Ballett Intern 3/2006 - Deutscher Berufsverband für Tanzpädagogik

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Ballett Intern 3/2006 - Deutscher Berufsverband für Tanzpädagogik
BALLETT
INTERN
Herausgeber: Deutscher Berufsverband für Tanzpädagogik e. V. – Heft 74/29. Jahrgang – Nr. 3/Juni 2006
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(...) Unter dem Gesichtspunkt der kulturellen Bildung wird nach
meinem Eindruck der Tanz immer noch unterbewertet. Dabei ist
er ein einzigartiges Medium, nicht nur für die Arbeit mit Kindern
und Jugendlichen. Der Tanz prägt unser Bewusstsein und unser
Bild vom Körper, und der Tanz erschafft sich ganz eigene nichtverbale Sprachen. Er zeigt kulturelle Differenzen auf und bietet
zugleich spielerisch die Möglichkeit zu ihrer Überschreitung.
Der Tanz bietet für die kulturelle Bildung vielfältige Anknüpfungspunkte, die wir besser nutzen sollten. (...)
Aus der Rede des Kulturstaatsministers Bernd Neumann
zur Eröffnung des Tanzkongresses Deutschland 2006
BALLETT
Liebe Leser,
Transition heißt Übergang(-szeit). Im Zusammenhang mit
Tanz meint es den Übergang vom Tänzerdasein in eine
neue Berufs- und Lebenswelt. Im Juni dieses Jahres wird
tanznetz.de das Thema zum Schwerpunkt in seinem Internet-Diskussionsforum machen, klicken Sie doch mal
hin – und vielleicht mögen Sie dort ja auch Ihre Erfahrungen weitergeben. Auch BALLETT INTERN wird sich,
allerdings in der August-Ausgabe, mit der IOTPD beschäftigen, der »International Organisation for the Transition of Professional Dancers«, die weltweit Zeichen
setzt: Es gibt ein Leben nach dem Tanz.
Doch zunächst steht das vorliegende Heft ganz im Zeichen vom »Tanzkongress Deutschland«, der vom 20. bis
23. April in Berlin stattfand. Begeisterte Teilnehmerstimmen stehen neben solchen, die das meiste viel zu kopflastig fanden. Und wenn man viele Tänzer in Berlin hätte haben wollen, dann wäre ein tägliches Training auf
dem Tagungsplan unabdingbar gewesen – sagt die Basis. Nun, ein guter Anfang ist gemacht, und den wollen
wir Ihnen unter verschiedenen Aspekten näher bringen –
falls auch Sie nicht in Berlin sein konnten, so wie Ihre
Dagmar Fischer
Deutscher Tanzpreis 2007
Deutscher Tanzpreis »Zukunft« 2007
Mitgliederversammlung des DBfT
Samstag, 3. Februar 2007
BALLETT INTERN
ist die Mitgliederzeitschrift des Deutschen Berufsverbandes für Tanzpädagogik e. V. (DBfT) und
liegt der Zeitschrift »tanzjournal« fünf Mal als Supplement bei. Beide Zeitschriften gehen den
Mitgliedern des Verbandes kostenlos zu. Nichtmitglieder können BALLETT INTERN abonnieren:
Deutschland € 7,50, europäisches Ausland € 12,00 (jeweils inkl. Porto/Versand) je Ausgabe.
Redaktion dieser Ausgabe: Ulrich Roehm (verantwortl.),
Dagmar Fischer ([email protected])
Autoren dieser Ausgabe: Geertje Andresen (Berlin), Klaus
Geitel (Berlin), Dagmar Fischer (Hamburg), Heike Hän­
scheid (Münster), Bernd Neumann (Berlin), Sylvia Staude
(Frankfurt), Hortensia Völckers (Halle a.d. Saale), Jenny J.
Veldhuis (Amsterdam), Eileen Wanke (Bremen/Berlin)
Namentlich gekennzeichnete Artikel geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion oder des Herausgebers
wieder. Der Nachdruck, auch auszugsweise, ist ohne
ausdrückliche Genehmigung der Redaktion nicht gestattet.
Für unverlangt eingesandte Manuskripte und für Terminangaben wird keine Gewähr übernommen. Die Redaktion
behält sich das Recht vor, Leserbriefe zu kürzen. Manuskripte gehen in das Eigentum der Redaktion über.
.
Titelbild: Zitat aus der Rede des Kulturstaatsministers
Bernd Neumann zur Eröffnung des Tanzkongresses
Deutschland am 20. April 2006 in Berlin; unter Verwendung von Plakat und Logo zu dieser Veranstaltung.
Heft 3/2006
INTERN
Tanzkongress Deutschland 2006 – Berlin
Die historischen Tänzerkongresse
Von Geertje Andresen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
Begrüßungsrede des Kulturstaatsministers
Bernd Neumann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
Eröffnungsrede der Direktorin der Kulturstiftung
des Bundes Hortensia Völckers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
Diskriminierung am Katzentisch
Betrachtungen zum Tanzkongress
Von Sylvia Staude . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
»Rückmeldungen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.
Tanzolymp 2006
Und es gibt ihn doch …
den kindgerechten Tanz
Von Jenny J. Veldhuis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
Amerikanische Pionierarbeit
80 Jahre Martha Graham Dance Company
Von Dagmar Fischer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
Die Brabants’ aus Belgien
Der Königlichen Ballettschule Antwerpen zum 55. Geburtstag
Von Jenny J. Veldhuis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
Hans Werner Henze zum Achtzigsten
Ein Geburtstagsgruß von Klaus Geitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
»Zum Staunen geboren«
Gespräch mit Klaus Geitel
Von Dagmar Fischer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
Tanz und Medizin
»Die große Dürre«
Ess-Störungen im Tanz, Teil 5: Prophylaxe
Von Eileen Wanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
Ingeborg Kölling zum 80. Geburtstag
Von Heike Hänscheid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
Kurz und Bündig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
Buchempfehlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
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Nächste Ausgabe:
Heft 4/2006 erscheint Anfang August 2006
Redaktionsschluss: 10. Juli 2006
Anzeigenschluss: 18. Juli 2006
Annahmeschluss Beilagen:22. Juli 2006
Ballett Intern 3/2006
Die historischen
Tänzerkongresse
Von Geertje Andresen
Als Teil der Lebensreformbewegungen im deutschsprachigen
Raum hatte sich der moderne künstlerische Tanz in den zwanziger Jahren in der bürgerlichen Gesellschaft etabliert. Er war zu
einer Art Massenbewegung geworden und hatte neben einer
Reihe von großartigen Tanzkünstlern auch sehr viele Tänzer hervorgebracht, deren tanztechnisches Niveau mäßig bis schlecht
war. Dieses öffentlich präsentierte Mittelmaß und auch das Beharren auf »seelischem Ausdruck« im Tanz ohne ausreichende
persönliche Ausstrahlung, rief nicht nur den Unmut selbst wohlwollender Tanzkritiker hervor, sondern empörte auch gut geschulte Tänzerkollegen. Die Massenbewegung Tanz hatte neben diesem Qualitätsproblem ebenfalls mit großen sozialen Mißständen
zu kämpfen. Eine Vielzahl von Tänzern war arbeitslos oder konnte sich von ihren äußerst geringen Einnahmen nicht ernähren.
Die Tänzer, die ihre modernen Programme solistisch aufführen
wollten, mussten ihre Aufführungen zumeist in jeder Hinsicht
selbst organisieren und bezahlen. Die Einnahmen aus den Eintrittsgeldern deckten in der Regel kaum die entstandenen Kosten,
so dass sehr viele Tänzer ihren Lebensunterhalt in einem anderen
Beruf verdienen mussten.
Um der sozialen Notlage der meisten Tänzer abzuhelfen und
mit dem Wunsch, diese auch gewerkschaftlich zu organisieren,
arrangierte Rudolf von Laban 1927 gemeinsam mit erfahrenen
Theaterleuten in Magdeburg den Ersten Deutschen Tänzerkongress. Außer Mary Wigman und ihren ehemaligen Meisterschülerinnen Gret Palucca und Yvonne Georgi kamen etwa dreihundert Tänzer zu diesem Ereignis, dessen wichtigstes Ergebnis der
Zusammenschluss der gesamten Tänzerschaft mit den deutschen
Chorsängern im »Deutschen Chorsänger-Verband und Tänzerbund e. V.« bildete. Ziel dieser Berufsorganisation war die künstlerische und wirtschaftliche Interessenvertretung ihrer Mitglieder
in der Öffentlichkeit und vor Behörden. Rudolf von Laban setzte
sich in seiner Position als Vorsitzender im Kunstausschuss dieses
Tänzerbundes außerdem für die Regelung einer einheitlichen
Tänzerausbildung ein und bereitete die Einrichtung einer Tanzhochschule vor.
Mary Wigman, die bei dem Tänzerkongress nicht anwesend
war, weil dessen Organisation ihrer Arbeit nicht genügend Platz
eingeräumt hatte, trat dem neuen Berufsverband nicht bei, da sie
ihn zu stark von Laban dominiert empfand und gründete im März
1928 die »Deutsche Tanzgemeinschaft e. V.« als eigene Organisation für sich und ihre Anhängerinnen. Im Gegensatz zum Tänzerbund vertrat die Tanzgemeinschaft strikt die Interessen des
modernen Tanzes als »absolutem Tanz«, während sich Laban
auch für die Belange des Balletts einsetzte, weil er es für eine
gleichrangige tänzerische Ausdrucksform hielt. Diese Toleranz
interpretierte Wigman als Verrat am modernen Tanz. Trotzdem,
oder gerade deshalb, beteiligte sich ihre Tanzgemeinschaft gemeinsam mit dem Tänzerbund an den Vorbereitungen für den
Zweiten Tänzerkongress 1928 in Essen. Hier wurde über die
Bereiche Theatertanz und Tanztheater, Tanzschrift, Tanzpädagogik und Laientanz diskutiert. Bei diesem Treffen und auch 1930,
beim Dritten (und letzten) Tänzerkongress der Weimarer Republik, manifestierte sich ein Richtungskampf zwischen Laban und
Wigman. Wigman forderte die ausschließliche Präsenz des modernen künstlerischen Tanzes auf den Theaterbühnen, während
Laban der Auffassung war, dass sich der Tanz den Erfordernissen des Theaterbetriebes anpassen sollte. Übereinstimmung erzielte man lediglich in einer Resolution, die die Gleichstellung
des Theatertänzers mit allen anderen am Theater arbeitenden
Künstlergruppen forderte.
Podium der Abschlussdiskussion (v.r.) (repräsentativ für den Tanz in Deutschland ?): Heike Roms, Nele Hertling, Martin Clausen, Claudia Henne (Moderatorin), Jason Beechey, Marijke Hoogenboom, Angela Schu­bot
(Foto: Goetzmann/wrb)
Auch nach den Tänzerkongressen in der Weimarer Republik
wünschte sich die deutsche Tänzerschaft eine einheitliche und
professionelle Tanzausbildung, die alle Tänzer berufsfähig machen sollte. Trotz des übergroßen Angebots an privaten Tanzschulen erlangten immer noch zahlreiche ihrer Absolventen nicht
das technische Niveau eines Bühnentänzers. Diese mangelhafte
Schulung zählte auch in den dreißiger Jahren mit zu den Gründen für die anhaltend hohe Arbeitslosenquote in dieser Berufsgruppe. Bereits seit dem Zweiten Tänzerkongress 1928 drangen viele Tänzer auf eine vierjährige Tanzausbildung in einer
neu zu schaffenden Tanzhochschule. Dieser Wunsch blieb auch
nach dem Regimewechsel in Deutschland bestehen.
Ballett Intern 3/2006
Nur wenige Monate nach der sogenannten Machtergreifung hatte die gesamte in Deutschland arbeitende
nichtjüdische Tänzerschaft über den »Deutschen Chorsänger und Tänzerbund« ihre Mitgliedschaft in der Reichskulturkammer zu beantragen. Der moderne künstlerische Tanz
der Weimarer Republik sollte nun zu einem explizit »Deutschen Tanz« mit völkischen Themen werden und die Experimente der Weimarer Republik hinter sich lassen. Rudolf
von Laban wurde 1934 zum Leiter der neuen »Deutschen
Tanzbühne« berufen, um im Auftrag der Reichskulturkammer Tanzfestspiele zu organisieren. Im Unterschied zu den
früheren Tänzerkongressen waren bei dieser Veranstaltung
jedoch keine Diskussionsrunden über Fragen des Tanzes
vorgesehen. Stattdessen sollten im Rahmen einer Festwoche ausschließlich repräsentative Vorführungen des neuen
»Deutschen Tanzes« geboten werden, um zu »zeigen, daß
der deutsche Tanz Träger deutscher Kultur ist«. Anstelle öffentlicher Diskurse über die Situation des modernen Tanzes
und seine Neuausrichtung im Nationalsozialismus veröf(Foto: Goetzmann / wrb)
fentlichten etliche Vertreter der deutschen Tanzwelt eine »Schwarzmarkt« für nützliches Wissen … Reihe von Aufsätzen zu den unterschiedlichsten Themen in
einem Begleitband zu den Tanzfestspielen.
Die Tanzfestspiele 1934 selbst ermöglichten die BestandsaufTänzerkongressen in Recklinghausen im Rahmen der Ruhrfestnahme der aktuellen Arbeiten nichtverfolgter, in Deutschland lespiele. Olga Brandt-Knack (DGB/GDBA) schrieb in ihrem Eröffbender Tänzer. Neben den bekannten und bewährten Solisten
nungsreferat: »Der erste Tänzerkongreß nach dem Krieg, an
wie z. B. Harald Kreutzberg und Gret Palucca zeigten auch einidieser Stätte der Arbeit, muß von uns Tänzern symbolisch gewerge noch unbekannte Nachwuchstänzer ihr Können der kritischen
tet werden. Die Not der Zeit ist in der Tat so groß und durch
Öffentlichkeit, die sich von dem Gebotenen des Nachwuchses
Schlagsahne und übertriebenen Luxus nur notdürftig überdeckt,
nicht unbedingt begeistern ließ. Deshalb sollten an der zweiten
daß es leichtfertig sein würde, würden wir Tänzer an diesen
Veranstaltungsreihe der Tanzfestspiele im November 1935 nur
Dingen achtlos vorübergehen. Der Tänzer lebt in derselben Welt
ausgesuchte Tänzer auftreten, die ein hohes technisches Niveau
wie der Kumpel und hat dieselbe Aufgabe, am politischen Aufgarantierten. Wieder begeisterten Gret Palucca und Harald
bau unserer jungen Demokratie mitzuhelfen. Er hat aber noch
Kreutzberg mit ihren Solotänzen. Der Schwerpunkt dieser Veraneine andere Aufgabe, und das ist, die Grundlage seiner geististaltungsreihe galt aber dem chorischen Laientanz: Mary Wiggen und materiellen Existenz zu schaffen, um die sozialen Framan, Lotte Wernicke und Lola Rogge präsentierten die Tänze
gen unserer Zeit, die nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kultuihrer jeweiligen Gruppen. Während Mary Wigmans Chorspiel
rell mit großen Komplexen vor uns stehen, lösen zu helfen. [...]
die Kritiker nicht überzeugen konnte, galten die Aufführungen
Aber vieles bleibt noch zu tun. Vor allen Dingen scheint mir unter
der anderen beiden Choreographinnen als wegweisend für die
den Tänzern selbst erst einmal eine grundsätzliche Klärung nöZukunft des »Deutschen Tanzes«.
tig, ob an den Theatern klassisches Ballett oder Ausdruckstanz
Als Konsequenz aus dem weiterhin verbreiteten Dilettantismus
getanzt werden soll.«
■
des Tänzernachwuchses hatten Rudolf von Laban, Lizzie
Maudrik und Dorothee Günther 1935 eine neue Prüfungsordnung für Tänzer entwickelt, die sie im Tänzerlager in
Rangsdorf den ersten Tanzpädagogen und Schülern vermittelten. 1936 wurde dann endlich die von vielen Tänzern herbeigesehnte Tanzhochschule mit der Bezeichnung
»Deutsche Meisterwerkstätten für Tanz« gegründet. Fortan
sollten auch alle an Privatschulen ausgebildeten Nachwuchstänzer ihre Bühnentauglichkeit vor der Prüfungskommission dieser Hochschule beweisen, ehe sie ihre staatliche Zulassung zum Bühnentänzer erhielten. Nach den
zahlreichen Auftrittsmöglichkeiten, die sich sowohl für etablierte nationale und internationale Tanzgrößen als auch für
den Tänzernachwuchs im umfangreichen Begleitprogramm
zu den Olympischen Sommerspielen 1936 geboten hatten, begann 1937 mit der Einführung der Veranstaltungsreihe »Stunde des Tanzes« die »Begabtenauslese und Förderung« junger deutscher Tänzer im neuen »Deutschen
Tanz«.
Die nächsten offiziellen Zusammenkünfte aller in
Deutschland arbeitenden Tänzer gab es erst wieder in … eine Installation mit 100 Experten von Hannah Hurtzig
(Foto: Goetzmann / wrb)
den Jahren 1951 und 1952 auf den beiden deutschen Ballett Intern 3/2006
»Ich möchte Sie herzlich willkommen heißen zu einem Ereignis,
das wir schon jetzt historisch nennen können. Allein deshalb,
weil es so oder ähnlich seit rund 50 Jahren nicht stattgefunden
hat. Zuletzt hat es in den Jahren der Weimarer Republik und
dann in den fünfziger Jahren Tänzerkongresse in Deutschland
gegeben, die aber bis heute keine Fortsetzung fanden. Das mag
viele verschiedene Gründe gehabt haben, aber vor allem lag es
wohl daran, dass die Tanzszene in verschiedene Lager und Interessengruppen zerfiel, die keine Gemeinsamkeiten formulieren
konnten, oder wollten. Heute ist die Tanzszene in den choreographischen Handschriften, Arbeitsweisen und Stilrichtungen
differenzierter denn je, aber mir scheint, dass sie angesichts ähnlicher Probleme seit den neunziger Jahren wieder näher zusammengerückt ist. Ich bin deshalb sehr froh darüber, dass nun die
Kulturstiftung des Bundes mit dem »Tanzplan Deutschland« als
Impulsgeber für einen neuen Tanzkongress gewirkt hat und einmal mehr einen gewichtigen kulturpolitischen Akzent setzt.
Im Mittelpunkt des »Tanzplan Deutschland« steht die Kunstform
Tanz in all ihren faszinierenden Facetten. Gleichwohl zielt das
Programm des Tanzplans nicht in erster Linie auf die Förderung
und Präsentation herausragender Einzelprojekte. Es geht vielmehr um ein Signal für die Tanzszene in Deutschland insgesamt.
Schon jetzt wird der »Tanzplan Deutschland« als entscheidender
Schritt zur Verbesserung der Situation des Tanzes in Deutschland
gesehen: Er hat bereits für Selbstbewusstsein und Aufbruchstimmung gesorgt. Daher freut es mich umso mehr, dass für den
»Tanzplan Deutschland« bis zum Jahr 2010 insgesamt 12,5
Mio. Euro aus Mitteln der Kulturstiftung des Bundes bereitgestellt
werden können.
