Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik

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Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik
Antonius H. Gunneweg
Vom Verstehen
des Alten Testaments
Eine Hermeneutik
Grundrisse zum alten Testament
Vandenhoeck & Ruprecht
Band 5
A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik
Grundrisse zu m Alten Testamen t
5
V&R
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
ISBN Print: 9783525516683 — ISBN E-Book: 9783647516684
A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik
Grundrisse zum Alten Testament
Das Alte Testament Deutsch · Ergänzungsreihe
Herausgegeben von Walter Beyerlin
Band 5
Vom Verstehen des Alten Testaments
Eine Hermeneutik
Vandenhoeck & Ruprecht
in Göttingen
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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Vom Verstehen des Alten Testaments
Eine Hermeneutik
von
A. H. J. Gunnewe g
Zweite, durchgesehene un d ergänzt e Auflag e
Vandenhoeck & Ruprech t
in Göttingen
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Meinen Täuflingen un d Patenkinder n
Claus und Jochen Gasteyer ,
Sixta Schmithal s
sei dies Buch gewidme t
CIF'-Titelaufnahme de r Deutsche n Bibliothe k
Gunneweg, Antoniu s H . f. :
Vom Verstehe n de s Alten Testament s : e. Her meneutik / von A. H. J.Gunneweg. - 2. , durchges. u. erg. Aufl. - Göttingen : Vandenhoeck u .
Ruprecht, 1988
(Grundrisse zu m Alte n Testament; Bd . 5)
ISBN 3-525-51660-6
NE: G T
2. Auflage 1988
© Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1977. - Printe d i n Germany.
Alle Recht e vorbehalten . Ohn e ausdrücklich e Genehmigun g de s Ver lages is t e s nicht gestattet , da s Buc h ode r Teile darau s auf foto - ode r
akustomechanischem Weg e z u vervielfältigen .
Gesamtherstellung: Huber t & Co. , Göttingen.
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Inhalt
I. Kapitel: Da s Alt e Testamen t al s hermeneutische s Proble m 7
II. Kapitel: Da s Alt e Testamen t al s Erb e 1
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
Der Kanon de r Väter 1
Die Haltung Jes u 1
Das Alt e Testamen t i n de n nachösterliche n Gemeinde n 1
Der Bruc h mi t de r jüdische n Vergangenhei t 2
Verheißung, Weissagung , Typo s 2
Die Allegores e 3
Das „Alt e Testament " 3
Die Einheit vo n Al t un d Ne u 3
Die dogmatische Verdrängun g de s Problems 3
III. Kapitel: Da s Alt e Testamen t i m Lich t de r Reformatio n un d i m Feue r de r
historischen Kriti k 4
1. Die sakramentale Vergegenwärtigun g 4
2. Die Wiederentdeckung de r Schrif t 4
3. Luther un d da s Alte Testamen t 4
4. Dogmatisches Syste m un d kirchlich e Restauratio n 5
5. Das Inspirationsdogma un d di e Vorherrschaf t de r Dogmati k
6. Die Anfänge de r Geschichtstheologi e
7. Die philologische un d historisch e Wissenschaf t 6
8. Die Infragestellung de r „biblische n Geschichte "
9. Versuche eine r neue n „Theologie " de s Alte n Testament s
10. Zusammenfassung un d Ausblic k 8
IV. Kapitel: Da s Alt e Testamen t al s Geset z un d Bundesurkund e 8
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Kanon un d Geset z 8
Das Alte Testamen t al s Geset z un d Grundordnun g de r Kirch e 9
Die Ablehnung de s „Judengesetzes " 10
Das „prophetische " Kanonverständni s un d die Relativierun g des Gesetzes
Gesetz und Bun d
Die Ambivalenz un d Mehrdeutigkei t de s Gesetze s
V. Kapitel: Da s Alt e Testamen t al s Dokumen t eine r Fremdreligio n 12
1.
2.
3.
4.
5.
Entdeckung un d Betonun g de r religiöse n Fremdhei t
Abwertung un d Verwerfun g de s Alten Testament s 12
Fremdheit al s Ärgerni s un d „Zuchtmeister " 13
Kritik de r Kriti k a m Alte n Testamen t
Die Frag e nac h de m wahre n Wese n Israel s
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Inhalt
6
VI. Kapitel : Da s Alt e Testamen t al s Geschichtsbuc h 14
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
Göttliche un d menschlich e Heilsökonomi e 14
Heilsgeschichte, Verheißungsgeschichte , Typologi e 15
Geschichtsprozeß un d Offenbarun g 15
Geschichte un d Wort : Kriti k de r Heilsgeschichte 16
Kritik de s Weissagungsbeweise s un d de r Typologi e 17
Die Strukturanalogi e de r Testamente
Zusammenfassung un d Ausblic k 18
VII. Kapitel: Da s Alte Testament al s Teil des christlichen Kanon s 18
1. Das Neue Testamen t al s Kriteriu m de r kanonische n Geltun g de s Alten
2. Schrift, Sprache , Monotheismu s 18
3. Die Sprach e de r Christusverkündigun g 19
Abkürzungsverzeichnis
6
6
0
9
4
5
178
0
3
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7
5
199
Literaturverzeichnis 20
1
Register 21
4
Sachregister
Personenregister 21
Bibelstellenregister 22
Nachwort zu r zweite n Auflag e 22
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I. KAPITEL
Vorbemerkungen: Das Alte Testament
als hermeneutisches Problem
Der Begriff de r Hermeneutik is t schillernd. E r hat mit dem Verstehen, dem
Verständnis, de m nich t ode r woh l Verstandene n z u tun , is t abe r selbs t nich t
so eindeuti g definiert , da ß Mißverständniss e ausgeschlosse n wären . Diese r
Umstand mach t es erforderlich, vora b zu erklären, i n welchem Sinn e hier von
Hermeneutik un d hermeneutisc h di e Red e sei n soll . Diese r Ban d wil l kein e
Hermeneutik i m Sinn e Friedric h Schleiermacher s un d Wilhel m Dilthey s al s
Kunstlehre de s Verstehen s de s Alten Testament s bieten . Fü r eine Einführun g
in die Methodik de r Exegese kann hier verwiesen werde n auf die im Literaturverzeichnis aufgeführte n Arbeite n vo n Ott o Kaise r u.a. , Herman n Bart h Odil Hanne s Steck , Geor g Fohre r u.a. , Wolfgan g Richte r un d Klau s Koch .
Auch eine Theologie de s Aken Testament s ist nicht beabsichtigt; si e ist einem
anderen Band in dieser Reih e vorbehalten. Ebensoweni g sol l eine vollständige
Geschichte der Rezeption des Alten Testaments in der Kirche geschrieben werden, wie sie in dem großen, immer noc h unentbehrlichen, abe r leide r in manchen Hinsichte n überholte n Wer k vo n Ludwi g Dieste l un d de m lediglic h
die Zei t sei t de r Reformatio n berücksichtigende n Buc h vo n Emi l G.Kraelin g
entfaltet wird . Fü r eine Geschicht e de r biblische n Theologi e schließlic h kan n
auf da s einschlägig e Wer k vo n Hans-Joachi m Krau s verwiese n werden . Di e
hier gestellt e Aufgab e is t andere r Art : E s solle n di e verschiedenen , auc h
widersprüchlichen Möglichkeiten , da s Alt e Testamen t al s Tei l de s christ lichen Kanon s z u verstehe n - oder auc h e s z u verwerfe n -, dargestellt un d
kritisch gewürdigt werden.
I^iese Aufgab e is t ein e hermeneutische , wei l si e sic h u m ei n Gesamtver ständnis de s Alte n Testament s un d desse n Voraussetzunge n bemüht . Si e is t
eine theologische , wei l jed e Theologie de s Alten Testament s un d all e Theologie überhaup t implizi t ode r explizi t vo n bestimmte n Verstehensvoraus setzungen un d eine m bestimmte n Gesamtverständni s de s Kanon s Alte n un d
Neuen Testament s un d de s Verhältnisse s de r beide n Testament e zueinande r
ausgeht. Ja, es ist keine Übertreibung, wenn man das hermeneutische Proble m
des Alten Testament s nich t blo ß al s ein, sonder n al s das Problem christliche r
Theologie betrachtet, von dessen Lösung so oder so alle anderen theologische n
Fragen berühr t werden . Is t Auslegun g de r Heilige n Schrif t wesentlich e Auf gabe de r Theologi e un d gil t di e Schrif t al s Grundlag e christliche n Lebens ,
Fundament de r Kirch e un d Mediu m vo n Offenbarung , s o is t di e Frage , o b
und waru m di e Sammlun g israelitisch-jüdische r Schriften , di e i m Bereic h
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Das Alte Testament al s hermeneutisches Proble m
der christliche n Kirch e al s Alte s Testamen t bezeichne t wird , Tei l un d ga r de r
umfangreichste Bestandtei l de s Schriftenkanon s se i un d welch e theologisch e
Bedeutung ih m zukomme , vo n fundamentale r theologische r Relevanz . Si e
betrifft j a de n Umfan g un d dami t zugleic h auc h qualitati v de n Inhal t dessen ,
was al s christlic h z u gelte n hat . Ein e fundamentaler e Frag e läß t sic h i m
Bereich de r Theologi e nich t stellen ; ihr e Beantwortun g bestimm t selbs t de n
Bereich, in welchem Theologi e sic h zu vollziehen hat !
Die hie r gestellt e hermeneutisch e un d theologisch e Aufgab e is t freilic h
auch ein e historische : Di e verschiedene n un d teilweis e widersprüchliche n
Möglichkeiten, da s Alt e Testamen t al s Tei l de s Kanon s z u verstehe n ode r
auch ih m al s nicht-christlic h di e Anerkennun g z u verweigern , finde n ihre n
Niederschlag nich t ers t heut e i n unterschiedliche n theologische n Entwürfen ,
sondern sin d selbs t i n eine r lange n Geschicht e historisc h gewachsen . Manch e
kehren i m Lauf e de r Geschicht e i n meh r ode r wenige r star k verwandelte r
Gestalt un d au f andere r Reflexionsstuf e wieder . Ander e verschärfe n sic h ode r
tauchen ne u au f al s Folg e de r vo n de r Reformatio n un d insbesonder e de r
historisch-kritischen Wissenschaf t verwandelte n Geisteslag e un d Fragehin sichten. S o kan n ein e Darstellun g un d Würdigun g de r verschiedene n Ver stehensmöglichkeiten de s Alte n Testaments , wen n si e nich t völli g abstrakt theologisch bleibe n soll , nich t umhin , di e Geschicht e z u berücksichtigen .
Dies nötig t freilic h noc h nich t z u eine r rei n chronologische n Darstellungs weise un d z u eine r Konzeption , welch e derjenige n vo n L.Dieste l ode r E .
