Der Ursprung des Bewußtsein

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Der Ursprung des Bewußtsein
Julian Jaynes
Der Ursprung des
Bewußtsein
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Das Buch entwickelt eine regelrechte Urknall-Theorie des Bewußtseins. Es
entwirft eine völlig neue Sicht der geistigen Entwicklung. der Menschheit.
Mit großem Wagemut und geistiger Kraft spricht Julian Jaynes für eine neue,
weitreichende Theorie.
Das Weltbild, das er uns vorstellt, ist umfassend. Er bietet neue Erklärungen
für die Stimmen der Götter, für Jahwe, der aus dem brennenden Dornbusch
zu Moses sprach. Es entwirft neue Sichtweisen von Homers Ilias und zu
zahlreichen Ereignissen und Rätseln der Weltgeschichte. Hinzu kommen
interessante Darlegungen über Hypnose, Schizophrenie, Weissagung, Musik
und das Wesen des Schöpferischen .
ISBN 3 499 19529 1
Originaltitel »The Orig in of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind«
Deutsch von Kurt Neff
© Juni 1993 Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH
Umschlaggestaltung Barbara Hanke
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Zu diesem Buch
Die These: Bewußtsein ist in der Menschheitsgeschichte erst
vor rund dreitausend Jahren aufgetreten. Autonomie, eine
subjektive Identität, Geschichte, überhaupt das Wissen des
Menschen von sich selbst – lauter historische Neuerwerbungen.
Die Menschen der Frühzeit hingegen konnten in
Grenzsituationen, unter Streß nicht selbstbewußt entscheiden
wie wir. Stattdessen vernahmen sie akustische Halluzinationen
Stimmen von Göttern.
Der Vorbewußte Mensch gehorchte automatenhaft der
Stimme Gottes, die von außen zu ihm zu sprechen schien. In
Wirklichkeit, so Jaynes, kommunizierte damals das
Sprachzentrum in der einen Hemisphäre des in zwei Kammern
geteilten Gehirns mit dem Hörzentrum in der anderen.
Wie kam es um 1000 v. Chr. zum Zusammenbruch dieser
»bikameralen« Organisation des menschlichen Denk apparates?
Wie entstand das, was wir heute subjektives Bewußtsein nennen
– und was ist das eigentlich?
Autor
Julian Jaynes, 1923 in New Weston/Massachusetts geboren,
lehrt seit 1964 Psychologie an der Princeton University. Seine
»Urknalltheorie des Bewußtseins« (Kirkus Review) hat weit über
den Kreis der Fachleute hinaus heftige Diskussionen ausgelöst.
INHALT
VORWORT ........................................................................ 6
EINFÜHRUNG................................................................... 7
ERSTES BUCH BEWUßTSEIN, GEIST, GEHIRN UND
SEELE................................................................................... 33
ERSTES KAPITEL Das Bewußtsein des Bewußtseins.... 34
ZWEITES KAPITEL Das Bewußtsein............................. 70
DRITTES KAPITEL Die Psychologie der » Ilias » ......... 97
VIERTES KAPITEL Die bikamerale Psyche ................. 121
FÜNFTES KAPITEL Das Doppelhirn........................... 142
SECHSTES KAPITEL Der Ursprung der Kultur........... 178
ZWEITES BUCH DAS BEWEISMATERIAL DER
GESCHICHTE.................................................................... 205
ERSTES KAPITEL Götter, Gräber und Idole ................ 206
ZWEITES KAPITEL Bikamerale Theokratien mit
Schriftkultur .................................................................... 245
DRITTES KAPITEL Bedingungen für Bewußtsein....... 282
VIERTES KAPITEL Metanoia in Mesopotamien ......... 308
FÜNFTES KAPITEL Das intellektuelle Bewußtsein der
Griechen.......................................................................... 350
SECHSTES KAPITEL Das moralische Bewußtsein der
Habiru.............................................................................. 402
DRITTES BUCH GEGENWART: RELIKTE DER
BIKAMERALEN PSYCHE IN DER MODERNEN WELT
............................................................................................. 431
ERSTES KAPITEL Das Streben nach Autorisierung .... 432
ZWEITES KAPITEL Von Propheten und Besessenheit 463
DRITTES KAPITEL Von Dichtung und Musik ............ 495
VIERTES KAPITEL Die Hypnose ................................ 521
FÜNFTES KAPITEL Die Schizophrenie ....................... 558
SECHSTES KAPITEL Die Augurien der Wissenschaft 598
QUELLENNACHWEIS ................................................. 619
ÜBER DEN AUTOR...................................................... 620
VORWORT
DIE KERNIDEEN des vorliegenden Buches habe ich im
September 1969 auf einer Tagung der American Psychological
Association in Washington vorgetragen. In all den Jahren seither
habe ich meine Gedanken und Begründungen immer wieder auf
verschiedenen
wissenschaftlichen
Veranstaltungen
zur
Diskussion gestellt. So ergab sich eine ständige Überprüfung
und kritische Auseinandersetzung, worin ich einen wertvollen
Beitrag sehe.
Im Ersten Buch führe ich aus, wie ich auf die erwähnten
Kernideen gestoßen wurde.
Im Zweiten Buch sichte ich das historische Be weismaterial
für meine Thesen im Einzelnen.
Im Dritten Buch zeige ich, was meine Theorie bei der
Erklärung einiger moderner Phänomene zu leisten vermag.
Ursprünglich wollte ich in einem Vierten und Fünften Buch
die Hauptresultate meines neuen Ansatzes darlegen. Daraus
mußte aber ein eigenes Buch werden, an dem ich noch schreibe.
Arbeitstitel: The Consequences of Consciousness – Die Folgen
des Bewußtseins.
Julian Jaynes
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EINFÜHRUNG
Das Problem des Bewußtseins
WAS FÜR EINE WELT des augenlosen Sehens und des
hörbaren Schweigens, dieses immaterielle Land der Seele!
Welche mit Worten nicht zu fassenden Wesenheiten, diese
körperlosen Erinnerungen, diese niemandem vorzeigbaren
Träumereien! Und wie intim das Ganze! Eine heimliche Bühne
des sprachlosen Selbstgesprächs und Mitsichzu-Rate-Gehens,
die unsichtbare Arena allen Fühlens, Phantasierens und Fragens,
ein grenzenloser Sammelplatz von Enttäuschungen und
Entdeckungen. Ein ganzes Königreich, wo jeder von uns als
einsamer Alleinherrscher regiert, Zweifel übt, wenn er will,
Macht übt, wenn er kann. Eine versteckte Klause, wo wir die
bewegte Chronik unserer vergangenen und noch möglichen
zukünftigen Taten ausarbeiten können. Ein inneres Universum,
das mehr mein Selbst ist als alles, was mir der Spiegel zeigen
kann. Dieses Bewußtsein, das mein eigenstes, innerstes Selbst
ist, das alles ist und doch ein reines Nichts – was ist es?
Und wie entstand es?
Und warum?
Nur wenige Fragen haben eine längere und verwirrendere
Geschichte als diese: das Problem des Bewußtseins und seiner
Stellung in der Natur. Jahrhunderte des Grübelns und
Experimentierens, Jahrhunderte des Bemühens, sich den
Zusammenhang zwischen zwei vermeintlich selbständig
existierenden Wesenheiten zu erklären, die man in dem einen
Zeitalter Geist und Materie, in dem anderen Subjekt und Objekt,
in wieder einem anderen Seele und Leib nannte; endlose
Darlegungen über Bewußtseinsströme, Bewußtseinszustände,
Bewußtseinsinhalte; präzisierende Begriffsbildungen wie
»Anschauung«, »Sinnesdaten«, »Außenwelt«, »Organgefühle«,
- 7-
»Wahrnehmung«, »Präsentationen« und »Repräsentationen«,
die »Empfindungen«, »Vorstellungen« und »Affekte« der
strukturalistischen
Introspektionstheorie,
die
»Beobachtungsdaten der wissenschaftlichen Positivisten, die
»Felder« der Phänomenologen, die »Apparitionen« eines
Hobbes, die »Phänomene« eines Kant, die »Erscheinungen« der
Idealisten, die »Elemente« eines Mach, die »Phanera« eines
Peirce, die »Kategorialirrtümer« eines Ryle – das alles hat das
Problem des Bewußtseins nicht aus der Welt schaffen können.
Stets bleibt ein Rest und widersetzt sich einer Lösung.
Was sich da so hartnäckig sperrt und nicht verschwinden will,
ist der Unterschied zwischen dem, was die anderen von mir
sehen, und meinem eigenen inneren, von tiefem Gefühl
getragenen Selbstempfinden. Es ist der Unterschied zwischen
dem Ich- und-Du der gemeinsamen Verhaltenswelt und dem
ortlosen Ort der Gedankendinge. Unsere Reflexionen und
Träume, unsere imaginären Gespräche mit imaginären Partnern,
in denen wir – ach wie gut, daß niemand weiß – alles
ausplaudern, unsere Hoffnungen und unseren Kummer, unsere
Zukunft und unsere Vergangenheit entschuldigen, rechtfertigen,
behaupten: Dieses ganze dichte Phantasiegewebe unterscheidet
sich himmelweit von der handfesten, standfesten, greifbaren,
kneifbaren Wirklichkeit mit ihren Bäumen, ihrem Gras, ihren
Tischen, Ozeanen, Händen, Sternen – ja selbst ihren Gehirnen.
Wie ist das möglich? Wie fügen sich diese flüchtigen Gebilde
meines einsamen Erlebens in den Bau der Natur, der diese stille
Kammer des Sich-Wissens irgendwie in sich schließt?
Das Bewußtsein vom Problem des Bewußtseins ist fast so alt
wie das Bewußtsein selbst. Und jede Epoche hat das Bewußtsein
in Begriffen gefaßt, die ihren eigenen vorherrschenden Themen
und Interessen entsprachen. Im Goldene n Zeitalter
Griechenlands, als man frei umherreiste, während Sklaven die
Arbeit verrichteten, war das Bewußtsein mit der gleichen
Freiheit ausgestattet. So nannte Heraklit es einen unermeßlichen
- 8-
Raum, dessen Grenzen »du im Gehen nicht ausfindig machen
kannst, und ob du jegliche Straße ab schrittest« 1 . Ein
Jahrtausend später verwunderte sich Augustinus inmitten der
höhlenreichen Hügellandschaft um Karthago über »Berg und
Hügel meines Sinnens«, »die abgeschiedenen Räume meines
Gedächtnisses, die vielen weitläufigen Hallen, auf wunderbare
Weise gefüllt mit unübersehbaren Vorräten«. 2 Man beachte, wie
die jeweils wahrgenommene Außenwelt zur Metapher für die
Innenwelt wird.
Die erste Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts war eine Zeit
der großen geologischen Entdeckungen: Man lernte, die
Schichtung der Erdkruste als eine Aufzeichnung der
Erdgeschichte zu entziffern. Und daraufhin verbreitete sich die
Vorstellung vom Bewußtsein als einer Schichtung, in der sich
die Vergangenheit des Individuums abgelagert habe, mit immer
tieferen und tieferen Schichten, die sich schließlich in
unzugänglichem Dunkel verloren. Diese Betonung des
Unbewußten gewann immer mehr an Boden, und um 1875
vertraten dann die meisten Psychologen die Ansicht, daß das
Seelenleben nur zu einem geringen Teil aus bewußten
Prozessen, in der Hauptsache dagegen aus unbewußten
Wahrnehmungen, unbewußten Vorstellungen und unbewußten
Urteilen bestehe. 3
Es war die Chemie, die um die Mitte des neunzehnten
Jahrhunderts die Geologie als Modewissenschaft ablöste, und
von James Mill bis hin zu Wundt und seinen Schülern (wie
beispielsweise Titchener) verstand man das Bewußtsein als
komplexe Verbindung, die im Labor säuberlich in ihre Elemente
– Elemente wie »Sinnesempfindung« oder »Gefühl« zerlegt
werden konnte.
1
Diels, Fr. 45.
Bekenntnisse 9, 4; 10, 40.
3
Diese Feststellung trifft G. H. Lewes, The Physical Basis of Mind, London:
Trübner 1877, S.365.
2
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Und als sich gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts die
Dampflokomotiven zischend und schnaubend in das
Erscheinungsbild des Alltags schoben, eroberten sie sich damit
zugleich ihren Platz im Bewußtsein vom Bewußtsein: Das
Unbewußte wurde jetzt zu einem Kessel vo ll brodelnder
Energien, die nach Abfuhr verlangten und, wenn sie unterdrückt
(»verdrängt«) wurden, sich in neurotischem Verhalten oder in
verstiegenen Träumen mit ihrem Taumel versteckter
Wunscherfüllungen gewaltsam ein Ventil schufen.
Über solche Metaphern ist nicht viel zu sagen, man kann nur
feststellen, daß es eben – Metaphern sind.
Ursprünglich lief diese Suche nach dem Wesen des
Bewußtseins unter der Bezeichnung Leib-Seele-Problem und
brachte eine erdrückende Menge philosophischen Tiefsinns
hervor. Mit dem Aufkommen der Evolutionstheorie begann sie
sich jedoch zu einer wissenschaftsgemäßeren Problemstellung
zu mausern. Heute ist daraus die Frage nach dem Ursprung des
Geistes oder, spezifischer, des Bewußtseins im Ganzen des
Evolutionsprozesses geworden. Wo kann sich dieses subjektive
Erleben, das mir in der Selbstbeobachtung zugänglich wird,
dieser ständige Begleiter der Unmasse meiner Assoziationen,
Hoffnungen,
Befürchtungen,
Affekte,
Erkenntnisse,
Farbeindrücke,
Geruchsempfindungen,
Zahnschmerzen,
Schauder, Nervenkitzel, Lust- und Unlustgefühle und Begierden
– wo und wie könnte sich dieses wunderbar gewebte Innenleben
im Lauf der Evolution entwickelt haben? Wie können wir von
bloßer Materie zu dieser Innerlichkeit gelangt sein? Und wenn
dem so ist, wann?
Dieses Problem nimmt eine Zentralstellung im Denken des
zwanzigsten Jahrhunderts ein. Und es lohnt sich, eine kurze
Musterung der bisher vorgeschlagenen Lösungen vorzunehmen.
Auf acht von ihnen, die ich für die wichtigsten halte, werde ich
im folgenden eingehen.
Bewußtsein als Eigenschaft der Materie
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Die unter sämtlichen in Frage kommenden Möglichkeiten
umfassendste Lösung spricht vor allem den Physiker an. Ihr
zufolge liegt hinter dem, was in der Selbstbeobachtung als
Abfolge subjektiver Zustände ersche int, eine kontinuierliche
Entwicklungsreihe,
die
sich
durch
die
gesamte
Stammesgeschichte hindurch und weiter bis hin zu einer
fundamentalen Eigenschaft der in Wechselwirkung stehenden
Materie erstreckt. Das Verhältnis des Bewußtseins zu seinem
Gegenstand unterscheidet sich im Prinzip nicht von dem
Verhältnis eines Baumes zu dem Boden, in dem er wurzelt, und
auch nicht von dem Gravitationsverhältnis zwischen zwei
Himmelskörpern. Dies war im ersten Viertel unseres
Jahrhunderts die vorherrschende Meinung. Was bei Alexander
compresence (etwa »Mit-Sein«) und bei Whitehead prehension
(nichtreflexives Erfassen) hieß, wurde zur Ausgangsbasis einer
monistischen Lehre, die sich in der sogenannten neorealistischen
Schule zu voller Blüte entfaltete. Lasse ich beispielsweise dieses
Stück Kreide auf das Katheder vor mir fallen, dann
unterscheidet sich die Wechselwirkung zwischen der Kreide und
dem Katheder nur in ihrem Komplexitätsgrad von den
Wahrnehmungen und Erkenntnissen meines Seelenlebens.
Kreide »erkennt« das Katheder, und ebenso »erkennt« das
Katheder die Kreide. Eben deshalb endet der Weg der Kreide
auf dem Katheder.
Zwar ist dies gewissermaßen nur die Karikatur einer sehr
subtil ausgearbeiteten Lehrmeinung, nichtsdestoweniger zeigt
sich darin bereits, daß diese bemühte Theorie eine ganz falsche
Frage beantwortet. Nicht die Wechselwirkung zwischen mir und
meiner Umwelt, sondern die spezielle Erlebnisweise in der
Selbstbeobachtung war und bleibt zu erklären. Die
Suggestivkraft jener neorealistischen Lehre ist im Grunde nur
aus ihrem historischen Kontext heraus zu begreifen, aus dem
Zusammenhang einer Zeit, in welcher die aufsehenerregenden
Fortschritte der Quantenphysik in aller Munde waren. Die
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Undurchdringlichkeit der Materie löste sich auf in rein
mathematische Verhältnisse im Raum, und dieser Sachverhalt
schien vergleichbar mit jener unkörperlichen Beziehung
zwischen einander wechselseitig bewußten Individuen.
Bewußtsein als Eigenschaft des Protoplasmas
Bewußtsein eignet nicht der Materie als solcher – so die
zweitumfassendste Lösung nach der vorigen –, sondern ist
vielmehr eine Grundeigenschaft aller lebenden Wesen. Zunächst
ist es nichts weiter als die Reizempfänglichkeit der kleinsten
Einzeller, die dann auf dem Weg über die Hohltiere, die
Protochordaten, die Fische, die Amphibien, die Reptilien, die
Säuger bis hin zum Menschen eine kontinuierliche, grandiose
Entwicklung durchläuft.
Für viele Naturwissenschaftler des neunzehnten und
zwanzigsten Jahrhunderts – unter ihnen Darwin und E. B.
Titchener schien diese These über jeden Zweifel erhaben, was
dann im ersten Viertel unseres Jahrhunderts den Anstoß für eine
Reihe ganz ausgezeichneter empirischer Untersuchungen an
niederen Lebewesen gab. Die Jagd nach rudimentären
Bewußtseinsformen war eröffnet. Bücher mit Titeln wie »Die
Tierseele« oder »Das Seelenleben der Mikroorganismen«
wurden ebenso eifrig geschrieben wie gelesen. 4 Und jeder, der
schon einmal Amöben bei der Nahrungssuche oder ihre
Reaktion
auf
die
unterschiedlichsten
Reize
oder
Pantoffeltierchen beim Umgehe n von Hindernissen oder bei der
Konjugation beobachtet hat, kennt jene nahezu leidenschaftliche
Versuchung, derartige Verhaltensformen nach menschlichem
Muster zu begreifen.
Und das bringt uns zu einem sehr wichtigen Punkt des
4
Margaret Floy Washburn (eine Titchener-Schülerin), The Animal Mind;
Alfred Binet, The Psychic Life of Micro-Organisms. Der eigentliche
Klassiker auf dem Gebiet der niederen Tiere ist H. S. Jennings, Behavior of
Lower Organisms, New York: Macmillan 1906.
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Problems zu unserem Mit-Fühlen, unserer »Identifikation« mit
fremden Lebewesen. Gleichgültig, wie wir den Sachverhalt
letztendlich bewerten mögen: es gehört jedenfalls zu unserem
Bewußtsein mit hinzu, daß wir uns in ein fremdes Bewußtsein
»hineinversetzen«, uns mit Bekannten und Verwandten so weit
identifizieren können, um eine Vorstellung davon zu haben, was
sie gerade denken oder fühlen. Und wenn nun irgendein
Lebewesen sich so verhält, wie wir selbst in vergleichbarer Lage
es auch tun würden, dann gehört schon ein besonderes Maß
intellektueller Disziplin dazu, unsere gut eingespielte, aber in
diesem Fall durch nichts gerechtfertigte Einfühlungs- und
Identifikationsbereitschaft zu unterdrücken. Daß wir Protozoen
ein Bewußtsein zuschreiben, liegt also einfach daran, daß wir
uns einer gewohnheitsmäßigen, aber unangebrachten
Identifikation überlassen. Daß Protozoen sich so verhalten, wie
sie sich verhalten, liegt einzig und allein in ihrer Körperchemie
und nicht in irgendwelchen introspektivpsychischen Fähigkeiten
begründet.
Selbst im Fall von Lebewesen, die mit einem synaptischen
Nervensystem ausgestattet sind, gründet das Bewußtsein, das
wir in ihrem Verhalten gern erkennen möchten, in uns selbst und
nicht in den beobachteten Tatsachen. Die meisten Menschen
neigen dazu, Mitgefühl mit einem sich windenden Wurm zu
haben. Aber jeder Junge, der schon einmal Köder für seine
Angel zubereitet hat, weiß, daß das Entzweigeschnittenwerden
dem vorderen Ende des Wurms, in dem das primitive Gehirn
sitzt, offenbar weniger ausmacht als dem hinteren, das sich »in
Schmerzen« krümmt. 5 Würde der Wurm jedoch Schmerzen
5
Da ein Regenwurm sich beim Angefaßtwerden einfach aufgrund des
Berührungsreizes krümmt, führt man das Experiment (mit einer Rasierklinge)
am besten an, einem Exemplar durch, das man über harten Untergrund oder
ein Brett kriechen läßt. Zweifler oder Zartbesaitete können ihre Skrupel
damit beschwichtigen, daß sie den Wurmbestand (und damit den Bestand an
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empfinden wie wir, dann bestimmt in dem Teil, wo das Gehirn
sitzt. Die Schmerzen des hinteren Endes sind unsere eigenen
Schmerzen, nicht die des Wurms; das Sich-Krümmen ist ein
mechanisches Entladungsphänomen: Die motorischen Nerven
im hinteren Ende, durch den Schnitt von ihrer normalen
Hemmung durch das Kopfganglion befreit, feuern jetzt Salven
von Bewegungsimpulsen ab.
Bewußtsein als Lernfähigkeit
Wer meint, Bewußtsein bereits auf der Ebene des
Protoplasmas ansetzen zu dürfen, wirft damit natürlich die Frage
auf, nach welchen Kriterien überhaupt die Rede sein kann von
Bewußtsein. Diese Frage führt weiter zur dritten Lösung: Der
Ursprung des Bewußtseins liegt nicht in der Materie und nicht in
den Anfängen des tierischen Lebens, sondern in einer späteren
Etappe des Evolutionsprozesses. Für beinahe jedermann, der
praktische Forschung auf diesem Gebiet betrieb, galt es als
ausgemacht, daß die Frage, wann und wo im Rahmen der
Evolution das Bewußtsein entstanden sei, mit der Frage nach
dem Auftauchen des assoziativen Gedächtnisses oder, mit
anderen Worten, der Lernfähigkeit zusammenfällt. Wenn ein
Lebewesen imstande ist, je nach Maßgabe seiner Erfahrungen
sein Verhalten zu ändern, muß es Erfahrungen machen können,
ergo Bewußtsein besitzen. Um hinter die Evolution des
Bewußtseins zu kommen, braucht man sich also nur an die
Evolution der Lernfähigkeit zu halten.
In der Tat begann ich selbst meine Suche nach dem Ursprung
des Bewußtseins mit dieser Devise. Mein erstes Experiment
bestand in dem jugendlich-optimistischen Versuch, einer
besonders strapazierfähigen Mimose Signallernen (in anderer
Rotkehlchen) vermehren helfen, da beide Enden des Wurms sich
regenerieren.
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Ausdrucksweise: einen bedingten Reflex) beizubringen. Das
Signal war ein Lichtblitz, der vorläufig unbedingte Reflex das
Absenken eines Blattes, ausgelöst durch einen stets sorgfältig
bemessenen Berührungsreiz am Blattansatz. Nachdem ich sie
über tausendmal simultan dem Licht und dem Berührungsreiz
ausgesetzt hatte, war meine geduldige Pflanze noch so dumm
wie zuvor. Sie hatte kein Bewußtsein.
Nach diesem vorhersehbaren Fehlschlag wandte ich mich den
Einzellern zu und ließ im Rahmen einer sehr subtilen
Versuchsanordnung Pantoffeltierchen jeweils einzeln ein TLabyrinth durchwandern, das auf einer wachsüberzogenen
schwarzen Bakelitplatte eingeritzt war; ein Tier, das die falsche
Richtung einschlug, wurde mittels elektrischer Schläge bestraft
und um seine Achse gedreht. Wenn Pantoffeltierchen lernfähig
waren, dann mußten sie meiner Überzeugung nach Bewußtsein
besitzen. Überdies war ich äußerst gespannt zu beobachten, was
mit dem erlernten Wissen (und dem Bewußtsein) bei der
Teilung der Zelle geschehen würde. Zaghafte Andeutungen
eines positiven Ergebnisses waren nach der Verdoppelung
jedesmal wieder verschwunden. Nach weiteren Fehlschlägen
meines Bemühens, auf den untersten Stufen des Tierreichs
Lernfähigkeit zu entdecken, ging ich zu den Arten mit einem
synaptischen Nervensystem zu Plattwürmern, Fischen und
Reptilien über (die sich in der Tat als lernfähig erwiesen):
immer in der naiven Annahme, der grandiosen Evolution des
Bewußtseins beizuwohnen. 6
Lächerlich! Zu meiner eigenen Beschämung muß ich
gestehen, daß es noch Jahre dauerte, bis mir klar wurde, daß
6
Die neueste Darstellung des wichtigen, aber mit schwierigen
Methodenfragen verknüpften Problems der Evolution des Lernens gibt E. M.
Bitterman, The Comparative Analysis of Learning (Thorndyke Centenary
Address), Science, Jg. 1975, Nr. 188, S. 699-709. Vgl. weiterhin R. A. Hinde,
Animal Behavior, 2. Aufl., New York: McGraw-Hill 1970, insbes. S. 658663.
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diese Annahme einfach keinen Sinn ergibt. Der Gegenstand
unserer Selbstbeobachtung ist nicht ein Bündel von
Lernprozessen und schon gar nicht von Lernprozessen, wie sie
sich durch Konditionierung oder in T-Labyrinthen ergeben.
Aber warum haben dann so viele Leuchten der Wissenschaft
Bewußtsein mit Lernfähigkeit gleichgesetzt? Und warum war
ich selbst so begriffsstutzig gewesen, in ihre Fußstapfen zu
treten?
Der Grund bestand in der Einwirkung einer Art gewaltiger
historischer Neurose, Solcher Neurosen gibt es in der
Psychologie viele. Und mit ein Grund, warum die Kenntnis der
Wissenschaftsgeschichte dem Psychologen unentbehrlich ist, ist
der, daß sie den einzigen Weg aufzeigt, auf dem man aus einer
derartigen Geistesverwirrung hinausgelangt und sie überwindet.
Die im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert unter dem
Namen »Assoziationismus« bekannt gewordene psychologische
Schule hat ihre Lehren so suggestiv darzustellen vermocht und
zählte so viele angesehene Koryphäen zu ihren Vertretern, daß
der Grundirrtum dieser Schule sich unbemerkt ins allgemeine
Denken und den allgemeinen Sprachgebrauch hat einschleichen
können: ein Irrtum, der (bis auf den heutigen Tag) darin besteht,
sich das Bewußtsein als einen virtuellen Raum zu denken,
bevölkert von Elementen, die Empfindungen oder Vorstellungen
heißen, und zugleich anzunehmen, das Lernen und überhaupt
das ganze Seelenleben sei nichts weiter als die »Assoziation«
dieser Elemente aufgrund ihrer Ähnlichkeit oder ihres
außenweltbedingten gleichzeitigen Auftretens. Dabei werden
»Lernen« und »Bewußtsein« in einen Topf geworfen und
vermengt mit dem verschwommensten aller verschwommenen
Begriffe – »Erfahrung«. Diese Begriffsverwirrung nicht weniger
als die enorme Bedeutung, die man in der ersten Hälfte des
zwanzigsten Jahrhunderts dem tierischen Lernen beimaß, lauerte
unerkannt auch hinter meinen ersten Scharmützeln mit dem
Bewußtseinsproblem. Mittlerweile hat sich absolut zweifelsfrei
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erwiesen, daß die Fragen, wo im Verlauf der Evolution der
Ursprung der Lernfähigkeit und wo der Ursprung des
Bewußtseins anzusetzen sei, nicht das geringste miteinander zu
tun haben. Diese Behauptung werde ich im folgenden Kapitel
ausführlicher belegen.
Bewußtsein als Folge einer metaphysischen Intervention
Alle bisher erwähnten Theorien gehen von der Annahme aus,
das Bewußtsein habe sich auf biologischem Wege, durch bloße
natürliche Zuchtwahl, entwickelt. Es gibt jedoch auch die
Gegenposition dazu, welche die Berechtigung einer solchen
Annahme grundsätzlich bestreitet.
Und so wird dabei argumentiert: Läßt sich das Bewußtsein,
wie wir es kennen, läßt sich dieser gewaltige Einfluß, den Ideen,
Prinzipien, Überzeugungen in unserem Leben und Handeln
ausüben, im Ernst bis zu tierischen Verhaltensformen
zurückverfolgen? Unter allen natürlichen Arten sind wir
Menschen die einzige – die absolut einzige! –, in der die
Individuen sich um ein Verständnis ihrer selbst und der Welt
bemühen. Unsere Ideen machen uns zu Rebellen oder Patrioten
oder Märtyrern. Wir bauen Kathedralen und Computer, bringen
Gedichte und Tensorgleichungen zu Papier, spielen Schach und
Streichquartette, schicken Raumschiffe zu fremden Planeten und
lauschen den Signalen aus fremden Galaxien – was hat das alles
mit Ratten in Labyrinthen oder den Drohgebärden von Pavianen
zu tun? Die Darwinsche Kontinuitätshypothese für die Evolution
des Geistes ist ein mehr als fragwürdiges Totem
stammesgeschichtlicher Mythenbildung. Der Hunger nach
Gewißheit, der den Wissenschaftler, und der Durst nach
Schönheit, der den Künstler peinigt, der süße Stachel der
Gerechtigkeit, der den Rebellen dazu treibt, den
Annehmlichkeiten des Lebens zu entsagen, oder die
Begeisterung, mit der wir von echten Beispielen des Mutes und
der Tapferkeit, heute durchaus nicht mehr selbstverständlichen
- 17-
Tugenden, vernehmen oder vom gelassenen Ertragen eines
unheilbaren Leidens – kann man diese Dinge im Ernst als
Eigenschaften von Materie begreifen? Oder auch nur als
kontinuierliche Fortsetzung der Stammesgeschichte tumber,
sprachloser Affen? 7
Die Kluft, die sich hier zeigt, kann einem wirklich den
Verstand verschlagen. Zwar gibt es zwischen dem Menschen
und anderen Säugern in Bezug auf das Gefühlsleben
staunenswerte Übereinstimmungen. Doch wer sich über Gebühr
bei derlei Ähnlichkeiten aufhält, vergißt darüber ganz und gar,
daß zugleich auch jene trennende Kluft existiert. Das
menschliche Geistesleben – Kultur, Geschichte, Religion,
Wissenschaft – unterscheidet sich von allem, was im uns
bekannten Universum sonst noch vorkommt. Das ist eine
unumstößliche Tatsache. Es ist, als habe das Lebendige
insgesamt eine Evolution bis zu einem gewissen Punkt hinter
sich gebracht, um dann mit dem Menschen im rechten Winkel
abzubiegen und mit explosionsartiger Wucht in eine neue
Richtung zu expandieren.
Angesichts des nicht wegzudiskutierenden Bruchs zwischen
der Welt der Affen und der Welt des mit Sprache, Kultur,
Sittlichkeit, Verstand begabten Menschen sahen viele
Wissenschaftler keinen anderen Weg zur Lösung dieses Rätsels
als die Rückkehr zur metaphysischen Spekulation. Völlig
undenkbar, daß sich die Innenwelt des Bewußtseins auf
irgendeine Weise aus bloßen Molekül- und Zeltansammlungen
hätte bilden können. Bei der Evolution des Menschen muß mehr
mitgespielt haben als lediglich Materie, Zufall und Überleben.
Man muß auf ein Etwas zurückgreifen, das außerhalb dieses
geschlossenen Systems liegt, um eine Erklärung für etwas so
Andersartiges wie das Bewußtsein zu finden.
7
Den Nachweis dieser Kontinuität wollte Darwin mit
zweitwichtigsten Werk, der Abstammung des Menschen, erbringen.
- 18-
seinem
Diese Denkweise entstand in genauer zeitlicher Parallele zur
modernen Evolutionstheorie und fand ihren Niederschlag vor
allem in den Arbeiten von Alfred Russel Wallace, einem
Mitbegründer der Lehre von der natürlichen Zuchtwahl.
Nachdem Darwin und Wallace in ein und demselben Jahr (1858)
unabhängig voneinander jene Theorie veröffentlicht hatten,
verfing sich der eine wie der andere – wie Laokoon beim Kampf
mit den Seeschlangen – in den Schlingungen und Windungen
des Problems der menschlichen Evolution mit seiner
erdrückenden Schwierigkeit, die Existenz des Bewußtseins zu
erklären. Doch während Darwin das Problem blauäugig unter
den Teppich fegte und schließlich in der gesamten Evolution nur
kontinuierliche Übergänge meinte erkennen zu dürfen,
vermochte Wallace sich dem nicht anzuschließen. Für ihn waren
die Brüche erschreckend und nicht wegzudiskutieren.
Insbesondere die Bewußtseinsabhängigen Fähigkeiten des
Menschen »konnten sich unmöglich aufgrund derselben
Gesetzmäßigkeiten herausgebildet haben, welche der
fortschreitenden Entwicklung der organischen Welt im
allgemeinen wie auch des menschlichen Organismus zugrunde
liegen«. 8 Nach Wallaces Überzeugung ließen die beobachteten
Fakten erkennen, daß eine metaphysische Kraft an drei
verschiedenen Punkten lenkend in den Gang der Evolution
eingegriffen hatte: erstmals bei der Entstehung des Lebens, dann
wieder bei der Entstehung des Bewußtseins und zuletzt bei der
Entstehung der Zivilisation. Beharrlich widmete Wallace seine
letzten Lebensjahre dem vergeblichen Bemühen, als Teilnehmer
an spiritistischen Sitzungen den endgültigen Beweis derartiger
metaphysischer Eingriffe zu finden; dies ist mit ein Grund,
warum sein Name im Zusammenhang mit der Entdeckung der
Evolution durch natürliche Zuchtwahl niemals so bekannt wurde
8
A. R. Wallace, Darwinism: An Exposition of the Theory of Natural
Selection, London: Macmillan 1889, S. 475; vgl. ders., Contributions to the
Theory of Natural Selection, Kap. 10.
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wie derjenige Darwins. Solche Sachen waren im offiziellen
Wissenschaftsbetrieb verpönt. Wer das Bewußtsein aus einer
metaphysischen Intervention ableiten wollte, brach die
Spielregeln der Naturwissenschaft. Und das Problem bestand ja
in
der
Tat
auch
darin,
das
Bewußtsein
auf
naturwissenschaftlicher und nur auf naturwissenschaftlicher
Grundlage zu erklären.
Die Theorie vom hilflosen Zuschauer
Im Gegenzug zu solchen metaphysischen Spekulationen kam
noch in der Anfangsphase der Evolutionslehre eine verstärkt
materialistische Betrachtungsweise auf, die besser mit dem strikt
verstandenen Gedanken natürlicher Zuchtwahl harmonierte. Zu
ihren Wesenszügen gehörte sogar jener gallige Pessimismus, der
gelege ntlich in seltsamem Bündnis mit beinhartem
Wissenschaftsdenken auftritt. Die Vertreter dieser Lehre
versichern uns, daß die Leistung des Bewußtseins gleich Null
sei und mit Fug und Recht auch gar nicht anders sein könne.
Selbst heute noch sind viele hartgesottene Empiriker der
Meinung Herbert Spencers, derzufolge diese Abwertung des
Bewußtseins die einzig logische Konsequenz aus der strikt
verstandenen Evolutionstheorie ist. Die Lebewesen durchlaufen
die Evolution – die Nervensysteme und ihre mechanischen
Reflexe werden immer komplexer –, auf einer bestimmten
Komplexitätsstufe tritt das Bewußtsein auf und beginnt seine
nichtige Rolle als hilfloser Zeuge kosmischer Ereignisse zu
spielen.
Unsere Handlängen sind bis ins letzte durch das
Leitungsschema in unserem Gehirn und dessen Reflexe auf
Außenreize bestimmt. Das Bewußtsein ist nichts weiter als die
von den Leitungen abgestrahlte Hitze – eine nebensächliche
Begleiterscheinung (»Epiphänomen«). Bewußtseinsvorgänge
sind, nach einer Formulierung von Hodgson, bloß der
Farbauftrag auf einem Mosaik, dessen Zusammenhalt durch die
- 20-
Steine und nicht durch die Bemalung gewährleistet wird. 9 Oder,
wie Huxley in einem berühmten Aufsatz behauptet: »Wir sind
Automaten mit Bewußtsein.« 10 Das Bewußtsein vermag die
Funktionsmechanismen des Körpers und dessen Verhalten
ebensowenig zu beeinflussen, wie etwa das Signalhorn einer
Lokomotive die Arbeit der Maschinen oder den Zuglauf zu
beeinflussen vermag. Mag das Horn noch so sehr tuten – die
Schienenstränge haben längst entschieden, wohin die Reise
gehen soll. Das Bewußtsein ist die Melodie, die von der Harfe
aufklingt, aber nicht selbst die Saiten zupfen kann; der Gischt,
der von den aufgewühlten Wellen des Flusses stiebt, doch
dessen Lauf nicht ändert; der Schatten, der den Fußgänger
treulich auf Schritt und Tritt begleitet, aber nicht den mindesten
Einfluß auf die Wegrichtung hat.
Die einleuchtendste Kritik dieser Theorie vom Automaten mit
Bewußtsein
lieferte
William
James. 11
Seine
Argumentationsweise ähnelt ein wenig dem Vorgehen Samuel
Johnsons, der ja bekanntlich den philosophischen Idealismus
damit abtat, daß er einen Stein fortkickte und ausrief: »So sieht
meine Widerlegung aus!« Es ist einfach unvorstellbar, daß das
Bewußtsein mit einem Geschäft, um das es sich so
angelegentlich kümmert, gar nichts zu tun haben sollte. Wäre
das Bewußtsein nur der kraftlose Schatten des Handelns, wieso
ist es dann um so intensiver, je mehr das Handeln ruht? Wieso
sind wir uns unserer Handlungen um so weniger bewußt, je
gewohnheitsmäßiger sie sind? Soviel steht jedenfalls fest: Für
diese Schaukelbeziehung zwischen dem Bewußtsein und dem
9
Shadworth Hodgson, The Theory of Practice, London: Longmans Green
1870, Bd. 1, S. 4 16.
10
Und unsere Willensakte sind lediglich Symbole für Gehirnzustände. Vgl. T.
H. Huxley, Collected Essays, New York: Appleton 1896, Bd. 1, S. 244.
11
William James, Principles of Psychology, New York: Holt 1890, Bd. 1,
Kap. 5; vgl. aber auch William McDougall, Body and Mind, London:
Methuen 1911, Kap. 11 und 12.
- 21-
aktiven Handeln eine Erklärung zu bieten gehört zu den
unerläßlichen Aufgaben jedweder Bewußtseinstheorie.
Die »emergente Evolution«
Die Lehre von der »emergenten Evolution« oder »Evolution
durch Emergenz« wurde auf dem Verhandlungsforum deswegen
so freudig begrüßt, weil sie wie gemacht dafür schien, das
Bewußtsein aus seiner mißlichen Lage als bloßer hilfloser
Zuschauer zu erlösen. Des weiteren schien sie die
wissenschaftliche
Erklärung
für
jene
faktischen
Entwicklungssprünge zu enthalten, die das Hauptargument für
die Hypothese von der metaphysischen Intervention gewesen
waren. Auch ich machte, als ich vor Jahren diese Lehre genauer
studierte, die beglückende Erfahrung, wie sich mir in einem
Blitz der Erleuchtung plötzlich ein taufrischer Zusammenhang
enthüllte, der für all meine Fragen – das Problem des
Bewußtseins samt allem, was damit zusammenhängt – eine
wunderbar genaue und sinnvolle Antwort bereitzuhalten schien.
Der Hauptgedanke ist eine Metapher: So wie das Merkmal
»Nässe« nicht vollständig in den Merkmalen »Wasserstoff« und
»Sauerstoff« aufgeht, so hat sich Bewußtsein an einem
bestimmten Punkt des Evolutionsprozesses als neues Merkmal
gebildet, das sich nicht auf seine Strukturkomponenten
reduzieren läßt.
Obzwar dieser einfache Gedanke bereits von John Stuart Mill
und G. H. Lewes vorgetragen wurde, war es Lloyd Morgan, der
mit seinem Buch »Emergent Evolution« (1923) die Lorbeeren
dafür erntete. Das Buch zeichnet ein umfassendes Schema der
Evolution durch Emergenz, die mit entschlossenem Zugriff bis
in den physikalischen Bereich zurückverfolgt wird. Demnach
sind sämtliche Merkmale der Materie durch Neubildung
(»Emergenz«) aus einem nicht näher zu bestimmenden
Vorläufer entstanden. Die Merkmale der komplexen chemischen
- 22-
Verbindungen sind Neubildungen, die beim Zusammentreten
einfacherer Komponenten entstanden. Die spezifischen
Merkmale des Lebendigen sind Neubildungen, die beim
Zusammentreten jener komplexen Moleküle entstanden. Und
das Bewußtsein ist eine Neubildung des Lebendigen. Neue
Strukturen bilden neue Beziehungstypen, denen wiederum
neugebildete Merkmale entsprechen. So ist zugleich in jedem
auftretenden Fall ein Wirkungszusammenhang gegeben
zwischen den Neubildungen und den Systemen, auf denen jene
basieren. In der Tat verhält es sich so, daß der die neue, höhere
Entwicklungsebene ausmachende Beziehungstyp die für diese
Ebene kennzeichnenden Geschehensabläufe trägt und lenkt.
Das Bewußtsein taucht also in einem bestimmten Stadium
der Evolution als echt Neubildung, auf. Ist es erst einmal da,
lenkt es die Abläufe im Gehirn und wirkt kausal auf das
Verhalten des Körpers ein.
Diese antireduktionistische Theorie löste beim Großteil der
namhafteren
Verhaltensbiologen
und
vergleichenden
Verhaltenswissenschaftler – frustrierte Dualisten allzumal –
einen Freudentaumel aus, der mitunter recht peinliche Form
annahm. Von manchen Biologen wurden sie als
Unabhängigkeitserklärung gegenüber Physik und Chemie
gefeiert.
»Von nun an kann kein Biologe mehr gezwungen werden,
bestimmte Befunde zu unterdrücken, nur weil ihre Bestätigung
durch Beobachtungen im nichtorganischen Bereich noch
aussteht oder von daher gar nicht zu erwarten ist. Die Biologie
ist jetzt auf dem Weg, eine Wissenschaft sui generis zu
werden.« Namhafte Neurologen waren sich einig, daß wir uns
künftig das Bewußtsein nicht mehr so vorstellen müßten, als
führe es einen eifrigen, aber wirkungslosen Schattentanz um die
- 23-
Gehirnprozesse herum auf. 12 Der Ursprung des Bewußtseins
schien auf eine Weise dingfest gemacht zu sein, die es erlaubte,
das Bewußtsein wieder in seine alten – ihm zeitweilig
aberkannten – Thronrechte als Herr scher über das Verhalten
einzusetzen, und die darüber hinaus für die Zukunft weitere,
nicht vorausberechenbare Neubildungen in Aussicht stellte.
Aber war das wirklich so? Wenn das Bewußtsein als
Neubildung in der Evolution aufgetreten ist, dann stellt sich die
Frage: Wann? Und in welcher Spezies? Welche Art von
Nervensystem war dazu erforderlich? Nachdem die erste Freude
über den »theoretischen Durchbruch« abgeklungen war, wurde
man gewahr, daß sich in bezug auf das eigentliche Problem im
Grunde nichts geändert hatte.
Die erwähnten konkreten Fragen waren ohne Antwort
geblieben aber gerade sie sind es, die beantwortet werden
müßten. Problematisch an der »emergenten Evolution« ist nicht
so sehr die Lehre als solche, sondern ihr Rückfall in die alten,
bequemen Denkweisen im Hinblick auf Bewußtsein und
Verhalten; problematisch ist, daß sie einem Freibrief für
nichtssagende Allgemeinheiten gleichkommt.
Aus historischer Sicht ist es interessant zu bemerken, daß der
ganze Freudentaumel, den die Biologen um die »emergente
Evolution« aufführten, zur selben Zeit stattfand, als in der
Psychologie bereits eine gröbere und sehr viel weniger
soignierte Lehre, die sich auf streng empirische Grundsätze
berief, ihren Eroberungsfeldzug angetreten hatte. Eine
Möglichkeit; das Problem des Bewußtseins und seiner Stellung
in der Natur zu lösen, besteht zweifellos darin, die Existenz
eines Bewußtseins überhaupt zu leugnen.
12
Das wörtliche Zitat stammt von H. S. Jennings, das paraphrasierte von C.
