Bedeutung der Herzinsuffizienzmarker BNP und NT

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Bedeutung der Herzinsuffizienzmarker BNP und NT
M E D I Z I N
Andreas Luchner1
Stephan Holmer1
Heribert Schunkert2
Günter A. Riegger1
Zusammenfassung
Mit BNP und NT-proBNP stehen jetzt kardiale
Marker zur Verfügung, welche in der Diagnostik der Herzinsuffizienz und bei der Nachsorge
viel versprechende Anwendungsmöglichkeiten besitzen. Aufgrund des hohen negativ prädiktiven Wertes dieser Marker kann bei unterschwelligen Konzentrationen eine eingeschränkte linksventrikuläre Pumpfunktion bei
symptomatischen Patienten weitgehend ausgeschlossen werden. Bei Patienten mit bereits
diagnostizierter Herzinsuffizienz könnten die
Marker zur Risikostratifikation und Verlaufskontrolle eingesetzt werden. Ein bevölkerungsweites Screening ohne Berücksichtigung
klinischer Symptome kann nicht empfohlen
werden. Bei Verdacht auf eine akute Herzinsuffizienz sollten weiterhin in erster Linie
körperliche und bildgebende Untersuchungen
zur Diagnosestellung eingesetzt werden. Bei
der Interpretation individueller Testergebnisse muss bedacht werden, dass zusätzlich zur
linksventrikulären Ejektionsfraktion auch Ge-
D
ie Diagnose einer Herzinsuffizienz kann schwierig zu stellen
sein. Wenn eine direkte Bildgebung der linksventrikulären Pumpfunktion durch Echokardiographie nicht
kurzfristig verfügbar ist, existieren mit
BNP und NT-proBNP nun seit kurzer
Zeit zwei biochemische Herzinsuffizienzmarker, die nach Blutentnahme
rasch und automatisiert bestimmbar
sind. In der folgenden Übersicht werden die prinzipiellen Eigenschaften beider Marker und ihr potenzieller klinischer Nutzen zusammengefasst.
Biochemische Eigenschaften
und mögliche Anwendungen
BNP („brain natriuretic peptide“, „Btype natriuretic peptide“) wurde ursprünglich in Gehirngewebe entdeckt,
bald aber in höheren Konzentrationen im Myokardgewebe nachgewie-
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Bedeutung der
Herzinsuffizienzmarker
BNP und NT-proBNP
für die Klinik
schlecht, Lebensalter, Grad der Kompensation,
linksventrikuläre Masse, Nierenfunktion und
Pharmakotherapie eigenständige Einflussgrößen auf die Markerkonzentrationen darstellen. Eine Herzinsuffizienz kann auch bei unterschwelligen Werten vorliegen, muss aber
bei überschwelligen Ergebnissen nicht immer
die Ursache sein. Bei Berücksichtigung dieser
Eigenschaften könnte ein gezielter Einsatz der
Herzinsuffizienzmarker die Behandlung herzinsuffizienter Patienten in Zukunft weiter verbessern.
Schlüsselwörter: Herzinsuffizienz, kardialer
Marker, natriuretisches Peptid, BNP, Diagnosestellung
Summary
Clinical Utility of Biochemical Markers
of Heart Failure
The clinical diagnosis of heart failure may be
difficult to make and BNP and NT-proBNP are
sen (1, 22). Die Synthese von proBNP
wird durch mechanische (Wandspannung) und neurohumorale Stimulation (Noradrenalin, Angiotensin II)
kontrolliert (19). Während der Sekretion aus den Kardiomyozyten wird das
biologisch inaktive, aminoterminale
Signalpeptid NT-proBNP abgespalten
(5) und äquimolar mit dem biologisch
aktiven BNP sezerniert (Grafik 1), sodass beide Moleküle im Blut zirkulieren. Die Aktivierung von proBNP im
linksventrikulären Myokard erfolgt
schnell („kardiales Notfallhormon“
[19]) und korreliert invers mit der
linksventrikulären Pumpfunktion. Bei
Herzinsuffizienz sind die Plasmakonzentrationen des Markers schon im
Stadium NYHA I erhöht und steigen
1 Klinik und Poliklinik für Innere Medizin II (Direktor: Prof.
Dr. med. Günter A. Riegger), Klinikum der Universität Regensburg
2 Medizinische Klinik II (Direktor: Prof. Dr. med. Heribert
Schunkert), Universitätsklinik Lübeck
new cardiac markers with a number of potential applications in this important disease. In
symptomatic patients with dyspnea, these
markers might either point towards heart
failure or help to exclude significant left ventricular dysfunction because of their high negative predictive value. In patients with known
heart failure, they might allow for additional
risk-stratification and improved care during
follow-up. In contrast, population-wide screening without consideration of clinical symptoms
cannot be recommended. Further, it is important to note that age, gender, left ventricular
mass, renal function, and pharmacotherapy
have additional independent effects upon marker concentrations. Although the new cardiac
markers therefore need to be utilized and
interpreted carefully, a growing body of evidence suggests that they will help to further
improve the care of patients with suspected or
known heart failure.