Meine Damen und Herren, vom Dichter Christian Morgenstern stammt der schöne Satz: »Der Körper ist der Übersetzer der
Seele ins Sichtbare.« Vielleicht ist das auch einer der Gründe für
die besondere Faszination der Kunstgattung Tanz. Denn der
menschliche Körper auf einer Bühne, die Bewegung zu Klängen
oder Musik, das Unmittelbare einer Sprache, die ohne Worte
auskommen kann, all das öffnet unserer Phantasie Spielräume,
wie sie so keine andere Kunst bietet.
Dennoch hat es die Kunstform Tanz nicht immer leicht, die ihr
gebührende öffentliche Anerkennung zu finden. In Drei-SpartenHäusern bildet der Tanz allzu oft die schwächste Säule, in der
freien Szene sind die Arbeitsbedingungen nicht selten prekär und
drängen die Tänzerinnen und Tänzer bis an die Grenzen der
Selbstausbeutung. Dennoch zeichnet sich der Tanz in Deutschland – vom Staatsballett bis zur freien Compagnie – durch ein
hohes Niveau und eine beeindruckende Vielfalt aus. Seit den
siebziger Jahren haben die Innovationen und die bahnbrechenden Erfolge des zeitgenössischen Tanzes auch das Sprechund Musiktheater maßgeblich beeinflusst und dem Tanz eine
neue gesellschaftliche und auch politische Relevanz verschafft.
Die allgemeine Förderung des Tanzes, der Unterhalt von Ausbildungsstätten, von Theatern und Ensembles ist bekanntlich Auf
(Foto: Bundespresseamt)
Kulturstaatsminister Bernd Neumann sprach zur
Eröffnung des »Tanzkongress Deutschland« am
20.4.2006 im Haus der Kulturen der Welt in Berlin.
Er würdigte den Tanzplan der Bundeskulturstiftung, der den ersten Tanzkongress nach fünfzig
Jahren in Deutschland ermöglichte.
Kulturstaatsminister Bernd Neumann Rede zur Begrüßung
der Kongressteilnehmer
gabe der Länder und Kommunen. Die Bundesregierung hat sich
deshalb nur bei länderübergreifenden Projekten engagiert, so
bei der Finanzierung der alle zwei Jahre stattfindenden Tanzplattform Deutschland und der Gründung und Finanzierung des beispielhaften Nationalen Performance Netzes.
Die Einsparungen in den Kulturhaushalten der Länder kann
der Bund nicht ausgleichen. Aber mit dem Tanzplan zeigen wir,
wie durch Vernetzung und durch Kooperationen wirksame Anregungen für die Tanzförderung und Tanzausbildung gegeben
werden können. Und wir setzen ein kulturpolitisches Zeichen für
den Stellenwert und die gesellschaftliche Bedeutung des zeitgenössischen Tanzes in unserem Land.
Der »Tanzkongress Deutschland« markiert den Beginn des mit
dem Tanzplan beschriebenen Prozesses. Ein deutschlandweites
Forum dieser Art mit internationalem Zuspruch ist – ich sagte es
eingangs – seit langem überfällig. Der Auftakt heute zeigt, dass
die Initiative auf fruchtbaren Boden fällt. Unter dem viel versprechenden Titel »Wissen in Bewegung« werden beim Kongress
zahlreiche hochkarätige Experten den Tanz aus ganz unterschiedlichen Perspektiven betrachten und dieser Kunst auch aus
wissenschaftlicher Sicht eine noch stärkere Stimme geben.
Ich freue mich besonders darüber, dass sowohl beim Tanzkongress als auch beim Tanzplan insgesamt ein Schwerpunkt auf der
Vermittlung liegt, auf dem Wissen durch und über den Tanz im
umfassenden Sinn. Es geht hier zum einen um die Wechselbeziehungen des Tanzes innerhalb des Feldes der Kultur. Und es geht
um die Stellung des künstlerischen Tanzes in der Gesellschaft.
Gerade unter dem Gesichtspunkt der kulturellen Bildung wird
nach meinem Eindruck der Tanz immer noch unterbewertet. Dabei ist er ein einzigartiges Medium, nicht nur für die Arbeit mit
Kindern und Jugendlichen. Der Tanz prägt unser Bewusstsein und
unser Bild vom Körper, und der Tanz erschafft sich ganz eigene
nicht-verbale Sprachen. Er zeigt kulturelle Differenzen auf und
bietet zugleich spielerisch die Möglichkeit zu ihrer Überschreitung. Der Tanz bietet für die kulturelle Bildung vielfältige Anknüpfungspunkte, die wir besser nutzen sollten. Der Film »Rhythm is
it!« hat uns dafür ein fabelhaftes Beispiel vorgeführt. Es geht dabei nicht nur um das Publikum von morgen, sondern um eine Investition in die Zukunft unserer Gesellschaft insgesamt. Ich wünsche dem Kongress eine breite Resonanz und bin überzeugt,
dass er wichtige Anregungen für die weitere Entwicklung der
deutschen Tanzlandschaft geben wird."
■
Ballett Intern 3/2006
»Ich freue mich sehr, Sie heute Abend zu dem von der Kulturstiftung des Bundes veranstalteten Tanzkongress mit dem Titel »Wissen in Bewegung« begrüßen zu können. Drei Tage lang werden
sich Tänzer, Choreographen, Theoretiker, Politiker und Tanzbegeisterte aufeinander zu bewegen, um ihr Wissen über Gegenwart und Zukunft des künstlerischen Tanzes in Deutschland auszutauschen.
Dieser Kongress ist eine Art Neuaufnahme. Er knüpft ganz
bewusst an die legendären Tänzerkongresse der Weimarer Zeit
an, auf denen Hunderte von Tänzern, Choreographen, Theatermacher, Musiker und viele andere Künstler aller Sparten zusammenkamen. In Magdeburg – um nur ein Beispiel zu nennen –
sprach Adolf Loos 1927 über die Rückkehr des Tanzes zum
Natürlichen: Die Füße müssten nicht länger kreuzweise gesetzt
werden, sondern dürften parallel und ganz natürlich stehen.
Oskar Schlemmer wiederum stellte sein »Triadisches Ballett«
vor und betonte gerade die Bedeutung der Abstraktion im Tanz:
Das Chaos der Zeit sei groß genug, es sei deshalb vordringlich,
sich auf die Gesetze von Raum, Form und Farbe zu besinnen.
Und selbstverständlich nutzten auch die Pioniere des Modernen
Tanzes die Kongresse zur Proklamation ihrer Programme. Mary
Wigman hielt eine flammende Rede für den »Tanz in seiner absoluten Gestaltung«. Kein Theatertanz mehr, forderte sie, sondern
»die Eroberung des gesamten Theaters von der tänzerischen Geste aus!«, diesem »grandiosen Spiel und Spiegel des Lebens!«
Auf ihre Zeit reagierten auch die Tänzer und Choreographen
der Varietés, Revuen und Tanzlokale im Berlin der zwanziger
Jahre: Ob nun Shimmy auf dem Parkett oder Nackttänze auf der
Bühne – eine regelrechte Tanzwut hatte die Stadt ergriffen und
die Enttabuisierung der Körperlichkeit brach sich Bahn. Gleichzeitig gingen selbsternannte Hüter der Nationalkultur gegen die
»schamlosen Zuckungen« und »willkürlichen Wackelbewegungen« der Tänze aus Amerika vor. Und die Reichswehr erließ
den Befehl: »Die Herren von der Armee und der Marine werden
hiermit ersucht, in Uniform weder Tango, noch One-Step oder
Two-Step zu tanzen.«
Und mit den Tanzkongressen war dann auch bald Schluss.
Keine tänzerischen Revolutionen mehr, keine Entfesselung von
Körperlichkeit und Befreiung von hohl gewordenen Formen, keine Emanzipation des Leibes – stattdessen die staatliche Herrschaft über die Körper in Massenaufmärschen, verordnete Volkstümlichkeit, formale Erstarrung im Bühnentanz – und schließlich
die Maschinisierung der Körper im totalen Krieg. Tanz trägt also
immer die Signatur seiner Epoche – und ihrer Widersprüchlichkeit. Und das gilt selbstverständlich auch für die Fragen, die die
jeweilige Gesellschaft an den Tanz stellt.
Tanz und Wissen, so heißt unser Kongress. Tanz und Wissen
– da gibt es viele Fragen: Was wollen wir, was will die Gesellschaft vom Tanz wissen? Was muss man wissen, um zu tanzen?
Was wissen wir, wenn wir tanzen? Aber auch, und das scheint
mir das Interessanteste: Was weiß der Tanz von uns – das wir
nicht wissen, oder nur ahnen, oder vergessen haben? Wie können wir dieses Wissen des Tanzes selbst in Bewegung setzen?
(Foto: Kulturstiftung)
Hortensia Völckers, Künstlerische Direktorin der
Kulturstiftung des Bundes, sprach zur Eröffnung
des »Tanzkongresses Deutschland« am 20. April
2006 im Haus der Kulturen der Welt, Berlin.
Hortensia Völckers, die Künstlerische
Direktorin der Kulturstifung des Bundes Rede zur Eröffnung
des Tanzkongresses
In dem Land zum Beispiel, in dem ich geboren wurde und aufgewachsen bin, steht der Tanz für einen wichtigen Teil im nationalen Gedächtnis: Der argentinische Tango ist Ausdruck der
ganzen Geschichte von Immigration, Assimilation, Armut, Hoffnung und Unterdrückung. Diese Herkunft ist in den Tango eingeschrieben – in seine kantige Dynamik und seine exklusive Leidenschaft. Nicht jeder, der heute auf der Welt Tango tanzt, versteht
die historische Erfahrung, die den Tango geformt hat. Dennoch
verkörpert er sie, sie bleibt vorhanden, ein Angebot zur Interpretation, so wie ein Gedicht Nuancen von Bedeutungen enthalten
kann, die manchem Leser – obwohl er es spricht – verborgen
bleiben.
Nelson Goodman – ein profunder Kenner des Tanzes – hat
über die Wahrnehmung von Kunst gesagt: »Im Sehen steckt
mehr, als ins Auge fällt«. Ähnliches gilt für den Tanz. Im Tanz
steckt mehr als Bewegung. Nicht zuletzt von daher rührt das Interesse, das ihm neuerdings die Neurophysiologen entgegen
bringen. Zum Beispiel der Hirnforscher Wolf Singer. Seine Besuche der Choreographien von William Forsythe haben Singer
dazu motiviert, sich mit der Frage zu beschäftigen, was sind die
physiologischen Bedingungen unserer Wahrnehmung von Tanz?
Die Antwort ist erstaunlich: Schon das Zuschauen beim Tanz
bringt unser Gehirn dazu, jene Bewegungsprogramme zu simulieren, die wir auf der Bühne sehen. Unser Gehirn partizipiert an
der motorischen Leistung der Tänzer. Auf diese Weise entsteht
ein Zusammenspiel zwischen demjenigen, der sich bewegt und
dem, der die Bewegung betrachtet. »Dynamische Erregungsmuster« nennt Singer diese Resonanzschleifen zwischen Tänzern und
Publikum. Mit anderen Worten: »Tanz steckt an«. Und die Hirnforschung von heute folgt, mit all ihren raffinierten Apparaten und
Methoden, der historischen Avantgarde des Modernen Tanzes.
Rudolf von Laban, Mary Wigman und Gret Palucca gingen,
ebenso wie Frederick Alexander oder Moshe Feldenkrais, die ersten praktischen Schritte zu einer Neuentdeckung des Körpers als
Wissens-Ressource. Sie waren Pioniere, die den Tanz in Stellung
brachten gegen die ideologisch zugerichteten Körperkonzepte
ihrer Zeit. Sie wollten hinabtauchen in vorcartesianische Tiefen
und eine Harmonie von Geist und Körper gewinnen. Sie waren
getrieben von einer produktiven Besessenheit, die Tanz, Theorie
und den Willen zur Gesellschaftsreform gleichermaßen umfasste.
Und ein Kongress wie dieser, so denke ich, ist auch von der
Hoffnung getragen, die Köpfe durch den Körper aufzuklären,
Ballett Intern 3/2006
die Herrschaft einer eindimensionalen Rationalität durch die Bewegung unserer Leiber in Frage zu stellen.
Wie können wir mehr wissen von dem Wissen, das in unsere
Körper eingeschrieben ist? Wie überwinden wir den chronischen
Analphabetismus im Verständnis unserer Körpersprachen? Wie
entdecken und wie nutzen wir den semiotischen Reichtum, mit
dessen Hilfe wir kommunizieren, lange bevor und lange nachdem »Worte gewechselt« und Symbole produziert werden – das
fängt ja an, wenn Kleinkinder mit ausgebreiteten Armen auf uns
zufliegen, und es endet, wenn Demenz-Kranke, denen es die
Sprache verschlagen hat, einander umarmen.
Ein Tanzkongress in der »Wissensgesellschaft«: Das ist auch
eine Chance, die körperlichen Tiefen der großen gesellschaftlichen, ja anthropologischen Transformation auszuloten, in der
wir stehen.
Die Entfesselung der Technik in der Industriegesellschaft hat
den physisch arbeitenden Körper überflüssig gemacht. Heute
befinden wir uns bereits in der nächsten Phase dieser Entwicklung. In der Informationsgesellschaft werden nun auch noch die
Köpfe rationalisiert. Kalkulation, Archivierung, Administration –
diese Kompetenzen wandern ab in die Software der Betriebssysteme.
Es ist kein Zufall, dass in diesen Zeiten die Körper wieder
stärker in den Vordergrund rücken und beachtet werden. Oft in
ihrer pathologischen oder abweichenden Ausprägung: Im Übergewicht und in der Magersucht, gestählt durch Body-Building
und geformt durch die Schönheitschirurgie. Hyperaktive Kinder
werden mit Ritalin ruhig gestellt.
Gesellschaftliche Krisen haben ihren körperlichen Ausdruck.
Und in zugespitzter, elaborierter, bewusster Form ist der Tanz ein
Indikator für gesellschaftliche Krisen-Erfahrungen und ihre Verarbeitung. Schon in den Tänzerkongressen der zwanziger Jahre
war die Suche nach neuen Körperbildern im Modernen Tanz
eine Reaktion auf gesellschaftliche Verunsicherungen. Und das
ist heute nicht anders.
Der Film »Rhythm is it!« – Sie alle haben ihn gesehen – hat in
sehr berührender Weise die fulminante Wirkung dokumentiert,
die ein Tanzprojekt der Berliner Philharmoniker auf Teenager in
so genannten »sozialen Randlagen« hatte. Woran liegt das?
Zum einen ganz einfach daran, dass Royston Maldoom den
Tanz nicht erst nach Neukölln exportieren musste – er war ja
längst da! Auf Musikvideos, im HipHop, überall in der Populärkultur ist Tanz seit Jahrzehnten ein zentrales Ausdrucksmittel von
Jugendlichen – ganz gleich ob sie einen deutschen, türkischen,
nigerianischen oder polnischen Familienhintergrund haben.
Aber dann kam etwas Wichtiges dazu: Das Insistieren der
Choreographen und Tänzer auf Disziplin, Perfektion und Ausdauer, kurz, auf Arbeit, ohne die keine neue, gemeinsame Form
entsteht. Tanz – auch so kann man den Film verstehen – Tanz
zahlt sich aus in der Charakterbildung.
Sollte so, hervor getrieben durch Pisa-Probleme und Disziplinschwierigkeiten, der alte Traum vom Tanz als Menschen-bildendes Schulfach Wahrheit werden? Der Traum, den schon Pestalozzi vergeblich gegen seine Zeitgenossen durchzusetzen
versuchte? Ich begrüße die Bildungs-Allianzen sehr, die zur Zeit
an vielen Orten in Deutschland entstehen, um den Tanz in die
Lehrpläne unserer Schulen einzuschleusen. Aber erlauben Sie
mir, Ihnen meine Sorge mitzuteilen: Tanz ist kein Libero in bildungspolitischen Reformstrategien. Tanz ist mehr als ein Trainingsprogramm für gute »Kopfnoten«, mehr als ein Therapeutikum gegen Hyperaktivität. Kinder, die rückwärts laufen können,
werden bessere Mathematikschüler – das ist eine schöne Folge
erscheinung von Tanzprogrammen. Aber mir graust vor einer
Eingliederung von Bewegungsübungen in die Mathematik-Didaktik. Der Tanz muss als Kunst, die er immer noch in erster Linie
ist, frei bleiben. Die Resozialisierung von Jugendlichen oder die
Verbesserung ihrer Leistungsfähigkeit darf nicht im Vordergrund
stehen. Denn im Tanz lernen Körper den Boden unter ihren Füßen
und die Wirkung der Schwerkraft kennen. Und sie erkennen –
ganz im Sinne der Schiller’schen ästhetischen Erziehung – ihre
Freiheit: Das eigene Vermögen, die Schwerkraft zu überwinden,
zu springen, zu fliegen, zu fließen, sich zu vereinen in der Bewegung mit anderen, eine Form zu finden, für ihre Lust, und für ihren
Schmerz, für ihren Gesellschaftstrieb und ihren Drang, sich in die
Welt zu stellen oder gegen sie.
Räume zu schaffen für vielerlei solche Erfahrungen – das ist
das Ziel, das die Kulturstiftung des Bundes mit ihrer Förderung
des Tanzes verbindet. Wir wollen Künstlern und Kulturschaffenden die Möglichkeit zur freien Arbeit geben, in der Hoffnung,
dass sie uns Wissen liefern, mit dem wir die Welt besser verstehen. Dieser Tanzkongress ist auch der Auftakt zu einem Programm, das die Kulturstiftung des Bundes »Tanzplan Deutschland«
genannt und mit zwölfeinhalb Millionen Euro ausgestattet hat.
Das Ergebnis ist sehr viel versprechend. Es wird – mit großem
Engagement der beteiligten Städte Berlin, Bremen, Düsseldorf,
Dresden, Essen, Frankfurt am Main, Hamburg, München und
Potsdam – an all diesen Orten sehr verschiedene, lokal geprägte
Tanzpläne geben.
Aber nun zurück zum heutigen Abend. Gleich im Anschluss
sehen Sie zu meiner großen Freude »N.N.N.N«, eine Choreographie von William Forsythe. Danach trifft Vladimir Malakhov
auf Sasha Waltz: Eine extra für diesen Abend konzipierte Uraufführung, eine offene Begegnung von klassischem Ballett und zeitgenössischer Bewegungssprache. Ich danke den Künstlern, dass
Sie das möglich gemacht haben. Und dann sind endlich Sie
selbst gefragt, Ihre Körper und Ihr Wissen in Bewegung zu bringen, auf dem »Schwarzmarkt des nützlichen Wissens«.