Judson Herrick. Beide sind zusammen mit weiteren Stellungnahmen zur
emergenten Evolution – zu finden in: F. Mason, Creation by Evolution,
London: Duckworth 1928, und W. McDougall, Modern Materialism and
Emergent Evolution, New York: Van Nostrand 1929.
- 24-
Der Behaviorismus
Man setze sich einmal hin und versuche sich
bewußtzumachen, was es bedeutet zu sagen, daß es gar kein
Bewußtsein gibt. Eine interessante Übung. Die Geschichte
überliefert uns nicht, ob die ersten Behavioristen sich an diesem
Bravourstück versucht haben. Hingegen überliefert sie uns jede
Menge Belege für den enormen Einfluß, den die Lehre, daß kein
Bewußtsein existiert, auf die Psychologie unseres Jahrhunderts
ausgeübt hat.
Diese Lehre ist der Behaviorismus. Seine Wurzeln reichen
weit zurück in die verstaubte Ideengeschichte bis zu den
sogenannten Epikureern des achtzehnten und früherer
Jahrhunderte; zu den Versuchen, den pflanzlichen Tropfismus
auf die Tierwelt und den Menschen zu extrapolieren; zu
Geistesströmungen wie dem »Objektivismus« und insbesondere
dem »Aktionismus«. Denn in der Schule des »Aktionisten«
Knight Dunlap war es, wo jener brillante, aber respektlose
Tierpsychologe namens John B. Watson heranwuchs, der später
die Begriffsneuprägung »Behaviorismus« kreieren sollte.13
Anfangs ähnelte diese Lehre noch stark der weiter oben bereits
vorgestellten Theorie vom hilflosen Zuschauer: Bewußtsein war
zwar da, aber für das Verhalten der Lebewesen belanglos. Aber
nachdem er einen Weltkrieg mit angesehen hatte und
aufgeputscht war durch ein paar Gegenstimmen, stürmte der
Behaviorismus angriffslustig in die Geistesarena mit der
verächtlichen Behauptung, das Bewußtsein sei rein gar nichts.
13
Ein weniger persönlichkeitsfixiertes Bild von den Anfängen des
Behaviorismus gibt John C. Burnham, On the Origins of Behaviorism,
Journal of the History of the Behavioral Sciences 4/1968, S. 143-151. Eine
ausgezeichnete kritische Würdigung liefert Richard Herrnstein, Introduction
to John B. Watson's Comparative Psychology, Historical Conceptions of
Psychology, hg. von M. Henle, J. Jaynes und J. J. Sullivan, New York:
Springer 1974, S. 98-115.
- 25-
Welch eine verblüffende Lehre! Doch die eigentliche
Überraschung liegt darin, daß sich aus dem, was anfangs wenig
mehr als ein flüchtiger Einfall war, eine Schulrichtung
entwickelte, die ungefähr von 1920 bis 1960 in der Psychologie
den Ton angab. Die äußeren Ursachen für den anhaltenden
Triumph einer so eigenartigen Auffassung sind ebenso
interessant wie vielschichtig. Die Psychologie suchte sich
damals von der Philosophie abzukoppeln, um eine eigenständige
Position innerhalb der akademischen Fächereinteilung zu
erlangen, und sah im Behaviorismus das geeignete Mittel zum
Zweck. Der unmittelbare Gegenspieler des Behaviorismus,
Titcheners Introspektionstheorie, auf einen irreführenden
Vergleich zwischen Bewußtseinsvorgängen und chemischen
Reaktionen gegründet, war ein blasser und kraftloser Gegner.
Der Zusammenbruch des Idealismus im Gefolge des Ersten
Weltkrieges schuf eine revolutionäre Zeitstimmung, die nach
neuen
Denkweisen
heischte.
Die
faszinierenden
Errungenschaften auf dem Gebiet der Physik und der
allgemeinen Technik erschlossen Ziele und Methoden, denen
der Behaviorismus am ehesten zu genügen schien. Die Welt
hatte die Nase voll von subjektiven Gedankengebäuden; sie
mißtraute ihnen und lechzte nach objektiven Fakten. Und in den
USA war »objektive Fakten« gleichbedeutend mit
»pragmatischen Fakten«. Und die lieferte der Behaviorismus auf
dem Gebiet der Psychologie. In ihm fand eine neue Generation
die Berechtigung, all die fadenscheinigen Subtilitäten des
Bewußtseinsproblems (einschließlich der Ursprungsfrage) mit
einer einzigen ungeduldigen Handbewegung vom Tisch zu
fegen: Wir ziehen einen Schlußstrich. Wir fangen noch einmal
ganz von vorn an.
Und in einem Labor nach dem andern führte der neue Ansatz
zum Erfolg. Der ausschlaggebende Faktor dafür war freilich
nicht seine vermeintliche innere Richtigkeit, sondern sein
Programm. Und was war das doch für ein tatkräftig
- 26-
zupackendes, mitreißendes Forschungsprogramm – mit seiner
hochglanzverchromten Verheißung, alles Verhalten lasse sich
auf eine Handvoll Reflexe und die darauf aufgebauten bedingten
Reaktionen zurückführen. Und die Reflexbogenkategorien von
Reiz und Reaktion und Verstärkung ließen sich ohne weiteres
auf die Rätsel des zielgeleiteten Verhaltens übertragen, die
damit gelöst erschienen. Und man brauche nur Ratten
kilometerweit durch Wunderwerke von Labyrinthen laufen zu
lassen, um ganz von selbst das noch schönere Wunderwerk
objektiv richtiger Theorieaussagen zu erhalten. Mit seinem
(feierlich gelobten) Vorsatz, das Denken auf Muskelzuckungen
und die Persönlichkeit auf die Leiden des Kleinen Albert14 zu
reduzieren. – Bei alldem war eine Begeisterung im Spiel, die
man heute kaum noch versteht. Kompliziertheiten würden
einfachen Erklärungen Platz machen, das Dunkel würde dem
Licht weichen, und mit der Philosophie wäre ein für allemal
Schluß.
Für den außenstehenden Beobachter mußte es so aussehen, als
ob diese Revolte gegen das Bewußtsein die traditionellen
Hochburgen des Denkens im Sturm eroberte, um über einer
Universität nach der andern ihr siegreiches Banner flattern zu
lassen. Doch ich als ehemaliges Mitglied ihres stärksten Flügels
gestehe, daß diese Bewegung im Grunde nicht das war, was sie
zu sein vorgab. Außerhalb des Bereichs von Druckerzeugnissen
war der Behaviorismus nichts weiter als die bloße Weigerung,
über das Bewußtsein überhaupt zu sprechen. Kein Mensch
glaubte eigentlich wirklich, daß er selbst kein Bewußtsein habe.
Und es war pure Heuchelei, wenn man wie geschehen – jeden,
der sich weiterhin für Fragen des Bewußtseins interessierte, aus
dem Lehrbetrieb der psychologischen Fakultäten hinausdrängte
und in den Lehrbüchern das leidige Problem vor den Studenten
einfach totschwieg. Der Behaviorismus war im wesentlichen
14
Die bedauernswerte Versuchsperson bei Watsons Experimenten zum
Phänomen der bedingten Angst.
- 27-
eine Methode, keinesfalls die komplette Theorie, die zu sein er
vorgab. Eine Methode zur Austreibung alter Gespenster. Er
veranstaltete in der Psychologie einen großen Hausputz. Aber
jetzt sind die Zimmer gefegt, die Schränke ausgewischt und
gelüftet und wir sind so weit, daß wir das Problem von neuem
angehen können.
Bewußtsein als das retikuläre Aktivierungssystem
Doch bevor wir dies tun, hier noch ein letzter, total anderer
Lösungsansatz, und zwar einer, der mich selbst in letzter Zeit
sehr beschäftigt hat: der Ansatz beim Nervensystem. Wie oft bei
unserer vergeblichen Mühe, die Geheimnisse der Seele zu
lüften, besänftigen wir nicht unsere Fragen mit der Berufung auf
– tatsächliche oder eingebildete – anatomische Sachverhalte und
stellen uns einen Gedanken als ein bestimmtes Neuron, eine
Stimmung als einen bestimmten Neurontransmitter vor! Diese
Versuchung entspringt dem Verdruß über die Unüberprüfbarkeit
und Unbestimmheit sämtlicher bisher genannten Lösungen. Fort
mit diesen Wortklaubereien! Diese esoterischen Denkposen, ja
selbst der Papiertiger Behaviorismus – was sind sie anderes als
Ausflüchte, um gerade jene Sachverhalte, von denen wirklich
die Rede sein müßte, ignorieren zu können? Hier haben wir ein
Lebewesen – meinetwegen ein menschliches – hier, direkt auf
unserem Analysetisch. Wenn es Bewußtsein hat, muß dieses
Bewußtsein hier drinstecken, direkt hier drin, in dem Gehirn vor
uns, und nicht in den philosophischen Nebeln, wie sie
irgendeiner ratlosen Vergangenheit vorschwebten. Und heute
verfügen wir endlich über die technischen Mittel, um das
Nervensystem direkt von Gehirn zu Gehirn, erforschen zu
können. Irgendwo in diesem dreieinhalb Pfund schweren
Klumpen rötlichgrauer Materie muß die Antwort stecken.
Wir brauchen nur herauszufinden, mit welchen Gehirnpartien
das Bewußtsein verknüpft ist, die anatomische Entwicklung
dieser Partien zurückzuverfolgen – und schon haben wir die
- 28-
Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des Bewußtseins.
Wenn wir dann noch das Verhalten heutiger Tierarten
untersuchen, die die verschiedenen Entwicklungsstadien dieser
neurologischen Strukturen repräsentieren, werden wir zu guter
Letzt in der Lage sein, mit wissenschaftlicher, experimentell
gesicherter Genauigkeit zu sagen, was denn das Bewußtsein
eigentlich ist.
Das hört sich in der Tat wie ein hervorragendes
wissenschaftliches Arbeitsprogramm an. Seit Descartes die
Zirbeldrüse (Epiphyse) im Gehirn zum Sitz des Bewußtseins
erklärte und damit bei den Physiologen seiner Zeit auf einhellige
Ablehnung stieß, ist eine eifrige, wenngleich oftmals ein
bißchen oberflächliche Suche nach dem Ort im Gehirn im Gang,
wo das Bewußtsein beheimatet ist. 15 Und das ist auch heute
noch so.
Derzeit aussichtsreichster Kandidat für die Rolle des neuralen
Substrats des Bewußtseins ist einer der wichtigsten
neurologischen Funde unserer Epoche, nämlich die Formatio
reticularis, ein Geflecht winzig kleiner multipolarer
Nervenzellen, das lange unentdeckt im Gehirnstamm geruht
hatte. Es zieht sich vom oberen Ende des Rückenmarks hinauf
bis in den Thalamus und Hypothalamus und erhält kollaterale
Fasern und damit Informationen von allen zentrifugalen und
zentripetalen Leitungsbahnen (d. h. Empfindungs- und
Bewegungsnerven), etwa so, wie eine Abhöranlage die
vorbeilaufenden Nachrichtenleitungen anzapft. Aber das ist
noch nicht alles. Die Formatio reticularis hat auch direkte
Befehlsleitungen zu einem halben Dutzend wichtiger Bereiche
der Großhirnrinde sowie vermutlich zu allen Kernen des
Gehirnstamms, und sie schickt Fasern in das Rückenmark
15
Davon handelt ausführlicher mein Aufsatz: The Problem of Animate
Motion in the Seventeenth Century, Journal of the History of Ideas 31 (1970),
S. 219-234.
- 29-
hinunter, wo sie die peripheren Empfindungs- und
Bewegungssysteme beeinflußt. Die Funktion der Formatio
reticularis ist die eines unspezifischen Aktivierungssystems: Sie
wirkt hemmend und erregend auf einzelne Nervenschaltkreise
und steuert damit den Wachheitszustand des Individuums, was
die Pioniere ihrer Erforschung veranlaßte, sie als »Wachhirn« zu
bezeichnen. 16
Nach ihrer Funktion wird die Formatio reticularis auch
»retikuläres Aktivierungssystem« genannt. Sie ist die Stelle, wo
eine Vollnarkose angreift, indem sie die Nervenzellen
deaktiviert. Wird die Formatio reticularis zerstört, hat das
Bewußtlosigkeit oder Koma zur Folge. Wird sie (im
Tierversuch) bei einem schlafenden Individuum mittels einer
eingepflanzten Elektrode stimuliert, so ist Erwachen das
Ergebnis. Überdies vermag sie die Aktivität der meisten anderen
Gehirnpartien zu regulieren, was nach Maßgabe ihrer eigenen
innerlichen Erregbarkeit und ihres neurochemischen Titers
erfolgt. Es gibt einige Unregelmäßigkeiten im Erscheinungsbild
der Formatio reticularis die zu kompliziert sind, als daß sie
hier erörtert werden könnten. Doch ist keine von ihnen geeignet,
die faszinierende Vorstellung zu erschüttern, dieser Filz von
Kurzneuronen mit Verbindungsfasern zum ganzen Gehirn,
dieses Zwischenstück zwischen den eigentlichen sensorischen
und motorischen Systemen der klassischen Neurologie sei
möglicherweise die seit langem gesuchte Lösung für das ganze
Problem.
***
Betrachten wir jedoch die Evolutionsgeschichte der Formatio
reticularis und fragen uns, ob und wie sie zur Evolution des
16
Vgl. H. W. Magoun, The Waking Brain, Springfield, Illinois: Thomas
1958.
- 30-
Bewußtseins in Parallele gesetzt werden kann, so erhalten wir
von daher nicht die geringste Ermutigung. Denn dieses Gebilde
erweist sich als einer der ältesten Teile des Nervensystems; ja,
man könnte sogar mit guten Gründen die Auffassung vertreten,
es sei der älteste Teil überhaupt, um den herum sich die
differenzierteren, spezifischeren, höheren Systeme angelagert
haben. Das wenige, was wir derzeit über die Evolution der,
Formatio reticularis wissen, scheint nick dafür zu sprechen, daß
das Problem des Bewußtseins und seines Ursprungs durch
weitere Forschungen in dieser Richtung gelöst werden könnte.
Außerdem gibt man sich mit derartigen Überlegungen einer
Täuschung hin – einer Täuschung, die in unserem Bestreben,
psychische Erscheinungen in neuroanatomische und chemische
Sachverhalte zu transponieren, nur allzuoft unerkannt mitspielt.
Dem Nervensystem können wir Erkenntnisse nur über dasjenige
abgewinnen, was wir zuvor im Verhalten erkannt haben. Selbst
wenn wir über einen vollständigen Leitungsplan des
Nervensystems verfügten, wären wir damit immer noch nicht in
der Lage, unsere Ausgangsfrage zu beantworten. Und wüßten
wir auch bis in die kleinste Einzelheit Bescheid über die
Verdrahtung sämtlicher Axone und Dendriten in sämtlichen
Spezies
der
Entwicklungsgeschichte,
mitsamt
allen
Umwertungsstellen und ihren Varianten in den Milliarden von
Synapsen jedes Gehirns, das jemals existiert hat, so könnten wir
dennoch niemals – niemals! – allein anhand unseres Wissens
über ein Gehirn bestimmen, ob dieses Gehirn Bewußtsein wie
das unsere enthält oder nicht. Wir müssen zunächst ganz oben
beginnen, nämlich mit einem Begriff vom Bewußtsein, einem
Begriff von der Introspektion, der Selbstbeobachtung. Erst
müssen wir hier einen sicheren Stand gewonnen haben, ehe wir
zum Nervensystem und seinen Einzelheiten weitergehen
können.
Wir müssen also neu, das heißt ganz von vorn anfangen,
indem wir festzustellen suchen, was denn das eigentlich ist:
- 31-
Bewußtsein. Keine ganz leichte Aufgabe, wie wir bereits
gesehen haben: Die bisherige Geschichte unseres Gegenstands
steht im Zeichen einer unaufhörlichen Verwechslung von
metaphorischen – also indirekten, gleichnishaften – Aussagen
mit – direkten – Objektaussagen. In solcher Lage – wenn sich
etwas bereits gegen eine ansatzweise Klärung sperrt – ist es
immer das klügste, zunächst einmal zu bestimmen, was dieses
Etwas nicht ist. Und das wollen wir im folgenden Kapitel tun.
- 32-
ERSTES BUCH
BEWUßTSEIN, GEIST, GEHIRN UND
SEELE
- 33-
ERSTES KAPITEL
Das Bewußtsein des Bewußtseins
MIT DER FRAGE: Was ist das Bewußtsein? werden wir
uns des Bewußtseins bewußt. Und die meisten Menschen
meinen, eben dies, dieses sich des Bewußtseins Bewußt-Sein,
sei das Bewußtsein. Das ist ein Irrtum.
Sind wir uns unseres Bewußtseins bewußt, so erscheint uns
dieses Bewußtsein als die unmittelbar gewisseste Sache von der
Welt. Wir erkennen in ihm das charakteristische Merkmal
unseres gesamten Wachlebens, unserer Stimmungen und
Affekte,
Gedanken
und
Erinnerungen,
der
Aufmerksamkeitsfunktion und der Willensentscheidungen. Wir
sind ganz sicher, daß es die Grundvoraussetzung der
Begriffsbildung und des Lernens, des Denkens, Urteilens und
Schlußfolgerns ist, und zwar deshalb, weil es unsere Erlebnisse,
so wie sie sich zutragen, unmittelbar aufzeichnet und speichert
und sie dadurch für unsere Selbstbeobachtung und unser
Erkennen beliebig verfügbar macht. Außerdem glauben wir
ziemlich genau zu wissen, daß dieses ganze wunderbare System
von Funktionen und Materialien, das wir Bewußtsein heißen,
irgendwo im Kopf sitzt.
Bei kritischer Überprüfung erweisen sich alle diese
Annahmen als falsch. Es sind Maskeraden, hinter denen das
Bewußtsein seit Jahrhunderten seine wahre Gestalt verbirgt. Es
sind grundsätzliche Mißverständnisse, die bis heute die Lösung
des Problems vom Ursprung des Bewußtseins verhindert haben.
Ziel unseres langen, aber, wie ich hoffe, abenteuerreichen
Weges in diesem ersten Kapitel wird es sein, die Irrigkeit jener
Auffassungen nachzuweisen und zu zeigen, was das Bewußtsein
nicht ist.
- 34-
Die Dimension des Bewußtseins
Betrachten
wir
zunächst
einmal
verschiedene
Verwendungsweisen des Wortes Bewußtsein, die wir von
vornherein als irreführend ausrangieren können. Da ist
beispielsweise die Wendung »das Bewußtsein verlieren« (nach
einem Schlag auf den Kopf). Wollten wir das als zutreffende
Beschreibung des gemeinten Sachverhalts gelten lassen, müßten
wir darauf verzichten, dieses sprachlich zu unterscheiden von
jenen
in
der
klinischen
Literatur
geschilderten
Somnambulzuständen, in denen ein Patient zwar eindeutig
bewußtlos ist, jedoch noch so auf die Umwelt reagiert, wie es
ein k.o. Geschlagener nicht mehr vermag. Deshalb müßte man
von jemandem, der eins auf den Schädel bekommt, eigentlich
sagen, daß er sowohl das Bewußtsein als auch das
Reaktionsvermögen verliert: und das sind zwei Paar Stiefel.
Diese Unterscheidung ist auch für das normale Alltagsleben
von Belang. Wir reagieren ständig auf Dinge, ohne uns ihrer
jeweils bewußt zu sein. Wenn ich, den Rücken gegen einen
Baum gelehnt, auf meinem Rasen sitze, reagiere ich zu jedem
Zeitpunkt auf den Baum und den Boden und meine eigene
Haltung, denn wenn ich mir die Beine vertreten möchte, werde
ich mich zu diesem Zweck vollkommen unbewußt vom Boden
erheben.
Ganz vertieft in die Gedankengänge dieses ersten Kapitels,
bin ich mir nur in den seltensten Augenblicken meiner
Umgebung bewußt. Während ich schreibe, reagiere ich auf den
Bleistift in meiner Hand, da ich ihn ja festhalte, und ich reagiere
auf den Schreibblock, denn ich halte ihn auf den Knien, und auf
seine Linien, denn ich schreibe auf ihnen – doch bewußt bin ich
mir dessen, was ich sagen will, und der Frage, ob ich mich
verständlich ausdrücke oder nicht.
Flattert aus dem Gebüsch in meiner Nähe ein Vogel auf und
fliegt zeternd davon, wende ich vielleicht den Kopf, verfolge ihn
mit den Blicken, lausche ihm nach und wende mich dann wieder
- 35-
dem Blatt vor mir zu, ohne mir des Vorgangs bewußt geworden
zu sein.
Mit anderen Worten: Das Reaktionsvermögen erstreckt sich
auf alle Reize, denen ich in meinem Verhalten auf irgendeine
Weise Rechnung trage; ganz anders dagegen das Bewußtsein,
ein bei weitem weniger allgegenwärtiges Phänomen: der Dinge,
auf die wir reagieren, sind wir uns nur zeitweilig bewußt. Und
während sich das Reaktionsvermögen vollständig in
neurologischen und Verhaltenskategorien beschreiben läßt, ist
dies auf dem gegenwärtigen Stand unseres Wissens in Bezug auf
das Bewußtsein nicht möglich.
Aber der Unterschied geht noch viel tiefer. Ständig sind wir
mit Reaktionsweisen beschäftigt, für die es überhaupt keine
mögliche Bewußtseinsrepräsentanz gibt. Wenn wir einen
Gegenstand anblicken, reagieren unsere Augen und
infolgedessen die Bilder auf unserer Netzhaut mit zwanzig
kleinen Rucken pro Sekunde, und dennoch erblicken wir einen
unverrückt feststehenden Gegenstand, ohne irgendein
Bewußtsein
zu
haben
von
der
Aufeinanderfolge
unterschiedlicher Informationseingaben und ihrer Verarbeitung
zu einem einheitlichen Gegenstand. Das unnormal kleine
Netzhautbild eines Gegenstands wird unter angemessenen
Umständen automatisch als entfernter Gegenstand gesehen; die
Korrektur vollziehen wir unbewußt. Farbkontrasteffekte, HellDunkel-Kontrasteffekte und andere Wahrnehmungskonstanzen
bilden sich allesamt ununterbrochen während jeder Minute
unseres Wachlebens, ja sogar unseres Traumlebens, ohne daß
wir uns dessen im mindesten bewußt wären. Und diese Beispiele
sind nur ein winziger Bruchteil jener Vielzahl von Vorgä ngen,
deren wir uns früheren Definitionen des Bewußtseins zufolge
eigentlich bewußt sein müßten was aber entschieden nicht
zutrifft. Ich denke etwa an Titcheners Definition des
Bewußtseins als »die Summe aller psychischen Vorgänge, die
im gegenwärtigen Augenblick stattfinden«. Von dieser
- 36-
Auffassung sind wir heute meilenweit entfernt.
Aber wir wollen noch einen Schritt weiter gehen. Das
Bewußtsein macht einen sehr viel geringeren Teil unseres
Seelenlebens aus, als uns bewußt ist – weil wir kein Bewußtsein
davon haben, wovon wir kein Bewußtsein haben. Leicht gesagt,
aber schwer einzusehen! Es ist, als verlange man von einer
Taschenlampe, daß sie in einem dunklen Zimmer einen
Gegenstand ausfindig macht, der im Dunkeln bleibt. Weil es
überall hell ist, wohin die Lampe ihren Strahl richtet, müßte sie
daraus schließen, daß der ganze Raum erleuchtet ist. Genauso
kann der Eindruck entstehen, als ob das Bewußtsein das gesamte
Seelenleben durchdringe, auch wenn dies nicht im entferntesten
der Fall ist.
Ein weiterer interessanter Aspekt ist die zeitliche Dimension
des Bewußtseins. Sind wir uns, wenn wir wachen, in jedem
Augenblick bewußt? Wir glauben es. Wir sind sogar absolut
überzeugt davon. Ich schließe die Augen und versuche an nichts
zu denken, trotzdem fließt das Bewußtsein weiter, ein mächtiger
Strom von Inhalten in wechselnden Zuständen, die ich als
Gedanken, Vorstellungen, Erinnerungen, innere Dialoge,
Kummergefühle, Wünsche oder Entschlüsse zu bezeichnen
gelernt habe und die innig verflochten sind mit den in
unablässigem Wechsel vorüberziehenden äußeren Eindrücken,
die mein Bewußtsein selektiv aufnimmt. Nirgendwo ist da eine
Unterbrechung. So stellt es sich für uns jedenfalls dar. Bei
allem, was wir tun, behalten wir das Empfinden, daß unser
ureigenstes Selbst, unser tiefstes Tiefen-Ich letztlich in diesem
kontinuierlichen Fluß besteht, der nur im traumlosen Schlaf
unterbrochen ist, so lautet unsere Erfahrung. Und viele Denker
hielten dieses Erlebniskontinuum für die Ausgangsbasis aller
Philosophie, die eigentliche Heimstatt unbezweifelbarer
Gewißheit. »Cogito, ergo sum.«
Aber wie hat man diese Kontinuität zu deuten? Eine Minute
ist unterteilbar in sechzigtausend Millisekunden: Haben wir
- 37-
während jeder einzelnen Millisekunde Bewußtsein? Sollten Sie
in der Tat dieser Meinung sein, dann unterteilen Sie noch weiter,
in immer kleinere Zeiteinheiten, wobei Sie bitte bedenken
wollen, daß die Impulsfrequenz der Neuronen begrenzt ist. Wir
wissen zwar nicht das mindeste darüber, wie das mit unserem
Empfinden
von
der
Kontinuität
des
Bewußtseins
zusammenhängt, doch wird kaum jemand ernstlich behaupten
wollen, das Bewußtsein schwebe gleichsam wie ein Ätherhauch
durch das Nervensystem und über dem Nervensystem, frei von
aller irdischen Bedingtheit durch neutrale Refraktärperioden.
Sehr viel wahrscheinlicher ist, daß wir im Fall der
augenscheinlichen Kontinuität des Bewußtseins der gleichen
Täuschung erliegen wie bei den meisten anderen Metaphern
vom Bewußtsein. Um es in unserem Gleichnis von der
Taschenlampe auszudrücken: Daß sie brennt, wäre der Lampe
nur bewußt, solange sie brennt. Auch wenn sie zwischendurch
für längere Zeitspannen ausgeknipst war, müßte es der Lampe
selbst (unter sonst gleichen Umständen) so vorkommen, als habe
sie ununterbrochen gebrannt. Die zeitliche Erstreckung unseres
Bewußtseins ist also kürzer, als wir meinen, weil wir uns nicht
bewußt sein können, wann wir uns nicht bewußt sind. Und das
Gefühl von einem reich und ununterbrochen dahinströmenden
Innenleben, einem Strom, der sich bald gemächlich durch
träumerische Stimmungen windet, bald reißend in die
Schluchten jäher Einsichten hinabstürzt, ein andermal wieder
gleichmäßig durch unsere hochgestimmten Tage rauscht –
dieses Gefühl ist nichts anderes als das, was es auf dieser
Buchseite ist: eine Metapher dafür, wie das subjektive
Bewußtsein dem subjektiven Bewußtsein erscheint.
Das läßt sich anders noch besser verdeutlichen. Wenn Sie Ihr
linkes Auge schließen und dann den Blick fest auf den linken
Rand der Buchseite richten, sind Sie sich nicht im mindesten der
großen Leerstelle in Ihrem Gesichtsfeld bewußt, die dabei etwa
zehn Zentimeter rechts vom Blickpunkt auftritt. Doch wenn Sie
- 38-
jetzt – noch immer nur das rechte Auge offen und auf den Rand
geheftet – den Zeigefinger längs einer Zeile von links nach
rechts über die Seite führen, werden Sie beobachten, wie die
Fingerspitze in dieser Leerstelle verschwindet und auf der
anderen Seite wieder auftaucht. Das Phänomen ist auf die im
nasenseitigen Teil der Netzhaut gelegene Leerstelle von zwei
Millimeter Durchmesser zurückzuführen, wo der Gesichtsnerv
in das Augeninnere eintritt und die lichtempfindlichen Elemente
fehlen. 1 Sie wird gewöhnlich »blinder Fleck« genannt.
Interessant an dieser Leerstelle ist aber für uns, daß es sich nicht
so sehr um einen blinden als vielmehr um einen Nicht-Fleck
handelt. Ein Blinder sieht das Dunkel, das ihn einhüllt.2 Sie der
Leser, dagegen sehen keinerlei Lücke in Ihrem Gesichtsfeld,
geschweige denn, daß Sie sich einer solchen im geringsten
bewußt wären. Und genauso, wie die Löcher in der
Raumwahrnehmung, die der blinde Fleck hervorruft, »gestopft«
werden, ohne daß die kleinste Lücke hinterbleibt, schließt sich
das Bewußtsein über seinen Zeitlöchern und gibt sich den
1
Noch besser läßt sich der blinde Fleck mit Hilfe zweier quadratischer
Stücke Papier vors etwa eindreiviertel Zentimeter Seitenlänge darstellen.
Man hält mit jeder Hand ein Papierstück ungefähr 45 Zentimeter weit vor
sich, schließt ein Auge, fixiert mit dem offenen Auge eines der Papierstücke
und bewegt das andere zur Seite des offenen Auges hin vom Blickpunkt weg,
bis es verschwindet.
2
Mit Ausnahme der Fälle, in denen die Ursache der Blindheit im Gehirn
liegt. Beispielsweise sind sich Soldaten mit einer Läsion in einem der
Hinterhauptfelder der Großhirnrinde, durch die ein großer Teil des
Gesichtsfelds zerstört wird, keiner Beeinträchtigung ihres Sehvermögens
bewußt. Geradeaus blickend haben sie die Illusion, alles Sichtbare ebenso
vollständig wahrzunehmen wie jedermann sonst. In ähnlicher Form bediente
sich W. B. Carpenter dieses Beispiels, um zu verdeutlichen, was er unter
unbewußter Gehirntätigkeit verstand. Es war dies vermutlich die erste ernst
zu nehmende Formulierung dieses Gedankens im 19. Jh. Sie findet sich
erstmals in der 4. Aufl. von Carpenters Human Physiology (1852) und weiter
ausgeführt dann in seinen späteren Schriften, etwa in dem einflußreichen
Buch Principles of Mental Physiology, London: Kegan Paul 1874, Buch 2,
Kap. 13.
- 39-
täuschenden Anschein eines Kontinuums.
Die Beispiele dafür, wie gering der Anteil des Bewußtseins an
unserem Alltagsverhalten ist, lassen sich beliebig vermehren;
man findet sie fast allenthalben. Greifen wir ein besonders
schlagendes heraus: das Klavierspiel. Der Klavierspieler
bewältigt die vielfältigsten, verschiedenartigsten Aufgaben alle
zu gleicher Zeit, ohne ein nennenswertes Bewußtsein davon zu
haben: Zwei unterschiedliche Zeichenfolgen von nahezu
hieroglyphischem Aussehen müssen entschlüsselt und die eine
davon der rechten, die andere der linken Hand zugeordnet
werden. Jeder einzelne von zehn Fingern hat unterschiedliche
Aufgaben und damit unterschiedliche motorische Probleme zu
lösen, ohne daß der Spieler dessen gewahr würde, und
ebensowenig wird er gewahr, wie er erhöhte, erniedrigte und
normale Noten in Anschläge der schwarzen und weißen Tasten
übersetzt, das Zeitmaß von ganzen oder Viertel- oder
Sechzehntelnoten einhält, Pausen oder Triller einlegt, die eine
Hand womöglich einen Dreiviertel- und die andere einen
Viervierteltakt spielen läßt, während er zugleich mit den Füßen
einzelne Töne dämpft, bindet oder hält. Und während alledem
befindet sich der Pianist mit dem bewußten Teil seines Selbst
vielleicht im siebten Himmel vor Verzückung über das
künstlerische Ergebnis dieser staunenswerten Geschäftigkeit;
oder er gibt sich der Betrachtung des zarten Geschöpfes hin, das
ihm die Notenblätter umwendet und dem er zu Recht sein
tiefstes Inneres zu offenbaren glaubt. Selbstverständlich spielt
das Bewußtsein in der Regel eine gewisse Rolle beim Erlernen
derart komplizierter Verrichtungen, hingegen nicht unbedingt
auch bei ihrer Ausführung – und nur das ist der Punkt, auf den
es mir hier ankommt.
Bewußtsein ist häufig nicht nur überflüssig – es kann sogar
störend wirken. Würde unser Pianist mitten in einer rasend
gespielten Folge von Arpeggios sich plötzlich seiner Finger
bewußt, müßte er sein Spiel abbrechen. Nijinski hat einmal
- 40-
gesagt, beim Tanzen habe er immer das Gefühl gehabt, als ob er
im Orchestergraben sitze und sich selber zusehe. Er war sich
also nicht jeder einzelnen seiner Bewegungen bewußt, sondern
des Bildes, das er für die anderen abgab. Ein Sprinter ist sich
vielleicht seiner Position im Feld bewußt, mit Sicherheit jedoch
ist ihm nicht bewußt, wie er ein Bein vor das andere setzt, denn
das könnte ihn unter Umständen sogar zum Straucheln bringen.
Und jedermann, der auch nur so laienhaft Tennis spielt wie ich,
kennt den Ingrimm, der einen übermannt, wenn plötzlich der
Aufschlag »beim Teufel ist« und man aus den Doppelfehlern
nicht mehr herauskommt. Je mehr Doppelfehler, desto bewußter
wird man sich seiner Haltung, seiner Bewegungen (und seiner
Laune!), und desto schlimmer wird alles nur noch. 3
Erscheinungen wie die genannten, die im Zusammenhang mit
Hochleistungen auftreten, kann man nicht mit dem Hinweis auf
die körperliche Anspannung wegdiskutieren, denn die gleichen
Erscheinungen in bezug auf das Bewußtsein treten auch bei
weniger anstrengenden Beschäftigungen auf. In diesem
konkreten Augenblick ist Ihnen nicht bewußt, wie Sie dasitzen,
wie Sie Ihre Hände halten, wie schnell Sie lesen, wenngleich Sie
dieser Dinge, im selben Moment, da ich sie erwähnte, gewahr
wurden. Beim Lesen sind Sie sich weder der Buchstaben noch
der Wörter, noch des Satzbaus oder der einzelnen Sätze und der
Zeichensetzung bewußt, sondern nur der Bedeutung von
alledem. Wenn Sie sich einen Vortrag anhören, verschwinden
die artikulierten Laute hinter den Wörtern, die Wörter hinter den
Sätzen und die Sätze hinter dem Gemeinten, der Bedeutung.
Sich als Zuhörer der Elemente der Rede bewußt zu werden heißt
3
Der Schreiber dieser Zeilen übt sich von Zeit zu Zeit in der Kunst des
Improvisierens auf dem Klavier, und er leistet immer dann sein Bestes in der
Erfindung neuer Themen und ihrer Ausführung, wenn er sich des Vorgangs
nicht als einer geforderten Leistung bewußt ist, sondern die Sache in
schlafwandlerischer Manier betreibt: seines Spiels in einer Weise gewahr
werdend, als handle es sich um das Spiel eines anderen Menschen.
- 41-
den Sinn der Rede zunichte machen.
Das gleiche gilt für den Sprecher. Versuchen Sie einmal, mit
einem klaren Bewußtsein Ihrer Artikulation zu sprechen. Sie
werden einfach nicht mehr weitermachen können.
Nicht anders beim Schreiben: Es ist, als ob der Bleistift oder
der Füller oder die Schreibmaschine von sich aus die Wörter
buchstabierte,
Abstand
zwischen
ihnen
ließe,
die
Zeichensetzung wählte, auf die neue Zeile überwechselte,
Wortwiederholungen vermiede und hier eine Frage, dort einen
Ausruf einscha ltete, während wir selbst nichts anderes im Kopf
haben als dies: was wir sagen wollen, und den Menschen, dem
wir es sagen.
Denn beim Sprechen und Schreiben sind wir uns unseres
faktischen Tuns nicht wirklich bewußt. Das Bewußtsein betätigt
sich in der Entscheidung darüber, was wir sagen wollen und wie
und wann es am besten zu sagen ist; aber was dann kommt: die
geordnete und zweckentsprechende Aneinanderreihung von
artikulierten Lauten oder geschriebenen Buchstaben, wird uns
irgendwie abgenommen.
Das Bewußtsein ist kein Abbild unseres Erlebens
Zwar kommt die Metapher von der Seele als einem leeren
Informationsspeicher – etwa nach Art einer unbeschriebenen
Wachstafel schon in den Aristotelischen Schriften vor, aber erst
seit John Locke im siebzehnten Jahrhundert seinerseits die Seele
mit einer »tabula rasa« verglich, ist dieser Speicheraspekt des
Bewußtseins so weit in den Vordergrund gerückt, daß wir es uns
heute als ein übervolles Archiv oder eine Registratur von
Erinnerungsbildern vorstellen, die in der Selbstbeobachtung
wieder hervorgeholt werden können. Wäre Locke ein
Zeitgenosse unseres Jahrhunderts, hätte er wohl zum Bild von
der Kamera statt von der Wachstafel gegriffen. Die
Leitvorstellung ist jedoch in beiden Fällen die gleiche. Und die
- 42-
meisten Menschen würden heute im Brustton der Überzeugung
vorbringen, die Hauptaufgabe des Bewußtseins bestehe darin,
Erlebniseindrücke zu speichern, sie abbildlich festzuhalten wie
eine Kamera, damit sie für spätere Betrachtung zur Verfügung
stehen.
So könnte man meinen. Aber beantworten Sie jetzt die
folgenden Fragen: Schlägt die Tür des Zimmers, in dem Sie sich
befinden, rechts oder links an? Welches ist Ihr zweitlängster
Finger? Ist an der Verkehrsampel das rote oder das grüne Licht
oben? Wie viele Zähne sehen Sie beim Zähneputzen? Falls Sie
Raucher sind: Welche Marken außer Ihrer eigenen befinden sich
in dem Automaten, aus dem Sie gewöhnlich Ihre Zigaretten
ziehen, und in welcher Reihenfolge von links nach rechts sind
sie in den Schächten plaziert? Und falls Sie sich augenblicklich
in einem Zimmer befinden, das Ihnen vertraut ist: Schreiben Sie,
ohne sich umzudrehen, alle Gegenstände auf, die sich an der
Wand hinter Ihrem Rücken befinden, und prüfen Sie dann nach.
Ich schätze, Sie werden staunen, wie wenig Sie sich von jenen
vermeintlichen Bildern, die Sie aus soviel vorangegangenem
aufmerksamem Erleben aufgespeichert haben, bewußt
vergegenwärtigen können. Wenn die vertraute Tür plötzlich
links statt rechts anschlüge, wenn einer Ihrer Finger über Nacht
länger geworden wäre, oder wenn Sie plötzlich einen Zahn mehr
als früher im Gebiß hätten, wenn eine Zigarettenmarke im
Automaten ausgetauscht oder die Lichter an der Ampel versetzt
worden wären, oder wenn das Fenster in Ihrem Rücken einen
neuen Griff bekommen hätte, dann würden Sie das auf Anhieb
erkennen, womit bewiesen wäre, daß Sie auch den früheren
Zustand »kannten«, wenngleich er Ihnen nicht bewußt war. Dies
ist der – für Psychologen altvertraute – Unterschied zwischen
Wiedererkennen und Erinnerung. Was Sie erinnern, das heißt
bewußt ins Gedächtnis zurückrufen können, ist nur ein
Fingerhut voll im Vergleich zu dem gewaltigen Ozean Ihres
faktischen Wissens.
- 43-
Experimente wie das vorige beweisen, daß das bewußte
Gedächtnis nicht, wie manchmal angenommen, im Aufspeichern
von Wahrnehmungsbildern besteht. Nur wenn Sie irgendwann
zuvor einmal bewußt auf die Länge Ihrer Finger oder auf die Tür
geachtet oder Ihre Zähne gezählt haben, können Sie sich an
diese Dinge erinnern, mögen Sie sie sonst auch noch so oft
wahrgenommen haben. Falls Sie nicht irgendwann einmal auf
die Gegenstände an Ihrer Wand besonders geachtet oder nicht
zufällig diese Wand vor kurzem geputzt oder frisch gestrichen
haben, werden Sie staunen, was alles Sie bei Ihrer Aufzählung
ausgelassen haben. Und jetzt überprüfen Sie das Ganze einmal
im Licht Ihrer Selbstbeobachtung. Haben Sie sich nicht in jedem
einzelnen Fall gefragt, was da sein müßte? Waren es nicht
vielmehr Überlegungen und Schlußfolgerungen und nicht so
sehr irgendein Bild, wovon Sie sich dabei leiten ließen? Die
bewußte Rückschau besteht nicht im Wiederauffinden von
Wahrnehmungsbildern, sondern im Wiederauffinden von
Sachverhalten, deren wir uns zu einem früheren Zeitpunkt
einmal bewußt waren, 4 und in der Verarbeitung dieser Elemente
zu einem rationalen oder plausiblen Zusammenhang.
Das gleiche läßt sich noch auf anderem Wege beweisen.
Denken Sie bitte daran zurück, wie Sie das Zimmer betraten, in
dem Sie jetzt sind, und dieses Buch zur Hand nahmen.
Betrachten Sie den Vorgang in der Innenschau, und fragen Sie
sich jetzt: Entsprechen die Wahrnehmungsvorstellungen, die Sie
haben, Ihren tatsächlichen Wahrnehmungsfeldern, während Sie
eintraten, sich hinsetzten und zu lesen begannen? Sehen Sie sich
in Ihrer Vorstellung nicht vielmehr in ganzer Person durch die
Tür treten – das Ganze vielleicht sogar aus der
Vogelperspektive? Sehen Sie sich nicht – und sei es auch nur
verschwommen – Platz nehmen und das Buch ergreifen? Dinge,
die Sie niemals so erlebt haben, außer eben jetzt in Ihrer
4
Vgl. hierzu Robert Woodworth, Psychological Issues, New York: Columbia
University Press 1939, Kap. 7.
- 44-
Introspektion! Und können Sie sich die mit dem Vorgang
verbundenen Geräuschfelder vergegenwärtigen? Oder Ihre
Hautempfindungen, während Sie sich niederließen, das Gewicht
von den Füßen auf den Sitz verlagerten und das Buch
aufschlugen? Selbstverständlich wären Sie in der Lage, wenn
Sie lange genug nachdenken, das rückblickend vorgestellte
Geschehen so zu überarbeiten, daß Sie in der Tat das »sehen«,
was Sie genauso beim Betreten des Zimmers gesehen haben
könnten; daß Sie das Stuhlrücken und das Geräusch beim
Aufschlagen des Buches »hören« und die Hautempfindungen
»spüren«. Ich behaupte jedoch, daß dabei ein starkes Element
von schöpferischer Phantasie – wir werden es unter der
Bezeichnung »Narrativierung« in kurzem noch näher
kennenlernen – am Werk ist, Phantasie, die das Erleben nicht
wiedergibt, wie es tatsächlich war, sondern wie es hätte gewesen
sein können.
Oder vergegenwärtigen Sie sich introspektiv das letzte Mal,
da Sie beim Schwimmen waren: Ich vermute, Sie haben die
Vorstellung von einem Strand oder einem See oder einem
Schwimmbecken, die weitgehend ein Erinnerungsbild ist, doch
wenn Sie jetzt zu Ihren Schwimmerlebnis kommen, holla! – wie
Nijinski sich selber tanzen sieht, sehen Sie sich schwimmen,
etwas, das Sie nie im Leben direkt beobachtet haben! Da ist
verschwindend wenig von Ihren tatsächlichen Empfindungen
während des Schwimmens vorhanden – von der konkreten
Wasserlinie über Ihrem Gesicht, dem Gefühl des Wassers an der
Haut oder davon, wie weit die Augen unter Wasser waren, wenn
Sie den Kopf zum Atemholen drehten. 5 Ähnlich, wenn Sie sich
an das letzte Mal erinnern, da Sie unter freiem Himmel
übernachteten oder beim Eislaufen waren oder – wenn’s gar
nicht anders geht – sich öffentlich blamiert haben: Sie werden
die Dinge nicht mehr so sehen, hören, empfinden, wie Sie sie
5
Das Beispiel ist einem streitbaren Aufsatz von Donald Hebb entnommen:
The Mind's Eye, Psychology Today 2/1961.
- 45-
ursprünglich erlebt haben, sondern sich mehr oder weniger wie
eine fremde Person in einer Szene auftreten sehen. Bei der
erinnernden Rückschau ist also eine gehörige Portion Erfindung
mit im Spiel: Man sieht sich so, wie andere einen sehen. Die
Erinnerung ist das Medium des »So muß es gewesen sein«.
Allerdings bezweifle ich nicht, daß Sie in jedem der genannten
Fälle auch in der Lage wären, sich auf dem Wege der
Schlußfolgerung eine subjektive Sicht des Erlebnisses zu
erfinden und dabei sogar überzeugt zu sein, es handle sich um
ein wirklichkeitsgetreues Erinnerungsbild.
