(Un-)Gleichheit und Wohlfahrtsstaat im globalen Süden

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(Un-)Gleichheit und Wohlfahrtsstaat im globalen Süden
Karin Fischer / Bernhard Leubolt
JKU Linz / WU-Wien
(Un-)Gleichheit und Wohlfahrtsstaat im globalen
Süden – Fallstudien aus Brasilien und Chile
Paper präsentiert bei momentum11
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Einleitung
In unserem Beitrag wollen wir die weitgehend auf den Norden konzentrierte Diskussion um
Sozialstaat und (Un-)Gleichheit erweitern und Erfahrungen aus dem globalen Süden
einbringen. Wir haben dafür zwei Länder gewählt, die in mehrfacher Hinsicht paradigmatisch
sind für Problemlagen und aktuelle sozialreformerische Initiativen: Brasilien und Chile. Beide
Länder wurden als Peripherie unter abhängig kapitalistischen Bedingungen in die
internationale Arbeitsteilung einbezogen. Beide weisen ein hohes Maß an Ungleichheit auf,
haben aber auch spezifische wohlfahrtsstaatliche Entwicklungspfade zurückgelegt. Ab den
1980er Jahren (im Falle von Chile schon zeitlich früher) wurden die Bevölkerungen zum Ziel
neoliberaler Strukturanpassung. Nach dem formellen Übergang zur Demokratie Ende der
1980er und Anfang der 1990er Jahre traten Parteien oder Parteienbündnisse an, die mit
unterschiedlichen Schwerpunkten sozialpolitische Programme und gleichheitsorientierte
Politik betreiben.
Wir untersuchen in unserem Beitrag die Sozialpolitik der sozialdemokratischen bzw.
sozialistischen Regierungen Lagos/Bachelet (2000–2010) in Chile und die Regierungen
Cardoso und Lula (1994–2010) in Brasilien und gehen der Frage nach, ob deren Reformen
eine gleichheitsfördernde Wirkung entfaltet haben. Am Ende suchen wir die verfolgten
Strategien vor dem theoretischen Hintergrund macht-sensibler institutionalistischer Zugänge
zu Wohlfahrtsstaaten und Distributionsregimen zu verorten und die Frage zu beantworten, ob
bzw. inwieweit die Regierungen mit dem neoliberalen Paradigmen gebrochen haben und eine
neuen Form sozialdemokratischer Reformpolitik in Lateinamerika festgestellt werden kann.
Theoretischer Zugang
Im Feld der Sozialpolitik gilt Gøsta Esping-Andersen als wichtige, wenn nicht gar die
wichtigste theoretische Referenz. Er entwickelte eine Typologie von Wohlfahrtsstaaten, die
„sozialdemokratisch“, „liberal“ oder „konservativ“ geprägt sein können. Die Grundlage für
diese Typologie von
welfare state regimes bilden die historisch gewachsenen,
unterschiedlichen Rentensysteme Europas (Esping-Andersen 1990, Esping-Andersen 1998).
Ob diese, an Hand der europäischen Länder entwickelten Kategorien auch auf die Peripherie
angewendet werden können, wird vielfach angezweifelt (vgl. Gough 2004; Wehr 2009).
Gough und Wood (2004) schlagen etwa vor, von „informal security regimes“ zu sprechen, die
maßgeblich durch Klientelismus geprägt sind, oder gar von „insecurity regimes“ wie sie in
sogenannten „failed states“ anzutreffen sind und in denen das staatliche Gewaltmonopol kaum
gewährleistet ist. Seekings (2008) wiederum setzt an den unterschiedlichen Strategien zur
Erreichung sozialer Kohäsion an. Er unterscheidet agrarian welfare regimes (v.a. in Afrika),
die auf eine Landreform setzen und auf diese Weise die familiäre Reproduktion zu
ermöglichen trachten. Workerist welfare regimes (v.a. in S-O-Asien) wollen eine soziale
Inklusion über den Arbeitsmarkt erreichen. Pauperist welfare regimes richten ihr
Hauptaugenmerk auf Armutsbekämpfung und sind eher neuere Erscheinungen. Auch solche,
auf die Peripherie abzielenden Typologien blieben nicht von der Kritik verschont. Bemängelt
wird insbesondere das schematische Vorgehen und die mangelnde Berücksichtigung von
gesellschaftlichen Machtstrukturen (Wehr 2009).
Trotz des auf die Zentren bezogenen Modells bietet Esping-Andersen wichtige
Anknüpfungspunkte für die vorliegende Untersuchung. Dazu zählen der historische
Institutionalismus und die sogenannte „Klassenmobilisierungsthese“, die als theoretischer
Hintergrund Esping-Andersens (Esping-Andersen 1990) fungieren. Letztere ist die
Weiterentwicklung
eines
austro-marxistischen
Konzepts,
das
die
Bedeutung
der
sozialdemokratischen Reformen hervorhebt und von Korpi (1983) später konkretisiert wurde.
Für Korpi stellt das sozialdemokratische parlamentarische Engagement, das sich stark auf
Gewerkschaften stützt, eine Form des „demokratischen Klassenkampfes“ dar. Dem zu Folge
üben
Akteure
wie
Gewerkschaften
außerparlamentarischen
Druck
auf
politische
EntscheidungsträgerInnen aus. Vor allem im Fall von gesellschaftlich gut verankerten und
institutionalisierten
Gewerkschaften
können
im
Zusammenspiel
mit
starken
sozialdemokratischen Parteien soziale Gesetze erlassen werden – der Klassenkampf wird
somit also über Parlament und korporatistische Organisationen geführt.
Esping-Andersen sieht in sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten einen spezifischen
Klassenkompromiss am Werk: Öffentliche Dienstleistungen werden universalistisch, das
heißt für alle, bereit gestellt. Es bildet sich ein Kompromiss zwischen ArbeiterInnen und
Angehörigen der Mittelschicht, da die vorwiegend von der Mittelschicht eingehobenen
Steuern in Dienstleistungen fließen, die allen gleichermaßen zugute kommen, jedoch
besonders stark von der Mittelschicht genutzt werden. Dieses Klassenbündnis konnte vor
allem in den Wohlfahrtsstaaten entstehen, die auf Universalismus setzten. Dieses Modell
zeichnet sich durch einen großzügig geregelten Zugang zu den Versicherungsleistungen
anstelle streng definierter Zugangsvoraussetzungen aus. Universelle Leistungen beinhalteten
Bildung, Gesundheit sowie im Umlageverfahren geregelte Renten1. Diese Leistungen wurden
auf diese Weise der direkten Logik der Kapitalverwertung entzogen, „rentierten“ sich jedoch
meist über Umwege, da sie die Grundlage für den reibungslosen Ablauf des Wirtschaftslebens
sicherten. Esping-Andersen (1990: 35ff.) bezeichnete den entstehenden gesellschaftlichen
Bereich als „de-kommodifiziert“. Institutionell zeigte sich vor allem in sozialdemokratischen
Wohlfahrtsstaaten ein starker Hang zum Universalismus.
