Here Rose
cocked her hip and winked. ‚And I am looking forward to getting to know you better.’
Inside Rose’s brain, *mmonroe.exe registered complete.
Bereits in diesem Abschnitt wird Cusicks Spiel mit der Bild- und Zeichenhaftigkeit der Cyborg
deutlich. Im Alter von drei Minuten besitzt Rose den Status eines Zeichens, das lediglich auf
einen imaginären Referenten verweist: den männlichen Traum von der perfekten Gefährtin, die
all „seine“ Wünsche und Sehnsüchte ausdrückt. Indem sie „his kind of beautiful" personifiziert,
repräsentiert Rose auf der Handlungsebene Davids erotische Imagination, die aber keine
heimliche, private ist, wie er glaubt: Die ihr einprogrammierten Verhaltensmuster
reproduzieren hegemoniale Bilder von Weiblichkeit und stelle diese zugleich performativ her.
Mehr noch: Geschlechtsidentität selbst erweist sich im Sinne Butlers als "eine Art ständiger
Nachahmung [...], die als das Reale gilt".
Was Rose betrifft, so haben popkulturelle Ikonen wie Marilyn Monroe und die personifizierte
Koch-Marke Betty Crocker bei der Konstruktion der „idealen“ Frau, ihrer Schönheit, Tugenden
und Fähigkeiten Patin gestanden. Durch die „Aufführung“ der ihr einprogrammierten
Geschlechtersprache und entsprechender Verhaltensmodelle, die sie bis in die kleinsten Gesten
hinein beherrscht, ordnet sich Rose zunächst brav in die ihr zugedachte Position im
Geschlechter-Zeichensystem ein. Die Parodie des weiblichen „Geschlechtscharakters“ durch
eine ihn imitierende Cyborg spiegelt bei Cusick also zuallererst das hegemoniale Frauenbild,
in dem die Frau durch das Begehren des Mannes konstituiert wird, und verweist zugleich auf
den zeichenhaften und performativen Charakter von Geschlecht. Mit ihrer Performanz
verkörpert Rose zwar den Inbegriff von Weiblichkeit; diese aber besitzt, wie an ihrem
Cyborgkörper bereits an dieser Stelle deutlich gemacht wird, keine Essenz im Sinne eines
biologischen, wahren Kerns (mehr), sondern stellt wie der weibliche „Geschlechtscharakter“
eine kulturelle Konstruktion dar . Mit derlei Konstruktionen des Subjekts „Frau“ aber geht auch
eine „unvermeidliche Regulierung und Verdinglichung der Geschlechterbeziehungen“ einher,
indem das weibliche Subjekt seine „Stabilität und Kohärenz nur im Rahmen der heterosexuellen
Matrix“ gewinnt. In noch tiefer greifendem Mass als Katniss, die für das CapitolPublikum auch
erst dann wirklich in Erscheinung tritt, als sie in Bezug zu Peeta gesetzt und als Objekt seines
Begehrens konstruiert wird, wird Rose von Anfang an durch ihre Programmierung auf David
definiert. Die Welt ausserhalb des Pfeils, der diese heterosexuelle Matrix absteckt, ist für die
intendierte Konstitution ihrer Identität belanglos. Auch als Rose ihren Link zu Sakora im
Verlauf der Geschichte kappt, bleibt ihre Fixierung auf David stabil; selbst die abtrünnige
Sakora-„Mechanikerin“ May Poling kann ihr nicht helfen, zu tief eingeschrieben ist das
regulierte Begehren. Doch schon ehe der Roman diesbezüglich so explizit wird, führt Rose als
Symbol für die Macht von Geschlechternormen auf bereits jungen LeserInnen zugängliche
Weise vor, wie Geschlecht und Geschlechterhierarchien produziert und reguliert werden und
sich darüber hinaus oft in einem Besitzverhältnis manifestieren. Und darin liegt der
kulturkritische Impuls des Textes – nicht in den futuristischen Technologien selbst, die es, um
mit Haraway zu sprechen, im Hinblick sowohl auf ihr utopisches als auch auf ihr
unterdrückerisches Potential durchaus im Auge zu behalten gilt .