100 Expertinnen und Experten warten auf Sie, um jeweils
eine halbe Stunde lang Ihr Wissen über den Tanz mit Ihnen zu
teilen. Ob direkt am Tisch oder beim Mitlauschen per Kopfhörer,
die Themenpalette ist von atemberaubender Vielfalt. Sie treffen
auf Experten zum Notationssystem des Tango, Experten zum Verhältnis von Choreographie und Kartographie, Sie können etwas
erfahren über den Tanz der Bienen, über Tantra, Trance und
Yoga, über HipHop, Hardcore und über die Frage, wie Sie den
Antrag eines Tanzprojektes so formulieren, dass ihn Kulturpolitiker verstehen können, gut finden und fördern wollen. »Nützliches
Wissen« also – in jeder Hinsicht. Mein besonderer Dank gilt
Sabine Gehm, Katharina von Wilcke und ihrem gesamten Team
für die Gestaltung und Organisation des Kongresses. Und ich
danke Ihnen allen, meine Damen und Herren, für Ihr Interesse am
Tanz und für Ihre Entschlossenheit, unser Wissen in Bewegung zu
halten und so mitzuwirken an einer vollständigeren und lustvolleren Aufklärung. Denn Aufklärung ist nicht nur unser aller Ausgang
aus der »selbstverschuldeten Unmündigkeit«, wie Kant sagte –
von dem übrigens nicht bekannt ist, ob er tanzte – sondern auch
der Ausgang aus der »selbstverschuldeten Bewegungslosigkeit«.
Denn wie heißt es in Diderots Großer Encyclopédie der Aufklärungszeit: »Tanz und Gesang sind ebenso ursprünglich für die
menschliche Gattung, wie die Geste und die Stimme. Menschen
haben von Beginn der Schöpfung bis in unsere Zeiten gesungen
und getanzt; und es ist mehr als wahrscheinlich, dass die Menschen singen und tanzen werden, bis zur totalen Zerstörung des
Menschengeschlechts.« ■
Ballett Intern 3/2006
Diskriminierung
am Katzentisch
Betrachtungen zum Tanzkongress
Von Sylvia Staude
Manchmal bringt das Unerwartete die größte Erkenntnis. Ob der
Tanz nicht eigentlich der Neger der Künste sei, fragt da die Soziologin und Tanzwissenschaftlerin Gabriele Klein mitten hinein in eine
ruhig dahin fließende Diskussion, und es entsteht Bewegung im Auditorium. Ein Zuhörer geht ans Mikro, sieht sich beziehungsweise seine
dunkle Hautfarbe auf den Podien dieses »Tanzkongresses Deutschland« nicht repräsentiert, und zieht dann die Parallele: »Der Tanz
wird immer noch schlecht behandelt.« Kräftiger Applaus für diesen
Satz, Applaus, der die Antwort auf Kleins Frage unerwartet deutlich
gibt. Von der Kulturstiftung des Bundes mag Geld fließen für dieses
dreitägige Treffen im Berliner Haus der Kulturen der Welt, es mag seit
kurzem den »Tanzplan Deutschland« geben, aber es wird noch lange dauern (und bräuchte mehr), das Gefühl zu besänftigen, dass
man als Tanzschaffender und -forschender am Katzentisch sitzt.
Und dass man noch aufschließen muss zu den anderen Künsten.
Die Tanzwissenschaft ist jung, einen Kongress mit solchem Anspruch,
mit einem so umfassenden Programm, hat es für sie in Deutschland
noch nicht gegeben. 1927, beim Ersten Deutschen Tänzerkongress,
ging es noch vor allem um wirtschaftliche Fragen, um eine Interessenvertretung für Tänzer. Außerdem war der Graben tief zwischen den
Vertretern der Moderne (Mary Wigman vor allem, die dem Kongress
fernblieb), und denjenigen, die das klassische Ballett als gleichberechtigte Form sahen. Ein – aus heutiger Sicht unsinniger – Kampf der Stile,
der nach dem Zweiten Weltkrieg erbittert weitergeführt wurde. Zwei
Mal gab es Anfang der fünfziger Jahre bei den Ruhrfestspielen einen
Tänzerkongress, allen Ernstes wurde dort eine Klärung gefordert, wie
an den Theatern getanzt werden soll: Die Alternative lautete Klassik
oder Ausdruckstanz. Die Praxis wischte diesen Streit in den folgenden
Jahrzehnten vom Tisch – und den Ausdruckstanz gleich mit.
Mehr als 50 Jahre nach den zwei Tänzerkongressen in Recklinghausen nun ein »Tanzkongress«, der schon durch seine Namensänderung signalisierte, dass hier Wissenschaftler und Kulturmanager
ebenso willkommen waren wie Praktiker. Willkommen war auch offenbar jedes nur denkbare Thema. Von der Tanzmedizin über »Tanz
an Schulen« bis zu Produktionsbedingungen. Von der Frage nach
den grundsätzlichen Problemen beim Sprechen über eine Bewegungskunst über den »Körper als Gedächtnisort« bis zur schwärmerischen Erinnerung an Balanchine.
Unter dem Übertitel »Wissen in Bewegung« hatten Sabine Gehm
und Katharina von Wilcke, die beiden Projektleiterinnen, zwar versucht, alle Vorträge, Podien, Workshops entlang einiger roter Fäden
(Körperwissen, Arbeitsprozesse, Tanztechnik usw.) aufzureihen,
doch einigermaßen erschöpfend konnte in dieser Fülle des Wollens
kein Thema bearbeitet werden. Das schreit nach einem nächsten
Tanzkongress.
Auch wenn der die Lesefähigkeit kaum steigern dürfte. Einen generellen Analphabetismus »in Bezug auf die Überlieferung des Tanzes«,
beklagte nämlich Tanzwissenschaftlerin Gabriele Brandstetter, mithin
die Unfähigkeit, Notationen lesen zu können. Aber wie viele Menschen werden schlau aus einer Partitur? Und hat sich der Streit (noch
so ein unnötiger Tanz-Streit) um die beste Verschriftlichung von Bewegung nicht sowieso erledigt, seit es Video gibt? Sollte der Tanz nicht
vielmehr selbstbewusst die Steilvorlage der Hirnforschung nutzen, die
eine essentielle Bedeutung von Rhythmus und Bewegung für den Ablauf von Denkprozessen vermutet? Und sollten seine Protagonisten
und Fürsprecher nicht zufrieden sein, dass tolle Tänzer allemal noch
als Jugendidole taugen? Tanz ist eine Sehnsuchtskunst, gerade für
diejenigen vielleicht, die vor dem Fernseher abhängen. Auch Gab
riele Brandstetter verwies darauf, dass der Tanz auf unvergleichliche
Weise auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert. Indem er zur Zeit
etwa »Chaos, Krieg, den Zusammensturz, das Unkontrollierbare« abbilde. Gabriele Klein war noch entschiedener: Der Körper habe
schon immer gewusst, was er tat – als er zum Beispiel den rauschhaften Walzer erfand, just als die Eisenbahn eine neue Reisegeschwindigkeit möglich machte. Gerade eben zieht er übrigens, mit
»Krumping« und »Clowning«, die Schnelligkeitsschraube beim HipHop weiter an. Das wird irgendwann nicht mehr steigerbar sein,
aber noch hält der Tanz mehr als nur Schritt mit dem Lebensgefühl.
Das tut auch der Tänzer als Arbeiter. Sein Lebensstil ist zum Modell der Zukunft geworden, ob er nun will oder nicht. Er ist mobil in
einer globalisierten Welt. Steht in einem prekären Beschäftigungsverhältnis. Soll so preiswert sein wie motiviert. Ist gezwungen, sich
mindestens einmal beruflich umzuorientieren. Und Verständigung
aufzubauen in einer multikulturellen Gruppe – denn welche Tanzgruppe hat heute nicht Mitglieder aus allen Ecken der Welt?
Von kulturellem Kolonialismus war beim Tanzkongress die Rede,
aber auch von der zunehmenden Durchlässigkeit in alle Richtungen.
Alle Tanzstile der Welt kann heute lernen, wer sich die Mühe macht,
die entsprechenden Lehrer aufzusuchen. Denn Tanz ist – dieser wichtige Hinweis kam mehrfach in den Berliner Vorträgen – eine Kulturtechnik, das Wissen darum keineswegs angeboren. Auch der Betrachter muss erst lernen, das, was er auf der Bühne sieht, zu deuten.
So unbedacht wie falsch ist also das Gerede von der »universellen
Sprache« des Tanzes.
Sie unterrichte Europäer in indischem Tanz, erzählte eine Inderin.
Aber das Publikum hier wolle ihn von kleinen dunklen Menschen
getanzt sehen und nicht von großen Blonden. Ist das nun auch Diskriminierung? ■
Rückmeldungen von
Kongressteilnehmern
Am 22.4. fand im Rahmen des »Tanzkongress Deutschland« eine
Gesprächsrunde zum Thema »Tanzausbildung Deutschland – Staatliche Hochschulen« statt. Auf dem Podium saßen: Paul Melis (Köln),
Dieter Heitkamp (Frankfurt/M.), Jason Beechey (Dresden) Lutz Förster (Essen), Eva Maria Hoerster (Berlin), Ingo Diehl. Die Moderation
übernahm Stefan Hilterhaus.
Das überaus wichtige Thema »Tanzausbildung in Deutschland« wurde im Grunde nur angerissen, denn 1. war die Zeit deutlich zu kurz
angesetzt, und 2. konnte es zu keiner tatsächlichen Diskussion über ein
zentrales Thema kommen, weil jeder der Gesprächpartner aus einem
konventionellen Gesprächsführungsverständnis die Gelegenheit bekam,
sich bzw. die jeweilige Ausbildung vorzustellen (damit war die überwiegende der eigentlich geplanten Zeit vorüber).
Die Auswahl der beteiligten Personen wurde nicht begründet.
Dass auch andere Fachleute sich zur Tanzausbildung in Deutschland
(z. B. von der John Cranko Schule Stuttgart, der Staatlichen Ballettschule Berlin oder der Akademie des Tanzes Mannheim) hätten äußern können, wurde ignoriert. Die Nachfrage aus dem Publikum,
wofür diese vielen neuen Tänzer denn ausgebildet werden sollen,
wurde wie folgt beantwortet:
– wer diesen Beruf erlerne, wisse um die Risiken, und zufriedenstellend
sei bereits, wenn die Absolventen gelernt hätten, wie man lernt.
– nur auf den Markt zu reagieren, wäre zu wenig; im Gegenteil
sollten die Absolventen den Markt selbst mitbestimmen.
Fazit: ein erheblich zu kurz angesetztes Gespräch mit nur einem Teil
der Tanzausbildungs-Verantwortlichen in Deutschland, die deutlich
machten, dass sie sich in gewissem Maß gegenüber den Ergebnissen ihrer Arbeit aus der Verantwortung ziehen, wenn es sie nicht
interessiert, ob und wie viele ihrer Absolventen tatsächlich in ein
Engagement gehen können. Ausgenommen werden muss hier Jason
Beechey, da er in seinen Äußerungen eine eher an der tatsächlichen
Tanzpraxis orientierte Einstellung vermuten ließ, die er allerdings in
Dresden erst ab August 2006 unter Beweis stellen kann.
Ballett Intern 3/2006
2006
Und es gibt ihn doch …
den kindgerechten Tanz
Von Jenny J. Veldhuis
Seit 2004 findet das Festival jährlich in Berlin statt. Eigentlich ist
es ein Wettbewerb mit nur einer Runde, nach der entschieden
wird, wer an der Schlussgala teilnehmen darf. In kurzer
Zeit wurde das Ereignis so populär, dass sich für die
Ausgabe 2006 nicht weniger als 2.000 Teilnehmer aus aller Welt anmeldeten. Verständlicherweise ist eine so große Teilnehmerzahl nicht zu
bewältigen, und so entschied man sich, eine Vorauswahl per Video vorzunehmen.
Ein Video mag ein praktisches Hilfsmittel bei
Einstudierungen sein, als Kriterium bei der Zulassung zum Wettbewerb kann man jedoch nicht sicher sein, ob es ein aussagekräftiges Bild des
Kandidaten vermittelt – von der Einschätzung des
Alters ganz zu schweigen. Und es wurde schnell klar,
dass in mehreren Fällen das, was in Berlin über die Bühne ging, nicht mit dem eingesandten Video übereinstimmte.
Schwieriger wird das Ganze noch dadurch, dass eine Einteilung in vier verschiedene Altersgruppen, zwischen acht und 21
Jahren, sowie in die folgenden Disziplinen vorgenommen werden muss: 1. Klassisch, 2. Modern, 3. Folklore und 4. Pop/
Jazz; auch eine Teilnahme in mehreren Disziplinen ist möglich.
Tatsächlich waren es schließlich 600 ausgewählte Teilnehmer
– jeden davon innerhalb von drei Tagen zu sehen und nach
einem bestimmten Standard zu bewerten, ist und bleibt für eine
16-köpfige Jury eine enorme Leistung. Und Tanz als Kunstform
sollte dabei auch nicht aus den Augen verloren werden …
Im diesem Jahr hatte die Organisation neue und strikte Regeln
ausgegeben, so durfte kein Spitzentanz und kein klassisches Repertoire von Teilnehmern zwischen acht und zwölf Jahren gezeigt
werden. Aber: Was soll man machen, wenn sich der Kandidat,
in diesem Fall die Schule oder der Lehrer, nicht daran hält – kann
man einem kleinen Mädchen, das um die halbe Welt reist, um in
Berlin zu tanzen, einfach sagen: »Du kannst nicht mitmachen!«?
Es gibt leider immer noch Schulen, die ihre jüngsten Schüler ohne
Bedenken mit nicht-kindgerechten Tänzchen in einen Wettbewerb
schicken. So gab es beispielsweise einen ca. zehnjährigen Jungen, der zwei Mal einen Kosakentanz für Erwachsene vorführte,
der offensichtlich körperliche Gefahren barg. Ob dieser Junge in
drei Jahren überhaupt noch tanzen kann oder ob sein Körper
schon ruiniert ist, kann man nur spekulieren.
Einige Schulen aus Westeuropa, die im vorigen Jahr teilnahmen, hatten die neuen Regeln zur Kenntnis genommen und kamen erst gar nicht wieder. Auch jene westeuropäischen Schulen,
die 2005 sehr gute moderne Choreographien gezeigt hatten,
fehlten leider in diesem Jahr. Ob sie an der Video-Auswahl scheiterten, ist ungewiss. Die Schüler der teilnehmenden Schulen
zeigten jedenfalls gute Arbeiten, wenn auch nur eine – die Ekaterina Memrenko Schule aus Düsseldorf – in der Schlussgala
vertreten war.
Das Positive jedoch war die große Anzahl professioneller
Ausbildungsschulen, die nicht nur gut ausgebildete Schüler
schickten, sondern auch zur Teamarbeit fähig waren und gegenseitigen Respekt zeigten. Hier beeindruckten vor allem Schüler
der Staatlichen Ballettschule Berlin im Alter von 13 bis 18
Jahren mit einem gut vorbereiteten klassischen und
modernen Repertoire. Von der Akademie des
Tanzes Mannheim kamen ältere Schüler, sie
zeigten, dass sie mit viel Liebe und Respekt für den
Tanz als Kunst unterrichtet worden waren. Auch
die Palucca Schule Dresden beeindruckte im Bereich Moderner Tanz mit einigen, von den Schülern selbst kreierten, interessanten Beiträgen.
Für eine Überraschung sorgte die Hochschule
für Musik und Theater aus Zürich – erst zwei
Jahre unter der Leitung von Oliver Matz und Steffi
Scherzer – durch sehr gut und sorgfältig vorbereitete
Schüler. Die Royal Ballet School wurde vertreten von
einem Studenten aus Italien; dazu passte, dass die Schule
der Staatsoper Wien und auch das Konservatorium mit japanischen Studenten anreisten.
Aus Finnland kam die Nationale Finnische Ballettschule, und
die Choreographische Akademie aus Riga in Lettland zeigte gut
vorbereitete Arbeiten. Die Tanzakademie aus Budapest entpuppte sich als Meister im Folkloretanz – sie waren die einzigen Teilnehmer überhaupt, die in dieser Disziplin den richtigen, ursprünglichen Volkstanz ausführten: Einfach kostümiert, ohne Glitter und
Pailletten, keine Show, und gerade deswegen war es atemberaubend. Von der Bolschoi Akademie in Moskau muss man gute
Arbeit erwarten, und in der Tat war sie die einzige Schule aus
Russland, die neben sämtlichen klassischen Variationen ein wunderschönes und vollkommen kindgerechtes Quartett mitbrachte,
getanzt von zwei Mädchen und zwei Jungen im Alter von 13
Jahren; es gibt es also doch noch, das verantwortungsvoll eingesetzte Kinderrepertoire.
Während des Festivals
wurde klar, dass in der Tanz­
Ballett Intern 3/2006
entwicklung eine große Lücke klafft zwischen Ost- und West­
europa. Das liegt nicht nur an der Verschiedenheit der Kulturen.
Es ist mehr eine Sache der Verantwortlichkeit von Schulen und
deren Pädagogen im Hinblick auf die Zukunft der Schüler. Man
könnte sagen, klassisch bleibt klassisch – wenn aber damit gemeint ist: Wer macht die meisten Pirouetten und wer die höchsten Sprünge im überschnellen Tempo, dann fragt man sich, was
das noch mit Kunst zu tun hat. Ein Zuschauer brachte es auf den
Punkt: Geht es um Masse oder Klasse?
Das praktische Hilfsmittel Video wurde offensichtlich auch dazu
missbraucht, einfach nur etwas nachzuahmen, ohne sich persönlich damit auseinander zu setzen. Auch da liegt wiederum die
Verantwortung beim Lehrer, ebenso wie bei der Entscheidung, ob
und wie man einen Schüler in den Wettbewerb schickt.
Und da ist noch das Problem mit dem Gewinnen. Eigentlich
müsste klar sein, dass bei einer so hohen Anzahl von Teilnehmern
nicht alle gewinnen können. Aber auch auf das Nicht-Gewinnen
muss ein Kandidat ernsthaft vorbereitet werden, damit er nicht den
Eindruck bekommt, er sei ein schlechter Tänzer, oder schlimmer, er
unterstellt seinem Lehrer, ihn nicht gut vorbereitet zu haben.
Ein Veranstalter kann schriftlich Regeln ausgeben, was aber,
wenn sich die Teilnehmer und ihre Begleiter gar nicht daran halten, und z. B.
die zugewiesene Probezeit nicht beachten? Auch in einem solchen Fall liegt es
nicht am Kind oder am Jugendlichen,
der vielleicht nicht versteht, dass er dadurch einem Mitkandidaten schadet,
sondern auch hier liegt die Verantwortung beim Pädagogen.
Das Festival ging zu Ende mit einer
Gala, die es natürlich nicht zuließ, alle
600 Kandidaten auf der Bühne zu zeigen. Jede teilnehmende Schule oder
Gruppe wurde gebeten, zwei Kandi-
daten für die Eröffnungspolonaise auszuwählen. Nach dieser
folgte die Preisverleihung, mit mehreren Medaillen in jeder Tanzdisziplin für Solo, Duett und Gruppe.
Im eigentlichen Programm hätte man dann nur die Gold- und
Silbermedaillen-Gewinner erwartet. Überraschenderweise kam
es anders: Einige Gold- und Silbermedaillen-Träger waren gar
nicht eingeladen, dafür tanzten andere, die nicht einmal bewertet worden waren. Wer für diese eigenartige Entscheidung verantwortlich war, blieb unklar.