Das Bewußtsein ist nicht notwendig für die Begriffsbildung
Einen weiteren schweren Irrtum in Bezug auf das Bewußtsein
stellt die Meinung dar, es sei der primäre und einzige Ort der
Begriffsbildung. Es ist dies eine altehrwürdige Vorstellung: Wir
machen im Bewußtsein erst eine Reihe konkreter Erfahrungen,
an denen wir dann Gleichförmigkeiten beobachten, die wir zu
einem Begriff verdichten. Von dieser Leitvorstellung ging sogar
eine ganze Menge von Laborversuchen aus, mit denen manche
Psychologen allen Ernstes den Vorgang der Begriffsbildung
darzustellen meinten.
In einer seiner faszinierenden Arbeiten fand Max Müller, ein
Psychologe des vergangenen Jahrhunderts, für das Problem eine
pointierte Formulierung, indem er fragte, wer schon jemals
einen Baum gesehen habe. »Niemand hat jemals einen Baum
gesehen, sondern immer nur diese oder jene Tanne oder Eiche,
diesen oder jenen Apfelbaum ... ›Baum‹ ist also ein Begriff und
kann als solcher nie gesehen oder sonstwie mit den Sinnen
wahrgenommen werden.« 6 Draußen in der Landschaft gebe es
6
Max Müller, The Science of Thought, London: Longmans Green 1887, S.
78 f.
Einen ähnlichen Einwand wie ich erhebt Eugenio Rignano: The Psychology
of Reasoning, New York: Harcourt, Brace 1923, S. 108 f.
- 46-
nur das konkrete Einzelexemplar und nur im Bewußtsein den
Allgemeinbegriff des Baumes.
Hier könnte jetzt eine längere Abhandlung über das
Verhältnis zwischen Begriff und Bewußtsein folgen. Doch
genügt für unsere Zwecke der einfache Nachweis, daß zwischen
beiden kein notwendiger Zusammenhang besteht. Wenn Müller
meint, noch nie habe jemand einen Baum gesehen, dann
verwechselt er sein Wissen über den Gegenstand mit dem
Gegenstand selbst. Jeder von einem kilometerweiten Marsch in
der heißen Sonne erschöpfte Wanderer kann mühelos einen
Baum erblicken. Desgleichen jede Katze, der ein Hund auf den
Fersen ist. Die Biene hat einen Begriff von der Blume als
solcher, der Adler einen Begriff von einer unzugänglichen
Felsnase und die Drossel einen Begriff von einer hochgelegenen
Astgabel im Schutz des grünen Laubes. Begriffe sind nichts
weiter als Klassen von in bezug auf das Verhalten
gleichwertigen Dinge. Wurzelformen der Begrifflichkeit gehen
aller Erfahrung voraus als Fundamentaleigenschaften der
aptischen Strukturen, welche manifestes Verhalten überhaupt
erst möglich machen. 7 Müller hätte besser sagen sollen, daß
niemand sich jemals eines Baumes als solchen bewußt gewesen
ist. Denn das Bewußtsein ist in der Tat nicht nur nicht der
Speicher der Begriffe, sondern es funktioniert in der Regel
gänzlich ohne sie! Denken wir bewußt an den Baum als solchen,
dann sind wir uns in Wirklichkeit eines konkreten
Einzelexemplars – der Tanne, der Eiche oder der Ulme vor
unserem Haus – bewußt und lassen es stellvertretend für den
7
»Aptische Strukturen« sind die neurologische Grundlage aller Fähigkeiten.
Ihre Komponenten sind zum einen ein angeborenes, evolutionär bedingtes
Paradigma und zum anderen der Niederschlag der Erfahrungen im Zuge der
individuellen Entwicklung. Der Begriff der »Befähigungsstruktur« soll
problematische
Ausdrücke
wie
»Instinkt«
u.
ä.
ersetzen.
»Befähigungsstrukturen« sind teils angeborene, teils erworbene –
Organisationsschemata des Gehirns, die den Organismus dazu befähigen,
sich unter bestimmten Bedingungen auf bestimmte Weise zu verhalten.
- 47-
Begriff stehen, so wie wir auch ein Wort für einen Begriff
stehen lassen können. Es ist ja eine der großen Leistungen der
Sprache, daß sie ein Wort an der Stelle eines Begriffes setzt,
und genau das tun wir jedesmal, wenn wir über
Begriffsverhältnisse reden oder schreiben. Und wir können auch
gar nicht anders, weil Begriffe im Bewußtsein normalerweise
überhaupt nicht vorkommen.
Das Bewußtsein ist nicht notwendig für das Lernen
Ein drittes gravierendes Mißverständnis sieht im Bewußtsein
die Grundlage des Lernens. Insbesondere für die nicht gerade
kleine Schar erlauchter Geister, die der führenden
psychologischen Richtung des achtzehnten und neunzehnten
Jahrhunderts, dem Assoziationismus, huldigten, bestand das
Lernen darin, daß sich aufgrund von Ähnlichkeiten, räumlicher
oder zeitlicher Nähe oder irgendeiner sonstigen Beziehung
Zusammenhänge zwischen den Vorstellungen im Bewußtsein
herstellten. Ob Mensch oder Tier, spielte dabei keine Rolle:
Alles Lernen war »aus der Erfahrung gewonnen«, war also die
Verbindung von Vorstellungen im Bewußtsein (wie in der
Einführung bereits erwähnt). Von daher hat sich unserer
Gegenwart, gleichsam als Teil ihres kulturellen Erbes, die fast
allenthalben kritiklos hingenommene Überzeugung eingeprägt,
das Bewußtsein sei eine notwendige Vorbedingung für das
Lernen.
Der Sachverhalt, um den es hier geht, ist einigermaßen
verwickelt. Zudem wird er von den Psychologen
unglücklicherweise
verzerrt
durch
ein
manchmal
haarsträubendes Kauderwelsch, das im Grunde eine unzulässige
Verallgemeinerung
der
Reflexbogenterminologie
des
neunzehnten Jahrhunderts darstellt. Doch für unsere Zwecke
dürfen wir uns die Laboruntersuchungen des Lernens als im
wesentlichen auf drei Haupttypen bezogen vorstellen: auf das
Erlernen
von
Signalen,
Geschicklichkeiten
und
- 48-
Problemlösungen. Diese drei Typen wollen wir jetzt der Reihe
nach besprechen, um uns bei jedem von ihnen die Frage zu
stellen, ob er notwendigerweise Bewußtsein vo raussetzt.
Signallernen
(die
klassische
oder
Pawlowsche
Konditionierung) ist der einfachste Fall. Trifft ein Lichtsignal,
unmittelbar gefolgt von einem Luftstrom aus einem
Gummischlauch, ungefähr zehnmal auf das Auge einer
Versuchsperson, beginnt das Augenlid, das vorher nur auf den
Luftstrom hin geblinzelt hat, auf das Lichtsignal allein zu
blinzeln, und dies mit wachsender Zahl der Versuche immer
regelmäßiger:8 Versuchspersonen, die sich diesem bekannten
Verfahren des Signallernens unterzogen haben, beric hten, daß
dabei keinerlei bewußte Komponente im Spiel ist. In der Tat
verhindert das Einschalten des Bewußtseins – in diesem Fall der
Versuch, das Signallernen durch willentliches Augenzwinkern
zu unterstützen den Lernerfolg.
An alltäglicheren Beispielen läßt sich zeigen, daß sich dieses
einfache, assoziative Lernen vollzieht, ohne dem Betroffenen
bewußt zu werden. Wird ein charakteristisches Musikstück
gespielt, während Sie eine besonders schmackhafte Mahlzeit zu
sich nehmen, wird Ihnen dieses Musikstück, wenn Sie es das
nächste Mal hören, ein bißchen besser gefallen, und Sie werden
sogar mit leicht verstärkter Speichelproduktion reagieren. Das
Musikstück ist zu einem Signal für Lust geworden, die in Ihr
Urteil mit einfließt. Das gleiche Ergebnis läßt sich mit Bildern
erzielen. 9 Versuchspersonen, die sich solchen Tests im Labor
unterzogen hatten, wußten keine Antwort auf die Frage, warum
8
G. A. Kimble, Conditioning as a Fundion of the Time between Conditioned
and Unconditioned Stimuli, Journal of Experimental Psychology 37/ 1947, S.
1-15.
9
Meine Darstellung stützt sich hier auf Gregory Razran, Mind in Evolution,
Boston: Houghton Mifflin 1971, S. 232. Dazu kritisch mit Rücksicht auf das
ganze Problem des nichtintentionalen Lernens: T. A. Ryan, Intentional
Behaviors, New York: Ronald Press 1970, S. 235 f.
- 49-
ihnen die Musik oder die Bilder nach dem Essen besser gefielen.
Es war ihnen nicht bewußt, daß sie etwas gelernt hatten. Das
wirklich Interessante an dir Sache ist jedoch, daß der
Lernprozeß nicht stattfindet, wenn man vorher Bescheid weiß
und sich des Zusammenhangs zwischen dem Essen und der
Musik oder dem Gemälde bewußt ist. Demnach ist es in diesem
Bereich sogar so, daß das Bewußtsein die Lernfähigkeit
vermindert, ganz zu schweigen davon, daß es eine notwendige
Voraussetzung wäre.
Was wir schon bei der Ausübung von Geschicklichkeiten
feststellen konnten, ist auch beim Erlernen von
Geschicklichkeiten der Fall: Das Bewußtsein ähnelt einem
hilflosen Zuschauer, der bei der Sache nicht viel zu tun hat. Zum
Beweis dafür ein einfaches Experiment: Sie nehmen in jede
Hand eine Münze, werfen die beiden Geldstücke über Kreuz in
die Luft und fangen sie jeweils mit der anderen Hand wieder
auf. Wenn man das ein dutzendmal geübt hat; beherrscht man
es. Und während Sie jetzt probieren, fragen Sie sich, ob Sie sich
dessen, was Sie da tun, restlos bewußt sind. Wird das
Bewußtsein dazu überhaupt gebraucht? Meiner Meinung nach
werden Sie feststellen, daß der Lernerfolg sich eher auf
»organischem« als auf bewußtem Weg einstellt. Bewußtsein
führt Sie an die Aufgabe heran und nennt Ihnen das Ziel. Alles
Weitere jedoch – von möglichen Selbstzweifeln neurotischer
Natur abgesehen – läuft so, als würde Ihnen das Lernen von
irgendwoher abgenommen. Im neunzehnten Jahrhundert
allerdings, als man sich die gesamte Verantwortung für das
Verhalten in der Hand des Bewußtseins dachte, hätte man den
Vorgang so erklärt, daß die »guten« und die »schlechten«
Bewegungen bewußt erkannt und daß erstere aus freiem
Entschluß wiederholt und letztere ausgeschieden werden!
Mit dem Erlernen komplizierterer Geschicklichkeiten steht es
in dieser Hinsicht durchaus nicht anders. So wurde
beispielsweise das Schreibmaschineschreiben eingehend
- 50-
untersucht, wobei man zu der allgemein akzeptierten Ansicht
gelangte, »daß sämtliche Verbesserungen und Vereinfachungen
der Technik unbewußt vorgenommen wurden, das heißt, die
Schüler verfielen ganz unabsichtlich darauf. Irgendwann einmal
bemerkten sie, daß sie bestimmte Teile ihrer Arbeit auf neue und
bessere Weise ausführten.« 10
Bei dem Experiment mit den Münzen haben Sie vielleicht
sogar bemerkt, daß eine Beteiligung des Bewußtseins Ihren
Lernerfolg nur behinderte. Diese Feststellung läßt sich im
Zusammenhang mit dem Erlernen von Geschicklichkeiten
immer wieder machen, und wie wir weiter oben schon gesehen
haben, ebenso auch bei ihrer Ausübung. Lassen Sie das Lernen
geschehen, ohne sich seiner übermäßig bewußt zu sein, dann
verläuft alles glatter und wirkungsvoller. Manchmal sogar zu
wirkungsvoll. Denn bei komplizierten Geschicklichkeiten wie
dem Schreibmaschineschreiben kann man sich beispielsweise
angewöhnen, ständig »dei« statt »die« zu tippen. Das
Gegenmittel besteht darin, den Vorgang umzukehren, nämlich
bewußt den Fehler »dei« zu üben, woraufhin der im
Widerspruch zu der gängigen Vorstellung von »Übung macht
den Meister« verschwindet (ein Phänomen, das man als negative
Übung bezeichnet).
Bei
der
Leistungsmessung
des
allgemeinen
Bewegungsgeschicks, wie sie beispielsweise mit »pursuit
rotor«- oder »mirror tracing«-Tests vorgenommen wird,
schneiden die Versuchspersonen, die aufgefordert wurden, sich
ihrer Bewegungen klar bewußt zu bleiben, stets schlechter ab.11
Und im Zuge meiner Umfragen habe ich erfahren, daß
Sporttrainer unbewußt laborgetestete Grundsätze anwenden,
indem sie ihre Schäflein auffordern, nicht soviel mit dem Kopf
10
W. E Book, The Psychology of Skill, New York: Gregg 1925.
H. L. Waskom, An Experimental Analysis of Incentive and Forced
Application and Their Effect upon Learning, Journal of Psychology 2/1936,
S. 393-408.
11
- 51-
zu machen. Die Art und Weise, wie im Zen die Kunst des
Bogenschießens erlernt wird, ist in dieser Hinsicht äußerst
aufschlußreich: Dem Schützen wird geraten, sich nicht als einen
Menschen zu erleben, der die Sehne spannt und losläßt, sondern
das Bewußtsein eigenen Tuns ganz aufzugeben, bis der Bogen
sich von selbst spannt, die Sehne sich von selbst löst und der
Pfeil von selbst sein Ziel sucht.
Lösungslernen (instrumentales Lernen oder operante
Konditionierung) ist ein komplexerer Typ. Im Normalfall spielt
das Bewußtsein eine beträchtliche Rolle bei der Suche nach
einer Lösung für ein Problem oder nach einem Weg zu einem
Ziel, indem es das Problem auf eine bestimmte Weise
aufbereitet. Doch keineswegs ist es unter allen Umständen
notwendig. Es lassen sich Fälle anführen, in denen die
Versuchsperson nicht das mindeste Bewußtsein davon hat,
welches Ziel sie anstrebt, noch auf welchem Lösungsweg sie es
zu erreichen sucht.
Dazu ein weiteres einfaches Experiment: Bitten Sie jemanden,
sich Ihnen gegenüberzusetzen und nach Belieben Wörter
aufzusagen, wie sie ihm einfallen, aber nach jedem Wort eine
Pause von zwei oder drei Sekunden einzulegen, damit Sie es
aufschreiben können. Wenn Sie nach jedem Pluralsubstantiv
(oder Adjektiv oder abstraktem Begriff, oder was immer Sie
wollen) »gut« oder »richtig« oder auch nur »Mhm!« murmeln,
während Sie es niederschreiben, oder dabei lächeln oder das
Pluralwort freundlich wiederholen, wird die Häufigkeit von
Pluralsubstantiven (oder was immer) im weiteren Fortgang des
Experiments erheblich zunehmen. Bemerkenswerterweise
jedoch wird Ihre Versuchsperson gar nicht gewahr, daß sie einen
Lernprozeß durchläuft. 12 Weder ist sie sich bewußt, daß sie noch
12
J. Greenspoon, The Reinforcing Effect of Two Spoken Sounds an the
Frequency of Two Responses, American Journal of Psychology
68/1955,S.409-416.
Allerdings
bestehen
hier
beträchtliche
Meinungsverschiedenheiten, insbesondere (Fortsetzung nächste Seite)
- 52-
mehr ermutigende Bemerkungen aus Ihnen herauszulocken
sucht, noch wie sie diese Aufgabe löst. Tag für Tag, in jeder
Unterhaltung, richten wir uns fortwährend gegenseitig auf diese
Weise ab, aber wir sind uns dessen nie bewußt.
Unbewußtes Lernen ist keineswegs auf das Sprachverhalten
beschränkt. Die Hörer einer Psychologievorlesung wurden
beauftragt, jedem Mädchen auf dem Universitätsgelände, das
Rot trug, Komplimente zu machen. Binnen einer Woche war die
Cafeteria ein Meer von Rot (und Freundlichkeit), und keine der
Damen war sich bewußt, daß sie manipuliert worden war. Die
Hörer einer anderen Vorlesung probierten eine Woche, nachdem
sie mit dem unbewußten Lernen und Abrichten bekannt gemacht
worden waren, ihr neues Wissen an ihrem Professor aus.
Jedesmal, wenn er sich zur rechten Seite des Hörsaals bewegte,
zollten sie ihm gespannteste Aufmerksamkeit und lachten
schallend über seine Witze. Es wird berichtet, daß sie ihn fast
zur Tür hinausdressiert hätten, während ihm selbst nicht das
geringste auffiel. 13
Der kritische Punkt bei den meisten dieser Experimente ist
der, daß die Versuchsperson nicht ahnen darf, worum es geht,
weil
sie
sonst
natürlich
bewußt
auf
derartige
Verstärkungsverhältnisse achten würde. Man umschifft diese
Klippe, indem man sich auf solche Verhaltensreaktionen stützt,
hinsichtlich der Formulierung und der Reihenfolge der postexperimentellen
Fragen. Es könnte sogar sein, daß sich zwischen Versuchsperson und
Versuchsleiter eine stillschweigende Übereinkunft herstellt (vgl: Robert
Rosenthai, Experimental Effects in Behavioral Research, New York:
Appleton-Century-Crohs 1966).
Ich selbst teile vorderhand die Ansicht von Posturan, daß der Lernerfolg
eintritt, bevor die Versuchsperson sich der Verstärkungsbeziehung bewußt
wird, ja daß es andernfalls gar nicht zu dieser Bewußtwerdung käme (vgl. L.
Posturan und L. Sassenrath, The Automatic Action of Verbal Rewards and
Punishment, Journal of General Psychology 65/1961, S. 109-136.
13
W. Lambert Gardiner, Psychology: A Story of a Search, Belmont,
California: Brooks/Cole 1970, S.76.
- 53-
die von der Versuchsperson selbst nicht wahrgenommen werden
können. Einschlägige Experimente wurden mit einem winzigen
Muskel im Daumen gemacht, dessen Bewegungen unterhalb der
Wahrnehmungsschwelle liegen und nur unter Zuhilfenahme
eines elektronischen Geräts registriert werden können. Den
Versuchspersonen wurde gesagt, es gehe darum, welche
Auswirkungen periodisch auftretender unangenehmer Lärm
während einer Musikdarbietung auf die Muskelspannung habe.
An ihrem Körper wurden jeweils vier Elektroden angebracht,
die einzige echte über dem kleinen Daumenmuskel, die anderen
drei waren nur Attrappen. Die Versuchsanordnung war so
getroffen, daß jedesmal, wenn die unwahrnehmliche
Daumenmuskelzuckung elektronisch erfaßt wurde, das
Störgeräusch 15 Sekunden lang unterbrochen oder, wenn es
gerade abgeschaltet war, sein neuerliches Auftreten um 15
Sekunden verzögert wurde. Bei sämtlichen Personen verstärkte
sich die Häufigkeit der unwahrnehmlichen Muskelzuckungen,
die den quälenden Lärm unterbanden, ohne daß auch nur das
geringste Bewußtsein davon vorhanden war, daß man lernte, den
unangenehmen Lärm abzustellen. 14
Somit steht fest: Das Bewußtsein ist kein notwendiger
Bestandteil des Lernvorgangs, gleichgültig, ob es sich um das
Lernen von Signalen, Geschicklichkeiten oder Problemlösungen
handelt. Es gibt natürlich noch viel mehr zu diesem
faszinierenden Thema zu sagen, denn es ist der Brennpunkt der
gesamten zeitgenössischen Verhaltensforschung. Aber hier war
lediglich der Nachweis zu erbringen, daß die ältere Auffassung,
14
R. E Hefferline, B. Keenan, R. A. Harford, Escape and Avoidance
Conditioning in Human Subjetts without Their Observation of the Response,
Science, 130/1959,S. 1338 f. Eine weitere klare Beschreibung des
unbewußten Erlernens von Problemlösungsverhalten gibt J. D. Keehn,
Experimental Studies of the Unconscious: Operant Conditioning of
Unconscious Eye Blinking, Behavior Research and Therapy 5 / 1967, S. 95102.
- 54-
derzufolge bewußtes Erleben die unerläßliche Grundlage alles
Lernens darstellt, eindeutig und absolut falsch ist. Wir dürfen
jetzt zumindest den Schluß ziehen, daß es möglich ist – ich sage:
möglich ist –, sich menschliche Wesen vorzustellen, die kein
Bewußtsein haben und dennoch lernen und Probleme lösen
können.
Das Bewußtsein ist nicht notwendig zum Denken
Auf dem Weg von den einfachen zu den komplizierteren
Aspekten des Seelenlebens gelangen wir auf immer
unübersichtlicheres Gelände, wo unsere gängigen Begriffe nur
mehr fragwürdige Reisebegleiter sind. Von solcher
Fragwürdigkeit ist zweifellos auch der Begriff des Denkens.
Sträubt sich denn nicht alles in uns, wenn wir hören, das
Bewußtsein sei nicht notwendig zum Denken? Ja, ist denn nicht
das Denken geradezu das Herz- und Kernstück des
Bewußtseins?! Gemach! Mit dieser Meinung beziehen wir uns
auf jenen Denktyp des freien Assoziierens; den man als
»Denken an ...« oder »Nachdenken über ...« bezeichnen könnte
und der in der Tat stets von allen Seiten umschlossen und
umströmt zu sein scheint von der Bilderflut der
Bewußtseinswelt. In Wirklichkeit jedoch ist die Sache nicht
entfernt so klar, wie sie scheint.
Beginnen wir mit dem Denktyp, der zu einem Ergebnis führt,
auf das wir die Prädikate »wahr« oder »falsch« anwenden
können. Es wird gemeinhin als »Urteilen« bezeichnet und hat
große Ähnlichkeit mit einem Extremfall des Lösungslernens,
den wir gerade kennengelernt haben.
Ein einfaches Experiment – so einfach, daß es banal
erscheinen mag – wird uns direkt zum Kern der Sache führen.
Nehmen Sie zwei ungleiche Gegenstände, beispielsweise einen
Kugelschreiber und einen Bleistift oder zwei ungleichmäßig
gefüllte Gläser, und legen oder stellen Sie sie vor sich auf den
- 55-
Tisch. Schließen Sie dann halb die Augen, um sich besser
konzentrieren zu können, heben Sie die Gegenstände
nacheinander mit Daumen und Zeigefinger hoch und urteilen
Sie, welcher schwerer ist. Beobachten Sie dabei mittels
Introspektion genau, was Sie tun. Sie werden feststellen, daß Sie
sich der Empfindung der Gegenstände an der Haut Ihrer Finger
bewußt sind, daß Sie sich des leichten Zugs nach unten bewußt
sind, den das Gewicht der einzelnen Gegenstände vermittelt, daß
Sie sich etwaiger Unebenheiten auf der Oberfläche der
Gegenstände bewußt sind, und so weiter. Und jetzt das
eigentliche Urteil, welcher Gegenstand schwerer ist. Wo ist das?
Holla! Gerade der Vorgang der Urteilsfindung mit dem
Ergebnis: Dieser Gegenstand ist schwerer als der andere, ist
Ihnen nicht bewußt. Das Ergebnis erhalten Sie einfach fix und
fertig irgendwoher aus dem Nervensystem. Wenn wir diesen
Urteilsvorgang Denken nennen, müssen wir einräumen, daß
solches Denken ganz und gar nicht bewußt ist. Ein
zugegebenermaßen einfaches, aber äußerst wichtiges
Experiment. Es zerstört mit einem Schlag total den überlieferten
Glauben, daß solche Denkvorgänge das Gerüst des bewußten
Seelenlebens darstellen.
Experimente dieser Art wurden zu Beginn des Jahrhunderts in
großem Umfang von der sogenannten Würzburger Schule
angestellt. Ausgangspunkt war eine im Jahr 1901 veröffentlichte
Untersuchung von Karl Marbe, der in ähnlicher Weise wie eben
beschrieben vorging, nur daß er kleinere Gewichte benutzte.15
Die Versuchsperson wurde aufgefordert, zwei vor ihr stehende
Gewichte emporzuheben und das schwerere von beiden vor den
Versuchsleiter zu stellen, der ihr gegenüber saß. Und es war
sowohl für den Versuchsleiter selbst als auch für seine
hochgradig geschulten Versuchspersonen, die allesamt in der
Selbstbeobachtung
geübte
Psychologen
waren,
eine
15
K. Marbe, Experimentellpsychologische Untersuchung über das Urteil.
Eine Einleitung in die Logik, Leipzig: Engelmann 1901.
- 56-
verblüffende Entdeckung, daß der Prozeß des Urteilens als
solcher nie bewußt war. Physik und Psychologie weisen immer
interessante Gegensätze auf, und es ist eine der Ironien der
Wissenschaft, daß das Marbe-Experiment, das in seiner
Einfachheit fast albern wirken könnte, für die Psychologie von
ebenso großer Bedeutung war wie das so schwierig
durchzuführende Michaelson Morley-Experiment für die
Physik. Genauso, wie anhand des letzteren bewiesen wurde, daß
der Äther – jene Substanz, die vermeintlich den ganzen Raum
erfüllt – nicht existiert, so zeigte sich in dem
Gewichtbeurteilungsexperiment,
daß
Urteilen,
jenes
vermeintliche Kennzeichen des Bewußtseins, im Bewußtsein
überhaupt nicht vorkommt.
Dazu läßt sich allerdings ein Einwand vorbringen. Vielleicht
vollzog sich die Urteilsfindung beim Emporheben der
Gegenstände so schnell, daß wir den Vorgang vergessen haben.
Schließlich fassen wir bei der Selbstbeobachtung immerzu etwas
in Hunderte von Wörtern, was sich innerhalb weniger Sekunden
zuträgt. (Was für eine erstaunliche Tatsache dies doch ist!) Und
unser Gedächtnis für eben Geschehenes beginnt zu schwinden,
noch während wir es auszudrücken versuchen. Vielleicht war es
dies, was sich bei Marbes Experiment zutrug, und dieser
»Urteilen« genannte Denktyp ließe sich vielleicht doch im
Bewußtsein finden, wenn wir uns nur besser erinnern könnten.
In dieser Form stellte sich das Problem einige Jahre nach
Marbes Versuch für Watt. 16 Für die Lösung benutzte er ein
anderes Verfahren, nämlich den Assoziationsversuch. Der
Versuchsperson
wurden
Kärtchen
mit
aufgedruckten
Hauptwörtern vorgelegt, und sie mußte so rasch wie möglich
mit einem Bezugswort antworten. Es handelte sich also nicht um
freie Assoziation, sondern um etwas, das man als teilweise
16
H. J. Watt, Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens, Archiv
für die Geschichte der Psychologie 4/1905, S. 289-436.
- 57-
gelenkte Assoziation bezeichnet: In verschiedenen Durchgängen
wurde die Versuchsperson aufgefordert, zu dem gesehenen Wort
einen übergeordneten Begriff (zum Beispiel Eiche/Baum), einen
gleichgeordneten Begriff (zum Beispiel Eiche/Ulme) oder einen
untergeordneten Begriff (Eiche /Balken) zu assoziieren oder ein
Ganzes (Eiche/Wald), einen Teil (Eiche/Eichel) oder einen
anderen Teil eines gemeinsamen Ganzen (Eiche/Waldpfad). Die
Aufgabenstellung bei der gelenkten Assoziation bot die
Möglichkeit, das Bewußtsein der Versuchsperson in vier Phasen
einzuteilen:
1. Instruktion über die erwünschte Assoziationsrichtung,
(zum Beispiel »übergeordneter Begriff«),
2. Darbietung des Reizwortes (zum Beispiel »Eiche«),
3. Suche nach einer passenden Assoziation und
4. die gesprochene Antwort (zum Beispiel »Baum«).
Die
Versuchspersonen
wurden
aufgefordert,
ihre
Selbstbeobachtung zunächst ganz auf die erste Phase und dann
der Reihe nach auf jeweils eine andere zu konzentrieren, um auf
diese Weise genauer Rechenschaft von ihrem Bewußtheitsstand
in jeder Einzelphase geben zu können.
Man rechnete nun damit, daß sich anhand dieses präzisen
Aufteilungsverfahrens Marbes Schlüsse würden als falsch
erweisen lassen und daß die Bewußtheit des Denkens in Watts
dritter Phase – bei der Suche nach einem Wort, das die
angegebenen Bedingungen erfüllte – zum Vorschein kommen
werde. Doch nichts dergleichen geschah. Alles deutete darauf
hin, daß das Denken automatisch und nicht eigentlich bewußt
erfolgte, sobald ein Reizwort dargeboten und zuvor der
gewünschte Assoziationstyp von der Versuchsperson richtig
verstanden worden war. Ein bemerkenswertes Ergebnis. Es
besagt mit anderen Worten: Man denkt sich etwas, bevor man
konkret weiß, was es ist, woran man denken soll. Das Wichtigste
an der Sache ist die Instruktion als Voraussetzung dafür, daß
- 58-
alles andere automatisch abläuft. Für diese Phase möchte ich die
Bezeichnung »Struktion« einführen, die die Bedeutung sowohl
von »Instruktion« als auch von »Konstruktion« in sich vereinen
soll. 17
Das Denken geschieht also nicht bewußt. Es ist vielmehr ein
automatischer Vorgang nach Maßgabe einer Struktion und des
Materials, in dem die Struktion getätigt werden soll.
Und wir brauchen auch nicht bei Wortassoziationen
stehenzubleiben. Aufgaben jedes beliebigen anderes Typs
erfüllen den gleichen Demonstrationszweck, auch solche, die
Willenshandlungen näherkommen. Wenn ich mir vornehme, an
eine Eiche im Sommer zu denken, so ist dies eine Struktion, und
was ich »denken an« nenne, ist im Grunde genommen eine
Kette von Bildassoziationen, die aus einem unbekannten Meer
an die Küste meines Bewußtseins gespült werden, genau wie die
gelenkten Assoziationen in Watts Experiment.
Sehen wir die Ziffern 6 und 2 und zwischen ihnen einen
vertikalen Strich: 6|2, dann bringt dieser Reiz die Vorstellung
»acht«, »vier« oder »drei« hervor, je nachdem, ob die
vorgeschriebene Struktion Addition, Subtraktion oder Division
lautet. Wichtig dabei ist, daß die Struktion selbst der Prozeß der
Addition, Subtraktion oder Division, ist sie erst einmal
aufgestellt, im Nervensystem verschwindet. Aber sie ist
offensichtlich »im Geiste« mit dabei, da ein und derselbe Reiz
dreierlei Reaktionen hervorbringen kann. Allerdings – wie das
jeweils vor sich geht, ist uns nicht im mindesten bewußt.
Betrachten wir uns jetzt eine Reihe geometrischer Figuren:
17
Die Begriffe »Einstellung«, »determinierende Tendenz« und »Struktion«
müssen auseinandergehalten werden. »Einstellung« ist der umfassendere
Begriff: Er bezeichnet eine gebundene Befähigungsstruktur, deren Stufung
bei Säugern von einer (limbischen) Allgemeinkomponente qua
»Bereitschaft« bis hin zur (kortikalen) spezifischen Komponente qua
»determinierende Tendenz« reicht. Die Endstufe der letzteren wiederum ist
beim Menschen häufig eine Struktion.
- 59-
Welche Figur kommt als nächste in der Reihe? Wie sind Sie
auf die Antwort gekommen? Sobald ich Ihnen die Struktion
gegeben habe, »sehen« Sie automatisch, daß es ein Dreieck sein
muß. Wenn Sie sich jetzt mittels Selbstbeobachtung davon
überzeugen wollen, wie Sie zu Ihrer Antwort gelangt sind, dann
– so behaupte ich – vergegenwärtigen Sie sich in Wirklichkeit
nicht den Vorgang, der tatsächlich stattgefunden hat, sondern
Sie erfinden, wie es stattgefunden haben muß, indem Sie sich zu
diesem Behufe selbst eine neue Struktion geben. Während des
Vollzugs der Aufgabe selbst waren Sie sich lediglich der
Struktion, der Figuren auf dem Blatt vor Ihnen und dann der
Lösung bewußt.
Nicht anders verhält es sich mit der gesprochenen Sprache
(ein Beispiel, das ich weiter oben schon erwähnt habe). Beim
Reden sind wir uns weder der Suche nach Wörtern noch der
Zusammenfügung der Wörter zu Satzteilen, noch der
Zusammenfügung der Satzteile zu ganzen Sätzen wirklich
bewußt. Bewußt ist uns lediglich eine fortgesetzte Folge von
Struktionen, die wir uns selbst geben und die dann automatisch,
ohne irgendwelches Bewußtsein, in sprachlichen Äußerungen
resultieren. Die Rede selbst können wir uns im Augenblick des
Vollzugs bewußt halten, wenn wir wollen: Dadurch entsteht
dann ein gewisses Feedback, das zu neuen Struktionen führt.
Somit wäre erwiesen, daß der eigentliche Denkvorgang, der
gemeinhin als das Herz- und Kernstück des Bewußtseins
betrachtet wird, überhaupt nicht bewußt ist und daß lediglich
seine Vorbereitung, sein Material und sein Endergebnis im
Bewußtsein wahrgenommen werden.
- 60-
Das Bewußtsein ist nicht notwendig für die Vernunfttätigkeit
Die lange Tradition, die den Menschen als das
vernunftbegabte Lebewesen definiert und ihn als Homo sapiens
zur Krone der Schöpfung erhebt, ruht mit ihrem ganzen
päpstlichen Absolutheitsanspruch auf dem schmalen Fundament
der Annahme, das Bewußtsein sei der Sitz der Vernunft. Eine
kritische Durchleuchtung dieser Annahme wird durch die
Unbestimmtheit des Begriffs Vernunft erschwert, eine
Unbestimmtheit, die das Erbe der alten »Vermögens«
Psychologie ist, für welche die Vernunft ein – selbstverständlich
»im« Bewußtsein angesiedeltes – »Seelenvermögen« war. Und
diese erzwungene Verbindung von Vernunft und Bewußtsein
wurde noch vermengt mit der Idee der Wahrheit und des
richtigen Vernunftgebrauchs, das heißt der Logik – alles jeweils
ganz verschiedene Dinge. Demzufolge galt dann die Logik als
das Funktionsprinzip der bewußten Vernunfttätigkeit oder, mit
anderen Worten, des Schließens, was Generationen von
bedauernswerten Gelehrten in Verlegenheit brachte, denn sie
wußten sehr gut, daß logische Syllogismen nicht zu dem
gehörten, was sich ihrer Selbstbeobachtung darbot.
Vernunfttätigkeit oder schlußfolgerndes Denken und Logik
verhalten sich zueinander wie Gesundheit und Medizin oder,
besser, wie Verhalten und Moral. Das Schließen umfaßt eine
Reihe natürlicher Denkprozesse des täglichen Lebens. Die
Logik umfaßt Vorschriften, wie wir denken müssen, wenn unser
Ziel die objektive Wahrheit ist – und im täglichen Leben geht es
höchst selten um die objektive Wahrheit. Die Logik ist die
Wissenschaft von der Begründung jener Schlüsse, zu denen wir
mit Hilfe unserer natürlichen Vernunft gelangt sind. Meine
These ist, daß das Bewußtsein für die natürliche
Vernunfttätigkeit nicht benötigt wird. Der eigentliche Grund,
warum wir die Logik überhaupt benötigen, ist der, daß das
Schließen meistenteils ganz und gar nicht bewußt geschieht.
Denken Sie zunächs t an die vielen Phänomene, von denen wir
- 61-
bereits festgestellt haben, daß sie ohne begleitendes Bewußtsein
ablaufen, und die als elementare Formen des Schließens
bezeichnet werden können. Das Auswählen von Lösungswegen,
Wörtern, Tönen; Körperbewegungen und die Korrekturen an
Größen- und Farbeindrücken, die Wahrnehmungskonstanzen
ergeben das alles sind Primitivformen des Schließens, die
keinerlei Hilfestellung oder Eselsbrücke von seiten des
Bewußtseins, ja nicht einmal des geringsten Funkens von
Bewußtsein bedürfen.
Aber auch die geläufigeren Formen des Schließens können
ohne Beteiligung des Bewußtseins stattfinden. Ein Junge, der
einmal oder mehrmals beobachtet hat, daß ein bestimmtes Stück
Holz in einem bestimmten Teich an der Oberfläche schwamm,
schließt in einer neuen Situation auf unmittelbarem Weg, daß
ein anderes Stück Holz in einem anderen Teich ebenfalls oben
schwimmen wird. Es findet nicht etwa ein bewußtes Sammeln
und Vergleichen von früheren Situationen statt, und es ist auch
sonst überhaupt kein Bewußtseinsvorgang vonnöten, damit das
neue Stück Holz unmittelbar als »oben schwimmend« gesehen
wird. Man bezeichnet dies gelegentlich als Schließen aus dem
Besonderen, und es ist nichts weiter als eine auf Generalisierung
beruhende Erwartung. Daran ist nichts Außergewöhnliches: Es
handelt sich um eine Fähigkeit, die alle höheren Wirbeltiere
besitzen. Dieses Schließen ist ein Funktionsprinzip des
Nervensystems und nicht des Bewußtseins.
Aber ständig finden auch komplexere Formen des Schließens
ohne Beteiligung des Bewußtseins statt. Unser Geist arbeitet so
schnell, daß unser Bewußtsein nicht Schritt halten kann.
Allgemeinaussagen aufgrund vorausgegangener Erfahrungen
treffen wir in aller Regel vollkommen automatisch, und nur im
nachhinein sind wir manchmal in der Lage, uns von den
vorausgegangenen Erfahrungen, auf denen solche Aussagen
beruhen, irgend etwas wieder ins Gedächtnis zu rufen. Wie oft
gelangen wir nicht zu absolut zuverlässigen Schlüssen, ohne sie
- 62-
im geringsten begründen zu können. Weil das Schlußfolgern
nicht bewußt geschieht. Und denken Sie an die Schlüsse, die wir
in bezug auf die Gefühle und den Charakter anderer Menschen
oder in Bezug auf die Motive ihrer Handlungen ziehen. Hier
haben wir es eindeutig mit automatischen Schlußfolgerungen
unseres Nervensystems zu tun, einem Vorgang, bei dem
Bewußtsein nicht nur überflüssig ist, sondern wahrscheinlich
sogar ebenso hinderlich wäre, wie wir es schon bei der
Ausübung motorischer Geschicklichkeiten festgestellt haben. 18
Dies mag ja alles sein, so höre ich einwenden, aber auf keinen
Fall gilt das auch für die höchsten Formen der Denktätigkeit.
Hier gelangen wir endlich in das eigentliche Herrschaftsgebiet
des Bewußtseins, wo alles in goldener Klarheit daliegt und alle
Gedankenarbeit der Vernunft fein ordentlich im Lichte voller
Bewußtheit getätigt wird. Aber so glanzvoll geht es in der
Wirklichkeit nicht zu. Der Wissenschaftler, der sich mit seinen
Problemen hinsetzt und bewußte Induktionen und Deduktionen
auf sie anwendet, ist genauso ein Fabelwesen wie das Einhorn.
Die größten Einsichten der Menschheit sind auf mysteriöse
Weise zustande gekommen. Helmholtz hatte seine glücklichen
Einfälle, die sich »oft genug heimlich in mein Denken
einschlichen, ohne daß ich ihre Bedeutung geahnt hätte ... in
anderen Fällen waren sie auf einmal da ohne irgendein Bemühen
von meiner Seite ... sie stellten sich besonders gern ein, wenn
ich bei sonnigem Wetter einen Spaziergang im Bergwald
machte!« 19
Und Gauß schrieb über ein arithmetisches Theorem, das er
jahrelang erfolglos zu beweisen versucht hatte, daß »sich das
18
Vorgänge dieser und ähnlicher Art wurden schon früh als nichtbewußt
erkannt und mit Namen wie »automatisches Schlußfolgern« oder »gesunder
Menschenverstand« belegt. Einschlägige Darlegungen findet man bei Sully,
Mill und anderen Psychologen des 19. Jh.
19
Zitiert nach Robert S. Woodworth, Experimental Psychology, New York:
Holt 1938, S.818.
- 63-
Rätsel plötzlich wie durch einen Blitzschlag löste. Ich vermag
selbst nicht zu sagen, welcher Faden mein bisheriges Wissen mit
den Bedingungen des Gelingens verknüpfte.« 20
Der brillante Mathematiker Poincare widmete der Art und
Weise, wie er zu seinen Entdeckungen gelangte, besonderes
Augenmerk. In einem berühmten Vortrag vor der Pariser Societe
de Psychologie schilderte er seine Teilnahme an einer
geologischen Exkursion: »Die Reiseerlebnisse ließen mich
meine mathe matische Arbeit vergessen. In Coutances
angekommen, bestiegen wir einen Omnibus, der uns
irgendwohin bringen sollte. In dem Augenblick, als ich meinen
Fuß auf das Trittbrett setzte, überraschte mich völlig
unvorbereitet der Gedanke, daß die Transformatione n, die ich
zur Definition der Fuchsschen Funktionen benutzt hatte, mit
denen der nichteuklidischen Geometrie identisch waren.« 21
Allem Anschein nach ist dieses Phänomen der jäh
hereinbrechenden Einsicht am offenkundigsten in den abstrakten
Wissenschaften, in denen das Untersuchungsmaterial
zunehmend weniger mit der Alltagserfahrung zu tun hat. Ein
guter Bekannter Einsteins erzählte mir, daß dem Physiker viele
seiner hervorragendsten Ideen beim Rasieren kamen, und zwar
so überfallartig, daß er sein Rasiermesser morgens mit größter
Vorsicht handhaben mußte, um sich im Moment der
Überraschung nicht zu schneiden. Und ein bekannter englischer
Physiker äußerte einmal gegenüber Wolfgang Köhler:
»Wir sprechen oft von den drei B’s – Bus, Bad und Bett. An
diesen Orten werden in unserer Wissenschaft die großen
Entdeckungen gemacht.«
20
Zitiert nach Jacques Hadamard, The Psychology of Invention in the
Mathematical Field, Princeton: Princeton University Press 1945, S. 15.
21
Henri Poincare, Mathematical Creation, in: ders., The Foundations of
Science, übs. von G. Bruce Halstedt, New York: The Science Press 1913, S.
387.
- 64-
Worauf es hier ankommt, ist, daß das kreative Denken
verschiedene Stadien durchläuft, zuerst ein Präliminarstadium,
in dem das Problem bewußt durchgearbeitet wird, dann eine
Inkubationsphase ohne irgendwelche bewußte Konzentration auf
das Problem und darauf die Erleuchtung, die hinterher logisch
begründet wird. Die Parallele zwischen diesen Problemen
hochbedeutsamer und komplexer Natur und einfachen
Problemen wie dem Beurteilen von Gewichten oder dem
Fortsetzen einer Figurenfolge liegt auf der Hand. Die
Präliminarphase besteht im wesentlichen im Aufstellen einer
komplexen
Struktion
bei
gleichzeitiger
bewußter
Aufmerksamkeit gegenüber dem Material, auf das die Struktion
sich beziehen soll. Aber was dann eintritt – der Schlußvorgang
als solcher, der Sprung ins Unbekannte der großen Entdeckung
–, hat ebensowenig eine Vertretung im Bewußtsein wie in dem
simpler
gelagerten
Fall
der
Beurteilung
von
Gewichtsunterschieden. In der Tat scheint es manchmal fast so,
als habe das Problem vergessen werden müssen, damit sich die
Lösung zeigen konnte.
Der Sitz des Bewußtseins
Der letzte Irrtum, auf den ich hier eingehen möchte, ist ebenso
bedeutsam wie aufschlußreich. Ich habe seine Analyse an den
Schluß gestellt, weil sie meiner Meinung nach den geläufigen
Auffassungen vom Bewußtsein den sicheren Todesstoß versetzt.
Wo hat das Bewußtsein seinen Sitz?
Jedermann (oder so gut wie jedermann) antwortet darauf ohne
Zögern: In meinem Kopf. Denn bei der Selbstbeobachtung
kehren wir scheinbar den Blick nach innen in einen Raum
irgendwo hinter den Augen. Aber was um alles in der Welt soll
das heißen, daß wir den »Blick« dorthin richten? Manchmal
schließen wir sogar die Augen, um in der Selbstbeobachtung
(die ja auch Innenschau – Introspektion – genannt wird) desto
besser zu sehen. Aber wohin? Daß es sich um irgendeine Art
- 65-
Raum handelt, scheint unbezweifelbar. Außerdem scheinen wir
uns – oder zumindest unseren »Blick« – einmal hierhin, einmal
dorthin zu wenden. Und wenn wir uns zu sehr anstrengen,
diesen Raum (nicht seine vorgestellten Inhalte) genauer zu
charakterisieren, empfinden wir ein schwer zu definierendes
Unbehagen, so als ob da etwas wäre, das sich gegen das
Erkanntwerden sperrt, ein Etwas, das unter die Lupe zu ne hmen
fast ebenso ungebührlich ist wie grobes Betragen in freundlicher
Gesellschaft.
