Kunstakademie Hamburg - Tourette Syndrom Homepage

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Kunstakademie Hamburg - Tourette Syndrom Homepage
Abschlussarbeit zur Vorlage an der
Kunstakademie Hamburg
Kunsttherapie mit einem
verhaltensauffälligen Jungen
Abschlussarbeit von Carla Schneiders
Filderklinik, Filderstadt 2013
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Studium:
An der Kunstakademie Hamburg
Brehmweg 50
22527 Hamburg
Praktikum:
An der Filderklinik, in Filderstadt von November 2012 bis einschließlich Januar 2013
Begleitende Dozentinnen und Mentorinnen:
Ingeborg Engelhardt
Barbara Taubenrheuter
Christine Pommerenke
Laura Vogler
Dr. med. Elisabeth Helmschmidt
Verfasserin:
Carla Schneiders
Hansaplatz 14
20099 Hamburg
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Inhalt
Danksagung .......................................................................................................................... 3
Mein bisheriger Lebensweg................................................................................................. 4
Die Filderklinik ..................................................................................................................... 5
Motivation zum Thema der Abschlussarbeit ..................................................................... 6
Das Krankheitsbild aus naturwissenschaftlicher Sichtweise .......................................... 7
Das Gilles-de-la-Tourette-Syndrom .................................................................................... 8
Beispiele für Tics ............................................................................................................... 8
Erscheinen der Tics ......................................................................................................... 10
Begleitsymptome ............................................................................................................. 10
Wissenschaftliche Ursachen ............................................................................................ 10
Soziale Folgen ................................................................................................................. 11
Therapiemöglichkeiten ..................................................................................................... 11
Diagnoseverfahren allgemein in der Medizin ................................................................... 11
Das Krankheitsbild aus anthroposophischer Sichtweise................................................ 12
Tastsinn ........................................................................................................................... 12
Lebenssinn ....................................................................................................................... 13
Eigenbewegungssinn ....................................................................................................... 14
Gleichgewichtssinn .......................................................................................................... 16
ADHS ............................................................................................................................... 17
Zwänge ............................................................................................................................. 18
Tourette und die Wesensglieder ...................................................................................... 19
Diagnose ............................................................................................................................. 20
Biographie .......................................................................................................................... 22
Der familiäre Hintergrund .................................................................................................. 23
Meine persönliche Wahrnehmung von Anton .................................................................. 24
Die Therapie ........................................................................................................................ 25
Rahmenbedingungen........................................................................................................ 25
Vor der ersten Therapiestunde.......................................................................................... 25
Der Therapieverlauf .......................................................................................................... 26
Kunsttherapeutische Diagnose ......................................................................................... 31
Zielsetzung der Therapie .................................................................................................. 31
Abschlussbetrachtung....................................................................................................... 45
Persönliche Meinung ......................................................................................................... 46
Anhang ................................................................................................................................ 47
3
Danksagung
Es waren viele Menschen, die mich auf meinem Weg durch das Studium an der
Kunstakademie Hamburg begleiteten. Vieles, was ich von ihnen in dieser Zeit gelernt
habe, hat auch direkt Einfluss auf mein ganz persönliches Leben genommen und
dieses bereichert. All diesen Mitgestaltern möchte ich herzlichst dafür danken.
Zum Abschluss der kunsttherapeutischen Ausbildung gilt mein Dank ganz besonders
Ingeborg Engelhardt. Sie hat mich auf sanfte, liebevolle Weise an das
kunsttherapeutische Arbeiten herangeführt.
Mein Dank gilt ebenso den Kunsttherapeutinnen der Filderklinik, sowie den Ärzten,
Heilpädagogen, Lehrern und Pflegern der dortigen Regenbogenstation, die meine
ersten kunsttherapeutischen Erfahrungen mit Kindern begleiteten.
Weiterhin möchte ich den Kunsttherapeuten der Klinik Öschelbronn danken. Dort
habe ich meine ersten Schritte in die kunsttherapeutische Arbeit machen dürfen.
In höchstem Maße möchte ich der Mutter des Jungen danken, denn sie hat mir ihr
volles Vertrauen geschenkt und eingewilligt in gutem Sinne über die bewegende
Geschichte ihres Sohnes schreiben zu dürfen, die ja letztendlich auch Teil ihrer
eigenen Geschichte ist.
Ein besonderer Dank geht vor allem an den Jungen selbst! „Es war sehr spannend
deine Welt entdecken zu dürfen. Ich wünsche dir ganz viel Kraft für die Zukunft!“
Heilsam ist nur, wenn
im Spiegel der Menschenseele
sich bildet die ganze Gemeinschaft;
und in der Gemeinschaft lebet der Einzelseele Kraft.
Rudolf Steiner
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Mein bisheriger Lebensweg
Am 20.11.1981 wurde ich geboren und wuchs in einer Winzerfamilie in Kröv an der
Mosel auf.
Mit 16 machte ich den Realschulabschluss und begann dann eine Lehre als
Hotelfachfrau in Schalkenmehren in der Eifel. Ich schloss meine Ausbildung
erfolgreich ab, jedoch wollte ich mich weiteren Herausforderungen stellen. Deshalb
besuchte ich das Tageskolleg in Mainz und konnte dort nach vier Jahren das Abitur
auf dem zweiten Bildungsweg erlangen.
Schon in der Schulzeit lag mir die Kunst am nächsten. Über eine Freundin und
Mitschülerin, deren Eltern beide Kunstlehrer waren, hörte ich dann zum ersten Mal
von den Inhalten und den Möglichkeiten, die die Kunsttherapie bietet. Mein Interesse
an einem Neuanfang war geweckt.
Nach dem Abitur folgten zwei Praktika. Das erste Praktikum machte ich im
Druckladen des Gutenberg-Museums und das zweite in der Ergotherapie der
Tagesklinik in Mainz. Dort arbeitete auch eine Ergotherapeutin, die sich gerade zur
Kunsttherapeutin fortbildete und mir somit die ersten kleinen Einblicke ermöglichte.
Nach einem fünfwöchigen Urlaub in Indien begab ich mich dann auf die Suche nach
Studienplätzen und somit führte mich mein Weg von Mainz nach Hamburg auf die
Kunstakademie Hamburg, an der ich fünf Jahre studierte. 2010 machte ich den
künstlerischen Abschluss mit Tonarbeiten unter dem Titel „Von Polaritäten zur Mitte“.
Im Anschluss nahm ich am kunsttherapeutischen Jahr teil, mit dem Schwerpunkt auf
der Maltherapie nach Margarete Hauschka. Im Sommer 2011 war die Studienzeit
beendet und ich ging auf die Suche nach Praktikumsplätzen.
Mein erstes Praktikum absolvierte ich von März 2012 bis Anfang Juli 2012 in der
Klinik Öschelbronn, einer Akutklinik mit Schwerpunkt Krebs-, und Schmerzpatienten.
In Öschelbronn sind die meisten Patienten nur ca. drei bis fünf Mal in der
Kunsttherapie, das bedeutet, dass die kunsttherapeutische Arbeit pro Patient nur
sehr kurz bemessen ist und tiefergreifendes kunsttherapeutisches Arbeiten nur durch
zeitlich größere Abstände möglich ist, da die Patienten mehrmals im Jahr
wiederkehren
Ein halbes Jahr später begann ich dann mein zweites Praktikum in der Filderklinik. Je
nach Fachbereich sind die Patienten dort über mehrere Wochen in der Klinik,
wodurch ein tiefergreifendes Arbeiten möglich wird und der Patient in heilsame
Prozesse gelangen kann. In der Filderklinik fand ich somit die geeigneten
Voraussetzungen meine Abschlussarbeit in einem Praktikum von drei Monaten
Dauer beginnen zu können.
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Die Filderklinik
Die anthroposophische Klinik befindet sich in Filderstadt in Baden-Württemberg. Die
Klinik hat zahlreiche Fachbereiche wie Frauenheilkunde, Innere Medizin und
Gastroenterologie, Intensivmedizin, Kinder- und Jugendmedizin, Integrative
Onkologie, Palliativmedizin, Psychosomatik und Psychotherapie.
Außerdem kann sich die Klinik mit einem großen künstlerischen Therapieangebot
rühmen. Hier gibt es Farblichttherapie, Heileurythmie (vier Heileurythmisten),
Sprachgestaltung (eine Sprachgestalterin), Musiktherapie (drei Musiktherapeuten),
und drei Kunsttherapeutinnen im Malen und Plastizieren.
Die Mal- und Plastiziertherapie kommt in all den schon genannten Bereichen zum
Einsatz. Ich konnte in fast allen Bereichen Einblicke erhalten, hauptsächlich jedoch in
der Psychosomatik, in der Frauenheilkunde, in der Inneren Medizin, in der Onkologie
und eben auch in der Kinder- und Jugendmedizin. Mit der Zeit durfte ich auch
Vertretungen machen und im letzten Monat vier Patienten eigenständig begleiten.
Da meine Abschlussarbeit die therapeutische Behandlung eines siebenjährigen
Jungen beschreibt, möchte ich etwas näher auf die Kinderstation eingehen.
Die Regenbogenstation der Filderklinik bietet einen strukturierten Therapieplan und
somit einen geregelten Tagesablauf für die Kinder. Die gemeinsame Gestaltung des
Tagesablaufs durch Mahlzeiten, Spaziergänge, Ausflüge, Gruppenpsychotherapie
und Familientherapie sowie eben auch die Heileurythmie und die künstlerischen
Therapien als Einzeltherapien sind grundlegend für die Behandlung. Dabei wird das
ganze Umfeld des Kindes betrachtet: die Familie und ihre Biographie, sowie Schule
und Kindergarten.
Die Aufenthaltsdauer des Kindes ist meist drei oder vier Wochen in Begleitung eines
Erziehungsberechtigten. Die Station ist kindgerecht und gemütlich eingerichtet, und
hat eine Atmosphäre, in der sich die Kinder wohl fühlen können.
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Motivation zum Thema der Abschlussarbeit
Warum habe ich mich nun für Anton (der Name ist aufgrund der Schweigepflicht
verändert) entschieden?
In den letzten Wochen meines Praktikums durfte ich vier eigene Patienten begleiten,
zwei aus der Erwachsenen Psychosomatik und eben zwei Patienten aus der
Kinderstation.