Immerhin, es war erfreulich, noch einmal zu erfahren, um was
es im Grunde bei diesem Festival geht: Um die Liebe zum Tanz,
um den respektvollen Umgang miteinander und um ein Treffen
zwischen Kindern und Jugendlichen aus aller Welt – von den
meisten Teilnehmern wurde das verstanden. Vielleicht könnten die
Erwachsenen auch einmal darüber nachdenken. ■
Impressionen vom diesjährigen
Tanzolymp in Berlin
(Fotos: Eduard Maydanik
und Marie Laure Briane)
Ballett Intern 3/2006
Amerikanische
Pionierarbeit
Da haben sich die Modernen der Tanzwelt viele Jahre mit Raumtheorien beschäftigt, Anleihen bei der Architektur gemacht, den
Bühnen- und Körperraum erforscht – und was sagt Martha Graham auf die Frage, wo ihrer Meinung nach der Bühnenmittelpunkt liegt? »Da, wo ich bin, natürlich.«
Klare Einstellung und simple Antwort, könnte man denken.
Doch einfach hat es sich die Pionierin des amerikanischen Modern Dance ihr Leben lang nicht gemacht. Am 18. April 2006
feierte die »Martha Graham Dance Company« ihr 80-jähriges
Bestehen in New York, damit ist sie die älteste Tanztruppe Nord­
sischen, russischen Tänzer verband eine Freundschaft mit der
amerikanischen Pionierin des Modern Dance. Heiter und unterhaltsam eröffnete er die Gala zum beachtlichen Geburtstag der
Company. Durch den Abend führte Patricia Birch, ehemalige
Graham-Tänzerin und Choreographin, ihre Moderation war souverän und informativ, ohne den Tanz durch zu viele Worte zu
erdrücken.
Martha Graham war bereits 22 Jahre alt, als sie mit ihrer
Tanzausbildung an der Denishawn-Schule 1916 in Los Angeles
begann. Ihre Lehrer, Ruth St. Denis und Ted Shawn, entwickelten
einen exotischen Tanzstil, der Bewegungsformen unterschiedlichster Kulturen kopierte; an diese Anfänge erinnerten zwei Rekonstruktionen: »Incense«, von St. Denis um 1906 kreiert, und
»Gnossienne«, ein Werk von Shawn aus dem Jahr 1919. Martha
Graham verließ nach siebenjähriger Lehrzeit »Denishawn« und
ging nach New York zu den Greenwich Village Follies, einer
Show-Gruppe, in der sie ein Star war und eine Sonderstellung
Studenten der »Martha Graham School of Contemporary Dance« bereiten
sich auf die Unterrichts-Demonstration vor
Von links: Marianne Bachmann, Linda Hodes, Pearl Lang und Peggy Lyman
im Harkness Dance Center nach der Demonstration der Graham Technik
amerikas. Auch die »Martha Graham School of Contemporary
Dance« existiert dort nach wie vor – ohne die unermüdliche Arbeit einer besessenen Tänzerin, Choreographin und Lehrerin
wäre das nicht möglich.
Doch nach Martha Grahams Tod 1991 begann zunächst
eine schwierige Zeit: Denn die Choreographin vermachte die
Rechte an vielen ihrer Werke Ron Protas – aus Dankbarkeit, weil
er ihr nach den langen, heftigen Krisen geholfen hatte, wieder
ins Leben und zur Arbeit zurückzufinden. Ohne dieses Comeback im hohen Alter wären sicher einige der Choreographien
heute nicht mehr existent. Protas hat so vermutlich Werke gerettet, verhinderte jedoch deren Aufführung, weil er enorme Summen dafür verlangte. Also konnte die »Martha Graham Dance
Company« die Werke Martha Grahams nicht zeigen. Ein komplexer Rechtsstreit folgte, an dem die Company beinahe zu
Grunde gegangen wäre. Heute ist die Existenz und wohl auch
die Zukunft gesichert, wenn auch nur mit 20 Tänzern in der
Hauptcompany. Zusätzlich wurde 1983 das »Martha Graham
Ensemble« als Junior Company gegründet.
Mitglieder aus beiden tanzten in der kurzweiligen, zweistündigen Jubiläums-Gala im New Yorker Skirball Center. Die Begrüßung der Gäste übernahm Michail Baryschnikow – den klas-
genoss; aus dieser Zeit stammte die »Serenata Morisca«, zu Beginn der zwanziger Jahre ein äußerst erfolgreiches, von Ted
Shawn gestaltetes Solo. Wenig später wagte Martha Graham
die Gründung ihrer eigenen Company, unter dem Namen
»Martha Graham and Trio« trat sie am 18. April 1926 erstmals
öffentlich auf. Die meisten Werke von damals sind in Vergessenheit geraten, »Three Gopi Maidens« jedoch konnte gerettet und
somit auch zum Jubiläum aufgeführt werden. Der Einfluss von St.
Denis und Shawn ist unverkennbar bei diesem Frühwerk. Doch
schon in dem drei Jahre später uraufgeführten »Heretic« ist eine
neue, geradezu revolutionäre Bewegungssprache erkennbar,
die Tänzerin und Choreographin fand ihren eigenen Weg. Die
ausschließlich aus Frauen bestehende Company trägt in diesem
Stück den Konflikt zwischen einer gleichförmigen Gruppe und
einer einzelnen Rebellin aus – das Thema erinnert an Martha
Grahams Position in der damaligen Tanzwelt. Auch »Lamentation« von 1930 durfte im Programm nicht fehlen, ein Meisterwerk
Grahams, ein klagendes, ergreifendes Solo, das auf einer niedrigen Bank getanzt wird. Auf den humorvollen »Satyric Festival
Song« von 1932 folgte »Steps in the Street«, ein sozialkritisches
Werk, das zeitlos gültig die Einsamkeit und Verlorenheit (arbeitsloser) Menschen in der Großstadt aufgreift und aus dem Jahr
80 Jahre Martha Graham Dance Company
Von Dagmar Fischer
10
Ballett Intern 3/2006
1936 stammt, einer Zeit wirtschaftlicher Depression in den
USA.
Die Werke der nächsten Dekade waren mit Ausschnitten aus »El
Penitente« (1940), »Appalachian Spring« (1944) und »Dark Meadow« (1947) vertreten. Seit der Gründung ihrer Company hatte
Martha Graham zwölf Jahre ausschließlich mit Frauen gearbeitet;
das änderte sich, als sie den klassisch ausgebildeten Tänzer Erick
Hawkins traf, sich in ihn verliebte und somit neuen Themen im Tanz
zuwandte. Hawkins war seit 1938 der erste männliche Tänzer der
»Martha Graham Dance Company«, wie die Truppe inzwischen
hieß; ein Jahr später kam Merce Cunningham als zweiter tanzender Mann hinzu. Auch ihre Einstellung zum klassischen Ballett
änderte sich: Hatte sie ihren Tänzerinnen in den dreißiger Jahren
noch verboten, klassisch zu trainieren, so wurde sie nun toleranter.
Sie wollte im Tanz zeigen, was Nordamerikaner im 20. Jahrhundert bewegt. Dafür brauchte sie eine neue, moderne Technik –
heute als Graham-Technik weltweit anerkannt.
fröhliche Ragtime-Musik spielte ihr musikalischer Berater und Pianist Louis Horst immer dann, wenn sie betrübt war.
Die Feierlichkeiten zum 80. Geburtstag der Company umfassten auch ein Treffen im New Yorker Harkness Dance Center.
Das jüdische Kulturzentrum mit einem kleinen Theater bot Martha
Graham in den dreißiger Jahren regelmäßig Auftrittsmöglichkeiten – zu einer Zeit, als der Modern Dance noch um seine
Anerkennung kämpfen musste. Dort unterrichtete die ehemalige
Graham-Solistin Peggy Lyman eine Studentenklasse der »Martha
Graham Contemporary Dance School« vor Publikum, während
sich drei große Damen gegenseitig überboten, die Lecture Demonstration zu kommentieren: Pearl Lang, Linda Hodes und Marianne Bachmann haben – zu unterschiedlichen Zeiten – wichtige Hauptrollen in den Werken Martha Grahams getanzt und
persönlich mit ihr gearbeitet. Die heutige Künstlerische Leiterin
Janet Eilber, natürlich auch ehemalige Graham-Solistin, benennt
zwölf bis 15 Werke, die ständig im Repertoire abrufbar sind,
Das gibt es auch in New York: Plätze werden nach Choreographen benannt
»Lamentation« wird im Eingang der New York Public Library aufgeführt.
(Fotos: Lea Fischer)
Berühmt wurden Martha Grahams tragische Frauengestalten,
die sie in der griechischen Mythologie fand und mit Kenntnissen
heutiger Psychologie zu Bühnengestalten formte. Das Solo der
»Cassandra« aus dem Jahr 1958 belegte diese Phase ihrer Arbeit, begleitet von Cassandras Monolog aus Aischylos’
»Agamemnon«.
Als personifizierte Martha Graham kam Richard Move auf
die Bühne, im langen Tanzkleid und mit typischer Frisur, er blickte ironisch auf Martha Grahams Hang zum Leiden im Tanz zurück. Witzig wurde es zum Abschluss beim »Maple Leaf Rag«,
dem letzten Werk, das Martha Graham 1990 vollendete. Die
Ballett Intern 3/2006
nach entsprechender Einstudierung verfügt die Company sogar
über ca. 50 Choreographien.
Mit dem Namen Martha Graham verbinden heute die meisten Menschen die Schöpferin der Technik, einige auch eine Choreographin, doch die wenigsten die Tänzerin. Dabei hatte sie
sich so sehr gewünscht, die Nachwelt möge sich vor allem an
sie als Tänzerin erinnern. Ob sie eine Pädagogin war, sei dahin
gestellt, ihre Tänzerinnen erinnern sich jedenfalls an viele Bilder
und Metaphern, die sie gab, um eine bestimmte Qualität in einer Bewegung zu fördern.
Und Martha Graham selbst erinnert sich auch. »Immer wenn
ein junger Student mich fragt: ›Meinen Sie, dass ich Tänzer werden sollte?‹, antwortete ich: ›Wenn Sie im Zweifel sind, dann
lautet meine Antwort: nein.‹ Nur wenn man darin eine Möglichkeit sieht, das Leben für sich und andere Menschen lebendig zu
gestalten, sollte man sich auf eine solche Karriere einlassen …«
(Zitat aus: Martha Graham, Der Tanz – Mein Leben, Eine Autobiographie, Wilhelm Heyne Verlag, München, 1992, S. 9.)
Martha Graham Dance Company Tourdaten 2006
Köln 25.–30.7.
München 1.– 2.8.
Rotterdam 5.– 6.8.
Hamburg 8.–13.8.
Philharmonie
Prinzregententheater
Luxor Theater
Hamburgische Staatsoper
11
Die Brabants’ aus Belgien
Der Königlichen Ballettschule
Antwerpen zum 55. Geburtstag
Von Jenny J. Veldhuis
In Anwesenheit ihrer Königlichen Hoheit, Prinzessin Mathilde,
wurde am 2. Februar 2006 der 55. Geburtstag der Königlichen
Ballettschule Antwerpen gefeiert. Der Erfolg dieser Schule ist ein
gutes Beispiel dafür, wie ein Institut, aber auch ein UnterrichtsSystem, quasi aus dem Nichts entstehen kann. Dazu braucht
man nur eine Person mit einer klaren Vision – und die Kraft zur
Umsetzung. Diese Person ist Jeanne Brabants, die mit Unterstützung ihrer Schwestern Jos und Annie ein Institut von Weltruf aufbauen konnte.
Der Vater der drei Mädchen war als Gymnastiklehrer wenig
angetan von der Liebe seiner Töchter zum Tanz. Er erlaubte den
Tanzunterricht nur unter der Bedingung, dass sie auch einen »anständigen« Beruf erlernten. So absolvierten alle drei eine Gymnastik-Ausbildung und tanzten nebenher.
Jeanne Brabants reichte das nicht, sie eröffnete 1941 ihre
eigene private Tanzschule. Die überließ sie ihrer Schwester Jos,
als sie 1951 die Chance bekam, die Leitung der an die Flämische Oper angegliederten Tanzfachausbildung zu übernehmen. Als städtisches Institut anerkannt, wurde daraus 1964 das
»Stedelijke Instituut voor Ballet«. Jeanne verwirklichte 1970 ihren großen Wunsch, eine autonome Ballettcompagnie in
Flandern zu gründen und leitete diese Gruppe auch selbst; seit
1976 heißt sie »Koninklijk Ballet van Vlaanderen«.
Die Leitung der »Stedelijke Instituut voor Ballet« gab sie wiederum an Schwester Jos ab. Die jüngere Schwester Annie hatte
inzwischen die Verantwortung für den Tanzunterricht an einer
Grundschule übernommen. Und aus diesen beiden Schulen entstand 1971 ein Unterrichtskonzept, das eine Tanzfachausbildung und die allgemeine schulische Ausbildung ab dem 8. Lebensjahr integriert. Annie Brabants entwickelte ein Trainingssystem
speziell für die angehenden männlichen Tänzer, das sich als
äußerst erfolgreich erwies. Ab 1973 kamen Schüler
auch von außerhalb Antwerpens, und so wurde
ein Internat eröffnet. Mit der Schulreform
1992 wurde die Schule in das »Kunst-Unterrichts-Programm« in
Belgien aufgenommen, was zur Folge hatte, dass mit dem Abitur
als Abschluss der Zugang zu Hochschule und Universität möglich wurde. 1977 wurde sie vom Prix de Lausanne als »unterstützende Schule« anerkannt, aufgrund des tänzerischen Niveaus
der Kandidaten aus Antwerpen. Und schulgeldfrei war und ist
die Ausbildung dort auch noch.
Marinella Paneda, Abiturientin und langjährige Solistin des »Koninklijk Ballet van Vlaanderen«, wurde 1990 die Nachfolgerin von
Jos Brabants, sie machte es sich zur Aufgabe, internationale Kontakte zu anderen qualifizierten Tanzfachausbildungen sowie zu Ballettfestivals zu organisieren. Da sich inzwischen mehr und mehr
Schüler für die Moderne Richtung im Tanz interessierten, kreierte sie
ein spezielles Programm, »Dans Scala« genannt, zu dem Schüler
der beiden letzten Klassen Zugang haben.
2001, zum 50. Geburtstag, wurde die Schule mit einem
neuen Namen geehrt: »Koninklijke Balletschool Antwerpen« –
Königliche Ballettschule Antwerpen. 2003 löste Kimmy Lauwens
ihre Vorgängerin Marinella Paneda ab; Lauwens wurde auch in
der Antwerpener Schule ausgebildet und kehrte nach einer Bühnenkarriere dorthin zurück, wo sie – bevor sie Direktorin wurde –
zunächst mehrere Jahre die Allerjüngsten ­unterrichtete.
Jeanne Brabants hatte Schule und Compagnie
ins Leben gerufen, aber sie wollte mehr. Getreu ihrer Auffassung, dass jedes Kind mit
Tanz in Berührung kommen sollte, gründete sie 1985 »Jeugd en Dans« (Jugend und Tanz) – eine Stiftung, die
Workshops und Ferienkurse für Schüler aller Alterstufen und Lehrer jeglicher Tanzrichtungen organisiert.
Foto: Paul De Bakker
»Mathilde« – »Je ne regrette rien« –
»Quand on a que l’amour«
Tänzer: Lars van Cauwenbergh,
Irena Veterova
Choreographie: Ben van Cauwenbergh, Musik: Jacques Brel – Edith Piaf
Die Brabants aus Belgien: Annie – Jos – Jeanne
(Foto: Koen van Kerkhoven)
12
Ballett Intern 3/2006
Die Reihe der erfolgreichen Absolventen ist lang: 54 Finalisten insgesamt, davon 14 Gold-, acht Silber- und sieben Bronzemedaillen; hinzu kommen Fernseh-Zuschauerpreise, der leider
nicht mehr existierende Prix Professionelles des »Prix de Lausanne« sowie neun Choreographie-Preise. Und alle Preisträger stammen aus Flandern, das fünf Millionen Einwohner hat – ganz
Belgien zählt auch nur neun Millionen. Im heutigen »Koninklijk
Ballett van Vlaanderen« sind 42 Tänzer engagiert, 28 von ihnen
wurden an der Antwerpener Schule ausgebildet.
Hätten alle Ehemaligen tanzen sollen, hätte man die ganze
Nacht gebraucht. So beschränkte man sich auf 18 von ihnen,
sie kamen aus ganz verschiedenen Ländern angereist, in denen
sie zur Zeit tanzen. Da zeigte sich Dirk Segers in einem stilvollen
Pas de Deux von Heinz Spoerli; Aimé de Lignière kreierte ein
Solo für Esther Cloet. Antoine Vereecken machte mit seinen außerordentlichen Bewegungsmöglichkeiten und seiner Musikalität
auf sich aufmerksam. Lars van Cauwenbergh tanzte ein Pas de
Deux aus einem Werk seines Onkels, Ben van Cauwenbergh,
Leiter des Balletts des Hessischen Staatstheaters in Wiesbaden.
Iris Bouche und Annabelle Lopez Ochoa, beide freiberuflich tätig, präsentierten eine eigenwillige, von ihnen entwickelte Bewegungssprache; und Hugo Fanari, derzeit Choreograph in Estland, war in der Sprache ebenso zu Hause wie im Tanz und
verstand es zudem, orientalischen Tanz einzubinden. Vier Solisten des »Koninklijk Ballet van Vlaanderen« (Althea NuÔez, Alain
Honorez, Geneviève van Quaquenbeke, Wim van Lessen) tanzten das Quartett aus »In The Grey Aera« von David Dawson
einfach wunderschön. Marc Bogaerts, bekannt für experimen­
telle Produktionen, schuf einen Pas de Deux, in dem sich Klassik
und Pop trafen. Luc Jacobs, langjähriger Tänzer bei der »Batsheva Dance Company«, choreographierte ein Solo für Eva De­
waele, und zum Schluss tanzten Aki Sato und Wim van Lessen
ein Duett aus »In the Middle Somewhat Elevated« von William
Forsythe. Nicht zuletzt mit dieser Darbietung wurde bekräftigt,
dass diese Ausbildung Tänzer dazu befähigt, verschiedenste Stile und Techniken zu meistern, denn ein Programm mit unterschiedlicheren Beiträgen ist kaum denkbar. Es macht zugleich
deutlich, mit welchem Ziel Jeanne, Jos und Annie Brabants sowie
Marinella Paneda und alle Kollegen die Schule entwickelt und geführt haben: Um ein sehr hohes Niveau zu erreichen. Man kann der Schule nur
wünschen, dass sie auf diese Weise weiter wachsen kann. ■
»Angel«, Tänzer: Dirk Segers,
Ana Carolina Quaresma
Choreographie: Heinz Spoerli,
Musik: Erki Sven Tüür
Foto: Paul De Bakker
Alljährlich findet das große Festival »Kadans« statt, bei dem ungefähr 500 Schüler aus Flandern gemeinsam auftreten. In diesem
Zusammenhang entstand auch auf Initiative von Jeanne Brabants
1990 die einzige Tanz-Fachzeitschrift Belgiens in Niederländischer Sprache »DANS«.
Die Tanzszene in Antwerpen vervollständigt seit 1987 die
Gruppe »Danza Antiqua«, nicht nur um dem Tanz der Renaissance zu huldigen, sondern auch, um älteren Tänzern ein Engagement geben zu können. Leider existiert diese Initiative aus
Geldmangel seit 1994 nicht mehr.