Liberale Varianten setzten eher auf eine marktförmige Bereitstellung von Dienstleistungen,
die jedoch oft durch staatliche Leistungen für die Ärmsten ergänzt wurden. Die Betroffenen
mussten ihre Bedürftigkeit nachweisen. Konservative Zugänge hingegen waren weniger
universalistisch, da sie nach Berufsgruppen differenzierte Leistungen anboten. Unter
Bismarck erstmals eingeführt, waren es traditionell die BeamtInnen, denen besondere
Privilegien zuteil wurden. Dieser Bruch mit dem Universalismus wurde institutionell über die
Existenz verschiedener Kassen und Systeme bewerkstelligt, die sich – zumindest teilweise –
über Beiträge finanzierten (Esping-Andersen 1998).
Die Frage der Universalisierung ist auch für die sozialpolitische Forschung in der Peripherie
interessant. Liberale Reformen, die eine größere Treffsicherheit als Ziel formulieren, führen
nämlich zur Aufgabe des universalistischen Anspruchs. Staatliche Leistungen sollen nur noch
den Ärmsten bzw. den „Bedürftigen“ zukommen (Mkandawire 2005). Normative
Schlussfolgerungen können jedoch insofern kritisiert werden, als Wohlfahrtsstaaten in der
Peripherie tendenziell dem Paradigma konservativer Wohlfahrtsstaatlichkeit folgten und
einzelne gesellschaftliche Gruppen besonders begünstigten und andere ausschlossen. Die
Systeme sozialer Sicherheit spiegelten nämlich die „strukturelle Heterogenität“ (Córdova
1973) der (semi-)peripheren Gesellschaftsformationen wider. Ungleiche Sozialstrukturen
führten dazu, dass ein großer Teil der Bevölkerungen von den gesellschaftlichen Fortschritten
ausgeschlossen blieb. Außerdem spiegelt Sozialpolitik die Machtverhältnisse wider. In der
1
Im Umlageverfahren werden die Beiträge der arbeitenden Bevölkerung direkt für die Bezahlung der
RentnerInnen verwendet, während im Kapitaldeckungsverfahren individuell in Fonds investiert wird. Das in den
Fonds angesparte und erwirtschaftete Kapital soll in weiterer Folge der Altersvorsorge dienen. Bezüglich der
Verteilungswirkung weist Esping-Andersen (2006) darauf hin, dass Beitrags-basierte Systeme beider Systeme
generell regressive Wirkungen aufweisen: „je mehr sie [die Rentenfinanzierung] auf den Lohn- und
Gehaltszahlungen beruht, desto degressiver ist sie […] Die sozial gehobenen Schichten leben durchschnittlich
etwa fünf bis sieben Jahre länger als die Durchschnittsarbeiter. Und diejenigen, die die Sonnenseite des Alterns
genießen werden, sind eben jene, die das privilegierteste Leben geführt, die größten Einkommen und die meiste
Lebenszeit akkumuliert haben“ (Esping-Andersen 2006: 53).
Periode des „peripheren Fordismus“ wurden große Teile der Bevölkerung, eventuell mit
Ausnahme Costa Ricas, von den im Zuge der importsubstituierenden Industrialisierung (ISI)
implementierten
sozialen
Sicherungssystemen
ausgeschlossen.
Die
ISI-Sozialpolitik
bevorzugte naturgemäß die soziale und politische Basis des Entwicklungsmodells: Die in der
Hauptsache männlichen, organisierten Arbeiter des städtischen formellen Sektors, die
Beschäftigten des öffentlichen Sektors, die Staatsbürokratie und das Militär (MesaLago/Bertranou 1998).
Am Beispiel der Militärs wird deutlich, dass sich soziale Organisation nicht zwangsweise
anhand von Klassenzugehörigkeit bzw. -repräsentanz bestimmen lässt. Außerdem gilt für
viele Staaten der Peripherie – insbesondere in Lateinamerika –, dass der Fokus auf Inklusion
der formell Beschäftigten weitaus größere Ausschlüsse produziert als in der OECD-Welt. Da
oftmals die Mehrheit der Bevölkerung im informellen Sektor arbeitet, bleiben sie von
beitragsfinanzierten wohlfahrtsstaatlichen Arrangements abgetrennt. In Staaten wie Peru
führte das sogar dazu, dass sozialpolitische Leistungen von Arm zu Reich umverteilt wurden.
Der Grund dafür sind großzügige Pensionsregelungen, die v.a. den besser verdienenden zu
Gute kommen, in Verbindung mit einem regressiven Steuersystem (Wehr 2009: 178ff.).
Um diesen ungleichheitsrelevanten Problemen auf den Grund gehen zu können, kann
Sozialpolitik nicht losgelöst von staatlicher Verteilungspolitik betrachtet werden.2 Daher stellt
sich die Frage, wie sich aktuelle Reformen der Einführung von nicht-beitragsabhängigen
Einkommenstransfers in Bezug zu anderen Reformen von Sozial-, Wirtschafts- und
Steuerpolitik darstellen. Dafür wird das von Seekings und Nattrass zur Analyse von
Ungleichheit in Südafrika entwickelte Distributionsregime vorgestellt. Dabei handelt es sich
um eine Erweiterung von Esping-Andersens welfare (state) regime. Innerhalb des auf
Pfadabhängigkeit setzenden Regime-Zugangs
steuerliche
Umverteilungsmaßnahmen
sowie
werden hier wohlfahrtsstaatliche und
arbeits-
und
beschäftigungsbezogene
Institutionen untersucht, die als ungleichheits-relevant identifiziert werden. Internationale und
nationale politische Ökonomie sowie das Wechselspiel mit Wirtschaftspolitik beeinflussen die
vorher genannten Faktoren maßgeblich. Mit Hilfe des Konzepts des Distributionsregimes
2
Die verschiedenen Dimensionen von sozialer Ungleichheit und Stratifizierung (Geschlecht, Ethnie,
Arbeitsverhältnisse, Bildung, Beruf, Einkommen etc.) und ihre wechselseitigen Interdependenzen mit
geeigneten Messinstrumenten zu erfassen, stellt ein komplexes sozialwissenschaftliches Unterfangen dar. Zu
den generellen Problemen der Ungleichheitsmessung kommen spezielle Anforderungen hinzu, die aus den
Spezifika peripherer Gesellschaften erwachsen . Zu Problemlagen, Anforderungen und einem Projekt zur
multidimensionalen Analyse sozialer Ungleichheit am Beispiel Chile siehe: Barozet 2011.
kann empirisch gezeigt werden, dass sozialpolitische Maßnahmen und insbesondere
Armutsbekämpfung nicht zwangsläufig zur Reduktion sozialer Ungleichheit führen.
Budgetpolitisch sind zusätzlich sowohl Steuer- als auch Ausgabenpolitik relevant, während
die Wirtschaftspolitik sich auch zentral auf den Arbeitsmarkt auswirkt. Dies findet im Kontext
von Pfadabhängigkeit statt, was eine historische Betrachtung nötig macht.
Von der Strukturanpassung zum inklusiven Liberalismus: kombinierter Trend zu
Universalisierung und Fokalisierung
Die Internationale Schuldenkrise Anfang der 1980er Jahre zwang die hoch verschuldeten
Länder der Peripherie, weitreichende Strukturanpassungsprogramme umzusetzen. Auf
externen Druck der internationalen Finanzinstitutionen (IFI) und vermittelt über die lokalen
politischen Eliten, ging ein Land nach dem anderen zu einer restriktiven Geld- und
Fiskalpolitik über. Außenhandel, Binnen- und Kapitalmärkte wurden liberalisiert, die
Arbeitsmärkte dereguliert.