Cyborgs wie Rose tragen aber neben ihrem kritischen auch verheissungsvolles Potential. Ihre
unabgeschlossene, fluide und hybride Identität ist besonders offen für Verbindungen,
92
Bündnisse und Allianzen, die nicht mehr auf sogenannt „natürlicher“ Verwandschaft, sondern
auf Affinität und Solidarität beruhen. Sie überschreiten starre Grenzen und stellen traditionelle
Geschlechterzuschreibungen zugunsten vielfältigerer und weniger hierarchischer Modelle in
Frage. Nicht zuletzt entwickelt sich Rose im Lauf ihres Emanzipationsprozesses von einem
Zeichen zu einer Akteurin, die ihren eigenen Weg findet.
VI. «The world may need you, one day» - Fazit und Ausblick
In der aktuellen Future Fiction sind junge Frauen so sichtbar wie noch nie; sie stehen im
Zentrum des Geschehens und des Begehrens. Ihnen gilt die Aufmerksamkeit, die Besorgnis,
die Bewunderung. In vielen Arbeiten und Rezensionen dominiert die Freude über ihre
Sichtbarkeit und das Aufbrechen traditioneller Rollenzuschreibungen. Betont werden ihre
emanzipatorischen Aspekte, manche von ihnen werden gar zu feministischen Ikonen stilisiert.
Für die Jugendliteraturforschung stellen diese jungen Frauen ein äusserst interessantes Feld dar,
und aus Sicht einer feministischen Kulturwissenschaft bieten sie auch tatsächlich viel
emanzipatorisches Potential. Dennoch verbergen sich hinter den auf den ersten Blick
progressiven Weiblichkeitsentwürfen nicht selten traditionelle Geschlechterbilder, die als
Gegenmodelle gegen ein dystopisches System ausgespielt und restauriert werden. Mit Blick auf
die feministische Theorie möchte ich ausserdem dafür plädieren, die neue, starke Weiblichkeit,
wie sie in einigen dieser Texte ins Licht tritt, auch vor dem Hintergrund einer Ökonomisierung
der Ressource Frau zu sehen – und nicht einfach als Merkmal solidarischer Gleichberechtigung
oder gar einer sozialeren Gesellschaft. Tally Youngblood, die Heldin aus Scott Westerfelds
UgliesSerie brilliert als ständig an sich arbeitende Figur zwar am Ende mit ihrer
unübertrefflichen Leistungsstärke; sie ist, wie es auf dem Cover der englischen Ausgabe heisst,
„Frighteningly beautiful. Dangerously strong. Breathtakingly fast.“ Ihre Schöpferin, von der
sie sich emanzipiert hat, entlässt sie mit den Worten: „Leave, and for my sake, keep yourself
special. The world may need you, one day“ in die Freiheit. Aber selbst wenn Tally zur totalen
Figur erhoben wird, von der nicht weniger als die Rettung der Welt verlangt wird, halte ich die
Ermächtigungsphantasie, die Rose ausdrückt, letztlich für mindestens genauso wichtig. Die
findet im Lauf der Erzählung nicht zuletzt mithilfe einer intensiv gelebten weiblichen
Solidarität zu ihrer ganz eigenen, aus männlichen Besitzansprüchen befreiten Sexualität – und
sie entwickelt sich von einer Karikatur des patriarchalen Traums von der perfekten Gefährtin
zu einer jungen Frau, die ihren männlichen Gefährten diesen Traum regelrecht um die Ohren
haut.
12. Ulrike Eder – Vielerlei Deutsch
Eder behandelt heute die Varietäten der deutschen Sprache, spricht somit ein
sprachwissenschaftliches Thema an, obwohl sie normalerweise im Bereich Daf/Daz tätig ist.
Varietäten gibt es in vielen Gebieten, sie nennt das Beispiel Jänner - Januar. Das ist ein Beispiel
für eine Standardvariante. Laut „Varianten Wörterbuch der deutschen Standardsprache von
Österreich, Deutschland, Schweiz, Liechtenstein, Ostbelgien und Südtirol“ ist Jänner ein
Begriff der österreichischen Standardsprache und kein umgangssprachlicher Ausdruck. Sonst
ist der Begriff im Süden Deutschlands verbreitet und wird auch in der Schweiz verwendet, dort
jedoch eher als mundartlicher Begriff. In Österreich wird Januar eher in sehr formellen
Kontexten verwendet.
Unterscheidung: Varietät und Variante


Varietät: Betrifft die gesamte Sprachgruppe
Variante: Betrifft ein konkretes Wort
12.1 Grundlegende Sprachwissenschaftliche Informationen zu Variationslinguistik
93
Variationslinguistik: Spezialgebiet innerhalb der Sprachwissenschaft, das sich mit der
Untersuchung und der theoretischen Modellierung von Varietäten innerhalb einer Sprache
befasst. Seit 1960 Jahren in der Linguistik etabliert.