Nicht nur in unserem Kopf glauben wir diesen
Bewußtseinsraum zu finden, wir setzen ihn auch bei anderen
Menschen voraus. Wenn wir mit einem Bekannten sprechen und
dabei immer wieder Blickkontakt aufnehmen (ein Überbleibsel
aus unserer Primatenvergangenheit, als Blickkontakt mit dazu
diente, Stammeshierarchien herzustellen), setzen wir hinter den
Augen unseres Gesprächspartners immer einen Raum voraus, in
den wir hineinsprechen, ähnlich dem Raum in unserem eigenen
Kopf, aus dem wir unserer Vorstellung nach heraussprechen.
Und damit kommen wir zum Kern der Sache. Wir wissen
nämlich ganz genau, daß in keines Menschen Kopf ein solcher
Raum vorhanden ist! In meinem wie in Ihrem Kopf befindet
sich nichts als irgendwelches physiologisches Gewebe. Und die
Tatsache, daß es sich dabei vorwiegend um Nervengewebe
handelt, ist in diesem Zusammenhang belanglos.
Sich an diesen Gedanken zu gewöhnen erfordert allerdings
ein bißchen Denkaufwand. Das Ganze bedeutet, daß wir diesen
Raum in unserem eigenen Kopf und in den Köpfen anderer
Leute immer neu erfinden, während wir genau wissen, daß er in
der Anatomie nicht existiert; und die Ansiedlung dieses
»Raumes« erfolgt denn auch ganz willkürlich. Die
aristotelischen Schriften22 beispielsweise siedelten das
22
Ich wähle diese Bezeichnung, weil die dem Aristoteles zugeschriebenen
Werke ganz eindeutig von mehreren Verfassern stammen.
- 66-
Bewußtsein, den Sitz des Denkens im Herzen und knapp
darüber an und betrachteten das Gehirn als bloßes Kühlorgan, da
es sich unempfindlich zeigte gegenüber Berührungen und
Verletzungen. Und manchen Lesern wird das bisher Gesagte
einfach deshalb nicht eingeleuchtet haben, weil ihr denkendes
Selbst nach ihrem eigenen Dafürhalten irgendwo im oberen
Brustraum angesiedelt ist. Für die meisten von uns ist es jedoch
eine so eingefleischte Gewohnheit, sich das Bewußtsein im
Kopf zu denken, daß wir uns kaum etwas anderes vorstellen
können. Aber in Wirklichkeit könnten Sie, ohne sich von der
Stelle zu rühren, die nächstbeste Ecke zwischen Wand und
Fußboden im Zimmer nebenan zum Sitz Ihres Bewußtseins
erklären und Ihr Denken ebensogut dort wie in Ihrem Kopf vor
sich gehen lassen. Nein, nicht ebensogut. Es gibt einige sehr
gute Gründe, die dafür sprechen, daß Sie sich Ihren Seelenraum
innerhalb Ihrer Person angesiedelt vorstellen, Gründe, die
sowohl mit dem bewußten Wollen und den inneren
Empfindungen als auch mit der Beziehung zwischen Ihrem
Körper und Ihrem »Ich« zu tun haben und die hier in der Folge
noch deutlicher zutage treten werden.
Daß keinerlei objektiv feststellbare Notwendigkeit besteht,
das Bewußtsein im Gehirn anzusiedeln, wird des weiteren durch
verschiedentlich auftretende Anomalien bekräftigt, bei denen
sich das Bewußtsein außerhalb des Körpers zu befinden scheint.
Einer meiner Bekannten, der sich eine Kriegsverletzung im
linken Frontallappen zugezogen hatte, fand sein Bewußtsein
wieder an der Decke des Lazarettsaals, von wo er in gehobener
Stimmung auf seinen Körper hinabblickte, der mit bandagiertem
Kopf auf dem Feldbett lag. Personen, die LSD geschluckt
haben, berichten häufig von ähnlichen – sogenannten
exosomatischen – Erlebnissen außerhalb des Körpers. Derartige
Vorkommnisse haben keinerlei metaphysische Bedeutung, sie
zeigen lediglich, daß es vom Zufall abhängen kann, wo wir
unser Bewußtsein ansiedeln.
- 67-
Um einem Irrtum vorzubeugen, sei klargestellt: Im Zustand
der Bewußtheit benutze ich fraglos immer bestimmte Teile des
Gehirns in meinem Kopf. Das gleiche tue ich jedoch auch, wenn
ich Fahrrad fahre, und das Fahrradfahren spielt sich nicht in
meinem Kopf ab. Die beiden Fälle liegen natürlich verschieden,
weil das Fahrradfahren einen klar bestimmten geographischen
Ort hat und das Bewußtsein nicht. Tatsächlich hat das
Bewußtsein überhaupt keinen Ort außer dem, den wir ihm in
unserer Vorstellung zuweisen.
Ist Bewußtsein überhaupt erforderlich?
Wir wollen noch einmal rekapitulieren, wie weit wir
gekommen sind, denn wir haben uns gerade einen Weg durch
ein ungeheures Materialdickicht gebahnt und dabei vielleicht
mehr Verwirrung als Klarheit gestiftet. Wir haben gesehen, daß
das Bewußtsein nicht das ist, wofür wir es im allgemeinen
halten. Es ist nicht mit der Reaktionsfähigkeit zu verwechseln.
Es ist an vielen Wahrnehmungsvorgängen nicht beteiligt. Es ist
nicht beteiligt an der Ausübung von Geschicklichkeiten und
stellt oft sogar eine Behinderung für sie dar. Es ist nicht
notwendigerweise am Sprechen, Schreiben, Zuhören oder Lesen
beteiligt. Es ist keine originalgetreue Aufzeichnung unseres
Erlebens, wie die meisten Menschen meinen. Das Bewußtsein
spielt beim Signallernen überhaupt keine Rolle und wird auch
nicht unbedingt gebraucht für das Erlernen von
Geschicklichkeiten und Problemlösungen, das ganz ohne
Bewußtsein vonstatten gehen kann. Es ist nicht erforderlich zum
Urteilen noch für die einfachen Formen des Denkens. Es ist
nicht der Sitz der schlußfolgernden Vernunft, und tatsächlich
finden selbst komplizierteste Formen kreativer Vernunfttätigkeit
ganz ohne Mitwirkung des Bewußtseins statt. Und das
Bewußtsein hat keinen konkreten Sitz außer einem
eingebildeten! Da erhebt sich denn unmittelbar die Frage :
Existiert das Bewußtsein überhaupt? Auf sie wollen wir jedoch
- 68-
erst im nächsten Kapitel eingehen. An dieser Stelle genügt es,
den unabweislichen Schluß zu ziehen, daß das Bewußtsein bei
den meisten menschlichen Aktivitäten keine ausschlaggebende
Rolle spielt. Wenn es richtig ist, was ich bisher gesagt habe,
dann ist es auch durchaus möglich, daß zu irgendeiner Zeit
einmal Menschen gelebt haben, die sprachen, urteilten, Schlüsse
zogen und Probleme lösten, ja die so gut wie alles, was wir tun,
zu tun vermochten, die aber nicht das geringste Bewußtsein
besaßen. Dies ist die hochbedeutsame und in mancher Hinsicht
verwirrende Vorstellung, die sich uns an diesem Punkt als
Schlußfolgerung aufdrängt. In der Tat war dies der
Ausgangspunkt all meiner Überlegungen, und ich messe diesem
Anfangskapitel große Bedeutung bei, denn falls Sie an diesem
Punkt nicht davon überzeugt sind, daß eine Zivilisation ohne
Bewußtsein möglich ist, werden Sie die nachfolgenden
Ausführungen unglaubhaft und widersinnig finden.
- 69-
ZWEITES KAPITEL
Das Bewußtsein
Nachdem wir also einige der wichtigsten Mißverständnisse in
Bezug auf das Bewußtsein gleichsam mit Hammer und Meißel
weggehauen haben, stellt sich die Frage, was uns geblieben ist.
Wenn das Bewußtsein alles das nicht ist, wenn es sich nicht so
weit erstreckt, wie wir glauben, wenn es weder eine
Aufzeichnung unseres Erlebens noch das unentbehrliche
Medium des Lernens, Urteilens, ja nicht einmal des Denkens ist
– was ist es dann? Wir starren in den Staub und die Trümmer
und hoffen, das Be wußtsein wie die Schöpfung des Pygmalion
in ursprünglicher Frische und Reinheit aus dem Schutt
hervortreten zu sehen. Aber während wir warten, bis der Staub
sich gelegt hat, wollen wir ein wenig vom Gegenstand
abschweifen und von anderen Dingen reden.
Metapher und Sprache
Reden wir über die Metapher 1 – das »sprachliche Bild«. Die
faszinierendste Eigenschaft der Sprache ist ihre Fähigkeit,
1
Die Bedeutung dieser Begriffe deckt sich nicht in allen Punkten mit
derjenigen von I.A. Richards' »Tenor« und »Vehikel« (vgl. The Philosophy
of Rhetoric, New York: Oxford University Press 1939, S. 96 u. 120 f), auch
nicht mit derjenigen des Begriffspaars »eigentlicher«/»übertragener«
Ausdruck bei Chris tine Brooke -Rose, die das Thema zu sehr einengt auf den
literarischen Aspekt (A Grammar of Metaphor, London: Secker and Warburg
1958; das erste Kapitel gibt eine ausgezeichnete Einführung in die
Geschichte des Gegenstands. – Zusatz des Übersetzers: Dem deutschen Leser
sei zur Einführung in den Problembereich »Metapher« empfohlen: Wilhelm
Köller, Semiotik und Metapher. Untersuchungen zur grammatischen Struktur
und kommunikativen Funktion von Metaphern, Stuttgart: J. B. Metzler
1975).
- 70-
Metaphern zu bilden. Welch eine Untertreibung! Die Metapher
ist nämlich nicht, wie sie in en alten Schulbüchern unter den
Regeln für das Aufsatzschreiben so oft abgetan wird, bloß ein
rhetorischer Trick unter vielen; Sondern sie ist der eigentliche
Wesensrund der Sprache. Ich benutze den Begriff Metapher
hier in seinem allgemeinsten Sinn: den Ausdruck für eine Sache
zur Bezeichnung einer anderen Sache verwenden, und zwar
aufgrund einer Ähnlichkeit zwischen den beiden Sachen oder
zwischen ihren jeweiligen Relationen zu anderen Sachen. Somit
enthält eine Metapher immer zwei Gliedstellen, die Sache, die
bezeichnet werden soll – ich werde sie fortan den
Metaphoranden nennen –, und die Sache oder die Relation, die
als Bezeichnung dient und die ich den Metaphorator nennen
will. Eine Metapher besteht also immer darin, daß ein uns
bekannter Metaphorator auf einen uns weniger bekannten
Metaphoranden bezogen wird. Ich habe mich bei der
Neubildung dieser Ausdrücke an die ursprüngliche griechische
Wortform und an das Beispiel der Mathematik gehalten, die bei
der Multiplikationsrechnung von Multiplikator und Multiplikand
spricht.
Das Wachstum der Sprache beruht auf der Metapher. Wird
man gefragt: »Was ist das?« und ist die Antwort darauf nicht
ganz einfach oder das in Rede stehende Erlebnis einmalig,
antwortet man in aller Regel: »Tja, das ist so wie ...«
Laboruntersuchungen haben ergeben, daß sowohl Kinder wie
Erwachsene sich umfänglicher Metaphoratoren bedienen, wenn
sie Nonsensobjekte (nämlich Metaphoranden), die nur ihnen
sichtbar sind, einem Außenstehenden beschreiben sollen; bei
wiederholtem
Gebrauch
werden
diese
umfänglichen
Metaphoratoren dann zu Namen verkürzt. 2 Vornehmlich auf
diesem Wege bildet sich der Wortschatz unserer Sprache. Die
2
S. Glucksberg, R. M. Krauss und R. Weisberg, Referential Communication
in Nursery School Children: Method and Some Preliminary Findings, Journal
of Experimental Child Psychology 3/1966, S. 33-342.
- 71-
große und nie zu Ende kommende Bedeutung der Metapher
besteht darin, daß sie die mit wachsendem Komplexitätsgrad der
menschlichen Zivilisation neu benötigte Sprache schafft.
Um dies einzusehen, genügt es schon, wenn Sie in einem
etymologischen Wörterbuch die Herkunft einiger wahllos
herausgegriffener Alltagswörter nachschlagen. Oder denken Sie
an bestimmte lateinische Namen aus dem Tier- und
Pflanzenreich oder auch nur an phantasievolle deutsche Namen
wie Fingerhut, Hirschkäfer, Frauenschuh und Butterblume. Der
menschliche Körper ist ein besonders vielseitiger und ergiebiger
Metaphorator, mit dessen Hilfe sich in unzähligen Bereichen
Unterscheidunge n treffen lassen, für die sonst kein sprachlicher
Ausdruck existiert. Zum Beispiel der Kopf Nagelkopf,
Briefkopf; auch das Familienoberhaupt, der Hauptmann und der
Stammeshäuptling gehören hierher. Stirn und Gesicht
verstecken sich (mit ihren lateinischen Formen frons und facies)
in Front und Fassade. Wir reden von der Scheitelhöhe eines
Gebirges, von Zahnrädern, und wir bemerken Zähne auch am
Kamm und eine Zunge am Schuh, an einer Zange oder einer
Autobremse, Beine an Tischen und Stühlen. Und so weiter und
so fort. Gleich werden Sie beim Lesen am Fuß dieser Seite
angekommen sein und dann vielleicht das Blatt umwenden. All
diese konkreten Metaphern verstärken in ungeheurem Ausmaß
unser Vermögen, die Welt um uns herum wahrzunehmen und zu
verstehen, ja; sie schaffen buchstäblich neue Gegenstände. In
Wahrheit
und
Wirklichkeit
ist
die
Sprache
ein
Wahrnehmungsorgan
und
nicht
einfach
nur
ein
Kommunikationsmittel.
Was wir bisher beschrieben haben, ist die Sprache, wie sie
sich »synchronisch« (das heißt quer zur Ze itachse) im Raum der
Welt entfaltet und dabei immer präzisere Wahrnehmungen und
Beschreibungen hervorbringt. Die zweite und wichtigere
Entfaltungsrichtung der Sprache verläuft jedoch »diachronisch«
- 72-
(entlang der Zeitachse) hinter den Erlebnissen auf der Basis von
Befähigungsstrukturen in unserem Nervensystem und führt zu
abstrakten Begriffen, die »Gegenstände« bezeichnen, welche
nur noch in einem metaphorischen Sinn Gegenstände heißen
können (insofern »Gegenständlichkeit« zumindest im Grundsatz
und theoretisch »Beobachtbarkeit« mit einschließt). Und diese
»Gegenstände« werden durch Metaphern gebildet: Damit wären
wir beim »Dreh- und Angelpunkt« meiner Überlegungen
angelangt – bei einer Sache also, die ihrerseits wieder eine
Metapher ist und nur mit dem geistigen »Auge« »gesehen«
werden kann.
In den Abstraktionsbegriffen für die zwischenmenschlichen
Beziehungen spielt die Haut eine besonders wichtige Rolle als
Metaphorator. Wir kommen oder bleiben mit anderen »in
Berührung«, die – je nachdem – »dickfellig« oder »dünnhäutig«
sein können oder so »kitzelig« sind, daß man sie »mit
Samthandschuhen anfassen muß und sie auf keinen Fall »gegen
den Strich bürsten« darf. 3
Die Begrifflichkeit der Wissenschaft ist samt und sonders auf
diese Weise entstanden: aus konkreten Metaphern, die zu
abstrakten Begriffen wurden. In der Physik haben wir es mit
Kraft, Beschleunigung, Trägheit, Widerstand, Feldern und
neuerdings sogar mit Charme zu tun. In der Physiologie wurde
der Metaphorator »Maschine« zum eigentlichen Motor der
Entdeckertätigkeit. Wir interpretieren das Gehirn mit Hilfe von
Metaphern jeder nur denkbaren technischen Herkunft,
angefangen beim Akkumulator und der Fernmeldetechnik bis
hin zum Computer und zur Holographie. Ärztliche
Behandlungsverfahren richten sich zuweilen ganz nach dem
Gebot einer Metapher. Im achtzehnten Jahrhundert verglich man
3
Vgl. Ashley Montagu, Touching, New York: Columbia University Press
1971. Dt. Übs.: Körperkontakt. Die Bedeutung der Haut für die Entwicklung
des Menschen, Stuttgart: Klett, 2. Aufl. 1980.
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das Herz eines Fieberkranken mit einem siedenden Topf und
hielt deshalb den Aderlaß für angezeigt, um den Brennstoff zu
vermindern. Und selbst heute noch versteht sich ein Großteil der
Medizin mit einer Metapher aus dem Militärbereich als das
Abwehren oder Niederschlagen einer Attacke, die von dieser
oder jener Seite gegen den Körper geführt wird. Im
Griechischen geht der Begriff für Recht und Gesetz (nomos) auf
einen Ausdruck zurück, der ursprünglich das Fundament eines
Bauwerks bezeichnete. » Obligatorisch« (das heißt durch Gesetz
verbindlich vorgeschrieben) ist vom lateinischen ligare, »mit
Stricken binden«, abgeleitet – eben daher ja auch das deutsche
Wort »verbindlich«.
In der Frühzeit erhob sich die Sprache mitsamt den
Gegenständen, die sie bezeichnete, auf der Stufenleiter der
Metaphorik vom Konkreten zum Abstrakten, ja, man kann
sagen, sie schuf den gesamten abstrakten Bereich mit Hilfe von
Metaphern.
Es liegt nicht immer klar auf der Hand, welche
hochbedeutsame Leistung die Metapher in dieser Hinsicht
vollbracht hat. Aber das kommt daher, daß die konkreten
Metaphoratoren durch Lautwandel zum Verschwinden gebracht
wurden, wonach die verbleibenden Wörter ein Eigenleben
führen. Selbst ein so unmetaphorisch klingendes Wort wie die
Infinitivform des englischen Hilfsverbs to be ist aus einer
Metapher entstanden. Sie leitet sich aus dem Sanskritwort bhu,
»wachsen« oder »wachsen lassen«, ab, während die Formen am
und is auf die gleiche Wurzel wie das Sanskritwort asmi,
»atmen«, zurückgehen. Man ist angenehm berührt zu erfahren,
daß die Beugungsformen eines der farblosesten Wörter der
englischen Sprache ein Zeugnis aus einer Zeit darstellen, als die
Menschen noch kein eigenes Wort für »sein« hatten und
lediglich ausdrücken konnten, daß etwas »wächst« oder
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»atmet«. 4 Natürlich sind wir uns nicht bewußt, daß der Begriff
des Seins dergestalt vom Bild des Wachsens und Atmens
abgeleitet ist. Abstrakte Ausdrücke sind wie alte Münzen, deren
bildhafte Prägung im lebhaften Geschäftsverkehr der täglichen
Rede bis zur Unkenntlichkeit abgegriffen wurde.
Im Lauf unseres kurzen Lebens bekommen wir nicht viel mit
von der ungeheuren Ausdehnung der Geschichte, und darum
wirkt die Sprache auf uns nur allzuleicht so starr und
unveränderlich, wie sie im Wörterbuch steht, dauerhaft wie ein
Granitblock, während sie doch in Wahrheit eher eine
wildbewegte See von Metaphern ist. In der Tat: Wollten wir
sämtliche Veränderungen des Wortschatzes durchgehen, die im
Lauf der jahrhundertealten Sprachgeschichte stattgefunden
haben, und diese Entwicklung dann in Gedanken um
Jahrtausende in die Zukunft verlängern, würden wir schließlich
in einen interessanten Widerspruch geraten: Denn würde es
jemals gelingen, eine Sprache zu schaffen, die für alles eine
eigene Benennung hätte, dann wäre es um die Metapher
geschehen. Niemand würde dann noch zu seiner Geliebten
sagen: »Du bist wie eine Blume«, denn das Merkmal
»Weiblichkeit« wäre zerstäubt in Ausdrücke für Tausende
exakter Nuancen, man brauchte nur den jeweils passenden
Ausdruck auszuwählen, und die Blume als Metapher wäre
erledigt.
Der Wortschatz einer Sprache besteht also aus einer endlichen
Menge von Ausdrücken, die mit Hilfe der Metaphernbildung auf
unendlich viele Sachverhalte angewandt werden, ja sogar
ihrerseits neue Sachverhalte schaffen können.
(Wäre es möglich, daß das Bewußtsein eine solche
Neuschöpfung ist?)
4
Das Vorstehende in Anlehnung an Phillip Wheelwright, The Burning
Fountain, Bloomington: Indiana University Press 1954.
- 75-
Verstehen als Metapher
Wir bemühen uns, das Bewußtsein zu verstehen – doch was
ist das eigentlich, worum wir uns bemühen, wenn wir uns um
das Verständnis einer Sache bemühen? Wie die Kinder, wenn
sie sich bemühen, Nonsensobjekte zu beschreiben, suchen wir
nach einer Metapher für die Sache, um deren Verständnis wir
uns bemühen. Nicht nach einer x-beliebige n Metapher, sondern
nach einer, die etwas enthält, das uns vertraut ist und uns
leichter eingeht. Eine Sache verstehen heißt eine Metapher für
sie finden, indem wir etwas Vertrauteres an ihre Stelle setzen.
Das Gefühl der Vertrautheit ist das Gefühl, verstanden zu haben.
Vor Menschenaltern hätten wir ein Gewitter vielleicht als
Lärmen und Kampfgetümmel übermenschlicher Gottheiten
verstanden. Das Donnern im Anschluß an den Blitzschlag zum
Beispiel hätten wir als den vertrauten Schlachtenlärm gedeutet.
Ähnlich deuten wir heute ein Gewitter anhand unserer
vermeintlichen Erfahrungen mit Reibungs-, Entladungs- und
Unterdruckphänomenen sowie anhand einer Vorstellung von
gewaltigen Wolkenbänken, die aufeinanderprallen und Lärm
erzeugen. Kein einziges von diesen Dingen existiert, so wie wir
es uns vorstellen, in der Wirklichkeit. Unsere Vorstellungen von
derlei
physikalischen
Vorkommnissen
sind
ebenso
wirklichkeitsfern wie die Vorstellung von kämpfenden Göttern.
Dennoch erfüllen sie die Funktion einer Metapher, sie wirken
vertraut, und darum glauben wir, wir hätten das Gewitter
verstanden.
Ebenso in anderen Bereichen der Wissenschaft: Wir sagen;
daß wir einen Aspekt der Natur verstanden haben; sobald wir
eine Ähnlichkeit mit einem vertrauten theoretischen Modell
feststellen konnten. Die Ausdrücke »Theorie« und »Modell«
werden übrigens manchmal bedeutungsgleich verwendet, was
jedoch nicht ganz richtig ist. Eine Theorie stellt eine Beziehung
auf zwischen einem Modell und den Dingen, für die das Modell
Modell sein soll. Das Bohrsche Atommodell besteht in einem
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Proton, das von Elektronen umkreist wird. Es erinnert an die
schematische Darstellung des Sonnensystems, und diese war ja
in der Tat eine seiner metaphorischen Quellen. Bohrs Theorie
bestand in der Behauptung, daß alle Atome Ähnlichkeit mit
seinem Modell haben müßten. Mit der späteren Entdeckung
neuer Teilchen und komplizierter Beziehungen zwischen den
Atomen war diese Theorie hinfällig geworden. Doch das Modell
ist geblieben. Ein Modell ist weder wahr noch falsch; wahr oder
falsch ist nur die Theorie von seiner Ähnlichkeit mit dem, wofür
es steht.
Eine Theorie ist also eine metaphorische Beziehung zwischen
einem Modell und einem Tatsachenzusammenhang. Und
wissenschaftliches Verstehen ist das Gefühl, daß zwischen
einem komplizierten Tatsachenzusammenhang und einem
vertrauten Modell eine Ähnlichkeit besteht.
Wenn eine Sache verstehen bedeutet, sich diese Sache mit
Hilfe einer Metapher vertraut zu machen, dann liegt es auf der
Hand, daß es uns immer Schwierigkeiten bereiten wird, das
Bewußtsein zu verstehen. Denn es leuchtet wohl ohne weiteres
ein, daß in unserem unmittelbaren Erleben nichts vorkommt und
nichts vorkommen kann, was mit dem unmittelbaren Erleben
selbst vergleichbar wäre. So gesehen wird es also ein
Verständnis des Bewußtseins niemals im gleichen Sinne geben,
wie wir ein Verständnis der Dinge im Bewußtsein haben
können.
Die Irrtümer über das Bewußtsein, von denen hier die Rede
war,
sind
meistenteils
irreführende
Versuche
der
Metaphernbildung. Wir erwähnten die Vorstellung vom
Bewußtsein als einer Aufzeichnung des Erlebens, die sich
ausdrücklich auf das Bild von der Wachs- oder Schiefertafel
beruft. Natürlich hat nie jemand ernstlich sagen wollen, das
Bewußtsein zeichne das Erleben im buchstäblichen Sinne auf,
sondern nur, daß alles sich so verhält, als ob es dies tue. Daß es
- 77-
überhaupt nichts dergleichen tut, haben wir dann ja bei näherer
Betrachtung gesehen.
Und noch die Vorstellung, die in den oben gebrauchten
Wendungen zum Ausdruck kommt – nämlich daß das
Bewußtsein irgend etwas »tut« –, selbst diese Vorstellung ist
eine Metapher. Sie zeigt uns das Bewußtsein im Bild einer
Person, die sich in einem physikalischen Raum verhält und
Dinge tut – was in Bezug auf das Bewußtsein eben nur
metaphorisch Geltung haben kann. Denn »etwas tun« bezeichnet
die Verhaltensweise eines Lebewesens im physikalischen
Universum. Und dann: Was ist das für ein »Raum«, in dem
dieses metaphorische »Tun« stattfindet? (Da und dort beginnt
der Staub sich schon zu legen.) Auch dieser »Raum« kann nichts
anderes sein als eine Metapher des wirklichen Raums. Wir
fühlen uns hier an unsere Überlegungen zum »Sitz« des
Bewußtseins erinnert, der ebenfalls nur eine metaphorische
Existenz hat. Man betrachtet das Bewußtsein als ein Ding und
muß ihm deshalb wie den anderen Dingen einen Ort im Raum
zuweisen – den es, wie wir gesehen haben, in Wirklichkeit nicht
hat.
Ich bin mir durchaus im klaren darüber, daß mein
Gedankengang im Moment auf ziemlich verschlungenen und
überwachsenen Pfaden verläuft. Aber bevor wir wieder in
übersichtlicheres Gelände hinaustreten, möchte ich noch eine
Sache erklären, die ich künftig mit dem Ausdruck »Analogon«
bezeichnen werde. Ein Analogon ist ein Modell, allerdings ein
Modell besonderer Art. Es ist nicht das gleiche wie ein
wissenschaftliches Modell, das aus allem möglichen
hergenommen sein kann und den Zweck einer Erklärungs- oder
Interpretationshypothese erfüllt. Im Gegensatz dazu ist ein
Analogon Punkt für Punkt aus der Sache abgeleitet, für die es
ein Analogon ist. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Landkarte. Es
handelt sich bei ihr nicht um ein Modell im wissenschaftlichen
- 78-
Sinn, also nicht wie etwa im Fall des Bohrschen Atommodells –
um ein hypothetisches Modell, das eine Erklärung geben soll für
etwas Unbekanntes. Vielmehr bezieht sich die Landkarte auf
einen verhältnismäßig gut, wenn nicht sogar vollständig
bekannten Sachverhalt. Jedem Gebietssektor in der Natur
entspricht ein Sektor auf der Karte, wenngleich das Gelände und
die Karte aus völlig verschiedenen Materialien bestehen und die
Merkmale des Geländes bei der Abbildung größtenteils
entfallen. Die Beziehung nun zwischen dem Analogon
Landkarte und dem dazugehörigen Gelände ist metaphorischer
Natur. Wenn ich auf einen Punkt auf der Landkarte zeige und
sage: »Da ist der Montblanc, von Chamonix aus können wir die
Ostwand auf diesem Weg erreichen«, ist das eigentlich eine
verkürzte Art zu sagen: »Die Beziehungen zwischen dem als
›Montblanc‹ bezeichneten Punkt und anderen Punkten auf der
Karte ähneln den Verhältnissen in der Natur.«
Die Metaphernsprache des Geistes
Ich glaube, zumindest umrißhaft ist jetzt zu erkennen, was aus
dem Schutt, den das letzte Kapitel hinterlassen hat, Neues zum
Vorschein kommt. Vorläufig ging es mir freilich nicht so sehr
darum, meine These Schritt für Schritt vor Ihnen zu entwickeln,
sondern vielmehr Ihnen bestimmte Gedanken- und
Begriffszusammenhänge wenigstens so weit nahezubringen, daß
Ihnen das, was ich als nächstes zu sagen habe, nicht von
vornherein völlig abwegig vorkommt. Ich werde nun auf den
folgenden, wie ich selbst am besten weiß: schwierigen und
ausgesprochen weitschweifigen Seiten dieses Buches einfach so
verfahren, daß ich das Endergebnis langer Überlegungen in
Form einer allgemeinen Behauptung vorwegnehme, um dann zu
erläutern, was es im einzelnen bedeutet.
Also: Der subjektive, seiner selbst bewußte Geist ist ein
Analogon der sogenannten wirklichen Welt. Seine Bauelemente
bestehen in einem Wortschatz (einem »Lexikon« oder, noch
- 79-
besser,
einem,
»lexematischen
System«,
wie
die
Sprachwissenschaftler sagen würden), der sich ausnahmslos aus
Metaphern oder Analoga von konkretem Verhalten in der
materiellen Welt zusammensetzt. Was seinen Realitätsstatus
betrifft, steht er auf gleicher Ebene mit der Mathematik. Er setzt
uns in den Stand, unter Umgehung von konkretem Verhalten zu
sachgemäßeren Entscheidungen zu gelangen. Wie die
Mathematik ist es eher ein Operator als ein Ding oder Speicher.
Und er hängt aufs engste mit Wollen und Entscheiden
zusammen.
Denken wir daran, welche Wörter wir benutzen, um
Bewußtseinsvorgänge zu beschreiben. Weitaus überwiegend
finden wir die Ausdrücke aus dem visuellen Bereich. Wir
»sehen« die Lösung eines Problems, die uns womöglich noch
»glanzvoll« erscheint. Während wir dem einen Menschen ein
»helles« Köpfchen zugestehen, scheint es bei anderen in dieser
Hinsicht »düster« oder »trübe« auszusehen. Diese Ausdrücke
sind samt und sonders Metaphern, und der Innenraum, auf den
sie sich beziehen, ist eine Metapher des realen Raums. In diesem
Innenraum können wir ein Problem »angehen« und womöglich
sogar unter einem bestimmten »Gesichtspunkt«, wir können es
»aufdröseln«, um seine Einzelheiten besser zu »begreifen«, und
immer so weiter, immer weiter erfinden Verhaltensmetaphern
für uns Dinge, die wir in diesem metaphorischen Innenraum tun
können.
Und die Merkmale des körperlichen Verhaltens im wirklichen
Raum werden in analoger Verwendung dem geistigen Verhalten
im Bewußtseinsraum zugeschrieben, wenn wir von »geistiger
Aufgewecktheit«, »Trägheit« oder »Rührigkeit«, von
»Geisteskraft« oder »Geistesschwäche« sprechen. Der
Bewußtseinsraum, in dem derlei metaphorische Aktivitäten vor
sich gehen, hat eine Vielzahl spezieller Eigenschaften: Wir
denken und empfinden »oberflächlich« oder »tief«, sind
»engstirnig«, »aufgeschlossen« oder »beschränkt«. Wir sind
- 80-
»voll« von irgend etwas, voller Freude oder Sorgen oder
Gedanken. Wir lassen Erlebnisse in uns »einsinken«. Wir
schlagen uns etwas »aus« dem Sinn oder »behalten« es darin,
etwas anderes »leuchtet uns ein«.
Wie im wirklichen Raum können wir auch im
Bewußtseinsraum Dinge »in den Hintergrund« drängen, in
»tiefste Seelentiefen« verbannen. Etwas kann über unser
»Fassungsvermögen« gehen. Wenn wir andere überzeugen
wollen, suchen wir nach Argumenten, die »unter die Haut
gehen«. Voraussetzung jeder Verständigung ist eine
»gemeinsame Basis«. Manchmal haben wir es mit
Gesprächspartnern zu tun, die sich völlig »abschotten«, zu ihnen
»dringen« wir dann nicht mehr »durch«. Und so weiter und so
weiter: alles Handlungen, die ursprünglich einmal im wirklichen
Raum ihren Platz hatten und als Analoga in den
Bewußtseinsraum übertragen wurden.
Aber was ist das, was wir da metaphorisch wiedergeben? Wir
haben gesehen, daß eine Metapher üblicherweise dazu dient,
eine Sache oder einen Sachverhalt oder einen Aspekt dieser
beiden wiederzugeben, sofern eine anderweitige Bezeichnung
nicht zur Verfügung steht. Was da jeweils benannt, bezeichnet,
wiedergegeben, zum Ausdruck gebracht oder lexematisch
erweitert werden soll, nannten wir den Metaphoranden. Auf
diesen wenden wir als Operator eine ähnliche, aber vertrautere
Sache an, die wir Metaphorator nennen. Der Vorgang ergab sich
ursprünglich
immer
aus
dem
allerpraktischsten
Lebenszusammenhang, etwa wenn es darum ging, einen
Meeresarm als besonders ergiebigen Fischgrund namhaft zu
machen oder Nägel mit Köpfen zu versehen, weil sie so besser
hielten. Die Metaphoratoren waren in diesen Fällen Arm und
Kopf, der Metaphorand ein bestimmter Teil des Meeres oder
dieses bestimmte Ende des Nagels, beide jeweils schon
vorhanden. Erklären wir nun den Bewußtseinsraum als
Metapher des physikalischen Raums, dann spielt in diesem Fall
- 81-
die wirkliche Welt, die »Außenwelt«, die Rolle des
Metaphorators. Wenn jedoch die metaphorische Relation als
solche eher die Erzeugungsbedingung des Bewußtseins als
dessen nachträgliche Beschreibung darstellt – was wäre dann
hier der Metaphorand?
Paraphoratoren und Paraphoranden
Betrachten wir das Wesen der Metapher etwas genauer
(wobei uns ständig auffällt, daß so gut wie alles, was wir sagen,
metaphorischen Charakter hat), so finden wir (auch das Verb
»finden«!) außer Metaphorator und Metaphorand noch weitere
Komponenten. Der eigentliche Gehalt von komplexen
Metaphern liegt in den allermeisten Fällen in den zahlreichen
dem Metaphorator zugesellten, Assoziationen und Attributen,
die ich fortan als »Paraphoratoren« bezeichnen werde. Und
diese Paraphoratoren gelangen durch; Rückprojektion auch in
den Metaphoranden, wo ich sie als Paraphoranden des
Metaphoranden ansprechen werde. Zugegeben: das ist Jargon;
genausoviel Jargon jedoch wie absolut unerläßlich, um in der
Sache selbst auch nicht den Schatten eines Mißverständnisses
aufkommen zu lassen.
Anhand einiger Beispiele werde ich zeigen, daß die Zerlegung
der Metapher in diese vier Komponenten auf einen im Grunde
ziemlich simplen Sachverhalt zielt und im selben Zug etwas
aufhellt, wofür uns sonst die Worte fehlen würden.
Nehmen wir die Metapher von der »Schneedecke«, die die
Erde »einhüllt«. Metaphorand ist hier die Lückenlosigkeit,
womöglich auch die Dichte oder Dicke des Belags. Der
Metaphorator ist »Bettdecke«. Doch die ansprechenden Oberund Untertöne der Metapher gehen von den Paraphoratoren des
Metaphorators »Bettdecke« aus. Sie signalisieren Wärme,
Geborgenheit und wohligen Schlaf, dem irgendwann ein
Wiedererwachen folgen wird. Diese Assoziationen zu der
- 82-
Vorstellung »mit einer Decke einhüllen« werden jetzt
automatisch auch zu Assoziationen oder Paraphoranden des
ursprünglichen Metaphoranden »Schneebelag auf dem Boden«.
Und so haben wir vermittels dieser Metapher die Vorstellung
geschaffen, daß die Erde unter der Schneedecke geborgen
Winterschlaf hält, bis sie im Frühjahr wieder erwacht. Das alles
steckt in einer so simplen Sache wie der Verwendung der
Wörter »Decke« und »einhüllen« für die Art und Weise, wie der
Schnee sich zum Unterboden verhält.
Natürlich sind nicht alle Metaphern so fruchtbar. In jenem
häufig bemühten Bild vom Schiff, das die Wellen pflügt, ist der
Metaphorand die Einwirkung des Schiffsbugs auf das Wasser
und der Metaphorator die Tätigkeit des Pflügens. Die
Zuordnung zwischen beiden ist, in mathematischer Sprache
ausgedrückt, eineindeutig. Und damit hat sich’s.
Aber wenn ich von einem (womöglich »munteren«) Bächlein
sage, es durchquere singend und springend den Wald, dann ist
die Zuordnung zwischen dem Metaphoranden – das heißt der
plätschernden, brabbelnden Unrast des Baches – und dem
Metaphorator – das heißt (möglicherweise) einem singenden,
springenden Kind – alles andere als eindeutig, geschweige denn
eineindeutig. Das eigentlich Interessante ist in diesem Fall, daß
die Paraphoratoren »Ausgelassenheit« und »Munterkeit« zu
Paraphoranden des Bächleins geworden sind.
Und nehmen wir das vielbedichtete Gleichnis von der Liebe,
die »wie eine Rose« ist. Auch hier sind es nicht so sehr die
oberflächlichen Entsprechungen zwischen Metaphorand und
Metaphorator, was uns daran fesselt, als vielmehr die
Paraphoranden: Die Liebe braucht zum Leben Sonnenschein, sie
duftet süß, sie kehrt Stacheln hervor, wenn unsanft mit ihr
umgegangen wird, und sie welkt nach kurzer Blüte. Oder
nehmen wir an, ich gebrauche einen weniger dem Gesichtssinn
verpflichteten, aber dafür um so tiefsinnigeren Vergleich, indem
ich sage, meine Liebe sei wie eine zinnerne Schaufel, die ihre
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kunstreiche Gestalt verleugnet, um bis auf den Grund des
Kastens tief ins weiche Mehl zu tauchen. 5 Die direkte
Übereinstimmung zwischen Metaphorand und Metaphorator –
nämlich daß beide dem Blick des Uneingeweihten verborgen
bleiben – läuft in diesem Fall auf eine Banalität hinaus. Dagegen
beschwören die Paraphoranden der Metapher etwas herauf, was
unmöglich in den Gegebenheiten als solchen anzutreffen wäre:
Vollkommenheit, Glanz und Echtheit dauerhafter Liebe, tief
verborgen und dennoch bewahrt im nachgiebigen,
schmiegsamen, weichlastenden Medium der Zeit. Das Ganze
wiederum ist – mit eigenen Paraphoratoren/Paraphoranden – ein
Bild des Geschlechtsakts aus männlicher Sicht. Die Liebe hat
derlei Eigenschaften nur, insofern wir sie mit Hilfe der
Metaphorik erzeugen.
Und das Bewußtsein ist aus solchem Stoff, wie Dichtung ist.
Das wird sich zeigen, wenn wir uns jetzt wieder der Metaphorik
des Geistes zuwenden, mit der wir es bereits zu tun hatten.
Nehmen wir an, wir haben ein einfaches Problem zu lösen, wie
es zum Beispiel in der Kreis-Dreieck-Reihe des
vorangegangenen Kapitels vorliegt. Und nehmen wir weiter an,
wir drücken den erfolgreichen Abschluß der Operation mit dem
lauten Ausruf aus, daß wir jetzt endlich die Lösung (nämlich ein
Dreieck) »sehen«.
Diese Metapher läßt sic h nach dem gleichen Schema zerlegen
wie die »einhüllende« Schneedecke und das »muntere«
Bächlein. Metaphorand ist das Auffinden der Lösung,
Metaphorator ist das leibliche Sehen, und Paraphoratoren sind
all jene Einzelheiten im Assoziationsfeld des Sehvermögens, die
ihrerseits Paraphoranden schaffen – Paraphoranden wie zum
Beispiel das »innere Auge«, »die Lösung deutlich vor sich
sehen« und so weiter; und als wichtigsten von allen: den
5
Der Vergleich ist dem Ge dicht »Mossbawn (for Mary Heany) von Seumas
Heany entnommen (North, London: Faber 1974).
- 84-
Paraphoranden von einem »Raum«, in dem das »Sehen« vor
sich geht (der »Be wußtseinsraum«, »innere Raum«,
»Seelenraum«, »geistige« oder »mentale Raum« oder ähnliche
Ausdrücke), mitsamt »Gegenständen«, die dort »zu sehen« sind.
Die vorstehende knappe Skizze soll keineswegs eine echte
Theorie ersetzen, die erklärt, wie es überhaupt zum Auftreten
von Bewußtsein kam. Auf diese Frage werden wir im Zweiten
Buch eingehen: Meine Absicht an dieser Stelle ist lediglich, den
hypothetischen Gedanken zu vermitteln – eine Hypothese, deren
Plausibilität ich in der Folge zu erweisen hoffe –, daß
Bewußtsein ein Werk der sprachlichen Metaphorik ist, ein
Gewirke
aus
den
konkreten
Metaphoratoren
des
Sprachausdrucks und ihren Paraphoratoren, die projektiv
Paraphoranden aus sich entlassen, deren Sein mit ihrer Funktion
identisch ist. Und weiter: das Be wußtsein; einmal gegeben,
zeugt sich von selber fort, insofern jeder neue Paraphorand
seinerseits wieder zu einem Metaphoranden werden kann, der
dann neue Metaphoratoren samt ihren Paraphoratoren auf den
Plan ruft ... (Und so weiter.)
Natürlich ist dieser Vorgang nicht das Spiel des Zufalls und
kann es nicht sein, als das er hier vorläufig erscheint. Die Welt
besitzt einen – sogar sehr hohen – Grad an Organisiertheit, und
infolgedessen erzeugen die Bewußtseinserzeugenden konkreten
Metaphoratoren das Bewußtsein in organisierter Form. Das ist
der Grund für die Übereinstimmungen zwischen dem
Bewußtsein und der Ding- und Verhaltenswelt, deren es sich
bewußt ist. Und auch der Grund, warum sich die Struktur dieser
Welt – wenngleich mit gewissen Unterschieden – in der Struktur
des Bewußtseins wiederholt.
Noch eine letzte Kniffligkeit, bevor wir unseren Weg
fortsetzen. Zu den Haupteigentümlichkeiten des Analogons
zählt, daß seine Erzeugungsweise sich nicht mit seiner
Verwendungsweise deckt. Klarer Fall: der Kartograph verfährt
anders als später der Benutzer seines Produkts. Für den
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Kartographen ist der Metaphorand das leere Blatt Papier, auf das
er den Operator oder Metaphorator »bekanntes, vermessenes
Gelände« anwendet. Für den Benutzer der Karte verhält sich die
Sache genau umgekehrt: für ihn ist das Gelände die unbekannte
Größe (der Metaphorand), Metaphorator hingegen die Karte, die
er benutzt, um sich im Unbekannten zurechtzufinden.
Und ebenso liegen die Dinge auch im Fall des Bewußtseins.
Das Bewußtsein ist der Metaphorand, wenn es von den
Paraphoranden unserer sprachlichen Ausdrücke erzeugt wird.
Aber das Bewußtsein in Funktion ist sozusagen die Reise in die
Gegenrichtung: Es wird zum Metaphorator voll vergangener
Erfahrungen, in fortwährender selektiver Operation mit
Unbekannten befaßt – Unbekannte wie zum Beispiel Fragen
unseres Handelns in der Zukunft, unserer Entscheidungsfindung
in der Gegenwart oder einer nur bruchstückhaft erinnerten
Vergangenheit-, befaßt mit der Frage, was wir sind und
womöglich noch werden können. Und wir danken es der
vorgängig erzeugten Bewußtseinsstruktur, daß wir uns in der
Welt zurechtfinden.
Wie läßt sich diese Bewußtseinsstruktur im einzelnen
charakterisieren? Nur die wichtigsten Punkte seien im folgenden
andeutungsweise herausgestellt.