Key words: congestive heart failure, cardiac
markers, natriuretic peptide, BNP, diagnosis
mit zunehmendem Schweregrad teilweise überproportional stark an (Grafik 2) (15, 26).
Für den klinischen Gebrauch stehen in Deutschland derzeit drei automatisierte Testsysteme zur Verfügung.
Bei dem Test Triage-BNP der Firma
Biosite werden auf kleinen automatisierten Lesegeräten die BNP-Konzentrationen aus dem Teststreifen direkt
abgelesen. Dieser Test eignet sich für
den patientennahen Einsatz, beispielsweise in der Praxis, in der Notaufnahme oder in Spezialambulanzen und
wurde in den USA im Oktober 2001
durch die FDA zugelassen. Für den
dezentralen Gebrauch in klinisch-chemischen Labors werden automatische
Testsysteme zur Bestimmung der Plasmakonzentrationen von BNP (ADVIA-Centaur, Bayer Vital) und NTproBNP (elecsys proBNP, Roche Diagnostics) angeboten, welche für den
Einsatz in Krankenhäusern und Ein-
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sendelabors geeignet sind. Beide Tests
wurden mittlerweile ebenfalls in den
USA durch die FDA zugelassen.
In den letzten Jahren wurden BNP
und NT-proBNP intensiv hinsichtlich
potenzieller Einsatzmöglichkeiten als
kardiale Marker evaluiert (Textkasten). Dazu liegen viel versprechende
Daten aus Untersuchungen bei Patienten mit akuter oder chronischer Dyspnoe und vermuteter Herzinsuffizienz, von Querschnittsuntersuchungen
aus der Bevölkerung und von Risikogruppen mit erhöhter Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer Herzinsuffizienzerkrankung (beispielsweise
nach Myokardinfarkt) vor. Basierend
auf diesen Untersuchungen wurden
die natriuretischen Peptide bereits in
einen möglichen Algorithmus zur Diagnose der Herzinsuffizienz bei bislang
unbehandelten Patienten eingeflochten, welcher in der entsprechenden
Leitlinie der Europäischen Fachgesellschaft (European Society of Cardiology, ESC) publiziert wurde (23).
Zusätzlich wurden eine Reihe von Anwendungsmöglichkeiten bei Patienten
mit bekannter Herzinsuffizienz untersucht. Ein Teil dieser Untersuchungen
wurde bereits mit dem Triage-BNPTest durchgeführt, sodass hier schon
klinisch verwertbare Grenzwerte erarbeitet werden konnten (Tabelle 1). Im
Folgenden sollen klinisch sinnvolle
Einsatzgebiete dargestellt werden.
Grafik 1
Aufspaltung des Vorläuferproteins (precursor) proBNP (1–108) in die Markerpeptide NT-pro
BNP (NT-proBNP [1–76]) und BNP (BNP [77–108])
der akuten Herzinsuffizienz 90 Prozent, bei einer Spezifität von 76 Prozent (14). Dementsprechend beträgt
der für BNP von den Herstellern empfohlene Grenzwert zur Diagnose der
akuten Herzinsuffizienz 100 pg/mL.
Der für NT-proBNP vom Hersteller
empfohlene Grenzwert beträgt 125pg/
mL beziehungsweise 100 pg/mL für
Männer und 150 pg/mL für Frauen.
Grafik 2
Akute Herzinsuffizienz
In der multizentrischen „breathing
not properly“-Studie wurde BNP bei
mehr als 1 500 Patienten gemessen,
welche mit dem Leitsymptom Dyspnoe eine Krankenhausnotaufnahme
aufsuchten (14). Retrospektiv konnte
bei 744 der Patienten (47 Prozent) anhand aller klinischen und apparativen
Befunde die Diagnose einer akuten
Herzinsuffizienz als Ursache der Dyspnoe objektiviert werden. Die mittlere Plasmakonzentration von BNP bei
Patienten mit dekompensierter Herzinsuffizienz betrug 675 pg/mL. Bei
der Analyse der prädiktiven Eigenschaften von BNP betrug die Sensitivität einer BNP-Plasmakonzentration
von mehr als 100 pg/mL zur Diagnose
NYHA, New York Heart Association; aus: Maisel A:
B-type natriuretic peptide levels: a potential novel
„white-count“ for congestive heart failure. J Cardiac Failure 2001; 7: 183–193, mit freundlicher
Genehmigung des Elsevier Verlags.
Zusammenhang zwischen dem klinischem
Schweregrad der Herzinsuffizienz (NYHAStadium) und der Höhe der Markerkonzentration im Plasma.