Die Kinderärztin kam auf mich zu und sagte, dass gerade zwei neue Jungen auf der
Station angekommen sind und sie bei einem von ihnen an mich gedacht hat. Sie
könne sich gut vorstellen, dass die Zusammenarbeit mit ihm und mir ganz gut passen
könnte. Sie lud mich zur Vorbesprechung ein, in der die Biographie und der Grund
des Aufenthalts des Kindes für alle Begleiter erzählt werden. Einer der Jungen kam
mit Verdacht auf Autismus und der andere Junge kam mit der Diagnose ADHS, bei
ihm stellte sich dann im Aufenthalt ein Tourette-Syndrom heraus.
Letztendlich war ich sehr glücklich darüber, dass ich mit beiden arbeiten durfte, da
ich vorher noch nicht kunsttherapeutisch mit Kindern gearbeitet hatte. Außerdem war
die Auseinandersetzung mit ADHS und Autismus eine neue Erfahrung für mich.
In der Zusammenarbeit mit Anton (der Junge mit ADHS und dem später
diagnostizierten Tourette-Syndrom) kam es im Laufe der Therapiezeit zwar häufig zu
Abweisungen mir und des Mediums gegenüber, da wir aber letztendlich doch ein
kleines Stück Weg zusammengefunden hatten, entschloss ich mich, über diesen
Weg zu schreiben.
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Das Krankheitsbild aus naturwissenschaftlicher Sichtweise
Das Gilles-de-la-Tourette-Syndrom:
Der Name Gilles-de-la-Tourette-Syndrom stammt von dem französischen Arzt
Georges Gilles de la Tourette. Er war der erste Arzt, der die Symptome des TouretteSyndroms auf wissenschaftlicher Basis beschrieb. Das war im Jahre 1885. Erst 100
Jahre später, in den 1990er Jahren zeigt sich in Deutschland wieder mehr Interesse
an dieser Krankheit, die durch das Auftreten von Tics charakterisiert ist.
Es gibt zwei verschiedene Arten von Tics: motorische Tics und vokale Tics.
Motorische Tics zeigen sich von einfachen abrupten Bewegungen bis hin zu
komplexen Verhaltensweisen. Vokale Tics äußern sich von Geräuschen bis hin zu
ganzen Wörtern und Sätzen.
Beispiele für Tics (unterstrichen sind die Symptome, die bei Anton auffällig waren)
Einfache motorische Tics:
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Augen zwinkern, blinzeln, rollen, aufreißen (ohne Bewegungen der
Augenbrauen)
Augenbrauen hochziehen
Nase rümpfen, verziehen
Backen aufblasen
Mund öffnen, verziehen
Lippenbewegungen
Zunge hervorstrecken
Kieferbewegungen
Stirn runzeln
Grimassieren
Zähne klappern
Kopf schütteln, werfen, verdrehen, zucken, nicken
Schulter zucken
Arm-/Handbewegungen
Bauchbewegungen
Rumpfbewegungen
Bein-/Fußbewegungen
Komplexe motorische Tics:
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scheinbar absichtsvolle Bewegungen, Gesten im Gesicht, an Kopf, Hand,
Armen, Rumpf, Fuß, Beinen
an Kleidung zupfen
Hüpfen, Springen
Klatschen, Klopfen
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im Kreis drehen
verbiegende, beugende Rumpfbewegungen
ausfahrende Armbewegungen
Aufstampfen
dystone Tics (selten): mit langsamen verdrehenden Bewegungen
Schreibtics
Echopraxie: nicht zweckgebundene Imitation von beobachteten Bewegungen
anderer Personen
Kopropraxie: Zeigen obszöner Gesten etwa des Mittelfingerzeichens, obszöne
Rumpf-/Beckenbewegungen, Fassen in den Schritt
Palipraxie (selten): Wiederholen eigener Bewegungen (autoaggressive
Handlungen)
Einfache vokale Tics:
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Räuspern
Schniefen, Schnäuzen
Husten, Hüsteln
Nase hochziehen
Prusten
geräuschvolles Ein- oder Ausatmen
Quieken, Quietschen, Grunzen
Pfeifen, Summen
Ausstoßen von Schreien
Ausrufen von Silben (hm, eh, ah, ha)
Ausstoßen von Tier- oder anderen Lauten
Spucken
Komplexe vokale Tics:
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Echolalie: nicht der Kommunikation dienendes Wiederholen von gehörten
Sätzen, Wörtern, Silben oder Geräuschen; kann auch zur Entstehung neuer
Tics führen
Koprolalie: Ausrufen obszöner Wörter
Palilalie: unwillkürliches Wiederholen von selbst gesprochenen Wörtern
Sprechblockaden (auch Stottern)
Ausrufen von Sprachfragmenten
Ausrufen anderer sozial unangemessener Wörter
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Erscheinen der Tics
Die Tics beginnen oft schon im Kindesalter zwischen zwei und fünfzehn Jahren.
Zumeist treten sie so um das siebte Lebensjahr auf und prägen sich bis ungefähr
zum 14. Lebensjahr voll aus. Zwischen dem 16. und dem 26. Lebensjahr kann dann
die Intensität der Tics wieder nachlassen, oder sogar auch ganz ausbleiben, wobei
die meisten Touretter mit ihren Tics leben müssen.
Ein Tourette-Syndrom liegt vor, wenn mindestens zwei motorische Tics und ein
vokaler Tic sich zeigen, die wiederum mehrmals am Tag auftreten und mindestens
ein Jahr andauern.
Tics zeigen sich gehäuft in emotional belastenden Situationen, die zu innerer
Anspannung führen. Auch Schlafstörungen verstärken die Häufigkeit des Auftretens.
Das Tourette kann beide Geschlechter treffen, wobei Jungen 3 bis 4 Mal häufiger
betroffen sind als Mädchen.
Begleitsymptome:
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ADS/ADHS
Impulsivität
Asperger-Syndrom
Restless-Legs-Syndrom
Konzentrations- und Lernschwierigkeiten
Schlafstörungen (Einschlafstörungen, nächtliches Erwachen, Schlafwandel,
Alpträume, Bettnässen)
Zwangsstörungen
Angststörungen
Depressivität
Hypersexualität
Panikattacken
Ängste
Selbstverletzendes und fremdaggressives Verhalten
Autistische und schizoide Persönlichkeitsmerkmale
Wissenschaftliche Ursachen
Man vermutete:
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genetische Ursachen
Kopfverletzungen
Fehlfunktion der Stoffwechselvorgänge im Gehirn zwischen den Basalganglien
und anderen Gehirnregionen
Gestörter Dopamin Austausch (Dopamin ist u.a. zuständig für die
Signalübertragung von Bewegungen)
Autoimmunerkrankung, PAN-Syndrom (Basalganglien werden angegriffen
nach einer Streptokokken-Infektion)
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Soziale Folgen
Die Reaktionen uninformierter Mitmenschen sind meist ablehnend. Sie sehen in den
Tics schlechtes Benehmen oder schlechte Gewohnheiten. Da Tourette-Betroffene
kaum, aber eher keine Möglichkeit haben, willentlich in die Symptome einzugreifen,
können sie seelisch unter dem Ausschluss aus der sozialen Gemeinschaft leiden. Ist
die Diagnose noch nicht gestellt, so leiden Eltern oft an Schuldgefühlen schlechter
Erziehung und die betroffenen Kinder am Unverständnis von Eltern, Erziehern und
anderen Kindern. Uninformierte fühlen sich häufig persönlich angegriffen von
Tourette-Betroffenen.
Therapiemöglichkeiten

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Pädagogische, sonderpädagogische oder heilpädagogische Beratung bei
Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen
Tiefenhirnstimmulation
Für den Umgang mit Tics gibt es Verhaltenstherapie, Entspannungsverfahren
oder spezielle Selbstkontrolltrainings, wie das „HRT-Habit Reversal Training“,
mit denen man das Umwandeln sozial unangenehmer Tics in sozial
akzeptierte Tics erarbeiten kann.
Gute Ergebnisse gibt es auch in der Musiktherapie oder im Umgang mit
Musik. Die Ordnung von Rhythmus und Melodie scheint nervöse Tics umleiten
zu können.
Diagnoseverfahren allgemein in der Medizin
Die Diagnose des Tourette-Syndroms wird rein anhand der beobachteten Symptome
und des bisherigen Krankheitsverlaufs gestellt. Es existieren keine neurologischen
oder psychologischen Verfahren, die eine Diagnose des Tourette-Syndroms leisten
können.
Mit Hilfe von Fragebögen und Schätzskalen zur Beurteilung des Tic-Schweregrads
und medizinischen Untersuchungen wie z. B. einem Elektroenzephalogramm wird
eine Abgrenzung des Syndroms von anderen Erkrankungen versucht. Beispielsweise
unterscheidet sich gemäß ICD-10 die „multiple Ticstörung“ (F95.1) vom „TouretteSyndrom“ (F95.2) dadurch, dass letzteres auch einen vokalen Tic beinhaltet.
Weiterhin muss ausgeschlossen werden können, dass die Auffälligkeiten eine
körperliche Reaktion auf eine eingenommene Substanz darstellen oder einem
anderen medizinischen Krankheitsfaktor entspringen.
Bedingungen für die Diagnose sind mindestens ein vokaler und mindestens zwei
motorische Tics in der Anamnese; diese müssen aber nicht gleichzeitig aufgetreten
sein. Beim Tourette-Syndrom treten die Tics mehrmals täglich, zumeist anfallartig,
entweder fast jeden Tag oder über ein Jahr lang wiederkehrend auf. Die Symptome
müssen vor dem 21. Lebensjahr erstmals aufgetreten sein, die Stärke der Tics spielt
keine Rolle in der Diagnosestellung
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Das Krankheitsbild aus anthroposophischer Sicht
Das Tourette-Syndrom in Begleitung von ADHS und Zwängen
Um das Tourette-Syndrom mit den einhergehenden Symptomen annähernd aus
anthroposophischer Sicht zu beschreiben und um ein relativ gutes Verständnis dafür
zu bekommen, hilft es, die vier unteren Sinne einmal näher zu betrachten:
Die vier unteren Sinne, auch die basalen Sinne genannt, vermitteln die eigene
Körperwahrnehmung und das „sich in der Welt behaupten können“. Sie
schenken uns Vertrauen, Harmoniegefühle, Freiheitsgefühle und innere Ruhe.
Der Tastsinn im Gesunden:
„Der Tastsinn vermittelt im Gesunden ein Anders sein, ein nicht die Welt sein. Er
zeigt uns die Leibesgrenzen, lässt uns anstoßen und uns zu uns selbst aufwachen.