G. Kraelin g ähnlic h wäre ; beid e wolle n j a di e verschiedene n hermeneutische n
Ansätze un d Entwürf e i n chronologische r Reihenfolg e schildern . Fü r di e hie r
zu bewältigend e Aufgab e empfiehl t sic h vie l ehe r ein e problemorientiert e
Verfahrensweise, welch e di e diachrone n un d synchrone n Aspekte , als o di e
historischen Entwicklunge n ebens o wi e di e sic h de r Sach e nac h gleichblei benden Frage n un d Antworte n gleichermaße n z u berücksichtige n bestreb t ist .
Dies empfiehl t sic h einma l deshalb , wei l i n eine r Einführun g i n di e herme neutische Problemati k ohnehi n kein e Vollständigkei t de r Problemschattierun gen i n ihre r lange n Geschicht e un d de r u m Lösunge n bemühte n Persone n i n
ihrer Vielfältigkei t angestreb t werde n sol l - dazu se i au f Diestel , Kraelin g
und Krau s verwiese n - , und zu m andere n au s sachbezogene n Gründen , wei l
des öftere n unterschiedlich e un d einande r widersprechende , j a bestreitend e
hermeneutische Ansätz e - man denk e nu r a n di e polemisch e Ablehnun g de s
Alten Testament s durc h Marcio n ode r a n de n theologische n Pluralismu s de r
Gegenwart! - gleichzeitig auftrete n können . Auc h de r Umstand , da ß manch e
Fragestellungen un d Konzeptionen , wen n auc h mi t gewisse n Modifikationen ,
sich i n de r Geschicht e wiederholen , leg t ei n Verfahren , da s meh r systematisc h
als chronologisch ist , nahe .
Das Wiederauftauche n gleiche r ode r doc h vergleichbare r Problem e un d
Lösungen zeig t deutlich , da ß da s hermeneutisch e Proble m de s Alte n Testa ments mi t seine n vielfältige n Aspekte n nich t zuers t durc h di e Zufälligkeite n
der Geschicht e ode r di e Willkü r de r Theologe n bedingt , sonder n mi t de r
Sache de s Alte n Testament s selbs t vorgegebe n ist . Di e Vorgegebenhei t selbs t
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Das Alte Testament al s hermeneutisches Proble m
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ist da s Problem : Da s Alt e Testamen t is t ein e Sammlun g israelitische r un d
jüdischer Schriften . Dies e Schrifte n sin d di e religiös e Nationalliteratu r de s
israelitischen Volke s un d da s heilig e Buc h de r jüdische n Gemeinde , de r Syna goge. Si e sin d zweifelsohn e un d fraglo s nich t christliche n Ursprungs , sonder n
älter al s da s Christentum . Auc h ihr e Sammlun g z u eine m Kano n heiliger ,
unantastbarer - sakrosankter - und, wi e gelehr t wurde , göttlic h inspirierte r
Schriften is t nicht zuers t da s Werk de r christlichen Kirch e gewesen. Sammlun g
und Abschlu ß de s hebräische n Kanon s ware n da s Wer k de r Synagog e u m
100 n.Chr., un d zwa r eine r Synagoge , welch e star k vo n de r pharisäische n
Richtung jüdische r Theologi e gepräg t war . Auc h noc h di e griechisch e Über setzung zunächs t de r fün f Büche r Mose , de r Tora , dan n de r übrige n Schrifte n
des Alte n Testaments , di e i n de r christliche n Kirch e allgemei n verbindlic h
wurde, is t jüdische n un d nich t christliche n Ursprungs ; si e wa r ursprünglic h
für di e griechisc h sprechend e jüdisch e Diaspor a un d keinesweg s fü r di e christ liche Kirch e bestimmt . Un d auc h di e vo m hebräische n Kano n abweichend e
griechische Ordnun g de r Schrifte n (Geschichtsbücher , Lehrbücher , Pro phetenbücher gemä ß de n Zeitdimensione n Vergangenheit , Gegenwart , Zu kunft), di e fü r di e Kirch e maßgeblic h wurd e un d welch e di e späte r - seit
Hieronymus (u m 350) bzw. sei t Karlstad t un d Luthe r - sogenannten Apo kryphen (3.Esra , Makkabäerbücher , Tobit , Judith , Gebe t Manasses , Zusätz e
zu Daniel , Zusätz e z u Esther , Baruch , Brie f Jeremias , Jesu s Sirach , Weishei t
Salomos) umfaßt , is t jüdische n un d nich t christliche n Ursprungs . Di e frühe n
Gemeinden ware n hie r vermutlic h vo n örtlic h verschiedene n jüdische n
Schriftensammlungen abhängig .
Das Alt e Testamen t is t als o i n jede r Hinsich t ei n Erb e au s vorchristliche r
Zeit. Ebe n hieri n steck t da s hermeneutisch e Problem : Is t da s Erb e au s vor christlicher Zei t deswege n selbs t vor-christlic h un d daru m nicht-christlich ?
Kann di e Anerkennun g al s Tei l de s christliche n Kanon s nicht-christlich e
Schriften nachträglic h christianisiere n un d sozusage n taufen ? Ferner : Di e
israelitisch-jüdische Schriftensammlun g wir d i m christliche n Bereic h da s
Alte Testamen t genannt , abe r wa s besag t da s Prädika t „alt" ? Is t hiermi t nu r
die zeitlich e Dimensio n de s Älteren , Früheren , Vorhergehende n i n seine m
Bezug zu m Neue n al s de m Spätere n bezeichnet , ode r mein t „alt " hie r ein e
geringere Qualität , ga r das Veraltete ?
Diese scho n relati v frü h aufbrechend e Problemati k mußt e sic h durc h di e
Reformation un d dan n ers t rech t durc h da s Aufkomme n de r historisch-kriti schen Wissenschaf t un d ihr e konsequent e Anwendun g au f da s biblisch e
Schrifttum noc h meh r verschärfen . Sollt e di e Schrif t allei n Quell e vo n Offen barung un d Grundlag e de r reformatorische n Kirch e sei n un d nich t auc h di e
Tradition un d di e Lehrautoritä t de r Kirche , s o mußt e de r rechte n Auslegun g
der Schrif t primär e theologisch e Bedeutun g zukommen ; un d kehrt e ma n ers t
zum wortgetreue n Sinn , de m sensu s litteralis , zurück , wi e e s j a di e Refor matoren wollten , s o mußt e ei n wörtlic h un d nich t meh r allegorisc h über tragen verstandene s Alte s Testamen t sein e lang e Jahrhundert e hindurc h
verborgene Eigenständigkeit , abe r auc h Fremdhei t erneu t zeigen . Solch e
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Das Alte Testament al s hermeneutisches Proble m
Fremdheit zeigte sich erst recht und immer klarer dem unbestochenen Blick der
von de n dogmatische n Fessel n befreite n historische n Forschung . Da s alt e
hermeneutische Proble m de s al s Erb e vorgegebene n Alte n Testament s stellt e
sich nu n ers t recht . Is t da s alt e Testamen t nich t zuers t »Gesetz" , wi e e s
jüdischerseits un d auc h i n de r frühe n Gemeind e genann t wurde ? Is t e s al s
Gesetz imme r noc h verbindlic h ode r fü r de n Christe n al s Geset z abgetan ?
Ist da s israelitisch-jüdisch e Erb e nich t doc h Dokumen t eine r Fremdreligio n
Wäre au s der historischen Tatsache , daß die christliche Gemeinde seit Paulus'
Zeiten au s de r Synagog e auszo g un d ein e eigen e Religionsgemeinschaf t
bildete, nich t di e Konsequen z z u ziehe n gewesen , wi e au f di e Synagog e s o
auch au f da s synagogale Erb e zu verzichten? Un d d a solche s a m Anfan g au s
welchem Grund e auch immer nicht geschah, könnte es dann jetzt nicht an der
Zeit un d woh l endlic h auc h höchst e Zei t sein , da s inkonsequenterweis e
Versäumtes nachzuholen? Wenn jedoch solche Konsequenz nicht zu ziehen ist,
sondern da s Alt e Testamen t trot z alle r Erkenntni s seine s vorchristliche n Ur sprungs weiterhi n al s erster Tei l de s Kanons gültig bleibe n soll , wi e läß t sic h
diese Geltun g dan n nich t blo ß historisch , durc h Verwei s au f di e Tradition ,
sondern theologisch begründen?
Freilich öffne t sic h auc h di e gegenteilig e Möglichkeit , da s Alt e Testamen t
zu verstehe n un d z u bewerten : di e vermeintlich e Fremdhei t de s Alten Testa ments kan n auc h Ausdruc k de s „totalite r aliter" , de r totale n Andersartigkei t
des einen wahren Gottes sein, der zuerst als der Gott Israels und hernach auch
in Jesu s Christu s sic h offenbar t hat . De r erst e un d umfangsreichst e Tei l de r
Bibel, eins t di e einzig e Heilig e Schrif t de r alte n Kirche , wär e auc h jetz t di e
eigentliche Heilig e Schrif t un d da s Neu e Testamen t lediglic h dere n recht e
Auslegung sei t Christi Geburt , Tod und Auferstehung. Auc h noch das Gesetz,
sofern nich t speziel l fü r israelitisch-jüdisch e Zeite n un d Verhältniss e be stimmt, blieb e i n Geltung , wen n auc h nich t al s menschliche r We g zu m gött lichen Heil, so doch als Gottes unveränderter Wille . Wehe dem, der am Feiertag arbeitet oder Knecht, Magd oder auch nur das Vieh arbeiten läßt !
Bei diese r Vorrangstellun g un d Hochschätzun g de s Alten Testament s mu ß
aber das alttestamentliche Geset z nicht unbedingt in den Vordergrund gerück t
und eingeschärf t werden . E s kan n auc h de r i n manche r Hinsich t unabge schlossene Charakte r diese r Schriftensammlung , da s Unabgegoltensei n seine r
Verheißungen i n den prophetischen un d apokalyptischen Teile n herausgestell t
werden. Da s Alt e Testamen t wir d dan n al s da s Buc h eine r Geschicht e ver standen, di e vo n Verheißun g z u Verheißun g drängt , a n dere n End e di e
Erfüllung i n Christus steht, die selbst abe r auch wieder Verheißungscharakte r
hat: noc h blieb der Auszug, de r Exodus aus dem Lande der Knechtschaft un vollendet, das Land der Verheißung ist noch nicht erreicht!