Eine besondere Tradition der Schule muss unbedingt erwähnt werden. Als die Schüler vor vielen Jahren das Bedürfnis
formulierten, sich mit Choreographie auseinander zu setzen,
wurde ihnen diese Möglichkeit geboten: Sie können sich choreographisch ausprobieren und bekommen ein Theater zur
freien Verfügung, sie müssen jedoch alles selbständig und in
Eigenregie außerhalb der Schulzeit organisieren, vom Probenplan über Beleuchtung und Kostümen bis zu Sponsorenkontakten, der Pressearbeit und dem Entwurf, Druck und der Verbreitung von Plakatwerbung. »Self Made« heißt die inzwischen
sehr beliebte Reihe, die zwei Vorstellungen im Februar sind
regelmäßig Wochen im Voraus ausverkauft. Dass bei solchen
Projekten Groß und Klein eine Menge lernen – Disziplin, gegenseitigen Respekt und wie ein Programm möglichst reibungslos über die Bühne läuft – versteht sich von selbst und kann als
wertvolle Erfahrung für die Zukunft der Schüler kaum überschätzt werden.
Seit 1991, dem Jahr des 40-jährigen Jubiläums der Schule, ist es üblich, dass ehemalige Schüler, also heutige Tänzer,
aus aller Welt nach Antwerpen kommen und sich mit einem
Auftritt bei ihrer Schule bedanken und diese damit auch ehren. Dieses Ereignis findet alle fünf Jahre statt, und zum 55.
Bestehen war es natürlich besonders festlich, weil es besondere »Geschenke« gab: Der Senator für Unterricht und Jugend, Robert Vorhamme, versprach endlich den schon längst
überfälligen Erweiterungsbau des Schulgebäudes. Zusammen
mit seinem Kollegen für Kultur, Philippe Heylen, ging er auf
den Wunsch von Jeanne Brabants ein, »Danza Antiqua« wieder aufleben zu lassen und sagte die notwendigen
Schritte zu.
Nach diesen guten Nachrichten präsentierte sich das »Geburtstagkind« selbst,
die Schule, mit allen 116 Schülern in
»Festliche Ouvertüre«, einer Choreographie von Jos Brabants. Hier wurde offenkundig, weshalb die Schüler so gerne, so gut und auch so
musikalisch tanzen.
Ballett Intern 3/2006
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Hans Werner Henze
zum Achtzigsten
Ein Geburtstagsgruß von Klaus Geitel
Lieber Hans,
Du wirst ja in diesen Tagen, die Deinem 80. Geburtstag (am
1. Juli) vorauslaufen, mit Huldigungen, Danksagungen, Hymnen,
Klassifizierungen, Konzerten, Analysen, Opernaufführungen,
Orakeln, Gedenksendungen, Fernsehfilmen überschwemmt. Das
gebührt sich schließlich auch so. Selbst ein dickleibiges, kostbares Buch voller Bilder und Gedanken, Anerkennungen und Erläuterungen ist in diesen Tagen erschienen (Michael Kerstan,
­Clemens Wolken: Hans Werner Henze –
Komponist der Gegenwart, Henschel Verlag, 256 S., 120 Abb., 34,90 Euro). Sehr
lobenswert. Am besten gefiel mir darin das
Interview mit Deinem Adoptivsohn und Lebensgefährten Fausto. Es liest sich, gewissermaßen im Klartext, das Abenteuerliche seines und Deines Lebens heraus: Dieses
hochtrabend Unbürgerliche, Exzentrische,
Herausfordernde Deiner Existenz, das Dein
in seiner Vielfalt schier unüberschaubares
Werk immer erneut gespeist, erneuert, revolutioniert hat. Dabei bist Du bei allem Erneuerungsfleiß im Grunde unverändert der Alte
geblieben. Wahrscheinlich bist Du schon
so, wie Du bist, auf die Welt gekommen.
Vor achtzig Jahren, mein Gott! Du hast sie
wie ein Berserker durchlebt, durchtobt,
durchlitten, ackernd von früh bis spät; hellhörig und klaräugig über Dein Werk gebeugt,
diese Fülle der Partituren und Bücher, die Dir
unter der unermüdlichen Hand hervorquollen, als wolltest Du
nachweisen, dass Kunst nichts anderes sei als unerbittlicher Fleiß:
Zeichen des alten, nicht abzuschüttelnden Preußentums, das
Dein Vater in seiner hilflosen Besessenheit Dir von Kindesbeinen
an eingebläut hat. Bei aller Weltläufigkeit: Ein westfälisches
Landei bist Du im Grunde bis auf den heutigen Tag dennoch
geblieben. Ein Dorfjunge im italienischen Palast, eingebettet in
Luxus, den Swimmingpool von olympischen Ausmaßen vor der
Nase. Im tiefsten Inneren aber daheim im weitläufigen Garten
unter den geliebten Tieren, den Hunden, Katzen, den Vögeln in
den Volièren. Ich habe Dir zeitweilig zwei entzückende kleine
Zicklein hinzugeschenkt, die sich leider Gottes sehr rasch als
unzähmbare Knospenfresser erwiesen.
Ich weiß es auf den Tag genau, wann ich Dich kennen lernte.
Es war am 28. Januar 1951, als Du in Paris in der Rue Gît-leCoeur (poetischer geht’s nimmer) an meine Hotelzimmertür klopftest. Ich war Student und schrieb an meiner (nie abgeschlossenen) Doktorarbeit über französische Miniaturen des 15.
Jahrhunderts, die allein schon zu betrachten ein einziges Entzücken war. Du entzücktest Dich natürlich an Paris. Und an Deinem
Begleiter, diesem schwarzhaarigen und schwarzäugigen jungen
Franzosen. Auch er ein Student. Sein Name: Jean-Pierre Ponnelle. Das Dreiertreffen im Hôtel de Navarre sollte der Beginn
einer nicht endenden Freundschaft sein.
Du hattest Ballett im Kopf. Gerade warst Du als Ballett-Animator nach Wiesbaden ins Engagement berufen. Du hattest Peter
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van Dyk, später erster und bislang letzter deutscher Etoile der
Opéra de Paris, als Ballettdirektor, Choreograph und Solist an
Dein Ensemble berufen. Du stecktest bis zum Hals voller großer
Pläne (mit kleinen hast Du Dich zeitlebens nicht abgefunden).
Jetzt wolltest Du vor allem erst einmal soviel Ballett wie irgend
möglich sehen und Serge Lifar kennen lernen (was Dir auch gelang). Wir pilgerten kilometerweit durch die Stadt, einzig um
das Fahrgeld für die Métro zu sparen.
Ballett war das große Kunstabenteuer der ersten Nachkriegsjahre. Die vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs hatten sich
durch die Bank als eifrige Ballett-Nationen erwiesen. Sie hatten
dem deutschen Menschen beiläufig die hochkarätig leichtfüßige,
aber gleichzeitig schwer zu erlernende, klassische Tanzkunst in
einem drakonischen Kursus zur Umerziehung (nicht nur in Sachen
Ästhetik) verordnet. Aus der Sowjetunion tanzte das BolschoiBallett an. Frankreich schickte seine frischen, aufmüpfigen Ballets des ChampsElysées und Roland Petits Ballets de Paris
über die Grenze herüber. England ließ
sich nicht lumpen. Noch gab es kein Royal Ballet, aber das Sadlers Well’s tat’s
schließlich auch. Von jenseits der europäischen Grenzen grüßten verlockend Ballet
Theatre und New York City Ballet. Das
deutsche Musiktheater versuchte gleichzeitig, sich von der Oper, durch Wagners
rauschenden Nationalismus desavouiert,
zu lösen und strebte der Form der Ballett­
oper zu.
Diese hatte auch Dich, eben so wie Boris Blacher, zu faszinieren begonnen.
Du hattest, als ich Dich in Paris kennen
lernte, schon Deine erste Berliner Premiere
hinter Dir. »Das Wundertheater«, ein Einakter nach Cervantes, als Oper für Schauspieler deklariert, war an der Städtischen
Oper aufgeführt worden. Die eher linkshändig arrangierte Aufführung hatte Dich auf die Barrikaden getrieben: ein Betriebsausflug sozusagen, der Dir stets lieb und teuer blieb. Du hattest aber
zwischenzeitlich Freundschaft mit Tatjana Gsovsky geschlossen,
sie eben so ungestüm und temperamentvoll wie Du, und diese
Begegnung zahlte sich alsbald aus. Zuerst allerdings musste
noch in Hannover »Boulevard Solitude« uraufgeführt werden,
Deine erste abendfüllende, lyrisch beschwingte Oper um die
unsterbliche Manon Lescaut. Die Freunde kamen in hellen Haufen herbei. Ein bis dahin Unbekannter ließ gerne seine extravaganten spanischen Tanzstiefel rundum probieren: José de Udaeta. Auch er war in Hannover vor Ort. Als Bühnenbildner brillierte
im wahrsten Sinne des Wortes Jean-Pierre Ponnelle. Zwei Tage
vor seinem 20. Geburtstag war Premiere. Wiederum zwei Tage
später rief Fritz Kortner bei Ponnelle in Hannover an und verpflichtete ihn zu gemeinsamer Arbeit nach München.
Deine Karriere, lieber Hans, verlief naturgemäß nicht derart explosionsartig. Doch auch sie knauserte mit Effekten nicht. Einen rauschenderen Erfolg als jenen, den Du mit der Ballettpantomime »Der
Idiot« (nach Dostojewsky) im Berliner Hebbel Theater in die Scheuer
fuhrst, konnte kaum je einem anderen gelingen. Tatjana Gsovsky
war er zu danken – und Klaus Kinski. Er sprach weltverloren, buchstäblich bis in den Wahnsinn hinein, der ihn von Anfang umgab,
die Titelpartie. Seine lodernde Existenz fraß sich geradezu der Erinnerung ein und krallte sich in ihr fest. Dein Name, Hans, verschwisterte sich für Zeit und Ewigkeit diesem Ereignis.
Ballett Intern 3/2006
oben: Hans Werner Henze und
Fausto Moroni-Henze 1998 in Manchester (Foto: Tony Ward)
Am 15. September 2001 verlieh der
Deutsche Berufsverband für Tanzpädagogik Hans Werner Henze den
Deutschen Tanzpreis 2001:
oben rechts: Preisträger mit Laudator, dem ehemaligen Bundespräsidenten Dr. Richard von Weizsäcker
und Ulrich Roehm.
rechts: Gruppenbild mit Dame: Ulrich Roehm (ganz links), Martin
Puttke (ganz rechts) und Richard
von Weizsäcker (Laudator 2001;
Mitte) mit den Tanzpreisträgern
(von links): Hans Werner Henze
(2001), Tom Schilling (1996), Birgit Keil (1998), José de Udaeta
(1987), Horst Koegler (1992), Fritz
Höver (2000) und Philippe Braunschweig (1997).
Du lieber Gott, ich müsste einen wahren Abenteuerroman
schreiben, um Deiner buchstäblich weltumspannenden Karriere
zu folgen. Und natürlich den dicht gesäten Skandalen. In Rom
schlug bei der italienischen Premiere von »Boulevard Solitude«
versehentlich ein Logenschließer Igor Strawinsky ins Gesicht, weil
der nicht den vorgeschriebenen Smoking trug. Strawinsky verweigerte daraufhin die Teilnahme an der Aufführung, die übrigens
auch sonst stürmisch geriet. Das Corps de ballet schmiss seinen
Auftritt und saß todtraurig und heulend auf der Treppe herum. Es
hatte in dem allgemeinen Tumult seine Auftrittsmusik nicht gehört.
Bei der Uraufführung von »König Hirsch« in Berlin musste sich
Hermann Scherchen beim Dirigieren umdrehen, um den Saal in
seinem Rücken um Ruhe zu bitten, die indessen dennoch nicht
einkehrte. Man schnitt Scherchen aus Protest sogar heimlich die
Reifen des Autos durch. Auch bei »Maratona«, dem Ballett um
Jean Babilée, setzte es Zwischenrufe die Menge. Visconti, der
Regisseur, sah vor dem Vorhang in den schäumenden Saal, hielt
mit fester Hand Dich, lieber Hans, im Griff und murmelte Dir unablässig ins erschrockene Ohr: »Successo! Gran’ successo«!
Keine Rede davon.
In Hamburg, bei der Uraufführung von »Das Floss der Medusa« im botanischen Garten »Planten un Blomen«, den Du
Ballett Intern 3/2006
mit der Werft Blohm & Voss verwechselt hattest, weigerte sich
der RIAS-Chor nachdrücklich, unter der Roten Fahne zu singen, die man an Deinem Dirigentenpult festgezurrt hatte. Die
Polizei marschierte mit Schlagstöcken ein. Man stieß Ernst
Schnabel, den Librettisten, rücklings durch eine gläserne
Scheibe. Sie ging zu Bruch – und das Konzert auch. Die
­Uraufführung fiel aus.
Bei allen Uraufführungen, den großen wie den kleinen, war
ich aus Lust und Laune und freundschaftlicher Neugier dabei. Bis
1958 einzig als Bewunderer, später dann als herzlich und heimlich voreingenommener, aber vorsichtig artikulierender Kritiker,
zu dem ich, auf Deine Empfehlung hin, überhaupt erst geworden
war. Bis dahin hatte ich in meinen beiden Fabriken gearbeitet
und stand ihnen, Gott sei Dank, genau ein halbes Jahrhundert
lang vor.
Erst nach Feierabend setzte es weiterhin, wie von klein auf,
Beschäftigung mit der Kunst. Und natürlich vorzüglich mit der
Deinen. Sie hat mich Zeit meines Lebens immer aufs Neue zu
überraschen verstanden.
Dir war die Einsicht gegeben, nie das gleiche Werk zweimal
zu schreiben. Es gibt in Deinem Œuvre bis auf den heutigen Tag
keine Wiederholungen, immer nur Überraschungen, Novitäten,
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Erkundungen, Neugier. Sie vor allem scheint heimlicher (oder
geradezu unheimlicher) Motor Deiner Kunst zu sein.
Ihr war ein Parfum beigemischt, das sich auf berauschende
Weise wittern ließ: eine Intelligenz, die sich auf Gefühle verstand, ein kompositorisches Wissen, das sich nicht hinter den
fünf Notenlinien verbarrikadierte. Insgeheim warst Du Dir immer
sicher, dass Musik, was auch immer sie auslöste, vor allem Freude zu bringen habe und deshalb allgemeinverständlich zu formulieren sei. Du erzähltest mir einmal, während der Vorarbeiten
zum »Jungen Lord« hättest Du bei einer Aufführung der »Entführung aus dem Serail« von Mozart im Rang hoch über dem Orchester gesessen und plötzlich vor Augen und Ohren gehabt,
wie viel sich mit wenig Mitteln, einem beschränkten Instrumentarium, künstlerisch erreichen lasse. Allerdings – ein Klangknauserer bist Du deswegen lange noch nicht geworden.
Die denkbar feinsten Choreographen haben früh Deine kompositorische Ballett-Begabung erkannt – und Du im Gegenzug
ihre Talente. Am Anfang war natürlich die Gsovsky. Dann aber
folgten gleich Sir Frederick Ashton, Rudolf Nurejew, John Neumeier, William Forsythe, Ruth Berghaus. Eine stolze Reihe. Was
will man mehr? Es verwundert im Grunde nur, dass das Ballett in
Deutschland, das mächtige Werk, das Du ihm buchstäblich zu
Füßen gelegt hast, nicht stärker nutzt und genutzt hat.
Glücklicherweise waren andere nicht so blind und taub, Dir
und Deinem Werk gegenüber. Die ganze Welt hat es buchstäblich zur Brust genommen. Den Klavierauszug der »Undine« habe
ich 1960 eigenhändig in Moskau dem Bolschoi in die Hand
gedrückt. Ich bin mit Dir durch Tokio spaziert, wo Du Deine »Elegie für junge Liebende« dirigiertest. Ich habe sie unter Deiner
Leitung aber auch in Mexico City gehört. Du schlepptest eines
Tages, lange nach Mitternacht, unter schrillem Geklingel Luchino
Visconti und Terence Hill (der damals noch Mario Girotti hieß) in
meine Wohnung und scheuchtest mich mit diesem Besuch aus
dem Bett. Ich kurvte mit Dir in meinem Mercedes zwei Wochen
durch Griechenland und ließ Dich die Geheimnisse von Mykene
kosten. Im Gegenzug machtest Du mich mit W. H. Auden, dem
Dichter, bekannt, der für Dich (zusammen mit Chester Kallman)
die »Bassariden« schrieb. Und mit der unvergesslichen Ingeborg
Bachmann, die in wenigen Monaten gleichfalls ihren 80. Geburtstag gefeiert hätte. Noch immer stehe ich, wie vom Donner
gerührt, in Gedanken an ihrem Grab. Mensch zu sein, ist nun
einmal kein Zuckerlecken.
Auch Du, lieber Hans, hast es im Verlauf der Jahrzehnte immer
wieder erfahren, wie schnell man mit seinem Lebenslatein zu
Ende sein kann. Du aber hast Dich, ein komponierender Münchhausen, immer wieder am eigenen Zopf, an Deiner Arbeit, aus
den Lebenssümpfen herausgezogen. Eine mehr als imponierende Leistung, von geradezu lebensschöpferischer Natur. Dieses
Leben aber pulsiert auch wie mit Tausenden von Adern durch
Dein Werk. Wo man es auch aufschlägt, spricht es mit frischer,
durch die Jahrzehnte unverheiserter Stimme. Es macht Mut. Wir
haben uns Deinem Werk immer aufs Neue zu stellen. Es ist die
klingende Herausforderung.
Lieber Hans, ich habe Dir natürlich unendlich viel zu verdanken. Du weißt es. Niemals hast Du im Gegenzug irgendwelchen
Dank rückgefordert. Du bist halt generös. Diese Großzügigkeit
bestimmt Deine Person, Deinen Lebensstil, Dein kompositorisches
und schriftstellerisches Schaffen. Im Grunde überrascht es ja,
dass Du erst spät im Leben begonnen hast, Deine eigenen
Operntexte zu schreiben. Der Dir ziemlich verhasste Wagner hat
damit viel früher und sehr erfolgreich angefangen.
Du dagegen hast mehr oder minder im Versteck geschrieben.
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Das »Undine«-Tagebuch machte den Anfang, die Entstehungsgeschichte eines Balletts, wie sie bis dahin noch keiner beschrieben hatte. Es folgte das Arbeitstagebuch »Die englische Katze«.
Mit »L’Upupa« legtest Du »Autobiographische Mitteilungen« vor,
ergänzend zu dem Kolossalwerk der »Reiselieder mit böhmischen
Quinten«, dem ausführlichen Lebensbericht. Du bist nun einmal
der geborene Erzähler auch ohne Musik.
Es ist diese Anschaulichkeit, die sich aber auch aus Deiner
Musik immer wieder heraushören lässt. Du bist kein Konstruktivist
des eigenen Lebens, eingegittert hinter dem linierten Notenpapier. Ich habe es oft und oft erlebt, wie Du vor Beginn einer größeren Arbeit Stunde um Stunde am Klavier Johann Sebastian Bach
spieltest, als wolltest Du mit den eigenen Fingern noch einmal
vorsorglich das musikalische Material kneten und biegsam machen für Deine höchst individuellen kompositorischen Zwecke.