Die Eigenschaften des Bewußtseins
1. Spatialisierung. Den ersten und ursprünglichsten Aspekt
des Bewußtseins haben wir schon bei früherer Gelegenheit
erwähnt; er ist als Paraphorand in nahezu jeder Metapher, die
wir über »Geist« bilden können, mit enthalten: der mentale
(geistige, »innere«) Raum, den wir als das ureigenste
Heimatrevier der ganzen Veranstaltung kurzerhand dorthin, wo
er sich befindet, nämlich nach »innen«, transferieren. Wenn ich
Sie jetzt auffordere, an Ihren Kopf zu denken, sodann an Ihre
Füße, dann an das Frühstück, das Sie heute morgen zu sich
- 86-
genommen haben, dann an den Eiffelturm und zuletzt an das
Sternbild des Orion: dann haben diese Dinge in Ihrer
Vorstellung die Qualität des räumlichen Getrenntseins; und von
dieser Qualität ist hier die Rede. Eben dieser metaphorische
»innere« Raum ist es, in den wir bei der Introspektion (ein
Fremdwort, das soviel wie »Innenschau« bedeutet, also
metaphorischen Charakter hat) hineinblicken und den wir dabei
fortwährend neu erzeugen und mit jedem Ding und jeder
Relation, die wir neu »ins« Bewußtsein aufnehmen,
»erweitern«.
Im Ersten Kapitel sagte ich, daß wir diesen Bewußtseinsraum
in unserem eigenen Kopf wie in den Köpfen der anderen
»erfinden«. Der Ausdruck »erfinden« schießt vielleicht ein
bißchen übers Ziel hinaus, es sei denn, man versteht ihn in rein
ontologischer Bedeutung, das heißt im Sinn von »fingieren«. Es
verhält sich eher so, daß wir diese »Räume« umstandslos
voraussetzen. Sie gehören zum »Bewußtsein haben« (im
eigenen
Fall)
und
zum
(fraglos
unterstellten)
»Fremdbewußtsein« einfach mit dazu.
Überdies werden Realitäten der Ding-Verhaltens-Welt, die an
und für sich nicht die Qualität der Räumlichkeit besitzen, im
Bewußtsein mit dieser Qualität ausgestattet. Anders können wir
uns ihrer nicht bewußt werden. Wir heißen das: Spatialisierung.
Ein evidentes Beispiel hierfür ist die Zeit. Wenn ich Sie
auffordere, sich die letzten hundert Jahre zu denken, mögen Sie
das Ganze etwa dergestalt ins »Exzerpt« bringen (siehe den
folgenden Punkt 2), daß Sie sich die Jahresfolge in Form einer
Strecke vorstellen, die vielleicht in einem Punkt linker Hand
beginnt und in einem Punkt rechter Hand endet. Doch
selbstverständlich kennt die Zeit kein Links noch Rechts; hier
existiert nur Davor und Danach – ein Verhältnis, das keinerlei
räumlichen Charakter hat, es sei denn per analogiam. Es ist
unmöglich – absolut unmöglich-, sich die Zeit vorzustellen,
ohne sie zu verräumlichen. Bewußtsein bedeutet immer –
- 87-
Spatialisierung: die Umwandlung von Diachronie in Synchronie,
die Repräsentation zeitlicher Geschehensfolgen im Exzerpt und
als räumliches Nebeneinander.
Diese Spatialisierung ist ein Charakteristikum jeglichen
bewußten Denkens. Sollten Sie sich jetzt überlegen, wie sich
meine spezielle Theorie in das Gesamtschema der bereits
existierenden Theorien des Geistes einfügt, so »wenden« Sie
sich zunächst in gewohnter Manier »nach innen«, in Ihren
Bewußtseinsraum,
wo
Abstrakta
zwecks
genauerer
»Betrachtung« »isoliert« und einander »gegenübergestellt«
werden können – was materialiter und realiter niemals der Fall
sein könnte. Alsdann bilden Sie die Metapher von Theorien als
konkreten Objekten und zum zweiten die Metapher von der
zeitlichen Aufeinanderfolge dieser Objekte als einem
synchronischen Schema und drittens die Metapher von TheorieMerkmalen als dinglichen Merkmalen, die sämtlich prinzipiell
skalierbar sind, so daß sie sich nach ihren jeweiligen
»Stellenwerten« in einen »Zusammenhang« bringen lassen.
Damit sind Sie dann praktisch auch schon bei dem
metaphorischen Ausdruck »einfügen«, der hier das
Bewußtseins-Analogon einer realen Verhaltensweise bezeichnet.
Was der Ausdruck an Realem bezeichnet, mag von Individuum
zu Individuum und von Kulturkreis zu Kulturkreis schwanken,
je nach den vorherrschenden Erfa hrungen mit dem
ordnungsgemäßen Zusammensetzen von Dingen; ein Juwelier
zum Beispiel könnte an das »Einfügen« von Edelsteinen in ihre
Fassung denken und so weiter. Infolgedessen ist das
metaphorische Substrat des Denkens bisweilen höchst
verwickelt und schwer zu entwirren. Doch jeder bewußte
Gedanke, den Sie bei der Lektüre dieses Buches haben, läßt sich
in der bezeichneten Weise analytisch zurückverfolgen bis zu
konkreten Handlungen in der Welt des Konkreten.
2. Exzerpierung. Im Bewußtsein »sehen« wir niemals etwas
- 88-
zur Gänze. Das kommt daher, daß dieses »Sehen« ein Analogon
von realem Verhalten ist; und in der Realität vermögen wir eine
Sache in jedem gegebenen Zeitpunkt nur partiell zu sehen
beziehungsweise sie im Handeln nur partiell zu berücksichtigen.
Genauso ist es im Bewußtsein. Aus dem Ensemble der
möglichen »Hinsichten« – der »Aspekte« einer Sache, die ipso
facto Teilaspekte sind, greifen wir ein Stück heraus, ein
»Exzerpt«, das unser Wissen vom Ganzen in sich verkörpert.
Und mehr geht nicht, weil das Bewußtsein eine Metapher
unseres leiblichen Verhaltens ist.
Fordere ich Sie beispielsweise auf, sich einen Zirkus
vorzustellen, so werden Sie zunächst einen kurzen Moment lang
eine leichte Vorstellungstrübung erleben, aus der dann
(möglicherweise) ein Bild von fliegenden Trapezkünstlern oder
(andere Möglichkeit) von einem Clown im Ring oder etwas
Ähnliches auftaucht. Oder: stellen Sie sich die Stadt oder
Ortschaft vor, in der Sie sich zur Zeit aufhalten: irgendeine
Einzelheit – etwa ein bestimmtes Bauwerk, ein Turm oder eine
bestimmte Straßenkreuzung – wird Ihnen als Exzerpt dienen.
Und bitte ich Sie jetzt, an sich selbst zu denken, dann werden
Sie irgendwelche Exzerpte aus Ihrer jüngsten Vergangenheit
anfertigen in der Überzeugung, auf diese Weise dächten Sie an
sich selbst. In sämtlichen genannten Fällen erscheint es uns
weder problematisch noch sonderlich paradox, daß die Exzerpte
nicht die Sachen selber sind, obzwar wir so reden, als wären sie
es. In Wirklichkeit sind wir uns niemals der Dinge, wie sie an
sich selber sind, bewußt, sondern immer nur der Exzerpte, die
wir uns von ihnen machen.
Die Exzerpierung wird von Variablen gesteuert, denen noch
viel mehr Nachdenken und Forschung gewidmet werden müßte.
Denn sie bestimmen das gesamte bewußte Weltbild des
einzelnen sowie sein Bild von seinen Mitmenschen. Wie Sie
einen Menschen aus Ihrer Bekanntschaft exzerpieren, hängt eng
mit Ihrer affektiven Einstellung zu ihm zusammen. Wenn Sie
- 89-
ihn mögen, exzerpieren Sie seine angenehmen Seiten. Wenn
nicht, die unangenehmen. Die Ursächlichkeit kann in der einen
wie in der anderen Richtung funktionieren.
Wie wir andere Menschen exzerpieren, das entscheidet
weitgehend darüber, welches Gesicht unsere Lebenswelt uns
zeigt. Nehmen wir zum Beispiel unsere Familienangehörigen
während unserer Kindheit. Orientieren sich unsere Exzerpte von
ihnen an den Fällen, in denen sie versagt haben, an ihren
verborgenen inneren Konflikten, ihren Selbsttäuschungen – na
ja, das wäre die eine Möglichkeit. Doch wenn wir sie in ihren
glücklichsten Momenten, auf dem Gipfel ihrer persönlichsten
Freuden exzerpieren – dann sieht die Welt gleich ganz anders
aus. Künstler und Schriftsteller tun nichts anderes, als die
Vorgänge, die »im« Bewußtsein mehr oder weniger unter
Zufallsbedingungen ablaufe n, einer methodischen Kontrolle zu
unterwerfen.
Die Exzerpierung ist etwas anderes als das Gedächtnis. Das
Exzerpt einer Sache ist der Vertreter der Sache oder des
Ereignisses, woran sich Erinnerungen knüpfen, im Bewußtsein,
und es versetzt uns in die Lage, Erinnerungen aus dem
Gedächtnis abrufen zu können. Will ich mir in Erinnerung rufen,
was ich vergangenen Sommer gemacht habe, nehme ich
zunächst eine Exzerpierung des fraglichen Zeitraums vor, die
vielleicht in einem flüchtigen Vorstellungsbild von ein paar
Monatsspalten im Kalender besteht, bis ich schließlich bei der
Exzerpierung eines bestimmten Ereignisses verweile, etwa bei
einem Spaziergang entlang einem bestimmten Fluß. Von hier
aus ergehe ich mich dann in Assoziationen und rufe mir
Erinnerungen an den vergangenen Sommer zurück. Diesen
Vorgang meinen wir, wenn wir von Reminiszenzen sprechen: Er
ist eine spezifische Bewußtseinsleistung, deren kein Tier fähig
ist. Das Reminiszieren ist eine Folge von Exzerpierungen. Jede
sogenannte Bewußtseinsassoziation ist eine Exzerpierung, eine
aus dem Zeitfluß des Erlebens herausgegriffene Teilansicht oder
- 90-
ein stehendes Bild, wenn man so will, deren Gestaltung durch
Persönlichkeits- sowie fallweise wechselnde situative Faktoren
bedingt ist. 6
3. Das Ich (qua Analogon). Ein höchst wichtiges »Merkmal«
der Metapher »Welt« ist die Metapher, die wir von uns selber
haben: das Analogon »ich«, das sich in unserer »Vorstellung«
stellvertretend »frei bewegen« und dabei »tun« kann, was wir
realiter nicht tun. Für solch ein »Ich (qua Analogon)« gibt es
natürlich eine Menge Verwendungen. Wir stellen »uns« vor, daß
wir entweder dies oder jenes »tun«, und »finden« daraufhin
anhand von vorgestellten »Resultaten« eine Entscheidung – was
unmöglich wäre, verfügten wir nicht über ein Vorstellungs»Selbst«, das in einer Vorstellungs-»Welt« agiert. Kehren wir
nochmals zurück zu dem im Abschnitt über die Spatialisierung
gegebenen Beispiel: Nicht Ihr Körper-Verhaltens-Selbst stellte
dort die »Betrachtung« an, wie sich meine Theorie in das
Schema alternativer Theorien »einfügt«. Nein, das war Ihr »Ich
(qua Analogon)«.
4. Das Ich (qua Metapher). Das Analogon »ich« begnügt sich
jedoch nicht mit dieser einen Rolle: Es tritt zugleich als
Metapher auf. Während wir in unserer Vorstellung den längeren
Weg entlangschlendern, erhaschen wir in der Tat auch manchen
flüchtigen »Blick« auf »uns aus der Distanz« (»autoskopische
Vorstellungen«), wie wir schon bei Gelegenheit der
Übungsbeispiele im Ersten Kapitel festgestellt haben. Wir
können einesteils aus dem Vorstellungs-Selbst hinaus in ein
6
Individuelle Unterschiede oder alters- und gesundheitsbedingte
Schwankungen in der Exzerpierungsweise sind ein überaus interessanter
Untersuchungsgegenstand. So z. B. bewirkt psychisches oder physisches
Leiden einen drastischen Wandel in unserer Art und Weise, die Welt zu
exzerpieren.
- 91-
vorgestelltes Gesichtsfeld sehen, und wir können zum andern
ein Stück zurücktreten und uns selbst beobachten, wie wir etwa
an dem oder jenem Bach niederknien, um einen Schluck Wasser
zu trinken. Wir stehen hier zweifellos vor einem durchaus
schwerwiegenden Problemkomplex, konzentriert in der Frage
nach dem Verhältnis zwischen »Ich (qua Analogon)« und »Ich
(qua Metapher)«. Die Antwort würde eine Abhandlung für sich
füllen. Indes wollte ich hier die Natur des Problems nur kurz
antippen.
5. Narrativierung. Das Stellvertreter-Selbst, das wir im
Bewußtsein sehen, ist immer der Held einer Lebensgeschichte.
In unserem mehrfach zitierten Beispiel springt die
Narrativierung in die Augen, insofern sich das Ganze zu einer
Episode »Waldspaziergang« zusammenschließt. Weniger
augenfällig ist die Tatsache, daß wir, wann immer und solange
wir uns in bewußtem Zustand befinden, ununterbrochen auf
solche Weise am Werk sind – an einem Werk, das ich
Narrativierung nenne. Ich sitze hier und schreibe ein Buch, und
dieser Umstand ist in meine Lebensgeschichte so ungefähr an
deren Mittelpunkt eingebettet, wobei die Zeit spatialisiert ist zu
einem Wanderweg durch Jahr und Tag. Neue Situationen
werden vermittels selektiver Wahrnehmung zu Anschlußstücken
dieser Fortsetzungsgeschichte verarbeitet; Wahrnehmungen, die
sich nicht einordnen lassen, bleiben unbeachtet oder jedenfalls
aus dem Erinnerungsvermögen ausgeschlossen. Wichtiger noch:
Situationen, in die ich mich hineinbegebe, werden von
vornherein
so
gewählt,
daß
sie
zu
meiner
Fortsetzungsgeschichte passen, bis das Selbstbild, das ich mir in
meiner Lebensgeschichte schaffe, so weit gediehen ist, daß es
unvorhergesehen auftretende neuartige Situationen auf Anhieb
mit Handlungs- und Auswahlprozeduren zu beherrschen
vermag.
Daß wir unseren Verhaltensmustern diese oder jene Ursache
- 92-
zuschreiben oder eine bestimmte Einzelhandlung so oder so
begründen, das alles gehört mit zur Narrativierung. Derlei
Ursachenzuschreibungen wie Begründungen mögen wahr oder
falsch, wertneutral oder idealisierend sein. Das Bewußtsein ist
allzeit bereit, für jedes x-beliebige Tun, bei dem wir uns
ertappen, eine Erklärung zu liefern. Der Dieb narrativiert sein
Handeln in einen Kausalzusammenhang mit der Armut, der
Künstler mit der Schönheit, der Wissenschaftler mit der
Wahrheit, wobei Ursache und Zweck unauflöslich mit
eingeflochten sind in die Spatialisierung des Verhaltens im
Bewußtsein.
Aber dergestalt narrativieren wir nicht nur unser eigenes »Ich
(qua Analogon)«, sondern alles und jedes, was uns überhaupt ins
Bewußtsein tritt. Ein isoliertes Faktum wird in irgendeinen
Zusammenhang mit einem anderen isolierten Faktum
narrativiert. Ein weinendes Kind auf der Straße: Prompt
narrativieren wir das Vorkommnis im Geist zur Sequenz vom
verirrten Kind und der ängstlich suchenden Mutter. Eine Katze
auf dem Baum: Prompt narrativieren wir das Vorkommnis zur
Sequenz vom Hund, der sie da hinaufgescheucht. Oder wir
narrativieren die Fakten des psychischen Lebens, so wie wir sie
verstehen, zu einer Theorie des Bewußtseins.
6. Kompatibilisierung. Der Aspekt des Bewußtseins, den ich
abschließend herausstellen möchte, ist die Kopie einer
Verhaltenseinheit, die ein gemeinsames Erbteil der meisten
Säuger darstellt. Das reale Urbild jenes Bewußtseinsmerkmals
ist das schlichte Wiedererkennen, bei dem ein maßvoll
mehrdeutiges Wahrnehmungsobjekt einem zuvor erworbenen
Schema angeglichen wird; dieser automatische Vorgang wird
gelegentlich als »Assimilation« bezeichnet. Wir assimilieren
einen ne u auftretenden Reiz unserer Konzeption oder unserem
Schema von ihm, auch wenn er maßvoll davon abweicht. Da wir
die Dinge von einem Augenblick zum nächsten nie in exakt
- 93-
gleichbleibender Weise sehen, hören oder tasten, ist dieser
Assimilationsprozeß, diese Angleichung an vorangegangene
Erfahrungen, ununterbrochen im Gang, solange wir die Welt um
uns her wahrnehmen. Anhand früher erlernter Schemata setzen
wir unsere Eindrücke zu identifizierbaren Gegenständen
zusammen.
Die Assimilation ins Bewußtsein übertragen ergibt die
Kompatibilisierung. Der so bezeichnete Vorgang leistet im
wesentlichen das gleiche im Bewußtseinsraum wie die
Narrativierung in der Bewußtseinszeit beziehungsweise der
spatialisierten Zeit. Die Kompatibilisierung setzt Einzelelemente
zur Einheit eines Bewußtseinsgegenstands zusammen, genauso
wie die Narrativierung Einzelelemente zur Einheit einer
Geschichte zusammensetzt. Und dieses Zusammenfügen in
einen Plausibilitäts- oder Probabilitätszusammenhang vollzieht
sich nach Regeln, die aus früherem Erleben gewonnen wurden.
Bei der Kompatibilisierung passen wir Exzerpte oder
Narrativierungen einander an, ebenso wie bei der
Außenwahrnehmung die innere Konzeption und der
dazutretende Reiz in Übereinstimmung gebracht werden.
Narrativieren wir unser »Ich« als Spaziergänger auf einem
Waldweg, dann wird die Aufeinanderfolge der Exzerpte
automatisch den Bedingungen eines solchen Spaziergangs
angepaßt. Und sollten im Lauf einer Tagträumerei unversehens
zwei unverbundene Exzerpte simultan auftreten oder zwei
Exzerpierungen simultan einsetzen, so werden sie miteinander
verschmolzen: kompatibel gemacht.
Fordere ich Sie auf, gleichzeitig an eine Bergwiese und an
einen Turm zu denken, dann kompatibilisieren Sie die beiden
Dinge automatisch, indem Sie den Turm auf die Wiese stellen.
Indes, wenn ich Sie auffordere, jetzt simultan an die Bergwiese
und das Meer zu denken, dann dürfte die Kompatibilisierung
ausbleiben, und es ist wohl eher so, daß Sie immer nur an eines
von den beiden Dingen auf einmal denken können, also
- 94-
entweder an die Wiese zuerst und dann an das Meer, oder
umgekehrt. In einen gemeinsamen Zusammenhang können Sie
die beiden in diesem Fall nur vermittels Narrativierung bringen.
Es existieren demnach Kompatibilitätskriterien, die den
Vorgang regeln, und diese Kriterien werden erlernt und gründen
in der Struktur der Welt.
Lassen Sie mich kurz zusammenfassen, damit wir einen
»Überblick« gewinnen, wo wir augenblicklich stehen und in
welche Richtung wir marschieren. Wir haben festgestellt, daß
das Bewußtsein ein Operator ist, kein Ding, kein Speicher- oder
Trägergerät und keine Funktion. Es operiert im Medium der
Analogie, indem es einen Analograum konstruiert, zu dem ein
Analogon »ich« gehört, das diesen Raum zu beobachten und
sich metaphorisch darin zu bewegen vermag. Sein
Operationsbereich umfaßt jegliches Handeln; es exzerpiert die
relevanten Aspekte seiner Operanten und stiftet durch
Narrativierung und durch Kompatibilisierung zwischen jenen
einen Zusammenhang in einem Metaphernraum, wo derlei
Bedeutungszusammenhänge manipuliert werden können wie
Dinge im realen Raum. Der seiner selbst bewußte Geist ist ein
räumliches Analogon der Welt, und mentale Akte sind Analoga
von körperlichen Akten. Möglicher Operant für das Bewußtsein
ist nur das objektiv Beobachtbare. Oder, mit anderen Worten
(die John Lockes bekannte Formel variieren): Nichts ist im
Bewußtsein, was nicht Analogon von etwas wäre, das zuvor im
Verhalten war.
Wir sind am Ende eines schwierigen Kapitels angelangt. Ich
hoffe jedoch, es ist mir gelungen, sei’s auch nur umrißhaft,
wenigstens einigermaßen überzeugend darzutun, daß die
Auffassung vom Bewußtsein als einem per Metapher erzeugten
Modell der Welt einige sehr präzise Schlußfolgerungen nach
sich zieht und daß diese Folgerungen sich anhand von
jedermanns bewußter Alltagserfahrung verifizieren lassen. Das
- 95-
Ganze ist natürlich nur ein – zudem noch etwas grobschlächtig
geratener – Anfang, dem ich in einer geplanten weiteren Studie
eine differenziertere Gestalt zu geben hoffe. Er reicht immerhin
aus, uns jetzt die Rückkehr zu unserem Generalthema – der
Frage nach dem Ursprung von dem allen – zu gestatten; weitere
Ausführungen über das Wesen des Bewußtseins für sich selbst
genommen seien auf spätere Kapitel vertagt.
Wenn das Bewußtsein nichts anderes ist als eine Analogwelt
auf sprachlicher Basis – eine Parallele zur Verhaltenswelt in
exakt dem gleichen Sinn, wie man die Mathematik als Parallele
zum quantitativen Aspekt der Dingwelt betrachten kann –, was
können wir dann über seinen Ursprung ausmachen?
Wir sind hier an einem höchst interessanten Punkt unserer
Überlegungen angelangt – einem Punkt, der in vollkommenem
Widerspruch steht zu allem, was die im Einleitungskapitel
erörterten Alternativtheorien an Lösungen des Problems vom
Ursprung des Bewußtseins anzubieten hatten. Denn wenn das
Bewußtsein auf der Sprache beruht, dann folgt daraus, daß es
weit jüngeren Datums ist als bisher angenommen. Das
Bewußtsein entstand später als die Sprache! Diese Auffassung
hat äußerst schwerwiegende Konsequenzen.
- 96-
DRITTES KAPITEL
Die Psychologie der »Ilias«
Im Scheitelpunkt des Riesenrads lernt man einen Augenblick
des Unbehagens kennen, wenn man während der Auffahrt, mit
dem Blick nach innen sitzend, stabile, vertrauenerweckende
Träger und Streben vor sich sah und jetzt auf einmal diese ganze
Konstruktion wegtaucht und man zur Abfahrt jäh hinausgehoben
wird ins Leere.
So etwa empfinden wir auch in diesem Augenblick. Denn
sämtliche wissenschaftlichen Theorien, die wir in der Einleitung
durchgemustert haben, einschließlich meiner eigenen
vorläufigen Ausgangsposition, sie alle versicherten uns:
irgendwann weit zurück in der Entwicklungsgeschichte der
Säuger oder noch davor hat sich durch natürliche Selektion das
Bewußtsein entwickelt. Wir hielten es für gesichert, daß
zumindest einige Tiere bereits ein Bewußtsein hatten. Für
gesichert, daß das Bewußtsein in wesentlicher Hinsicht mit der
Evolution des Gehirns und, sehr wahrscheinlich, der Evolution
von dessen Rindenschichten zusammenhängt. Und auf alle Fälle
hielten wir es für gesichert, daß der Mensch der Frühzeit bereits
ein Bewußtsein hatte, als er sich anschickte, das Sprechen zu
erlernen.
Von diesen Sicherheiten ist nichts mehr übrig: Mit einem
ganz neuen Problem hängen wir jetzt anscheinend im Leeren.
Auch
wenn
die
impressionistisch
ausgeführte
Bewußtseinstheorie, die wir im vorangegangenen Kapitel
aufgestellt haben, nichts weiter leistet, als ungefähr die richtige
Richtung zu bezeichnen – falls sie das tut –, kann das
Bewußtsein nur in der menschlichen Spezies entstanden sein,
und die entsprechende Entwicklung kann nur nach der
Entwicklung der Sprache stattgefunden haben.
- 97-
Könnten wir nun davon ausgehen, daß die menschliche
Entwicklungsgeschichte ein einfaches Kontinuum darstellt, so
wäre unser weiteres Vorgehen im Grundsatz festgelegt: Wir
hätten uns von jetzt an mit der Evolution der Sprache zu
beschäftigen und sie, so gut es eben geht, zu datieren. Anhand
dieser Vorgabe hätten wir sodann die menschliche
Psychoevolution nachzuzeichnen, bis wir schließlich und
endlich unser Ziel, die Antwort auf unsere Ausgangsfrage,
erreicht hätten: irgendeinen Ort und Zeitpunkt, für den wir
aufgrund dieses oder jenes Kriteriums behaupten könnten, daß
hier und nirgendwo sonst der Ursprung und Anfang des
Bewußtseins anzusetzen ist.
Aber die menschliche Entwicklungsgeschichte ist kein
einfaches Kontinuum. Um 3000 v. Chr. kommt in der
Geschichte der Menschheit eine seltsame und höchst
folgenreiche Praxis auf. Sie besteht in der Umwandlung
gesprochener Laute in kleine Markierungen auf Stein oder Ton
oder Papyrus (neuerdings Papier), so daß die Sprache fortan
nicht mehr nur gehört, sondern auch gesehen werden kann; und
zwar im Prinzip von x-beliebigen Personen, nicht nur von
denen, die sich gerade in Hörweite befinden. Ehe wir uns also an
die Ausführung des im vorigen Absatz aufgestellten Programms
machen, sollten wir zweckmäßigerweise erst herauszufinden
suchen, ob der Ursprung des Bewußtseins vor oder nach
Erfindung dieser sichtbaren Sprache datiert. Deren früheste
Zeugnisse bieten sich als erste zur Untersuchung an. Die Frage,
mit der wir es jetzt zu tun haben, lautet also: Welche
»Mentalität« – welches Stadium der Psychoevolution – zeigt
sich in den frühesten Schriftdokumenten der Menschheit?
Aber kaum haben wir uns den ältesten Schrifturkunden des
Menschengeschlechts zugewandt, um in ihnen nach Anzeichen
für das Vorhandensein oder Fehlen eines subjektiven, seiner
selbst bewußten Geistes zu suchen, bauen sich auch schon
zahllose technische Schwierigkeiten vor uns auf. Die größte von
- 98-
ihnen ist das Problem, wie man Schriftwerke übersetzen soll, die
möglicherweise Ausdruck einer von der unseren völlig
verschiedenen Geistesverfassung sind. Und dieses Problem zeigt
sich in seiner ganzen Schärfe gerade bei den urältesten
Schriftdokumenten. Diese sind in Hieroglyphen, hieratischer
Schrift und Keilschrift abgefaßt und tauchen interessanterweise
– in allen erwähnten Schriftarten ungefähr um 3000 v. Chr.
erstmals auf. Von keiner dieser Schriftarten läßt sich behaupten,
sie sei restlos entziffert. Wo sie von konkreten Dingen handeln,
machen sie nur wenig Schwierigkeiten. Sobald man es jedoch
mit ausgefallenen Symbolen zu tun hat, deren Sinn sich nicht
aus dem Kontext erschließt, ist man in solchem Maß aufs
Rätselraten angewiesen, daß diese faszinierenden Zeugnisse der
Vergangenheit sich unter der Hand in einen Rorschachtest
verwandeln, in den neuzeitliche Altertumsforscher ihre eigene
Subjektivität hineinprojizieren, ohne dieses verzerrenden
Einflusses selber recht gewahr zu werden. Infolgedessen sind
hier Anhaltspunkte dafür, ob die ersten ägyptischen Dynastien
oder die Kulturen Mesopotamiens bereits ein Bewußtsein
kannten oder nicht, nicht mit dem für die Stringenz unseres
Beweisgangs unerläßlichen Grad an Zweifelsfreiheit zu
gewinnen. Auf diesen ganzen Fragenkomplex werden wir im
Zweiten Buch noch einmal zu sprechen kommen.
Das erste Schriftwerk der Menschheitsgeschichte, dessen
Sprache wir mit hinreichender Gewißheit meistern, um es im
Zusammenhang mit meiner Hypothese in Betracht ziehen zu
können, ist die »Ilias«. Den Erkenntnissen der neueren
Forschung zufolge gewann diese Rachegeschichte voll Blut,
Schweiß und Tränen ihre Form in der mündlichen Überlieferung
von fahrenden Sängern, den aoidoi, und zwar in dem Zeitraum
von etwa 1230 v. Chr. (wohin man das in dem Epos berichtete
Geschehen zu datieren hat: dies ergibt sich als Schlußfolgerung
- 99-
aus einigen neuerdings aufgefundenen hethitischen Tontafeln7 )
bis etwa 900/850 v. Chr. (dem Datum der ersten Niederschrift).
Ich möchte diese Dichtung im folgenden als ein psychologisches
Dokument von gewaltiger Tragweite behandeln. Und die Frage,
die wir an es zu richten haben, lautet: Wie stellt sich die
menschliche Psyche in der »Ilias« dar?
Die Sprache der »Ilias«
Die Antwort ist mehr als interessant, nämlich geradezu
aufrüttelnd. Die »Ilias« weiß im allgemeinen nichts von einem
Bewußtsein. (Ich sage »im allgemeinen«, weil ich später noch
auf ein paar Ausnahmen zu sprechen kommen werde.) Und
dementsprechend kennt sie im allgemeinen auch keine Wörter
für Bewußtsein oder Bewußtseinstätigkeiten. Wörter, deren
Designat in späterer Zeit im Bereich des Mentalen liegt, haben,
wo sie in der »Ilias« vorkommen, eine andere und in allen
Fällen konkretere Bedeutung. Das Wort Psyche, das später die
Seele oder den sich wissenden Geist bezeichnet, steht hier
meistenteils für Lebenssubstanzen wie das Blut und den Atem:
Ein sterbender Krieger verströmt die Psyche aus seinen Wunden
auf den Boden, oder er haucht sie mit seinem letzten Seufzer
aus. Der thymos, der später die Seele als Sitz der Affekte
bezeichnet, bedeutet hier einfach noch – sei’s normale, sei’s
heftige – Bewegung. Hört ein Mensch auf, sich zu bewegen,
verläßt der thymos seine Glieder. Zugleich ist er in gewisser
Beziehung aber auch ein Organ für sich, denn als Glaukos zu
Apollon betet, ihm die Kraft zu geben, um die Leiche seines
gefallenen Freundes Sarpedon zu streiten, da erhört ihn der Gott
und »schickt ihm Kraft in den thymos« (16, 529). Der thymos
heißt den Menschen essen, trinken oder kämpfen. Diomedes
7
V. R. d'A. Desborough, The Last Mycenaeans and Their Successors: An
Archeological Survey, c. 12000c. 1000 B. C., Oxford: The Clarendon Press
1964.
- 100-
sagt an einer Stelle, Achilleus werde wieder kämpfen, »wenn
der thymos in seiner Brust es ihm gebietet und wenn ein Gott ihn
erregt« (8, 702f). Aber er ist kein Organ im eigentlichen Sinn
und auch nicht immer genau lokalisiert: die tobende See hat
thymos. In mancher Be ziehung vergleichbar ist die
Verwendungsweise des Wortes ehren, das indes etwas
anatomisch Lokalisiertes, nämlich das Zwerchfell oder
Empfindungen im Zwerchfell, bezeichnet und gewöhnlich in der
Mehrzahl gebraucht wird. Hektors phrenes sind es, die
erkenne n, daß sein Bruder nicht an seiner Seite steht (22, 296);
es ist derselbe Sachverhalt, den wir in der Wendung ausdrücken,
daß einem »vor Schreck der Atem stockt«. Erst Jahrhunderte
später kommt das Wort zu der Bedeutung »Sinn« oder »Herz«
(beides im übertragenen Sinn von »Geist«, »Seele« oder
»Gemüt«).
Vielleicht das wichtigste Wort dieser Art ist noos, das später
(in der Schreibweise nous) die Bedeutung von Geist annahm. Es
ist von noeein, sehen, abgeleitet. So wie es in der »Ilias«
gebraucht wird, müßte es genaugenommen mit Ausdrücken wie
»Wahrnehmung«, »Wiedererkennen« oder »Gesichtsfeld«
übersetzt werden. Zeus »behält Odysseus in seinem noos«. Er
hat ein wachsames Auge auf ihn.
Ein weiteres wichtiges Wort, möglicherweise durch
Reduplikation von meros, Teil; abgeleitet, ist mermera, das
»zweigeteilt« bedeutet. Daraus wiederum wurde durch Anfügen
des üblichen Verb-Suffixes izo an den Substantivstamm das
Verb mermerizein; »angesichts einer Sache in zwei Teile
gespalten sein«. Der vermeintlichen literarischen Qualität ihrer
Arbeit zuliebe benutzen moderne Übersetzer häufig die moderne
Ausdrucksweise der Subjektivität, die Sinn und Bedeutung des
Originals verfehlt. So wird mermerixein fälschlich
wiedergegeben mit »hin und her überlegen«, »erwägen«, »im
Zweifel sein«, »unschlüssig sein«, »sich sorgen« oder
»beunruhigt sein über«, »um einen Entschluß ringen« und
- 101-
ähnlichem. Im wesentlichen besagt das Wort jedoch, daß man
einen Konflikt zweier Handlungsweisen, nicht zweier Gedanken
austrägt. Sein Sinn ist immer beha vioristisch. Es wird
wiederholt von Zeus ausgesagt (20, 17; 16, 647), aber auch von
anderen Akteuren. Als Austragungsort dieses Widerstreits wird
oft der thymos angegeben, manchmal auch die phrenes, aber
niemals der noos. Das Auge kann nicht unschlüssig zö gern oder
mit sich selbst im Widerstreit liegen, wie das später der (in der
»Ilias« noch auf seine Erfindung harrende) Geist zu tun
vermögen wird.
Im allgemeinen – das heißt, wie gesagt, bis auf gewisse
Ausnahmen – bezeichnen die bisher aufgeführten Wörter den
höchsten Grad der Annäherung an bewußte Geistigkeit oder
bewußtes Denken, den man – und dieses »man« umfaßt
gleichermaßen Verfasser wie Götter wie Helden der »Ilias« – in
dieser Dichtung üblicherweise zu erreichen vermag.
Detailliertere Ausführungen zur Bedeutung dieser Wörter seien
einem späteren Kapitel vorbehalten.
Die Dichtung kennt auch kein Konzept des Willens, noch hat
sie ein Wort dafür – das Konzept des Willens ist eine auffallend
späte Schöpfung des griechischen Denkens. So besitzen die
Menschen in der »Ilias« keinen eigenen Willen und schon gar
keine Vorstellung von Willensfreiheit. In der Tat ist das ganze
Problem des Wollens, mit dem sich die moderne Psychologie
meinem Eindruck nach so schwer tut, vielleicht nur deshalb zum
Problem geworden, weil die Ausdrücke für die einschlägigen
Phänomene erst so spät erfunden wurden.
Und ähnlich fehlt in der »Ilias« auch ein Wort für den Körper
in unserem Sinn. Das Wort soma, das im fünften Jahrhundert v.
Chr. die Bedeutung von Körper annimmt, steht bei Homer stets
im Plural und bezeichnet leblose Glieder oder einen Leichnam.
Es kennzeichnet den Gegensatz zu Psyche. Die Sprache der
»Ilias« hat eine Reihe von Bezeichnungen für einzelne
Körperteile – und jedesmal, wenn sie gebraucht werden, ist dann
- 102-
aber auch nur dieser bestimmte Körperteil gemeint, niemals der
Körper im ganzen. 8 Kein Wunder also, daß die frühgriechische
Kunst der mykenischen Periode die menschliche Gestalt als eine
Montage aus einzelnen Gliedern wiedergibt, die auf (für uns)
befremdliche Weise untereinander verbunden sind (schwach
ausgeprägte Gelenke; die Verbindung zwischen Rumpf und
Hüfte kaum vorhanden). 9 Das ist die bildkünstlerische Version
dessen, was uns bei Homer laufend begegnet, wenn hier von
Händen, Unterarmen, Oberarmen, Füßen, Waden und Schenkeln
die Rede ist, die bebende sind oder nervig oder in hurtiger
Bewegung und so weiter, ohne daß auch nur ein einziges Mal
der Körper als Ganzheit in den Blick käme.
Das alles ist nun höchst eigenartig. Wenn die Menschen der
»Ilias« kein subjektives Bewußtsein haben, keinen Geist, keine
Seele, keinen Willen – was bewegt sie dann zum Handeln?
Die Religion der frühen Griechen
Nach ebenso alter wie allgemein akzeptierter Überzeugung
gab es vor dem vierten Jahrhundert v. Chr. in Griechenland
keine echte Religiosität;: die Götter Homers seien lediglich
»farbenfrohe Ausgeburten der dichterischen Phantasie« (wie
anerkannte Altertumswissenschaftler es ausdrücken). 10 Diese
irrige Auffassung rührt daher, daß man die Religion als
8
Bruno Shell, Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des
europäischen Denkens bei den Griechen, Hamburg: Claassen & Goverts
1946, 9. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1975. Ich steckte bereits
tief in den Gedankengängen und Materialien des gegenwärtigen Kapitels, als
ich Shells Arbeit über die homerische Sprache kennenlernte, die eine
Parallele zu der meinen bildet. Allerdings gelangen wir beide zu ganz
unterschiedlichen Schlußfolgerungen.
9
Eine Ausnahme macht E. R. Dodds mit seinem hervorragenden Buch The
Greeks and the Irrational, Berkeley: University of California Press 1951.
10
So z. B. Maurice Bowra, Tradition and Design in the Iliad, Oxford: The
Clarendon Press 1930, S. 222.
- 103-
ethisches System betrachtet, als eine dem Streben nach einem
tugendhaften Lebenswandel entsprungene Unterordnung
gegenüber äußeren Göttern. Und tatsächlich ist dem Gelehrten
insoweit recht zu geben. Zu behaupten freilich, die Götter der
»Ilias« seien lediglich dichterische Kunstgriffe oder rhetorische
Tropen, kommt einer völligen Verkennung der Tatsachen gleich.
Die Helden der »Ilias« überlegen nicht, was als nächstes zu
tun sei. Sie haben kein Bewußtsein in dem Sinn, wie wir das von
uns sagen, und auf gar keinen Fall verfügen sie über die Gabe
der Introspektion. Für uns mit unserer Subjektivität ist es
unmöglich nachzuempfinden, wie das ist. Als Agamemnon, der
König der Mannen, dem Achilleus seine schöne Gefangene
wegnimmt, greift eine Göttin in das goldene Haar des
Peleussohns und ermahnt ihn, nicht das Schwert zu zücken
gegen Agamemnon (1, 197 ff). Und am düsteren Strand des
Meeres steigt dann eine Göttin aus dem grauen Gewässer auf,
um bei den schwarzen Schiffen dem Weinenden die
Zornestränen zu trocknen. Eine Göttin flößt mit ihrem Geflüster
das süße Verlangen nach der alten Heimat ins Herz der Helena
(3, 129 ff). Eine Göttin verbirgt den Paris in einer Nebelwolke
vor dem Angriff des wütend heranstürmenden Menelaos (3, 380
f). Ein Gott heißt Glaukos die goldene Wehr gegen die eherne
tauschen (6, 234 ff). Stets ist es ein Gott, der die Heere in die
Schlacht führt, der in kritischen Momenten zu den einzelnen
Kriegern spricht, der Hektor vorschlägt und ihn lehrt, was er tun
soll, der die Krieger antreibt oder ihre Niederlage bewirkt,
indem er einen lähmenden Bann auf sie legt oder ihr
Gesichtsfeld vernebelt. Götter sind es, die Zwietracht unter den
Menschen stiften (4, 437 ff), die in Wirklichkeit den Krieg
anzetteln (3, 164 f) und dann auch die strategische Planung und
Ausführung übernehmen (2, 56 ff). Eine Göttin nimmt Achilleus
das Versprechen ab, nicht mehr am Kampf teilzunehmen, eine
andere heißt ihn später, die Troer zu vertreiben, und wiederum
eine andere umkränzt sein Haupt mit goldenen Wolken und läßt
- 104-
eine himmelhoch aufragende Flamme von ihm ausgehen und
schickt durch seine Kehle einen so fürchterlichen Wutschrei
über den blutdampfenden Graben zu den Troern, daß diese von
namenloser Panik ergriffen werde. Kurzum, die Götter spielet
die Rolle des Bewußtseins.
Handlungen werden nicht von bewußten Planungen,
Überlegungen oder Motiven in Gang gebracht, sondern durch
das Handeln und Reden der Götter initiiert. Seinen
Nebenmenschen erscheint der Mensch als Verursacher seines
eigenen Verhaltens. Nicht so sich selber. Als Achilleus ge gen
Ende des Krieges dem Agamemnon vorhält, wie dieser ihm
seinerzeit die schöne Beutegefangene raubte, da erklärt der
König der Mannen, Gebieter des Volkes: »Nicht ich habe die
Handlung verursacht, sondern Zeus und mein Schicksal und
dunkelschleichend Erinys, welche mir böse ate eingaben in der
Versammlung jenes Tags, da ich Achilleus der Beute beraubte.
Es tut ja alles die Göttin ...« (19, 86-90). Und daß dies nicht eine
hastig improvisierte faule Ausrede des Agamemnon ist, mit der
er die Verantwortung vo n sich abzuwälzen gedenkt, erhellt aus
dem Umstand, daß Achill sich mit dieser Erklärung voll und
ganz zufriedengibt – denn auch Achill gehorcht seinen Göttern.
Wenn Gräzisten in ihren Kommentaren zu der zitierten
Textstelle anmerken, Agamemnons Verhalten grenze hier an
»Selbstentfremdung« 11 , so liegen sie damit weit, weit vom
Schuß. Denn die Frage ist doch: Wie war es mit der Psychologie
der homerischen Helden in der »Ilias« bestellt? Und ich sage:
Die Helden der »Ilias« hatten überhaupt kein Selbst.
Sogar die Dichtung als solche ist nicht Menschenwerk in
unserem Sinn. Ihre ersten drei Worte lauten: Menin aeide, thea,
»Singe, o Göttin, vom Zorn!« Und das gesamte nachfolgende
Epos ist nichts anderes als eben dieser Gesang der Göttin, von
11
So u. a. Martin P. Nilsson, A History of Greek Religion, New York:
Norton 1964.
- 105-
einem verzückten Poeten »vernommen« und als Re- Zitation in
den Ruinen von Agamemnons Welt an seine eisenzeitliche
Hörerschaft weitergegeben.
Wären wir in der Lage, unsere sämtlichen vorgefaßten
Konzepte von Dichtung zu löschen und auf dieses Epos zu
reagieren, als hätten wir noch nie etwas von Dichtung gehört,
dann würden wir auf der Stelle von der ganz ungewöhnlichen
Beschaffenheit dieser Sprache in Bann geschlagen. Das, womit
wir es da zu tun haben, nennen wir heute »Metrum«: Doch
welch ein Unterschied zwischen dem stetig wiederkehrenden
»hexametrischen«,
also
sechshebigen,
Schema
des
Tonhöhenwechsels in der solchermaßen »gebundenen« Rede
einerseits und andererseits der holprigen »ungebundenen«
Betonungsweise in unseren alltäglichen Unterhaltungen! Die
Funktion des dichterischen Metrums ist es, die elektrische
Aktivität des Gehirns aufzuputschen und auf jeden Fall die
normalerweise gegebenen moralischen Hemmungen sowohl des
Vortragenden wie auch seiner Zuhörer abzubauen. Mit etwas
Ähnlichem haben wir es zu tun, wenn die »Stimmen« der
Schizophrenen in skandierten Rhythmen oder in Reimen
sprechen. Demnach wurde, von späteren Hinzufügungen
abgesehen, das Epos als solches weder bewußt produziert noch
bewußt reproduziert, sondern im jeweils neuschöpfenden
Vortrag von Mal zu Mal kreativ verändert, ohne daß dabei auf
Seiten des Sängers mehr Bewußtheit im Spiel war als bei einem
improvisierenden Pianisten.
Wer aber nun waren diese Götter, die die Menschen
herumdirigierten, als wären sie Roboter, und die durch
Menschenmund epische Dichtungen zum besten gaben? Es
waren Stimmen, deren Reden und Befehle von den Helden der
»Ilias« genauso deutlich vernommen wurden, wie manche
Epileptiker und Schizophrene ihre Stimmen hören, oder wie die
heilige Johanna von Orleans die ihrigen hörte. Die Götter waren
Organisationstypen des Zentralnervensystems; sie lassen sich als
- 106-
»personae« im Sinne scharf ausgegrenzter Konsistenzen im
Zeitfluß auffassen, als Amalgame von Eltern- und/oder
Erzieher-Imagines. Der Gott ist Bestandteil des Menschen, und
mit dieser Betrachtungsweise stimmt sehr gut überein, daß die
Götter niemals den Bezirk der Naturgesetzlichkeit verlassen.