In den meisten Ländern sanken in den 1980er Jahren die Ausgaben für Sozialpolitik, während
gleichzeitig die Einkommensdisparitäten und Armut anstiegen (u.a. durch den Abstieg der
Mittelschichten). Liberale Reformen zielten darauf ab, staatlich erbrachte Leistungen durch
markt-basierte zu ersetzen. Die Logik von sozialen Rechten wurde dabei weitgehend durch
eine neue Logik ersetzt: die Wahlfreiheit der KonsumentInnen auf dem Markt (Beresford
2005). Das galt besonders für die peripheren Staaten, wo fiskalische Spielräume von
Strukturanpassungsprogrammen stark eingeschränkt wurden. Das vorher schon nicht
flächendeckend funktionierende staatliche Sozialsystem wurde somit oft noch weniger
finanzierbar. Außerdem fielen hohe Kosten an, wenn Rentensysteme vom Umlageverfahren
auf das Kapitaldeckungsverfahren umgestellt werden mussten, was besonders am Beispiel
Chiles deutlich wurde (Taylor 2003). Neben steigender sozialer Ungleichheit und Armut
führte die Umstellung auch zu einem beträchtlichen Kostenanstieg für den Staat, da
RentenbezieherInnen aus dem alten Umlagesystem weiterhin bezahlt werden mussten,
während die Zahl der Beitragenden rapide abnahm.
Infolge der orthodoxen Stabilisierungspolitik nach der Rezeptur des Washington Consensus
erreichte das Ausmaß der sozialen Krise bereits in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre eine
Dimension, die auch von den Internationalen Finanzinstitutionen nicht ignoriert werden
konnte. Zunehmende internationale Kritik und die Befürchtung, dass aus der drastischen
Verschlechterung der sozialen Lage destabilisierende Konfliktpotenziale heranwachsen
könnten, veranlassten die internationalen Finanzinstitutionen zu einer Modifikation ihrer
Politikempfehlungen.
Der „inklusive Liberalismus“ kann als Reaktion auf die Krisenerscheinungen des Washington
Consensus betrachtet werden (Ruckert 2006). Im Feld der Sozialpolitik betont er die
Notwendigkeit von gezielter Armutsbekämpfung und treffsicheren Cash Transfers an
„Bedürftige“. Staatliche Mittel werden als begrenzt angenommen. Da sozialpolitische
Maßnahmen in erster Linie den Ärmsten zu Gute kommen sollen, muss mittels
Bedarfsprüfung festgestellt werden, ob Anspruch besteht oder nicht. Damit steht diese neue
Form der Fokalisierung im Gegensatz zu Konzepten, die sich an einer universalistischen
Versorgung mit Sozialleistungen orientierten.
Das Einbeziehen von sozialer Basisversorgung kann im Kontext des verstärkten Fokus auf
Armutsbekämpfung gesehen werden, während die Betonung der Wichtigkeit inner-familiärer
Transfers auf die Nähe zu konservativen Konzepten der Sozialpolitik hinweist, in denen die
Familie eine zentrale Position einnimmt (Esping-Andersen 1990; zur Verbindung von
konservativer und liberaler Sozialpolitik siehe Dean 1991). In allen Konzeptionen der
Weltbank wird die besondere Bedeutung des privaten Sektors hervorgehoben. Dieser soll die
Sparneigung der Bevölkerung heben und zur Entwicklung des Finanzsektors beitragen.
Besonders die Förderung privater Renten-Fonds über Beitragsverpflichtungen kann als
radikaler Schritt zur Kommodifizierung der Sozialpolitik verstanden werden. Der neu
hinzugekommene Fokus auf Armutsbekämpfung soll hingegen die Zustimmung größerer
Teile der Bevölkerung sichern.
Insbesondere die Pensionsreformen deuten in eine Richtung in die auch wirtschaftspolitische
Reformen weisen: die Finanzialisierung der Ökonomie (Fine 2009b; 2009a). Darunter wird
die zunehmende Dominanz des finanziellen Sektors gegenüber dem produktiven Sektor der
Ökonomie verstanden (näher dazu: Epstein 2005; Imhof/Jäger 2007). Der Trend der (Re)Kommodifizierung der Sozialpolitik kann in diesem Licht auch als Unterstützung neuer
Wachstumsdynamiken des „finanzgetriebenen Akkumulationsregimes“ (Sablowski 2008)
gesehen werden. Die Reproduktion des Systems fußt nicht mehr so stark auf „DeKommodifizierung“ – der „Anti-Wert“ (Oliveira 1988), der durch die Einrichtung von
universalistischen öffentlichen Dienstleistungen kreiert wurde, scheint nun stärker
dysfunktional zu werden. Die Vorzüge der öffentlichen Dienstleistungen als ermöglichende
Faktoren für die Reproduktion von Arbeitskräften (Gesundheitsversorgung, Ausbildung,…)
scheinen weniger ins Gewicht zu fallen. Neoliberale Konzepte der Sozialpolitik wie sie
beispielsweise Friedman (Friedman 2004: 227ff.) mit der „negativen Einkommenssteuer“
vorgeschlagen hat scheinen ebenso wie Mikro-Kredite besser in dieses Programm zu passen,
da sie neuen Gruppen die Teilhabe am Markt ermöglichen, ohne „Anti-Wert“ zu schaffen.
Brasilien
–
vom
konservativ-autoritären
zum
liberal-sozialdemokratischen
Distributionsregime
Das brasilianische Distributionsregime ist historisch, u.a. als Folge der Sklaverei, durch die
strukturelle Heterogenität der Gesellschaft geprägt. Bis heute gehört es zu den ungleichsten
Ländern der Welt. Bis in die 1980er Jahre erhielten vor allem potenziell für den Staat
wichtige oder gefährliche Gruppen, etwa Militärs, BeamtInnen und IndutriearbeiterInnen
sozialpolitische Leistungen. Die Bevölkerung auf dem Land blieb davon weitgehend
ausgeschlossen. Die Migration der Ausgeschlossenen in die Städte im Zuge des 20.
Jahrhunderts führte in vielen Fällen nicht zu deren Inklusion in den Sozialstaat, da sie als
informell Beschäftigte nicht anspruchsberechtigt waren. Es handelt sich also um ein
informell-konservatives Sozialregime (Barrientos 2004): Klientelismus im ländlichen Bereich
koexistierte mit selektivem Staatskorporatismus im städtischen Bereich. Erst die partizipativ
erstellte Verfassung 1988 (nach der zwischen 1964 und 1984 andauernden Militärdiktatur)
beinhaltete umfassende Regelungen zur Universalisierung des Sozialsystems. Das staatliche
Gesundheitssystem ist seither universell und nicht beitragsabhängig, für die ländliche
Bevölkerung wurden Möglichkeiten nicht-beitragsfinanzierter Pensionen in der Höhe eines
Mindestlohns geschaffen. Für die Sozialausgaben wurde eine Mindesthöhe (bemessen an den
übrigen Ausgaben) festgelegt (siehe Abb. X; näher dazu: Leubolt i.E.).