Er gibt die Empfindung, der den Leib umgrenzenden Haut.“ (Sinnesentwicklung und
Leiberfahrung Karl König)
Der geschwächte Tastsinn:
„Das Kind steckt überall in die Umgebung, in die Schwere, in die Wärme, steckt es
seinen Astralleib und das Ich hinein, es erfasst ein jegliches in so intensiver Weise,
wie es eigentlich beim Normalen nicht möglich ist. Dadurch entsteht ein Zustand, in
welchem das Kind alle Dinge gerade so ergreift, wie wenn es verwundbar wäre.
Dadurch entsteht ganz selbstverständlich das Erlebnis der Hyperempfindlichkeit. Es
empfindet dann ein solches Menschenwesen viel stärker, viel intensiver die
Umgebung, spiegelt sie auch viel stärker in sich. Es entstehen daher auch
Vorstellungen, die in sich wehtun. Die Sicherheit im eigenen Leib, vor allem im Organ
der Haut, ist verloren gegangen und diese Kinder müssen statt in ihrem Körper, im
Raum der Umwelt ihren Halt suchen. Dieser Zustand ist meist von schwersten
Formen der Angst begleitet. Jede neue Situation, jedes direkte Angesprochen
werden, jede unmittelbare Aufforderung wird mit Schweißausbrüchen und Unruhe
und daran sich knüpfenden Widerstand und Trotz begleitet. Daraus entsteht eine
Reihe von Phobien, unter denen das Kind leidet, und von denen es sich nur schwer
befreien kann.“ (Sinnesentwicklung und Leiberfahrung Karl König S. 28)
Bei Anton zeigt sich der Tastsinn geschwächt, einige Beispiele dafür sind:

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der Zwang, dass alle Schulranzen geschlossen sein müssen
das aggressive Verhalten in neuen Situationen, wie die Situation beim Singen,
die ihn völlig überforderte, obwohl es von außen betrachtet eine ganz
gewöhnliche Situation ist, erlebt er sie wie einen Schmerz
das ablehnende Verhalten im Übergang von einer Situation zur nächsten
fehlendes Vertrauen in die eigene Lernfähigkeit
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Was stärkt?
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Hülle bildende Tasterlebnisse schaffen Geborgenheit!
Rhythmische Massagen und Fußeinreibungen
Das Bearbeiten und Ertasten von Ton, das Einreiben von Pastell ins Papier
Hüllende Farberlebnisse; der Regenbogen, als Symbol für die Verbindung von
Himmel und Erde, schenkt Kindern mit zu wachen Sinnen eine beruhigende
Hülle
Der Lebenssinn im Gesunden:
„Er vermittelt im Gesunden die Kraft, sich selbst als ein ganzes Inneres zu fühlen.
Das Gefühl, das Ich und mein Leib eins sind.“
Der geschwächte Lebenssinn:
„Im frühesten Kindesalter vermittelt der Lebenssinn eine viel intensivere Rolle für das
seelische Verhalten als später. Der Säugling und das Kleinkind sind besonders stark
an die den Lebenssinn durchbrechenden Organgefühle hingegeben. Das vegetative
Nervensystem bedarf nach der Geburt einer ähnlich langen Ausbildung wie das
übrige Nervensystem. Auch Gehen, Sprechen und Bewegen entwickeln sich erst im
Laufe der ersten drei Lebensjahre und anhand der Entfaltung dieser Fähigkeiten reift
das zentrale und periphere Nervensystem heran. Im Laufe des ersten Lebensjahres
wird der Sympathikus* zum Sinnesorgan des Lebenssinns, im zweiten Lebensjahr
wird der obere Parasympathikus* vom erwachenden Strom der Sprache durchflossen
und dadurch kann er sich im dritten Lebensjahr zum Sinnesorgan des
Gedankensinns ausgestalten. Ist der Lebenssinn nicht richtig entwickelt, tritt die
Identifikation von Körperleib und Geistseele nicht richtig ein und dadurch kommt es
zu schweren Störungen des Kontaktes. Die Seele empfindet den Leib nicht als ihr
zugehörig, sondern eher als ein Teil der Welt. Es kann zu schweren
Zwangshandlungen kommen. Das Erlebnis des Leiblichen Selbst tritt normalerweise
um das dritte Jahr herum auf. Furcht bedrängt die Seele dieser Kinder. Es kommt zu
Kontaktstörungen, die das Kind daran hindern zum Nachahmer zu werden.“
(Sinnesentwicklung und Leiberfahrung Karl König S. 45)
Wo zeigt sich die Lebenssinnschwäche bei Anton?



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Kontaktstörung
Zwangsideen
plötzliche Ausbrüche von Raserei
der Lautsinn ist zwar da, aber der Sinn des Gesprochenen ist gelegentlich
verhüllt
* Der Sympathikus erhöht die nach außen gerichtete Handlungsbereitschaft in Form von Flucht und Angriff.
* Der Parasympathikus hingegen sorgt für Regeneration, Ruhe, Erholung und Schonung.
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Was stärkt?




Eine gesunde Ernährung, ein guter Lebensrhythmus und die Pflege der
Lebenskräfte sind die beste Förderung für das Wahrnehmen der Gedanken
und der Lebensvorgänge.
Wahrnehmungsübungen der Umgebung durch Nachmalen, genaues
Betrachten von Farben und Formen; das „Ich sehe was, was du nicht siehst“Spiel
Farbbäder als Regenerationsbäder für Lebenskräfte
Rhythmus zwischen Anforderung und Entspannung mit begrenzten Pausen
Der Eigenbewegungssinn im Gesunden:
„Er vermittelt im Gesunden die Empfindung vom Zustand der eigenen Leiblichkeit,
das Erlebnis der körperlichen Existenz, die Lage und Stellung der einzelnen Glieder
zueinander, das Wahrnehmen der eigenen Leibesbewegung.“ (Sinnesentwicklung
und Leiberfahrung Karl König S. 50)
„Er schenkt uns ein Freiheitsgefühl, das den Menschen sich als Seele empfinden
lässt. Er befreit uns, durch ihn erleben wir weder die Umwelt noch den Leib als
Zwang. Lebt die Seele in der Entfaltung ihrer motorischen Fähigkeiten, so
durchdringt sie das Gefühl der Freude und die Freude ist ein Gefühl der Befreiung
aus einer bisher getragenen oder erduldeten Fesselung.“ (Sinnesentwicklung und
Leiberfahrung Karl König S. 61)
„Der Mensch nimmt mit dem Eigenbewegungssinn eine von ihm ausgeführte
Bewegung wahr. Der Eigenbewegungssinn nimmt solches wahr, wozu eine Tätigkeit,
eine Regsamkeit vorausgesetzt ist, vom Augenzwinkern bis zur Bewegung der
Beine.“ (Steiner)
Der geschwächte Eigenbewegungssinn:
„Bei Erkrankungen, die lokal oder generalisiert im Nervensystem auftreten können
und die Tätigkeit des Eigenbewegungssinns mit beeinträchtigen, kann es zu
schweren Störungen im Ablauf der Motorik kommen. Der Schwung, die Zielhaftigkeit
und die Harmonie der Bewegungen sind nicht mehr vorhanden, so dass wir
feststellen müssen, dass der normale Ablauf einer Bewegung sich nur dann
vollziehen kann, wenn der Eigenbewegungssinn unversehrt und intakt ist. Der
Eigenbewegungssinn hat unmittelbare Rückwirkungen auf die Bewegung selbst, die
er wahrnehmen hilft. Jede Bewegung kann nur sinngemäß ablaufen, wenn sie auch
richtig wahrgenommen wird. Der Bewegungssinn gibt der Bewegung ihren Sinn.
Ohne Wahrnehmung zerfällt die Motorik in Teilbewegungen und sinnlose
Bewegungsversuche. Der Eigenbewegungssinn hat sein Wahrnehmungsfeld im
Gebiet aller Muskeln. Die Tätigkeit des Muskels, die vor allem in einer rhythmischen
Bewegung des Zusammenziehens und Erschlaffens besteht, wobei die Kontraktion
14
meist mit einer Verkürzung des Muskels und die Dilation mit einer leichten
Verlängerung desselben einhergeht, diese Tätigkeit wird vom Eigenbewegungssinn
wahrgenommen. Die Bewegungsformen selbst erheben sich zu einem Bild im Gebiet
der Vorstellungen. Wir müssen uns die komplizierten Bewegungsabläufe zunächst
erringen und dann erhalten. Das ungetrübte Vorstellungsbild ist für ihren geregelten
Ablauf genauso notwendig wie die Tätigkeit der Motorik selbst. An der Vorstellung
bildet sich die Motorik und jene wiederum wird von dieser modelliert.“
(Sinnesentwicklung und Leiberfahrung Karl König S. 53)
„Seh- und Bewegungssinn greifen innig ineinander. Bei jedem Sehakt ist die Motorik
der Augen, des Kopfes des Halses und der oberen Teile des Rumpfes mitbeteiligt.
Es gibt kein sehen ohne eine Mitbewegung bestimmter Partien des Muskelsystems.
Die Mitbewegung hat in sich immer eine leichte Kontraktion und Dilation der
Muskelgruppen, wodurch es zu einer motorischen Imitation der gesehenen
Bewegungsform kommt. Auch Auge, Ohr, Nase, Zunge und Haut sind als
Sinnesorgan mit dem Bewegungssinn eng verknüpft. Sinneserfahrung und
Bewegungsablauf sind eng miteinander verknüpft. Der Nerv ist nicht der Beweger
des Muskels, sondern diejenige Organisation, die es der Seele ermöglicht, die
erfolgte Bewegung wahrzunehmen. Mit dem Eigenbewegungssinn nehmen wir nicht
nur die eigene Bewegung wahr, sondern imitieren vermittels dieses Sinns auch die
Bewegungstendenzen, die in unserer Umwelt auftreten. (Sinnesentwicklung und
Leiberfahrung Karl König S. 45)
„Die Entfaltung des Eigenbewegungssinns kennt keine Grenzen des Alters.“
Auch bei Anton kommt es zu unwillkürlichen Bewegungen, die er zwar
wahrnimmt aber nicht willentlich steuern kann. Seine Tics, sowohl in der
Bewegung, als auch in der Sprache sind imitiert und wiederholen sich
zwanghaft:
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Fiebsen
Aufstampfen
Grimassieren
immer wiederkehrende Schimpfwörter
Was Stärkt?