Eine ander e Möglichkeit , da s Alt e Testamen t christlic h einzuordne n un d
seiner Qualität al s des Alten in seiner Polarität zum Neuen gerecht zu werden,
liegt darin , e s nich t nu r zeitlich , sonder n meh r noc h sachlich-inhaltlic h al s
Vorstufe zu m Neue n z u verstehen , se i e s so, daß di e alttestamentlich e Weis sagung oder Verheißung al s im Neuen Testament erfüllt betrachte t wird, oder
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Das Alte Testament al s hermeneutisches Proble m
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auch so , da ß das , wa s sic h i n Geschehnissen , Persone n ode r Institutione n
des Alte n Testament s au f typisch e Weis e präfigurativ , schattenhaft , al s
Vorausschattung ankündig t un d anbahnt , i m Neue n Testamen t al s in s voll e
Licht getrete n un d - antitypisch - als erfüll t betrachte t wird . Ma n nenn t
diese Betrachtungsweise , di e beid e Testament e einande r zuordne t un d doc h
das Alte al t und das Neue neu zu lassen sic h bemüht, di e typologische. Droht
aber nich t völlig e Willkür , wen n Ereignisse , Persone n un d Institutione n de s
alten Israel , di e selbs t keinesweg s bloß e Vorausschattunge n un d Typen , di e
über sic h hinausweisen , sei n wollten , nachträglic h vo n Christe n typologisc h
interpretiert werden? Wird hier Auslegung nicht zur Hineinlegung?
Diesem Bedenke n entgeht , we r da s Alt e Testamen t un d auc h da s Neu e
Testament zunächs t al s schriftliche n Niederschla g vo n Lebensäußerunge n
und Daseinshaltunge n z u verstehen versucht , di e in einer polare n Gegensätz lichkeit stehen . E s ist di e Polaritä t vo n i n de n To d führende m Geset z einer seits un d Hei l un d Lebe n bringende m Evangeliu m andererseits . De r gesetz lichen Kultgemeind e i n Jerusalem un d in de r Diaspora, di e doch die Bindung
an da s jüdisch e Vol k nich t preisgib t un d sic h gege n ander e Völke r abgrenzt ,
steht di e christlich e Gemeinde , di e sic h al s da s wahre , endzeitlich e Gottes volk versteht , gegenüber . I n diese r Sich t is t da s Alt e Testamen t durc h da s
Neue erledigt . Erledig t abe r heiß t nich t unbeding t abschaffungswürdig . Da s
Alte Testamen t behäl t i m Gegentei l ein e bleibend e Gültigkei t al s de s Men schen un d auc h noc h de s Christe n eigen e falsch e Möglichkeit , al s Buch , da s
auch de m Christe n wi e i n eine m Spiege l sei n Scheiter n vorhäl t - Scheitern,
dessen imme r neu e Überwindun g durc h di e Gnad e de s Evangelium s herbei geführt wird . Da s Alte Testament wird s o im prägnant theologische n Sin n als
alt, nämlic h al s Urkunde des alten Mensche n verstanden, der täglich ne u vom
Evangelium überführ t un d zurechtgebrach t werde n muß . Läß t ein e solch e
Konzeption da s Alt e Testamen t i m stren g theologische n Sinn e al t un d da s
Neue neu sein, ohne das Alte als veraltet abtu n zu müssen, so erhebt sich doch
auch hie r di e weiter e Frage , o b den n wirklic h da s ganz e Alt e Testamen t al s
Dokument de s Gesetze s un d de s Scheitern s aufgefaß t werde n kan n ode r o b
einer genaue r differenzierende n Sicht , di e zwische n verschiedene n Schichte n
und Höhenlage n innerhal b de s Alte n Testament s unterscheidet , ei n solche s
Gesamtverständnis al s Verallgemeinerun g erscheine n muß . Setz t doc h da s
Neue Testament selbst, wenn nicht das ganze Alte Testament, so doch wesentliche Teil e desselbe n al s nac h wi e vo r gülti g vorau s un d kan n ohn e solch e
Voraussetzung gar nicht verstanden werden. Hierin ist es begründet, daß auch
nach Christ i Geburt , To d un d Auferstehun g alttestamentlich e Text e al s da s
Evangelium auslegende , wei l selbs t vo m Evangeliu m vorausgesetzt e Ver kündigung i n de r christliche n Kirch e i n Unterrich t un d Verkündigun g ver wendet werden.
Diese skizzenhaft e Übersich t übe r di e verschiedene n Möglichkeite n eine s
Verständnisses de s Alten Testament s lehr t bereit s be i alle r Vorläufigkeit , da ß
hier nich t immer eine s das andere restlo s ausschließt , da ß Anliegen zu m Ausdruck kommen , di e trot z Einseitigkei t ihr e Berechtigun g haben , un d Frage n
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Das Alte Testament al s hermeneutisches Proble m
auftauchen, di e sic h infolg e menschlic h beschränkte r Möglichkeite n zu m
Teil al s nich t auflösba r erweisen . E s wär e zwa r falsch , Unvereinbare s ver söhnen z u wolle n - eine marcionitisch e Verwerfun g un d ein e calvinistisch e
Hochschätzung de s Alte n Testament s etw a schließe n sic h gewi ß aus ! - ,
aber dennoc h könne n i n wege n ihre r Einseitigkei t unmögliche n Möglich keiten de s Verständnisse s richtig e Einsichte n verborge n sein , welch e nich t
unbeachtet bleibe n dürfen . Di e lang e un d breit e Diskussio n u m da s recht e
Verständnis de s Alte n Testament s un d sein e Stellun g i m Kano n is t nich t oder doc h nich t nu r — das Ergebni s theologische r Streitsucht , sonder n wei t
mehr noc h ei n Refle x de r einande r widerstreitenden , auc h bekämpfende n
Positionen un d Gegenpositione n religiöse r un d gelegentlic h auc h handfes t
weltlicher Ar t innerhal b de r Alte s Testamen t genannte n tausendjährige n
bunten Sammlun g israelitische r un d jüdische r Schrifte n selbst . Di e ihne n
allen zuerkannt e jüdisch e un d christlich e Kanonizitä t is t nich t selte n da s
einzige alle n gemeinsam e Merkmal . Dies e Gemeinsamkei t kan n leich t daz u
verführen - und da s wa r i n de r Vergangenhei t auc h tatsächlic h öfte r de r
Fall - , nach eine m einzige n hermeneutische n Wunderschlüsse l z u suchen , mi t
dem di e Vielfal t de s Überlieferte n einheitlic h un d vo n eine r sichere n Mitt e
her aufgeschlosse n werde n könnte . Manche r meint e woh l auch , jen e Mitt e
und de n passende n Schlüsse l entdeck t z u haben , bi s dan n ei n andere r mi t
neuem Schlüsse l ka m un d da s vermeintlich e Zentrum , u m da s sic h i m Alte n
Testament alle s drehe n soll , ander s bestimmt e un d aufzuschließe n versuchte .
Hier sollte n begangen e Einseitigkeite n ein e Warnun g sein . Z u denke n gib t
auch de r Umstand , da ß da s Neue Testamen t - und d.h . di e frühen christliche n
Gemeinden - von Anfan g a n ein e mehrschichtig e Behandlun g de s Alte n Te staments kennt , di e ers t i n spätere r Zei t de n Versuche n zu r einschichtig einheitlichen Rezeptio n weiche n mußte . De m sol l nunmeh r nachgegange n
werden.
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A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik
II. KAPITEL
Das Alte Testament als Erbe
1. Der Kanon der Väte r
Von eine r christliche n Rezeptio n ode r Übernahm e de s Alte n Testament s
zu sprechen , wi e e s vielfac h geschieht , is t eigentlic h nich t korrek t un d sach gemäß. Da s is t scho n deshal b nich t gan z richtig , wei l zu r Zei t Jes u un d noc h
im erste n Jahrhunder t n.Chr . da s hebräisch e Alt e Testamen t nich t endgülti g
abgeschlossen war . Ers t u m 100 n.Chr. stan d de r Bestan d de s jüdischen ,
hebräischen Kanon s i m große n un d ganze n fest . Da s Alt e Testamen t i n grie chischer Übersetzun g - die sogenannt e Septuagint a - blieb noc h länge r ein e
unabgeschlossene un d variabl e Größe , di e sic h auße r durc h di e ander e An ordnung de r einzelne n Teil e (Geschichtsbücher , poetisch-didaktisch e Bücher ,
Prophetenschriften) insbesonder e dadurc h unterscheidet , da ß si e zusätzlic h
auch Apokryphe n enthält . Diese r unabgeschlossen e un d vorers t offen e grie chische Kano n i n variable r Gestal t wurd e Heilig e Schrif t de r christliche n
Kirche. Deren Abschluß und Abgrenzung wa r dan n nich t mehr jüdische Ange legenheit; da s Judentu m wandt e sic h vo n de r vo n ih m selbs t geschaffene n
griechischen Übersetzun g de r Septuagint a a b un d de r „Veritas Hebraica", de r
hebräischen Wahrheit , ode r abe r neuen , wörtliche n Übersetzunge n zu . De n
Umfang de s griechische n Kanon s de s Alte n Testament s z u bestimmen , wa r
damit Aufgab e de r christliche n Kirche , ihr e einheitlich e Lösun g is t bi s heut e
ausgeblieben.
Hieronymus (u m 400 n.Chr.), de r Verfasse r de r Vulgat a genannte n lateinische n
Übersetzung de s Alte n Testaments , konnt e sei n Anliegen , de n jüdische n Kano n
hebräischer Schrifte n allei n zu r kirchliche n Nor m z u erheben , nich t durchsetzen .
Später hat dann Luther diejenigen Bücher, die nicht im hebräischen Kanon , wohl aber
in de r Vulgat a eine n Plat z bekomme n hatten , al s Apokryphe n gelte n lassen . Luthe r
definiert si e al s „Bücher , s o der heilige n Schrif t nich t gleich gehalten, un d doc h nützlich un d gu t z u lese n sind" . Di e lutherische n Kirche n habe n übe r dies e Frag e ein e
verbindliche Entscheidun g nich t getroffen . I m reformierte n Bereic h formulier t de r
Articulus 6 der Confessi o Belgic a (1559) den Unterschie d vo n kanonisc h un d apo kryph präziser: di e Kirche darf di e Apokryphen lese n und sich daraus belehren lassen ,
sofern si e mi t de n kanonische n Bücher n übereinstimmen . Richtschnu r un d nor mierende Nor m (norma normans) sin d si e als o nicht . I n de r offizielle n niederlän dischen Übersetzun g („Statenvertaling" ) finde n si e ihre n Plat z al s Anhan g zu m
Neuen Testament un d mit einer vorangestellten Warnung , wori n ausdrücklic h erklär t
wird, da ß si e nich t z u de n heiligen , göttliche n Schrifte n gehören . Di e jüngere n Aus gaben verzichte n konsequenterweis e gan z au f sie . Di e reformiert e Kirch e ha t dami t
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A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik
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Das Alte Testament al s Erbe
nur de n jüdischen , hebräische n Kano n al s kanonisc h anerkannt . Ein e verbindlich e
Kanonabgrenzung, welch e di e - apokryphen - Bücher Weishei t Salomos , Jesu s
Sirach, Tobit, Judith, 1. und 2. Makkabäer al s deuterokanonisch de m gültigen Kanon
zurechnet, vollzo g di e römisch e Kirch e ers t au f de m Tridentinische n Konzi l 1546.