Für die deutsche Sprache ist festzuhalten, dass sie einen großen inneren Variationsreichtum
aufweist. Vielfalt bezieht sich nicht nur auf Varietäten der deutschen Sprache, sondern auch auf
die Vielfalt der verschiedenen Sprachen, die im deutschsprachigen Raum gesprochen werden
und die Einfluss auf die Varietäten haben. Variabilität ist ein besonderes Charakteristikum der
deutschen Sprache. Deutsche Sprache ist eine ausgesprochen inhomogene Sprache. Sprachliche
Ausdrucksformen unterscheiden sich auf verschiedenen Ebenen, sprechen von verschiedenen
Sprachen und innerhalb dieser von verschiedenen Varietäten und wieder innerhalb von
verschiedenen Registern/Stil. Klare Abgrenzungen sind oft schwer vorzunehmen. Begriffe sind
stark diskutiert in der Variationslinguistik.
Sprachen: ob Sprache als Sprache anerkannt wird hängt von der Normierung ab, also damit,
ob und inwiefern die Sprache innerhalb eines Staatsgebiets zum Beispiel als Amtssprache
Verbreitung findet.
Varietäten: sind Subsysteme von Sprachen, als handelt sich um eigenständige Subcodes, sie
haben systematische, lexikalische und grammatische Eigenschaften, die sie von anderen
Varietäten unterscheidet. Einzelne konkrete Formen innerhalb der Varietät werden als
Varianten bezeichnet. Diese treten auf unterschiedlichen linguistischen Ebenen auf.
12.1.1 Dimensionen der Variation
Es gibt auch unterschiedliche Dimensionen der Variation innerhalb von Sprache:




Diachrone Variation: Wandel einer Sprache oder Varietät innerhalb von Zeit.
(Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch)
Diatopische Variation: Variation im Raum. In verschiedenen Regionen wird
verschiedenes Deutsch gesprochen.
Diastratische Variation: Steht in Verbindung mit Gruppenzugehörigkeit der
Sprecher_innen.
Diaphasische Variation: beschreibt unterschiedliche Register, die in verschiedenen
Sprechsituationen gewählt werden.
12.1.1.1 Räumliche Variation - Diatopische Variation
Man unterscheidet zwischen


den verschiedenen Ländern und Regionen, in denen Deutsch gesprochen wird, und
innerhalb dieser Länder zwischen Standardsprache, Umgangssprache, Regionalsprache
und Dialekt.
Unterschieden wird auf Basis der kommunikativen Reichweite. Standardsprache weist eine
große kommunikative Reichweite auf, während Dialekte nur kleinräumig verwendet werden.
Herausragender Charakteristikum der deutschen Standardvarietäten sind ihre Normierungen.
Die deutsche Sprachgeschichte ist seit dem Ende des Mittelalters von starken
Standardisierungen geprägt (zunächst im schriftlichen, dann auch im gesprochenen Deutsch).
Seit der Mitte des 20. Jhd. zeigt sich eine deutliche Tendenz zur Destandardisierung.
Gleichzeitig gibt es etwa in weiten Teilen Nord- und Mitteldeutschlands einen deutlichen
Dialektschwund.
Der Übergang zwischen Standard und Dialekt ist im Grunde fließend. „Die eine
Standardsprache“ ist eine idealisierte, im Alltag nicht realisierte variationsfreie und
94
überregional gültige sprachliche Ausdrucksform (= künstliches Konstrukt einer Sprache, die es
nicht gibt  Idealsprache).
Dialekt (kleinräumliche Verbreitung, minimal an der Standardsprache angelehnt)
Umgangssprachen/Regionalsprachen: alle Varietäten, die in dem Kontinuum zwischen
Dialekt und Standard zu finden sind Deutsch ist in mehreren Ländern Amtssprache.
Die Standardvarietäten in den Ländern unterscheiden sich zum Teil stärker, als man das auf den
ersten Blick annehmen würde.
Ulrich Ammon:


Drei nationale Vollzentren: D, Ö, CH – deren jeweilige Varietäten kodifiziert sind
Nationale Halbzentren: Liechtenstein, Luxemburg, Südtirol, Ostbelgien – orientieren
sich an den nationalen Kodizes anderer Staaten und weisen keinen eigenen Kodex auf
Unterschiede zwischen Standardvarietäten: in Bereich der Lexik, Lautung, Grammatik und
Orthografie
Variantenwörterbuch des Deutschen: Es wird an einer Neubearbeitung gearbeitet (Frau Prof.
