Leise rieselt der Schnee Leseprobe Sarah summte die Melodie

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Leise rieselt der Schnee Leseprobe Sarah summte die Melodie
Leise rieselt der Schnee
Leseprobe
Sarah summte die Melodie dieses Weihnachtsliedes vor sich hin und ließ dabei ihre Blicke
über den zugefrorenen Bach wandern. Eigentlich sah man von ihm nur noch eine von Büschen und Trauerweiden gesäumte Rinne, die sich in weiten Bögen durch die verschneite
Winterlandschaft schlängelte, um sich irgendwo in der Ferne zu verlieren. Nur hier und da
plätscherte Wasser unter den schneebedeckten Eisschollen hervor, so auch unter der Brücke.
Ja, er rieselte leise, der Schnee. Ganz still schwebte er in dicken Flocken aus dem grauen
Himmel herab, um auch die Bachbrücke und ihr Geländer wie mit Zuckerwatte zuzudecken.
Alles sah so geheimnisvoll aus. Die Büsche, die Bäume, selbst die Schilfhalme bogen sich
unter mächtigen Schneemützen.
Sie liebte diese Brücke und den Bach, der im Sommer wie ein glitzernder Pfad in eine
Märchenwelt zu führen schien. Dann wurden seine Ufer zu einem Reigen bunter Träume voller Leben, die sich in weiter Ferne mit dem Blau des Himmels vermischten. Im Winter war ihr
Lieblingsplatz ein Ort geheimnisvoller Stille, an dem das Plätschern des Baches Geschichten
aus einer anderen Welt erzählte. Wenn sie wie jetzt seinem Plätschern lauschte, erzählte er ihr
die Geschichte von Mama und Papa, die, wie auch der alte Hausmeister des Kinderheimes ihr
bestätigt hatte, irgendwann einmal an einem Sommertag an diesem Bach entlanggegangen
sein sollten und dabei wohl unbemerkt die Linie zum Horizont überschritten hatten. Von dort
aus, so meinte er, gäbe es keinen Weg zurück in diese Welt.
Sarah stellte sich die Welt, in der sie nun lebten, ganz anders als diese vor. Vielleicht
schwebten sie nun wie Vögel zwischen all den bunten Träumen des Sommers, dem Himmelsblau und wunderschönen weißen Wolken. Ob es wirklich so war, konnte ihr auch der Bach
nicht sagen, aber auf jeden Fall sollten sie in einer schöneren Welt leben.
Sie stützte seufzend ihr Kinn auf die Ärmel der warmen Winterjacke und blickte voller
Sehnsucht auf die im Schnee verschwimmende Linie, an der Himmel und Erde zusammentrafen, und dicke Tränen rollten an ihren Wangen hinunter. Warum nur hatten Mama und Papa
sie allein hier zurück gelassen? Dort, wo sie jetzt waren, mochte es ja wunderschön sein, aber
konnte es wirklich etwas so Schönes geben, dass man sein Kind darüber vergaß? Wie oft hatte
sie hier gesessen, ihre Füße ins Wasser gehalten und bitterlich geweint, wenn der Bach ihr
von den beiden erzählte, während sie zum Horizont starrte und nach dem Weg forschte, den
sie gegangen sein mussten.
Nun hielt sie die Ungewissheit nicht mehr aus. Gestern Nacht hatte sie sich nach langem
Zögern dazu entschlossen, nach ihnen zu suchen. Der Heilige Abend sollte der richtige Tag
dafür sein. Zumindest hatte der Hausmeister behauptet, vor langer Zeit einmal sei an diesem
Tag ein großes Wunder geschehen und würde sie nur fest genug daran glauben, könne heute
auch für sie eines geschehen. Oh ja, sie glaubte fest daran, denn sie hatte davon geträumt, dass
der Bach ihr am Heiligen Abend den Weg in die andere Welt weisen würde. Darauf wartete
sie nun fiebernd. Ihn zu drängen, nützte nichts. Er gab nur dann Antworten, wenn er wollte.
Sarah kroch in sich zusammen, denn allmählich wurde ihr trotz der langen Unterwäsche,
zwei Pullovern und der gefütterten Stiefel kalt. Handschuhe besaß sie leider nicht, dafür aber
eine wärmende Wollmütze. Sie musste sich bewegen, musste rennen, um sich wieder aufzuwärmen, und sie würde lange rennen müssen, denn der Weg zu Papa und Mama war bestimmt
sehr weit.