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„Es kommt darauf an, die Bewegungen dem Alter entsprechend mit Sinn zu
erfüllen.“ (Sinnesentwicklung und Leiberfahrung Karl König)
Formenzeichnen
Eurythmie, rhythmisches Arbeiten
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Der Gleichgewichtssinn im Gesunden:
„Das Erlebnis der inneren Ruhe.“
„Viele Sinne sind mit der Erhaltung des Gleichgewichts eng verknüpft. Auge-, Ohr-,
Tast- und Muskelsinn sind mit verantwortlich für das ungewöhnlich komplizierte
Zusammenspiel von Reflexen, Instinkten, Bewegungsabläufen und Reaktionen aller
Art, die der Regelung des Gleichgewichts dienen. Gerade im Gebiet des
Gleichgewichtssinns erfährt der Verschmelzungsprozess von Wahrnehmung und
Bewegung seine höchste Steigerung, da Wahrnehmung und Gegenstand zur
völligen Einheit werden.“
„Mit dem Gleichgewichtssinn können wir uns in Harmonie bringen mit den Kräften
unserer Umgebung. Das Organ des Gleichgewichts ist im inneren Ohr zu finden, im
Felsenbein, in den Gliedern des Labyrinths. Die schwerelose Beweglichkeit unserer
Glieder kann sich nur dann vollziehen, wenn sie sich um einen Mittelpunkt herum
vollziehen, der in sich ruht. Der Kopf, in dem die beiden Labyrinth-Organe
eingebettet sind, ist der ruhende Pol in der Flucht aller willkürlichen und
unwillkürlichen Bewegungen. Der Gleichgewichtssinn hat im Atem seine irdischen
Wurzeln.“
„Die Selbstgewißheit gibt dem heranwachsenden Kind den Seelen-Geist-Raum, in
welchem es das Sprechen erlernt.“ (Sinnesentwicklung und Leiberfahrung Karl König
S.68 ff)
Bei Anton zeigt sich die Schwächung des Gleichgewichtssinns


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in seinen Tics
in den Sprachschwierigkeiten und
bei Reizüberforderungen in Kontaktstörungen und plötzlichen Ausbrüche von
Raserei
Was stärkt?

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

Spielerisches Erringen von Gleichgewicht schafft seelisches Gleichgewicht.
Da die Atmung und der Atemrhythmus auch wieder auf den Tagesrhythmus
zurückfallen, kann hier der geregelte Tagesablauf stärkend sein.
Bei Anton ist es gerade wichtig, die Übergänge von einer Situation zur
nächsten gut zu gestalten.
Stützend aus der Kunst wäre auch das Formenzeichnen, spiegelbildlich mit
zwei Händen.
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ADHS - aus anthroposophischer Sicht
„Neuropsychologisch für die Genese des ADHS ist die Rolle des Frontalhirns als Ort
der Impulssteuerung. In das Frontalhirn greift in besonderer Weise die geistige
Individualität des Menschen ein. Es vermittelt dadurch die Fähigkeit, Willenskräfte
(die immer aus dem unbewussten Stoffwechselbereich heraufkommen) zu bremsen.
Gerade das Zurückhalten von Impulsen zugunsten von etwas Höherem ist etwas
zutiefst Menschliches. Weitere Gesichtspunkte ergeben sich aus der Betrachtung
des Menschen als dreigliedriges Wesen mit Nerven-Sinnessystem, Stoffwechsel -,
Gliedmaßen System und dem vermittelnden rhythmischen (Atmungs- und
Zirkulations-) System. Geht es beim Lernen vor allen Dingen um rhythmische
Vorgänge (Wiederholungen), so handelt es sich bei der Fähigkeit der
Impulssteuerung um das Zusammenspiel zwischen Stoffwechsel und Nervenkräften.“
(Erziehungskunst 6/2009 S. 660)
„Einige Beispiele für mögliche konstitutionelle Besonderheiten beim AD(H)S:

Das Interesse kann nicht aus der Kopf-, in die Stoffwechselorganisation
heruntergebracht werden, dies führt zur Symptomatik einer
Aufmerksamkeitsstörung.
 Das Nervensystem und der Stoffwechsel greifen nicht richtig ineinander; dies
führt zu Symptomen mit motorischer Ungeschicklichkeit
 Das Kind kann aufgenommene Nahrung nicht wirklich in den Organismus
überführen, sich nicht zu eigen machen; es behält eigene, dem menschlichen
Organismus nicht eingegliederte Kräfte als „außer menschliche Prozesse“ in
sich. Dies führt zu innerer Unruhe mit den bekannten Folgen
 Eine weitere konstitutionelle Besonderheit ist die Hysterie beim Kind. Nach
dem Heilpädagogischen Kurs Steiners ragen hier seelische und geistige
Kräfte über die Organe hinaus.
 „Das Kind erfasst die Außenwelt schwer, weil sie zu intensiv auf es wirkt, es
empfindet Wahrnehmung und Vorstellung als Verwundung, ist
überempfindlich. Die Umgebung wird stark im Inneren gespiegelt,
Vorstellungen sind schmerzhaft, es kommt zu einem zu großen Bewusstsein
in der Willensentfaltung, und dadurch zu Schmerzen in derselben. Dies
versucht das Kind durch Zappeln im Tun zu kompensieren. In der Folge
entsteht ein Wechsel zwischen Depression und Manie. Bei vielen Kindern
scheinen ADHS-Symptome mit einer Schwäche der Lebenskräfte gerade im
Stoffwechselbereich verbunden zu sein.“ (Erziehungskunst 6/2009 S. 660)
Was stärkt?
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

„Strukturiertes, verlässliches, klares Vorgehen aufgrund tragfähiger
Beziehungen sind wesentliche Bausteine einer Therapie.“
Wahrnehmungsübungen der Außenwelt und Rhythmus
Die Sinne in ihrer Entwicklung fördern
17
Zwänge – aus anthroposophischer Sicht
„Zwangskrankheiten können in ungünstigen, aber auch günstigen
Familienverhältnissen entstehen. Es gibt durchaus Kranke, die in günstigen
Familienverhältnissen aufwachsen und bei denen Überempfindlichkeit und
Ängstlichkeit angeboren sind. Im Zusammenhang mit ihrer Überempfindlichkeit
setzen sich dann die Wahrnehmungen aus der Umgebung ebenso in ihnen fest, wie
in den Kranken mit der erworbenen Überempfindlichkeit. Schon schwächere, negativ
sich auswirkende Eindrücke, die andere Kinder nur vorübergehend und leichter
bewegen, führen bei ihnen zu tiefgehenden, lange sich auswirkenden
Schockerlebnissen. Bei allen Zwangskranken jedoch ist an das Mitwirken stärkerer
ungünstiger Eindrücke aus der zivilisatorischen Umwelt zu denken.“
„Nur weil der Kranke überempfindlich gegenüber Eindrücken ist oder geworden ist,
werden die Vorstellungen, die sich aus den Wahrnehmungen von der Welt oder vom
eigenen Leib bilden, zu Zwangsvorstellungen. Überempfindlichkeit bedeutet, das zu
viel Bewusstsein im Empfindungsleben herrscht; Übererregbarkeit kann darauf
antworten. Bei Überempfindlichkeit verlagert sich Bewusstsein aus dem Kopf in das
Leben der Empfindungen. Der fühlende Astralleib ist zu bewusst mit der Welt
verbunden und fühlt sich ihr schon vor seinem Bewusstsein mit der Welt ausgeliefert.
Wenn dies stärker wird, können die Eindrücke aus der Welt vom Astralleib nicht mehr
losgelassen werden. Es kommt zu keiner gesunden Einatmung und Verarbeitung der
Eindrücke. Im Hinblick auf die seelische Atmung ist auch festzustellen, dass beim
Zwangskranken die Antipathie-Geste der Ausatmung betont ist, dass die Ausatmung
jedoch stecken bleibt und nicht zu jenem Befreiungserlebnis durchstößt, wie man es
auf der seelischen, wie auch auf der körperlichen Ebene gegen Ende der Ausatmung
haben kann.“ (Die Entwicklung der Seele im Lebenslauf, Treichler, S171f.)
Was stärkt?



Die Sinne in ihrer Entwicklung fördern
Die Kugel plastizieren, mit der Hand- und Herzgeste Binden und Lösen
Märchenbilder als Verwandlungsgeschichten
18
Tourette und die Wesensglieder
Herr T, ein Erwachsener mit Tourette-Syndrom empfindet sich selbst, während seiner
Tics als fremdgesteuert. Er nennt es ein zweites (Neuro)-Ich im eigenen Körper, das
seine Tics steuert.
Da die Tourette-Symptomatik schon ab dem zweieinhalbten Lebensjahr eintreten
kann, liegt es nahe, das Aufwachen der Bewusstwerdung des eigenen Ichs
anzuschauen.
Vor dem dritten Lebensjahr lenkt das höhere Ich das Kind, aber nur so lange, wie es
im Unbewussten lebt. Chronische Erkrankungen starten an der Drei-Jahres-Grenze.
Die Ich-Erwachung ist für manche Kinder sehr schmerzhaft. Die Seele verhält sich an
der Grenze ganz unterschiedlich. Es gibt einmal die Seele, die sich total freut und
dann die Seele, die eigentlich mehr mit dem geistigen verbunden bleiben will.
Angstfreie Kinder können dann Angst bekommen, da sie sich ihrer selbst bewusst
werden. Das höhere Ich, als ursprünglicher Wesenskern ist immer wieder weit weg,
da wir durch Erlangen des eigenen Bewusstseins, das Bewusstsein vom höheren Ich
verlieren.“ (aus dem Unterricht/ Buch 6)
In wie weit könnten die Tics mit dem Prozess der Ichwerdung zusammen hängen?
Schaut man auf den frühen Beginn von Zwangskrankheiten und Tourette-Syndrom
schon in der Kindheit, liegt der Gedanke nahe, dass hier Wachstumskräfte walten,
am falschen Ort und zur falschen Zeit. Ich, Astralleib und Ätherleib werden zu früh
frei für ihre Metamorphosen.
Der Ätherleib scheint seine Kräfte die er im ersten Jahrsiebt eigentlich zum
Organaufbau braucht zu früh dafür zu nutzten, Vorstellungen wachsen zu lassen.
Diese Gedanken werden dann fest, wohinein eben der zu früh frei werdende
Astralleib mit rein spielen könnte.
Auch Wollen und Fühlen sind beim Kind anfangs noch eng miteinander verbunden
und werden in der Metamorphose frei voneinander. Da Empfindungen auch
Bewegungsgestalten sind und Tics ungewollte, sich gehäuft in emotional
belastenden Situationen zeigende Bewegungen sind, die nicht willentlich gesteuert
werden, lässt sich darauf schließen, dass sie sich in diesem Fall noch vor der
Metamorphose verfestigt haben.