Die Ostkirch e lie ß di e Geltun g u.a . de r Apokryphe n noc h länge r offen . Au f eine r
Synode i n Jerusale m i m Jahr e 1672 wurden di e Büche r Weishei t Salomos , Jesu s
Sirach, Tobit und Judith als kanonisch anerkannt.
Schon diese r kurz e Rückblic k i n di e Geschicht e lehrt , da ß vo n eine r Rezep tion ode r Übernahm e de s Alte n Testament s durc h di e Kirch e eigentlic h nich t
die Red e sei n kann . Di e Kirch e selbs t ha t de n Kano n mi t bestimmt ; un d auc h
noch di e Offenlassun g un d Unentschiedenhei t wa r ein e Mitbestimmung .
Statt vo n eine r Übernahm e de s Alte n Testament s durc h di e Kirch e sollt e
besser vo n de m Alte n Testamen t al s Erb e di e Red e sein . Dan n kan n deutlic h
werden, da ß di e alttestamentliche n Schrifte n einerseit s nich t da s literarisch e
Erzeugnis de s Christentum s sin d - sie sin d vorchristlic h - , andererseits abe r
nicht ein e beliebig e Sammlun g fremdreligiöse r Literatur , welch e da s sic h
bildende jung e Christentum , au s welche m Grund e auc h immer , vo n auße n
her übernahm . Dies e Schrifte n ware n da s überkommen e Erb e de r israeliti schen un d jüdische n Väter , al s dere n erbberechtigt e Söhn e sic h di e frühe n
Christen verstanden . Si e waren j a selbs t geboren e Jude n und , wie auc h immer ,
Anhänger de r i n de n Schrifte n de r Väte r bekundeten un d verkündigte n Reli gion.
In diese r Hinsich t unterscheide n sic h di e Christe n nich t vo n andere n Gruppie rungen ode r Sekten , di e au s de m Schoß e de s Judentum s hervorgegange n sind . S o
betrachteten sic h auc h di e Mitgliede r de r Gemeinschaf t vo n Qumran , jene r jüdische n
Sekte, dere n literarisch e Erzeugniss e i n de n Jahre n nac h de m Zweite n Weltkrie g i n
der Gegen d de s Tote n Meere s entdeck t wurden , al s legitim e Erbe n de r väterliche n
Schriften, auc h wen n si e ihr e eigene n eigentümliche n Schrifte n de m Erb e al s gleich oder mehrwertig a n die Seite stellten .
Das hermeneutisch e Proble m besteh t als o nich t darin , o b di e jung e Kirch e
berechtigt ode r auc h gu t berate n war , da s Alt e Testamen t z u übernehmen ; si e
besaß e s imme r scho n un d vo n alle m Anfan g a n al s ihr e Heilig e Schrift . Di e
Frage laute t vielmehr , o b e s möglic h un d nöti g war , da s überkommen e Erb e
des Alte n Testament s weiterhi n beizubehalten , ode r o b e s nich t besse r
gewesen wäre , e s dene n z u überlassen , di e e s exklusi v fü r sic h beanspruch ten, nämlic h de n Juden . Dies e Frag e stellt e sic h zwa r noc h nich t gleich , wa r
aber in der Sache des überkommenen Erbe s angelegt .
Polemik kan n fü r di e schwache n Stelle n de s Gegner s hellsichti g machen . S o wundert e s nicht , da ß di e Frage , o b di e Christe n sic h mi t Rech t au f di e ererbt e Schrif t
berufen konnten , seiten s der Judenschaft gestell t wurde . Di e griechische Übersetzun g
der Septuagint a wa r da s Wer k vo n jüdische n Schriftgelehrte n gewesen . Al s dies e
Übersetzung nunmeh r zu m heilige n Buc h de r Christenhei t wurde , konnt e ei n Strei t
nicht ausbleiben . E s wa r scheinba r nu r ein e Disputatio n u m di e recht e Auslegun g
einzelner Stellen . A m bekannteste n is t di e Diskussio n u m da s Verständni s vo n
Jes. 7,14. Die von de n Christe n benutzt e griechisch e Übersetzun g lies t hie r da s Wor t
„parthenos", da s Jungfrau bedeutet , de r hebräische Text abe r mein t eine junge Frau .
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Die Haltung Jes u
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Da nu n Je s 7,14 überhaupt christlicherseit s al s Weissagun g au f Christu s gedeute t
wurde, meint e di e christlich e Gemeinde , hie r eine n Schriftbewei s fü r di e Jungfrauen geburt, als o di e Gebur t Christ i au s de r Jungfra u Mari a z u finden . Die s wurd e
jüdischerseits mi t Verwei s au f eine n bessere n Tex t un d ein e besser e Auslegun g be stritten. Freilic h konnte n umgekehr t di e Jude n schwerlic h i n Frag e stellen , da ß di e
Übersetzung, au f di e sich die Christen beriefen , doc h von den Juden selbs t geschaffe n
worden war . Kontroverse n diese r Ar t habe n schließlic h daz u geführt , da ß di e Judenschaft di e Septuagint a preisga b un d al s nicht de r hebräische n Wahrhei t entsprechen d
verdammte. Al s hebräische Wahrhei t wurd e vo n der pharisäisch-rabbinischen Ortho doxie ausschließlich der hebräische Kanon anerkannt, der nur die Schriften de r älteren,
klassischen Zei t enthält . De r hebräisch e Kano n is t selbs t ei n Stüc k Polemi k gege n
alle hellenistischen un d apokalyptischen Neuerungen , abe r auch gegen die „Sekte" der
Kirche mi t ihre r Christusverkündigung . Be i diese m Strei t gin g e s abe r nu r scheinba r
um Einzelfrage n de r Auslegung . O b de n Kontrahente n bewuß t ode r nich t - hier
standen letztlich die Gültigkeit des Alten Testaments für die Christen und deren Recht,
sich darauf überhaupt berufen zu dürfen, auf dem Spiel.
Das anfänglich e Bewußtsein , a n Christu s glaubend e Jude n un d i n solche m
Glauben gerad e da s wahr e Israe l z u sein , lie ß au f Seite n de r Christe n freilic h
zunächst keine n Zweife l dara n aufkommen , sic h mi t volle m Rech t au f di e
ererbten Schrifte n berufe n z u dürfen . E s is t auc h seh r wahrscheinlich , daß ,
von alle m andere n un d auc h vo n de r zuers t noc h verborgene n hermeneu tischen Problemati k abgesehen , di e überal l un d imme r z u beobachtend e
Beharrlichkeit i n religiöse n Dinge n auc h hie r sic h ausgewirk t hat . Da s reli giöse Erbe der Väter gibt man nich t ohne Not preis.
2. Die Haltung Jes u
Dies gilt auc h fü r Jesus . E s sind genügen d i n ihre r Echthei t nich t z u bezwei felnde Jesuswort e erhalten , welch e zeigen , da ß auc h Jesus , nich t ander s al s
die Schriftgelehrten , di e Autoritä t de s alttestamentliche n Gesetze s anerkann t
hat. We r ih n nac h de m höchste n Gebo t fragt , wir d au f da s Alt e Testamen t
und sein e Forderunge n verwiesen : „Da s wichtigst e Gebo t is t dies : Höre ,
Israel, de r Her r unse r Got t is t de r Her r allein , un d d u solls t de n Herr n deine n
Gott liebe n vo n ganze m Herze n un d vo n ganze r Seel e und vo n ganze m Gemü t
und mi t ganze r Kraft . Da s zweit e lautet : D u solls t deine n Nächste n lieben ,
wie dic h selbst " (Mk . 12,29-31). Diese Antwor t Jes u zitier t 5.Mose 6,4f;
3.Mose 19,18. Auf di e Frage : „Wa s mu ß ic h tun , u m da s ewig e Lebe n z u
ererben?" erwider t er : „D u kenns t di e Gebote " un d zitier t dan n au s de m
Dekalog: „D u solls t nich t töten , nich t ehebrechen , nich t stehlen , nich t fal sches Zeugni s ablegen , nich t täuschen ; ehr e Vate r un d Mutter " (Mk . 1 0 , 1 7 19).
Nicht nu r gesetzlich e Vorschriften , auc h andere s kan n vo n Jesu s al s bib lische Begründun g herangezoge n werden . Fü r die Auferstehung vo n de n Tote n
beruft e r sic h au f 2.Mose 3,2ff.: „Hab t ih r nich t gelese n . . ., wie Got t z u
ihm (Mose ) sagte : Ic h bi n de r Got t Abrahams , Isaak s un d Jakobs? " (Mk.12 ,
25f.). Zu r Verteidigun g seine s un d seine r Jünge r freiere n Umgang s mi t de m
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Das Alte Testament al s Erbe
Sabbat beruf t e r sic h au f di e Stell e l . S a m . 21,7, die davo n erzählt , wi e Davi d
in seine r Notlag e di e sogenannte n Schaubrot e de s Tempel s verzehrte , di e
normalerweise nieman d esse n durft e auße r de n Priestern . Da ß dies e Stelle n
nicht hergeben , wofü r si e zitier t werden , un d gege n ihre n ursprüngliche n Sin n
erklärt werden , is t späte r noc h z u erörtern . Hie r interessier t zunächst , da ß
Jesus überhaup t di e Autoritä t de r ih m überkommene n Schrifte n anerkenn t
und beibehält . Nich t hieri n unterscheide t e r sic h vo n de n zeitgenössische n
Schriftgelehrten. Da ß e r Gesetzliche s un d Passage n au s historische n Bücher n
oder prophetische n Schrifte n al s Beweisstelle n heranziehe n kann , zeig t nur ,
daß fü r ih n - nicht ander s al s fü r da s zeitgenössisch e Judentu m - die ver schiedenen Teil e de r Schrif t weitgehen d ein e unterschiedslos e Einhei t dar stellten, un d da s heißt : i n ihre m ursprüngliche n Sinn e nich t meh r vol l ver ständlich waren . De r zitiert e Verwei s au f ein e Stell e au s de m erste n Buc h
Samuel, u m ei n bestimmte s Verhalte n z u rechtfertigen , läß t vermuten , da ß fü r
Jesus wi e fü r da s Judentu m di e Schrif t primä r al s Geset z i n Frag e ka m un d
daß nich t nu r di e i m eigentliche n Sinn e gesetzliche n Partie n al s Geset z ver standen wurde n (vgl . hierzu auc h Kap. IV).
Dieses fü r da s zeitgenössisch e Judentu m i m allgemeine n typisch e Verständni s de r
Schrift al s Geset z un d der Propheten al s Gesetzesauslege r zeig t nu n aber, da ß nich t
erst fü r da s Christentum, sonder n auc h scho n fü r da s Judentum da s überkommen e
Erbe problematisc h un d ohn e bestimmt e Auslegun g unverständlic h geworde n war .