Abbildung 1: Sozialausgaben Brasiliens als % des BIP
25
21,87
20
15
18,96
19,17
1990
1995
13,85
13,3
10
5
0
1980
1985
2005
Quelle: Castro et al. 2009: 97
Die 1990er Jahre waren jedoch gleichzeitig das Jahrzehnt der neoliberalen Reformen, die in
Brasilien ab 1990 unter Präsident Collor de Mello begannen und 1994 mit der Einführung des
Plano Real durch den damaligen Finanzminister Cardoso ihre volle Wirkung entfalteten (Fritz
2002). Liberale ÖkonomInnen bezeichnen dieses Programm der Inflationsbekämpfung als die
wichtigste sozialpolitische Maßnahme von Cardoso, da besonders die arme Bevölkerung sich
nicht vor den inflationsbedingten Verlusten absichern konnte. Die überbewertete Währung
verbilligte den Import langlebiger Konsumgüter wie z.B. Fernseher, die seither auch verstärkt
in den Armenvierteln zu finden sind. Die Kehrseite des Plano Real war jedoch die
Schwächung des Inlandskapitals, die sich in erhöhten Arbeitslosigkeitsraten auswirkte.
Außerdem hatte die Hochzinspolitik fatale Auswirkungen auf die Fiskalpolitik (Vernengo
2007): Staatsausgaben mussten zu Gunsten des Zinsendienstes umgeschichtet werden, was
teilweise zu Lasten von Sozialausgaben ging.
Die unmittelbare Auswirkung der Universalisierung der Sozialpolitik und ihrer nicht im
gleichen Rhythmus steigenden Finanzierung war das Absinken der Qualität der öffentlichen
Dienstleistungen. Dadurch griffen Ober- und Mittelschicht während der 1990er Jahre
zunehmend auf private Dienstleistungsangebote zurück (Ramos 2000), die staatlich gefördert
wurden. Der in der Verfassung festgeschriebene Universalismus wurde in der Praxis nicht
voll wirksam, da hauptsächlich diejenigen, die sich private Versorgung nicht leisten konnten,
auf staatliche Dienste zurückgriffen. Dieses Abweichen vom Universalismus wurde mit Hilfe
des Paradigmas „sozialer Treffsicherheit“ legitimiert, da der Staat nur für die Bedürftigen da
sein solle. Entsprechende Maßnahmen waren beispielsweise die Umstellung der Zahlung von
Subventionen an Gasunternehmen hin zur Förderung Bedürftiger mit einer sehr niedrigen
monatlichen Gasbeihilfe oder die Einführung von Schulbeihilfen für bedürftige Familien
(Bolsa Escola, Bolsa Alimentação). In Verbindung mit dem in der Verfassung 1988
festgehaltenen und 1996 durch das Sozialhilfegesetz LOAS (Lei Orgânica da Assistência
Social) reglementierten Einkommenstransfer an besonders Bedürftige (BPC – Benefício de
Prestação Continuada) waren diese Umstellungen hauptverantwortlich für die starke
Erhöhung der Ausgaben für Sozialhilfe ab 1995 (siehe Tab. X).
Tabelle 1: Prozentuelle Aufsplittung der Sozialleistungen Brasiliens
1980
1985
1990
1995
2005
Kanalisation
5,0
5,0
4,2
1,3
1,2
Arbeitsmarktpolitik
0,3
0,3
5,1
2,2
2,9
Sozialhilfe
1,6
1,7
2,3
2,1
4,8
Wohnbau
13,4
8,8
7,2
7,3
3,8
Gesundheit
16,9
16,4
16,5
16,1
15,2
Bildung
19,6
Leistungen an BeamtInnen
(Renten)
42,9
22,0
22,2
20,7
18,5
44,5
41,1
22,5
19,7
26,0
32,0
1,2
1,4
1,9
1,9
Sozialrenten
andere
0,4
Quelle: Castro et al. 2009: 98
Die Auswirkungen dieser Politik auf die Sozialstruktur waren einerseits die Abnahme
extremer Armut und die Verbesserung entsprechender Indikatoren wie z.B. des
Analphabetismus, was sich in der positiven Entwicklung des Human Development Index
zeigte. Gleichzeitig erodierten die Beschäftigungsverhältnisse. Der informelle Sektor wuchs
von 53,6 Prozent im Jahr 1992 auf 55,5% 2002, und die Arbeitslosigkeit stieg im gleichen
Zeitraum von 6,4% auf 9,2% (ILO 2009: 2, Tab. 1). Die funktionale Einkommensverteilung
veränderte sich zu Ungunsten der LohnempfängerInnen. Der Anteil der Löhne und Gehälter
am Gesamteinkommen sank von 45,4 Prozent im Jahr 1990 auf 36,1 Prozent im Jahr 2002
(Vernengo 2007: 87). Der Gini-Index stagnierte insgesamt auf hohem Niveau (zwischen
0,602 im Jahr 1996 und 0,589 im Jahr 2002; siehe www.ipeadata.gov.br).
Die Wirtschaftspolitik unter der Regierung Lula ähnelte anfänglich jener von Cardoso:
Hochzinspolitik zum Zweck der Inflationsbekämpfung blieb zentral, während die
„Primärüberschüsse“ (vor Zahlung des Schuldendienstes) sogar erhöht wurden. Gleichzeitig
wurde aber in der Arbeitsmarktpolitik ein neuer Fokus auf die Erhöhung des gesetzlichen
Mindestlohnes gelegt. Zwischen 2003 und 2005 stieg dieser real um 11,7% und um weitere
24,7% zwischen 2006 und 2008 (Barbosa/Souza 2010). Diese Anhebung wirkte sich auch auf
die in der Verfassung festgelegten Sozialpensionen aus, die direkt an die Höhe des
Mindestlohns gekoppelt sind. Dieser Trend ging einher mit steigenden Reallöhnen (jährlich
durchschnittlich um 1,8% bis 2007; Gonzalez et al. 2009: 130) und dem Sinken von
Arbeitslosigkeit bei gleichzeitig steigendem Anteil der formell Beschäftigten. In Verbindung
mit den Einkommenstransfers führte das zu einer Verminderung der Einkommensungleichheit
(Baltar et al. 2010). Trotzdem markiert der Gini-Index von 0,543 für das Jahr 2008
(www.ipeadata.gov.br) weiterhin eine der ungleichsten Einkommensverteilungen weltweit.
In der Sozialpolitik Brasiliens wird gegenwärtig das auf Armutsbekämpfung fokussierende
Modell des ehemaligen Präsidenten F.H. Cardoso gleichzeitig fortgeführt und radikalisiert.
Das bedeutendste Programm war anfänglich Fome Zero (Null Hunger; IPEA 2007: 102ff),
das besonders auf die Zusammenarbeit zwischen staatlichen und privaten Akteuren setzt. Ab
2005 verschob sich der Fokus jedoch auf den Ausbau und die bessere Koordination der
Einkommenstransferprogramme der Regierung Cardoso (v.a. Gas-Beihilfen, Bolsa Escola,
Bolsa Alimentação) im Rahmen von Bolsa Famíla (Familienbeihilfe; IPEA 2007: 104ff). Die
Regierung Lula erweiterte den Kreis der Anspruchsberechtigten (2009 erhielten über 12 Mio.
Familien, d.h. ca. 50 Millionen Menschen die Beihilfe; vgl. Jaccoud et al. 2010: 15) und
erhöhte den Betrag der maximalen Förderung, der mehr als verdoppelt wurde.