Du hast mit Deiner Bewunderung für das Werk anderer nie
zurückgehalten. Du warst den unterschiedlichsten Komponistenkollegen ein herzlich treuer Freund: Paul Dessau, Luigi Nono,
William Walton und vielen mehr. Gegensätzlicher geht’s nimmer. Unvergesslich aber auch, wie Du Dich für Pendereckis Lukas-Passion derart zu begeistern verstandest, dass sich der große
polnische Komponist urplötzlich und unerwartet in Deinem Garten realisierte: ein Überraschungsbesuch aus mehr als einer anderen Welt.
Aber auch die Jungen loben und lieben Dich allerorten. Du
hast Dich ihnen gern und ohne jeden Umschweif voll zugewendet. Mark Anthony Turnage, der Komponist, belegt das in seinem schönen Beitrag zu dem Dir gewidmeten neuen Buch. Er
fand Dich welterfahren und ausdrucksvoll, mit »tadellosen Umgangformen« voller Anmut, fernab jeder Bevormundung. Du bist
nun einmal herzlich undoktrinär, schlichtweg geübt, anderen zu
vertrauen. Du weißt, dass jeder Künstler seine eigenen Wege zu
gehen hat, wie Du die Deinen unbeirrbar gegangen bist, tagein
und tagaus, vom frühesten Morgen bis zum spätesten Abend.
Ein Tag ohne die einsame kompositorische Arbeit am Schreibtisch war und blieb Dir ein verlorener Tag. Ein Tag nicht wieder
gutzumachender Schande.
Lieber Hans, wenn Du heute von hoher Alterswarte auf Dein
Leben zurückschaust, ist da sicherlich kaum eine Stunde, für die
Du Dich schämen müsstest. Du kannst vor Gott, den Menschen
und natürlich vor Frau Musica mit erhobenem Kopf bestehen,
auch wenn diesen die Zeiten mit ihrem Altersgebraus inzwischen
entlaubt haben. Für Lorbeer ist dagegen noch reichlich Platz.
Nicht nur in Deinem Garten, auch um Dein Haupt.
In alter Freundschaft mit den herzlichsten Wünschen,
Dein Klaus
Michael Kerstan,
Clemens Wolken.
Hans Werner Henze –
Komponist der Gegenwart,
256 S., Festeinband mit
Schutz­umschlag,
zahlr. z. T. farb. Abb., 34,90 €,
ISBN 3-89487-536-4
Ballett Intern 3/2006
»Zum Staunen geboren«
fühlt sich Klaus Geitel, Musik- und Tanzkritiker aus Berlin.
So jedenfalls betitelt er seine Erinnerungen, die auf 256 Seiten im Herbst 2005 erschienen sind. Dagmar Fischer besuchte
den 82-jährigen Kulturjournalisten in Berlin.
Ihre kaufmännische Arbeit in der elterlichen Fahnenfabrik sicherte lange Ihren Lebensunterhalt, war das Schreiben ein Zubrot?
Anfangs war die Schreiberei nicht mal ein Zubrot, ein »Garkein-Brot« eigentlich, eine Herausforderung. Es gab meinem
künstlerischen Interesse einen journalistischen Auslauf. Ich wurde
ja nach Zeilen bezahlt, das brachte nicht so viel zusammen,
dass man davon hätte leben können. Aber es mehrte sich, und
nachher habe ich durch die Schreiberei genug verdient. Ich wurde dann fest angestellt als Redakteur bei der »Welt«, bekam ein
monatliches Gehalt – obwohl ich nie in der Redaktion arbeitete,
ich saß hier zu Hause, war nur auf Reisen und im Theater unterwegs, ich war eine reine »Schreibkraft«, ein reiner Autor.
Das gibt es heute gar nicht mehr …
Es gab damals auch schon keinen außer mir, ich war die
Blume im Knopfloch von Axel Springer. Ich ging zu Vorstellungen
überall in der Welt, aber seit 50 Jahren wohne ich hier in meiner
Berliner Wohnung. Ich stehe morgens auf, nehme meinen Hut,
gehe aus der einen Tür raus, in die nächste Tür rein, in mein Arbeitsbüro. Das war früher hier ein Tante Emma Laden, in dem ich
einkaufte. Vor zwanzig Jahren habe ich ihn gemietet, ich wusste
ja nicht mehr wohin mit dem ganzen Teufelszeug, den Büchern,
der Musik. Das ist wahrscheinlich die größte private Musikbibliothek in Berlin. In meiner Wohnung ist nur die Belletristik, knallvoll, da stapeln sich die Bücher auf der Erde und die Wände
hoch.
Und hier in Ihren Arbeitsräumen ist nur Tanz und Musik?
Ja, schön geordnet, hier sind die Geiger, da die Pianisten,
dort die Cellisten, dann kommen die Sänger. Und ab hier steht
der Tanz.
Sie waren ja auch mit vielen Künstlern befreundet, oder sind es
noch, ergab sich nicht ein Konflikt daraus für Sie als Kritiker?
Eigentlich datieren alle diese Freundschaften aus der Zeit vor
meiner Kritiker-Tätigkeit. Nachdem ich Kritiker geworden war,
hat sich die Freundschaft durch die notwendige Distanz, die
zwischen Künstler und Kritiker zu herrschen hat, arg reduziert.
Natürlich ist es ein Konflikt, ich habe auch irgendwo geschrieben, dass sich das eigentlich ausschließt, Freundschaft und Kritikertum, denn sie müssen den Leuten notgedrungen dann und
wann auf die Füße treten, selbst wenn sie nicht tanzen! Aber es
ist ein schwieriges Lavieren, deshalb habe ich mich lieber mit
Leuten befreundet, die nichts mit Bühne zu tun hatten, auch nichts
mit Musik, sondern ganz zivile Normalmenschen, wie ich als
Kaufmann auch einer war.
Woher hatten Sie Ihre Kenntnisse über Tanz?
Ich hatte von Tanz zunächst keine Ahnung. 1950 bekam ich
ein Stipendium, um nach Paris zu gehen für drei Monate – und
blieb dort anderthalb Jahre kleben. Ich ging am ersten Abend,
am Tag meiner Ankunft, in die Opéra. Da gab’s ein Ballett, von
Ballett Intern 3/2006
(Foto: Dagmar Fischer)
Ich war erstaunt zu lesen, wie Sie zum Schreiben kamen …
Tja, durch Zufall!
dem ich nie gehört hatte, namens »Giselle«. Ich staunte es an,
und nach dem ersten Akt fragte ich mich: Ist jetzt Schluss? Oder
Pause? Ich wusste es nicht. Das war mein Entree ins Ballett, von
da an wurde ich süchtig und sah in diesem ersten Jahr meines
Aufenthalts 180 Vorstellungen. Es war die große Zeit des Nachkriegsballetts, die Truppen aus Amerika, aus Russland, aus England kamen nach Paris, auch spanische Gruppen, es war wirklich die Blütezeit des Tanzes. Ich habe von dieser Blüte so viel
geschnuppert, wie ich irgend konnte. Und die Stadt war natürlich voll mit diesen alten Diaghilew-Stücken und Erinnerungen,
und Tänzern: Die liefen ja auf der Straße herum, Boris Kochno
und Serge Lifar, Leonid Massine, Rosella Hightower. Und so
habe ich mich dort eingesehen, in diese ganze Kunstentwicklung, auch in die Geschichte, und das war alles vor meiner
Journalistenzeit. Ich wollte dort meine Arbeit schreiben, die ich
dann aufgegeben habe, ich bin zurück in meine Fabrik. Aber
das Interesse an dieser Kunst war ja nicht erloschen. Und da
man als Kaufmann um 17 Uhr seine Fabrik zumacht, hatte ich
also jeden Abend Zeit, in die Konzerthallen, die Opernhäusern
und Ballettaufführungen zu gehen.
Als ich als Journalist anfing, gab es ja keine Tanzkritiker in
Deutschland. Der erste war Horst Koegler, dessen Nachfolger
ich wurde, der war aber auch nicht fest angestellt, er war ein
freier Mitarbeiter, der über Tanz schrieb. Im Anfang war es so,
dass ich immer mit dem Musikkritiker zusammen in die Vorstellung ging, der Musikkritiker schrieb über die Wiedergabe Strawinskys, und ich schrieb über die Schritte, die dazu gemacht
wurden.
Die gleiche Aufführung teilten sich zwei Menschen, es gab also
zwei Texte?
Ja, für die Musikkritiker damals fiel der Tanz unter die Kategorie Musik.
Heute gibt es Tanzkritiker. Aber ich treffe die alle schon deswegen nicht, weil ich nie zu Premierenfeiern gehe. Ich erinnere
mich deutlich, einmal in meinem Leben habe ich einen riesigen
Fehler gemacht: Ich traf in Wuppertal nach einer Ballettpremiere
Erich Walter, und es war mir so peinlich den Leuten zu sagen,
dass es schlecht war. Also log ich und habe sie beglückwünscht.
Und am nächsten Tag habe ich die Wahrheit geschrieben. Seither gehe ich nie wieder zu irgendwelchen Premierenfeiern, wo
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man den Leuten auf den Leib rückt notgedrungen – das war
Lehrgeld, vor 50 Jahren gezahlt. Ich spreche auch während einer Aufführung nie über das, was wir gesehen haben oder noch
sehen werden, auch nachher nicht ein Wort. Ich trage das ganze Glück oder den ganzen Mist, den ich gesehen habe, nach
Hause, schlafe darüber, und am nächsten Morgen beim Rasieren fällt mir meist die erste Zeile ein, ich unterbreche die Rasur
und notiere mir diese erste Zeile, rasiere mich dann zu Ende und
schreibe alles nieder. Schluss der Vorstellung. So einfach ist
das.
In Ihrem Buch steht allerdings auch, dass Sie oft nachts geschrieben haben …
In meinen Anfängen, ja, da schrieb ich sehr langsam, mit
Bedacht und für die Ewigkeit. Ich musste um neun Uhr morgens
fertig sein und den Text durchtelefonieren, also habe ich mich um
vier oder fünf Uhr im Hotel wecken lassen, habe in meinem Bett
gesessen und meinen Text mit der Hand geschrieben – es gab
keinen Computer oder Laptop. Das war eine wunderbare Zeit,
da gab es natürlich Hörprobleme und deshalb Druckfehler en
gros, aber diese Zeit ist mir immer in Erinnerung als die angenehmste und schönste Zeit des Schreibens, weil man mit Bedacht
arbeiten konnte. Jetzt, mit den Laptops, geht das alles eigentlich
viel zu gradlinig.
Haben Sie irgendwann nicht mehr für die Ewigkeit geschrieben?
Das Schreiben ist ja wie ein Exercise im Ballett, Sie müssen
die Muskeln ständig in Gang halten, und das Schreiben bleibt
ja nur flüssig, wenn Sie es ständig tun, Sie müssen die Sprache
beständig kneten, damit sie Ihrem Willen antwortet. Der eine
Satz sagt Ihnen den nächsten, Sie müssen nur aufpassen, dass
der eine Satz, den Sie geschrieben haben, Ihnen auch sagt, wie
es richtig weitergeht, und Ihnen nicht suggeriert, dass Sie in eine
falsche Richtung wegtrudeln, Sie müssen also diesen Satz, der
Ihnen die Wahrheit sagt, unter Kontrolle halten. Das ist der
Schreibvorgang. Wenn man vier Wochen Urlaub gemacht hat
und wieder anfängt, ist’s mühsam, die Sprache wieder hinzukneten. Das ist ’ne Strapaze. Also deswegen jeden Tag dieses
Schreibtraining.
Aber es hat sich doch über die Jahre verändert?
Naja, mit dem, was man Erfahrung nennt. Aber was ist Erfahrung in dem Beruf? Es ist doch jeden Tag eine neue Überraschung, die man Ihnen serviert, die Sie auch überraschen will,
und der man auf die Schliche zu kommen hat. Was ist das Überraschende? Was ist das, was aus der Überraschung vielleicht
haften bleibt? Heute schreibt es sich leichter, ich zerbreche mir
nicht mehr die Seele darüber. Aber ob etwas leichter geht oder
schwieriger ist, liegt auch an dem Platz, den Sie zur Verfügung
haben: Können Sie sich ausbreiten, können Sie alles anschaulich und plausibel machen, wenn Sie wenig Platz haben, sind
Sie reduziert auf das wirklich Wichtige, aber das popeln Sie erst
mal heraus, und dann bringen Sie es in eine lesbare Ordnung.
Ich schreibe ja nicht für die Tänzer oder für die Künstler, ich
schreibe ausschließlich für die Leser meiner Zeitung.
Das ist die »Welt«, für die ich allerdings wenig schreibe. Aber
fünf Mal die Woche schreibe ich für die Berliner Morgenpost,
vor allem Konzertkritiken. Hinzu kommen Aufträge aus Japan,
Italien, aus der Schweiz oder Österreich. Heute sehe ich mir
immer seltener Tanz an, denn es langweilt mich zu sehen, dass
jeder, der einen Fuß hat, glaubt, er dürfe ihn öffentlich rühren.
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Sehen Sie sich Gastspiele an, wenn sie nach Berlin kommen?
Welche Gastspiele? Der Tanz ist ein Opfer des Föderalismus
in Deutschland. Die großen deutschen Ballettcompagnien gehen
nicht auf Tournee in Deutschland, weil alle Häuser von eigenen
Truppen besetzt sind. Hamburg kann nur in den USA und Japan
gastieren, aber in Mannheim nicht, weil das Haus dort eine eigene Tanztruppe besitzt. Dieser Föderalismus ist für den Tanz
eine Katastrophe gewesen. Auch Stuttgart tanzt ja überall, aber
in Berlin hat das nie jemand gesehen. Deswegen bekommt alle
Welt Forsythe zu sehen, den kann man in irgendein leer stehendes Theater packen. Ich muss Ihnen ja sagen, ich finde Forsythe
eine Zumutung.
Aber Sasha Waltz haben Sie gesehen?
Ich bin nie hingegangen, ich habe das im Fernsehen gesehen, und nach einer Stunde habe ich es ausgemacht. Es hat allerdings nur 20 Minuten getanzt, ein endloses sinnloses auf der
Stelle herum treten. Es interessiert mich nicht, in meinem Alter ist
das Zeitverschwendung, so viel Zeit habe ich ja nun auch nicht
mehr. Da bleibe ich lieber im Bett und lese, gerade habe ich
wieder Adalbert Stifter herausgekramt, Turmalin, Band vier der
Gesammelten Werke, liegt nun bei mir im Bett und wartet auf
mich, wat soll ick da bei Sasha Waltz?
Rudolf Nurejew kannten Sie recht gut, so steht’s in Ihrem
Buch …
Ich habe ja das Rembrandt-Bändchen über ihn geschrieben,
und später lernte ich ihn erst kennen. Er war sehr nett, wirklich
und wahrhaftig, ich denke oft an ihn. Und er war wirklich ein
schlauer Fuchs, er konnte auch sehen. Er besuchte mich immer,
wenn er in Berlin auftrat, und einmal kam Uwe Scholz angeschossen und brachte seine ganzen Videoaufzeichnungen mit.
Er wollte ja ums Verrecken von Nurejew engagiert werden an
die Pariser Oper. Nurejew saß wirklich geduldig da, zwei Stunden lang, guckte sich alles an, und nach zwei Stunden sagte er
ganz friedlich: »Die Posen sehe ich wohl, aber wo sind die
Schritte?« Das hat offenbar gezündet bei Scholz. Das war der
Anstoß.
Gibt es noch eine Anekdote einer anderen Persönlichkeit zu erzählen?
Béjart hat mir erzählt, dass er spät im Leben anfing, das Training seiner Truppe zu geben, weil er choreographisch kurzatmig
war, wie er sagte. Er müsse versuchen, im Training Linien zu bilden und die durchzuziehen; darauf bin ich natürlich immer wieder zurückgekommen, weil das auch Geständnisse sind enthüllender Art und nicht diese hoch gelogenen Geschichten.
Gerade gestern las ich einen Ausspruch von Béjart: Man
solle aufhören, ihn zur Legende zu machen, von seinen 200
Werken könne man 150 sofort auf den Müll schmeißen, nur 50
taugten was. Ich denke immer an einen Ausspruch seiner Großmutter, die in seinen Memoiren vorkommt, sie sagte: Man soll
nicht höher pupsen als der Hintern hängt. Ist das nicht niedlich?
Haben Sie Tatjana Gsovsky je interviewt?
Ja leider, im Fernsehen, das war sehr unangenehm. Ich wollte
sie mit meinen Fragen vor der Kamera in die Enge treiben und
sie gestehen lassen, dass sie ausgebrannt ist. Und sie hat sich
gewunden wie ein Aal, und schließlich sagte sie: Warum fragen
Sie, was Sie ohnehin schon wissen? Das war eine Aufzeichnung
fürs Fernsehen, das ist mir bis heute peinlich, ich wollte, dass sie
sagte: Ich kann nicht mehr.
Ballett Intern 3/2006
Aber Sie haben sie sehr bewundert?
Ja, doch später merkte man natürlich, wie es dünner und dünner wurde: Es fing mit dem »Tristan« an von Blacher, sie erzählte
mir mit einem Seher-Blick von dieser Ballett-Idee, wie das werden sollte. Und dann guckte ich sie an und sagte: »Sie haben
auch Jean Cocteaus ›L’ eternel retour‹ im Kino gesehen!« Sie
kupferte den Cocteau ab und gab es als ihre eigene Idee aus.
Da wurde ich skeptisch. Später hat man sie natürlich aus Achtlosigkeit zu Tode gekränkt. Als die Deutsche Oper Berlin eröffnet
wurde, machte sie »Les Noces«, und Gustav Rudolf Sellner übernahm die Inszenierung, es wurde Tatjana nicht mehr zugestanden, für ihre Stücke einzustehen.
Als Tänzerin habe ich sie nicht gesehen. Aber ihre Choreographien hab ich alle gesehen. Das Tollste war ihre Fassung von
»Dornröschen«, weswegen sie aus Ost-Berlin wegging, die Russen redeten ihr immer rein. Dort fragte man sie: Warum trägt die
Fee weiß, sie muss blau tragen, sie heißt doch Fliederfee … Das
war ihr zu viel, diese Reinrederei, erst im Osten, dann nachher
die zu höchst gefeierte Frau, was Angela Merkel jetzt ist, war
Tatjana damals, die regierende, die Kunst regierende Frau. Erst
später kam Helene Weigel dazu mit ihrem Berliner Ensemble.
Vorher war das alles Tatjana.
Aber ich möchte nicht wissen, was man heutzutage sagen
würde, wenn man diesen »Hamlet« wiedersähe. Man hat ja
versucht, ein Remake zu machen, die fünf Hauptdarsteller waren
da, die das hätten einstudieren können, aber es kam nicht zu
stande, das Haus oder Reinholm oder wer auch immer verweigerten sich, deswegen ist ihre gesamte Arbeit ausgestorben.
Nicht einmal Susanne Linke wäre auf die Idee gekommen, das
zu rekonstruieren, wie etwa die Dore Hoyer-Tänze – eine
Schnapsidee erster Klasse. Wer kann die Hoyer, aus deren Knochen die Tänze geschnitzt sind, verkörpern? All dieses Neueinstudieren, dieses Herauspauken aus dem Grab, finde ich unerträglich und unergiebig. Auch diese berühmte Ausbuddelung
von Nijinskys »Sacre du Printemps« in der Erstfassung ist doch
eine Lächerlichkeit.