Die ältere n Gesetze , di e jetz t i m Zeitalte r de r Römerherrschaf t - wie scho n frühe r
unter andere r Fremdherrschaft , al s Israe l ein e Kultgemeind e geworde n wa r - den
ursprünglichen Bezu g au f Staat , Volksgemeinschaf t un d Sipp e un d dere n konkret e
politische un d soziale Erforderniss e eingebüß t hatten , mußte n wi e ein Erbe anmuten ,
dessen Fremdhei t und , trotz Fremdheit , getreu e Verwaltun g nu r den Sinn hatten , das
Volk al s herausgehobenes , auserwählte s un d al s Fremdlin g z u erhalten . Un d die
Geschichte, sofer n jetz t nich t al s bloß e Sammlun g vo n Beispielen fü r das rechte und
das falsch e Verhalte n unte r de m Gesetz verstanden , mußt e wi e abgeschlossen erschei nen. Auch dere n Niederschla g i n der Schrift bedar f de r Auslegung un d ist ohne sie nicht
mehr zugänglich . Di e Wichtigkei t de s bereit s i m Judentu m aufgebrochene n herme neutischen Problem s un d damit derer , di e als die Ausleger - wirklich ode r vermeint lich - für sein e Aufschlüsselun g zuständi g waren , ha t soga r de n Stan d de r priester lichen Kultdiene r un d de n Tempeldiens t überhaup t scho n i n vorchristliche r Zei t i n
den Hintergrun d trete n lasse n zugunste n de r Schriftgelehrte n un d ihre r Arbeit . Von
dieser hermeneutische n Problemati k he r ist auch di e Gestalt Jes u z u sehen. Auc h sei n
Umgang mi t dem Erbe ist Auslegung - und sei diese auc h nac h moderne n Maßstäbe n
gemessen Hineinlegung . De r Unterschie d z u de n zeitgenössische n Schriftgelehrte n
liegt woanders . Fü r sie wa r di e formal e Autoritä t de r Schrift , als o da ß das Geset z
befiehlt un d verbietet, al s Wille Gotte s bindend , un d sei dieser Will e de m Mensche n
auch völli g unbegreiflich . S o laute t ei n Rabbinenspruch : „Wede r mach t de r Tot e
unrein, noc h da s Wasser rein . Abe r de r Heilige ha t gesagt: Ei n Gesetz hab e ic h fest gestellt, eine n Entschei d getroffen ; d u bis t nich t befugt , meine n Entschei d z u über treten, de r geschrieben ist ; die s is t die Losung meine s Gesetzes " (zitier t nac h R.Bult mann, Jesus, S.60f.) .
Während e s jüdische r Hermeneuti k wenige r au f Verstehe n al s au f Gehor sam auc h ohn e Einsich t ankommt , wei l da s Göttlich e vo n ih r al s da s Unb e
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Die Haltung Jesu
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greifliche aufgefaß t wird , is t fü r Jesu s di e auc h vo n ih m anerkannt e Autoritä t
der Schrif t begründe t in , abe r auc h abgeleite t vo n de m Wille n Gottes . Daru m
ist, ander s al s für di e zeitgenössische n Schriftgelehrten , de r Inhal t nich t neben sächlich. E s gilt vielmehr , nac h de m rechte n Inhal t bzw . Verständni s de s gött lichen Willen s z u fragen . Is t fü r jüdisch e Auslegun g da s Geset z i n al l seine n
verschiedenen un d auc h widersprüchliche n Teile n gleichermaße n i n Kraft ,
und geh t e s i n de r Auslegun g nich t zuletz t auc h u m Harmonisierun g de s
Widersprüchlichen, s o kan n Jesu s deutlic h zwische n Gebo t un d Gebo t un d
zwischen Wichtige m un d Unwichtigem , abe r auc h zwische n Wesentlichem ,
Primärem un d Nachträglichem , Hinzugekommene m unterscheiden . De r Will e
Gottes is t nich t ohn e di e Schrift , abe r nich t au f diese , sonder n au f jene n
kommt e s an.
Ein bekannte s Beispie l fü r solch e Schriftauslegun g is t Jes u Interpretatio n de s i m
Gesetz vorgesehene n Scheidungsrechtes : Läß t da s Geset z (5. Mose 24,1) die Ehe scheidung zu , steh t abe r ebenfall s geschriebe n (l.Mos e 1,27): „Als Man n un d Fra u
hat Got t si e geschaffen ; daru m wir d ei n Man n Vate r un d Mutte r verlassen , un d di e
beiden werde n ei n Fleisc h sein" , s o laute t di e jesuanisch e Folgerun g au s de m Ver gleich beide r Schriftstellen : „Wa s den n Got t zusammengefüg t hat , sol l de r Mensc h
picht scheiden". Anders formuliert: Gotte s wahrer Will e wil l di e Unscheidbarkeit de r
Ehe; di e Ehescheidun g is t nu r ein e Notmaßnahm e „u m de r Herzenshärtigkeit " de s
Menschen willen, die nicht der eigentlichen Absicht Gottes entspricht (Mk. 10,2-9).
Damit ist , trot z Berufun g au f di e Schrift , di e formal e Autoritä t zugunste n
des au s de r Schrif t z u erkennende n Willen s Gotte s preisgegeben . Di e Unter scheidung vo n Geis t und Buchstaben bahn t sich hier schon an .
Daß hier , bereit s be i Jesus , di e Möglichkei t eine s grundsätzliche n Kon fliktes mi t de m alttestamentliche n Erb e gegebe n ist , leuchte t ein . Is t fü r jüdi sche Schriftgelehrt e Auslegun g de s Inhalt s wenige r wichti g al s di e formal e
Autorität de s Geschriebenen , s o gil t jetz t praktisc h da s Gegenteil . Komm t e s
darauf an , de n Wille n Gotte s inhaltlic h z u vernehme n un d z u tun , un d ziel t
Gottes Will e au f de n ganze n Menschen , seine n Gehorsa m un d sein e Hingabe ,
so könne n nich t nu r einzeln e Bestimmunge n de s geschriebene n Gesetze s al s
bloß u m de r Herzenshärtigkei t wille n relativiert , sonder n auc h al s de m Wille n
Gottes zuwiderlaufen d gan z verworfe n werden . Jes u Satz , da ß nichts , wa s
von auße n i n de n Mensche n hineinkommt , ih n verunreinige n könnte , sonder n
was au s de m Mensche n herauskommt , ih n verunreinig t (Mk . 7,14ff.), heb t
die Reinheitsgesetz e un d alles , wa s i m jüdische n Ritua l dami t zusammen hängt, au s de n Angeln . Di e vo n Jesu s anerkannt e Autoritä t de s Alte n Testa ments hinder t ih n nich t daran , dies e Schriftensammlun g nu r i n Auswah l
positiv heranzuziehen . Di e christlich e Benutzun g de s Alte n Testament s i n
bestimmter Auswah l bahn t sich bei ihm schon an .
Auswahl bedeute t auc h Ablehnung , j a auc h antithetisch e Gegenüberstel lung vo n Alte m un d Neuem . Die s sprich t sic h vo r alle m i n de n sogenannte n
Antithesen de r Bergpredig t au s (Mt. 5,21 ff.). Scho n da ß Matthäu s Jesu s
diese Wort e vo n eine m Ber g he r verkündige n läßt , bedeute t ein e Antithes e
zum mosaische n Gesetz , da s j a vo m Berg e Sina i he r erlasse n wurde . Nunmeh r
2 Gunneweg, Verstehen
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Das Alte Testament al s Erbe
heißt es : „Ih r hab t gehört , da ß z u de n Alte n gesag t wurd e . . . Ich abe r sag e
euch . . ." Was Jesu s jetzt „de n Heutigen " z u sagen hat , steh t i n einem Gegen satz z u dem , wa s „de n Alten" , de n Vorfahren , dene n da s Alt e galt , gesag t
worden war . E s entschränkt , verschärft , radikalisier t da s „de n Alten " Gebo tene. Verbiete t da s mosaisch e Gesetz , da s de n Alte n gegebe n wurde , Mor d
und Totschlag , Ehebruc h un d Meineid , s o verkündet Jesu s de n Heutigen , da ß
Gottes Will e auc h scho n de n Zorn , da s boshaft e Schimpfwort , bös e Begehr lichkeit un d Lügenhaftigkei t ausschließe . Gotte s Will e is t nich t mi t juristi schen Formel n de s Gesetze s faßbar , welch e de n Mensche n eine n Spielrau m
des Böse n offenließen , sonder n forder t di e ganz e Hingab e de s Menschen . I n
diesem „Ic h abe r sag e euc h . . . " kündigt sic h scho n be i Jesu s auc h di e Gegen sätzlichkeit vo n Alte m un d Neue m an . Angesicht s de s Neuen , da s mi t Jesu s
anbricht, bekomm t da s überkommen e Erb e de n Charakte r de s Alte n i m
Sinne de s Vergangenen , i m Sinn e de s Vergänglichen , Vorläufige n un d auc h
Überholten.
Freilich nich t alles , wa s de n Alte n gesag t wurde , is t i n diese m Sinn e scho n
alt. Di e stark e Betonun g de s Schöpfersein s Gotte s un d seine s Herrsein s durc h
Jesus is t auc h ohn e ausdrücklich e Zitat e au s de n ererbte n Schrifte n israeli tisch-jüdisches Erbe . Gotte s väterlich e Fürsorg e fü r Blumen , Tier e un d ers t
recht fü r di e Mensche n (Mt. 6,25-34) ist Auslegun g alttestamentliche n Ge dankengutes. Ne u a n solche r Auslegun g is t freilich , da ß di e gegenwärtig e
Fürsorge un d di e heutig e Näh e de s güti g sorgende n Gotte s eine r Generatio n
verkündigt wird , fü r die , wie e s i m Judentu m de r Fal l war , Got t i n unnahbar e
Ferne un d wi e au s de r Geschicht e i n eine n jenseitige n Himme l weggezoge n
schien. Dies e neu e Auslegun g bring t als o aktualisieren d da s Alt e ne u z u
seiner Geltun g und Wahrheit .
Jesus is t jedoc h nich t zuers t un d zumeis t Schriftauslege r wi e di e Pharisäe r
oder di e Lehre r de r Qumransekte , sonder n e r nimm t fü r sic h i n Anspruc h
(„Ich abe r sage euch . . ."), Gottes Willen unmittelba r un d nicht nur aus dem
Gesetz erkenne n z u könne n un d erkann t z u haben . Diese r Gotteswill e is t
gewiß Forderun g un d Anspruch , welch e da s geschrieben e Geset z noc h radi kalisieren, abe r meh r noc h Zuspruch , de r Vergebun g un d Neuwerdun g un d
Rettung i m bal d kommende n Gottesreic h i n Aussich t stellt . Dami t trit t da s
als Gesetz verstandene Alte Testament zugunste n de s Evangeliums, der frohen
Botschaft vo m nahe n Hei l Gotte s i n de n Hintergrund . Abe r wi e be i de r Betonung de s gegenwärtigen Schöpfertum s un d Herrseins Gottes konnten dami t
zugleich auc h Verheißung , Zusag e un d Zuspruc h de r rettende n Näh e Gotte s
und seine s Heiles , wi e si e da s Alt e Testamen t gewi ß auc h kenn t - etwa di e
Abrahamsverheißungen (l.Mos e 12, 1ff. ) oder di e göttlich e Namensoffen barung: „Ic h werde je und je für euch da sein, der ich da sein werde" (2. Mose
3,14) - , neu i n Kraf t treten . Vo n eine m i m zeitgenössische n Judentu m alle s
überwuchernden Verständni s de r Schrif t al s Geset z un d vo n de m vorherr schenden Lebensgefühl , al s se i di e heilvoll e Geschicht e Gotte s mi t seine m
Volke längs t abgeschlossen e un d fern e Vergangenheit , zu m Schweige n ge bracht, komme n solch e Wort e nunmeh r ne u un d auc h ohn e ausdrückliche s
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A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik
Das Alte Testament in den nachösterlichen Gemeinden
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Zitat zu r Sprache ; si e sind jetz t vo m Gesetz , das „nebeneingekommen " (Rom .