19
Diagnose
Anton kam mit der Diagnose ADHS zur Klinik. Er ist nicht fähig mit anderen Kindern
gut umzugehen. Auffällig wurde er durch sexuelle Belästigung, Fäkalsprache,
Schimpfwörter usw. bis es dann zum Schulausschluss kam.
Die Diagnose, erstellt während seines Aufenthalts in der Filderklinik, ist das TouretteSyndrom. Er hat einfache und komplexe motorische und vokale Tics, wie die
Fäkalsprache und obszöne Gesten, in die er zwanghaft hineinrutscht. Daneben zeigt
sich auch ein ADHS mit Hyperaktivität und Impulskontrollstörungen.
Am Anfang des Aufenthalts ist Anton sehr schwierig und man denkt, sein Fall würde
das Potential der Klinik überschreiten, aber er taut mit der Zeit auf.
In Überforderungssituationen ist er schnell verbal und körperlich massiv aggressiv
und muss dann wie ein Kleinkind gut geführt werden. Da er noch kein inhaltliches
Verständnis hat, von den Dingen, die er sagt und tut, also noch sehr in der
Nachahmung steckt, braucht er gute Begleitung durch die Gefahren des Alltags.
Gelingt es eine vertrauensvolle, liebevolle Atmosphäre für ihn zu schaffen, auf die er
sich einlässt, so kann er schwingungsfähig und dankbar mitmachen. In Momenten, in
denen er nicht weiterkommt, rutscht er tief in sich hinein. Er ist dann selten aggressiv
und wütend, sondern zog sich eben innerlich zurück, in seinen großen Innenraum.
In Gruppensituationen kann er auch zurückhaltend sein und zuhören. Im Spiel ist es
ihm möglich so tief einzusinken, dass er drum herum nichts mitbekommt, wo andere
längst aufmerksam sind. Er hat aber auch die andere Seite, in der er hochsensibel
auf das Umfeld reagiert und völlig außer sich geraten kann. Es folgten dann
Koprolalie, ungezügelte Bewegungen sowie Obszönitäten.
Es besteht trotzdem die Chance, dass seine Diagnose in ein paar Jahren wieder
aufgehoben werden kann, denn Diagnosen bei Kindern müssen im Rahmen ihrer
Entwicklung gesehen werden und Entwicklung beinhaltet auch immer die
Möglichkeit, dass Symptome auch wieder verschwinden können. Antons Entwicklung
hängt erst mal ganz besonders von seinen Beziehungen ab. Dazu ist es in seinem
Falle wichtig, dass die Familie auf Grund der traumatischen Vergangenheit
Unterstützung bekommt und sich auch vorsichtig an Tabuthemen heranwagt. Das ist
die Grundlage für Antons Entwicklung, vor allem, weil er innerlich mit der
Familiengeschichte verbunden ist.
Eine vollstationäre Unterbringung in einer heilpädagogischen Einrichtung, in der
Wohnort und Schule eng vernetzt sind, wäre zunächst einmal sinnvoll für seine
Entwicklung, denn dort hat Anton eine größere Chance in seinen Sinnen
nachzureifen.
20
„Wenn Eltern feststellen müssen,
dass Ihr Kind anders ist als andere Kinder,
dass es die Ziele nicht erreichen wird,
die Ihnen vorschweben,
dann ist das ein Augenblick der Erschütterung,
ja manchmal ein Augenblick der Verzweiflung und
des Vorwurfes gegen sich und andere, gegen das Schicksal.
Wenn dann das Kind die Betreuung gefunden hat,
die es braucht, so ist das zunächst Notwendige geschehen.
Dadurch eröffnen sich auch den Eltern neue und unerwartete Ausblicke.
Lebensfragen und Lebensmöglichkeiten tun sich auf, die ohne dieses Kind und sein
Schicksal für sie nicht möglich geworden wären.
Und dem Kinde selbst können die Erlebnisse und die, wenn auch geringen
Fortschritte, die ihm auf seinem Wege möglich sind, zu einem Leben verhelfen,
das manchmal erfüllter und glücklicher ist,
als das eines gesunden Altersgenossen.“
(Zitat: Heilende Erziehung aus dem Menschenbild der Anthroposophie)
21
Biographie
Anton wurde im Dezember 2005 geboren. Er ist sieben Jahre und ein Monat alt, als
er in die Filderklinik kommt. In der Schwangerschaft hatte die Mutter beruflichen
Stress und erlitt zweimal eine totale Erschöpfung. Mit 2 1/2 Jahren kam er in einen
katholischen Kindergarten. Dort hatte er Schwierigkeiten mit der Sprache und wurde
von den anderen Kindern ausgegrenzt. Mit vier Jahren hatte er eine Erektion und
wurde von einem Mädchen ausgelacht. Im Jahre 2010 nach den ersten
Schwierigkeiten, Anton ist nun 5 Jahre alt, machten Mutter und Sohn eine MutterKind-Kur. Im Anschluss an die Kur wechselte Anton in einen Waldorfkindergarten.
Er hatte ein halbes Jahr Heileurythmie, drei Monate Integrationshilfe, war eineinhalb
Jahre in logopädischer Behandlung und im Anschluss in ergotherapeutischer
Behandlung. Er geht gerne zum Fußballspielen und macht seit September 2012
einen Schwimmkurs. Nach dem Kindergarten wurde er eingeschult.
Die Mutter sah in ihrem Sohn, nach den ersten Schwierigkeiten im Kindergarten, ein
besonderes Kind und schaute sich deshalb nach Schulen mit ganzheitlicher
Pädagogik um. Anton kam dann auf eine noch junge Förderschule mit
Waldorfhintergrund, aus der er letztendlich rausflog. Man sagt, er provoziere gerne,
schaue auf das, was ärgern könnte, um die größte Aufmerksamkeit zu bekommen.
Seine Sprache ist eher bosnisch als deutsch, Worte erreichen ihn schwer. Er ist vom
Fernsehen geprägt. Die Musik CD von den wilden Kerlen, hat ein Lied indem es
heißt: „Lass die Hose runter.“ Daran hat er sich ein Vorbild genommen, und ebenfalls
öfters die Hose runtergelassen, eben auch in der Schule.
Es eskalierte in der Schule völlig. Schon nach der Einschulungsfeier stand er auf
dem Tisch schrie und spuckte. Bei einem Spaziergang bewarf er die Lehrerin völlig
außer sich mit Äpfeln. Nach drei bis vier Wochen folgte die Fäkalsprache, er schmiss
mit Schimpfwörtern um sich und legte sexualisiertes Verhalten an den Tag, mit dem
er andere Kinder sexuell belästigte. Er wurde zwanghaft und schrie, wenn nicht alle
Schulranzen geschlossen waren. Da er nicht fähig war, mit anderen Kindern gut
umzugehen, wurde er von der Schule suspendiert und schließlich kam es zum
Schulausschluss. Aus der Not und Verzweiflung heraus wendete sich die Mutter an
die Kinderstation der Filderklinik.
22
Der familiäre Hintergrund:
Antons Mutter ist 43 Jahre, sein Vater 45 Jahre und seine Schwester 14 Jahre alt.
Die Familie hat ihre Wurzeln in Bosnien und gehörte dort den orthodoxen Christen
an, die in Bosnien eine Minderheit sind. Frauen hatten in der Familie wenig zu sagen
und wurden geschlagen.
Es ist schon die zweite Generation mit Kriegshintergrund und auch der Vater war im
Krieg. Mehrere Verwandte sind im Krieg umgekommen. Der Großvater des Vaters
war fünf Jahre in deutscher Gefangenschaft.
Die Mutter kam mit zwei Jahren nach Deutschland.
Das Eheleben brachte den Vater nach Deutschland. Er ist in Bosnien stark
verwurzelt und seine Familie hat dort einen großen Bauernhof. Anton fühlt sich wohl
auf dem Bauernhof, er kann gut mit den großen Tieren umgehen und sie versorgen.
In Deutschland hat er einen Hamster mit dem er nur grob umgehen kann. Die
Familie lebt hier in beengten Wohnverhältnissen. Bisher schlief Anton bei den Eltern,
da es aber wichtig ist, dass er alleine schlafen lernt, müssen die Eltern nun im
Wohnzimmer schlafen.
Beruflich war die Mutter selbständig mit einem Sonnenstudio, musste aber Insolvenz
anmelden, als Anton 2 Jahre alt war. Der Vater hat einen Hilfsarbeiterjob, hätte in
Bosnien aber als Polizist arbeiten können.
In der Erziehung ist der Vater schnell aufbrausend und ungeduldig, er hat aber Anton
nie geschlagen. Die Mutter jedoch hat aus Verzweiflung ein Stöckchen als
erzieherische Maßnahme zur Hilfe geholt. Sie ist durch ihr eigenes Schicksal sehr
geschwächt.
23
Meine persönliche Wahrnehmung von Anton
Anton hat dunkelblondes Haar, braune große Augen, einen rundlichen Kopf und eine
große Zahnlücke. Sein Körper hat kindliche Rundungen, er ist nicht so ausgezehrt,
wie ich es bei anderen Kindern mit ADHS beobachtet habe. Auch seine Gesichtshaut
ist gut durchblutet. Nimmt man Blickkontakt auf, so schaut er mit großen runden
Augen zurück, manchmal reagiert er auch schüchtern und verhalten. Sein Mund ist
zu einen kleinem zurückhaltendem Lächeln geformt.
Im Alltag hat er weder die Mimik noch die Gliedmaßen gut unter Kontrolle. Versucht
er vorsichtig zu greifen, so ist es oft doch zu grob. Pinselbewegungen können, wenn
es in die Kreisform geht, sehr vorsichtig und leicht verkrampft geführt sein. Sein
Gleichgewichtsgefühl ist mal schlecht, mal gut. Er hat eine sehr verhuschte, schlaffe
Körperhaltung. Sein Kopf hängt leicht nach unten. Seine Berührungen sind eher
schlaff, wenn er schlägt, dann eher zart. Er ahmt die Haltung anderer nach. Er
stampft gerne.
Ruft man ihn aus der Ferne, so reagiert er nicht, man muss ihn direkt ansprechen.
Schimpfwörter sind in ihrer Wortbedeutung verändert, denn er wendet sie in ihrer
Klangkraft und Bösartigkeit nicht unbedingt gezielt an, sondern bringt sie eher aus
der Nachahmung hervor.