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Der Zusammenhang zwischen Sensitivität und Spezifität von BNP für die
korrekte Diagnose unter den beschriebenen Umständen ist in der
Grafik 3 anhand der ROC-Kurve („receiver operator characteristic“) dargestellt, welche die für eine gegebene
Konzentration zusammengehörigen
Wertepaare für Sensitivität und Spezifität anzeigt. Es ist ersichtlich, dass für
niedrigere Konzentrationen die Sensitivität von BNP steigt (höhere Anzahl
an richtig positiven Ergebnissen),
gleichzeitig aber auch der Anteil unspezifischer Ergebnisse zunimmt. So
betrug die Sensitivität einer BNPKonzentration von mehr als 50 pg/mL
für die korrekte Diagnose sogar 97
Prozent, allerdings bei einer niedrigeren Spezifität von nur 62 Prozent. Bei
höheren Konzentrationen steigt zwar
die Spezifität des Markers (geringere
Anzahl an falschpositiven Ergebnissen), gleichzeitig nimmt aber auch der
Anteil korrekt erkannter Fälle von
Herzinsuffizienz ab. So betrug die
Sensitivität einer BNP-Konzentration
von mehr als 150 pg/mL für die korrekte Diagnose nur mehr 85 Prozent,
allerdings bei einer zunehmenden Spezifität von 83 Prozent. Im Vergleich zu
den anamnestischen, klinischen und
apparativen Befunden war eine erhöhte BNP-Konzentration der stärkste Prädiktor für das Vorliegen einer
akuten Herzinsuffizienz, und die relative Wahrscheinlichkeit dafür war bei
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einer überschwelligen Markerkonzentration mehr als 29-fach erhöht.
Am gleichen Patientenkollektiv erfolgte auch eine Analyse von BNP hinsichtlich der Diagnosestellung einer
akuten kardialen im Vergleich zur
akuten pulmonalen Dyspnoe (18). Dabei waren die Markerkonzentrationen
bei Patienten mit pulmonaler Dyspnoe aufgrund einer exazerbierten
chronisch obstruktiven Lungenerkrankung oder Pneumonie signifikant
geringer als bei Patienten mit dekompensierter Herzinsuffizienz. Lediglich
bei Patienten mit akuter Lungenembolie fand man wegen der akuten
Rechtsherzbelastung erhöhte Markerkonzentrationen auf einem Niveau sowie bei Patienten mit linksventrikulärer Dysfunktion aber ohne akute Dekompensation. In dieser Studie wurden auch die prädiktiven Werte klinischer Leitsymptome ermittelt. Dabei
betrug die Sensitivität peripherer
Ödeme für eine akute Herzinsuffizienz lediglich 56 Prozent, die feuchter
Nebengeräusche bei der Auskultation
49 Prozent, die einer Jugularvenenstauung 37 Prozent und die eines dritten Herztones 13 Prozent, alle Werte
wiesen eine befriedigende Spezifität
auf.
Die zukünftige Bedeutung der Marker für die Notfallmedizin wird somit
in erster Linie von der Qualität der
körperlichen Untersuchung und der
Verfügbarkeit zusätzlicher technischer
Untersuchungen (Echokardiographie,
Röntgen-Thorax) abhängen. Während
bei der Mehrzahl der Patienten weiterhin zunächst diese traditionellen Parameter zur Diagnosestellung eingesetzt
werden sollten, könnte eine Verwendung der Herzinsuffizienzmarker auf´
Tabelle 1
Textkasten
Potenzielle Einsatzmöglichkeiten
der Herzinsuffizienzmarker
Diagnose
> Akute Dyspnoe, Hinweis auf eine
Herzinsuffizienz
> Chronische Dyspnoe, Ausschluss einer
hochgradigen Pumpstörung
Prognose
> Bei bereits diagnostizierter Herzinsuffizienz
> Nach Myokardinfarkt und akutem
Koronarsyndrom
Monitoring
> Titration der Herzinsuffizienztherapie
> Einschätzung des temporären Verlaufs
grund der niedrigen Sensitivität klinischer Symptome dann infrage kommen, wenn typische Leitsymptome
fehlen und technische Untersuchungen nicht verfügbar sind.
Belastungsdyspnoe,
Bevölkerungsscreening und
diastolische Dysfunktion
Die prädiktiven Eigenschaften der
Herzinsuffizienzmarker fallen in bevölkerungsweiten Studien im Vergleich zu akut symptomatischen Patienten ab. Pathophysiologisch lässt sich
dies dadurch erklären, dass bei Personen mit asymptomatischer Erkrankung (bevölkerungsweit fast 50 Prozent der Betroffenen) die Überlastung
des linken Ventrikels noch nicht ausreichend groß ist, um eine starke Sekretion der Marker auszulösen. Zum
anderen führt bei therapierten Personen mit symptomatischer Erkrankung
die spezifische Herzinsuffizienzthera-
´
Grenzwerte von BNP mit klinischem Informationsgehalt
Fragestellung
Akute Herzinsuffizienz
Diastolische Dysfunktion
Grenzwert*1
Literatur
100
pg/mL*1
Maisel et al. (14)
62
pg/mL*1
Lubien et al. (11)
VO2 max (Fahrrad)
< 10 mL/min/kg
< 14 mL/min/kg
532 pg/mL*1
316 pg/mL
Krüger et al. (8)
Plötzlicher Herztod
pg/mL*2
Berger et al. (3)
130
*1 mittels ROC-Analyse; *2 mittels Kaplan-Meier-Analyse
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pie (insbesondere durch Diuretika,
ACE-Inhibitoren und Angiotensin-Rezeptorblocker) zu einer Entlastung des
Ventrikels mit konsekutiv geringerer
Sekretion der Marker.