5,20; Gal. 3,19) war, befreit . Auc h da ß vo m Neue n he r da s Alt e Testamen t
in seine r verschollene n Wahrhei t nu n ers t rech t i n Kraf t gesetz t wird , kündig t
sich in Jesu Verkündigun g bereit s an .
Es ist vo r alle m z u beachten , da ß da s alttestamenthch e Erb e hie r wede r ein seitig bejaht , noc h verworfen , noc h gan z un d ga r umgedeute t un d ne u ver standen wird . Ei n einheitliche r hermeneutische r Schlüsse l wir d nich t ange setzt, un d da ß ei n solche r fehlt , is t kei n Mangel , sonder n entsprich t sachlic h
der Vielfal t de s ererbte n Gutes . Auc h da ß ein e hermeneutisch e Besinnun g
auf Verschiedenartigkei t de s Umgang s mi t de m überkommene n Erb e un d
dessen inner e Problemati k jetz t noc h nich t einsetzte , is t begreiflich .
3. Das Alte Testamen t in den nachösterlichen Gemeinde n
Es wa r vorers t auc h i n de r nachösterliche n Gemeind e nich t anders . Auc h
für si e is t da s Alt e Testamen t ei n zunächs t selbstverständliche s Erbe . Wi e
an Tempe l un d Tempelkult , a n Tempelsteue r un d Rechtsprechun g de r Syna goge ha t da s Judenchristentu m a m väterliche n Geset z festzuhalte n (vgl . Apg .
6,46; Mt. 5,23f.; 17,24-27; Mk. 13,9; Mt. 10,17). Es versteh t sic h al s
das wahr e Israel ; un d e s kan n auc h tatsächlich , vo n auße n betrachtet , reli gionsgeschichtlich al s ein e eschatologisch e Sekt e de s Judentum s bezeichne t
werden, di e vo n de r Hauptströmun g de s Judentum s durc h da s Bewußtsein ,
das endzeitlich e Israe l z u sein , un d durc h de n Glaube n a n di e Heilsbedeutun g
des gekreuzigte n un d auferstandene n Jesu s Christu s unterschiede n un d dan n
auch förmlich getrenn t war .
Die Hoheitstitel , di e di e Urgemeind e Jesu s beilegt : Messia s - Christus - ,
Menschensohn, Soh n Gottes , Knech t Gottes , sin d zweifelsohn e israelitisch jüdischen Ursprungs . Soseh r si e durc h ihr e Anwendun g au f de n gekreuzig ten un d auferstandene n Jesu s vo n inne n he r umgewandel t werde n - nicht
nur: Jesu s is t de r Messia s usw. , sonder n ebens o auch : de r wahr e Messia s
ist de r gekreuzigt e un d auferstanden e Jesus ! —, so ordne n si e doc h da s i n
Jesus Christu s erschienen e Neu e i n da s Alt e ein : da s Erb e de r Väte r stell t di e
Sprache, die neue Offenbarun g sagba r un d verkündbar z u machen .
Sofern da s Judenchristentum de r Urgemeinde i n Palästina sic h vom Judentum nich t
löste, bedeutet e dies e Treue zu r religiöse n un d ethnische n Herkunf t nich t nur , da ß es
selbst a m Gesetz, also a m Alten Testamen t al s Erbe der Väter festhielt, sonder n auch ,
daß Nichtjuden, die der judenchristlichen Gemeind e beitreten wollten, sich dem Gesetz
unterstellen un d zu r Bekundun g diese s Willen s sic h beschneide n lasse n mußten .
Christ konnt e hie r nu r werden , we r auc h Jud e z u werde n berei t war . Gal t da s Alt e
Testament al s Geset z fü r Christ-geworden e Heiden , s o ers t rech t fü r die , di e vo n
Geburt Juden waren . Das Wirkliche ist , ander s als es der Philosoph Hege l gelehrt hat ,
nicht imme r auc h vernünftig . Den n vernünftig-konsequen t wa r dies e Haltun g keines wegs, hatt e doc h scho n Jesus ein e seh r vie l differenzierter e Haltun g de m väterliche n
Erbe gegenübe r gezeigt . Obscho n Jes u Wort e gege n Gesetzlichkei t un d pharisäische s
Lohndenken, auc h gege n de n kultische n Ritualismu s unvergesse n bliebe n un d über 2*
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A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik
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Das Alte Testament als Erbe
liefert wurden, fan d woh l ein e Rückentwicklun g zu m gesetzlichen Denke n statt . Hie r
wurde dan n Jesu s da s Wor t zugeschrieben , e r se i nich t gekommen , da s Geset z auf zulösen, sonder n e s zu erfüllen ; un d bi s zum End e der Tage soll e kein Jot a un d kei n
Tüttelchen a m Gesetz vergehen (Mt. 5,17f.). Christentu m al s neue, aber nicht immer
bessere Gesetzlichkei t au f de r Basis eines unumschränk t fü r gülti g erachtete n un d al s
Gesetz verstandene n Alte n Testament s is t scho n i n de r Urgemeind e un d scho n i m
Neuen Testamen t vorgezeichnet . Freilic h gehört e nich t diese r Ausprägun g un d Rich tung de s christliche n Glauben s di e nächst e Zukunft . Si e verlo r nac h de m Untergan g
Jerusalems (70 n.Chr.) ihr e Bedeutun g un d san k zu r Sekt e de r Ebionite n herab .
Bemerkenswert is t allerdings , da ß auc h dies e sektiererisc h gesetzlich e Gestal t de s
Christentums nich t ei n unveränderte s Alte s Testament beibehielt , sonder n di e „gerei nigten" fünf Büche r Mose ohne allen Opferkult und Priesterwesen und mit Verwerfun g
der nur von Weibern geborenen Propheten (Diestel, S.27f.).
Weit wichtige r fü r di e sic h herausbildend e Kirch e un d dere n Aufnahm e
und Verständni s de s väterliche n Erbe s wa r di e hellenistisch e Richtung , di e
auf de r Diaspor a entstammend e Kreis e zurückgeht . Ihr e größer e Freihei t de m
Gesetz gegenüber verringert e sic h durc h de n Übertrit t zu m Christentu m gewi ß
nicht. De r Verblei b i m Verban d de s Judentums un d au f de m Bode n de s väter lichen Erbe s hindert e di e judenchristlich e Gemeind e i n Jerusale m daran ,
Mission unte r Heide n z u betreiben . Dies e gin g vo n hellenistische n Juden christen aus , un d i n de n sic h nunmeh r bildende n heidenchristliche n Gemein den ware n di e Anerkennun g de s Gesetze s un d di e Übernahm e de r Beschnei dung nich t meh r erforderlic h (vgl . Apg . 8,4ff. ; l l , 1 9 f f . ; 15; Gal. 2 , 1 - 1 0 ) .
Das sogenannt e Apostelkonzi l (Gal . 2 , 1 - 1 0 ; Apg. 15) hat da s gesetzesfrei e
Heidenchristentum ausdrücklic h anerkann t un d dami t faktisc h scho n frühe r
Gegebenes bestätigt . Di e hie r verhandelt e Frag e ha t nu r scheinba r blo ß
kirchenrechtlichen Charakter . Theologisc h gin g e s ja darum , o b das Christen tum de m Wese n nac h jüdisc h se i ode r bleibe n könne , o b da s überkommen e
Gesetz un d da s väterlich e Erb e überhaup t hie r noc h gan z un d unveränder t
in Geltun g bleibe n könne , ja , o b da s i n Christu s erschienen e un d dargeboten e
Heil allei n un d fü r sic h genüg e ode r a n di e Bedingun g de r Gesetzeserfüllun g
gebunden bleibe n müsse . Dabe i wa r e s de r Sach e nac h gleichgültig , o b da s
ganze Geset z ode r nu r Teil e desselbe n - etwa di e Beschneidun g - gültige
Vorbedingung bleibe n sollten .
Es wa r Paulus , de r diese s Proble m i n alle r theologische n Klarhei t erkann t
und gelös t hat . Fü r ih n is t da s Geset z zwa r gewi ß vo n Got t erlassen , dami t e s
erfüllt werde , wir d abe r vo m Mensche n al s Mittel , mi t eigene n Werke n di e
eigene Gerechtigkei t z u erlange n un d solcherweis e gott-lo s di e eigen e Existen z
zu verwirklichen , stat t au s de r allei n Lebe n gewährende n Gnad e Gotte s z u
leben, pervertier t (Gal . 2 , 1 5 - 2 1 ; 3,21-25 ; Rom. 3,19-28; 7 u.ö.). Paulus '
Theologie un d auc h sein e theologisch e Polemi k un d sei n Strei t betreffe n
diese kardinal e Frage : o b de r Mensc h letztlic h sei n eigene s Hei l schafft , o b
der Mensc h sic h selbs t erlöst , sic h selbs t mach t ode r rech t („gerecht" ) ers t
lebt, wen n e r au s de r Gnad e Gotte s lebt . Dies e damal s wi e z u alle n Zeite n
und s o auch heut e zentral e Frag e war de r Gegenstan d de s ersten theologische n
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Der Bruch mit der jüdischen Vergangenheit
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Streites i n de r junge n Kirche . E r war ein e Auseinandersetzun g u m da s Geset z
und um das als Geset z verstandene Alte Testament .
War fü r Paulu s de r Strei t theologisc h zugunste n de r alleinige n Gnad e (sol a gratia)
entschieden, s o zeig t da s sogenannt e Aposteldekre t (Apg . 15,20. 28-29 ; 21,25) , das
den Heidenchriste n de n Genu ß vo n Götzenopferfleisch , vo n Fleisc h vo n nich t nac h
den jüdische n Ritualvorschrifte n geschlachtete n Tieren , vo n Speisen , di e mi t Blu t
zubereitet sind , sowi e di e „Unzucht" , d.h . Heirate n i n bestimmte n Verwandtschafts graden gemä ß den immer schon auc h für Heide n gültigen Bestimmunge n vo n 3. Mose
17,8.10ff. 13; 18,6ff. verbietet , da ß nicht überall ebens o gesetzesfrei gedach t wurde .