Einkommenstransfers stiegen dadurch von durchschnittlich 1,9 Prozent des BIP pro Jahr
zwischen 1995 und 2002 (unter Cardoso) auf 2,58 Prozent des BIP zwischen 2003 und 2005
an (Mercadante 2006: 122). Verglichen mit den Ausgaben für den Schuldendienst, die im
gleichen Zeitraum zwischen 9,4 Prozent und 7,3 Prozent des BIP ausmachten, sind die
Transferzahlungen zwar weiterhin relativ gering, dennoch war die Erhöhung in diesem
Bereich für große Teile der Bevölkerung spürbar (Antunes/Gimenez 2006).
Die in der Verfassung vorgesehenen sozialpolitischen Gemeindebeiräte waren 2005 in
79,7 Prozent der Gemeinden für die Planung der Verteilung und in 48,7 Prozent auch als
Kontrollinstanzen verantwortlich. Mittels der Zweidrittel-Beteiligung zivilgesellschaftlicher
VertreterInnen in diesen Gremien und der Etablierung eines bürokratischen Verfahrens
konnte der in Brasilien übliche Klientelismus vermieden werden. Empfangsberechtigt sind in
erster Linie Frauen, die aufgrund gesetzlicher Regelungen automatisch als Familienoberhaupt
definiert werden. Dadurch wird einerseits die finanzielle Unabhängigkeit von Frauen gestärkt,
andererseits aber die gender-spezifische Rollenverteilung in der Familie bekräftigt. Die
Auszahlung der Bolsa Família wurde an Impfungen sowie regelmäßigen Arzt- und
Schulbesuch der Kinder gekoppelt, was eher der traditionellen sozial-paternalistischen Logik
folgt als dem liberalen Paradigma. Der Anspruch auf Bolsa Família kann nicht eingeklagt
werden; das Programm etablierte mithin keine neuen sozialen Rechte (Jaccoud et al. 2009:
221).
Als kritisch wird jedoch vor allem das Verhältnis der staatlichen Einkommenstransfers und
Investitionen in das auf dem Papier universalisierte Sozialsystem gesehen (Hall 2008).
Ausgaben für öffentliche Dienstleistungen sind zwar nicht rückläufig, stagnieren jedoch im
Vergleich zu Ausgaben für Sozialhilfe (also den Einkommenstransfers; vgl. Tab. 1). In
diesem Sinne kann zwar nicht von einem expliziten Rückgang universalistischer Programme
der Sozialpolitik gesprochen werden, da nun viele Menschen durch die neuen Programme
erreicht werden, die sonst aus dem System ausgeschlossen geblieben wären. Gleichzeitig
zeigen sich kaum Tendenzen zur Rückkehr der Mittelschicht in die staatliche sozialpolitische
Infrastruktur. Daher handelt es sich gewissermaßen um eine Form der „UniversalisierungFokalisierung“, in der Treffsicherheit mit der Einbindung der vormals Ausgeschlossenen
kombiniert wird. Dies wird durch wirtschaftspolitische Maßnahmen dahin gehend unterstützt,
dass der wirtschaftliche Aufschwung besonders den Ärmsten zugute kommt, die nun teilweise
in die untere Mittelschicht sozial aufsteigen konnten. Dies führt zu einer Verbreiterung der
Konsumbasis,
also
zur
Eingliederung
ins
„kapitalistische
Spiel“
von
vormals
ausgeschlossenen Menschen. Diese Form der Inklusion wird durch die sanfte Transformation
der Sozialpolitik begleitet: Die steigende Bedeutung von Einkommenstransfers gegenüber der
staatlichen Bereitstellung von Dienstleistungen weist auf einen Trend der Monetarisierung
von Sozialpolitik hin.
Der periphere „Dritte Weg“ in Chile
In Chile war Sozialpolitik lange auf Bildung beschränkt. Ab den 1920er Jahren wurden
schrittweise die Arbeitsbedingungen im engeren Sinne modifiziert und der Aufbau eines eng
am formalen Arbeitsverhältnis orientierten Sozialsystems betrieben. Die Regierungen
regulierten zum einen den Arbeitsprozess (Arbeitsverträge, Streikrecht, Vereinigungsrecht,
die Einrichtung eines Arbeitsgerichtes etc.). Zum anderen erfolgte der Aufbau einer
Sozialgesetzgebung, die eine obligatorische Kranken- und Pensionsversicherung für
Beschäftigte im öffentlichen und privaten Sektor beinhaltete (Jäger 2001). Die
Volksfrontregierungen bauten ab den späten 1930er Jahren die staatliche Wohlfahrtspolitik
mit Arbeiterschutzbestimmungen, Mindestlohn- und Abfertigungsregelungen weiter aus. Das
konzertierte Zusammenspiel von Staat, Unternehmerverbänden und Arbeiterorganisationen
stabilisierte auf diese Weise den ökonomischen Wachstumsprozesses und sorgte für die
kontrollierte Einbindung und Zustimmung der Masse zum Gesellschaftssystem.
Die Leistungsansprüche waren dennoch sehr uneinheitlich geregelt. Sie konzentrierten sich
auf jenen Teil der – vornehmlich männlichen, städtischen – Arbeiterschaft, der politisch gut
organisiert und in strategisch wichtigen Sektoren beschäftigt war (Militär, Bergbau, ISILeitindustrien, öffentlicher Dienst). Generell waren Angestellte besser gestellt als Arbeiter.
Landarbeiter waren bis 1965 gänzlich von sozialpolitischen Regelungen ausgeschlossen.
Nach dem Militärputsch 1973 fand eine tief greifende Umgestaltung des wohlfahrtsstaatlichen
Systems statt. Das Pinochet-Regime privatisierte und dezentralisierte das Gesundheits- und
das Bildungswesen und führte ein flexibles Arbeitsgesetz ein. In allen sozialen Bereichen
wurden duale Systeme installiert: Der Staat sorgte für Mindestleistungen; ein erweiterter
Leistungsbezug wurde an das individuelle Einkommen gekoppelt. Damit entstand ein
profitträchtiger Markt für private Anbieter, wobei der Staat eine Kontroll- und
Regulierungsfunktion behielt. Diese Form der Sozialpolitik trug zu drastisch sinkenden
Sozialausgaben bei (Taylor 2006).
Mit der Übertragung der Rentenversicherung auf private Anbieter übernahm Chile weltweit
eine Pionierrolle. Nur die Angehörigen des Militärs und der Polizei erhielten die
Wahlmöglichkeit zwischen dem alten, staatlich garantierten und dem neuen System. Alle
anderen Arbeitenden übertragen seither einen Teil ihres Gehalts an private Rentenfonds, die
so genannten Administradoras de Fondos de Pensiones (AFP). Diese verwalten die Gelder
und legen sie an. Ziel dieser Maßnahme war es, den Staat von sozialen Leistungen zu
entlasten und gleichzeitig Kapital für die Akkumulation freizusetzen (Elter 1999).
Die Führer des breiten Parteienbündnisses Concertación, die den Übergang zur Demokratie
verhandelten, setzten nach 1990 auf ein „Wachstum mit sozialem Ausgleich“. Dabei wusste
die neue regierende Klasse die Parteigänger des alten Regimes auf ihrer Seite. Denn
angesichts der Erwartungen in der Bevölkerung hatte sich auch bei den alten Herrschaftseliten
und Unternehmern die Einsicht breit gemacht, dass ein sozial stärker inkludierendes System
besser geeignet war, das neoliberale Modell zu sichern. Die Concertación akzeptierte die
bestehenden Machtbeziehungen zwischen den sozialen Klassen und Gruppierungen, wodurch
radikale Veränderungen in der Einnahmen- und Ausgabenstruktur des Staates und im
Steuersystem außer Reichweite blieben (Fischer 2007).