Für NT-proBNP liegen Daten aus
einer gepoolten Analyse bei mehr als
3 000 Probanden aus Glasgow, Kopenhagen und Regensburg vor. Bei dieser
Analyse hatte NT-proBNP bei Personen mit Belastungsdyspnoe eine Sensitivität von 75 Prozent zur Detektion einer höhergradig eingeschränkten linksventrikulären Pumpfunktion
(Ejektionsfraktion kleiner als die 2,5te
Perzentile des Normalkollektivs) bei
einer Spezifität von 79 Prozent und einem negativ prädiktiven Wert von 99
Prozent. Das bedeutet, dass mithilfe
des Markers bei symptomatischen
Personen eine hochgradige Pumpschwäche bei normaler Markerkonzentration aufgrund des hohen negativ
prädiktiven Wertes mit großer Sicherheit ausgeschlossen werden kann. Wegen der Größe der Studie war es hier
möglich, alters- und geschlechtsbezogene Referenzbereiche für den Marker zu definieren, was zu einer deutlichen Optimierung der prädiktiven
Eigenschaften führte (16).
In bevölkerungsbasierten Untersuchungen und ohne Berücksichtigung
einer klinischen Symptomatik wurde
BNP in der schottischen MONICAGlasgow-Studie (17), der deutschen
MONICA-Augsburg-Studie (12) und
der US-amerikanischen FraminghamStudie (25) evaluiert. Bei ebenfalls
gutem negativ prädiktivem Wert und
noch befriedigender Sensitivität und
Spezifität für eine höhergradig eingeschränkte LV-Funktion wurden aufgrund der niedrigen bevölkerungsweiten Prävalenz der Erkrankung aber
sehr niedrige positiv prädiktive Werte
ermittelt. Das bedeutet, dass eine
größere Zahl von Personen getestet
werden müsste, um einen Fall mit eingeschränkter LV-Funktion zu identifizieren und dass selbst im Falle eines
positiven Testergebnisses oftmals keine eingeschränkte linksventrikuläre
Pumpfunktion vorliegt. Zusätzlich fiel
die Sensitivität des Markers für eine
weniger stark eingeschränkte linksventrikuläre Pumpfunktion in allen
drei Untersuchungen erheblich ab.
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Somit kann der Einsatz der Herzinsuffizienzmarker aufgrund der vorliegenden Daten bei symptomatischen
Patienten bei unzureichender Verfügbarkeit technischer Untersuchungen
(Echokardiographie) deswegen von
diagnostischem Nutzen sein, weil aufgrund des hohen negativ prädiktiven Wertes eine höhergradige Pumpstörung bei unterschwelligen Markerkonzentrationen weitestgehend ausgeschlossen werden kann. Im Gegensatz dazu kann ein bevölkerungsweites Screening ohne Berücksichtigung
klinischer Symptome in Anbetracht
der niedrigen Prävalenz der Erkrankung, der unzureichenden Sensitivität
bei weniger stark eingeschränkter
Pumpfunktion und aus Kostengründen nicht empfohlen werden.
Auch eine diastolische Herzinsuffizienz mit erhaltener systolischer
Pumpfunktion aber verminderter Relaxation und/oder Compliance des linken Ventrikels kann Ursache einer
Belastungsdyspnoe (und akuten kardialen Dekompensationen) sein und
ist häufig mit einer linksventrikulären
Hypertrophie assoziiert. BNP wurde
hinsichtlich seiner prädiktiven Werte
evaluiert und Lubien et al. ermittelten
eine Sensitivität von 85 ProGrafik 4
zent und eine Spezifität von
83 Prozent für einen Cut-offWert von 62 pg/mL zur Diagnose eines pathologischen
Mitraleinstromprofils (diastolische Dysfunktion) bei
der Dopplerechokardiographie (11). Zusätzlich bestand
in dieser Untersuchung ein
Zusammenhang mit dem
0
Schweregrad der diastolischen Funktionsstörung. Einschränkend ist hier zu bemerken, dass im untersuchten Patientenkollektiv ein
Aus:Troughton et al.:Treatment of heart failure guided by plasüberproportional hoher Anma aminoterminal brain natriuretic peptide (N-BNP) concenteil an Probanden mit schwetrations. Lancet 2000; 355: 1126–1130; mit freundlicher Gerer diastolischer Funktionsnehmigung des Elsevier Verlags.
störung (restriktives FülEreignisfreies Überleben bei neurohumoral (NT-proBNP)
lungsmuster bei 34 Prozent) versus klinisch betreuten Patienten mit Herzinsuffizienz.
vertreten war, was häufig
nicht der klinischen Realität
entspricht. Zusätzlich wiesen Patien- tionen bei Patienten mit erhaltener
ten mit vergrößertem linken Vorhof systolischer Pumpfunktion darstellen.
und linksventrikulärer Hypertrophie Hierauf wird im Weiteren noch eingein etwa die gleichen BNP-Konzentra- gangen.
tionen auf wie Patienten mit diastolischer Funktionsstörung. Insofern ist
anzunehmen, dass die mit einer diasto- Prognostische
lischen Füllungsbehinderung assozi- Aussagekraft
ierten BNP-Konzentrationen
eine direkte Folge der patho- BNP und NT-proBNP wurden hinGrafik 3
logischen Hypertrophie dar- sichtlich ihres prognostischen Wertes
stellen.