Dieses Dekret erkennt also ein gesetzesfreies Heidenchristentu m nu r an, sofern e s dem
mosaischen Geset z konfor m ist ! Da s Dekret , da s ein e Kompromißlösun g darstell t
und vermutlic h da s Zusammenlebe n un d insbesonder e di e Tischgemeinschaf t vo n
Judenchristen un d Heidenchristen ermögliche n wollte, steht also in der Mitte zwischen
einem strenge n Judenchristentum , da s selbs t au f de m Bode n de s ererbte n Gesetze s
verbleibt un d fü r welche s Jud e werde n muß , we r sic h z u Christu s bekehrt , un d de m
gesetzesfreien paulinische n Christentum.
4. Der Bruch mi t der jüdischen Vergangenhei t
Dennoch bedeute t Freihei t vo m jüdische n Gesetz , ebensoweni g wi e di e
grundsätzliche theologisch e Polemi k de s Paulu s gege n da s Gesetz , keines wegs di e Abschaffun g de s alttestamentliche n Erbes . Woh l abe r mußt e nun mehr einma l i m praktische n Vollzu g de r christliche n Missio n unte r de n Hei den un d anderma l noc h deutliche r i n de r theologische n Besinnun g au f da s Gesetz bzw . au f da s jüdisch-traditionel l al s Geset z verstanden e Alt e Testamen t
dieses i n seine r hermeneutische n Problemati k bewuß t werden . De r Strei t
um di e Gültigkei t de s Gesetze s fü r Heidenchriste n bar g di e Frag e nac h de r
Gültigkeit de s Gesetze s fü r Christe n überhaup t i n sich , un d dies e mußt e sic h
wiederum zu m Proble m de r Geltun g de s Alte n Testament s überhaup t i m
Bereich de r christliche n Kirch e ausweiten . Auc h mußt e di e Freihei t vo m
Gesetz, se i e s nu n vo m ganze n ode r vo n seine n rituelle n Bestandteilen , de n
Blick ne u dafü r schärfen , da ß da s vo n de n Väter n überkommen e Erbe , da s
nunmehr auc h zu r heilige n Schrif t de r Heidenchriste n wurde , nich t nu r
Gesetze enthält , sonder n auc h Geschichte n un d Erzählungen , Belehrunge n
und Gebete , Weissagunge n un d Verheißungen . Inwiefer n gelte n dies e noc h
und gelte n si e de r neuen , christliche n Gemeinde ? I n de r Freihei t de m Geset z
gegenüber, scho n be i Jesus , dan n vo r alle m i n de r Theologi e un d Verkündi gung de s Paulus , endlic h überhaup t i m Heidenchristentum , da s alsbald , zuma l
nach de r Zerstörun g Jerusalem s (70 n.Chr.), da s Judenchristentu m wei t a n
Bedeutung z u überflügel n begann , komme n mi t schwerwiegende n praktische n
Folgen di e Unterschied e zu m Judentu m und , wa s di e Judenchriste n anbe langt, de r Abstan d vo n de r eigene n religiöse n Herkunf t symptomatisc h zu m
Ausdruck. Zwische n Väter n un d Söhnen , zwische n de m Erb e un d denen , di e
es verwalten, j a ausschließlic h fü r sic h i n Anspruch nehmen , ha t sic h ein Bruc h
vollzogen. Jetz t laute t di e Frag e nich t nur , mi t welche m Rech t diejenige n au f
das Erb e de r Väte r Anspruc h erheben , di e sic h a n di e Forderunge n de s ererb © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen
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Das Alte Testament al s Erbe
ten Gesetzes nich t meh r halten , sonder n meh r noch : kan n überhaup t da s
Alte, ma g e s imme r Erb e de r Väte r un d Bibe l Jes u sein , noc h wesentlich e
Bedeutung haben , d a doc h durc h Kreu z un d Auferstehun g Jes u Christ i di e
Endzeit hereingebroche n is t un d di e neu e Gemeind e durc h diese s Ereigni s
allein begründe t wurd e (l.Kor . 3,11) und d a doc h dami t „alle s ne u gewor den" ist (2. Kor. 5,17)?
Bekanntlich ha t sic h di e christlich e Gemeind e al s da s wahr e Israe l Gotte s
(Gal. 6,16) im Gegensat z z u dem empirische n Volk , da s nur Israel nac h dem
Fleisch is t (l.Kor . 10,18), und al s die wahren Söhn e Abrahams (Röm . 4,1215; 9,6-8 ; Gal. 4,22-28) verstanden. Is t die Kirche au s an Christus glauben den Jude n un d Heide n nac h eigene m Selbstverständni s da s wahre , endzeit liche Israel, s o ist da s väterliche Erb e in Wahrheit de r Christenheit Eigenstes ,
und all e i n ih m enthaltene n Verheißunge n un d Zusagen , abe r auc h Warnun gen un d Ermahnunge n gelte n de r Gemeind e de r Endzeit . Mi t diese r herme neutischen Vereinnahmun g is t da s Erb e bejah t un d angenommen , abe r da s
hermeneutische Proble m noc h nicht gelöst. Das gilt für di e alte Kirche ebenso
wie fü r di e gegenwärtig e theologisch e Rechtfertigun g de r christliche n Bei behaltung de s Alte n Testaments . De r Verwei s au f da s Erb e al s solche s un d
der Titel des neuen, wahren Israel s reichen hie r nicht aus. Denn das neue oder
wahre Israe l wa r un d is t nich t di e historisch e Fortsetzun g de s alte n Israels ;
ebensowenig wa r un d is t e s ein e Sekt e innerhal b de s israelitisch-jüdische n
Religionsverbandes, al s welch e e s anfang s fü r ein e rei n äußerlich e Betrach tungsweise erscheinen mochte . Keine historische Entwicklung führ t vo n Israel
zum Judentum un d von dort kontinuierlic h zu m Christentum, s o vieles auch,
historisch gesehen , Israe l un d da s Judentu m einerseit s un d da s Christentu m
andererseits verbinde n mag , - so vieles , da ß ei n angemessene s Verständni s
des Christentums ohn e dies e historische n Zusammenhäng e nich t möglic h ist .
Hier geht es aber nicht nur um historisches Verstehen , sonder n u m die Erfassung un d Bestimmun g de s Wesens . Das Bekenntnis z u de m gestorbene n un d
auferstandenen Jesu s al s de m Messias-Christu s un d Herr n nimm t auc h nich t
nur da s Gekommensei n de s Messia s i m Gegensat z zu m Judentum , da s au f
den Messia s noc h wartet , vorweg ; de r Unterschie d besteh t nicht zuers t sozu sagen i n de r Datierun g de s Messias , s o wichti g dies e gewi ß ist . Vielmeh r
bekennt sic h de r Glaub e a n de n gestorbene n un d auferstandene n Jesu s Chri stus dami t z u de m eschatologischen , d.h . endzeitliche n un d endgültige n
Handeln Gottes , da s i n absolut-qualitative m Sinn e alle m Bisherige n ei n
Ende setzt, e s vergangen sei n läß t (2. Kor. 5,17), vom Tode zu m Lebe n führ t
(Röm. 5,12-21; 6,3-11 ; Gal. 2,20; l.Kor. 15,21f. ; 2.Kor . 4,10; 13,4 ;
Kol. 3,3 f.) un d da s neu e Israe l al s di e i m absolut-qualitative n Sinn e neue ,
endzeitliche Gemeind e konstituiert , di e a m endzeitliche n Hei l i m Glaube n
schon jetz t teilhat . Is t abe r da s neu e Israe l durc h Gotte s endzeitliche s Han deln i n Jesu s Christu s vo m alte n Israe l unterschiede n un d geschieden , j a
geradezu au s ih m un d au s alle r Wel t „herausgerufen" , s o mußt e un d mu ß
die Frage lauten, ob nicht dies neue Israel mit dem alten nu r noch den Namen
gemeinsam hat . Wi e kan n dan n da s a n da s alte , historisch e Israe l gerichtet e
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A. H. J. Gunneweg, Vom Verstehen des Alten Testaments Eine Hermeneutik
Verheißung, Weissagung , Typos
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Alte Testament , da s eine n Stämmeverban d Israel , ei n Staatsvolk , schließlic h
eine volksgebunden e Kult - un d Gesetzesgemeind e voraussetzt , noc h Bedeu tung habe n fü r da s neu e Israel , da s Got t i n Christu s endzeitlic h „heraus gerufen" hat ? De r christlich e Glaub e is t ja , trot z alle r ererbte n Schrift gläubigkeit, nich t zuers t Glaub e a n di e Schrift , erwächs t nich t au s de r Schrift ,
auch nich t au s eine r christlic h ne u ausgelegte n Schrift , sonder n is t Glaub e
an Christus , der sich im Zeugnis christlicher Verkündigun g selbs t verkündigt .
Die Gesetzesproblemati k stell t sic h dami t al s bloß e Teilfrag e heraus . Si e
mußte sic h au s naheliegende n historische n Gründe n zuers t ergeben , abe r da s
eigentliche Proble m wa r mi t de r Freihei t vo m Geset z nich t gelöst . E s war un d
ist nich t nu r ei n hermeneutisches , wi e nämlic h da s überkommen e Erb e al s ei n
historisch bedingte s un d geschichtliche s übe r di e Distan z de r Zeite n hinwe g
verständlich gemacht , als o interpretier t un d verstande n werde n könne . Dies e
Frage stell t sic h angesicht s jede r Literatu r un d überhaup t alle r menschliche n
Lebensäußerungen. Da s Proble m is t vielmeh r auc h un d vo r alle m ei n i m
strengen Sinn e theologisches , wi e e s sic h nu r hie r un d nich t auc h i n Hinsich t
auf di e neutestamentliche n Schrifte n stellt : wi e da s i m qualitative n Sinn e alt e
Erbe fü r di e christlich e Gemeind e al s ein e endzeitlich e un d al s i m strenge n
Sinne neue s Israe l Gültigkei t habe n könne . Dies e Frag e wurd e i n de r Urge meinde, abe r auc h i n de r star k reflektierende n Theologi e etw a de s Paulu s
noch nich t mi t diese r Genauigkei t un d Härt e gestellt . Si e war abe r da , wi e de r
faktische Umgan g mi t de m überkommene n Erb e - und nu n nich t nu r mi t
dem Gesetz - zeigt.