Die ersten, christdemokratisch geführten Regierungen verbuchten bei der Armutsbekämpfung
ihren größten Erfolg. Mit gezielten Sozialausgaben verbesserte die Concertación die
miserablen Lebensbedingungen, unter denen breite Teile der Bevölkerung während des
Militärregimes gelitten hatten. Galten nach offiziellen Statistiken im Jahr 1990 13 Prozent der
Bevölkerung als extrem arm und 25,6 Prozent als arm, so waren es im Jahr 2006 nur mehr 3,2
bzw. 10,5 Prozent. Das bedeutet einen Rückgang von insgesamt 38,6 auf 13,7 Prozent.
Allerdings stellte die Erhebung für das Jahr 2009 erstmals in der demokratischen Periode
wieder einen Anstieg fest: auf 3,7 Prozent bei der extremen Armut und 11,4 Prozent bei der
Armut (Mideplan 2009: 3).3
Im Unterschied zur Armutsbekämpfung war die Minderung der Einkommensungleichheit
kein politisches Ziel der Concertación. Sie blieb seit 1990 auf gleichbleibendem Niveau.
Obwohl in Chile weiterhin geschätzte 30 Prozent der Bevölkerung an der Armutsgrenze
leben, zeigt die Tabelle, dass Ungleichheit in Chile weniger auf akuter Armut der unteren
Schichten beruht, sondern hauptsächlich der Einkommenskonzentration an der Spitze
zuzuschreiben ist (siehe Tabelle 2).
Tabelle 2 : Entwicklung der Verteilung der Haushaltseinkommen, 1990–2009
1990 1992 1994 1996 1998 2000 2003 2006 2009
Primäreinkommen
Verhältnis 20/20
14,0 13,2 14,0 14,8 15,6 14,5 14,5 13,1 15,7
Verhältnis 10/40
3,5
Verhältnis 10/10
30,5 28,1 30,9 33,0 34,7 34,2 34,4 31,3 46,0
Gini-Koeffizient
0,57 0,56 0,57 0,57 0,58 0,58 0,57 0,54 0,55
3,3
3,4
3,5
3,5
3,5
3,4
3,0
3,4
Geldeinkommen (mit staatlichen Transferleistungen)
3
20/20
13,0 12,3 12,4 13,6 13,9 13,3 12,8 11,5 11,9
10/40
3,3
10/10
27,1 25,2 25,7 28,7 28,4 29,5 27,3 23,9 25,9
Gini-Koeffizient
0,56 0,56 0,55 0,56 0,57 0,58 0,56 0,53 0,53
3,2
3,1
3,4
3,3
3,3
3,2
2,8
2,9
Die Armutsgrenze berechnet das chilenische Planungsministerium Mideplan auf Grundlage eines
eingeschränkten und veralteten Warenkorbs aus dem Jahr 1987. Kritiker wenden ein, dass diese niedrige
Schwelle die gemessene Armut erheblich verringert. Derzeit wird die Berechnungsgrundlage erneuert.
Quelle: Mideplan 2009, 13. Man beachte: Nach den Berechnungen des UN-Entwicklungsberichts 2006 war der
Gini-Koeffizient im Jahr 2004 der höchste seit dem Übergang zur Demokratie. Grundsätzlich ist zu beachten,
dass eine Verminderung des Gini-Koeffizienten nicht unbedingt den Abbau von Einkommensungleichheiten
bedeutet.
Zu den unverändert hohen Ungleichheitsraten in Chile trägt die Struktur der Sozialausgaben
bei. Sie zielen auf den Gesundheits- und Bildungssektor und auf Wohnzuschüsse. Bis zum
Jahr 2000 gab es kaum Cash Transfer-Programme für bedürftige Familien. Das wird auch
dadurch deutlich, dass der Gini-Koeffizient für Geldeinkommen nur geringfügig unterhalb des
Wertes für Primäreinkommen liegt. Die Ausgabensteigerungen im Bildungsbereich waren
zunächst nicht nur sozialpolitisch, sondern auch wirtschaftlich motiviert: Unternehmerkreise
hatten das schlechte Ausbildungsniveau moniert und ein stärkeres Eingreifen des Staates
gefordert. Dennoch kann die Steigerung bestenfalls als moderat bezeichnet werden. Gleiches
gilt für die Aufwendungen für die öffentliche Gesundheit. Seit 2005 werden beide Bereiche
wieder etwas besser dotiert. Die Regierung reagierte damit auf die zähen Proteste der
betroffenen Gruppen auf der Straße (siehe Tabelle 3).
Mit der Zielgruppenorientierung gab die Concertación allerdings insgesamt geringere Mittel
aus. Die Sozialquote lag mit 12,2 Prozent des BIP in den Jahren 2005 und 2006 auf
demselben Wert wie 1992, im Jahr 2007 sogar darunter. Die Gelder für die
Armutsprogramme stammen aus Kürzungen bzw. Umschichtungen anderer Töpfe.
Antizyklische soziale Maßnahmen, die im Gefolge der Asienkrise und in der Finanzkrise
2008/2009 getätigt wurden, finanzierte die Regierung aus dem gesetzlich vorgeschriebenen
strukturellen Budgetüberschuss, der aus den Kupferexporterlösen gespeist wird.4 Während
Brasilien in Lateinamerika die höchste Steuerquote aufweist (36% des BIP im Jahr 2004),
verzeichnet Chile den geringsten Anstieg. Die Steuereinnahmen stammen vorwiegend aus
Verbrauchssteuern, allen voran der Mehrwertsteuer, und nur in geringem Umfang aus Steuern
auf Besitz und Vermögen. Auch in Brasilien liegen die Verbrauchssteuern vorne, wenngleich
dort die Sozialversicherungsbeiträge einen vergleichsweise hohen Anteil ausmachen. Die
Steuerstruktur blieb aber in beiden Ländern regressiv (Ortíz/Schorr 2008).
4
Im Jahr 2000 verfügte der sozialdemokratische Finanzminister, dass der Staatshaushalt einen Überschuss von
mindestens einem Prozent des BIP aufzuweisen habe. Ziel der strukturellen Haushaltsbilanzregel (Balance
Estructural) ist es, die Budgetpolitik von den Schwankungen des Kupferpreises zu entkoppeln. Mit anderen
Worten: In guten Zeiten sollte gespart werden, um für schlechte gerüstet zu sein. Die Erträge aus dem
Rohstoffsektor fließen zum Teil in Wohlfahrtsfonds, aus denen dann sozialpolitische und antizyklische
Maßnahmen, wie etwa im Zuge der Finanzkrise 2009, finanziert werden (Fischer 2011).