Endlich, nach langem Betteln und nachdem sie ihm ihre Plätzchen überließ, die sie gemeinsam mit den anderen Kindern gebacken hatte, verriet der Bach ihr, welchen Weg sie gehen musste. Immer an seinem rechten Ufer entlang, bis dahin, wo Himmel und Erde zusamLeise rieselt der Schnee
eine Weihnachtsgeschichte von Ingo Paulussen
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menstießen. Na ja, eigentlich hatte er nur bestätigt, was sie von den Erzieherinnen zufällig
gehört hatte, aber denen traute sie nicht so recht. Ganz am Ende des Baches sollte diese Welt
zuende sein und eine andere beginnen. Sobald sie dort angekommen war, würde sie unter
zwei hohen Zäunen hindurchkriechen und dabei sehr vorsichtig sein müssen, denn zwischen
ihnen sollten große, böse Hunde herumlaufen. Vor denen fürchtete sie sich jetzt schon, aber
Mama und Papa würden sie ganz gewiss trösten, wenn sie auf der anderen Seite angekommen
war.
Nach einem letzten Blick zurück gab sie sich einen Ruck und lief los. Immer am Bachufer
entlang, an Bäumen und Büschen vorbei, die manchmal wie schneebedeckte Tiere aussahen.
Einer könnte ein Elefant sein, ein anderer eine Ziege, sogar einen Igel entdeckte sie. Möglicherweise war es aber auch ein Stachelschweinbaby.
Wie weit sie gelaufen und wie oft sie dabei hingefallen war, wusste sie nicht und sie fror
entsetzlich, aber im Moment machte es ihr nichts aus, denn sie hatte den Zaun endlich erreicht. Fast wäre sie dagegen gerannt. Der Schnee fiel mittlerweile so dicht, dass sie ihn erst
im allerletzten Moment bemerkte und sich beim Stoppen unsanft auf den Po setzte. Den zweiten Zaun konnte sie zwischen den Flocken kaum erkennen. Beide zu überklettern, wagte Sarah nicht, denn sie waren wirklich sehr hoch und ganz obenauf ließen sich unter den Schneepolstern Stacheldrahtspitzen erkennen. Da würde sie wohl kaum drübersteigen können, ohne
sich furchtbar wehzutun. Unten musste man die Zäune tief im Boden befestigt haben, denn
zumindest der auf ihrer Seite ließ sich selbst mit größter Anstrengung nicht hochziehen. Suchend tastete sie sich an den Maschen entlang. Ihre Finger fühlten sich vor Kälte schon richtig
steif an. Für einen Augenblick hielt sie inne und steckte ihre Hände tief in die Jackentaschen.
Viel nützte dies leider nicht. Seufzend suchte sie weiter. Irgendwo musste es doch eine Möglichkeit geben, unter ihm durchzukriechen. Ihrer Erfahrung nach gab es keinen Zaun ohne ein
Loch.
Sie sollte mit ihrer Vermutung Recht behalten, aber es dauerte noch lange, bis sie tatsächlich eine Stelle fand, an der mehrere Bodenbefestigungen nachgaben. Es schien, als hätte sie
jemand absichtlich mit einem Werkzeug gelöst. Leicht würde es dennoch nicht sein, unter ihm
durchzukriechen, denn der Draht war sehr stramm gespannt.
Sarah hauchte auf ihre brennenden Finger, bevor sie damit begann, sich wie eine Schlange
unter den Zaun zu schieben. Die Fingerspitzen schmerzten fast so schlimm wie damals, als ihr
in der baufälligen Scheune neben dem Kinderheim ein Balken auf die Hände gefallen war.
Fast schon bereute sie ihren Entschluss, im Winter nach ihren Eltern suchen zu wollen, und
wünschte sich nichts sehnlicher, als jetzt in einer warmen Badewanne zu sitzen. Mehrmals
blieb sie hängen und zerriss letztlich auch noch ihre Jacke, bis sie es endlich geschafft hatte
und schwer atmend auf dem Bauch liegen blieb, um zu horchen.
Von irgendwoher meinte sie, tatsächlich Hundegebell zu hören und raffte sich keuchend
auf. Hoffentlich fand sie auf der anderen Seite auch einen Durchschlupf. Mehr wankend als
gehend erreichte sie den zweiten Zaun und begann mit der Suche nach losen Befestigungen.
Diesmal jedoch hatte sie weniger Glück und die Angst kroch ihr den Rücken herauf, denn nun
war sie sicher, das Kläffen von großen Hunden zu hören. Vielleicht waren es ja auch böse
Wölfe, wie der im Märchen von Rotkäppchen. Sie konnten nicht mehr weit entfernt sein, denn
ihr Gebell wurde schnell lauter.
Auch andere Geräusche kamen näher. Es klang, als spräche jemand durch ein langes Rohr
und würde mit seinem Mund zwischendurch immer mal wieder -pft- machen, bevor eine ähnliche Stimme antwortete. Auch die machte -pft-, als sie zu Ende gesprochen hatte. Hastig
suchte sie weiter und wurde endlich fündig.
ENDE DER VORSCHAU
Leise rieselt der Schnee
eine Weihnachtsgeschichte von Ingo Paulussen
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