5. Verheißung, Weissagung , Typo s
Das zeig t sic h scho n gleic h i n de r de n synoptische n Evangelie n voraus liegenden un d vo n ihne n aufgenommene n Sammlun g vo n Herrenworten , di e
man al s Q (Logienquelle ) z u bezeichne n sic h angewöhn t ha t (vgl . Werne r
Georg Kümmel , Einleitung , S.37ff.) . Hie r wir d deutlich , da ß de r Her r di e
erste, unbedingt e Autoritä t ist . E r is t meh r al s Jon a un d meh r al s Salom o
(Mt. 12,41; Lk. 11,31 f.); da s Hei l alle r Mensche n entscheide t sic h a m Be kenntnis z u ih m (Mt. 17,21. 24-27 ; 10,32 f.). Jesu s is t di e eigentlich e Auto rität un d sei n Erscheine n selbs t da s Heilsereignis ; di e Schrift , „di e Prophete n
und da s Geset z habe n bi s au f Johanne s geweissagt " (vgl . Lk . 16,16). Hier
begegnet auc h bereit s de r ander e Gedanke , de r da s überkommen e Erb e de r
Schrift nich t zuers t al s Gesetz , sonder n al s Weissagun g un d al s Vorankündi gung un d Verheißun g i n Betrach t zieht . E s is t ei n Gedank e — und ei n herme neutischer Schlüsse l - , der bi s i n di e Gegenwar t vo n Wichtigkei t gebliebe n ist .
Schon da s ältest e urchristlich e Glaubensbekenntni s (Kerygma) , wi e es , selbs t
vorpaulinisch, vo n Paulu s weitergegebe n wird , beruf t sic h darauf , schrift gemäß z u sein: „da ß Christu s gestorbe n is t fü r unser e Sünde n nac h de n Schrif ten, un d da ß e r begrabe n wurde , un d da ß e r auferweck t is t a m dritte n Tag e
nach de n Schriften , un d da ß e r Kepha s erschien , dan n de n Zwölf " (l.Kor .
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Das Alte Testament als Erbe
15,1-5). Wichtiger al s die Frage, welch e Schriftstelle n hie r konkre t gemein t
seien - offenbar wir d au f Jes . 53,4-6; Hos. 6,2 angespielt - , ist die Feststellung, da ß die „Schriften " überhaup t al s Weissagung un d Beweis fü r die
Schriftgemäßheit de s Christusgeschehen s zitier t werden . Da s zentral e Geschehen vo n Kreuz un d Auferstehung wir d dan n scho n frü h mi t Hilfe von
Psalm 22 (Spott, Kopfschütteln , Verteilun g de r Kleider, Eli-Ruf ) erzähl t und
verumständet und als schriftgemäß erwiesen.
Auch fü r de n für Heidenchriste n schreibende n Marku s komm t da s alt testamentliche Erb e nich t zuers t al s Geset z i n Betracht . I n diese m „Buc h
der geheime n Epiphanien " (Marti n Dibelius , Di e Formgeschichte de s Evangeliums, S.232 ) is t Jesus de r endzeitliche Menschensohn , Soh n David s und
Sohn Gottes , der eine neue Lehre verkündet un d mit göttlicher Vollmach t die
Dämonen austreib t (Mk . 1,27). In Streitgespräche n mi t Pharisäer n un d
Schriftgelehrten wir d dere n gesetzlich-zeremonielle s Verständni s des Gesetzes
verurteilt (Mk . 2,6-9; 2,23-28 ; 3,1-6 ; 7,1-13 ; 10,1-12) . Obwohl dies e
Polemik faktisc h nich t nu r die jüdische Interpretation , sonder n da s Gesetz
selbst au s den Angeln hebt , is t der, dem solche Diskussionswort e zugeschrie ben werden , de r vo n de r Schrif t Geweissagt e (Mk . 1,2f.; 7,6f.; 12,10f .
36f.; 14,27). Insbesondere di e Passionsgeschicht e wir d „schriftgemäß "
gestaltet (15,24. 34 . 36). Insgesamt mach t da s Markusevangelium de n Eindruck, i n Hinsich t au f seine n Umgan g mi t de m alttestamentliche n Erb e
von eine r vorgegebenen , noc h nich t theologisc h abgeklärte n heidenchrist lichen Traditio n abhängi g z u sein. Das Gesetz, zumal da s Zeremonialgesetz,
ist abgetan; gülti g bleib t aber die überkommene Schrift al s Weissagung, di e in
Christus Erfüllun g fand . Meine n abe r di e zitierte n Stelle n (Mal . 3,1 vgl.
Mk. 1,2; Jes. 29,13 vgl. Mk. 7,6f.; Ps . 118,22f. vgl. Mk. 12,10f.; Ps . 110,1
vgl. Mk . 12,36f.; Sach . 13,7 vgl. Mk. 14,27) wirklich selbs t ihre m eigene n
Sinne nach , wa s sie weissagen un d belegen sollen ? Au f diese Frag e is t noch
zurückzukommen.
Daß die Schrift da s Christusgeschehen verheiß t un d weissagt, is t auch des
Apostels Paulus Überzeugung. Dabe i geht es nicht so sehr um eine Vorankündigung einzelne r Geschehniss e un d Widerfahrnisse al s vielmehr darum , daß
die Schrif t überhaup t da s Heil, da s Gott de n Heiden i n Christu s bereitet ,
vorausgesehen ha t (Gal. 3,6). Zwar gründe t auc h de s Paulus Christusglaub e
in de r Begegnung mi t dem lebendigen Jesu s Christu s un d er hat das Evangelium nich t „gelernt " (Gal . 1,12), dennoch is t und bleibt für ihn das väterliche Erb e heilige Schrif t i m strengen Sinne . Nich t nu r das Gesetz, das darin
enthalten ist , is t vo n Got t gegeben , „heilig , rech t un d gut" (Rom . 7,12),
sondern di e ganze Schrif t is t göttlich . Ja , ihr e Heiligkeit , Göttlichkei t und
Wahrheit offenbare n sic h nac h Paulu s i m Glauben a n Christus un d von diesem Glaube n he r überhaupt ers t recht . Di e eigentliche Wahrhei t de r Schrift
ist ohn e Christu s verhüllt, de n Jude n bleib t si e wi e durc h eine n Schleie r
(Decke) verborge n (2.Kor. 3,14). Ohne Christu s gil t de r „Buchstabe", wel cher tötet, jetz t abe r der Geist, der lebendig mach t (2. Kor. 3,6; vgl. Rom. 2,
29; 7,6 ) und dabei is t dann mi t dem Buchstaben nich t blo ß di e Erstarrung
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Verheißung, Weissagung, Typos
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im Formale n un d i n Formel n gemeint , sonder n di e tötend e Kraft , di e da s
Gesetz ohn e Christu s entfaltet , un d di e recht e Auslegun g is t wei t meh r
als ein e exegetisch e Technik , nämlic h di e Erschließun g göttliche r Wahr heit i m Licht e Jes u Christ i (2.Kor . 3,7-18). Die wahre Wahrhei t de r Schrif t
ist da s Hei l i n Christus , di e Gerechtigkei t allei n durc h de n Glauben . S o
glaubt vo r alle m Geset z Abraha m Gotte s Zusage , un d da s wurd e ih m al s
Gerechtigkeit angerechnet , zugesproche n (R öm. 4,3; Gal. 3,6; beide Stelle n
mit Bezu g au f l.Mos e 15,6). Hier wird di e Schrif t vo n Paulu s als o durchau s
sinngemäß zitiert , di e neu e Glaubenserkenntni s nich t künstlic h i n di e Text e
hineingelesen. Neu gegenüber der jüdischen Exegese ist jedoch das hermeneutische Prinzip , da s dies e Stelle n in s Zentrum rück t un d ihne n eine n Ran g vo r
allem Gesetz gibt, das gar erst 430 Jahre danach erlassen wurde (Gal. 3,17)!
Ist un d bleib t di e Schrif t i n Kraft , s o biete t si e auc h di e Sprach e dar , da s
Evangelium vo n Christu s i n seine n verschiedene n Aspekte n z u verkünden .
Diese Sprach e is t selbs t Weissagun g au f Christu s un d au f di e Endzeit. Zitat e
und Anspielunge n durchziehe n Paulus ' Briefe . All e Weissagunge n un d Ver heißungen, di e das Alte Testament enthält , finde n ihr e Erfüllung i m Christusereignis (2.Kor. 1,20), ja, auc h abgesehe n vo n Weissagungen un d Verheißungen i m engeren Sinne , „wa s imme r zuvo r geschriebe n wurde , da s is t un s zur
Lehre geschrieben " (Röm . 15,4). Alles i n de r Schrif t ha t nu r ein e Richtun g
und ein Ziel: di e Endzeit, die in Christus angebroche n ist . Geht nach Ps. 19,5
„ihr (de r Himmel ) Schal l übe r di e ganz e Erd e un d ihr e Wort e bi s a n di e
Enden de r Welt" , s o finde t Paulu s hie r sein e eigen e Heidenmissio n voraus gesagt (Röm . 10,18), und de r Verkünde r de r Christusbotschaf t dar f sic h
von dieser Arbeit au f Koste n der Gemeinde ernähren, weil nac h 5.Mose 25,4
dem dreschende n Ochse n da s Mau l nich t zugebunde n werde n soll ! De r
Durchzug durc h da s Schilfmeer , di e Wüstenwanderun g Israels , al s Jahw e i n
einer Wolk e mitzo g (2.Mose 13,21 f.), das Mann a (2.Mose 16,4ff. ) un d da s
Wasser au s de m Felse n (4. Mose 20,7-11) sind Vorabbildunge n (Typen ) vo n
Taufe un d Abendmah l (l.Kor . 10,1-6). Überhaupt is t jene s damalig e Ge schehen, vo n dem das Alte Testament berichtet , fü r Paulu s „typisch " (l.Kor .
10,11), Typos dessen, was in der Endzeit sich ereignet. Hier sind es also nicht
Worte ode r Sprüche , di e al s Weissagun g ode r Verheißun g interpretier t wer den, sonder n Geschehnisse , Personen , Institutione n werde n z u Vorausschat tungen de s Künftigen , da s jetz t eingetroffe n ist . S o is t nac h Paulu s de r erst e
Adam, vo n de m alle s Unhei l übe r di e Menschhei t ausging , de r Typo s de s
künftigen, kommende n un d nu n gekommene n neue n Adam , nämlic h Christi ,
von dem alles Heil ausgeht (Röm. 5,14).
Daß typologisch e Entsprechunge n gemein t sind , mu ß jedoc h nich t imme r ausdrück lich mitgeteil t werden . l.Kor . 5,7 wird Christu s al s Osterlamm , da s fü r un s geopfer t
wurde, bezeichnet , un d dami t is t gewi ß ein e typologisch e Entsprechun g vo n Passa lamm un d Kreuzesto d gemeint , wi e j a auc h Joh . 19,14 die Todesstund e Jes u de r
Stunde entspricht , d a di e Passalämme r geschlachte t z u werde n pflege n (vgl . Joh . 19,
36; vgl. fü r da s N T u.a . auc h Kol . 2,17 und l.Petr . 3 , 2 1 , wo auc h de r Begrif f Anti typ auftritt : di e Tauf e is t Antitypo s z u de m Typo s de r Arch e Noahs ; Joh . 3,14f. :
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