Übergänge von Einem zum Anderen bringen ihn aus der Fassung, er hält gerne an
dem fest was gerade war.
Ansonsten ist er sehr ehrgeizig und will die Dinge gut machen, die er anfängt. Erlebt
er eine Niederlage, so möchte er die Sache nicht so gerne noch mal ergreifen. Lob
ist wie Balsam für seine Seele.
Oft steht er der Welt fragend gegenüber: „Bein ab, ist das Tier (aus Ton) dann tot?
Kinder die Kinder umbringen, sind die dann böse?“
24
Die Therapie
Die Rahmenbedingungen:
In diesem dreiwöchigen Aufenthalt in der Filderklinik geht es zunächst einmal um
eine Diagnosestellung und darum ob die vorläufige Diagnose ADHS richtig ist. Dazu
schafft die Klinik nach besten Möglichkeiten für Anton einen geregelten Tagesablauf,
somit kann nach seinem Verhalten und nach seinen Fähigkeiten geschaut werden,
sowohl einzeln als auch in der Gruppe.
Sein Tagesablauf in der Klinik:
Morgens um 7 Uhr 45 wurde er geweckt, dann gab es einen Morgenkreis und um
acht Uhr das Frühstück. Ab neun Uhr begann die Arztvisite. Von 10 bis 10 Uhr 30
hatte er dann Kunsttherapie mit mir. Um 11 Uhr hatte er entweder Heileurythmie oder
Spielgruppe. Um 12 Uhr das Mittagessen. Mittagsruhe war dann von13 Uhr bis 14
Uhr 30. In der Mittagsruhe kam immer dienstags ab 13 Uhr 15 der Klinikclown. Ab 16
Uhr gab es ein gemeinsames Kaffeetrinken und nach dem Kaffeetrinken entweder
das Jugendprogramm, Singen oder Basteln. Um 17 Uhr 30 gab es Abendessen und
um 18 Uhr 30 war der gemeinsame Abendkreis. Um 19 Uhr bekam er einen Wickel
und äußere Anwendungen und ab 19 Uhr 30 begann die Nachtruhe. Außerdem hatte
er noch eine heilpädagogische Einzelstunde und Schulunterricht.
Vor der ersten Therapiestunde
Anton kommt mit dem Verdacht auf ADHS. Die Ärzte empfehlen erst mal mit ihm zu
tonen, um ihn zu zentrieren.
Ich bereite den Raum vor und schneide kleine Tonklumpen zurecht. Hinzu stelle ich
ein Brett als Unterlage und ein kleines Schälchen mit einem angefeuchteten Tuch,
falls der Ton während des Bearbeitens rissig wird.
Meine ersten Ziele sind es nun, Anton eine schöne Atmosphäre zu schaffen, ihn
kennenzulernen, ihn ankommen zu lassen und eine Beziehung zu ihm aufzubauen,
zu schauen, wer ist dieser Mensch, was braucht er und was kann ich ihm in der
kurzen Zeit mitgeben.
25
Der Therapieverlauf
Die erste Therapiestunde
Es ist ein Mittwochmorgen um 10 Uhr. Wir arbeiten mit Ton. Anton hat gleich eine
Idee und formt Schnecken. Eine Mama-Schnecke, eine Papa-Schnecke und eine
Baby-Schnecke. Er macht Geräusche zu den Schnecken, Mama-Schnecke klingt
ganz hoch fast piepsig, Papa-Schnecke ist eher tief grummelig und die Babystimme
ist zart und leise. Mama-Schnecke und Papa-Schnecke passen von der Größe her
gut in seine Kinderhände. Die Baby-Schnecke ist im Verhältnis dazu sehr klein. Die
Schnecken entstehen aus gerollten Würsten, die er dann zu einem Schneckenhaus
einrollt. Die Fühler der Schnecke formt er getrennt vom Körper und setzt sie dann an.
Mama-Schnecke ist mehr eingerollt und Papa-Schnecke weniger. Die BabySchnecke ist auch sehr eingerollt, ähnlich wie die Mama-Schnecke.
Während er tont, fallen die Fühler der Schnecken, die er Augen nennt, immer wieder
ab. Er fragt: „Wenn das Auge abfällt, ist die Schnecke dann tot?“ „Nein, sie ist dann
verletzt, aber wir können versuchen sie wieder heil zu machen.“
Er kann mit dem Mund verschiedene Geräusche und Fiep-Töne machen.
Zwischendrin sagt er immer wieder derbe Schimpfwörter aus dem sexuellen Bereich,
sowohl in seiner Muttersprache als auch auf Deutsch.
MAMA-SCHNECKE
(Von der Baby-Schnecke habe ich leider kein Foto mehr, sie war ungefähr
Daumennagel groß mit ganz kleinen Schneckenfühlern, die immer wieder abbrachen,
aber ungefähr gleich stark eingerollt ins Schneckenhaus, wie die Mama-Schnecke.)
26
PAPA-SCHNECKE
Seine ersten Tonarbeiten beginnt Anton sehr zart und arbeitet ruhig und lange daran.
Ich habe nebenher ein kleines Vögelchen aus einer Kugelform heraus geformt. Die
Stunde ist um und wir müssen aufhören, er will zu dem kleinen Vögelchen, das ich
gemacht habe, unbedingt noch ein Nest tonen und dann noch ein Ei. Er sagt: „Ich
kann das ganz schnell“, und er formt sie auch überraschend geschickt.
VOGELEI & NEST
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Die zweite Stunde – Donnerstagmorgen
Anton ist vor der Stunde im freien Spiel mit den anderen Kindern, er weigert sich zum
Tonen mitzukommen. Das Beginnen einer neuen Situation und auch das Beenden
einer vorhandenen Situation fallen ihm schwer. Wir müssen an den Übergängen
arbeiten. Die Mutter wird gebeten, 5 min bevor die Stunde beginnt, ihn vom freien
Spielen abzuholen und ihm eine Pause zu ermöglichen, in der er z.B. einen Joghurt
bekommt.
An diesem Tag tonen wir in einem Spielraum, der ihm vertraut ist von der
Gruppenstunde. Er zeigt mir den Dinosaurier, den er beim Gruppentonen gemacht
hat. Dabei fällt dem Dino ein Bein ab, er ist traurig und will das Bein wieder dran
machen. Er fragt: „Ist der Dino jetzt tot?“ Wir haben dann versucht, den Dino wieder
heil zu machen.
Anton versucht bei seinem getrockneten Ton-Dino den Mund auf und zu zumachen
und ist traurig darüber, dass es nicht geht.
In dieser Stunde möchte Anton nicht tonen, ich soll für ihn tonen, dass mache ich
dann auch in der Hoffnung, dass er dann noch einsteigt. Ich forme eine Schildkröte.
Er steigt leider nicht ein, entdeckt aber, dass Mund und Augen noch fehlten und er
arbeitet diese dann noch hinzu. Auf meine Freude hin, dass die Schildkröte ja jetzt
sehen und sprechen könnte, hat er schüchtern lächelnd in sich geschaut.
AUGEN & MUND
Die Stunde ist um, die gleiche Prozedur wie am Vortag, obwohl er nicht richtig was
gemacht hat, kann er nicht aufhören. Sage ich, dass wir jetzt einpacken müssen, so
will er plötzlich doch noch dies und das machen.
28
Die dritte Stunde – Freitag
Anton hat leider wieder keine Pause vor dem Tonen, es war der Mutter nicht möglich
ihn vom freien Spiel zur Pause zu bringen. Nach langem guten zureden, kommt er
mit zum Tonen. Er nimmt das schwedische Kinderbuch „Pettersson und Findus“ mit.
Es erzählt von den Erlebnissen eines alten Mannes namens Pettersson und seines
Katers Findus. Er möchte Findus als Vorbild nachtonen.
„Mach Du das, ich kann das nicht“, ist wieder einer seiner ersten Sätze.
„Komm wir schauen uns das Buch erst mal an und dann probieren wir es
zusammen!“
Er lässt sich darauf ein, sucht sich ein Vorbild aus dem Buch und macht einen
Finduskopf (das Motiv „Kopf“ taucht im Laufe der Therapie noch öfter auf).
FINDUSKOPF
Wir räumen auf. Am Ende der Stunde beuge ich mich zu ihm runter und lobe ihn,
denn er hat sich in dieser Stunde aufs Tonen eingelassen und gut mitgemacht. Ganz
schüchtern und verhalten schaut er mich kurz mit großen Augen an.
29
Die vierte Stunde – Montag
Diesmal hatte Anton eine Pause. Für heute hatte ich mir vorgenommen mit Anton
eine Kugel zu tonen. Aus dieser geometrischen Grundform heraus, möchte ich mit
ihm ein Tier entwickeln, z.B. eine Katze. Ich stelle also die Aufgabe, dass wir
gemeinsam beginnen eine Kugel zu formen. Er versucht die Handbewegung
mitzumachen und die Kugel in der Hand zu formen, aber er verliert schnell die
Geduld und rollt die Kugel dann auf dem Brett rund.
Er nimmt meine Kugel, wirft sie zu Boden und tritt drauf, so dass sie völlig verformt
ist.
Ich sage ihm: „Anton, ich bin ganz erschrocken und traurig darüber, dass du einfach
meine Kugel kaputt machst!“ Er sagt: „Ich mache sie wieder rund!“ Das tut er dann
auch.
Anton ist eher lustlos, nach einer Weile tont er ein Gesicht, ein Monstergesicht, aus
einem schon vorhandenen Klumpen Ton und den zwei Kugeln, die er schlicht und
einfach als Augen auf den Klumpen aufdrückt. (Der Kopf erinnert an das Monsterbild,
was noch folgt.)
Auch in dieser Stunde gab es vermehrt derbe Schimpfwörter.
(MONSTER-) KOPF
Es kam auch oft vor, dass er von Tonarbeiten und Bildern, die im Raum waren
behauptete, dass er diese gemacht hätte, obwohl es nicht stimmte.
30
Die fünfte Stunde – Dienstag
Heute will er nicht, er verweigert sich völlig, schlägt mich, wirft mit seinen Schuhen
nach mir, zeigt den Mittelfinger, weint.
Diesmal kommt die Therapiestunde nicht zustande.
Kunsttherapeutische Diagnose
Anton kann zwar schöne Dinge mit Ton gestalten, aber wenn etwas kaputt geht
verliert er zu oft den Mut weiter zu machen. Dann will er auch nicht mehr an die
Gestaltung der Tonkörper heran.
Es ist an der Zeit das Medium einmal zu wechseln.