Dementsprechend bei Patienten mit kardiovaskulären
fanden Yamamoto et al. beim Erkrankungen wie auch in der Allgedirekten Vergleich von links- meinbevölkerung evaluiert. Dass die
ventrikulärer Hypertrophie Aktivierung von Neurohormonen mit
und der invasiv mittels Herz- der Krankheitsprognose korrelieren
katheteruntersuchung
ge- kann, konnte bei Patienten mit symmessenen Relaxationskon- ptomatischer Herzinsuffizienz urstanten (tau) für BNP sogar sprünglich schon für Noradrenalin gebessere prädiktive Werte zur zeigt werden. Für BNP und NT-pro
Diagnose einer linksventri- BNP liegen zwischenzeitlich Studien
kulären Hypertrophie als zur vor, welche einen prognostischen
Diagnose einer diastolischen Wert der Marker nach akutem MyoFunktionsstörung (27). Un- kardinfarkt (21), beim akuten Koroabhängig davon, ob die dia- narsyndrom (4) und bei chronischer
stolische Dysfunktion als ei- Herzinsuffizienz mit eingeschränkter
genständige Entität oder ein linksventrikulärer Pumpfunktion (3)
wichtiges Charakteristikum belegen. Zusätzlich existieren bevölder kardialen Hypertrophie kerungsbezogene Studien, bei denen
Aus: Maisel et al.: Rapid measurement of B-type natriuretic
verstanden wird, ist festzu- die Markerkonzentrationen einen propeptide in the emergency diagnosis of heart failure. N Engl J
Med 2002; 347: 161–167, mit freundlicher Genehmigung der
halten, dass die Markerkon- gnostischen Aussagewert auch ohne
Massachusetts Medical Society.
zentrationen bei beiden Zu- bekannte kardiale Erkrankung besitständen erhöht sein können zen.
Zusammenhang der prädiktiven Werte (Sensitivität und
Bezüglich des prognostischen WerSpezifität) in Abhängigkeit von der gewählten Cut-off- und eine wichtige Ursache
erhöhter Markerkonzentra- tes nach einem Myokardinfarkt evaKonzentration
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luierten Richards et al. die biochemischen Marker als Risikoprädiktoren
im Vergleich zu anthropometrischen
und funktionellen Parametern sowie
im direkten Vergleich zu anderen neurohumoralen Einflussgrößen. Patienten mit Markerkonzentrationen oberhalb des Medians der getesteten Kohorte hatten im Vergleich zu Patienten
mit Markerkonzentrationen unterhalb
des Medians ein signifikant höheres
Risiko binnen 24 Monaten zu versterben oder eine Herzinsuffizienz zu entwickeln (21). Zusätzlich fand man, dass
BNP und NT-proBNP unter den getesteten neurohumoralen Parametern
den größten prognostischen Aussagewert hatten und zudem statistisch unabhängig von der linksventrikulären
Ejektionsfraktion waren (21). Ähnli´
Tabelle 2
Konzentrationen waren starke prognostische Marker, und ihre Aussagekraft überstieg die von NYHAKlassifikation, Blutdruck und linksventrikulärer Ejektionsfraktion. Die
beste Trennschärfe von BNP wurde
für Plasmakonzentrationen von 130
pg/mL ermittelt. Dabei starben im Beobachtungszeitraum 19 Prozent der
Patienten mit überschwelligen Markerkonzentrationen, aber nur ein Prozent der Patienten mit unterschwelligen Markerkonzentrationen (3). Konsistent hierzu sind auch Studien, wo
ein Zusammenhang zwischen Markerkonzentrationen und einem prognostischen Herzinsuffizienz-Score („heart
failure survival score“, HFSS [6]) beziehungsweise ein hoher Vorhersagewert erhöhter Markerkonzentratio-
´
Wichtige Einflussgrößen von BNP und NT-proBNP
Kardial
Extrakardial
Einflussgröße
Effekt
Auswurffraktion !
Marker "
Linksventrikuläre Masse "
Marker "
Vorhofgröße "
Marker "
Alter "
Marker "
weibliches Geschlecht
Marker "
Glomeruläre Filtration !
Marker "
ACE-I/AT-RB*
Marker !
Diuretika
Marker !
Therapieoptimierung
* Therapie mit ACE-Inhibitor oder Angiotensin-Rezeptorblocker;ACE, angiotensin converting enzyme
che Beobachtungen liegen für BNP
beim akuten Koronarsyndrom vor,
und es konnte gezeigt werden, dass erhöhte Markerkonzentrationen neben
den bekannten Risikofaktoren (inklusive Troponin) einen unabhängigen
Risikofaktor für Tod, Myokardinfarkt
oder symptomatische Herzinsuffizienz
darstellen (4).