Anders als der Gott der Hebräer im ersten Buch Mose sind die
griechischen Götter nicht imstande, etwas aus dem Nichts zu
erschaffen. Im Wechselspiel der Beziehung zwischen dem Gott
und dem Helden gilt das gleiche Schicklichkeitszeremoniell,
treten die gleichen Emotionen auf, werden die gleichen
Überredungsstrategien eingesetzt wie zwischen zwei Menschen.
Der griechische Gott tritt niemals unter Blitz- und DonnerBegleitung auf, erzeugt im Helden niemals Furcht und
Schrecken und ist himmelweit entfernt von der schauerlich
outrierten Erhabenheit des Gottes im Buch Hiob. Er geleitet, rät
und befiehlt, mehr nicht. Dieser Gott erwirkt keine Demut, ja
nicht einmal Liebe, und allenfalls in bescheidenem Umfang
Dankbarkeit. Tatsächlich meine ich, daß die Gott-HeldBeziehung – als genetische Vorform – in der Sache genau dem
entspricht, was bei Freud als Ich-Überich-Beziehung und bei
George H. Mead als die Beziehung des Selbst zum
generalisierten Anderen erscheint. Das Äußerste, was der Held
dem Gott an Gefühl entgegenbringt, ist Staunen oder
Verblüffung – die Art von Gefühl, die wir empfinden, wenn uns
plötzlich die Lösung eines besonders kniffligen Problems durch
den Kopf schießt, oder die im »Heureka!« des badenden
Archimedes zum Ausdruck kommt.
Die Götter sind – so würden wir es heute ausdrücken –
Halluzinationen. Gewöhnlich sind sie zu sehen und zu hören nur
für denjenigen Helden, an den sie gerade das Wort richten.
Manchmal kommen sie aus einem Nebel oder aus dem »grauen
Gewässer« des Meeres oder eines Flusses, oder vom Himmel
herunter – was alles darauf hindeutet, daß ihnen auraartige
Gesichtserscheinungen vorausgingen. Zu anderen Malen
- 107-
dagegen ist es einfach nur so, daß sie plötzlich da sind. In der
Regel melden sie sich in eigener Person, meist nur stimmlich;
zuweilen kommen sie jedoch auch in Gestalt eines Menschen
aus der näheren Umgebung des Helden.
Unter dem zuletzt genannten Aspekt ist die Beziehung
zwischen Apollon und Hektor besonders interessant. Im
Sechzehnten Gesang tritt Apoll Hektor zur Seite in Gestalt von
dessen Oheim (715 ff), im Siebzehnten Gesang spricht er zu ihm
in Gestalt des verbündeten Kikonenfürsten Mentes (71 ff) und
dann nochmals in Gestalt des liebsten Gastfreunds Phainops
(582 ff). Die entscheidende Wende des ganzen
Kriegsgeschehens bahnt sich an, als Athene, nachdem sie
Achilleus den Auftrag erteilt hat, Hektor zu »erlegen«, nunmehr
in Gestalt von dessen Lieblingsbruder Deiphobos zu Hektor tritt
und sich als Waffenträger anbietet. Im Vertrauen auf diesen
Beistand fordert Hektor Achilleus heraus, schleudert seinen
Speer nach dem Gegner, verfehlt jedoch das Ziel, und wie er
sich daraufhin nach seinem Bruder umdreht, um dessen Speer zu
fordern, muß er feststellen, daß da niemand mehr ist (22, 514 ff).
Wir würden heute sagen, daß Hektor das Opfer einer
Halluzination geworden ist. Und gleich Hektor hatte auch
Achilleus eine Halluzination. Im Trojanischen Krieg führten
Halluzinationen das Kommando. Und die Recken, die diesem
Kommando unterstanden, waren ganz andere Menschen, als wir
es sind. Sie waren erlauchte Roboter, die nicht wußten was sie
taten.
Die bikamerale Psyche
Wir blicken also in Fremdheit, Herzlosigkeit, Leere. Zu
diesen Helden gewinnen wir kein Verhältnis, indem wir hinter
ihren grimmigen Blicken ein Bewußtsein fingieren, wie wir das
untereinander tun. Die Menschen der »Ilias« kannten keine
Subjektivität wie wir; sie wurden ihres Gewahrseins der Welt
nicht gewahr, besaßen keinen inneren Raum, wo sie sich selbst
- 108-
hätten beobachten können. Um die Geistesverfassung der
Mykener von unserem eigenen, subjektiven Geist zu
unterscheiden, werden wir sie als Zwei-Kammer-Psyche oder
(der dadurch vereinfachten Kompositabildung halber) als
bikamerale Psyche bezeichnen. Wollen, Planung und
Handlungsanstoß kommen ohne irgendwelches Bewußtsein
zustande und werden sodann dem Individuum fix und fertig in
seiner vertrauten Sprache »mitgeteilt«, manchmal mit einer
Gesichtsaura in Gestalt eines vertrauten Menschen oder einer
Autoritätsfigur als Begleiterscheinung, manchmal allein in
einem Stimmphänomen. Das Individuum gehorcht diesen
Stimmen, weil es nicht »sieht«, was es von sich aus tun könnte.
Ich habe nicht vor, den Beweis für die historische Existenz
einer Mentalität der eben beschriebenen Art einzig und allein
mit der »Ilias« zu führen, sondern werde meine Hypothese in
späteren Kapiteln mit Hilfe unseres Wissens von anderen
antiken Kulturen verifizieren. Die »Ilias« legt freilich diese
Hypothese von sich aus nahe und spricht zu ihren Gunsten. Es
empfiehlt sich jedoch, bevor wir uns neuen Materialien
zuwenden, auf einige mögliche Einwände gegen meine letzten
Ausführungen einzugehen, denn das wird zur Klärung der
anhängigen Fragen beitragen.
Einwand: Stimmt es denn nicht, daß man in der Forschung
auch die Position vertreten finden kann, die »Ilias« sei von
Anfang bis Ende das Phantasieprodukt eines einzelnen
Menschen namens Homer, und zwar ein Phantasieprodukt ohne
jegliche historische Grundlage? Das geht doch sogar so weit,
daß man – ungeachtet Heinrich Schliemanns und seiner
berühmten Ausgrabungen in neunzehnten Jahrhundert –
bezweifelt, daß es die Stadt Troja jemals gegeben habe.
Erwiderung: Derartige Zweifel sind neuerdings endgültig
widerlegt durch die Entdeckung hethitischer Tontafeln aus der
Zeit um 1300 v. Chr., die unmißverständlich auf das Land der
Achaier und ihren König Agamemnon Bezug nehmen. Der – im
- 109-
Zweiten Gesang der »Ilias« enthaltene – Katalog der Städte, die
Schiffe nach Troja entsandten; entspricht auffallend genau der
archäologisch ermittelten Siedlungsstruktur. Die Schätze von
Mykene, die man ehemals für Phantastereien eines Dichters
hielt, sind zusammen mit den Ruinen der Stadt inzwischen aus
dem Boden gefördert worden. Auch andere Detailangaben der
»Ilias«, betreffend Begräbnissitten und Waffenrüstung, sind
bestätigt durch Ausgrabungen an Orten, die in der Dichtung eine
Rolle spielen (so wurde beispielsweise der präzis beschriebene
Helm mit den Eberhauern gefunden). Es besteht also keinerlei
Zweifel hinsichtlich des historischen Substrats der Dichtung.
Die »Ilias« ist keine Literatur – wenn man unter Literatur das
Resultat einer aus sich selbst schöpfenden Einbildungskraft
versteht – und insofern auch kein Gegenstand der
Literaturwissenschaft. Sie ist ein Stück Geschichte und
Geschichtsschreibung der mykenisch-ägäischen Periode und
daher von Rechts wegen ein Fall für den Psychohistoriker.
Die Frage, ob die Dichtung das Werk eines einzigen oder
mehrerer Verfasser ist, beschäftigt die Altphilologen seit
mindestens einem Jahrhundert. Doch der Nachweis der
historischen Basis, der sogar in dem Epos erwähnte
Handwerkserzeugnisse mit einbegreift, führt zwangsläufig zu
dem Schluß, daß jenes Geschehen im dreizehnten Jahrhundert v.
Chr., wie immer es realiter gewesen sein mag, der Nachwelt
über eine Reihe von Mittelsmännern überliefert wurde. Es ist
also plausibler, sich die Abfassung des Epos so vorzustellen, daß
sie im Zuge dieser mündlichen Überlieferung erfolgte, als sie
einem einzelnen Menschen des neunten Jahrhunderts v. Chr.
namens Homer zuzuschreiben, der – falls er je gelebt hat –
vielleicht einfach nur der erste aoidos war, dessen Version zur
Niederschrift gelangte:
Einwand: Selbst wenn dem so ist – was berechtigt uns zu der
Annahme, daß ein episches Gedicht, dessen früheste erhaltene
handschriftliche Aufzeichnung in einer von Gelehrten in
- 110-
Alexandria angefertigten Redaktion aus dem vierten oder dritten
Jahrhundert v. Chr. besteht, ein Gedicht, das offenbar in vielerlei
Versionen in Umlauf war, bevor es durch Kompilation die Form
erhielt, in der wir es heute kennen – was berechtigt uns zu der
Annahme, wir dürften aus einer solchen Dichtung
beweiskräftige Aufschlüsse ziehen über die Mykener des
dreizehnten Jahrhunderts, wie sie leibten und lebten?
Erwiderung: Dieser sehr ernst zu nehmende Einwand wird
noch bekräftigt durch den Umstand, daß manche Angaben in
dem Epos allen Regeln der Wahrscheinlichkeit widersprechen.
Die reichlich enttäuschend anmutenden grasüberwachsenen
Schutthügel, in denen die Archäologen heute die Feste des
Priamos erkennen, erstrecken sich überwenige Morgen Land,
wohingegen die »Ilias« die Zahl ihrer Verteidiger mit
fünfzigtausend angibt. Selbst Nebensächliches ist zuweilen bis
zur Unmöglichkeit übertrieben: Hätte der Schild des Ajas
tatsächlich, wie angegeben, aus sieben Stierhäuten und einer
Lage Erz bestanden, so wäre er fast drei Zentner schwer
gewesen. Die historischen Fakten wurden mit Sicherheit
entstellt. Die Belagerung soll zehn Jahre gedauert haben: eine
glatte Unmöglichkeit angesichts der Versorgungsprobleme
beider Parteien.
Als Zeiträume, in welchen derartige Verzeichnungen der
historischen Fakten stattgefunden haben könnten, kommen – in
grober Einteilung – zwei Perioden in Frage: zum einen diejenige
der mündlichen Überlieferung, die vom Trojanischen Krieg bis
zu jenem Zeitpunkt im neunten Jahrhundert v. Chr. währt, wo
das Epos mit Hilfe des just neuentstandenen griechischen
Alphabets schriftlich fixiert wurde; zum zweiten die
anschließende Periode der Schr iftkultur bis hin zu den Gelehrten
im Alexandria des dritten und zweiten Jahrhunderts v. Chr.,
deren zusammengestückelte Redaktion die heute geläufige
Version der Dichtung ist. Was die zuletzt genannte Periode
angeht, so ist zweifellos davon auszugehen, daß Unterschiede
- 111-
zwischen den verschiedenen Niederschriften existierten, und
ebenso auch davon, daß Zusätze und Abwandlungen, ja sogar
Geschehnisse, die zu anderen Zeiten an anderen Orten
stattgefunden hatten, vom Sog dieser einen und einzigen
furiosen Geschichte angezogen und erfaßt wurden. Doch dürfte
der Spielraum für derartige Hinzufügungen immer sehr beengt
gewesen sein: einesteils durch die – in der gesamten übrigen
Literatur Griechenlands belegte – Ehrfurcht, die das Epos
seinerzeit, wie allenthalben, so erst recht bei Schriftkundigen
genoß; zum andern durch die Bedingungen des mündlichen
Vortrags. Öffentlich vorgetragen wurde die »Ilias« bei den
verschiedensten Gelegenheiten, in erster Linie jedoch bei den
alle vier Jahre in Athen stattfindenden »Panathenäen«, wo sie
zusammen mit der »Odyssee« von den sogenannten Rhapsoden
vor einer gewaltigen Zuschauermenge hingebungsvoll rezitiert
wurde. Es ist daher in höchstem Grad wahrscheinlich, daß die
»Ilias«, wie wir sie kennen, mit Ausnahme einzelner Stellen
(wie zum Beispiel die Episode um den Hinterhalt, in den der
Späher Dolon gerät, und die Anspielungen auf den Hades), in
denen die moderne Forschung Einschübe aus späterer Zeit
erkennt – ich sage, es ist höchst wahrscheinlich, daß die »Ilias«
in ihrer heutigen Gestalt weitgehend dem entspricht, was im
neunten Jahrhundert v. Chr. erstmals schriftlich aufgezeichnet
wurde.
Doch davor, im Dämmergrau der Frühzeit, lassen sich
schattenhaft die Gestalten der aoidoi ausmachen. Und mit
Sicherheit waren sie es, die nach und nach die ursprüngliche
Geschichte veränderten. Orale, mündlich tradierte Dichtung ist
ein anderes – ein vollkommen anderes – Genre als geschriebene
Dichtung. 12 Orale Dichtung will anders – vollkommen anders –
gelesen und beurteilt werden.
12
Vergleiche hierzu Milman Parry, Collected Papers, New York: Oxford
University Press 1971. Ich danke Randall Warner und Judith Griessuran für
unsere Gespräche über dieses Thema.
- 112-
Schöpfung und Vortrag sind bei ihr nicht zu trennen; sie
bilden eine simultane Ganzheit. Und jede Neuschöpfung der
»Ilias« im raschen Wechsel der Generationen erfolgte auf der
Basis des auditiven Gedächtnisses und eines zur Zunfttradition
gehörenden Fundus von Versatzstücken: vorgefertigte
Sprachformeln von unterschiedlicher Länge und vorgestanzte
Handlungsschemata, auf die der aoidos jederzeit zurückgreifen
konnte, wenn sein Gedächtnis in Bezug auf Wortlaut oder
Handlungsfolge versagte: Und diese Praxis war maßgebend für
die Dauer der ersten drei, vier Jahrhunderte im Anschluß an den
historischfaktischen Krieg. Die »Ilias« spiegelt also nicht so sehr
das gesellschaftliche Leben in und um Troja wider als vielmehr
verschiedene Etappen der Sozialgeschichte vom Trojanische n
Krieg bis zum Beginn der Schriftkultur. Nimmt man das Epos
als soziologisches Dokument, so ist dem zitierten Einwand in
der Tat nichts entgegenzusetzen.
Indes, unter psychologischem Aspekt sieht der Fall ganz
anders aus. Wie hat man sich diese Götter zu erklären? Wie ihr
spezielles Verhältnis zu diesem oder jenem Menschen? Meine
Argumentation knüpft vor allem an zwei Fakten an: 1. das
Fehlen eines mentalen Ausdrucksfelds in der Sprache der
»Ilias« und 2. die handlungseinleitende Wirkung der Götter.
Beides hat weder mit archäologischen Befunden zu tun, noch
dürfte es der Erfindungsgabe der aoidoi zuzuschreiben sein.
Jeder Versuch einer Erklärung dieser Fakten verlangt nach dem
Menschenbild einer psychologischen Theorie als seinem
theoretischen Ort. Als Ausnahme hiervon käme allenfalls der
folgende Einwand in Betracht.
Einwand: Bauschen
wir
hier
nicht
etwas
zu
überdimensionaler Bedeutung auf, was im Grunde vielleicht
nichts weiter ist als eine literarische Stilgepflogenheit? Sind die
Götter nicht bloß Kunstgr iffe der aoidoi, um die Handlung
etwas dramatischer zu gestalten – Kunstgriffe, die womöglich in
der Tat auf die ältesten mykenischen Sänger zurückgehen?
- 113-
Erwiderung: Dieser Einwand artikuliert das wohlbekannte
Problem, vor dem wir stehen, wenn wir die Überdeterminierung
des Handelns bedenken, die sich aus dem Eingreifen der Götter
ergibt. Aus unserer Sicht erscheinen die Götter ziemlich
überflüssig. Warum sind sie überhaupt da? Die allgemeine
Antwort darauf lautet wie oben: Es handelt sich um einen
dichterischen Kunstgriff. Weil die aoidoi nicht das nötige
stilistische Raffinement besitzen, um psychologische
Zusammenhänge angemessen ausdrücken zu können,
verdoppeln sie die natürlichen Bewußtseinsursachen in einem
Götterapparat, dessen Sinn und Zweck einfach nur darin besteht,
jene psychologischen Zusammenhänge in anschaulichgreifbarer
Form darzustellen.
Aber nicht nur fehlt es an Belegen dafür, daß die aoidoi eine
bewußte Vorstellung von psychologischen Zusammenhängen
gehabt hätten, der sie Ausdruck zu geben suchten; schon der
Gedanke als solcher geht am ganzen Wesen und Charakter der
Dichtung völlig vorbei. Die »Ilias« handelt von – Handlungen,
sie ist förmlich vollgepackt mit ihnen: Eine reiht sich an die
andere. Worum es hier geht, sind Achills Taten und deren
Folgen, nicht sein Geisteszustand. Und was die Götter betrifft,
so akzeptieren die Verfasser wie die Figuren der »Ilias« allesamt
einmütig dieses göttliche Management der Welt als
Selbstverständlichkeit. Zu behaupten, die Götter seien ein
künstlerische r Notbehelf, wäre das gleiche, als wollte man
sagen, Jeanne d’Arc habe der Inquisition nur deshalb von ihren
Stimmen berichtet, um die ganze Angelegenheit für ihre Henker
etwas abwechslungsreicher zu gestalten.
Es ist nicht so, daß zuerst ein paar unbestimmt-allgemeine
Vorstellungen von psychologischen Wirkungszusammenhängen
aufgetreten wären, denen der Dichter dann mit der Erfindung
von Göttern eine bildhaftkonkrete Ausdrucksform verlieh. Es ist
– wie ich späterhin noch zeigen werde – genau umgekehrt. Und.
käme mir hier jemand mit der Erklärung, daß innerliche Gefühle
- 114-
von Macht oder innerliche Selbstermahnungen oder ein
Versagen der Urteilskraft die Keime gewesen seien, aus denen
sich der göttliche Herrschaftsapparat entwickelte, so würde ich
dem entgegenha lten, daß gerade das Gegenteil der Fall ist: Das
Auftreten von Stimmen, denen gehorcht werden mußte, war in
jeder Hinsicht die Vorbedingung für das bewußte
Geistesstadium, in dem der verantwortliche Entscheidungsträger
ein Selbst ist, das sich innerlich mit sich selbst
auseinandersetzen und sich Befehle und Direktiven geben kann;
und: zustande gekommen ist dieses Selbst als Kulturprodukt.
Wir sind gewissermaßen unsere eigenen Götter geworden.
Einwand: Falls die bikamerale Psyche jemals existiert hat,
müßte man für die fragliche Zeit eigentlich das nackte Chaos
annehmen, solange da jedermann seinen eigenen privaten
Halluzinationen folgte. Die einzig mögliche Form einer
bikameralen Zivilisation wäre eine starre Hierarchie gewesen, in
der die Menschen auf der untersten Stufe der Rangordnung die
Stimmen ihrer nächsthöheren Gebieter halluzinierten und diese
Gebieter wiederum die Stimmen der Nächsthöheren im Rang
und so weiter bis hinauf zu den Königen und ihren Pairs, in
deren Halluzinationen die Götter auftraten. Die »Ilias« indes
zeigt uns keinerlei vergleichbares Bild, sondern stellt statt
dessen ganz das heroische Individuum in den Mittelpunkt.
Erwiderung: Dies ist ein sehr begründeter Einwand, mit dem
ich mich lange abgemüht habe wie mit einem Puzzle, das nicht
aufgehen will. Er beschäftigte mich insbesondere während
meiner Studien zur Geschichte von Bikameralkulturen, in denen
dem individuellen Handeln bei weitem nicht die gleiche Freiheit
eingeräumt war wie in der sozialen Welt der »Ilias«.
Als diejenigen Teile, mit denen mein Puzzle schließlich
aufging, erwiesen sich die wohlbekannten Schrifttafeln aus
Knossos, Mykene und Pylos. Sie sind in Altkretisch (Linear B)
beschrieben und stammen unmittelbar aus der Zeit, die ich als
die bikamerale Periode bezeichnen möchte. Diese Tafeln sind
- 115-
schon seit langem bekannt, haben sich jedoch auch beinahe
ebenso
lange
schon
selbst
angestrengtesten
Entzifferungsbemühungen widersetzt. Vor kurzem nun haben
sie ihr Geheimnis preisgegeben: Es besteht in einer
Silbenschrift, die die früheste, nur zu urkundlichen Zwecken
verwendete Schriftform des Griechischen darstellt.13 Und das
Bild der mykenischen Gesellschaft, das sich hier in Umrissen
präsentiert, stimmt sehr viel besser mit der Hypothese von der
bikameralen Psyche zusammen: Hie rarchien von Beamten,
Kriegern und Arbeitern; Inventarlisten und Listen von Abgaben,
die an den Herrscher und speziell die Götter zu erbringen waren.
Die reale Welt des Trojanischen Krieges hatte also nach
Ausweis der historischen Fakten doch mehr von der starren
Theokratie an sich, die man nach der Theorie erwarten durfte,
als von jenem Zustand individueller Freiheit, von dem die
»Ilias« kündet.
Mehr noch: die gesamte Struktur des mykenischen
Staatswesens unterscheidet sich ganz erheblich von dem in der
»Ilias« geschilderten lockeren Verband von Kriegern.
Tatsächlich
ähnelt
sie
sehr
den
gleichzeitigen
Priesterkönigtümern
Mesopotamiens
(auf
die
später
eingegangen werden wird, insbesondere in Buch 2, Kap. 2). In
jenen Urkunden in Linearschrift B trägt das Staatsoberhaupt den
Titel wanax, der im späteren klassischen Griechisch
ausschließlich den Göttern vorbehalten ist. Ähnlich verhält es
sich mit dem Land, das seine Hofhaltung beansprucht: Die
Urkunden nennen es sein temenos; das Wort bezeichnet später
das einer Gottheit geweihte Land, den heiligen Bezirk oder
Hain. Das Wort für »König« lautet im späteren Griechisch
basileus, auf jenen Tafeln indes bezeichnet es einen Menschen
13
M. C. F. Ventris und J. Chadwick, Documents in Mycenaean Greek,
Cambridge: Cambridge University Press 1973. Einen Überblick über diese
Materie und ihren Zusammenhang mit der archäologischen Fundlage erhält
man bei T. B. L. Wehster, From Mycenae to Homer, London: Methuen 1958.
- 116-
weit niedrigeren Ranges. Der basileus ist mehr oder weniger der
erste Diener des wanax, so wie in Mesopotamien der
menschliche Herrscher nur als Verwalter von Ländereien galt,
deren wahrer »Eigentümer« der Gott war, dessen Stimme jener
in seinen Halluzinationen hörte – wie wir in Buch 2, Kap. 2
noch genauer sehen werden. Der Informationsge halt der
Linearschrifttafeln ist nicht einfach zu erschließen, doch
unverkennbar bezeugen sie die hierarchische Stufenordnung
einer zentral verwalteten absoluten Monarchie, von der sich in
der mündlichen Dichtertradition, aus welcher in der Abfolge der
Generationen schließlich die »Ilias« hervorging, absolut nichts
mehr wiederfindet.
Diese Lockerung des Sozialgefüges in der fertig ausgeformten
»Ilias« mag zum Teil darauf zurückgehen, daß in die Stoffmasse
des Trojanischen Krieges noch andere, sehr viel jüngere
Erzählthemen mit eingearbeitet wurden. Eines der stärksten
Indizien dafür, daß die »Ilias« ein In- und Nebeneinander
unterschiedlicher Bearbeitungsstufen darstellt, ist die große Zahl
von Ungereimtheiten im Text der Dichtung, manchmal sogar in
engster Nachbarschaft. So heiß es zum Beispiel einmal, als
Hektor sich vom Schlachtfeld entfernt (6, 117): »Und vom Hals
zu den Knöcheln umschlug ihn das schwärzliche Leder.« Das
kann sich nur auf den alten mykenischen Körperschild beziehen.
Doch schon die nächste Zeile spricht vom »äußersten Rand des
genabelten Schildes«, also von einem ganz anderen, sehr viel
jüngeren Schildtyp. Zweifellos handelt es sich bei dieser Zeile
um die Hinzufügung eines Dichters aus späterer Zeit, der in
seiner auditiven Trance noch nic ht einmal visualisierte, was er
vortrug.
Wie wir in einem späteren Kapitel noch genauer sehen
werden, haben wir es mit jener chaotischen Geschichtsperiode
zu tun, in der die bikamerale, die »Zwei-Kammer«-Psyche unter
dem Druck der Umstände versagt, zusammenbricht und
untergeht, während zugleich das subjektive Bewußtsein
- 117-
aufkommt. Wir dürfen also von der »Ilias« in der uns
überlieferten Gestalt von vornherein nichts anderes erwarten, als
daß sie sowohl diesen Zusammenbruch des hierarchischen
Staatswesen als auch die fortschreitende Subjektivierung
widerspiegelt. Tatsächlich habe ich auf den vorausgegangenen
Seiten einige Einzelheiten übergangen, die nicht mit meiner
Theorie zusammenstimmen und die ich für solche Einschübe
halte. An diesen Stellen äußert sich etwas, was dem subjektiven
Bewußtsein sehr nahe kommt; aber wir haben nach dem Urteil
der Forschung in all diesen Fällen Textstücke vor uns, die nicht
Bestandteil des Kerngedichts sind, sondern spätere
Hinzufügungen. 14
So spricht beispielsweise der Neunte Gesang, der erst nach
der Großen Wanderung und der griechischen Kolonisation in
Kleinasien verfaßt und in die Dichtung eingefügt wurde, von
Betrug und bewußter Täuschung unter Menschen in einer
Weise, die aus dem Rahmen des übrigen herausfällt. Die
meisten einschlägigen Stellen finden sich in der großen
Erwiderungsrede des Achilleus an Odysseus, deren Thema die
Behandlung ist, die ihm, Achill, von Agamemnon widerfuhr (9,
344 371; 375) Besonders bemerkenswert ist Achills Seitenhieb
auf Agamemnon: »Denn verhaßt wie die Tore des Hades ist
immer der Mann mir, der im Herzen es anders verbirgt, wie
anders er redet« (9, 312 f). Ganz unbestreitbar äußert sich hier
ein subjektives Bewußtsein. Das gleiche ist vielleicht der Fall in
den schwer zu übersetzenden Optativkonstruktionen Helenas (3,
173 ff; 6, 344 ff) und in Nestors unverkennbarer
Erinnerungstätigkeit (I, Zdoff).
Außerdem begegnet zweimal der ungewöhnliche Fall, daß
einer der Helden mit sich selber spricht: zuerst Agenor (21,
553), später Hektor (22, 99 ff). Beide Selbstgespräche tauchen
14
Ich stütze mich hier auf Walter Leaf, A Companion to the Iliad, London:
Macmillan 1892, S: 170-173.
- 118-
im Schlußteil der Dichtung auf, und zwar nicht weit entfernt
voneinander; ihr Inhalt paßt durchaus nicht in den zuvor
abgesteckten Rahmen (sie zeichnen den Charakter des Sprechers
im Widerspruch zum übrigen Text); und bestimmte
Redewendungen oder Zeilen kommen stereotyp in der einen wie
in der anderen Passage vor: Das alles legt den Schluß nahe, daß
es sich um formelhafte Ausschmückungen handelt, die von ein
und demselben aoidoi zu einem späteren Zeitpunkt
vorgenommen wurden. 15 Zu einem nicht sehr viel späteren
Zeitpunkt freilich. Denn der Vorgang als solcher wird noch als
so ungewöhnlich empfunden, daß sich sogar die Akteure der
Handlung überrascht zeigen. Nach dem Selbstgespräch brechen
beide Helden, jeder mit exakt den gleichen Worten, in den
verwunderten Ausruf aus: »Doch weshalb sagt mein Leben dies
zu mir?« Wären derartige Ansprachen an das eigene Selbst so
gewöhnliche Vorkommnisse gewesen, wie sie es hätten sein
müssen, wenn die Sprecher wirklich ein Bewußtsein gehabt
hätten, dann wäre hier eigentlich kein Anlaß zur Verwunderung
gegeben. Wir werden auf die zitierten Beispielfälle bei späterer
Gelegenheit zurückkommen, wenn wir uns ausführlicher mit der
Frage nach den Entstehungsbedingungen des Bewußtseins
beschäftigen. 16
Die älteste in ihrer Sprache uns wirklich verständliche
Schrifturkunde der Menschheit bezeugt bei objektiver
Betrachtung eine Mentalität, die sich von der unsrigen gewaltig
unterscheidet. Diesen Sachverhalt zu erweisen war die
Hauptaufgabe dieses Kapitels, und nach meinem Dafürhalten
15
Auch Leaf (a. a. O., S. 356) hält diese beiden Stellen für unecht.
Man könnte sich eine weitergehende Untersuchung in dieser Richtung so
denken, daß man der in der Forschung vertretenen »Erweiterungstheorie«
folgend die chronologische Datierung der nach und nach zum »Kerngedicht
hinzugekommenen Einschübe unternimmt, um dann zu zeigen, daß die
Häufigkeit, mit der solche offenkundigen Subjektivismen auftreten, desto
größer, je jünger die fragliche Hinzufügung ist.
16
- 119-
kann ihm hiernach mit guten Gründen nicht mehr widersprochen
werden. Soweit in der »Ilias« gelegentlich Fälle von
Narrativierung oder Reflexion in einem Bewußtseinsraum
auftreten, handelt es sich nach Ansicht der Spezialforschung um
vergleichsweise spät abgefaßte Partien. Der weitaus
überwiegende Teil der Dichtung belegt bündig das Fehlen eines
reflexiven Bewußtseins und weist in die Vergangenheit zurück
auf eine ganz anders geartete Menschennatur. Da die griechische
Kultur bekanntlich sehr rasch eine Literatur der reflektierten
Bewußtheit hervorbrachte, können wir die »Ilias« als Markstein
im großen Umbruch der Zeiten betrachten, als einen Durchblick
in jene Zeiten ohne Subjektivität, wo jedes Königtum seinem
Wesen nach eine Theokratie war und jeder Mensch der Sklave
von Stimmen, die sich ihm in jeder neuartigen Situation zu
hören
gaben.
- 120-
VIERTES KAPITEL
Die bikamerale Psyche
Wir sind Menschenwesen mit Bewußtsein. Wir bemühen uns
um ein Verständnis des menschlichen Wesens. Im vorigen
Kapitel gelangten wir zu der aberwitzig anmutenden Hypothese,
daß es eine Zeit gegeben hat, in der das menschliche Wesen in
zwei Teile zerfiel: einen Lenker und Leiter namens Gott und
einen Gefolgsmann namens Mensch. Keiner von beiden hatte
Bewußtsein. Für uns ist das nahezu unbegreiflich. Und da wir
unsererseits mit Bewußtsein ausgestattet sind und uns um ein
Verständnis der Dinge bemühen, bemühen wir uns, diesen
Sachverhalt mit einem anderen Sachverhalt zu vergleichen, der
uns aus eigener Erfahrung vertraut ist – denn dies, so sahen wir
im Zweiten Kapitel, ist das Wesen des Verstehens. Und dies ist
es auch, was ich im nun folgenden Kapitel tun will.
Der bikamerale Mensch
Was die menschliche Seite betrifft, so gibt es da wenig zu
sagen, was sie uns vertraut machen könnte, es sei denn, man
greift zurück auf das Erste Kapitel und ruft sich in Erinnerung,
was alles wir ohne Mitwirkung des Bewußtseins leisten. Doch
wie unbefriedigend bleibt eine solche Liste von Negativa.
Irgendwie verspüren wir dennoch den Wunsch, uns in Achilleus
einzufühlen. Wir meinen noch immer, es müsse doch eigentlich
– nein, es muß da unbedingt etwas in seinem Innern vor sich
gehen, was er denkt und fühlt. Das heißt, genauso, wie wir es
mit uns selbst und unseren Zeitgenossen machen, versuchen wir
auch im Innern von Achilleus einen Bewußtseinsraum und eine
Analogwelt der Verhaltenswelt zu fingieren.
Aber diese Fiktion, so behaupte ich; ist in bezug auf die
Griechen jener Epoche sinnlos!
- 121-
Vielleicht kann uns die Metapher von etwas, was dem
fraglichen Zustand nahekommt, weiterhelfen. Am Steuer meines
Autos sitze ich nicht wie jemand, der sich selbst vom Rücksitz
aus Anweisungen gibt, wie er zu fahren hat, sondern ich bin
jederzeit ohne viel Bewußtsein in meinem Tun als Fahrer
»drin«. 1 Tatsächlich wird es in aller Regel sogar so sein, daß
mein Bewußtsein mit ganz anderen Dingen als dem Fahren
befaßt ist, etwa in einer Unterhaltung mit Ihnen befangen, wenn
Sie zufällig mein Fahrgast sein sollten, oder auch mit
Nachdenken über den Ursprung des Bewußtseins beschäftigt.
Das Verhalten meiner Hände, meiner Füße und meines Kopfes
spielt sich demgegenüber fast in einer anderen Welt ab. Wenn
ich etwas berühre, werde ich berührt; wenn ich den Kopf wende,
wendet sich die Welt mir zu; über den Blick stehe ich mit einer
Welt in Beziehung, der ich unmittelbar gehorche – gehorche in
dem Sinn, daß ich beispielsweise mit dem Wagen auf der
Fahrbahn bleibe und ihn nicht auf den Gehsteig lenke. Und
nichts von alledem ist mir bewußt. Und auf gar keinen Fall ist es
Gegenstand
meines
logischen
Denkens.
Ich
bin
hineingenommen – unbewußt verstrickt, wenn man so will – in
ein Globalsystem anhaltender Stimulierungswiderspiele
zwischen den Polen »gefährlich« und »sicher«, »angenehm«
und »unangenehm«, wobei ich auf Veränderungen der
Verkehrslage und bestimmte Einzelheiten der Situation
erschrocken oder gelassen, zuversichtlich oder ängstlich
reagiere, während mein Bewußtsein unterdessen noch immer
mit anderen Dingen befaßt ist.
Ziehen Sie nun von dem Ganzen einfach das Bewußtsein ab,
dann haben Sie eine Vorstellung davon, was es heißt, ein
bikameraler Mensch zu sein. Für ihn besteht die Welt in der
1
Den Einfall für dieses Beispiel verdanke ich Erwin W. Straus'
aufschlußreichem Aufsatz »Phenomenology of Hallucinations«, in:
Hallucinations, hg. von L. J. West, New York: Grune & Straffon 1962, S.
220-232.
- 122-
Gesamtheit dessen, was ihm widerfährt, und ein unabtrennbarer
Bestandteil davon ist sein eigenes Tun, das ohne jegliches
Bewußtsein erfolgt. Und jetzt stellen Sie sich vor, daß auf
einmal eine nie dagewesene Situation eintritt – weiter vorn auf
der Straße hat ein Unfall stattgefunden, oder eine Straßensperre
taucht auf, oder ein Reifen am Auto platzt, oder der Motor
streikt – und siehe da!, unser bikameraler Mensch verhält sich
nicht so, wie Sie und ich uns verhalten würden: Wir würden
nämlich in jedem dieser Fälle unser Bewußtsein rasch und
energisch der Sache zuwenden, um eine Narrativierung davon
zu schaffen, was als nächstes zu tun sei. Er dagegen müßte auf
die bikamerale Stimme warten, mit der seine aufgespeicherte
praktische Lebensweisheit ihm ohne Dazwischenkunft von
Bewußtsein mitteilen würde, wie er sich zu verhalten hat.
Der bikamerale Gott
Aber was hat es mit solchen Gehörshalluzinationen auf sich?
Manche Menschen finden es ja schon schwierig, sich auch nur
die Möglichkeit von inneren Stimmen vorzustellen, die mit
derselben Erlebnisqualität vernommen werden wie äußerlich
produzierte Sprachlaute. Schließlich existiert im Gehirn kein
Mund und kein Kehlkopf!
Gleichgültig,
welche
Gehirnzentren
an
ihrem
Zustandekommen beteiligt sind – es steht auf alle Fälle mit
absoluter Sicherheit fest, daß es solche Stimmerlebnisse gibt und
daß sie sich in nichts von der Wahrnehmung realer Laute
unterscheiden. Zudem ist es höchst wahrscheinlich, daß die
bikameralen Stimmen der Antike ganz ähnlich beschaffen waren
wie die Gehörshalluzinationen von Menschen unserer Zeit.
Viele vollkommen normale Menschen erleben, mit
Gradunterschieden, solche Halluzinationen. Häufig ist der Fall,
daß man unter Streß die tröstende Stimme einer Elternfigur
vernimmt.
- 123-
Unter Streß ... oder bei der Beschäftigung mit einem
hartnäckigen Problem. Ich war Ende Zwanzig und lebte damals
allein in einer Wohnung auf dem Beacon Hill in Boston, wo ich
seit ungefähr einer Woche in intensiven und einsamen
Grübeleien einigen der im vorliegenden Buch berührten
Probleme nachhing, insbesondere der Frage nach dem Wesen
der menschlichen Erkenntnis, und wie wir überhaupt etwas
erkennen könne n. Meine Pros und Kontras kreisten ziellos in
den stellenweise ätherischen Nebeln der Erkenntnistheorien
herum, auf vergeblicher Suche nach einem Landeplatz. Eines
Nachmittags legte ich mich in einem Anfall geistiger
Verzweiflung auf dem Sofa nieder. Plötzlich erklang mitten in
die absolute Stille hinein eine kräftige Stimme; sie kam von
irgendwo rechts über mir und sagte laut und vernehmlich:
»Mach den Erkennenden zum Bestandteil des Erkannten!« Mich
riß es hoch, und mit dem verblüfften Ausruf »Ist da jemand?«
hielt ich im Zimmer Ausschau nach diesem Jemand. Die
Stimme war von einer ganz bestimmten Stelle hergekommen.
Niemand dort! Niemand zu finden auch in den angrenzenden
Räumlichkeiten, wo ich verdattert nachsah. Ich halte jene
kryptische Tiefsinnigkeit nicht für eine göttliche Eingebung,
aber ich glaube, daß der Vorfall dem ähnelt, was Menschen
erlebten, die sich in der Vergangenheit für göttlich Auserwählte
meinten halten zu dürfen.
Derartige Stimmen können bei durchaus normalen Menschen
mit einer gewissen Regelmäßigkeit auftreten. Im Anschluß an
meine Vorträge über die Theorien dieses Buches erlebte ich
immer wieder mit Überraschung, wie Zuhörer mich aufsuchten,
um mir« von ihren Stimmen zu berichten. Die junge Ehefrau
eines Biologen erzählte, daß sie fast jeden Morgen beim
Bettenmachen und während ihrer Hausarbeit eine ausgedehnte,
aufschlußreiche und amüsante Unterhaltung mit ihrer
verstorbenen Großmutter führe, wobei sie die Stimme der
Großmutter höre, als ob sie wirklich da wäre. Den entgeisterten
- 124-
Ehemann traf diese Neuigkeit wie ein Schlag: Seine Frau hatte
nie zuvor mit ihm darüber gesprochen, weil »Stimmen hören«
im allgemeinen als ein Symptom des Wahnsinns gilt. Was es bei
psychisch gestörten Menschen natürlich auch ist. Infolge des
Nimbus von Grauen, in den diese Krankheit gehüllt ist, wird
über das tatsächliche Ausmaß solch regelmäßiger
Gehörshalluzinationen bei psychisch Gesunden so gut wie nichts
bekannt.
Die einzige ausführliche Arbeit auf diesem Gebiet ist eine
dürftige Erhebung britischen Ursprungs aus dem vorigen
Jahrhundert. 2 Erfaßt wurden nur Halluzinationen von solchen
psychisch Gesunden, die sich auch sonst des besten
Wohlbefindens erfreuten. Von 7717 Männern hatten 7,8 Prozent
zu irgendeiner Zeit in ihrem Leben Halluzinationen gehabt. Bei
den 7599 weiblichen Probanden betrug der entsprechende Anteil
12 Prozent. Die stärkste Gruppe unter den halluzinierenden
Probanden bildeten die Zwanzig- bis Neunundzwanzigjährigen
– übrigens die gleiche Altersgruppe, in der auch die
Schizophrenie am verbreitetsten ist. Gesichtshalluzinationen
waren doppelt so häufig wie Gehörshalluzinationen. Auch
nationale Unterschiede wurden festgestellt. In Rußland war die
Häufigkeit von Halluzinationen doppelt so hoch wie im
allgemeinen Durchschnitt. In Brasilien lag sie sogar noch höher
infolge des beträchtlich verstärkten Vorkommens von
Gehörshalluzinationen. Warum und weshalb das so ist, bleibt
der Spekulation des Lesers überlassen. Zu den Mängeln dieser
Studie zählt nicht zuletzt die Verkennung der Tatsache, daß in
einem
Land,
wo
Gespenstererscheinungen
zu
den
interessantesten Themen des Alltagsklatsches zählen, wohl
kaum mit Sicherheit auszumachen ist, was tatsächlich
halluzinatorisch gesehen und gehört wurde. Es besteht ein
prononciertes Bedürfnis nach neuen und besseren Erhebungen
2
Henry Sidgewick u. a., Report an The Census of Hallucinations,
Proceedings of the Society for Psychic Research 34 (1894), S. 25-394.
- 125-
dieser Art. 3
Halluzinationen bei Psychotikern
Gehörshalluzinationen, wie sie den bikameralen Stimmen
ähneln, sind natürlich bei Schizophreniekranken am häufigsten
anzutreffen und am besten zu studieren. Letzteres ist freilich
heutzutage keine ganz einfache Sache mehr. Schon beim
Verdacht auf Halluzinationen unterzieht man akute
Psychosefälle einer speziellen Chemotherapie, die das
Halluzinieren
unterbindet.
Diese
Vorgehensweise
ist
einigermaßen fragwürdig; sie dürfte nicht so sehr dem Besten
des Patienten als vielmehr den Interessen der behandelnden
Klinik dienen, wo man in erster Linie Wert darauf legt, eine
rivalisierende Instanz bei der totalen Kontrolle über den
Patienten auszuschalten. Bis dato ist jedoch völlig unbewiesen,
daß halluzinierende Patienten therapieresistenter wären als
andere. Nach dem Urteil ihrer Mitpatienten sind sie vielmehr im
Vergleich mit Schizophreniekranken ohne Halluzinationen
freundlicher, weniger querulant, liebenswürdiger und ihrer
Umwelt gegenüber positiver eingestellt. 4 Selbst in Fällen, wo
die halluzinierten Stimmen scheinbar negative Effekte zeitigen,
ist nicht auszuschließen, daß sie den Therapieverlauf im ganzen
günstig beeinflussen.
Aber wie immer dem sei: seit es die Chemotherapie gibt, sind
Halluzinosefälle weit seltener als zuvor anzutreffen. Aus
neueren Untersuchungen geht hervor, daß ihr Anteil unter den
Psychosepatienten von Klinik zu Klinik schwankt: von 50
Prozent im Bostoner City Hospital bis zu 30 Prozent in einer
3
Ein Beispiel dafür, wie man es nicht machen soll, liefert D. J. West, A
Mass-Observation Questionnaire an Hallucinations, Journal of the Society for
Psychic Research 34/1948, S. 187-196.
4
P. M. Lewinsohn, Characteristics of Patients with Hallucinations, Journal of
Clinical Psychology 24 (1968), S. 423.
- 126-
Klinik in Oregon5 und sogar noch darunter in Kliniken mit
langfristig internierten Patienten, bei denen mit Sedativa in der
Regel nicht gespart wird. Daher stütze ich mich im folgenden in
verstärktem Maß auf die ältere Literatur über die Psychosen –
wie etwa Bleulers klassische Arbeit –, wo eben auch die
halluzinatorische Seite der Schizophrenie noch klarer
beschrieben ist. 6 Das gehört mit zur Sache, wenn wir uns eine
Vorstellung von Wesen und Tragweite jener bikameralen
Stimmen verschaffen wollen, wie sie in den Kulturen der
Frühzeit vernommen wurden.