Das hieße ja, dass man überhaupt keine Rekonstruktionen machen kann, wie jene von Kreutzberg oder …
Nein, nein, kann man auch nicht, das ist ein Ding der Unmöglichkeit, man kann doch einen Menschen, der seine Kunst
auf seinen eigenen Körper gestellt hat, nicht von einem fremden
Körper nachmachen lassen.
Das bedeutet dann doch auch, dass kein Werk von einer nachfolgenden Tänzergeneration getanzt werden kann, denn jede
Generation hat andere Körper!
Nein, denn da geht es um die Wiedergabe von Choreographie. Und bei Dore Hoyer geht es nicht um Wiedergabe von Choreographie, sondern um Impersonifikation. Diese Person, die man
nachmachen will, deren Schritte macht man nach, aber das Ziel ist
ja, Dore Hoyer wieder lebendig werden zu lassen.
Nein, darum geht es ja nicht.
Um was geht es denn dann?
In seinem Element: Klaus Geitel in seinem »kleinen« Archiv (Foto: Dagmar Fischer)
auch hier im Westen. Das trug dazu bei, dass sie sich zurückzog, nur eine Wiederkehrfeier gab es mit »Raymonda«, wobei
sie nur die ersten beiden Akte machte. Und der dritte Akte wurde
dann von Bériozoff choreographiert. Sie war damals überhaupt
die einzige Choreographin in Deutschland, alles andere neben
ihr war Wischiwaschi, von Erich Walter in Wuppertal einmal
abgesehen. Sie hatte ein ästhetisches Ziel vor Augen und setzte
das wirklich um. Sie war keine Draufgängerin, sondern eine Lyrikerin, die mit Bedacht choreographierte, mit einem unverwelkten Schönheitssinn – es sollte ja schön sein.
Haben Sie Gsovskys »Hamlet« gesehen, mit Gert Reinholm?
Ja, sicher hab ich »Hamlet« gesehen. Die Gsovsky hatte im
Grunde, mal unter uns gesagt, keine Ahnung von neuer Musik.
Aber die nahmen das alle so hin. Boris Blacher, der ja auch
gerne gespielt werden wollte, nahm das in Kauf. Es gab ja auch
nichts Vergleichbares. Alles andere, was in Deutschland damals
hinkleckerte über die Tanz- oder Ballettbühnen, war doch absolute Null. Und Tatjana Gsovsky war damals die respektierteste,
Ballett Intern 3/2006
Um das Werk …
Es gibt ja gar kein Werk, außerhalb des Körpers von Dore
Hoyer gibt es kein Werk. Außerhalb von George Balanchine
gibt es natürlich ein Werk.
Witzigerweise, als Luchino Visconti Mary Wigmans »Sacre
du Printemps« sah, mit Dore Hoyer in der Rolle der Erwählten,
sagte er hinterher: »Sehr gute Choreographie, schlecht getanzt.«
Und von Dore Hoyer sagte er: »Sehr schlechte Choreographie,
gut getanzt.« Das war aber ihre eigene, sie hat es mitgestaltet,
Mary war empört, aber konnte nicht dagegen an.
Sie haben auch Mary Wigman noch tanzen sehen?
Ja, »Abschied und Dank« habe ich gesehen. Arme Mary,
nichts hatte sich so überlebt wie der deutsche Ausdruckstanz.
Das war ja auch der Untergang von Dore Hoyer.
Sie kannten sie auch persönlich?
Von ihr hab ich noch einen Brief, der es mir verbietet, ihre
Tanzabende zu besuchen und darüber zu schreiben. Und dann
entschuldigte sie sich wieder für ihren Brief. Sie hielt einen immer
fest und drehte einem die Knöpfe vom Jacket ab, damit man
nicht weglief. Ich habe an ihrem Grab gesprochen.
Sie selbst war ja eine Unerträglichkeit. Sie lebte in ihrer eigenen hermetisch geschlossenen Welt, und mit anderen zu arbei19
ten, war ihr schon dadurch eine Unmöglichkeit. Sie konnte eigentlich nur sich selbst ausleben auf der Bühne. Und beim letzten
Mal, als ich sie traf, hielt sie mich fest und sagt, sie ginge jetzt
ab von der Bühne. Das hab ich in meiner Totenrede am Grab
erzählt, ich war zu feige zu fragen, wohin? Denn für sie gab es
ja wirklich nichts mehr, wo sie hätte hingehen können. Keiner
wollte sie, keiner wollte etwas mit ihr machen.
Wo hört denn Ihrer Meinung nach die Transportierbarkeit von
Tanz auf? Beim Solo, oder bei einer bestimmten Form persönlicher Gestaltung?
Beim Eigenschöpferischen von Tänzerinnen und Tänzern.
Wenn man die Leute gekannt hat, dann kam man doch gar nicht
auf die Idee. Dass sie trotzdem glaubten, sie können es nachmachen, spricht nicht für die Vorlage, und noch viel weniger für die
Nachahmung.
Auch die Choreographie zum »Sacre« war komplett vergessen, drei Jahre nach der Uraufführung wusste keine Sau mehr,
welcher Schritt da getanzt worden war. 50 Jahre später kamen
die Amerikaner Millicent Hodson und Kenneth Archer und studierten das wieder ein, es sah aus wie eine getanzte Operette!
Ich will Ihnen auch sagen warum: Das Zeitgefühl hatte sich völlig
verändert. Die hüpften rum wie die Rehlein, während man in alten Filmen sieht, wie langsam und nachdrücklich sich die Leute
bewegten. Entsetzensvoll. Also: Was weg ist, ist weg im Tanz,
und man kann es schlecht rekonstruieren. Selbst die Einstudierungen der Erbinnen von Balanchines Werk haben ja keine Ahnung, wie das wirklich aussehen sollte. Ich erinnere mich, ich
war eingeladen von Rolf Liebermann, die Ankunft von Balanchine in Hamburg zu feiern und die ersten Proben von ihm zu sehen. Und seine New Yorker Assistentin hatte »Concerto Baroccco«
einstudiert, und Balanchine setzte sich hin und nun führte ihm die
Truppe das Ding vor. Und dann kniete sich der alte Herr nieder
und korrigierte die ersten drei Stunden lang jeden einzelnen
Schritt, der eine war zu weit, der andere zu kein, beim dritten
war die Kniebeuge zu stark usw. Drei Stunden lang korrigierte er
an den ersten 20 Takten herum. Das war die Einstudierung, und
so geht das weiter, die studieren das immer wieder ein...
Aber gerade das ist ja ein Beispiel, von dem Sie sagten, es sei
transportierbare Choreographie …
Ja, angeblich, aber es ist eben keine wirklich transportierbar.
Das müssen wir nun mal langsam lernen. Wir können sie aufzeichnen und festhalten, die einzige Aufzeichnung, die zählt, ist
die im Film, selbst wenn Georgette Tsiunguiridis 85 Jahre alt wird
und das alles schön aufschreibt. Aber was dabei heraus kommt,
ist weißer Käse.
Halten Sie nichts von Tanzschrift?
Doch, ich finde das wunderbar, dass man das aufzeichnet
und der Vergangenheit auf diese Weise entreißt. Nur wenn man
bei der Einstudierung danach weder das Temperament noch die
Visionskraft des Originalschöpfers mit einbringt, dann bleibt diese Schrift trocken wie Scheibenkleister.
Die kann man ja nicht mit einbringen, man ist ja jemand anderer …
Dann muss das einer einstudieren, der das hat.
So wie Anna Markard die Werke von Kurt Jooss?
Jetzt kommen Sie auf dieses Schreckgespenst des »Grünen
Tisches« zu sprechen … Ich habe zu diesem politischen Ballett
20
geschrieben, was ich darüber denke: Als Hitler es sah, trat er
aus dem Völkerbund aus, verließ die Herren am grünen Tisch,
da machte er nicht mehr mit. Das habe ich auch geschrieben,
die Folkwang-Clique ist empört darüber, wenn ich sage, dass
Jooss in seiner Vernageltheit das Gegenteil von dem bewirkt,
was er bewirken wollte.
Sie sind nicht nur Journalist, Sie haben auch praktische Bühnenerfahrung, denn als junger Mann waren Sie in der Tanzstatisterie.
In »Joan von Zarissa« von Lizzie Maudrik, zum Beispiel. Das war
eine von Egk sehr schön komponierte Erzählung, eine Don Juan
Geschichte. In der Schlachtszene kamen acht Ritter von links und
acht von rechts (ich war von rechts einer), die dann mit Schwertern
aufeinander loshauten; während wir die Schwerter hoben, wurde
es dunkel, und wir hauten dann mit kräftiger Hand den anderen auf
den Hinterkopf. Man musste sich schnell wegducken, aber immerhin gab es in der Tanzstatisterie statt 2,90 Mark sogar 3,90 Mark
wegen der blauen Flecke! Und wer sich schwarz anmalen musste,
bekam sogar 4,90 Mark und ein Stück Kernseife dazu, das war
damals das Wichtigste! ■
Klaus Geitel,
Zum Staunen geboren,
Stationen eines
­Musikkritikers,
Berlin 2005,
Henschel Verlag,
ISBN 3-89487-496-1,
24,90 €
Nur noch antiquarisch
erhältlich ist der folgende
Band:
H. H. Stuckenschmidt,
Zum Hören geboren,
München 1979,
R. Piper & Co. Verlag,
ISBN 3-492-02405-X
In der Universal-Bibliothek der Reclam-Reihe ist in Zusammenarbeit von Horst Koegler und Klaus Kieser die 2. Auflage
des »Kleinen Wörterbuchs
des Tanzes« erschienen. Von Abstrakter Tanz bis zeitgenössischer Tanz
informiert das Sachwörterbuch über
traditionelle und moderne Tänze, erläutert Fachausdruck und erklärt alle
wichtigen Schrittformen. Bedeutende
Tanzpreise werden genannt, Tanzarchive, Tanzschulen und -akademien
sowie Fachzeitschriften. Horst Koegler ist Ballett- und Musikkritiker von
internationalem Ruf, Klaus Kieser ist
Verleger und Tanzpublizist. 124 S.,
zahlr. Zeichn., brosch., ISBN 3-15018421-4, 4,00 €
Ballett Intern 3/2006
»Die große Dürre«
Ess-Störungen im Tanz, Teil 5: Prophylaxe
Von Eileen Wanke
»Do not eat less – eat nothing.« (George Balanchine)
Zu den Voraussetzungen für eine Berufsausbildung und eine erfolgreiche Berufsausübung gehören neben technischen Fertigkeiten auch eine von der Tanzästhetik geforderte körperlich-ästhetische Idealform. Die Anforderungen an dieses Idealbild variieren
zwar von Stilrichtung zu Stilrichtung leicht, sind aber deswegen
nicht weniger extrem. Dabei sind die Anforderungen im negativen Sinne häufig grenzüberschreitend und sowohl mittelfristig
wie langfristig körperlich stark und – bis zum Lebensende bleibend – schädigend. Denn, da das körperliche Erscheinungsbild
auch genetisch determiniert ist, wird bei nicht Übereinstimmung
des körperlichen Wunschbildes mit der Realität nicht selten eine
berufsbegleitende Ess-Störung in Kauf genommen oder indirekt im
Rahmen der Ausbildung oder bei der Jobsuche gefördert und
gefordert, um eine gewünschte Tanzkarriere zu verwirklichen.
Der Tanz stellt hinsichtlich des Ess-Verhaltens die am besten
untersuchte Sportart dar. Auch vergeht kaum ein Tag, an dem in
den Medien nicht über dieses Thema gesprochen wird oder
man darüber lesen kann. Die Zahl der Krisendienste und Internet­
adressen wächst wöchentlich. Zum Teil kommt es auch zu Maßnahmen im Interesse der Sportler wie beispielsweise beim Skispringen. Hier wurde nach einer Häufung von Ess-Störungen ein
Mindest Body Mass Index als Voraussetzung für eine Startberechtigung eingeführt. Es ist bei dieser enormen Medienpräsenz
nur schwer vorstellbar, dass sich die gesundheitliche Problematik
von Dauerdiäten ausgerechnet in der Tanzwelt bei den Verantwortlichen oder auch Eltern und Schülern noch nicht herumgesprochen hat. Der fahrlässig gefährdende Umgang mit der Gesundheit heranwachsender Schüler sowie später erwachsenen
Tänzern zeigt sich schon frühzeitig in einem Anstieg der Verletzungsrate, aber oftmals eben auch erst jenseits des KarriereEndes in Form eines die Lebensqualität extrem beeinträchtigenden Knochenschwundes.
Das sollten sich nicht zuletzt die verantwortlichen Personenkreise in Ausbildung und Beruf immer wieder vor Augen führen,
auch wenn es unangenehm und möglicherweise mit der Aufarbeitung einer ganz individuellen eigenen autobiografischen Geschichte einer Ess-Störung verbunden ist. Doch wenn es nur reine
Unwissenheit wäre, so müsste man erwarten, dass jede Gelegenheit einer Fortbildung, sei es in Form von Vorträgen oder
Workshops, genutzt würde. Doch so ist es nicht. Die Erfahrungen
zeigen, dass ausgerechnet die Betroffenen aus allen Berufsbereichen, vom Pädagogen bis zum Schulleiter und zum Tänzer selber, jede Art von Konfrontation vermeiden, die Problematik ignorieren oder gar bagatellisieren – alles ganz schlechte
Voraussetzungen für mögliche Veränderungen, die im Tanz weiter weg sind, als in jedem anderen Bereich.
Ess-Störungen und Sport
Zahlreiche Studien konnten aufzeigen, dass Ess-Störungen unter
Sportlern häufiger auftreten als innerhalb der nicht sporttreiBallett Intern 3/2006
benden Bevölkerung. Das trifft sowohl für die definierten Ess-Störungen Anorexia nervosa, Bulimia nervosa als auch für die atypischen Ess-Störungen zu. Dabei sind – wie in der nicht
sporttreibenden Normalbevölkerung – Sportlerinnen in stärkerem
Maße betroffen als Sportler. Das Risiko steigt bei
– nicht überwachten Gewichtskontrollen, wie z. B. unkontrollierten oder selbstkontrollierten Diäten
– bei präpubertärem Beginn eines leistungsorientierten Trainings
– einer hohen psychischen Belastung
– einem exzessiven Training
– einer entsprechenden Prädisposition in Abhängigkeit von der
Sportart.
Diese genannten Risiken treffen auch alle für den Tanz zu. Als
Gründe für das vermehrte Auftreten von Ess-Störungen im Sport
werden unter anderem diskutiert:
– eine extrem ziel- und wettkampforientierte Persönlichkeitsstruktur in Kombination mit einem Hang zum Perfektionismus.
Diese Attribute sind im Sport häufig, finden sich aber auch
bei an Ess-Störungen erkrankten Personen.
– das Zusammentreffen aus Erwartung an eine maximale Leistungsfähigkeit, hohen Belastungen im Wettkampf mit den
einschneidenden Veränderungen des Körpers während der
Pubertät, die einen angestrebten Erfolg beeinträchtigen
könnten.
– das Ausüben einer Sportart, in der neben der allgemeinen
technischen Leistung das Körpergewicht maßgeblich Einfluss
auf den Erfolg nimmt.
In Abhängigkeit vom Studiendesign werden Störungen des EssVerhaltens bei 15–78 % aller Sportlerinnen angegeben. Dem
gegenüber stehen kontrollierte Studien, in denen kein erhöhtes
Auftreten von Ess-Störungen im Sport nachgewiesen oder gar ein
im Vergleich zur jeweiligen Kontrollgruppe vermindertes Auftreten von Ess-Störungen bei Sportlerinnen beschrieben wurde.
Das Vorkommen von Ess-Störungen im Sport steht mittlerweile
außer Frage, wobei über das tatsächliche Ausmaß noch zu wenig bekannt ist. Hinweise auf die Ausbreitung und die hohe Dunkelziffer liefern nicht zuletzt die oftmals späten, aber spontanen
Berichte der betroffenen Sportler und Sportlerinnen selbst.
Ess-Störungen sowie die Sonderform, die Anorexia athletica,
kommen vor allem in Sportarten vor, in denen neben der sportlich-technischen Leistung auch ein körperliches Idealbild gefordert wird.
Viele Studien stellen eine erhöhte Prävalenz für Ess-Störungen
insbesondere in den ästhetischen Sportarten dar. Neueste Ergebnisse einer zweistufigen Studie weisen eine Prävalenz von
42 % von Frauen in ästhetischen Sportarten auf. In Ausdauersportarten findet sich die Prävalenz bei 24 % und in Gewichtssportarten bei 17 %. Die männlichen Sportler zeigen eine geringere Gefährdung als die Sportlerinnen, im Vergleich zur
Normalbevölkerung eine jedoch signifikant erhöhte Prävalenzrate. Dieses betrifft die »technischen Sportarten« von 22 %, gefolgt von den Gewichts-, Ausdauer- und Ball-Sportarten (9 %
bzw. 5 % Prävalenz).
Ess-Störungen im Tanz
»Die Immatrikulation erfolgt gemäß §(…) des Hochschulgesetzes
unter Vorbehalt. Sie haben bis zum Studienbeginn den Nachweis zu erbringen, dass Sie Ihr Gewicht auf 50,00 kg
reduziert haben. Dieses Gewicht darf auch während Ihrer
Studienzeit nicht überschritten werden.«
21
»(…), dass die Zulassung (…) aufgehoben wird, wenn Sie nicht das
für das Studium erforderliche Gewicht nachweisen können.«
(aus einem Vertrag einer ausbildenden Schule in Deutschland)
Größe BMI bei 50 kg Körpergewicht
160 cm
20,0
161 cm
19,0
162 cm
19,0
163 cm
18,8
164 cm
18,6
165 cm
18,4
166 cm
18,1
167 cm
17,9
168 cm
17,7
169 cm
17,5
170 cm
17,5
Bei einer Körpergröße ab 169 cm wäre damit schon ein Krite­
rium für das Vorhandensein einer manifesten Ess-Störung erreicht.
Dieses zeigt auch, dass das Körpergewicht ohne Berücksichtigung der Körperzusammensetzung ein völlig unzureichender
Parameter darstellt, der die Entwicklung von Ess-Störungen begünstigt. Dieses Vorgehen sollte von seriösen Berufsausbildenden
Schulen unbedingt vermieden werden. Eltern und verantwortliche Pädagogen sollten bei Bescheinigungen oder Verträgen
(s.o.) höchste Aufmerksamkeit entwickeln.
»I want to see bones.« (George Balanchine)
Schon zu Beginn der siebziger Jahre wurden die ersten Untersuchungen zu Ess-Störungen im professionellen Tanz durchgeführt.
Damit gehört der Tanz zu den am besten untersuchten Sportarten. Leider bestehen bei genauer Betrachtung sehr große Lücken,
die im Interesse der Tänzer gefüllt werden müssen. Sind beispielsweise im professionellen Bühnentanz die Tänzerinnen gefährdet, so sind es im Tanzsport auch zunehmend die Tänzer.
Auch besteht eine starke Abhängigkeit von der Stilrichtung und
vom Geschlecht. Zuverlässige Studien gibt es nur aus dem Ausbildungsbereich, nicht jedoch aus dem professionellen Bereich.