Bezüglich des prognostischen Wertes bei chronischer Herzinsuffizienz
evaluierten Berger et al. mehr als 450
Patienten mit einer linksventrikulären
Ejektionsfraktion < 35 Prozent. Während einer mittleren Beobachtungsdauer von knapp zwei Jahren betrug
die Rate plötzlicher Todesfälle in dieser Kohorte zehn Prozent. Sowohl
erhöhte BNP- als auch NT-proBNP-
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ten die niedrigste Ereignisrate hatten,
welche initial niedrige und im Verlauf
stabile BNP-Konzentrationen aufwiesen. Wenn sich hingegen die BNPKonzentrationen im Verlauf veränderten, wurde die niedrigste Ereignisrate
bei den Patienten beobachtet, welche
im Vergleich zur Basismessung den
größten prozentualen Abfall aufwiesen. Im Gegensatz dazu wiesen Patienten mit einer Zunahme der BNP-Konzentrationen im Verlauf die höchste
Ereignisrate auf (2). Insofern konnte
anhand dieser Studie gezeigt werden,
dass nicht nur die initiale Messung
sondern auch der temporäre Verlauf
der Markerkonzentration eine prognostische Bedeutung besitzt.
Somit könnten die Herzinsuffizienzmarker in Zukunft einen Stellenwert bei der Risikostratifikation
kardiovaskulärer Patienten bekommen, insbesondere weil ihr Informationsgehalt komplementär zu den bekannten klinischen und funktionellen
Parametern, insbesondere der linksventrikulären Pumpfunktion, zu sein
scheint.
nen für eine eingeschränkte maximale
Sauerstoffaufnahmekapazität bei der
Spiroergometrie (8) gefunden wurden.
Eine Analyse der prognostischen
Bedeutung serieller BNP-Messungen
ist kürzlich im Rahmen der ValHEFTStudie erfolgt. Bei dieser Studie wurden die Effekte des Angiotensin-Rezeptorantagonisten Valsartan auf die
Mortalität bei Patienten mit systolischer Herzinsuffizienz untersucht, ohne dass ein zusätzlicher Nutzen gegenüber der Monotherapie mit einem
ACE-Inhibitor dokumentiert werden
konnte. Bei den neurohumoralen Untersuchungen in dieser Studie zeigte
sich, dass – unabhängig von der individuellen Therapie – diejenigen Patien-
Die biochemischen Marker wurden
auch zur Therapieoptimierung bei Patienten mit bereits diagnostizierter
Herzinsuffizienz evaluiert. Dabei fanden Troughton et al. einen Nutzen von
NT-proBNP zur Reduktion der Inzidenz von kardialer Dekompensation,
Rehospitalisierung und Tod (24). In
dieser, mit 69 Patienten allerdings
kleinen, Studie wurden herzinsuffiziente Patienten in zwei Gruppen unterteilt. Während eine Gruppe eine nach
klinischen Gesichtspunkten mit dem
Ziel einer bestmöglichen Kompensation dosierte Herzinsuffizienztherapie
erhielt, wurde die Therapie in der
durch NT-proBNP geführten Gruppe
nach einem vorgegeben Schema (Steigerung von ACE-Hemmern, Diuretika, Vasodilatatoren) intensiviert, wenn
die Markerkonzentrationen oberhalb
einer Grenzkonzentration von 200
pmol/L lagen.
Dieses Vorgehen hatte das Ziel einer optimalen Anpassung der Herzinsuffizienztherapie an die Bedürfnisse
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des Patienten und trägt dem Umstand
Rechnung, dass die individuelle Dosierung vor- und nachlastsenkender
Medikamente häufig sehr schwer zu
steuern ist. Dieses therapeutische Dilemma wird aktuell auch durch das europäische Herzinsuffizienzregister bestätigt, welches eine im Allgemeinen
zu niedrige Dosierung der Herzinsuffizienzmedikation dokumentiert (7).
Zur Therapieoptimierung könnten die
biochemischen Marker insbesondere
deswegen hilfreich sein, weil sie auf ei-
dass der biochemische Marker zusätzlich zu klinischen, hämodynamischen
und funktionellen Parametern hilfreich für die Nachsorge und Optimierung der Herzinsuffizienztherapie sein
könnte und evaluieren diesen Ansatz
derzeit in einer groß angelegten prospektiven Studie.
Konsistent hierzu sind auch Beobachtungen an ambulanten Patienten
mit Herzinsuffizienz, wo eine Verbesserung der NYHA-Klasse von einer Reduktion der BNP-Konzentrationen um
Grafik 5
Aus: Luchner et al.: N-terminal pro-brain natriuretic peptide after myocardial infarction: a marker of cardiorenal function. Hypertension 2002; 39: 99–104; mit freundlicher Genehmigung von Lippincott Williams & Wilkins.