Tabelle 3: Staatsausgaben 1987–2008 (in % des BIP), ausgewählte Jahre
Militär, öffentliche Sicherheit
Wirtschaft und Infrastruktur
Transport
Landwirtschaft
Forschung und Entwicklung
anderes
Sozialausgaben
Pensionen
Bildung
Gesundheit
Wohnen
Familien
Arbeitslosigkeit
Umwelt
Städtische Dienstleistungen
Umweltschutz
Öffentliche Verschuldung
Gesamt
1987
5,3
3,1
1,3
0,1
0,5
1,2
15,3
8,1
3,0
2,0
0,8
0,9
0,5
0,2
0,2
0
2,0
26,3
1990
3,9
2,0
0,8
0,1
0,1
1.0
12,3
6,7
2,3
1,9
0,7
0,7
0,0
0,2
0,2
0
1,9
20,7
1994
3,2
2,7
1,4
0,2
0,2
0,9
11,7
5,4
2,5
2,4
0,9
0,5
0,0
0,3
0,2
0,1
1,0
19,9
2000
3,6
3,0
1,5
0,3
0,2
1,0
14,2
6,1
3,7
2,8
0,8
0,7
0,1
0,4
0,3
0,1
0,4
22,3
2005
3,4
2,5
1,6
0,3
0,2
0,4
12,2
4,8
3,2
2,8
0,8
0,5
0,1
0,3
0,2
0,1
0,4
19,1
2008
3,6
3,5
1,7
0,3
0,2
1,3
13,7
4,5
4,0
3,5
1,0
0,6
0,1
0,5
0,4
0,1
0,2
21,9
Quelle: Dipres 2004; 2009.
Seit dem Übergang zur Demokratie 1990 fließt der größte Teil der Aufwendungen für soziale
Sicherheit – mehr als ein Viertel – in die Umstellung des privatisierten Pensionssystems. Der
Staat muss bis heute für die Pensionsansprüche aus dem alten System aufkommen und den
Wechsel in das AFP-System finanzieren. Darüber hinaus gleicht er das Defizit aus, das die
Pensionskassen des Militärs und der Polizei verursachen. Diese Ausgaben bedeuten de facto
Transferleistungen an Bevölkerungsschichten mit hohen Einkommen. Arme und andere
verletzbare Gruppen erhalten niedrige Assistenzzahlungen.
Die beiden sozialdemokratisch geführten Regierungen Lagos und Bachelet sorgten nach der
Jahrtausendwende im sozialpolitischen Bereich für wichtige sozialpolitische Reformen, die
zugleich eine Tendenz zur Fokalisierung und zur Universalisierung aufweisen. Zum einen
wurde 2002 mit Chile Solidario ein mehrdimensionales Armutsbekämpfungsprogramm
eingeführt. Das Programm soll die Lebensbedingungen extrem armer Familien – zur Zeit
seiner Einführung 225.000 Familien bei einer Gesamtbevölkerung von 16,7 Millionen – mit
treffsicheren monetären Transferleistungen verbessern. Die Leistungsempfänger müssen ihre
Bedürftigkeit
nachweisen
und
werden
regelmäßig
überprüft
(Mideplan
2003;
www.chilesolidario.gob.cl/). Die Höhe der Fürsorgeleistung nimmt halbjährlich im Verlauf
der 24 Monate ab; sie beträgt am Ende ein Drittel des ohnehin niedrigen Anfangsbetrags.
Untersuchungen zeigen, dass das Programm zielgenau trifft: 40 Prozent der ärmsten Familien
erhalten 80 Prozent der Leistungen. Da das Finanzvolumen dieser fokalisierten Cash
Transfers ausgesprochen gering ist, tragen sie auch nicht
zu einer nennenswerten
Verminderung der Einkommensungleichheiten bei (Soares et al. 2007: 4f, 17).
Anders als in Brasilien tragen auch die – dort weniger konzentrierten – Arbeitseinkommen
nicht zu einer Verminderung der Ungleichheit bei, ganz im Gegenteil. In Chile verstärkt der
segmentierte Arbeitsmarkt die Ungleichheit. Einen Ausgleich stellen die sozialen
Sicherungsleistungen, inklusive der nicht-konditionierten fokalisierten Transferzahlungen und
der nicht-beitragsabhängigen Pensionen, dar. Letztere wurden im Jahr 2008 reformiert.
Für die erste große Reform des unter Pinochet privatisierten Pensionssystems gab es mehrere
Gründe. Erstens war sein Deckungsgrad relativ gering, das System wirkte bis weit in die
Mittelschichten hinein nicht existenzsichernd. Im Jahr 1990 waren 50 Prozent der
Erwerbsbevölkerung Mitglied einer AFP. Dieser Anteil stieg bis 2000 nur um zehn Prozent.
Von den Mitgliedern zahlten über die Hälfte keine Beiträge ein. Erreichte man nicht die
gesetzlich verlangten Einzahlungen, erhielt man am Ende nur das Geld, das man eingezahlt
hatte plus eine staatliche Assistenzleistung. Darüber hinaus waren die Verwaltungsabgaben
wegen der hohen Konzentration des Sektors sehr hoch, die Effizienz der AFP hingegen gering
(Taylor 2006; Quiroga 2009).
Den marktkonformen Empfehlungen der Weltbank und der OECD folgend, führte die
Regierung Bachelet ein Solidaritätsrentensystem (Sistema de Pensiones Solidarias) ein, das
die alte Assistenzleistung ersetzte. Dieses weist eine entscheidende Neuerung – und eine
Tendenz zur Universalisierung – auf: eine nicht-beitragsabhängige Pensionszahlung, die allen
StaatsbürgerInnen gebührt, die älter als 65 Jahre sind, mehr als 20 Jahre in Chile gearbeitet
haben und die Mindestpension aus eigener Kraft nicht erreichen. Sie haben seither,
unabhängig von ihren Einzahlungen in AFPs, Anspruch auf eine staatliche Rente. Sie macht
etwa 40 Prozent des gesetzlichen Mindestlohns aus. Die Finanzierung der breiteren
Absicherung erfolgte nicht durch progressive Steuern, sondern aus dem Fondo de Reserva de
Pensiones. Dieser Wohlfahrtsfonds wird aus dem gesetzlich dekreditierten strukturellen
Budgetüberschusses gefüllt, der der aus den Kupferexporterlösen gespeist wird.5 Auch das
kapitalgedeckte, von privaten Unternehmen verwaltete Pensionssystem stand bei dieser
Reform nicht zur Disposition.
5
Im Jahr 2009 bezogen rund 950.000 Personen eine staatliche Mindestpension.
Eine weitere Reform mit positiven Umverteilungswirkungen ist der Plan AUGE (Acceso
Universal con Garantías Explícitas/Umfassender Zugang mit ausdrücklichen Garantien). Die
Gesundheitsreform von 2005 beschränkt die Eigenbeteiligungen beim öffentlichen
Krankenversicherer und den privaten Isapre (Instituciones de Salud Previsional) auf zwei
Monatseinkommen. Davor mussten Versicherte unabhängig vom Einkommen Teile der
Behandlungskosten übernehmen. Die Regierung legt eine Liste von Erkrankungen fest, die
eine unentgeltlich oder mit geringen Zuzahlungen behandelt werden. Die Liste wurde seit
ihrer Einführung beständig erweitert (sie beinhaltet etwa Krebs, Diabetes, Bluthochdruck und
psychische Erkrankungen).
Schlussfolgerungen
Chile ist ein Beispiel für eine periphere „Dritte-Weg-Variante“ (Taylor 2006; Sandbrook et al.