Auf Grund seines Widerwillens dem Material Ton gegenüber, entscheide ich, wie mit
den Ärzten besprochen, mit ihm für die nächsten Stunden in ein Gegensätzliches zu
gehen und mit Aquarell weiterzuarbeiten, dadurch erhoffe ich mir eine andere Seite
von ihm kennen zu lernen.
Zielsetzung der Therapie
Auf Grund seiner tiefen Enttäuschung, wenn ihm etwas nicht gelingt, habe ich es mir
zum Ziel gesetzt seine Persönlichkeit zu wecken und ihm mehr Vertrauen zu
ermöglichen zu sich und zu der Fähigkeit sich zu entwickeln. Dazu gehört allerdings
die Grenzen des Materials kennen zu lernen und sie anzunehmen und trotz dieser
Grenzen zu erfahren: „Das, was ich mache kann gelingen und zu einem guten
Ergebnis führen!“
Sechste Stunde- Mittwoch
An diesem Tag beginnen wir mit dem Aquarellmalen. Die sechs Grundfarben und ein
Schwämmchen mit Wasser zum Befeuchten des Papiers habe ich schon
bereitgestellt.
Anton kommt nur mit Überredungskunst mit in die Therapiestunde.
Er darf das Aquarellmalen erst mal frei ausprobieren. Es zeigt sich, dass er gerne mit
Aquarell malt, denn es entstehen gleich vier große Bilder in 20 Minuten.
Ich lobe ihn am Ende der Stunde, dass er so schön gearbeitet hat und er freut sich.
31
Seine ersten Aquarellbilder
Er fragt: „Ist das schön?“ Ich sage: „Ja, da steckt ganz viel Wärme und Kraft drin.“
Dann schaute er verdutzt nochmal genau drauf.
WÄRMEBILD
Sein zweites Bild ist ein Schmetterling, inspiriert von einem Bild, das im Raum war.
SCHMETTERLING 1
32
Sein drittes Bild „Streifen“.
STREIFEN
Da ich nur drei Aquarellpapiere mitgenommen hatte, ist sein viertes Bild auf
Zeichenpapier gemalt, das ich im Raum vorfand. Aufgrund seiner Zurückhaltung in
den Vorstunden, hatte ich mit so einer Malfreude gar nicht gerechnet. Die braune
Farbe auf dem Regenbogen ist somit der Papierqualität zuzurechnen, es wellte sich
sofort und alle Farben sammelten sich in den Papiertälern. Nichts desto trotz ist es
sein erster Regenbogen. Regenbögen waren überall auf der gleichnamigen Station
zu finden. Auch im Therapieraum hingen gemalte Regenbogenbilder.
REGENBOGEN 1
33
Siebte Stunde - Donnerstag
Da Anton sich am gestrigen Tag am meisten über den Schmetterling gefreut hat,
bitte ich ihn heute doch noch einmal so einen schönen Schmetterling zu malen
jedoch in einem anderen Farbkleid.
SCHMETTERLING 2
Nach seiner Aussage ist es ein Schmetterling, der auf die Sonne zufliegt.
Sein zweites Bild darf er nochmal frei malen. Er malt einen Dinosaurier-MonsterKopf.
DINOSAURIERKOPF
Der Dino-Monster-Kopf ist farblich mit seinem Wärmebild ähnlich. Es hat auch
Ähnlichkeit mit seinem Gesichtsausdruck, wenn er (vor Wut) stampft.
34
Da ich Anton für sein drittes Bild von dem Monstermotiv wegführen will, gehe ich mit
ihm noch einmal in das Regenbogenmotiv: Ein schöner bunter Regenbogen, der auf
einer grünen Wiese steht und über dem Regenbogen ist die Sonne und ein schöner
blauer Himmel. Zusätzlich malt er von sich aus einen kleinen Menschen unter den
Regenbogen. Die Welt unter seinem Regenbogen beginnt sich mit einem Menschen
zu beleben. Zum Schluss möchte er in dem Menschen noch das Gesicht
hineinmalen, leider war hierbei zu viel Wasser im Spiel und das Gesicht
verschwamm. Er ist traurig darüber und bringt sein Bild ganz vorsichtig zur Ablage,
damit nicht noch mehr verschwimmt. Doch das Bild ist an dieser Stelle so flüssig, das
selbst kleinste Bewegungen die Farbe weiter verteilen.
REGENBOGEN
Mensch unter dem Regenbogen
35
Achte Stunde Freitag
Anton schaut als erstes traurig auf sein Regenbogenbild aus der Vorstunde. Ich bot
ihm Wachsstifte an, um nochmal die Gestalt unter dem Regenbogen heraus zu holen
Man sieht sie im zarten Rot.
Da ich merke, dass der feste Boden nicht so richtig erscheint und auch die Gestalt
sich nicht auf die Erde hinstellt, möchte ich nun mit ihm in die Raumesentwicklung
gehen, um ihn hinzuführen zu einem besseren Ergreifen von oben und unten. (Die
kleine Menschengestalt erinnert an den Rippenmensch, den Baummensch, den
Kinder gehäuft im Alter zwischen drei und fünf Jahren malen. Der Rippenmensch
zeigt, dass die Raumorientierung beim siebenjährigen Anton noch nicht gut
entwickelt ist. Er lebt noch in einem Erahnen des Raumes.)
Das zweite Bild leite ich also an und male auch mit. „Komm, wir malen eine schöne,
große Erde unten ins Bild.“ Antons Erde ist dann eine Kugel geworden, inspiriert von
meinen Worten. Er malt die Erde nicht, wie von mir angesagt als Boden, sondern
eben die Erde, als Weltkugel. Er fragt nach, wie man Braun und Grün für die Erde
mischt. Das, was hier rot erscheint war im Originalbild ein warmer Rotbraunton.
36
ERDBALL
Interessant ist, dass man auch hier beim Betrachten an einen Kopf erinnert wird,
einen Kopf riesig ohne Körper, bei dem die Fühler und Gliedmaßen zur Außenwelt
nicht erscheinen.
Um ihn richtig zur Erde zu führen, bitte ich ihn, näher an die Erde heranzugehen und
eine Landschaft zu malen, die auf dem Planeten Erde ist. Eine Landschaft, z.B. eine
Insellandschaft, die eben auch Wasser, Erde, Luft und Wärme hat. Dann malt er
unten im Bild Wasser, die Insel mit einer Palme und am Himmel die Sonne und das
Himmelsblau.
INSEL 1
37
Neunte Stunde Montag
Ich hole ihn jetzt immer mit dem coolen karierten Malerhemd ab, seinem
Lieblingshemd.
In dieser Stunde beginne ich mit Anton noch einmal mit dem Inselmotiv. Die Insel soll
ein stabiler Boden sein, auf dem die Palme sicher steht.
INSEL 2
Schaut man sich nun das Verhältnis der Palme zum Boden an, so steht sie zwar auf
dem Boden, aber der Boden ist noch nicht stark genug, um die große Palme zu
tragen. Für die Schulreife ist es wichtig, dass eine gute Verbindung zum Boden
gegeben ist.
Sein zweites Bild darf er nochmal frei malen.
Anton malt wieder einen Regenbogen, aber zum ersten Mal ein Regenbogenbild,
unter dem er nicht alleine steht, er ist hier mit der Oma zu sehen.
Ein weiterer Mensch belebt die Welt unter dem Regenbogen.
Er ist rechts und sie links im Bild, auch hier ist bei seiner rechten Figur ein großer
runder Kopf zu sehen auf einem unscheinbar zarten Körper.
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REGENBOGEN 3
Oma & Anton
Oma
&
Anton
Dazu muss man wissen, dass für ein paar Tage die Oma mit Anton in der Klinik war
und ich vermute, dass die Beziehung zur Oma eine heitere ist.
39
Zehnte Stunde – Dienstag
Da Antons Aquarellbilder eine Tendenz haben zu wässrig zu sein, habe ich für diese
Stunde entschieden Anton mit Pastellkreiden malen zu lassen. Ich greife noch einmal
das Regenbogenmotiv auf. Er benutzt das Pastell sowohl als Stift, als auch als
Pulver, um es mit den Fingern ins Papier einzureiben, somit kommt er dann auch in
den Tastsinn.
REGENBOGEN 4
Oma
Anton
Er hat für dieses Bild freie Farbwahl aus einem bunten Pastellkasten. Interessant
finde ich die beiden menschlichen Figuren. Zum einen lassen sich die Körper hier
richtig erkennen, sie stehen auf der Wiese. Zum anderen sind die Gestalten
einfarbig. Er malt wieder die Oma und sich unter den Regenbogen.
Das Bild mit der Oma will er seiner Oma schenken.
Um ihm zu zeigen, dass da noch mehr Menschen unter dem Regenbogen sind, habe
ich entschieden auch einen Regenbogen zu malen und unter den Regenbogen ihn
und mich, da wir ja aktuell auch gemeinsam auf der Regenbogenstation in der
Maltherapie sind. Er wird neugierig und fragt mich, was ich da male.
40
Ich will es ihm nicht gleich verraten, schaue darauf, welche Kleider er an hat, welche
Augenfarbe usw. Er fragt: „Bin ich das?“
Am Ende der Stunde wischt er bei meinem Bild, mein Gesicht mit dem Finger weg,
und schaut mich frech, schmunzelnd an. Ich sage: „Ich möchte aber auch ein Gesicht
haben!“ Er: „Ich male wieder eins rein.“ Er malt die Augen und dann setzt er die
Kreide für den Mund an, schaut noch mal zu mir hoch und malt den Mund nach
unten gebogen. „Oh, wieso schaue ich denn traurig?“ „Ich sei hingefallen“, meint er.
„Ich mag aber nicht mehr traurig sein“, daraufhin wischt er das Gesicht aus und malt
mich wieder fröhlich. Er liebt es, dass ihm das Pastell hier wie lebendig
entgegenkommt und er es mit einfachen Mitteln verändern kann.
ANTON & ICH
41
Zum Abschied möchte ich ihm die Hand geben, er klatscht wie ein cooler Junge in
meine Hand hinein. Ich sage: „Ja, so machen das vielleicht die coolen Jungs, aber
wie gibt man denn den Mädchen die Hand?“ Dann gibt er ganz ruhig und vorsichtig
seine Hand zum Abschied.