Einfluss von Alter und Geschlecht auf die Markerkonzentrationen in einem Normalkollektiv
(blau Männer, rot Frauen) n. s., nicht signifikant
ne residuale, aber klinisch inapparente
Dekompensation mit der Notwendigkeit einer Therapieintensivierung hinweisen könnten. In der Tat fanden
Troughton et al. über einen mittleren
Nachbeobachtungszeitraum von sechs
Monaten in der biochemisch geführten Gruppe eine signifikant niedrigere
Ereignishäufigkeit von Tod, Rehospitalisierung oder kardialer Dekompensation im Vergleich zur klinisch geführten Gruppe (Grafik 4). Die Autoren dieser Untersuchung folgerten,
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45 Prozent begleitet war, wohingegen
Patienten mit unveränderter NYHAKlasse gleichbleibende Markerkonzentrationen aufwiesen (10).
Obwohl insgesamt zu diesem Thema noch keine ausreichenden Daten
vorliegen, könnten die Herzinsuffizienzmarker somit in Zukunft auch bei
Patienten mit bereits diagnostizierter
Erkrankung einen eigenen Stellenwert zur Verlaufsbeurteilung bekommen („Tumormarker“ des herzinsuffizienten Patienten).
Mögliche Fehlerquellen
Obwohl die kardialen Marker BNP
und NT-proBNP aufgrund der guten
Korrelation ihrer Plasmakonzentrationen mit dem Ausmaß der kardialen
Funktionseinschränkung die derzeit
besten Plasmamarker der Herzinsuffizienz darstellen, ist die Interpretation
individueller Testergebnisse nicht trivial. Neben der linksventrikulären
Ejektionsfraktion sind nämlich auch
Geschlecht, Lebensalter, Grad der
(De-)Kompensation, linksventrikuläre Masse, Nierenfunktion und Pharmakotherapie zusätzliche Einflussgrößen (Tabelle 2). Ferner wurden erhöhte Markerkonzentrationen unter
anderem auch bei Hyperthyreose, Malignomen und nach zerebralen Ereignissen beobachtet.
Der Einfluss von Geschlecht und
Lebensalter ist beispielhaft in Grafik
5 für ein Normalkollektiv abgebildet. Dabei kann man sehen, dass einerseits Frauen im Vergleich zu Männern signifikant höhere Markerkonzentrationen aufweisen, und dass die
Markerkonzentrationen mit ansteigendem Lebensalter ebenfalls und zum
Teil überproportional ansteigen (12,
13, 20).
Hinsichtlich des Einflusses der
linksventrikulären Masse konnte in
bevölkerungsbasierten Untersuchungen der Autoren beobachtet werden,
dass sich bei Probanden mit linksventrikulärer Hypertrophie die Markerkonzentrationen in etwa verdoppeln.
In dieser Untersuchung war der relative Anstieg damit fast identisch zu dem
Anstieg von Probanden mit eingeschränkter linksventrikulärer Pumpfunktion (12).
Der Einfluss einer eingeschränkten
Nierenfunktion auf die Markerkonzentrationen wurde ebenfalls in einer
großen Studie an Herzinfarktpatienten untersucht. Dabei waren die Konzentrationen von NT-proBNP bei Probanden mit abgelaufenem Herzinfarkt
signifikant höher als bei Kontrollprobanden. Zusätzlich bestand ein Zusammenhang mit dem Schweregrad
der linksventrikulären Pumpstörung,
sodass die Markerkonzentrationen bei
Infarktpatienten mit eingeschränkter
linksventrikulärer Pumpfunktion wei-
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ter erhöht waren. Erheblich stärker
ausgeprägt war die Aktivierung des
Markers jedoch in allen Subgruppen,
wenn zusätzlich eine eingeschränkte
Nierenfunktion vorlag (13).
Der Einfluss der Pharmakotherapie
ergibt sich aus den Bemerkungen zu
den prädiktiven Eigenschaften der
Marker bei dekompensierter und
kompensierter Herzinsuffizienz und
nach Therapieoptimierung. Konsistent
dazu sind eigene Beobachtungen, bei
denen eine falschnegative Klassifikation von Probanden mit eingeschränkter linksventrikulärer Pumpfunktion
aber unterschwelligen Markerkonzentrationen häufig bei Probanden mit
optimaler Herzinsuffizienztherapie erfolgt war, wohingegen korrekt positiv klassifizierte Probanden diese Therapie häufiger nicht erhalten hatten
(12, 13).
Darüber hinaus gibt es Beobachtungen, welche auf eine direkte Beeinflussung der Markerkonzentrationen
durch Pharmaka, unabhängig von Hämodynamik und Flüssigkeitshaushalt,
hindeuten. So konnte beobachtet werden, dass die Markerkonzentrationen
während der Therapie mit ACE-Inhibitoren und AT-Rezeptorantagonisten
abfallen, aber bei alleiniger Therapie
mit Betarezeptorblockern sogar ansteigen können (9).