Lenz) wichtigstes Nachschlagewerk, herausgegeben von Ulrich Ammon (2004) zeigt die
Unterschiede zw. Vollzentren und Halbzentren, zeigt auch die Verteilung der einzelnen
Varianten innerhalb der großen Sprachräume (Österreich ist z.B. 4x unterteilt, Deutschland 6x).
In Österreich gibt es alle verschiedenen Varietäten der deutschen Sprache: Umgangssprache,
Gruppensprache, Standardsprache und Dialekte. Der Begriff österreichisches Deutsch =
österreichische Standardsprache und seine Varianten der deutschen Sprache;
Es ist nicht korrekt, von einer eigenen Sprache „Österreichisch“ zu sprechen. Es handelt sich
um eine Standardvarietät der deutschen Sprache, die als österreichisches Deutsch bezeichnet
wird.
Ebener (2009) Unterschiede zwischen österreichisches Deutsch und deutschen Standardsprache
in Deutschland beim Wortschatz ca. 3 % (8000 spezifische Wörter von ca. 220 000
Gesamtwortschatz). Verständigung deswegen sehr gut, gemeinsame Medienangebote fördern
im rezeptiven Bereich die gegenseitige Verständlichkeit.
Trotzdem kommt es auch zu Missverständnissen, zum Beispiel im Bereich der Syntax:
„Ich habe gesessen, nachdem ich gestanden habe.“ Nachdem jemand ein Geständnis abgelegt
hat, ist er ins Gefängnis gekommen (Ö). In D würde der Satz nur bedeuten, dass eine Person
sich niedergesetzt hat, nachdem sie gestanden ist. In Deutschland wird das Perfekt von stehen
mit haben gebildet, in Österreich mit sein.
Wichtig im Hinblick auf literarische Texte sind die Unterschiede in der Erzählzeit im
oberdeutschen Raum (Ö, Süd-D, CH): Perfekt statt Imperfekt. Nicht nur im mündlichen,
sondern zunehmend auch im schriftlichen Bereich.
12.1.1.2 Diastratische Variation
Soziolinguistik untersucht den Sprachgebrauch im sozialen Kontext.
Soziolinguistische Variablen: Alter, Geschlecht, soziale Schicht, ethnische Herkunft…
Soziolekt bzw. Gruppensprache: Sprechweisen unterschiedlicher sozialer Klassen, in Bezug
auf die deutsche Sprache aber nicht ganz passend, denn der Gebrauch bestimmter Varietäten
ist hier nur relativ schwach an soziale Unterschiede gebunden. Und die Varietäten werden über
die sozialen Grenzen hinweg gebraucht. Soziolekte des Deutschen sind demnach schwer zu
definieren. Dietmar definiert Soziolekte als Gruppensprache.
95
Bsp. für Gruppensprachen:




Fachsprachen (Varietät für bestimmte berufliche Tätigkeiten oder bestimmte
wissenschaftliche Bereiche),
Genderlekte (Besonderheiten der Sprache von Männer und Frauen, seit 1970 Jahre wird
intesiv in diesem Bereich geforscht, weibliche Register, auch von Männer verwendet,
Mechanismen mit denen eigenen Aussagen abgeschwächt werden, oder Gültigkeit
hinterfragt wird zB „es scheint, dass“, weibliche Register oder Stile werden in der
Kommunikation, also im Austausch mit dem Gesprächspartner erzeugt, diese
Aushandlungsverfahren werden als Doing-Gender bezeichnet),
Ethnolekte,
Jugendsprachen
Jugendsprache
Eine transitorische also vorübergehende Gruppensprache ist die Jugendsprachen, ist eine
diastratische Variation. Jugendsprachforschung begann in Deutschland in den 1980er Jahren
Jugendsprachen sind temporär begrenzt – Gerontolekt: sprachl. Ausdrucksform, deren
SprecherInnen durch deren biologisches und soziales Alter erfasst werden können.
Merkmale der Jugendsprachen:






rhetorische Verfahren wie Sprachspiele (Verfremdung oder Ironisierung der
Erwachsenenwelt)
typische verbale Verfahren wie der Gebrauch verschiedener Partikel (ey,…)
Steigerungs- und Wertungsbegriffe (voll, total…)
Entlehnung von Medien (Comics, Computer, Musik, Fernsehen)
Entlehnungen aus anderen Sprache (z.B. Englisch)
Sprachliche Kreativität – Wortneuschöpfungen und semantische Umdeutungen
Jugendsprache ist Aspekt der Jugendkultur und ist oft Bestandteil der Gruppenidentität von
Jugendlichen.