Die Eigenarten der Stimmen
Die Stimmen der Schizophrenen nehmen ihren Wirten
gegenüber jede erdenkliche Haltung ein. Sie machen
Konversation, drohen, üben Kritik und geben Ratschläge; das
alles häufig in knappen Sätzen. Sie ermahnen, trösten,
verspotten, kommandieren oder führen manchmal auch lediglich
die tönende Chronik der laufenden Ereignisse. Sie kreischen,
winseln, höhnen und schwanken in der Lautstärke vom leisesten
Flüstern bis zum donnernden Gebrüll. Häufig weisen die
Stimmen ir gendeine charakteristische Eigentümlichkeit auf; so
etwa sprechen sie im einen Fall sehr langsam, im andern
skandierend; in Reimen; in Rhythmen; sogar in irgendeiner
Fremdsprache. Es kommt vor, daß der einzelne nur eine einzige,
5
P. E. Nathan, H. F. Simpson u. M. M. Audberg, A Systems Analytic Model
of Diagnosis II: The Diagnostic Validity of Abnormal Perceptual Behavior,
Journal of Clinical Psychology 25 (1969), S. 115-136.
6
Eugen Bleuler, Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien, in:
Handbuch der Psychiatrie, hg. von G. Aschaffenburg, Spezie ller Teil, (B), 4.
Abt., 1. Hälfte, Leipzig: Franz Deuticke 1911. Weitere Quellen für die
folgenden Abschnitte sind meine eigenen Beobachtungen, Gespräche mit
Patienten, die jeweils in den Anmerkungen verzeichneten Schriften, mehrere
Beiträge in dem oben (vgl. Fußnote auf Seite 110) zitierten Sammelband
unter der Herausgeberschaft von L. J. West sowie eine Reihe
unveröffentlichter Fallgeschichten.
- 127-
bestimmte Stimme hört; häufiger jedoch kommen sie zu
mehreren und gelegentlich sogar zu vielen. Wie in den
bikameralen Kulturen werden sie mit Göttern, Engeln, Teufeln,
Unholden oder mit der oder jener bestimmten Person oder einem
Verwandten identifiziert. Dann und wann werden sie jedoch
auch einem künstlichen Gebilde zugeschrieben, welches an jene
Skulpturen erinnert, die – wie wir noch sehen werden – in den
bikameralen Monarchien in vergleichbarer Hinsicht eine so
bedeutende Rolle spielten.
Manchmal treiben die Stimmen den Kranken zur
Verzweiflung, indem sie ihm befehlen, etwas Bestimmtes zu
tun, um ihn dann, sobald der Befehl ausgeführt ist, mit giftigen
Vorwürfen zu malträtieren. Manchmal ist die Rede einer
Stimme dialogisch aufgebaut, so als würden sich zwei
Menschen über den Kranken unterhalten. Manchmal sind die
Rollen des Fürsprechers und des Widersachers auf zwei
Personen verteilt. Während die Stimme seiner Tochter über
einen Patienten erklärt: »Er wird verbrannt!«, entgegnet die
Stimme seiner Mutter: »Er wird nicht verbrannt.« 7 In anderen
Fällen schnattern mehrere Stimmen durcheinander, so daß der
Patient nicht verstehen kann, was sie sagen.
Lokalisierung und Funktion
In manchen – insbesondere den sehr schweren – Fällen sind
die Stimmen nicht lokalisiert. In der Regel jedoch sind sie es.
Sie melden sich linker Hand, rechter Hand, von hinten, von
oben, von unten; nur selten freilich kommt es vor, daß sie den
Kranken geradewegs von vorn ansprechen. Dem Anschein nach
können sie aus Mauern und Wänden dringen, aus dem Keller
oder vom Dach, vom Himmel oder aus der Hölle, von nah oder
weither kommen oder ihren Sitz in Körperteilen und
Kleidungsstücken haben. Und manchmal ist es auch so, daß sie
7
Bleuler, a. a. O. (vgl. vorige Fußnote), S. 80.
- 128-
– wie ein Patient es ausdrückte – »das Wesen von all den
Dingen annehmen, durch die sie sprechen – egal, ob sie nun aus
der Wand kommen oder aus dem Ventilator oder ob sie sich in
Wald und Flur bemerkbar machen«. 8 Manche Patienten lassen
die Neigung erkennen, die guten, tröstenden Stimmen von rechts
oben zu hören, während sich böse Stimmen eher von links und
von unten melden. In ganz seltenen Fällen kommt es dem
Patienten so vor, als kämen die Stimmen aus seinem eigenen
Mund, zuweilen begleitet von dem Gefühl anschwellender
Fremdkörper im Mund. Manchmal werden die Stimmen auf
denkbar bizarre Weis e orts- und dingfest gemacht. Ein Patient
gab an, über jedem seiner Ohren hocke eine Stimme, die eine
ein wenig größer als die andere – was an die Vorstellungen der
alten Ägypter von dem »Ka« und dessen Darstellungen auf
Pharaonenbildnissen gemahnt (wir werden später ausführlicher
darauf eingehen).
Sehr häufig kritisieren die Stimmen das Denken und Handeln
der Patienten. Manchmal verbieten sie ihnen etwas, was sie sich
gerade zu tun vorgenommen hatten. Und mitunter wird das
Verbot bereits ausgesprochen, noch bevor der Patient seines
Vorhabens gewahr wurde. »Ein intelligenter Paranoider aus dem
Thurgau hegte feindliche Gefühle gegen seinen Wärter; als
dieser ins Zimmer trat, sagte ihm die Stimme [noch bevor der
Patient irgend etwas getan hatte] in tadelndem Ton: ›So ein
Thurgauer schlägt einen anständigen Privatwärter einfach
nicht.‹« 9
Von immenser Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der
Umstand, daß das Nervensystem des Patienten einfache
Wahrnehmungsurteile trifft, deren das »Selbst« des Patienten
nicht gewahr ist. Und diese wiederum können – wie im zuletzt
erwähnten Fall in prophetisch wirkende Stimmen umgesetzt
8
9
T. Hennell, The Witnesses, London: Davies 1938, S. 182.
Bleuler, a. a. O. (vgl. Fußnote auf Seite 114), S. 81.
- 129-
werden. Der Hausmeister kommt den Flur entlang und
verursacht dabei ein leises Geräusch, dessen sich der Patient
nicht bewußt ist. Dafür hört der Patient die halluzinierte Stimme
rufen: »Da kommt wer auf dem Flur mit einem Eimer Wasser.«
Die Tür geht auf – und die Prophezeiung ist erfüllt: Der Glaube
an das hellseherische Vermögen der Stimmen wird auf diese
Weise geboren und am Leben erhalten, und möglicherweise war
das in der bikameralen Ära der Geschichte ganz genauso. Der
Patient folgt dann nur noch seinen Stimmen, denen er wehrlos
ausgeliefert ist. Falls die Stimmen unverständlich sind, verharrt
er katatonisch starr und stumm, wartend, daß seine Stimme oder
die Stimmen und Hände seiner Pfleger ihn in Form bringen.
Während des Klinikaufenthalts unterliegt der Schweregrad
der Krankheit in der Regel einem steten Wechsel, und häufig
steht das Auftreten oder Ausbleiben der Stimmen mit diesem
Oszillieren in Zusammenhang. Manchmal melden sie sich nur,
sobald der Patient bestimmte Dinge tut oder sich in einer
bestimmten Umgebung aufhält. Indes, zu der Zeit, als man die
heute gebräuchliche Chemotherapie noch nicht kannte, gab es
viele Patienten, die keinen Augenblick ihres wachen Lebens vor
den Stimmen Ruhe hatten. Je schwerer die Krankheit, desto
lauter die Stimmen, die in diesem Fall in der Außenwelt
lokalisiert sind; je leichter das Krankheitsbild, desto mehr
neigen die Stimmen dazu, nur als ein inneres Flüstern in
Erscheinung zu treten; innerlich lokalisierte Stimmen haben
manchmal ein verschwommenes Klangbild. Es kommt vor, daß
ein Patient sie so beschreibt: »Es sind überhaupt keine
wirklichen Stimmen, es sind bloß die nachgemachten Stimmen
von toten Verwandte.« Besonders intelligente Patienten mit
einer leichteren Form der Krankheit können oft nicht mit
Sicherheit sagen, ob sie tatsächlich Stimmen hören oder ob sie
nicht dem Denkzwang, sie zu hören, erliegen, etwa wie bei
»hörbarem
Denken«,
»tonloser
Stimme«
oder
»Bedeutungshalluzination«.
- 130-
Für Halluzinationen muß es eine angeborene Basis im
Nervensystem geben. Das zeigt sich ganz klar, wenn man das
Phänomen an Menschen untersucht, die von Geburt an oder seit
frühester Kindheit taub sind: auch sie können – auf diese oder
jene Weise Gehörshalluzinationen haben, wie sich gemeinhin an
tauben
Schizophrenen
beobachten
läßt.
Bei
einer
wissenschaftlichen Untersuchung beharrten 16 von 22 tauben
Schizophreniepatienten darauf, daß sie irgendwelche
Mitteilungen hörten. 10 Eine seit ihrer Geburt taube
zweiunddreißigjährige Frau, die nach einer medizinisch
indizierten Abtreibung sich mit Selbstvorwürfen überhäufte,
behauptete zu hören, wie Gott sie anklagte. Eine andere,
ebenfalls taubgeborene Frau (50 Jahre alt) hörte übernatürliche
Stimmen, die ihr okkulte Kräfte zusprachen.
Die visuelle Komponente
Gesichtshalluzinationen treten bei Schizophrenen nicht mit
gleicher Regelmäßigkeit auf, gegebenenfalls jedoch zuweilen in
äußerst klarer und lebhafter Form. Einer meiner Probanden, eine
lebenslustige junge Frau (Liedermacherin, 22 Jahre alt), saß
einmal in einem geparkten Auto, wo sie seit geraumer Zeit mit
einem gewissen Bangen auf eine Bekannte wartete. Von vorn
auf der Straße kam ein blauer Wagen, der – sonderbarerweise –
ohne ersichtlichen Grund seine Fahrt verlangsamte, die Farbe zu
Rostbraun wechselte, dann zwei mächtige graue Flügel
entfaltete und mit sanftem Flügelschlag über eine Hecke hinweg
verschwand. Am meisten erschreckte sie jedoch der Umstand,
daß die Menschen auf der Straße sich so verhielten, als sei
nichts Außergewöhnliches vorgefallen. Was konnte anderes
dahinterstecken, als daß sie sich irgendwie verschworen hatten,
10
J. D. Rainer, S. Abdullah u. J. C. Altshuler, Phenomenology of
Hallucinations in the Deaf, Origin and Mechanisms of Hallucinations, hg.
von Wolfram Keup, New York: Plenum Press 1970, S. 449-465
- 131-
ihre Reaktionen vor meiner Probandin zu verheimlichen? Aber
warum? Häufig führt erst die Narrativierung solcher PseudoEreignisse im Bewußtsein, bei der ein Zusammenhang zwischen
ihnen und der Welt rationalisiert wird, zur eigentlich tragischen
Symptombildung.
Interessant ist, daß bei tauben Schizophrenen, die keine
Gehörshalluzinationen haben, oft Gesichtshalluzinationen
auftreten, die Botschaften in Zeichensprache übermitteln. Eine
Sechzehnjährige, ertaubt im Alter von acht Monaten, erging
sich, zu den Wänden ihres Zimmers hin gestikulierend, in
bizarren Unterhaltungen mit der Leere. Eine taubgeborene ältere
Frau unterhielt sich mit ihrem halluzinierten Freund in
Zeichensprache. Andere taube Patienten erwecken den
Anschein, als seien sie unentwegt in Gespräche mit imaginären
Personen vertieft, wobei sie einen Wortsalat aus Zeichensprache
und
Taubstummenalphabet
benutzen.
Eine
Vierunddreißigjährige, die das Gehör im Alter von 14 Monaten
verloren hatte, verbrachte ihr Leben in zügelloser Promiskuität,
die mit heftigen Wutanfällen abwechselte. Bei der Aufnahme in
die Klinik erklärte sie in Zeichensprache, jeden Morgen besuche
sie ein weißgewandeter Geist, um ihr in Zeichensprache
bisweilen entsetzenerregende Dinge zu sagen, die ihre Laune für
den nachfolgenden Tag bestimmten. Eine andere taube Patientin
spuckte regelmäßig ins Leere und gab dafür die Erklärung, sie
spucke nach den Engeln, die dort versteckt auf der Lauer lägen.
Ein dreißigjähriger von Geburt an tauber Mann, der friedfertiger
eingestellt war, sah regelmäßig Engelputten und zwerghafte
Menschenwesen um sich her und glaubte sich im Besitz eines
Zauberstabs, mit dem er so gut wie alles, was er wollte,
bewirken könne.
Im akuten sogenannten Dämmerzustand werden zuweilen
sogar am hellichten Tag komplette Szenen – häufig religiösen
Inhalts halluziniert: Der Patient sieht den Himmel offen, und
Gott selbst spricht zu ihm. Manchmal erscheinen auch
- 132-
Schriftzeichen vor dem Patienten (wie bei Nebukadnezar). Ein
Paranoid-Schizophrener sah im selben Moment, als der Pfleger
ihm seine Medizin verabreichen wollte, das Wort »Gift« vor
sich in die Luft geschrieben. In anderen Fällen passen sich die
Gesichtshalluzinationen in die reale Umwelt ein, so zum
Beispiel, wenn sie als Gestalten gesehen werden, die auf der
Krankenstation herumspazieren oder auf dem Kopf des Arztes
stehen (geradeso wie nach meiner Ansicht Athene dem
Achilleus erschien). Wenn Gesichtshalluzinationen im Verein
mit Stimmen auftreten, ist es mit großer Regelmäßigkeit der
Fall, daß sie lediglich in einem Lichtschein oder Nebelschleier
bestehen – so wie Thetis sich dem Achilleus oder wie Jahwe
sich vor Moses zeigte.
Die Auslösung der Götter
Trifft unsere Annahme zu, daß die Halluzinationen
Schizophrener der göttlichen Lenkung in der Antike
vergleichbar sind, dann muß es für beide Erscheinungen einen
gemeinsamen physiologischen Auslöser geben. Dieser ist nach
meinem Dafürhalten nichts anderes als der Streß. Bei normalen
Menschen ist, wie erwähnt, die Streßschwelle zur
Halluzinationsauslösung extrem hoch; den meisten von uns
müßten die Sorgen über dem Kopf zusammenschlagen, wenn
wir anfangen sollten, Stimmen zu hören. Bei Menschen mit
Psychoseneigung ist diese Schwelle jedoch deutlich niedriger:
Bei der erwähnten jungen Liedermacherin bedurfte es nur eines
längeren gespannten Wartens im geparkten Auto. Die Ursache
ist, wie ich glaube, darin zu suchen, daß diese Menschen aus
genetischen Gründen Abbauprodukte von streßerzeugtem
Adrenalin nicht mit der gleichen Geschwindigkeit wie normale
über die Nieren ausscheiden können, so daß diese Stoffe im Blut
angereichert werden.
Wir können annehmen, daß in der Ära der bikameralen
Psyche die Streßschwelle zur Halluzinationsauslösung noch
- 133-
weit, weit, niedriger lag als beim Normalmenschen wie auch
dem Schizophrenen von heute. Der einzig erforderliche Streß
war der, der auftritt, wenn irgend etwas hinzutretend Neuartiges
an einer Situation eine Verhaltensänderung notwendig macht.
Alles, womit nicht auf habitueller Basis fertig zu werden war,
jeder
Konflikt
zwischen
Leistungsanforderung
und
Erschöpfungsgrad, zwischen Angriffs- und Fluchtneigung, jede
Wahl, wem man geho rchen und was man tun solle, kurzum
alles, was irgendeine Entscheidung erforderte, reichte haus, um
eine Gehörshalluzination zu bewirken.
Es
ist
mittlerweile
zweifelsfrei
geklärt,
daß
Entscheidungsprozesse (und ich möchte den Ausdruck
»Entscheidung« ohne jeden Beiklang von Bewußtsein
verstanden wissen) genau das sind, was den Streß ausmacht.
Ratten, die ein elektrisch geladenes Gitter überqueren müssen,
um an Futter und Wasser zu gelangen, bekommen mit der Zeit
Magengeschwüre. 11 Eine einfache Elektroschockbehandlung der
Ratten hat keineswegs diesen Effekt. Es bedarf dazu vielmehr
des Schwebens im Konflikt oder des Stresses angesichts der
Entscheidung, ob man jetzt das Gitter überqueren oder den
damit verbundenen Effekt nicht doch vermeiden soll. Steckt
man zwei Affen in eine Vorrichtung, die es einem von ihnen
ermöglicht, einen periodischen Stromstoß in die Füße beider
Affen zu unterbinden, wenn er mindestens einmal innerhalb von
zwanzig Sekunden eine Taste drückt, dann bekommt der Affe,
der die Entscheidungen trifft, innerhalb von drei bis vier
Wochen Magengeschwüre, der andere – genau im gleichen Maß
geschockte – Affe dagegen nicht. 12 Der entscheidende Faktor ist
11
W . L. Sawrey u. J. D. Weisz, An Experimental Method of Producing
Gastric Ulcers, Journal of Comparative and Physiological Psychology
49/1956, S. 269 f.
12
J. V. Brady, R. W. Porter, D. G. Conrad u. J. W. Mason, Avoidance
Behavior and the Development of Gastro-Duodenal Ulcers, Journal of the
Experimental Analysis of Behavior 1 / 1958, S. 69-72.
- 134-
das Schweben in der Erfolgsungewißheit. Ist das Experiment
dergestalt angelegt, daß ein Tier wirksam reagieren kann und
sofort die Rückmeldung über den Erfolg erhält, dann treten
keine derartigen Manager-Geschwüre (wie sie vielfach genannt
werden) auf. 13
Achilleus, von Agamemnon gedemütigt, halluziniert also im
Entscheidungsstreß bei den grauen Gewässern Thetis aus dem
Nebel. Rektor in der Qual der Wahl, ob er Trojas Mauern
verlassen soll, um draußen vor den Toren mit Achilleus zu
kämpfen, oder ob er besser in der Stadt bleibt, halluziniert also
im Entscheidungsstreß die Stimme, die ihn nach draußen gehe n
heißt. Die göttliche Stimme macht dem Entscheidungsstreß ein
Ende, bevor er überhaupt ein nennenswertes Ausmaß erreicht
hat. Wären Achilleus und Rektor moderne Manager, Mitglieder
einer Kultur, die ihre streßlindernden Götter unterdrückt hat,
dann hätte wohl jeder von den beiden sein Päckchen von
unseren psychosomatischen Leiden zu tragen.
Die Macht des Wortes
Wir können das Thema des Halluzinationsmechanismus nicht
abschließen, ohne uns zuvor die wichtigste Frage gestellt zu
haben: Warum werden diese Stimmen für real gehalten, warum
wird ihnen gehorcht? Denn für objektiv wirklich werden sie
zweifelsohne gehalten, und man folgt ihnen, als spräche aus
ihnen die objektive Wirklichkeit selber – folgt ihnen sogar
gegen das Zeugnis der Erfahrung und gegen noch soviel
gesunden Menschenverstand. Ja, die Stimmen, die der Patient
hört, sind für ihn wirklicher als selbst die Stimme seines Arztes.
Mitunter spricht er das auch aus. »Wenn das keine wirkliche
Stimme ist, dann könnte ich genausogut sagen, daß Sie selber in
diesem Augenblick nicht wirklich mit mir sprechen«, sagte ein
13
J. M. Weiss, Psychological Factors in Stress and Disease, Scientific
American 226/1972, S. 106.
- 135-
Schizophrener zu den behandelnden Ärzten. Und ein anderer
antwortete auf die entsprechenden Fragen so:
Unbedingt. Ich höre deutlich Stimmen, sogar ziemlich laute.
Sie reden uns in diesem Moment dazwischen. Ich kann diese
Stimmen besser verstehen, als ich Sie verstehe. Es leuchtet mir
mehr ein, was sie sagen und daß es sie wirklich gibt, und sie
stellen keine Fragen. 14
Daß er als einziger diese Stimmen hört, tut für den
Schizophrenen nicht viel zur Sache. Zuweilen ist ihm so, als
stelle dies eine Gabe, eine Auszeichnung für ihn dar, als sei er
von göttlichen Mächten auserwählt und erhöht worden. Und dies
sogar dann, wenn die Stimmen ihn mit grimmigen Vorwürfen
überhäufen, ja selbst wenn sie ihn in den Tod schicken. Es ist,
als sei er schutz- und wehrlos irgendwelchen elementaren
Mächten der Klangwelt ausgeliefert: Mächte, die realer sind als
Wind und Regen und Feuer, Mächte, die ihn verhöhnen,
bedrohen und trösten, Mächte, von denen er sich nicht lösen, die
er nicht aus objektiver Distanz betrachten kann.
Vor nicht allzu langer Zeit lag an einem sonnigen Nachmittag
ein Mann in einem Liegestuhl am Strand von Coney Island.
Plötzlich hörte er eine Stimme, und zwar, so laut und deutlich,
daß er zu seinen Freunden hinsah in der festen Überzeugung, sie
müßten die Stimme gleichfalls gehört haben. Aber sie verhielten
sich, als sei nichts geschehen, und so hatte der Mann auf einmal
ein etwas sonderbares Gefühl und rückte mit seinem Liegestuhl
von den anderen weg. Und da ...
... auf einmal fuhr die sonore Stimme wieder auf mich los,
jetzt noch deutlicher, noch sonorer und sogar noch lauter als
vorher, und diesmal mir direkt ins Ohr, so daß ich innerlich
zusammenschrak und zitterte. »Larry Jayson, ich hab dir gerade
gesagt, daß du nichts wert bist. Wieso sitzt du hier herum und
tust so, als ob du genausoviel wert wärst wie andere, wo das
14
Hennell, a. a. O., S. 181 f.
- 136-
doch gar nicht stimmt? Wen willst du damit anschmieren?«
Die sonore Stimme hatte so laut und deutlich gesprochen –
jeder mußte sie gehört haben. Der Mann stand auf und ging
langsam davon, von der hölzernen Strandpromenade über die
Bohlentreppe zu dem schmalen Sandstreifen hinunter. Er
wartete, ob die Stimme wiederkommen würde. Und sie kam
wieder – diesmal ihm jedes Wort einzeln einhämmernd, nicht so
wie Wörter sonst klingen, sondern sonorer, ... als ob jedes
Stückchen von mir sich in ein Ohr verwandelt hätte, so daß
meine Finger die Worte hörten und meine Beine und auch mein
Kopf. »Du bist nichts wert«, sagte die Stimme im gleichen
sonoren Ton. »Nie warst du auch nur einen Pfifferling wert oder
auf der ganzen Welt zu irgend etwas nütze. Da ist das Meer. Am
besten, du ersäufst dich gleich. Geh einfach rein und dann weiter
und immer weiter.«
Sobald die Stimme geendet hatte, wußte ic h aus ihrem
ungerührten Befehlston, daß ich ihr gehorchen mußte. 15
Der Kranke auf dem zerstampften Sand von Coney Island
hörte die Stimme genauso deutlich, wie Achilleus Thetis hörte
am nebelverhangenen Strand der Ägäischen See. Und genau wie
Agamemnon dem »ungerührten Befehlston« des Zeus
»gehorchen mußte« oder wie Paulus vor Damaskus dem Befehl
Jesu gehorchte, genauso watete Mr. Jayson in den Atlantik
hinaus, um den Tod durch Ertrinken zu suchen.
Rettungsschwimmer durchkreuzten den Willen seiner Stimme –
er wurde aus dem Wasser gezogen und in die Bellevue-Klinik
gebracht, wo er sich so weit erholte, daß er einen Bericht über
sein bikamerales Erlebnis abfassen konnte.
In manchen weniger schweren Fällen lernen die Kranken,
wenn sie sich erst einmal an die Stimmen gewöhnt haben, eine
objektive Einstellung zu ihnen anzunehmen und ihren
Autoritätsdruck einigermaßen abzufedern. Aber fast in allen
15
L. N. Jayson, Mania, New York: Funk & Wagnall 1937, S. 1-3.
- 137-
Autobiographien von Schizophrenen ist jedenfalls im Hinblick
auf die Anfangsphase des Leidens durchgängig von
rückhaltloser Unterwerfung unter das Kommando der Stimme
die Rede. Wie das? Wieso besitzen diese Stimmen solche
Autorität, sei es in Argos, sei’s auf der Straße nach Damaskus
oder sei’s am Strand von Coney Island?
Das Gehör nimmt unter den Sinnesmodalitäten eine
Sonderstellung ein. Wir können es nicht manipulieren. Wir
können uns Laute nicht vom Leib halten. Wir können ihnen
nicht den Rücken kehren. Wir können die Augen schließen, uns
die Nase zuhalten, einer Berührung ausweichen, uns weigern,
etwas zu kosten. Unsere Ohren können wir nicht schließen in
dem Sinn, daß wir die Gehörswahrnehmung vollständig auf Null
bringen: Wir können sie allenfalls dämpfen, indem wir uns die
Ohren verstopfen. Von allen Sinnesmodalitäten ist das Gehör
die am wenigsten willkürlich beherrschbare, und hier, in diesem
Bereich, sind wir zugleich im Medium der komplexesten aller
evolutionären Errungenschaften – der Sprache. Wir haben es
also mit einem ziemlich weitreichenden und verwickelten
Problem zu tun.
Die Beherrschung des Gehorchens
Überlegen wir einmal, was es bedeutet, einem anderen, der
spricht, zuzuhören und ihn zu verstehen! In gewissem Sinn
müssen wir selbst dieser andere werden, oder vielmehr: wir
lassen ihn momentweise einen Teil von uns selber werden. Wir
bringen die eigene Identität in Schwebe, um hernach wieder zu
uns zu kommen und dem Gesagten entweder beizupflichten oder
es zu verwerfen. Doch in jenem transitorischen Augenblick der
gewissermaßen leeren Identität besteht das Wesen des
Verstehens von Sprache; und wenn es sich bei der fraglichen
Sprachäußerung um einen Befehl handelt, wird die
Identifikation im Verstehen zum Gehorchen. Hören ist in
Wahrheit eine Art von Gehorchen. In der Tat haben beide
- 138-
Wörter dieselbe Wurzel, waren also sehr wahrscheinlich
ursprünglich einmal ein und dasselbe Wort. Dies trifft für die
griechische, lateinische, hebräische, französische und die
russische Sprache ebenso zu wie für das Deutsche mit seinem
Wort »gehorchen«; der lateinische Ausdruck oboedire, ein
Kompositum aus ob + audire, bedeutet »jemandem von
Angesicht zu Angesicht zuhören«: ein in unserem
Zusammenhang besonders aufschlußreiches Beispiel. 16
Die Frage ist jetzt, wie man derartigen Gehorsam unter die
eigene Willensherrschaft bringt. Das geschieht auf zweierlei
Weise.
Die erste und weniger wichtige Methode beruht in nichts
anderem als in der räumlichen Entfernung. Denken Sie etwa
daran, wie Sie sich verhalten, wenn jemand mit Ihnen spricht.
Sie nehmen die dem etablierten Standard Ihrer Kultur
entsprechende Distanz zum Sprecher ein. 17 Kommt er Ihnen zu
nahe, wirkt das so, als wolle er Ihr Denken allzu unvermittelt
beherrschen. Nicht nahe genug, beherrscht er es nicht genug,
damit sie ihm zwanglos folgen können. Sollten Sie in einem
arabischen Land zu Hause sein, ist »zwanglos« ein Abstand von
weniger als dreißig Zentimetern von Gesicht zu Gesicht. In
nördlicheren Breiten dagegen wird ein Höchstmaß an
Zwanglosigkeit erst bei einer Gesprächsdistanz empfunden, die
mehr als das Doppelte beträgt; derartige kulturelle Differenzen
können im internationalen Verkehr auf gesellschaftlicher Ebene
zu mancherlei Mißverständnissen führen. Mit jemandem aus
geringerem Abstand als dem gesellschaftlich üblichen Worte zu
16
Straus, a.a.0., S. 229.
Wem an einer vertieften Darstellung dieser Fragen gelegen ist, der findet
sie in Edward T. Halls The Hidden Dimension (New York: Doubleday 1966),
wo insbesondere die kulturellen Varianzen behandelt werden, sowie in
Robert Sommers Personal Space: The Behavioral Basis of Design
(Englewood Cliffs, N. J.: Prentice-Hall 1969), einem Buch, das der
Raumorientierung des Verhaltens nachgeht.
17
- 139-
tauschen heißt, sich zumindest spielerisch oder versuchsweise
auf
wechselseitiges
Dominanz-Unterordnungs-Verhalten
einzulassen: man denke an das trauliche Zusammensein
verliebter Paare oder an zwei junge Burschen, die drauf und
dran sind, sich zu prügeln, aber vorerst einander mit
vorgerecktem Kinn Drohungen »ins Gesicht schleudern«. Auf
jemanden
von
innerhalb
der
sozial
festgelegten
Intimitätsschranke einzureden ist gleichbedeutend mit dem
ernsthaften Versuch, ihn oder sie zu dominieren. Ist man selbst
derjenige, der solchermaßen angesprochen wird, und
unternimmt nichts, den Abstand zu korrigieren, so ist das
Ergebnis eine verstärkte Disposition, die Autorität des Sprechers
zu akzeptieren.
Die zweite und wichtigere Methode, wie wir die stimmliche
Autorität fremder Menschen über unsere eigene Person
kontrollieren können, beruht in der Meinung, die wir uns von
den anderen bilden. Warum sind wir unentwegt damit
beschäftigt, andere Menschen zu beurteilen, zu kritisieren und in
Kategorien einzuordnen, die allesamt – und sei’s auch nur in
milder Form – Lob oder Tadel implizieren? In einem fort
bewerten wir die anderen oder rangieren sie ein in oftmals
nachgerade lächerliche Statushierarchien. Und warum das? Aus
dem einfachen Grund, weil wir so ihre Herrschaft über uns und
unser Denken unsererseits in den Griff bekommen. Unsere
persönlichen Meinungen über andere Menschen sind ein
Schutzfilter gegen ihren Einfluß auf uns. Möchten Sie einmal
probeweise jemandes Sprachmacht über Sie steigern, dann
plazieren Sie den Betreffenden einfach nur ein paar Stufen höher
auf Ihrer privaten Wertschätzungsskala.
Und nun versuchen Sie sich bitte vorzustellen, wie das ist,
wenn keine dieser beiden Methoden praktikabel ist, weil
niemand da ist, kein räumlicher Fixpunkt, von dem die Stimme
ausgeht: eine Stimme, der man nicht ausweichen, zu der man
nicht auf Distanz gehen kann, die einem so nahe ist, »als wär’s
- 140-
ein Stück von mir«, Nämlich vom eigenen Ich; wie das ist, wenn
sich die Allgegenwart dieser Stimme jeder Einschränkung
entzieht: flieh, und die Stimme flieht mit, weder Wände noch
Entfernungen halten sie auf, es macht ihr nichts aus, daß du dir
die Ohren verstopfst, von nichts läßt sie sich übertönen, noch
nicht einmal von deinem eigenen Schreien und Brüllen – wie
hilflos, wer da zuhören muß! Und wenn der Zuhörer einer
bikameralen Kultur angehörte, in der die Stimmen konventionell
die höchsten Höhen der Hierarchie besetzt hielten, dich als
Götter oder Könige oder sonstige Eminenzen belehrten und mit
Haut und Haar als ihr Eigentum beanspruchten; in einer Kultur,
in der die allwissenden, allmächtigen Stimmen niemals und in
keiner Hinsicht kritisiert oder als inferior kategorisiert werden
konnten wie »hörig« mußte ihnen der bikamerale Mensch
gewesen sein!
Das psychische Faktum des Wollens beim subjektiv bewußten
Menschen zu erklären ist bis auf den heutigen Tag ein
gravierendes
Problem
geblieben,
das
noch
keine
zufriedenstellende Lösung gefunden hat. Beim bikameralen
Menschen indes war dies das Wollen. Man kann auch so sagen:
sein Wille zeigte sich als Stimmphänomen, das dem Wesen nach
ein neurologischer Imperativ war und das den Imperativ und die
Vollzugshandlung unauflöslich in sich vereinigte: die Stimme
hören hieß ihr gehorchen.
- 141-
FÜNFTES KAPITEL
Das Doppelhirn
Was geht im Gehirn des bikameralen Menschen vor? Etwas
so Bedeutsames in der Geschichte unserer Gattung, wie es das –
nur rund hundert Generationen zurückliegende – Vorkommen
einer vollkommen anders gearteten Mentalität als der unsrigen
ist, macht ein Eingehen auf die physiologische Seite der Sache
unausweichlich. Wie ist so etwas möglich? Ausgehend von der
faktischen Gegebenheit dieses überaus delikaten Apparats aus
Nervenzellen und Fasern im Innern unseres Schädels, ist zu
fragen: Wie war dieser Apparat wohl organisiert, um eine
Mentalität wie die bikamerale zu ermöglichen?
Dies ist der Fragehorizont des gegenwärtigen Kapitels.
Zur ersten Annäherung an eine Antwort folgen wir einem
vorgezeichneten Weg: Das gesprochene Wort ist das Medium
der bikameralen Psyche – also müssen die Sprachzentren des
Gehirns auf irgendeine maßgebliche Weise involviert sein.
In allem, was hier zu diesen Zentren gesagt wird, wie
insgesamt in diesem Kapitel und in der Folge überhaupt, werde
ich, um Umständlichkeiten der Ausdrucksweise zu vermeiden,
die Fakten so wiedergeben, wie sie im allgemeinen für
Rechtshänder zutreffen. Bei Rechtshändern befinden sich die
Sprachzentren in der linken Großhirnhemisphäre, die die rechte
Körperseite steuert. Man nennt sie daher meist auch die
dominante Hemisphäre, während die rechte Hemisphäre, die die
linke Körperseite steuert, als nichtdominante Hemisphäre
bezeichnet wird. Ich werde in der Folge die Verhältnisse so
darstellen, als sei die linke Hemisphäre bei allen Menschen die
dominante. In Wirklichkeit jedoch ist bei Linkshändern die
Dominanz von Fall zu Fall unterschiedlich auf die Hemisphären
verteilt: Bei einigen sind die Verhältnisse einfach spiegelbildlich
- 142-
Die drei Sprachzentren der linken Gehirnhemisphäre haben
unterschiedliche Funktionen und Bedeutung. Das Motorische
Sekundärrindenzentrum ist vor allem verantwortlich für die
Artikulation, das Broca-Zentrum für Artikulation, Wortschatz,
Tonfall und Grammatik, das Wernicke-Zentrum schließlich für
Wortschatz, Satzbau, Bedeutung und das Verstehen
gesprochener Sprache.
umgekehrt (so daß also die rechte Hemisphäre die Funktionen
ausübt, die bei Rechtshändern der linken zufallen), bei anderen
ist überhaupt kein Unterschied zu Rechtshändern gegeben, und
bei wieder anderen teilen sich beide Hemisphären in die
Dominanz. Indes, als Ausnahmefälle, die lediglich fünf Prozent
der Bevölkerung ausmachen, können wir die Linkshänder hier
vernachlässigen.
Die Sprachzentren sind drei an der Zahl und befinden sich bei
der Mehrheit aller Menschen sämtlich in der linken
- 143-
Hirnhemisphäre. 1 Es handelt sich um: 1. das Motorische
Sekundärrindenzentrum auf der Oberseite der linken oberen
Stirnhirnwindung (seine Entfernung auf chirurgischem Weg hat
eine elementare Sprachstörung zur Folge, die sich nach Ablauf
einiger Wochen wieder verliert); 2. das Broca-Zentrum im
hinteren Abschnitt der linken unteren Stirnwindung (wird es
entfernt, so ist die Folge eine motorische Aphasie, die
ebensowohl permanent wie vorübergehend sein kann); und 3.
das Wernicke-Zentrum, überwiegend im hinteren Abschnitt des
linken Schläfenhirns und zum Teil im Scheitelhirn lokalisiert
(jede ernst zu nehmende Läsion im Wernicke-Zentrum resultiert
von einem gewissen Lebensalter an in sensorischer Aphasie).
Das Wernicke- Zentrum ist also das für die normale Ausübung
des Sprachvermögens am wenigsten entbehrliche. Wie daraufhin
zu erwarten, weist die Hirnrinde im Bereich des WernickeZentrums eine merkliche Verdichtung von Pyramidenzellen auf,
was auf beträchtliche innere wie äußere Verbindungen
hindeutet. Zwar ist man sich in der Forschung noch nicht ganz
einig über die genaue Abgrenzung dieses Bereichs;2 nicht der
geringste Zweifel besteht jedoch hinsichtlich der Wichtigkeit
des Wernicke-Zentrums für die sinnhafte menschliche
Kommunikation.
Aus erkenntnislogischer Sicht, das ist klar, begibt man sich
auf extrem dünnes Eis, indem man Isomorphien zwischen der
1
Ich stütze mich hier und im folgenden auf ein Buch von Wilder Penfield
u n d Lamar Roberts: Speech and Brain-Mechanisms (Princeton: Princeton
University Press 1959), das als klassische Autorität gelten kann, wenngleich
es in Einzelheiten überholt ist durch die gegenwärtige Wissensexplosion auf
diesem Sektor.
2
Mit der gewohnten Hilfsbereitschaft hat Joseph Bogen seine Zeit geopfert,
um mir die Fußangeln zu zeigen, die in dem vorhandenen Faktenmaterial zu
der Frage lauern, welche Abschnitte denn nun genau in das WernickeZentrum einzubeziehen sind. Dank schulde ich auch meinem ehemaligen
Schüler Stevan Harnad für seine unschätzbare Hilfe in Gesprächen über viele
der hier berührten Fragen.
- 144-
konzeptuellen Abbildung eines psychologischen Sachverhalts
auf der einen und der gleichzeitigen Gehirnstruktur auf der
anderen Seite statuiert. Aber wir können dieses Risiko unter den
gegebenen Bedingungen nun einmal nicht vermeiden. Freilich
bleibt es schwer vorstellbar, daß in den drei Sprachzentren oder
selbst im Ganzen der höchst subtilen Querverbindungen
zwischen ihnen die Matrix irgendeiner Sprachkomponente in so
differenzierter und spezifizierter Form auszumachen sein sollte,
wie das zum Beleg meiner Theorie von der bikameralen Psyche
erforderlich wäre.
Verweilen wir einen Augenblick bei diesem Problem. Die
Sprachzentren befinden sich sämtlich in der linken (dominanten)
Hemisphäre. Warum? Aus welchem Grund ist die
Sprachfunktion nur in einer der beiden Gehirnhälften
repräsentiert? Diese vexierende Rätselfrage hat mich so gut wie
jedermann, der sich einmal mit der Evolution des menschlichen
Gehirns befaßte, lange Zeit nicht losgelassen. Von den anderen
wichtigen psychischen Funktionen sind die meisten bilateral
repräsentiert. Diese sonst allenthalben gegebene Redundanz ist
ein biologischer Vorteil für das Lebewesen, denn bei
Verletzungen in der einen Hemisphäre kann die andere den
Schaden kompensieren. Wieso aber ist das bei der Sprache
anders? Bei der zwingendsten und charakteristischsten aller
menschlichen Fähigkeiten, der unerläßlichen Voraussetzung und
Grundlage allen sozialen Handelns, dem allerletzten
kommunikativen Verbindungsfaden, von dessen Tragfestigkeit
in den nacheiszeitlichen Jahrtausenden oftmals der Fortbestand
des menschlichen Lebens als solchen abgehangen haben muß?
Warum wurde diese Conditio sine qua non der menschlichen
Kultur nicht in beiden Gehirnhemisphären repräsentiert?
Das Problem wird noch rätselhafter, wenn man bedenkt, daß
der für die Sprachfunktion erforderliche neurologische Apparat
in der rechten Hemisphäre ebenso vorhanden ist wie in der
linken. Wird das Wernicke-Zentrum der linken Hemisphäre oder
- 145-
der darunterliegende Thalamus, der die Verbindung zum
Hirnstamm unterhält, im Kindesalter schwer verletzt; so
verlagert sich in der Folge der gesamte Sprachmechanismus in
die rechte Hemisphäre. Bei Beidhändern kommt es (obschon
sehr selten) vor, daß die Sprachrepräsentanz tatsächlich in
beiden Hemisphären ausgebildet ist. Wir sehen also, daß die
normalerweise sprachfreie rechte Gehirnhälfte unter bestimmten
Bedingungen der linken in puncto Sprache durchaus ebenbürtig
ist.
Eine weitere Dimension des Problems enthüllt sich in der
Frage, was denn nun evolutionsgeschichtlich gesehen in der
rechten Hemisphäre materialfiter vorging zu der Zeit, in der sich
links die aptischen Strukturen der Sprachfunktion
herausbildeten. Betrachten wir doch einmal jene Regionen der
rechten Hemisphäre, die den Sprachzentren der linken
entsprechen: Worin besteht ihre Funk tion? Oder noch präziser:
Worin besteht ihre wichtige Funktion denn nur eine vorrangig
wichtige Funktion kann verhindert haben, daß aus diesen
Regionen evolutiv zusätzliche Sprachzentren wurden. Wenn wir
heute diese Bezirke in der rechten Hemisphäre reizen, erzeugen
wir damit nicht die übliche »aphasische Unterbrechung« (ein
schlichtes Aussetzen der laufenden Sprachprozesse), wie sie als
Folge einer Reizung der regulären Sprachzentren in der linken
Hemisphäre auftritt. Aus diesem augenscheinlichen Mangel
irgendeiner Funktion hat man vielfach den Schluß gezogen, daß
umfängliche Bereiche der linken Hemisphäre schlicht
überflüssig seien. Tatsächlich sind menschlichen Patienten
infolge von Krankheiten oder Unfällen schon große Mengen
rechtsseitigen Gewebes, die mitunter auch das Gegenstück zum
Wernicke-Zentrum umfaßten, ja in einigen Fällen sogar das
ganze rechte Großhirn herausoperiert worden, ohne daß die
resultierenden Ausfälle in den psychischen Funktionen zu
nennenswerten Problemen geführt hätten.
Wir haben also eine Sachlage zur Kenntnis zu nehmen,
- 146-
derzufolge diejenigen Bezirke der rechten Hemisphäre, die den
Sprachzentren entsprechen, allem Anschein nach keine ohne
weiteres ersichtliche Funktion haben. Aber wozu dann diese
vergleichsweise unwichtigen Gehirnpartien? Könnte es sein, daß
diese stummen »Sprachzentren« in der rechten Hemisphäre auf
einer früheren Etappe der Menschheitsgeschichte irgendeine
Funktion ausübten, die sie heute nicht mehr haben?
Die Antwort liegt auf der Hand, wenngleich erst in
vorläufiger Gestalt. Der evolutionäre Selektionsdruck, der ein so
gewaltiges Ergebnis zu zeitigen vermochte, war derjenige der
bikameralen Kultur. Die Menschensprache war aus dem einen
Grund mit nur einer Gehirnhemisphäre verknüpft: damit die
andere frei blieb für die Sprache der Götter.
Wenn dem so ist, dürfen wir erwarten, gewisse Kanäle zu
finden, über welche die bikameralen Stimmen aus dem rechten
(nichtdominanten) Schläfenlappen in den linken gelangten. Die
Hauptverbindung zwischen den Hirnhemisphären ist fraglos der
mächtige, aus über zwei Millionen Fasern bestehende »Balken«
(das Corpus callosum). Indes, beim Menschen besitzen die
Schläfenlappen ihren eigenen – sozusagen privaten – »Balken«
in der (bedeutend weniger faserreichen) vorderen Kommissur
(Commissura anterior rostri ce rebri). Bei Ratten und Hunden
verbindet die vordere Kommissur die Geruchszentren. Beim
Menschen hingegen – das habe ich in meiner etwas
dilettantischen Zeichnung zu verdeutlichen gesucht, geht dieses
transversale Bündel aus weißer Substanz vom größeren Teil der
Schläfenhirnrinde aus, vor allem jedoch von der mittleren
Windung, die zum Wernicke-Zentrum gehört; es verjüngt sich
zur Mitte hin und überquert als Strang von kaum mehr als 3 mm
Durchmesser in einem kleinen Bogen Hypothalamus und
Mandelkern, um sich dann zum gegenüberliegenden
Schläfenlappen hin wieder trichterförmig zu erweitern. Hier
haben wir nach meinem Dafürhalten den schmalen Steg vor uns,
über den die Direktiven kamen, auf denen unsere Kultur und die
- 147-
In der Frühzeit des Menschen mag die Stelle in der rechten, die
dem Wernicke Zentrum in der linken Gehirnhemisphäre
entspricht, Direktiven produziert und in »Stimmen« übersetzt
haben, die dann über die vordere Kommissur von der linken
oder dominanten Hemisphäre »gehört« wurden.
Weltreligionen gründen; die Stelle, wo die Götter sich den
Menschen offenbarten und Gehorsam ernteten, weil sie der
menschliche Wille waren. 3
Auf zweifache Weise läßt diese Hypothese sich in eine
spezifische Fassung bringen.