Wegen der vielfältigen Einflussgrößen lassen sich die prädiktiven Eigenschaften der Marker durch altersund geschlechtsstratifizierte Grenzkonzentrationen verbessern (20).Trotzdem ist zu beachten, dass auch bei
unterschwelligen Markerkonzentrationen eine Herzinsuffizienz vorliegen kann, beispielsweise bei weniger
stark eingeschränkter LV-Funktion,
fehlender Hypertrophie, ACE-Inhibition oder nach Gabe von AT-Rezeptorblockern. Aber selbst bei überschwelligen Werten muss keine Herzinsuffizienz vorliegen, wenn zum Beispiel eine linksventrikuläre Hypertrophie und/oder eine Niereninsuffizienz
vorliegt, es sich um ältere, insbesondere weibliche Patienten handelt oder
eine Therapie mit Betablockern erfolgt.
Insofern darf von den neuen Markern nicht erwartet werden, dass in jedem Fall eine Diagnose gestellt wer-
den kann, sondern die Interpretation
der Testergebnisse muss unter Berücksichtigung klinischer Informationen
und gegebenenfalls apparativer Befunde vorgenommen werden.
Zusammenfassung
Die Peptide BNP und NT-proBNP
stellen eine wichtige Neuerung in der
Diagnostik der Herzinsuffizienz dar
und könnten die zukünftige Behandlung herzinsuffizienter Patienten verbessern. Die Marker könnten hilfreich
zum weitgehenden Ausschluss einer
schweren Pumpstörung bei symptomatischen Patienten mit Belastungsdyspnoe sein und bieten zusätzliche
Anwendungsmöglichkeiten für die
Nachsorge bei Herzinsuffizienz und
den akuten Notfall. Da neben der
linksventrikulären Pumpfunktion zusätzliche Kovariable die Plasmakonzentration der Herzinsuffizienzmarker mit beeinflussen, ist eine vorsichtige Interpretation individueller Testergebnisse erforderlich.
Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft
(DFG Lu 562/1-1, 3-1 und Ho 1073/8-1 und Schu 672/9-1,
10-1, 12-1, 14-1)
Manuskript eingereicht: 28. 2. 2003, revidierte Fassung
angenommen: 24. 7. 2003
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dtsch Arztebl 2003; 100: A 3314–3321 [Heft 50]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das beim Verfasser erhältlich oder im Internet
unter www.aerzteblatt.de/lit5003 abrufbar ist.
Anschrift für die Verfasser:
Priv. Doz. Dr. med. Andreas Luchner
Klinik und Poliklinik für Innere Medizin II
Klinikum der Universität
Franz-Josef-Strauss Allee 11
93042 Regensburg
E-Mail: [email protected]
 Jg. 100
 Heft 50
 12. Dezember 2003
Deutsches Ärzteblatt
MEDIZINGESCHICHTE(N)
AUSGEWÄHLT UND KOMMENTIERT VON H. SCHOTT
Psychiatrie
Psychische Kur
Zitat: „Das stärkste und angenehmste körperliche Gefühl bewirkt der
Genuß des Beischlafs. Chiarugi [1]
trägt kein Bedenken, ihn den Verrückten zu verstatten, und glaubt,
dass er vorzüglich zur Heilung der
Melancholie beitragen könne. Männern kann man durch eine öffentliche Dirne, Weibern schwerer genügen, weil sie schwanger werden, und
ihr Uebel auf die Frucht forterben
können.An sich möchte vielleicht eine Schwangerschaft heilsam seyn, als
Ableitungsmittel, und besonders für
solche Verrückte, die vor Gram über
kinderlose Ehen hysterisch geworden sind, oder an der fixen Idee leiden, daß sie schwanger sind, und gebähren müssen. Die beiden Pole des
Körpers, Kopf und Geschlechstheile,
stehn in einer merkwürdigen Wechselwirkung. Erschütterungen des einen Endpunkts durch Beischlaf und
Schwangerschaft befreien den entgegengesetzten von Änhäufung. Die
häufigen Aeußerungen der Geilheit
verrückter Personen, sind sie allemal
das, wofür sie gehalten werden, Ursache der Krankheit? Können sie nicht
auch Wirkungen des nemlichen Zustandes, z. B. einer Ueberladung mit
elektrischer Materie seyn, die im
Kopf als Tobsucht, in den Geschlechtstheilen als Geilheit repräsentirt wird? In Verrücktheiten, deren Ursache Geilheit ist, kann der
Beischlaf als körperliches Heilmittel
wirken.“
Johann Christian Reil: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803; S. 185 f. [1] Vincenzo Chiarugi (1759–1820), berühmter Psychiater in Florenz,
der als Medizinalreformer ein Irrenhaus gründete. –
Der Hallenser Medizinprofessor Reil (1758–1813)
propagierte nachhaltig die „psychische Kur“ in der
Irrenheilkunde. Er argumentierte jedoch weniger
psychologisch, als vielmehr neurophysiologisch
(Verteilung der „Lebenskraft“). Dies entsprach dem
„moral treatment“ in England beziehungsweise
dem „traitement moral“ in Frankreich.
A 3321