Elfte Stunde- Mittwoch
Jetzt ist die Mutter wieder auf der Station. Als ich Anton abholen möchte, will er
gleich aus dem Bett springen und mitkommen. Er darf aber sein Zimmer nicht
verlassen, denn am Abend zuvor hatte er Fieber und braucht jetzt Ruhe. Die
Maltherapie darf trotzdem auf dem Zimmer stattfinden. Da er Fieber hatte,
entscheide ich, ihm die Ölkreiden zum Malen zu geben.
Er darf frei malen, weil er krank ist. Anton malt die Monsterfamilie, da sind Mama,
Papa, Kind und Baby. Das kleine Rote, was unten rechts aus dem Bild
herauszuschreiten scheint ist nach seiner Aussage ein männliches Geschlechtsteil.
Erst sind nur die blauen Monster da, wir überlegen dann weiter, wo können die
Monster leben, in einer Höhle und draußen ist die Nacht und der Sternenhimmel. Es
zeigt sich, dass er die Ölkreiden nicht so gerne mag, versucht sie genauso zu
verwischen wie das Pastell und schaut mich enttäuscht darüber an, dass es nicht
geht.
MONSTERFAMILIE
Das zweite Bild ist wieder ein Regenbogen, unter dem er zunächst alleine steht. Das
Bild will er der Mutter schenken. Ich sage ihm: „Dann kannst du ja die Mama noch
dazu malen.“ Er schaut ein bisschen grimmig, malt sie aber irgendwann doch dazu.
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REGENBOGEN 6
Es freut mich, dass er es aufgreift, zu schauen, welche Farben seine Kleider haben
und diese zu malen. Wir überlegen, welche Farben die Mama an ihrer Kleidung hat
und welche Frisur sie hat. Schließlich malen wir noch die Sonne dazu und diesmal
eine Sonne mit Sonnenstrahlen, die bis zu ihm gehen. Er freut sich, fragt: „ Hat die
Sonne mich lieb?“ Ich sage: „Die Sonne hat jeden lieb, auch die Mama und die
Blumen und die Wiese usw. Er schaut grimmig und malt keinen weiteren
Sonnenstrahl. Interessant ist, dass er die Mutter nicht richtig auf die Erde stellt. Sie
scheint hinter ihm zu schweben.
Anton & seine Mutter
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Zwölfte Stunde – Donnerstag
Anton hatte wieder Fieber in der Nacht. Er darf aber aus dem Zimmer raus zum
Malen. Er will nicht mitkommen, wir müssen ihn erst überreden. Diesmal hat sich die
Mutter gewünscht, auch mitkommen zu dürfen. Anton will sich nicht mit an den Tisch
setzen. Sie sucht sich ein Landschaftsbild zum Nachmalen aus, das sie im Raum
entdeckt. Die Mutter beginnt zu malen. Nach einer Weile setzt sich Anton dazu und
malt das gleiche Bild wie die Mutter. Er ist freudig dabei. Die Mutter erzählt von ihrem
Leben, während Anton still dabei sitzt und sein Bild malt. Nur bei dem Grün fragt er
nach, wie man es mischen kann, seins war sehr hell, nicht so saftig gelbgrün wie er
es sich wünscht. Die Mutter reagiert genervt: „Du hast doch da grün!“
Trotzdem hat er ein zauberhaftes Abschlussbild in Aquarell geschaffen. Es ist zwar
eine sehr wässrige Erde, dafür ist sie aber schön großflächig und schafft ein
Raumgefühl. Himmel und Erde sind verbunden und es stehen vier schöne Blumen
auf der Erde, die sich zum Himmel strecken.
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Abschlussbetrachtung
Anton im Umgang mit den verschiedenen Materialien:
Tonen:
Im Umgang mit dem Ton zeigte sich Anton in verschiedener Weise.
Zum einen schien er etwas grobmotorisch zu sein und nicht mit seinen Händen den
Ton richtig bearbeiten zu können, da immer wieder etwas abfiel oder kaputt ging.
Dabei hatte er einen großen Anspruch an sich, er möchte die Dinge gerne gut
machen. Gelang etwas nicht, weil etwas kaputt ging, so gab er schnell auf und
bestrafte sich mit Traurigkeit und Schuld. Er war dabei sehr sensibel.
Zum anderen, wenn wir dann eigentlich schon aufräumen mussten, konnte er
plötzlich ganz schnell mit den gleichen groben Fingern noch dies und das machen
und das dann ganz gewollt. Es machte ihm schon auch Freude mit dem feuchten
Ton umzugehen. War der Ton dann am nächsten Tag trocken, so war das eine
derart seltsame Veränderung, mit der er nicht umgehen konnte („Gestern hat sich
doch der Mund noch bewegt?“). Leider konnte ich seinen Umgang mit dem Ton nicht
über einen längeren Zeitraum verfolgen, da er durch das ständige Abbrechen von
Ton schnell die Lust verlor. Meine Mühen ihn weiter zu motivieren schlugen fehl.
Wichtig war ihm bei Tieren, dass diese auch Augen und einen Mund haben.
Aquarell:
Beim Malen fing er schneller Feuer. Im Aquarellmalen war er in seinem Element.
Sein Lieblingsmotiv war der Regenbogen, der letztendlich ja auch ein Sinnbild ist für
die Regenbogenstation in der er ja nun vorübergehend lebt. Frei aus ihm heraus
kamen die Monsterbilder, der Erdball und eben die Figuren unter dem Regenbogen.
Hierbei konnte er sich produktiv tätig erleben und daran erfreuen, dass er was kann,
kritisch wurde es nur, wenn an der einen oder anderen Stelle durch zu viel Wasser
das geliebte Bild seine Form verlor und auseinanderfloss. Aquarell diente ihm zum
Aufbau und stärkte sein Selbstbewusstsein im Gefühl etwas zu können.
Pastell:
Pastell kannte er nicht, aber er ließ sich auch auf diese Technik ein. Er konnte
sowohl mit der ganzen Kreide, als auch mit dem geriebenen Pulver und den Fingern
malen. Er erfreute sich an den vielen Farben und der Möglichkeit schon Gemaltes
noch einmal ohne große Schwierigkeiten zu verändern. Pastell gab ihm Halt und
Wandlungsmöglichkeit.
Ölkreiden:
Mit Ölkreiden malte er nicht so gerne, sie waren zu fest, ließen sich nicht verändern.
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Meine persönliche Meinung
Die Arbeit mit Anton, war auch eine meiner ersten kunsttherapeutischen Erfahrungen
mit einem Kind und eben etwas ganz neues und spannendes. Es ist ganz anders als
mit Erwachsenen, mit denen man in eine bewusstere Art der Kommunikation steigen
kann, über den Grund ihres Klinikaufenthaltes, über die Krankheit, über die Bilder
und das künstlerische Tätig sein.
Die Kommunikation mit Kindern gerade im Therapeutischen erfordert eine andere
Wachheit, als mit Erwachsenen. Ich habe versucht dem zarten Pflänzchen den
Willen zum Wachstum zu erhalten, sowie das Prozessvertrauen. Dies ist vor allem
wichtig, da seelenpflegebedürftige Kinder sehr sensibel darauf reagieren, wenn sie
etwas nicht sofort so gut können, wie andere Kinder. Dann bleibt eine tiefe
unbewusste Kränkung. Ich habe deshalb noch mehr als bei einem Erwachsenen
versucht, mich bei Anton an seiner Gestik und Mimik zu orientieren und zwischen
den Zeilen zu lesen, um diese zarte Pflanze zu schützen. Und meist offenbarten die
Momente, in denen er quasi „unauffällig“ war, die Richtung, die wir gehen sollten.
Es war also ein langsamer Weg des herantastenden Kennenlernens und
Zusammenarbeitens, der aber einen Ansatz in der Stärkung seiner Persönlichkeit
erkennen lässt. Anton freut sich über das, was er macht und er sieht, dass er selber
etwas kann und schenkt es stolz an andere weiter.
Auch zeigt sich, dass er Neues aufgreift, und bereit ist dazu zu lernen. Trotzdem
muss er an der einen oder anderen Stelle noch nachreifen, wie es an seinen KopfDarstellungen zu erkennen ist, dazu ist es wichtig, dass er eine liebevolle Hülle und
einen guten Boden unter die Füße bekommt.
Die physische Seite in Bezug auf das Tourette vermute ich in den Bildern, vor allem
in dem Monsterbild, denn wenn er stampft und sich die Gliedmaßenbewegungen
quasi verselbständigen, dann verkrampft auch sein Gesicht wie zu einer Grimasse.
Auf seelischer Seite lässt sich erkennen, was er braucht. Die Beziehungen werden
beleuchtet: das Alleinsein, das Zusammensein, die derzeitige Krise in der Beziehung
zur Mutter. Die Sonne hat hier eine besondere Bedeutung bekommen: „Hat die
Sonne mich lieb?“
Wäre die Zusammenarbeit noch nicht beendet, würde ich gerne noch gezielter auf
die Sinnesentwicklung eingehen, z.B. das Formenzeichnen, und auch
Wahrnehmungsübungen oder Tastspiele, um ihm eine dickere Haut zu verschaffen.
Schön wären auch Geschichten oder Märchen wie „Der Eisenhans“, wodurch er
Inhalte bekommen kann.
Da ich hier auch sehr freilassend gearbeitet habe, würde ich mir für die Zukunft
wünschen, in der Arbeit mit Kindern noch mehr die liebevolle Führungskraft
hervorzubringen, was die Erfahrung wohl mit sich bringen würde.
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Anhang
Literaturverzeichnis:
„Aus dem Unterricht: Kindermalen und Sinne“
Karl König
„Die ersten drei Jahre des Kindes“
„Sinnesentwicklung und Leiberfahrung“
Steiner
„Heilpädagogischer Kurs“
„Die geistig seelischen Grundkräfte der Erziehungskunst“
„Heilende Erziehung aus dem Menschenbild der Anthroposophie“
„Allgemeine Menschenkunde als Grundlage einer Pädagogik“
„Die gesunde Entwicklung des Menschenwesens“
„Nervosität und Ichheit“
Michaela Glöckler „Die Würde des kleinen Kindes“
Erziehungskunst
„Aperçus zum AD(H)S aus anthroposophischer Sicht“
„Was ist Aufmerksamkeit - was ist wenn sie fehlt?
Markus Treichler „Die Entwicklung der Seele im Lebenslauf“
WEB:
http://de.wikipedia.org/wiki/Tourette-Syndrom
http://www.tourette-forum.de/
Film - Empfehlung:
Dokumentarfilm: 'Tourette mich' über Peter Gna
(http://www.tourette.de/kreativa/peter_gna.shtml)
Spielfilm: Taare Zameen Par - Ein Stern auf Erden
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