Jugendsprache in der Literatur zu simulieren ist sehr schwierig, da Jugendsprache ja sehr
kurzlebig ist und Literatur möchte doch langlebiger sein und der Versuch als Erwachsenerer,
wie ein Jugendlicher zu schreiben, kann schnell als Anbiederung interpretiert werden.
Ethnolekt (besondere Form der Jugendsprache)
Ethnolekt = Der spezifische Sprachgebrauch in multiethnischen Jugendgruppen. Entwicklung
seit den 1980/90er-Jahren in städtischen Lebenswelten unter Jugendlichen der 2. und 3.
Zuwanderergeneration unter Praktiken des Code-Switching und Code-Mixing. Beim
erstmaligen Hinhören wirken Ethnolekte oft wie grammatikalisch falsches Deutsch, wo auch
immer wieder z.B. türkische Wörter miteingebunden sind. Untersuchungen zeigen aber, dass
diese Jugendlichen durchaus in der Lage sind, die deutsche Sprache auch normgerecht zu
verwenden, Ethnolekte sind also KEINE Lernervarietäten. Ethnolekte sind also wie
Jugendsprachen ein spezifisches Register, das in bestimmten Situationen, zB mit der PeerGroup verwendet wird. In Ethnolekten wechseln oft zwischen verschiedenen Varietäten.




an keine ethnische oder sprachlichen Gruppen gebunden, auch von dt. Muttersprachlern
gesprochen, kann deswegen auch den Begriff Multiethnolekt verwenden.
mit multiethnischen Milieus assoziiert
auffallendes Element: Rhythmus, bestimmt phonetische und syntaktische Strukturen
mitbestimmt
Oft mit mangelhaften Sprachkenntnissen verbunden (fälschlicherweise)
96
Unterscheidung von Auer (2003):




Primärer Ethnolekt: neue Sprachform, die in der Großstadt-Ghettos unter Jugendlichen
der 2. Und 3. Generation entsteht
Sekundärer Ethnolekt: Formen der medialen Verarbeitung und Stilisierung des primären
Ethnolekts
Tertiärer Ethnolekt: von Jugendlichen aufgegriffene Formen des sekundären Ethnolekts
(ohne „act of identity“ – sie identifizieren sich nicht mit den primären Sprechern)
De-Ethnisierung des Ethnolekts: Übernahme des primären Ethnolekts von Jugendlichen
jeglicher Erstsprachen als normale Ausdrucksweise (in multiethnischen Stadtgebieten)
12.1.1.3 Situationsabhängige Variation - Diasphasische Variation
Unterscheidung:
Mündlich – schriftlich
(schriftlicher Sprachgebrauch meist sehr an der Norm orientiert, es gibt aber auch Ausnahmen,
wissenschaftlicher Vortrag weist einen fachsprachlichen Wortschatz auf; E-Mail, SMS
enthalten trotz ihrer Schriftform oft dialektale Elemente oder Elemente aus Jugendsprachen)
Formell – informell (im formellen Bereich richtetet sich der Sprachgebrauch eher nach der
Sprachnorm)
12.2 Rolle und Funktionen der Varietäten der deutschen Sprache in der Jugendliteratur
12.2.1 Dialekt
„I hau alaweu zua“ (1974) von Christine Nöstlinger erschienen in „Iwa de gaunz oamen
Kinda“
Literarische Funktion von Dialekt in dem Gedicht:




Unmittelbarkeit (Kleinräumigkeit) – je dialektaler ein Ausdruck ist, desto kleinräumiger
wird er verwendet, private Atmosphäre; dadurch auch.
räumlich zuordenbar: Bub, der in Wien gelebt hat
sozialer Kontext: Bub aus nicht so gutem Hause, kleinbürgerliche Verhältnisse,
vielleicht proletarisch
Klanggefühl der Wiener Mundart
Nöstlinger war zu dem Zeitpunkt schon eine bekannte Kinderautorin. Nöstlinger bezeichnet die
verwendete Sprache in diesem Band als ihre eigene Sprache der Kindheit. Daniela Striegl,
identifiziert diese Gedichtband als einer der Grundbücher der österreichischen Literatur seit
1945, ist ein Paradoxon, denn Gedichtbuch hat gute Verkaufszahlen, das ist für Gedichte aber
sehr unüblich. (Auflage von 20.000 Stück), 2009 Gesamtband „Iwa de gaunz oamen leit“
Parallelen zu H.C. Artmann „Med ana schwoazzn dintn“. Nöstlinger verwendet eine phonetisch
authentische und damit fremdanmutende Transkription. Dargestellte Welt wirkt befremdlich,
ist das kleinbürgerliche Milieu mit seinen seelischen Grausamkeiten und materiellen Not.