2007: 147ff.). Sein Sozialsystem ist durch einen „institutionellen Isomorphismus“
gekennzeichnet. Einerseits verfolgen die sozialdemokratischen Regierungen, im Einklang mit
dem neoliberalen Wohlfahrtsstaat, fokalisierte Maßnahmen zur Armutsbekämpfung.
Gleichzeitig verbreiterten sie den Zugang zu staatlich garantierten Versorgungsleistungen im
Pensions-, Gesundheits- und ansatzweise auch im Bildungssystem. Im Vergleich zum
konservativen Sozialsystem der ISI-Ära profitieren nicht nur wichtige oder gefährliche
Gruppen, sondern breitere Teile der Bevölkerung. Die Regierungen reagierten mit diesen
Reformen auf die vehementen und anhaltenden Proteste der betroffenen Gruppen
(GesundheitsarbeiterInnen, öffentlicher Dienst, Studierende und SchülerInnen). Sie lösten
sich aber weder von ihrem technokratischen Verständnis sozialpolitischer Steuerung noch von
den dualen Systemen. Auch vor einer stärker progressiven Besteuerung von Einkommen und
Vermögen schrecken sie zugunsten konsensualer Politiken mit den poderes fácticos zurück.
Die fokalisierten Fürsorgeleistungen werden genauso wie die breitere Absicherung durch
Umschichtungen der Staatsausgaben oder aus den Wohlfahrtsfonds finanziert. Sozialpolitik
bleibt damit abhängig von den Überschüssen, die im Rohstoffexportsektor erzielt werden.
Die arbeitsmarktpolitischen Reformen blieben auf halbem Wege stecken. Die Regierungen
sind hier mit den gut organisierten Kräften der Arbeitgeber in der Zivilgesellschaft und den
neoliberal orientierten Rechtsparteien im institutionellen System konfrontiert. Eine
strukturelle Stärkung der Gewerkschaften gegenüber dem Kapital (etwa durch eine
grundlegende Reform des noch aus der Diktatur stammenden Arbeitsgesetzes), die wohl die
Voraussetzung für mehr Gleichheit wäre, blieb aus (Fischer 2011).
Brasilien hingegen tendierte schon historisch zu mehr Universalismus in der Sozialpolitik, die
jedoch bis in die 1980er stark konservativ und klientelistisch die Gruppen bevorzugte, die als
strategisch wichtig betrachtet wurden, während große Gruppen ausgeschlossen blieben. Die
Verbindung von sozial und politisch motivierten Protesten während der Zeit der
Demokratisierung in den 1980ern führte 1988 zur Verabschiedung einer vergleichsweise
progressiven Verfassung. Die dort vorgesehene Universalisierung wurde jedoch im Zuge
neoliberaler Reformen während der 1990er konterkariert, da die Finanzierung nicht
ausreichend ausgeweitet wurde und somit die Qualität vieler sozialer Dienstleistungen sank
(v.a. in Gesundheits- und Grundbildungssektoren). Wirtschaftspolitische Reformen während
der 1990er führten zu erhöhter Arbeitslosigkeit und Informalität des Arbeitsmarktes und
damit auch zu einem Anstieg der ohnehin schon sehr hohen Einkommensungleichheit.
Seit dem Amtsantritt der Regierung Lula im Jahr 2003 begannen sich die Trends teilweise zu
ändern. Die Grundtendenz blieb jedoch ähnlich: Dich wichtigsten Dogmen neoliberaler
Reformen (v.a. Preisstabilität durch Hochzinspolitik und die Bevorzugung der Bedienung des
Schuldendienstes gegenüber anderen Staatsausgaben, z.B. im Sozialen) blieben weitgehend
unangetastet. Gleichzeitig wurde der Mindestlohn entscheidend angehoben und auch die
Durchschnittslöhne sowie der Grad der Formalisierung zeigten aufwärts. Diese keynesianisch
anmutenden Maßnahmen – die einen „inklusiven Entwicklungsstaat“ (Novy 2008) anvisieren
– wurden durch die Intensivierung der Armutsbekämpfung gestärkt. Die gezielten
Maßnahmen zur Armutsreduktion bewegten sich dabei auch innerhalb der in den 1990ern
geprägten Paradigmen – es wurde weiterhin auf Fokalisierung („Treffsicherheit“) gesetzt und
der Trend zu Cash Transfers wurde verstärkt. Dabei wurde gleichzeitig auf klassisches
staatliches Eingreifen (mit paternalistischen Zügen) gegenüber Tendenzen zu Private-Public
Partnerships und philanthropischen Charity-Maßnahmen gesetzt. Somit unterscheidet sich
Brasilien auch von Ländern wie Indien oder Bangladesh, die stärker auf Mikro-Kredite
(Ahlin/Jiang 2008) und somit auch weniger auf staatliche Sozialpolitik setzen. Daher kann für
Brasilien der widersprüchliche Trend in Richtung „Fokalisierung-Universalisierung“
beobachtet werden – der Anspruch auf staatliche Sozialleistungen wird auf breitere Gruppen
ausgedehnt und bisher ausgeschlossene Gruppen (die Ärmsten) kommen nun in den Genuss
sozialer Leistungen – vor allem in Form von Cash Transfers.
Dieser in beiden Fällen zu beobachtende Trend zu „Fokalisierung-Universalisierung“ wird
von einer Monetarisierung der Sozialpolitik begleitet. Als positiv sehen wir diesbezüglich die
Tendenz zur verstärkten Inklusion der Ärmsten in Wohlfahrtsstaaten in der Peripherie. Damit
wird mit dem Erbe „struktureller Heterogenität“ in der konservativ geprägten Sozialpolitik der
ISI-Periode
gebrochen.
Gleichzeitig
wird
der
damit
eingeschlagene
Weg
zur
Universalisierung konterkariert durch die nun dominante Fokalisierung auf die Ärmsten. Vor
allem, wenn die Ausweitung eines Sozialsystems nicht von Mehr-Investitionen in die soziale
Infrastruktur begleitet ist, können services for the poor zu poor services werden. In diesem
Zusammenhang stellt sich eine weitere Frage im Hinblick auf die Monetarisierung der
Sozialpolitik: Wie wirken sich die Cash Transfers auf die übrigen Sozialleistungen aus?
Befördern sie die Annahme, dass nun alle befähigt werden, am Markt sozialpolitische
Leistungen zu kaufen, wie es Milton Friedman im Sinn hatte, oder wird dadurch das Angebot
an Sozialleistungen ergänzt und unter Umständen sogar neue Zustimmung für staatliche
Sozialpolitik geschaffen, da nun weniger Menschen ausgeschlossen sind?
Das zweite, positive, Szenario ist in Chile nicht zu beobachten, in Brasilien gibt es zarte
Anzeichen dafür. Dennoch stagniert die Entwicklung der staatlichen Sozialleistungen (und
somit des „Anti-Werts“) auch in Brasilien. Somit kann abschließend kritisch konstatiert
werden, dass sich die neue Tendenz der Monetarisierung zwar relativ direkt auf die Hebung
des Einkommens der Ärmsten (und damit positiv auf die Einkommensungleichheit) auswirkt,
aber im Hinblick auf andere Dynamiken im Zusammenhang mit (De-)Kommodifizierung
problematisch ist. Die Auswirkung der Reformen hängt allerdings immer von der
institutionellen Ausgestaltung des gesamten Distributionsregimes ab.
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