Darüber hinaus ist folgendes bekannt:
– Ess-Störungen in Non-Elite Ensembles stärker ausgeprägt aufgrund der Selektion
– Korrelation zwischen Persönlichkeitsstruktur und nachfolgender Ess-Störung nach einer Zeit in Ballettumgebung
– Familiär gehäuftes Auftreten von Ess-Störungen in Tänzerfamilien
– Das Auftreten von Ess-Störungen im Tanz ist wesentlich häufiger als in der Normalbevölkerung bei hohen Schwankungen
in Abhängigkeit der Untersuchungsmethoden, Anzahl der
Untersuchungsmethoden, untersuchten Gruppen und Untersucher. Die Angaben reichen von 3,5 % an Schulen mit Ausbildungscharakter über 7,6 % an renommierten Schulen bis hin
zu 25,7 % bei heranwachsenden Tänzern/Tänzerinnen allgemein. Zu beachten ist hierbei, dass zuverlässig nur die
manifest ausgeprägten Ess-Störungen erfasst werden können.
Daher ist darüber hinausgehend von einer extrem hohen Dunkelziffer an unspezifischen Ess-Störungen auszugehen.
Prävention von Ess-Störungen
Aufgrund der multifaktoriellen Ursachen ist eine gezielte Präven­
tion von Ess-Störungen sehr schwierig. Wichtig sind neben einer
gezielten Aufklärung die Förderung eines gesunden Selbstwertgefühls sowie das Anregen einer kritischen Haltung dem bestehenden Schönheitsideal gegenüber. Bei der Anorexia athletica können die präventiven Maßnahmen jedoch darüber hinausgehen:
– Aufklärung und Problematisieren des Themas Ess-Störungen
– regelmäßige körperliche Untersuchung einschließlich
Gewichtskontrolle und Körperhöhenkontrolle
– Aufklärung über Gefahren großer Gewichtsschwankungen
(»weight cycling«)
– Kontrolle der sportlichen Leistungskurve
– Führung einer individuellen Verletzungsstatistik
– Ernährungsberatung und Ernährungsoptimierung
– Psychologische Betreuung
Es gibt zahlreiche Maßnahmen, die eine Entwicklung von EssStörungen entweder begünstigen oder auch vermeiden helfen
können, die im Folgenden unter »Do« und »Don’t« zusammengefasst werden. Diese Liste ist keinesfalls vollständig, sollte aber in
jedem Theater sowie in jeder Ausbildungseinrichtung äußerste
Priorität erhalten. Ein Verstoß ist nicht akzeptabel und sollte entsprechend im Interesse der Tanzenden nicht geduldet werden. Es
ist weiterhin darauf zu achten, dass Pädagogen oder Pädagoginnen aufgrund ihrer eigenen Betroffenheit nicht als Multiplikatoren geeignet sind, Veränderungen im Sinne der Tänzer und
Tänzerinnen durchzusetzen. Dieses kann ebenso für Ernährungsberater und Ernährungsberaterinnen gelten.
»Do …!«
Versuch der Verbesserung der Ernährung durch:
– Information und Aufklärung
– z. B. Kochkurse
– Regelmäßige kompetente Aufklärung
– der Pädagogen
– der Choreographen
– der Theaterleitungen
– der Tänzer
– der Eltern heranwachsender Tänzerinnen und Tänzer
– Verbesserung der Situation der Tänzer und Tänzerinnen
– Verträge
– Berufliche Karriere und Alternativen
– Rechte / Einfluss auf Entscheidungen
– Entwicklung von Interessen zur erweiterten Freizeitgestaltung
– Früher Einsatz und regelmäßiger Einsatz von Testverfahren
als mögliche Prophylaxe
– Gute Selektion im Sinne regelmäßiger Eignungs- bzw. Screeningverfahren zur Feststellung einer körperlichen Eignung
22
Ballett Intern 3/2006
–
–
–
–
–
–
–
durch einen im Tanz erfahrenen, in keinem Abhängigkeitsverhältnis zur Ausbildungseinrichtung oder Theater stehenden
Experten
Optimale, individuelle und diskrete Beratung von Tänzerinnen/
Schülerinnen einschließlich einer regelmäßigen Kontrolle
Führen eines Ernährungstagebuches
Zeit für eine eventuelle Gewichtsreduktion innerhalb indivi­
dueller Grenzen, die eine Gesunderhaltung garantieren
Thematisierung der Problematik des erhöhten Auftretens von
Ess-Störungen im Tanz
Erweiterung des Horizontes hinsichtlich anderer alternativer
Berufsbilder
Entwicklung der Selbstverantwortung und Selbständigkeit junger Tänzerinnen und Tänzer
Unabhängige Aufklärung der Erziehungsberechtigten zu Gefahren und Folgen bei restriktivem Ess-Verhalten.
»Don’t …!«
Begünstigend für die Entwicklung von Ess-Störungen im Tanz und
daher unbedingt und unter allen Umständen vermieden werden
sollten:
– ein regelmäßiges Wiegen vor der Gruppe
– Androhungen von Sanktionen, wie beispielsweise die Drohung, auf eine Pas de Deux Trainingsarbeit bei einem Körpergewicht von über 50 kg verzichten zu müssen oder die Schule
verlassen zu müssen bei Überschreitung eines Sollgewichtes
– Durchführung von angedrohten Sanktionen
– Kommentieren von Figur und Körpergewicht durch
– Pädagogen
– Trainingsleiter
– Choreographen
– In einem Abhängigkeitsverhältnis zur Ausbildungseinrichtung
stehenden Ernährungsberatern. Hierbei ist – sofern die Berater aus dem Tanzbereich stammen – darauf zu achten, dass
diese nicht selber unter einer Ess-Störungen leiden.
– Schul- oder Theaterleitungen
– Tägliches Wiegen zu Hause oder in der Einrichtung
– Ein individuell zu niedrig angesetztes Zielgewicht
– Fasten/»Kollektivhungern« (Hungern in der Gruppe)
– Crash-Diäten
– Kalorienzählen
– Gegenseitiges »Um-die-Wette-Hungern«
– Alle Maßnahmen des »Gewichtmachens«, wie beispielsweise
der Einsatz abführender Maßnahmen
– übermäßiges Schwitzen bei unzureichender Flüssigkeitszufuhr (Schwitzhosen, Plastikfolie)
– Saunagänge ohne Flüssigkeitsersatz
Genauso kompromisslos, wie sich der Tanz bezüglich der technischen Anforderungen und anatomischen Voraussetzungen präsentiert, genauso kompromisslos sollte auch mit jeglichem re­
striktiven Ess-Verhalten von heranwachsenden Tänzern und
Tänzerinnen umgegangen werden. Da durch das Tanzen, aufgrund der Art der Bewegungsmuster und Energiebereitstellung,
eine Gewichtsabnahme nur schwer möglich ist, sind Berufsbegleitende Diäten häufig die Folge. Dieses ist jedoch aus gesundheitlich-medizinischer Sicht nicht akzeptabel und sollte genauso
zu einem Ende der Karriere oder alternativen Ausbildung führen
wie es auch die Folgen einer Verletzungen tun könnten. Da nicht
zu erwarten ist, dass diese Entscheidung von den Auszubildenden selber getroffen wird, muss dies im Sinne eines langfristig
präventiven Gedankens und aus Gründen der Seriosität von den
Ballett Intern 3/2006
Verantwortlichen übernommen werden. Regelmäßige Screeningverfahren und akkurate Aufnahmeuntersuchungen können dabei
helfen. Denn nur mit einer optimalen Ernährung ist verletzungsfreies Tanzen ohne Spätschäden möglich.
Weiterführende Informationen im Internet:
Im Internet stehen zahlreiche Adressen zur Verfügung. Hier gibt
es Informationen sowie
– Krisendienste
– Adressen in Deutschland, Österreich, Schweiz
– Anlaufstellen in Wohnnähe
– Anlaufstellen in der Schweiz/Österreich
– Literaturtipps
– Forum zum ( auch anonymen ) Austausch und Chat
– www.bzga.de (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung)
– www.hungrig-online.de
– www.magersucht-online.de
– www.bulimie-online.de
– www.adipositas-online.de
– www.essprobleme.de
– www.Ess-Stoerungen.net
– www.magersucht.de
– www.ernaehrung.de
– www.elternimnetz.de
Wichtige Adressen:
– Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
Ostmerheimer Strasse 220, 51109 Köln,
Tel. 0221-8992329
– Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (DHS ) e. V.
Westring 2, 59085 Hamm
– Freiburg: Durch Dick und Dünn, Grünwälderstraße 19,
79098 Freiburg, Tel. 0761-701483
Kieler Akademie für moderne Gymnastik,
Rhythmik und Tanz 2006
17. Juni – 21. Juni 2006
Jazztanz Dick O’Swanborn
Rotterdam
Musical Dick O’Swanborn
Steptanz Ray Lynch
Stuttgart
Hip Hop Cecile Kramer
Zürich
Ballett John Bliekendaal
Arnheim
Modern Dance Christa Coogan
München
Elementarer Tanz Philipp Sander
Köln
Pilates Kerstin Reif
Bremen
17. Juni 2006
Kieler-Woche-Symposium
Referent: John Bliekendaal – ArtEZ – Tanzakademie Arnheim
19. Juni – 21. Juni
48. Internationales Kieler Gymnastiktreffen
– Vorführungen in Gymnastik und Tanz –
Information:
Ellen Cleve-Kreis e. V., Boninstraße10, 24114 Kiel
Tel. 0431/62140 Fax 0431/678487 E-Mail [email protected]
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Ingeborg Kölling gratulieren
wir zum 80. Geburtstag
Von Heike Hänscheid
Herz und Kopf hat Ingeborg Kölling-Keller ihr Leben lang in vielen Funktionen für den Tanz eingesetzt – dazu war sie Jahrzehnte
lang als Tänzerin und Pädagogin tätig. Am 21. Mai vollendete
sie nun ihr 80. Lebensjahr – und die Verantwortung, die sie für
Ballett und Tanzkunst immer gespürt und gelebt hat, treibt sie
auch im Un-Ruhestand noch um.
Geboren wurde die heute in Münster lebende Ingeborg Keller
in Dresden, wo sie vom Kinderballett bis zur examinierten Tänze-
rin an der Semperoper ausgebildet wurde und engagiert war.
1944 musste das Haus wegen des Krieges seine Arbeit einstellen. Die junge Solotänzerin wechselte an die Bayerische Staatsoper in München und traf dort auf den Choreographen und Ballettchef Rudolf Kölling – »eine schicksalhafte Begegnung« sagt
die Jubilarin, denn aus der beruflichen Zusammenarbeit wurde
rasch auch eine persönliche: Seine Solotänzerin und spätere Assistentin auch beim Eisballett von Maxi und Ernst Baier, für das
Kölling als Choreograph arbeitete, wurde seine Frau.
Gemeinsam wechselten sie 1955 an die Städtischen Bühnen
nach Münster, wo der Theaterneubau 1956 (der berühmte architektonische »Donnerschlag« in der Nachkriegszeit) die Arbeitsbedingungen enorm verbesserte. Das Ballett-Corps wurde damals
in nahezu jeder Aufführung eingesetzt: Oper, Operette oder Kindermärchen, dazu gab es natürlich Ballett-Abende. Aus der Betreuung des Kinderballetts am Stadttheater erwuchs für das Ehepaar Keller-Kölling dann die Aufgabe nach der Theaterzeit:
Beide gründeten 1963 Münsters erste private Ballettschule, in
der Tochter Nicole wie selbstverständlich in die Welt des Tanzes
hineinwuchs – auch sie wurde Tanzpädagogin und leitete später
einige Jahre lang die elterliche Schule.
Nach dem Tod von Rudolf Kölling 1970 lastete die Verantwortung für das Ballettstudio allein auf Ingeborg Köllings Schultern,
doch sie packte zu, zog gar mit der Schule in größere Räume
und erweiterte das Lehrangebot. Dabei bot sie als Erste Unterricht
und Prüfungen nach dem Lehrplan der Royal Academy oft Dance
(London) an. Dafür hatte sie in London selber eine RAD-Prüfung
abgelegt. Der Aspekt der einheitlichen Ausbildung mit überprüfbaren Standards vor allem in einem kindgerechten Unterricht war
für sie stets bedeutend: Auf Seminaren machten sie und ihre Kol24
legen vom neu gegründeten Berufsverband für Tanzpädagogik
(natürlich war sie hier Gründungsmitglied!) die Ideen und Motive
hinter der Qualitäts-Sicherung landauf, landab bekannt – allein
17 Jahre war die Münsteranerin im Vorstand des Verbands, aus
dem sie erst 2004 offiziell ausschied und in dem ihr Wissen und
ihre sachlich-ruhige Art auch heute noch gefragt sind.
Auch wenn die Ballettschule seit 1992 geschlossen ist, hat
der Tanz seinen Stellenwert im Leben von Ingeborg Kölling behalten: In der lokalen Kooperative der Ballett- und Tanzszene
arbeitet sie mit beim traditionellen Tanzfestival, nimmt Anteil am
Geschehen rund um den Tanz in Deutschland und hat die Beschäftigung mit der Kunst inzwischen auf Literatur und Geschichte – u. a. beim Studium im Alter – ausgeweitet.
Kopf und Herz hat sie ihr ganzes Leben lang für das Ballett
eingesetzt – und sie tut es noch heute! ■
Sybil Shearer ist tot. Die in Toronto geborene Tänzerin, Choreo­
graphin und Pädagogin starb im November 2005 im Alter von
93 Jahren. Von Doris Humphrey ausgebildet, tanzte Shearer in der
Humphrey-Weidman-Company, bis sie sich 1938 mit eigener
Truppe selbständig machte. Nach einer kurzen Laufbahn als Solotänzerin zog sie in den vierziger Jahren von New York nach Chicago, dort ließ sie das Winnetka Community Theater zu einem
Studio und privaten Tanztheater umbauen. Innerhalb der Modern
Dance Generation war sie eine Einzelgängerin, Rituale im Tanz
haben sie zeitlebens beschäftigt. Der Hamburger Choreograph
und Ballettintendant John Neumeier arbeitete in den sechziger Jahren mit ihr und tanzte zeitweise in der »Sybil Shearer Company«.
Der Neubau der Palucca Schule Dresden – Hochschule für
Tanz wurde am 11. April 2006 feierlich übergeben. Er umfasst im Wesentlichen neue Tanzsäle mit einer Fläche von ca.
1270 qm sowie das Internat mit 50 Plätzen. Gret Palucca gründete ihre Schule 1925, an der heutigen Tanzhochschule lernen
200 Studenten.
Tanzkunst in die Schule! ist der Titel der Weiterbildung für
kreativ-künstlerischen Tanz, die die Fakultät der Sportwissenschaft
mit Kooperationspartnern in München ab Oktober für zunächst
ein Jahr in Form von Wochenendmodulen anbietet. Referenten
sind u.a. Jenny Hill, Prof. Barbara Haselbach, Christa Coogan
und Dr. Katja Schneider. Anmeldetermin ist der 10. Juli 2006.
Weitere Informationen unter www.tanzkunst-in-die-schule.de
Der Film »Behind the Curtain« startete im April 2006 in
Berlin. Er porträtiert zwölf sehr unterschiedliche Tänzer, die eines
gemeinsam haben: Sie alle kamen nach New York, um dort ihre
Tänzerkarriere voran zu bringen. Unter den Darstellern sind u.a.
die Prima Ballerina Assoluta Eva Evdokimova, Wendy Whelan
vom New York City Ballet und Carrie Ellmore von der Martha
Graham Dance Company.
Der Fonds Darstellende Künste vergab in seiner ersten
Kuratoriumssitzung 2006 ingesamt 528.880 Euro an 85 herausragende Projekte aller Sparten der darstellenden Künste, die sich
durch ihre besondere Qualität auszeichnen, von gesamtstaatlicher
Bedeutung sind und zur künstlerischen Weiterentwicklung der darstellenden Künste beitragen. www.fonds-daku.de
Ballett Intern 3/2006
Deutscher Berufsverband für Tanzpädagogik e. V.
11. Internationale
Sommertanzwoche
Bregenz 2006
6. bis 12. August 2006
3. Sommer-Intensiv-Woche
Tanzpädagogik Bregenz 2006
Seminarblock zur beruflichen Weiterbildung
6. bis 11. August 2006
Was bietet die 11. Internationale Sommertanzwoche Bregenz 2006?
Tanz – Ferien – Festspiele – Natur!
Unser Unterrichts-Programm:
Ballett / Spitzentanz / Jazztanz / Musicaltanz / Tanztheater / Freier Tanz / Charaktertanz / Folklore / Hawaiianischer Tanz
für unsere Jugend ab etwa 8 Jahren bis zum »Fortgeschrittenen Standard«
Unsere hochqualifizierten Dozenten:
Gabriele Cupelli, Kaleiula Kaneao, Pauline King, Prof. Martin Puttke, Günther Rebel,
Angela Reinhardt, Chesse Rijst, Dick O’Swanborn, Dr. med. Eileen Wanke, Ulla Wenzel
Unsere versierten Musiker:
Peter Jones, Beatriz Parody, James Schar
Unsere künstlerische Leitung und Organisation:
Ulrich Roehm ARAD, FRAD, »Patron«/Schirmherr der Royal Academy of Dance Deutschland/Österreich
Ursula Neuhaus RAD Teaching Diploma
Unsere Studios:
In Zusammenarbeit mit der Landeshauptstadt Bregenz stehen uns großzügige Unterrichtshallen mit Schwingboden zur Verfügung.
Unsere Unterkunft:
Als Unterkunft steht uns – nur wenige Gehminuten von den Unterrichtsstätten entfernt – das Studien-Internat »Marianum« sowie
das »Jugend-Gästehaus Bregenz« zur Verfügung. Die Preise, inkl. Vollpension und Getränken (Frühstück, Lunchpaket mittags, warme
Abendmahlzeit – nach Absprache auch vegetarisch) betragen: Mehrbettzimmer (Etagendusche) 33,00 EURO (pro Tag/Person) — zzgl.
Kur-Taxe ab 14 Jahre p.P./Tag 1,24 EURO.
Unsere Betreuung:
Für die jüngeren Kinder und Jugendlichen stehen rund um die Uhr neben Ursula Neuhaus weitere erfahrene Betreuerinnen zur Verfügung.
Diese gehen – im Rahmen der Möglichkeiten – auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen ein und helfen auch bei
auftretenden Unpässlichkeiten. Es wird ein interessantes, auf die Bedürfnisse und die zeitliche Situation der Teilnehmer abgestimmtes
Freizeitprogramm gestaltet: Schwimmen, Tretboot-Fahren, Stadt- und Seebühnenführung, Inline-Skating, Ralley u.v.a.m. sind erfahrungsgemäß beliebte Aktivitäten. Bei Interesse werden auch Ausflüge mit der Seilbahn zum Pfänder, eine Bodensee-Fahrt u.a. angeboten.
Auf alle weiteren Fragen gibt Ihnen
Ursula Neuhaus gerne Auskunft: Tel. und Fax: 0049 (0)6184 / 62 972
Di. 9:00–10:00 und 20:15–21:00 Uhr / Fr. 9:00–10:00 Uhr
E-Mail: [email protected]
www.tanz-ereignisse.de
Ballett Intern 3/2006
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Fon: (0201) 23 18 92 · Fax: (0201) 22 64 44
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Ihre Adresse für
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– Spitzenschuhe
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