Dialekt hatte auch politischen Hintergrund: Dialektwelle der 70er-Jahre machte die Sprache der
Arbeiter literaturfähig, die Nicht-Privilegierten kamen zur Sprache. Gedichte sind aus der Sicht
der Kinder formuliert.
Nöstlinger hat konsequent die Sprache zum Thema gemacht und bewiesen, dass sich die
Definition von Literarizität nicht nach der Zielgruppe richtet. Der spielerische Einsatz von
Sprache hat gerade in der Kinderliteratur wiederum etwas mit der Ermächtigung zum Sprechen
97
und Schreiben zu tun: „Ich glaube dass meine Art zu schreiben Kindern Mut geben könnte, sich
selbst ans Formulieren zu machen.“
„X-Mess – Die wahre Geschichte“ (Eva Lepold)
Buch an Jugendliche und Erwachsene Rezipienten gerichtet. Literatursprache wieder der
Wiener Dialekt, am Ende sogar ein Glossar der verwendeten wienerischen Ausdrücke. Knüpft
damit an Glossar Tradition von Nöstlinger an.
(Auszug): In ana stühn und heiligen Nocht … hot da Weihnochtsmau des Christkind umbrocht
… sie haun sie alle auf a Packl „Santa go home“
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Böse Ironie
Unkonventionelle Sprache stört hier die herkömmliche Idylle
Verweis auf unsere alltäglichen und weniger gesegneten Weihnachtsrituale (Punsch
trinken, exzessives Einkaufen vor Weihnachten,…)
12.2.2 Umgangssprachen/regionale Standardvarietäten
Allzu viel österreichische spezifische diatopische Variation ist in Christine Nöstlingers Texten
eigentlich kaum festzustellen (überraschenderweise). Nur sehr vereinzelt finden sich diatopisch
zuordenbare Varianten, z.B. im Gebiet der Lexik (zB Budl, die Theke). Insgesamt bewegt sich
Nöstlinger oft an der Grenze des Standards und sie überschreitet diese Grenze auch immer
wieder in umgangssprachlichen und zum Teil auch dialektal gefärbten Ausdrücken. Allerdings
ist diese Umgangssprache nicht immer die österreichische. In ihrem Buch „Das
Austauschkind“ finden sich einige Textstellen mit unterschiedlichen diatopischen Varianten.
(z.B. Dödl oder spezifische Artikelgebrauch vor Eigennamen „der Pivonka (Herbert)“) Dödl
wird laut Amman als Grenzfall des Standards definiert.
Begriffe der verschiedenen Varietäten passen jedoch bei Nöstlinger narratologisch, da es zur
Diegese – also dem spezifischen Wirklichkeitsraum des Buchs passt.
Nöstlingers Literatursprache ist für die Präsenz spezifisch österreichischer Varianten der
deutschen Sprache bekannt. Sie hat ihre eigene, unverwechselbare Literatursprache geschaffen,
in der sie auf äußerst kunstvolle und humorvolle Weise mit diatopischer Variation spielt. Die
verwendeten Varianten der deutschen Sprache haben dabei vielfach eine textgestaltende
Funktion. Textstellen, in denen Sprachformen verschiedener Regionen aufeinandertreffen, sind
in Nöstlingers Texten keine Seltenheit. Die Verwendung der unterschiedlichen Varietäten ist
dabei aber leider nicht immer so passend realisiert. In D sind bei „Cola“ sowohl die Artikel
„die“ als auch „das“ gebräuchlich, in Österreich heißt es nur „das Cola“. Warum wurde an
dieser Stelle „die“ Cola ausgebessert, obwohl es sich da um einen kleinräumlicheren gebrauchte
Variante handelt? Manchmal greifen deutsche LektorInnen „sprachverbessernd“ ein und
einzelne Wörter werden in eine ihrer Umgebung übliche oder Standardvariante transferiert.
Dadurch entstehen auch sprachliche Unstimmigkeiten.
Bearbeitung von „Ilse Jander 14“ (1991): die Bearbeitung wurde von Christine Nöstlinger selbst
durchgeführt, sie hat ihren Text verkürzt und vereinfacht und ihn mehr auf die Zielgruppe der
DaF-Lerner zugeschnitten (manche Austriazismen sind deshalb weggefallen). In sehr vielen
Fällen wurde die bundesdeutsche Sprachnorm bevorzugt (Abendbrot statt Abendessen, Abitur
statt Matura, Diele statt Vorzimmer…) – dies findet man aber auch schon in der nicht
bearbeiteten Version. Christine Nöstlinger hat diese Bearbeitung auch dazu genützt, um
Varianten der deutschen Sprache neu einzufügen.
Kanak Sprak
Begriff wird in den Medien und auch in anderen Kontexten vielfach für einen türkischdeutschen Ethnolekt verwendet, allerdings handelt es sich dabei in Wirklichkeit um keinen
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primären Ethnolekt, sondern um eine Sprache, die wir zunächst in einem literarischen Kontext
kennen gelernt haben.
„Kanak Sprak – 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft“ von Feridun Zaimoğlu
Erstlingswerk, erstmals 1995 erschienen, der Autor ist mit diesem Buch zum Literaturstar der
Migrationsliteraturszene avanciert. Schon im Titel lenkt er die Aufmerksamkeit auf die
besonders gestaltete Sprache dieses Textes und auch auf eine der Funktionen dieser Sprache.
Seine Sprache will mit ihrem Ton unsere sprachlichen Hör- und Lesegewohnheiten stören.
Zunächst formal ästhetische Funktionen: Titel: Hinweis auf die spezifische Vokalisierung
(Perspektive, aus der erzählt wird), gleichzeitig auch eine sprachenpolitische Implikation. In
postkolonialer Weise wird hier der erzählende Blick über die Sprache vom Zentrum an den
Rand der Gesellschaft gelenkt.
Jedes Kapitel hat einen anderen homodiegetischen Erzähler. Die einzelnen Erzähler erzählen
ihre Geschichte und sind zugleich deren Hauptfigur, ihr Erzählen ist damit autodiegetisch.
Innerhalb der Diegese ist dieses Erzählen gerahmt durch ein besonderes fiktionales Setting: Der
Ich-Erzähler des 1. Kapitels erzählt, dass er die anderen Protagonisten interviewt hat und die
weiteren Kapitel Ausschnitte dieser Interviews seien, die er auch speziell inszeniert hätte. Die
Protagonisten sind durchwegs männlich, mit einer Ausnahme: Asis (transsexuell, war früher
also auch ein Mann). Es handelt sich fast durchwegs um Figuren vom Rand der Gesellschaft.
Viele sind arbeitslos oder Zuhälter, Prostituierte oder haben kriminelle Beschäftigungsfelder.
Einige haben aber auch bürgerliche Berufe, z.B. KFZ-Mechaniker, Müllkutscher und es gibt
sogar einen Soziologen. Auch Künstler sind dabei: ein Dichter und 2 Rapper. Die meisten
Figuren sind junge Erwachsene, es gibt aber auch einige Jugendliche, den 13-jährigen Schüler
und Streuner Hassan und zwei 18-jährige Jugendliche mit dem sprechenden Namen „Bracer“
und „Tucker“ und einen 19-jährigen Junkie, der sich soeben die Nadel gegeben hat. Körperliche
Gewalt ist allgegenwärtig, dazu passt auch die Wortgewalt ihrer Sprache (schon in den Titeln
der Kapitel erkennbar)
Der Titel ist (mit Ausnahme des ersten Kapitels) immer ein Zitat des Protagonisten im O-Ton
und findet sich auch im jeweiligen Kapitel so wieder, gibt zugleich aber auch einen Fokus auf
dieses Kapitel vor, im Untertitel ist dann der Name, das Alter und die Berufsbezeichnung des
jeweiligen Protagonisten zu sehen.
Die Figur, die diesen Titel verfasst und den Interviewtext zu einer Ich-Erzählung
zusammengeschnitten hat, ist zugleich der Ich-Erzähler im ersten Kapitel – Name des IchErzählers: Feridun Zaimoğlu. Wir dürfen den Ich-Erzähler aber nicht mit der Autorfigur
gleichsetzen. Gleichsetzung wird als Deutungsmuster in den Text hineininszeniert und der IchErzähler als Autor des Buches ausgibt.
Das erste Kapitel ist entsprechend der Textsorte „Vorwort“ gestaltet und entsprechend sogar
mit einer Unterzeile „Kiel, im Sommer 1995, Feridun Zaimoğlu“ unterzeichnet. Trotzdem
handelt es sich aber auch beim ersten Kapitel u m einen fiktionalen Text. Durch die Gestaltung
des ersten Kapitels, das weitgehend wie die anderen Kapitel daherkommt, lenkt Zaimoğlu die
Aufmerksamkeit auch deutlich auf diese Fiktionalität.
Linguistische Metafiktion (Unterscheidung: linguistische und diegetische Metafiktion)
Der Ich-Erzähler gibt sich als Autor des Werkes aus, dies gibt ihm die Möglichkeit, auch etwas
über die Gestaltung des Textes selbst zu erzählen. Erzählen über den Text im Text:
„Metafiktion“ (Literatur, die Literatur zum Thema macht) Metafiction als Begriff geprägt von
Linda Hutcheon und Patricia Waugh. In der metafiktionalen Literatur weit verbreitet: ein
Protagonist trägt den Namen des Autors (wie auch in „Kanak Sprak“) Häufig werden auch
intertextuelle Bezüge mit Metafiktion in Beziehung gestellt. Es gibt Bezug im ersten Kapitel zu
„Mutterzunge“ von Emine Sevgi Özdamar.
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Wie zeigt sich die Linguistische Metafiktion in „Kanak Sprak“
Der Ich-Erzähler Zaimoğlu schreibt hier über die anderen Figuren der Erzählung, die er
„Kanacken“ nennt. Ihre Identität beziehen sie nicht aus einer imaginierten kulturellen
Verankerung, sondern ganz klar über Sprache. „Diese Sprache entscheidet über die Existenz.“
Diese Sprache ist es, die die Figuren in „Kanak Sprak“ ausmacht. Signifikant für diese
spezifische Sprache, ist nicht nur die Pose, aus der heraus gesprochen wird, sondern auch ihre
identitätsstiftende Wirkung. Jeder Protagonist verpasst ihr seine eigene Prägung. Sprache wird
zum Mittel zur Selbstbestimmung, sie geben eine ganz und gar private Vorstellung in Worten.
Eine Besonderheit dieser „Kanak Sprak“ ist der Rhythmus. Ihr Reden ist dem Freestyle im Rap
verwandt.
Auch Jugendsprache und Ethnolekt werden deutlich. Feridun Zaimoğlu gestaltet die besondere
Unmittelbarkeit und Präsenz seiner Figuren.
Wir bekommen jedoch keine authentische Probe der „Kanak Sprak“, im Buch begegnen wir
dieser fiktionalen Sprache, nur in sekundärer Form, also in medial vermittelter Weise. Als
homodiegetische Vermittlungsinstanz fungiert hier der Ich-Erzähler mit seiner spezifischen
Veränderung der „Kanak-Sprak“. Zunächst handelt er sich hierbei um deutsche Übertragung.
Alle türkischen Text-Elemente der „Kanak-Sprak“ werden also ins Deutsche übersetzt.
Inhaltliche Unterschiede: die Figur Zaimoğlu kritisiert, dass „Kanak Sprak“ aufgrund ihres
symbolischen Jargons häufig als blumige Orientalsprache missverstanden wird. Deshalb enthält
die deutsche Übertragung nur die Anrede „Bruder“. Begründung: der Ich-Erzähler will nicht
beschreiben, sondern von seinem Schreibtisch aus eine neue Realität konstruieren.
Hassan: Ich bin der ich bin. (Ausschnitt) Verzicht auf Großschreibung. Wegfallen von Artikeln,
ist nicht realisiert. Geprägt durch lokale Varietät.
Ähnlichkeiten zwischen Zaimoğlus „Kanak Sprak“ und existierenden türkisch-deutschen
Ethnolekten sind durchaus gegeben, jedoch handelt es sich in „Kanak Sprak“ um eine
literarische Sprache und nicht um einen Ethnolekt.
Funktionen der Sprache: Spezieller Klang, kein Zufall, dass zwei Protagonisten Rapper sind,
der spezielle Klang von Ethnolekten wird aufgegriffen und künstlich umformt, Spiel mit
Authentizität, sprachenpolitische Funktion, Spiel und hintergehen von Normativität.
„Die häufigste Frage, die man mir stellt ist: Wie authentisch sind sie Herr Zaimoğlu? – Er: er
denkt sich und sagt: gar nicht.“
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