In der stärkeren Fassung – die ich persönlich vorziehe, weil
sie einfacher und spezifischer ist (und das bedeutet ja auch:
durch empirische Daten leichter zu bestätigen oder zu
widerlegen) – besagt sie, daß die Rede der Götter unmittelbar in
3
Ich behaupte damit nicht, daß die bikamerale Vermittlung die einzige
Funktion der vorderen Kommissur war. Die Kommissur verbindet den
größten Teil jeweils des linken und rechten Schläfenlappens, einschließlich
eines großen Stücks vom hinteren Abschnitt der unteren Schläfenwindungen.
Diese Region wird von einem kräftigen Fasersystem gespeist, das steil vom
Okzipitallappen herunterkommt; sie spielt überdies eine zentrale Rolle für die
visuellen Erkenntnisfunktionen. Vgl. E. G. Ettlinger, Functions of the Corpus
Callosum, Boston: Little, Brown 1965.
- 148-
der Gehirnpartie strukturiert wurde, die rechtsseitig dem
entspricht, was linksseitig das Wernicke-Zentrum ist, und daß
sie dann über die vordere Kommissur den Hörzentren des linken
Schläfenlappens »zugesprochen« und also von diesen »gehört«
wurde. (Man beachte, daß ich mich hier nur metaphorisch
auszudrücken vermag, indem ich den rechten Schläfenlappen zu
einem Sprecher und den linken zu seinem Zuhörer
personifiziere: daß jeder einzelne Term der Relation für sich und
im buchstäblichen Sinn genommen falsch ist, berührt ja die
Geltung der Äquivalenzrelation als solcher nicht.) Ein weiterer
Grund, warum ich für die Hypothese in der stärkeren Fassung
optiere, ist der, daß sie den effizientesten Weg beschreibt, wie
verarbeitete Informationen oder Gedanken von der einen Seite
des Gehirns in die andere gelangen können. Man stelle sich die
evolutionäre Problemlage vor: Milliarden von Ganglienzellen
verarbeiten in der einen Hemisphäre komplexe Erfahrungen, die
jetzt durch die erheblich kapazitätsschwächere Kommissur
hinübergeschickt werden müssen in die andere Hemisphäre.
Dazu ist ein Code vonnöten, der hochkomplexe
Verarbeitungsergebnisse auf eine einfachere Form reduziert, in
der sie die zahlenmäßig verminderten Nervenbahnen speziell der
vorderen Kommissur zu passieren vermögen. Und wo in der
Evolution des animalischen Nervensystems ist jemals ein
besserer Code aufgetreten als die menschliche Sprache? Der
stärkeren Fassung unserer Hypothese zufolge nehmen mithin die
als Dispositiv gegebenen Gehörshalluzinationen Sprachform an
einzig aus dem Grund, weil dies das effizienteste Verfahren ist,
komplizierte Rindenbearbeitungen von einer Seite des Gehirns
auf die andere zu übermitteln.
Die schwächere Fassung der Hypothese ist weniger
spezifisch. Sie besagt, daß das artikulatorische Moment der
Gehörshalluzination, nicht anders als die Rede der Person selbst,
aus der linken Hemisphäre stammte, daß aber Sinn und Inhalt
der halluzinierten Rede sowie das andersgeartete Verhältnis, in
- 149-
welchem die Person zu dieser Rede stehend sich empfand,
Hervorbringung rechtsseitiger Schläfenhirnaktivität waren, die
über die vordere Kommissur und eventuell auch über das
Splenium (das ist der hintere Teil des Balkens) Erregung in die
Sprachzentren der linken Hemisphäre schickte und somit dort
»gehört« wurde.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es im Grunde gleichgültig,
für welche Fassung der Hypothese wir optieren. Das Zentrum
beider bildet die Behauptung, daß das Amalgamieren
erzieherischer Erfahrungen eine Funktion der rechten
Hemisphäre war und daß die Stimmen der Götter hervorgerufen
wurden durch Erregung in jener rechtsseitigen Gehirnpartie, die
das Gegenstück zum linksseitig gelegenen Wernicke- Zentrum
darstellt.
Einzelbeobachtungen, die unsere Hypothese stützen, lassen
sich unter fünf verschiedenen Beweisthemen rubrizieren: 1. Jede
der beiden Hemisphären versteht Sprache, doch selber sprechen
kann normalerweise nur die linke; 2. im rechtsseitigen
Gegenstück
zum
Wernicke-Zentrum
läßt
sich
die
Rudimentärform einer Funktionsweise feststellen, die in
gewisser Weise den Götterstimmen ähnelt; 3. unter bestimmten
Bedingungen sind beide Hemisphären in der Lage, jede für sich
beinahe wie eine selbständige Person zu agieren, und ihr
Verhältnis zueinander ist dann ein Bild der Gott-MenschBeziehung bikameraler Epochen; 4. die heute feststellbaren
Unterschiede zwischen den beiden Hemisphären in bezug auf
kognitive Funktionen lassen sich zumindest als ein Nachhall der
– aus der Literatur der bikameralen Menschheit ablesbaren –
funktionalen Differenzen zwischen Gott und Mensch begreifen;
5. die Organisiertheit des Gehirns unterliegt Umwelteinflüssen
in viel höherem Grad als bisher angenommen, so daß ein
Wandel, wie er dem Übergang vom bikameralen zum bewußten
Menschen zugrunde gelegen haben muß, sich durchaus allein
auf der Basis des Lernens und der Kultur vollzogen haben kann.
- 150-
Der Rest des Kapitels in diesen fünf Beweisthemen gewidmet.
1. Jede der beiden Hemisphären versteht Sprache
Die Götter, so habe ich an früherer Stelle noch ein bißchen
spekulativ gesagt, waren Amalgame aus erzieherischen
Erfahr ungen, Mischprodukte aus sämtlichen Befehlen, die dem
Individuum je erteilt worden waren. Demnach wäre für die
göttlichen Gehirnregionen nicht unbedingt deren Beteiligung am
motorischen Sprachprozeß vorauszusetzen, unumgänglich aber
müßten sie die Bedingung erfüllen, daß sie am Hören und
Verstehen von Sprache teilnehmen. Und das ist selbst heute
noch der Fall. Tatsächlich verstehen wir Sprache mit beiden
Hemisphären. Gehirnschlagpatienten mit Blutungen im linken
Kortex können nicht sprechen, verstehen aber, was ihnen gesagt
wird. 4 Spritzt man Natriumamytal in die linke Kopfschlagader
(das ist der sogenannte »Wada-Test«), die zur linken Gehirnseite
führt, so wird die ganze linke Hemisphäre gelähmt, und nur die
rechte funktioniert ungestört weiter; dennoch ble ibt die
Versuchsperson in der Lage, Anweisungen, die man ihr gibt,
auszuführen. 5 In Tests mit Patienten, an denen die sogenannte
Splitbrain Operation vorgenommen wurde (auf diese Operation
komme ich gleich ausführlich zu sprechen), wurde eine
beträchtliche Fähigkeit des Sprachverstehens in der rechten
Hemisphäre nachgewiesen. 6 In der Regel kann der Patient
4
Ein allgemein beobachteter Sachverhalt, den ich aufgrund eigener
Erhebungen bestätigen kann.
5
Der Wada-Test gehört im Neurological Institute in Montreal derzeit zu den
vorbereitenden Maßnahmen im Zusammenhang mit Gehirnoperationen. Vgl.
J. Wada u. T. Rasmussen, Intracarotid Injection of Sodium Amytal for the
Lateralization of Cerebral Speech Dominance, Journal of Neurosurgery 17
(1960), S. 166-282.
6
M. S. Gazzaniga, J. E. Bogen, R. W. Sperry, Laterality Effects in
Somesthesis
Following
Cerebral
Commissurotomy
in
Man,
Neuropsychologia 1, S. 209-215. Vgl. auch Stuart (Fortsetzung nächste Seite)
- 151-
Gegenstände, die man ihm nennt, mit der linken Hand aus
anderen Gegenständen herausgreifen und Befehle, die man ihm
gibt, mit der linken Hand ausführen. Selbst in Fällen, wo bei
Menschen infolge eines Glioms (Geschwulst der Stützsubstanz
des Gehirns) die gesamte linke Hirnhemisphäre – die
spracherzeugende Hemisphäre, wie wir uns erinnern – entfernt
werden muß, scheinen die Patienten bereits unmittelbar nach der
Operation in der Lage, die Fragen des Chirurgen zwar nicht zu
beantworten, aber doch immerhin zu verstehen. 7
2. In der rechten Hemisphäre ist die gottähnliche Funktion
noch rudimentär vorhanden
Wenn das soeben ausgeführte Modell korrekt ist, dürften wir
eigentlich auch damit rechnen, in der rechten Hemisphäre, in
wie verkümmerter Form auch immer, irgendeinen Überrest ihrer
weiland göttlichen Funktion zu finden. Wir können hier sogar
noch präziser werden: Da die Stimmen der Götter nicht mit der
Bildung artikulierter Laute, das heißt nicht mit dem Gebrauch
von Kehlkopf und Mund einhergingen, können wie das
rechtsseitige Pendant zum Broca-Zentrum sowie zum
Motorischen Sekundärrindenzentrum bis zu einem gewissen
Grad vernachlässigen und uns ganz auf das Pendant zum
Wernicke-Zentrum beziehungsweise auf den hinteren Abschnitt
des rechten (»nichtdominanten«) Schläfenlappens konzentrieren.
Wenn wir das Gehirn in dieser Gegend reizen, werden wir dann,
wie in uralten Zeiten, Götterstimmen hören? Oder wenigstens
irgend etwas, was von fern an sie erinnert? Etwas, was uns zu
der Annahme berechtigt, daß ihm vor dreitausend Jahren die
göttliche Lenkung der menschlichen Geschicke oblag?
Dimonds hervorragende Ausführungen zu diesem Thema: The Double Brain,
Edinburgh, London: Churchill Livingstone 1972, S. 84.
7
Aaron Smith, Speech and Other Fundions after Left (Dominant)
Hemispherectomy, Journal of Neurology and Neurosurgical Psychiatry 29, S.
467-471.
- 152-
Wir erinnern uns vielleicht daran, daß ja genau die eben
bezeichnete Gehirnregion vor Jahren von Wilder Penfield in
einer seither berühmt gewordenen Folge von Untersuchungen
der experimentellen Reizung ausgesetzt worden ist. 8 Darauf
möchte ich nun näher eingehen.
Diese Untersuchungen wurden durchgeführt an rund siebzig
Patienten mit Epilepsiediagnose, und zwar Epilepsie, bedingt
durch Läsion im Bereich des Schläfenlappens. Im Rahmen der
Vorbereitungen für die operative Entfernung des geschädigten
Gewebes wurde die Hirnoberfläche im Schläfenbereich an
mehreren Stellen mit einem leichten elektrischen Strom
stimuliert. Die Reizintensität entsprach ungefähr der
Mindeststromstärke, die erforderlich ist, um durch Reizung des
entsprechenden motorischen Zentrums ein leichtes Kribbeln im
Daumen hervorzurufen. Wollte man hier nun einwenden, daß
die aus solchen Reizungen resultierenden Phänomene entstellt
seien durch das für die angegebene Patientengruppe typische
Vorhandensein von vernarbten Gliose-, Sklerose- oder
Meningitisherden, so würde ich dem entgegenhalten, daß ein
Blick in den Originalbericht genügt, um derlei Bedenken als
unbegründet zu zerstreuen. Wo die erwähnten Mißbildungen
festgestellt wurden, waren sie genau eingegrenzt und hatten
keinerlei Einfluß auf die Reaktionen der Versuchspersonen
während der Dauer der Reizung. 9 Man darf also davon
ausgehen, daß die Ergebnisse dieser Untersuchungen auch über
die Vorgänge Auskunft geben, die wir unter gleichen
Bedingungen bei normalen Individuen antreffen würden.
In der großen Mehrzahl der Fälle wurde der rechte
Schläfenlappen stimuliert, insbesondere im hinteren Bereich zur
8
Wilder Penfield u. Phanor Perot, The Brain's Record of Auditory and Visual
Experience: A Final Summary and Discussion, Brain 86/ 2963, S. 595-702.
9
Wenngleich die jeweilige epileptische Aura vermutlich durch die
Ausbreitung korikaler Erregung von der Läsion auf die erwähnten Zentren
bedingt war.
- 153-
oberen Windung hin – also die rechtsseitige Entsprechung zum
Wernicke-Zentrum. Bei den Patienten stellte sich daraufhin eine
Reihe von bemerkenswerten Reaktionen ein. Wir stehen hier –
ich wiederhole es – an dem Punkt, wo wir erwarten dürfen,
gleichsam aus dem anderen Teil unserer bikameralen Psyche
neuerlich den Anruf der antiken Götter zu vernehmen. Haben
diese Patienten – und sei’s bloß im Nachhall – die Gottheiten
des Altertums sprechen hören? Hier einige repräsentative
Untersuchungsbefunde.
Während der Reizung in dem beschriebenen Bereich rief Fall
Nr. 7 (Student, männlich, 22 Jahre alt) aus: »Jetzt höre ich
wieder Stimmen, irgendwie ist für mich der Kontakt mit der
Wirklichkeit abgerissen. Mir summt’s in den Ohren, und ich
fühle mich ein bißchen beklommen.« Und bei erneuter Reizung:
»Stimmen – genau wie vorher. Und jetzt war auch wieder der
Kontakt mit der Wirklichkeit abgerissen.« Auf die
entsprechende Frage erwiderte er, er habe nicht verstehen
können, was die Stimmen sagt en. Sie hätten »verschwommen«
geklungen.
Ähnlich verschwommen waren die Stimmen in der Mehrzahl
der Fälle. Fall Nr. 8 (Hausfrau, 26 Jahre alt) wurde ungefähr im
gleichen Bereich stimuliert und gab an, es sei ihr so
vorgekommen, als habe sie von weit, weit her eine Stimme
gehört: »Es klang, als ob die Stimme etwas sagte, aber sie war
so leise, daß ich nicht mitkriegte, was.« Fall Nr. 12 (weiblich, 24
Jahre alt) wurde sukzessive an verschiedenen Stellen im
hinteren Abschnitt der oberen Schläfenwindung gereizt; die
Reaktion war: »Ich hörte jemand sprechen oder murmeln oder
so ähnlich.« Und nach Reizung einer anderen Stelle: »Da wurde
eben geredet oder gemurmelt, aber ich konnte nichts verstehen.«
Und als ein knapp zwei Zentimeter langes Stück der Windung
gereizt wurde, blieb die Frau anfangs stumm, um dann einen
lauten Schrei auszustoßen. »Ich hab die Stimmen gehört und
dann losgeschrien. Ich hatte ein Gefühl, das ging mir durch und
- 154-
durch.« Und als die Reizung wieder ein kleines Stück zurück
gegen den Ausgangspunkt verlagert wurde, begann sie zu
schluchzen: »Wieder die Stimme von diesem Mann! Dazu fällt
mir nicht mehr ein, als daß mein Vater mir furchtbar viel Angst
macht.« Sie identifizierte die Stimme nicht als die ihres Vaters,
sondern fühlte sich durch jene nur an diesen erinnert.
Manche Patienten hörten Musik, unbekannte Melodien, die
sie dem Chirurgen vorsummen konnten (Nr. 4 und Nr. 5).
Andere hörten Verwandte, zumal ihre Mutter. Fall Nr. 3
(weiblich, 22 Jahre alt) hörte ihre Eltern sprechen und singen;
nach Verlagerung der Reizung hörte sie ihre Mutter »bloß noch
keifen«.
Für viele Patienten gingen die Stimmen von absonderlichen
oder unbekannten Orten aus. Fall Nr. 36 (weiblich, 26 Jahre alt)
gab nach Reizung im vorderen Abschnitt der rechten oberen
Schläfe nwindung zu Protokoll: »Ja, ich habe irgendwo
flußabwärts Stimmen gehört, eine männliche und eine
weibliche, und beide riefen sie.« Gefragt, wie sie darauf käme,
daß es » flußabwärts« war, sagte sie: »Ich meine, ich hätte den
Fluß gesehen.« Welchen Fluß? »Ich weiß auch nicht. Offenbar
einer, wo ich als Kind mal zu Besuch gewesen bin.« Bei
Reizung anderer Stellen hörte sie Menschen etwas aus einem
Gebäude ins Nebengebäude hinüberrufen. Und als eine Stelle
daneben gereizt wurde: laute Rufe einer Frau auf eine m
Holzlagerplatz; dazu versicherte die Patientin, sie sei »nie im
Leben auch nur in die Nähe von einem Holzlagerplatz
gekommen«.
In den seltenen Fällen, wo die Stimmen als von links oder
rechts kommend beschrieben wurden, wurden sie stets
kontralateral lokalisiert. Fall Nr. 29 (männlich, 25 Jahre alt)
erklärte nach Reizung in der rechten mittleren Schläfenwindung:
»Jemand sagte mir ins linke Ohr: ›Sylvere, Sylvere!‹ Kann sein,
daß es mein Bruder war.«
Die Stimmen und die Musik – gleichgültig, ob verworren oder
- 155-
klar erkennbar – wurden als Realerlebnisse gehört,
Gesichtshalluzinationen wurden als Realerlebnisse gesehen,
geradeso wie Achilleus Thetis erlebt oder wie Moses Jahwe aus
dem brennenden Dornbusch gehört hatte. Der im vorigen Absatz
zitierte Fall Nr. 29 sah bei neuerlicher Reizung, »wie jemand
mit jemand anderem sprach, er hat ihn auch mit Namen
angeredet, aber den habe ich nicht verstanden«. Auf die Frage,
ob er die Person sehe, gab er zur Antwort: »Es war genau wie
im Traum.« Und auf die weitere Frage, ob die Person im Raum
anwesend sei: »Aber ja doch ungefähr da drüben, wo die
Schwester mit der Brille sitzt.«
Bei einigen etwas älteren Patienten mußte erst eine Weile
nach einer geeigneten Stelle gesucht werden, bis es auf die
Reizung hin zu Halluzinationen kam. Ein vierunddreißigjähriger
Französischkanadier (Fall Nr. 24), der auf vorausgegangene
Reizungen nichts bemerkt hatte, wurde jetzt im hinteren
Abschnitt der mittleren Schläfenwindung stimuliert, als er
plötzlich sagte: »Moment mal, da sehe ich jemand!« Und als der
Reizpunkt etwa zweieinhalb Zentimeter nach oben verlagert
wurde: »Oui, lá, lá, lá! Das war er, er ist gekommen, der Depp!«
Nochmals ein Stückchen weiter oben, doch immer noch im
Bereich, der dem Wernicke-Zentrum entspricht: »Jetzt, jetzt,
j’entends! Gerade hat mir wer was sagen wollen und hat in
einem fort auf mich eingeredet: Vite, vite, vite!«
Indes, bei den jüngeren Lebensaltern ist die Sachlage
einwandfrei so, daß durch Reizung des rechten Schläfenlappens
verursachte Halluzinationen plastischer und lebhafter im
Ausdruck und autoritärer im Inhalt sind. Ein vierzehnjähriger
Junge (Fall Nr. 34) sah zwei Männer in Lehnstühlen sitzen, die
ihm lauthals entgegensangen. Ein vierzehnjähriges Mädchen
(Fall Nr. 15), das im hinteren Abschnitt der rechten oberen
Schläfenwindung gereizt wurde, rief aus: »Oh, jetzt schreien sie
wieder alle auf mich ein ... Sie sollen aufhören!« Die Dauer der
Reizung hatte zwei Sekunden betragen, die Stimmen hielten elf
- 156-
Sekunden an. Das Mädchen erklärte: »Sie schimpfen mit mir,
weil ich böse war; allesamt schimpfen sie.« Wo immer es im
hinteren Abschnitt des rechten Schläfenlappens stimuliert
wurde, hörte es Geschimpfe. Sogar als die Reizung knappe vier
Zentimeter hinter den Anfangspunkt verlegt wurde, rief das
Mädchen noch: »Jetzt fangen sie schon wieder an zu schimpfen.
Sie sollen aufhören!« Und jetzt hielten die Stimmen auf eine
einzelne Reizung hin 21 Sekunden lang an.
Ganz so simpel ist die Sache freilich nicht, und ich möchte
auch nicht den Eindruck vermitteln, sie wäre es. Die erwähnten
Beispiele sind das Resultat einer Siebung. Bei manchen
Patienten zeigte sich überhaupt keine Reaktion. Gelegentlich
mischte sich in die geschilderten Erlebnisse die autoskopische
Erinnerungstäuschung mit ein, von der wir im Zweiten Kapitel
gesprochen haben. Eine zusätzliche Komplikation ergibt sich
aus dem Umstand, daß auch die Reizung der entsprechenden
Stellen auf der linken (normalerweise dominanten) Hemisphäre
vergleichbare Halluzinationen hervorrufen kann. Mit anderen
Worten, die geschilderten Erscheinungen sind nicht das
ausschließliche Privileg des rechten Schläfenhirns. Doch treten
solche Reaktionen bei Reizung der linken Hemisphäre nicht mit
gleicher Regelmäßigkeit auf und allenfalls mit verminderter
Intensität.
Wichtig an all diesen durch Reizung erzeugten Erlebnissen ist
ihr Fremdcharakter: Sie stellen eher eine Gegenposition zum
Selbst als dessen eigene Worte und Handlungsweise dar. Von
wenigen Ausnahmen abgesehen, erlebten sich die
Versuchspersonen niemals essend, sprechend, laufend oder
spielend oder beim Liebesakt. In beinahe sämtlichen Fällen
waren sie ebenso passives Objekt, wie der bikamerale Mensch
das passive Objekt seiner Stimmen war.
Passives Objekt wovon? Penfield und Perot meinen, es handle
sich um nichts anderes als frühere Erlebnisse, um Rückblenden
- 157-
in die Vergangenheit. Das durchweg beobachtete Ausbleiben
des Wiedererkennungseffekts erklären sie mit bloßer
Vergeßlichkeit. Sie gehen davon aus, daß hier konkrete
Erinnerungen vorliegen, für die bei längerer Versuc hsdauer mit
etwas mehr Aufwand der volle Wiedererkennungseffekt hätte
erzielt werden können. Tatsächlich zielten die Fragen, die sie
den Probanden während des Versuches stellten, auf die
Bestätigung dieser Hypothese. Und es kam auch vor, daß
Aussagen einzelner Patienten in die Richtung der
Erinnerungskonkretheit wiesen. Doch aufs Ganze gesehen ist
weitaus typischer der Befund, daß die Versuchsperson auch auf
ausdrückliche Fragen hin darauf beharrt, man könne diese
Erlebnisse nicht als Erinnerungen bezeichnen.
Nicht allein deshalb, sondern auch mit Rücksicht auf das
generelle Fehlen von Vorstellungsbildern der agierenden
eigenen Person, in denen normalerweise unsere Erinnerungen
bestehen, bin ich der Ansicht, daß Penfield und Perot ihre
Befunde nicht korrekt interpretiert haben. Jene Bereiche des
Schläfenlappens sind nicht »der Speicher von Hör- und
Seherlebnissen im Gehirn«, noch sind sie der Sitz des
Erinnerungsvermögens für solche Erlebnisse, sondern in ihnen
sind Kombinationen und Amalgame bestimmter Aspekte jenes
Erlebens lokalisiert. Nach meinem Dafürhalten rechtfertigen es
die Befunde keineswegs, von den beschriebenen Regionen zu
behaupten: »Sie spielen im Erwachsenenleben eine gewisse
Rolle bei der unterbewußten Erinnerung früheren Erlebens, das
sie für aktuelle Situationsdeutungen verfügbar machen.«
Vielmehr führen die Befunde in eine ganz andere Richtung,
nämlich zu Halluzinationen, die eine Verdichtung speziell von
Erziehungserlebnissen darstellen und die bei denjenigen
Patienten, die auf Befragen Auskunft über sie zu geben
vermochten, gegebenenfalls durch Wahrnehmungstäuschung
oder Rationalisierung in das Realerleben integriert werden:
- 158-
3. Jede der beiden Hemisphären kann sich unabhängig von
der anderen betätigen
Unser Gehirnmodell der bikameralen Psyche muß der
Tatsache Rechnung tragen, daß der göttliche Sektor und der
menschliche Sektor einigermaßen unabhängig voneinander
agierten und dachten. Aber wenn wir nun den Nachweis zu
führen suchen, daß die Zweigeteiltheit jener antiken Mentalität
in der Zweigeteiltheit des Großhirns mit seinen beiden
Hemisphären vorgebildet ist – heißt das nicht, daß wir ganz
willkürlich Gehirnregionen personifizieren? Was könnte uns das
Recht geben, die beiden Hirnhemisphären fast wie zwei
verschiedene Individuen zu betrachten, von denen nur das eine
die Fähigkeit zu manifester Sprachäußerung besitzt, die jedoch
alle beide in der Lage sind, Sprache zu hören und zu verstehen?
Daß es plausibel ist, so zu verfahren, läßt sich mit Hilfe einer
anderen Gruppe von Epileptikern erhärten. Es handelt sich bei
ihnen um ein rundes Dutzend von neurochirurgischen
Operationspatienten, die einer kompletten Kommissurotomie
unterzogen wurden – einem Eingriff, bei dem sämtliche
Verbindungsbahnen zwischen rechter und linker Hemisphäre in
der Mitte durchtrennt werden. 10 Diese sogenannte SplitbrainOperation (der Ausdruck ist insofern nicht ganz zutreffend, als
ja die tiefer gelegenen Gehirnregionen unzertrennt bleiben)
bewirkt normalerweise die Heilung der Epilepsie – eines für
10
Die Literatur über Joseph E. Bogens Patienten wächst noch immer.
Empfehlenswert
sind
Bogens
eigene,
mittlerweile
klassische
Veröffentlichungen, insbesondere: The Other Side of the Brain, 2: An
Appositional Mind, Bulletin of the Los Angeles Neurological Society 34/3
(1969), S. 135-162. Von einem Pionier der Hemisphärenforschung behandelt
wird die Materie in: R. W. Sperry, Hemisphere Disconnection and Unity in
Conscious Awareness, American Psychologist 23 (1968), S. 723-733. Wer
eine leichtverdauliche Darstellung sucht, findet sie bei dem Mann, dessen
Scharfsinn die Tests entsprungen sind, die mit jenen Patienten veranstaltet
würden: Michael Gazzaniga, The Bisected Brain, New York: AppletonCentury-Crofts 1970.
- 159-
andere Behandlungsmethoden unzugänglichen Leidens –, weil
sie die unkontrollierte Ausbreitung paroxysmischer Erregung
über die gesamte Gehirnrinde unterbindet. Als unmittelbare
Folge der Operation stellt sich bei manchen Patienten ein bis zu
zwei Monaten währender Verlust der Sprachäußerung ein,
während andere in dieser Hinsicht nicht die geringsten Probleme
haben – niemand weiß zu sagen, warum das so ist. Es könnte
sein, daß die Beziehungen zwischen den Hemisphären von
Mensch zu Mensch geringfügig unterschiedlich ausgebildet
sind. Der Genesungsprozeß ist schleppend; bei allen Patienten
zeigen sich Störungen des Kurzzeitgedächtnisses (was auf die
Durchtrennung
der
kleinen
hippokampischen
Verbindungsbahnen zurückzuführen sein mag), in gewissem
Umfang auch Orientierungsschwierigkeiten sowie psychische
Erschöpfung.
Das Erstaunliche ist nun aber, daß diese Patienten sich nach
etwa einjähriger Genesungsfrist vollständig wiederhergestellt
fühlen. Sie verspüren in ihrem Befinden nicht den geringsten
Unterschied zu dem zustand vor der Operation. Jetzt sehen sie
fern und lesen die Zeitung, ohne über irgendwelche
Beschwerden zu klagen. Und auch einem uneingeweihten
Beobachter fällt nichts Besonderes an ihnen auf.
Indes, unter Bedingungen strengster Kontrolle der
sensorischen Reizaufnahme enthüllen sich hochinteressante und
aufschlußreiche Defizite.
Nehmen wir an, Sie fixieren irgend etwas mit dem Blick,
sagen wir, das Wort genau in der Mitte dieser Zeile: während
Sie das tun, werden alle Wörter links vom Blickpunkt nur von
Ihrer rechten Gehirnhälfte gesehen und alle Wörter rechts davon
nur von der linken. Solange die Verbindungsbahnen zwischen
den Hemisphären intakt sind, stellt die Koordination der beiden
Seiten kein Problem dar (wenngleich es an und für sich bereits
ein erstaunlich Ding ist, daß wir so etwas wie lesen können).
Wären Ihnen allerdings die Kommissuren durchtrennt worden,
- 160-
dann sähe die Sache ganz anders aus. Von der Zeilenmitte an
nach rechts würde das Gedruckte wie gewöhnlich
wahrgenommen; Sie könnten es ab- und vorlesen, als sei alles
normal. Aber an der Stelle von allem Gedruckten und der
ganzen Seite links davon wäre jetzt nur mehr Leere. Genau
genommen nicht einmal Leere, sondern nichts, pures, absolutes
Nichts, weit mehr Nichts als alles Nichts, das Sie sich noch
vorzustellen vermögen. So sehr Nichts, daß Ihnen – so seltsam
sich das anhören mag – noch nicht einmal bewußt werden
würde, daß da nichts ist. Wie beim Phänomen des blinden
Flecks wird das »Nichts« irgendwie »ausgefüllt«, »gestopft«, so
als wäre da nichts, wo nicht s wäre. In Wirklichkeit freilich wäre
all dieses »Nichts« in Ihrer zweiten Gehirnhemisphäre, die all
das, was »Sie« nicht sehen könnten, trotzdem sehen würde, und
das sogar ganz ausgezeichnet. Aber weil sie nicht über die Gabe
des artikulierten Ausdrucks verfügt, kann sie nicht sagen, daß
sie etwas sieht. Es ist, als befänden »Sie« – was immer das Wort
in diesem Zusammenhang bedeuten mag – sich »in« Ihrer linken
Gehirnhemisphäre
und
könnten
jetzt,
wo
die
Verbindungsbahnen gekappt sind, nie mehr erfahren oder ein
Bewußtsein davon erlangen, was eine fremde Person – die
einmal dasselbe war wie »Sie« – in der Hemisphäre gegenüber
gerade sieht oder denkt. Zwei Personen in einem Kopf ...
Das vorstehende Gedankenspiel folgt einem der
Testverfahren, die an Kommissurenschnitt-Patienten erprobt
wurden. Die Versuchsperson fixiert den Mittelpunkt eines
diaphanen Projektionsschirms; auf der linken Seite des Schirms
erscheinen Diaprojektionen von bestimmten Gegenständen: Sie
werden also nur von der rechten Hemisphäre gesehen und
können nicht benannt werden, aber der Proband ist in der Lage,
den jeweils abgebildeten Gegenstand mit der linken (von der
rechten Hemisphäre gesteuerten) Hand aus einer Gruppe von
Gegenständen herauszugreifen oder ihn durch Deuten auf eine
übereins timmende Abbildung zu identifizieren, auch wenn er
- 161-
verbal beteuert, er sehe ihn nicht. 11 Solche nur von der rechten
(nichtdominanten) Hemisphäre erblickten Reize sind dort
gleichsam eingesperrt: Sie können der linken Hemisphäre, in der
sich die Sprachzentren befinden, nicht »mitgeteilt« werden, weil
die Verbindungsbahnen gekappt sind. Daß die rechte
Hemisphäre sich im Besitz dieser Information befindet, erfahren
wir einzig, indem wir sie auffördern, die linke Hand zum Deuten
zu benutzen – was sie prompt und geschickt bewerkstelligt.
Projiziert man in das rechte und in das linke Gesichtsfeld
unterschiedliche Graphen – etwa links das Dollarzeichen ($),
rechts ein Fragezeichen – und fordert die Versuchsperson auf,
mit der linken Hand aufzuzeichnen, was sie gesehen hat, und
zwar so, daß die Handbewegung durch eine Blende verdeckt
wird, also außer Sicht der Versuchsperson erfolgen muß: dann
wird das Dollarzeichen gezeichnet. Auf die Frage jedoch, was
sie da unter der Sichtblende gerade gezeichnet habe, antwortet
die Versuchsperson unbeirrbar: das Fragezeichen. Mit anderen
Worten: Mit den beiden Hirnhemisphären verhält es sich unter
den gegebenen Bedingungen buchstäblich so, daß die linke nicht
weiß, was die rechte tut.
Auch wenn der Name irgendeines Gegenstands – zum
Beispiel das Wort »Radiergummi« – in das linke Gesichtsfeld
projiziert wird, ist die Versuchsperson in der Lage, den
Radiergummi mit der linken Hand – und nur mit der linken
Hand – aus einer Ansammlung von Gegenständen hinter einer
Sichtblende herauszusuchen. Ist das korrekt ausgeführt und wird
die Versuchsperson nun gefragt, um welches Ding es sich
handle, so vermag der redebegabte Bewohner der linken
Hemisphäre nicht zu sagen, was der stumme Bewohner der
rechten Hemisphäre hinter der Sichtblende in der linken Hand
11
M. S. Gazzaniga, J. E. Bogen u. R. W. Sperry, Observations an Visual
Perception after Disconnection of the Cerebral Hemispheres in Man, Brain
8/1965, S. 221-236.
- 162-
hält. Das gleiche leistet die Linke auch auf das Vorsprechen des
Wortes »Radiergummi« hin, doch die redende Hemisphäre
erfährt nicht, wann die Hand den Gegenstand gefunden hat.
Auch das bestätigt natürlich wieder, was ich schon ausgeführt
habe, nämlich daß beide Hemisphären Sprache verstehen;
allerdings war es vorher nicht möglich gewesen festzustellen,
wie weit das Sprachverständnis in der rechten Hemisphäre geht.
Des weiteren zeigt sich, daß die rechte Hemisphäre in der
Lage ist, komplizierte Definitionen zu verstehen. Projiziert man
»Gerät zum Entfernen von Bartstoppeln« ins linke Gesichtsfeld,
will sagen: in die rechte Hemisphäre, so zeigt die linke Hand auf
einen Rasierapparat; bei »Reinigungsmittel« zeigt sie auf Seife
und bei »wird in den Automatenschlitz eingeworfen« auf eine
Münze. 12
Überdies vermag die rechte Hemisphäre dieser Patienten
emotional zu reagieren, ohne daß die redebegabte linke
Hemisphäre erfährt, was der Anlaß des Ganzen war. Eine Reihe
von neutralen geometrischen Figuren wird sukzessive
dargeboten, und zwar nach dem Zufallsprinzip mal im rechten,
mal im linken Gesichtsfeld, mit anderen Worten, mal der linken,
mal der rechten Gehirnhemisphäre; wird nun mittendrin
unvermittelt das Bild eines appetitlichen nackten Mädchens ins
linke Feld (= die rechte Hemisphäre) projiziert, so erklärt der
Patient (genauer: die linke Gehirnhemisphäre des Patienten), er
habe nichts oder allenfalls bloß den Lichtblitz gesehen. Aber
während der folgenden Minute widerlegen Grinsen, Erröten und
Kichern die Auskunft der redenden Hemisphäre. Auf die Frage,
was es mit all diesem Getue auf sich habe, erwidert die linke,
redebegabte Hemisphäre, sie habe nicht die leiseste Ahnung. 13
Die auftretenden mimischen Veränderungen und das Erröten
12
M. S. Gazzaniga u. R. W. Sperry, Language after Section of the Cerebral
Commissures, Brain 90/1967, S. 131-148.
13
R. W. Sperry, Hemisphere Disconnection, a. a. O. (vgl. Fußnote auf Seite
143).
- 163-
sind übrigens nicht auf eine Gesichtshälfte beschränkt, da sie
von den tiefliegenden Verbindungen im Hirnstamm von der
einen auf die andere Seite übertragen werden. Affektausdruck ist
nicht Sache der Rinde.
Und gleichermaßen verhält es sich mit anderen
Sinnesmodalitäten. Gerüche, die dem rechten Nasenloch und
damit (da die Geruchsfasern nicht kreuzweise verlaufen) der
rechten Hemisphäre dargeboten werden, können diese Patienten
mit ihrer redenden Hemisphäre nicht benennen, wenngleich die
letztere sehr wohl kundzutun weiß, ob es sich um einen
angenehmen oder einen unangenehmen Geruch handelt. Das
geht so weit, daß der Patient einen unerquicklichen Geruch mit
Grunzlauten, Grimassieren oder einem lauten »Puh!« quittiert:
Trotzdem kann er nicht sagen, ob er es mit Knoblauch, Käse
oder etwas Verfaultem zu tun hatte. 14 Dem linken Nasenloch
dargeboten, können die gleichen Gerüche sehr wohl benannt und
beschrieben werden. Das bedeutet, daß der Ekelaffekt über das
unversehrte limbische System und den Hirnstamm in die
sprechende Hemisphäre hinübergelangt, die in der Rinde
erarbeitete spezifischere Information hingegen nicht.
Tatsächlich spricht manches dafür, daß gemeinhin die rechte
Hemisphäre als Auslöser von Unlustreaktionen auf das
limbische System und den Hirnstamm einwirkt. Man kann eine
Testsituation arrangieren, in der man die rechte Hemisphäre die
richtigen Antworten auf die vorgelegten Fragen jedesmal wissen
läßt; muß sie dann mit anhören, wie die linke (dominante)
Hemisphäre offenkundige Fehlantworten gibt, so kann es
vorkommen, daß der Patient die Stirn runzelt, zusammenzuckt
oder den Kopf schüttelt. Es ist nicht einfach nur eine Redensart,
wenn man sagt, daß die rechte Hemisphäre verärgert ist über die
14
H. W. Gordon u. R. W. Sperry, Olfaction Following Surgical Disconnedion
of the Hemisphere in Man, Proceedings of the Psychonomic Society 1968.
- 164-
fehlerhaften Antworten der linken. Und so mag sich auch die
Verärgerung der Pallas Athene erklären, in der sie den Achilleus
bei seinen goldenen Haaren packt und ihn davon abhält, das
Schwert gegen seinen König zu zücken (»Ilias« I, I97). Oder die
Verärgerung Jahwes angesichts der Sündhaftigkeit seines
Volkes.
Selbstverständlich ist da ein Unterschied. Beim bikameralen
Menschen waren sämtliche Verbindungsbahnen zwischen links
und rechts intakt. Wie ich jedoch später noch ausführen werde,
können Veränderungen in der Umwelt so weitgehende
Neuorganisierungen im Gehirn bewirken, daß die in dem soeben
angezogenen Vergleich angelegten Schlußfolgerungen nicht
völlig absurd sind. Aber wie dem auch sei, die Untersuchungen
an den Splitbrain-Patienten haben jedenfalls schlüssig erwiesen,
daß die beiden Gehirnhemisphären unabhängig voneinander
funktionieren können, so als wäre jede eine Person für sich, und
diese virtuellen Personen, so behaupte ich, waren in der
bikameralen Epoche der Geschichte das menschliche
Individuum und sein Gott.
4. Die Unterschiede in den kognitiven Funktionen der beiden
Hemisphären sind analog dem Unterschied zwischen Gott und
Mensch
Ist das vorgelegte Gehirnmodell der bikameralen Psyche
korrekt, so enthält es zugleich die Voraussage, daß zwischen den
beiden Hemisphären ein prononcierter Unterschied in der
kognitiven Funktion bestehen muß. Im einzelnen wäre zu
erwarten, daß die zum menschlichen Part gehörenden
Funktionen in der linken (dominanten) Hemisphäre lokalisiert
sind und die den Göttern zugehörigen Funktionen mehr in der
rechten Hemisphäre ausgeprägt. Überdies gibt es keinen Grund,
auf die Annahme zu verzichten, daß diese unterschiedlichen
Funktionen zumindest residual auch in der Gehirnorganisation
des Gegenwartsmenschen vorhanden sind.
- 165-
Die Funktion des Gottes bestand zur Hauptsache in der
Anleitung und Planung des Handelns in ungewohnten
Situationen. Die Götter taxieren Probleme und organisieren das
Handeln nach Maßgabe eines durchgängigen Schemas oder
Zwecks mit dem Ergebnis der hochkomplexen bikameralen
Kultur; der Zusammenhang unter einer Vielfalt disparater
Einzelglieder, wie etwa zwischen Saatzeit und Erntezeit, das
taxonomische System der produzierten Güter wie überhaupt die
Zusammenbindung grenzenloser Mannigfaltigkeit zu einem
planvollen Ganzen ist ihr Werk, das sie schaffen, indem sie dem
neurologischen
Mensch-Part
im
Allerheiligsten
des
gesprochenen, analytischen Wortes die entsprechenden
Direktiven erteilen. Wir dürfen also erwarten, daß eine der heute
residual noch verbliebenen Funktionen der rechten Hemisphäre
im Organisatorischen liegt, in der taxono mischen Gliederung
der innerhalb einer Kultur anfallenden Erfahrungen und ihrer
Integration zu einer figuralen Ganzheit, die dem Individuum
»sagt, was es zu tun hat. Das Bild, das sich ergibt, wenn wir
daraufhin eine Reihe von göttlichen Verlautbarungen in der
»Ilias«, dem Alten Testament oder anderen literarischen
Zeugnissen des Altertums überprüfen, stimmt damit überein.
Die Mannigfaltigkeit vergangenen wie zukünftigen Geschehens
wird gesiebt und kategorisiert und zu einem neuen Bild
synthetisiert, letzteres häufig vermittels des A und O aller
Synthese, der Metapher. Und diese Funktionen dürfen wir
demnach als Charakteristika der rechten Hirnhemisphäre
anzutreffen erwarten.
Klinische Beobachtungen bestätigen diese Hypothese. Von
den Splitbrain-Patienten, die uns einige Seiten weiter vorn
begegnet sind, wissen wir, daß die rechte Gehirnhälfte mit der
ihr zugeordneten linken Hand sich hervorragend auf das
Auseinanderhalten und Kategorisieren von Formen und Größen
und Materialbeschaffenheiten versteht. Von Patienten mit
Hirnverletzungen wissen wir, daß Verletzungen der rechten
- 166-
Hemisphäre das Leistungsvermögen im Bereich der
Raumbeziehungen sowie von Ganzheit und Gestalt
beeinträchtigen. 15 Labyrinthe verkörpern eine Problemsituation,
die verlangt, lernend die zahlreichen Einzelelemente einer
Raumfigur zum Ganzen zu vereinen. Patienten, denen der rechte
Schläfenlappen vollständig entfernt wurde, schaffen es so gut
wie nie, sich in einem visuellen oder taktilen Labyrinth
zurechtzufinden, während Patienten mit Läsionen gleichen
Ausmaßes im linken Schläfenlappen in dieser Hinsicht kaum
Schwierigkeiten haben. 16
Eine andere Aufgabenstellung, die ebenfalls den Aufbau einer
räumlichen Figur aus Einzelteilen einschließt, verkörpert der
Block Design Test von S. C. Kohs (auch als Würfel- Test oder
Mosaikspiel bekannt), der gewöhnlich als Bestandteil von
Intelligenztests angewandt wird. Dem Probanden wird eine
einfache geometrische Figur gezeigt; seine Aufgabe besteht
darin, diese Figur hinterher mit Würfeln, auf denen ihre
Elemente aufgezeichnet sind, nachzulegen. Für die meisten
Menschen ist das überhaupt kein Problem. Gehirnverletzte mit
einer Schädigung der rechten Hemisphäre jedoch haben dabei
extreme Schwierigkeiten, und dieser Zusammenhang ist so
auffällig, daß der Test auc h zur Diagnose von Läsionen der
rechten Hemisphäre eingesetzt wird. Die bereits erwähnten
Splitbrain-Patienten scheitern meist kläglich, wenn sie die Figur
mit der rechten Hand nachlegen sollen. Die linke Hand dagegen
– gewissermaßen die Hand der Götter – hat da überhaupt keine
Probleme. Ja, bei manchen Splitbrain-Patienten mußte die Linke
vom Versuchsleiter mit sanfter Gewalt davon abgehalten
15
H. Hecaen, Clinical Symptomatology in Right and Left Hemispheric
Lesions, Interhemispheric Relations and Cerehral Dominance, hg. von V. B.
Mountcastle, Baltimore: Johns Hopkins Press 1962.
16
Brenda Milner, Visually Guided Maze Learning in Man: Effeas of
Bilateral, Frontal, and Unilateral Cerebral Lesions, Neuropsychologia
3/1965, S.317-338.
- 167-
werden, der ziellos an ihrer simplen Aufgabe herumfummelnden
Rechten spontan zu Hilfe zu kommen. 17 Diese wie auch andere
vergleichbare Beobachtungen führten allgemein zu dem Schluß,
daß die rechte Hemisphäre mehr auf synthetische und
räumlichkonstruktive Aufgaben spezialisiert ist, die linke
dagegen mehr auf Analyse und Sprachperformanz. Die rechte
Hemisphäre – darin vielleicht den Göttern vergleichbar begreift
den Sinn von Einzelheiten nur aus deren Zugehörigkeit zu einem
größeren Ganzen; sie sieht Ganzheiten. Die linke (dominante)
Hemisphäre dagegen sieht – wie die menschliche Komponente
der bikameralen Psyche – das einzelne als solches.
Diese klinischen Befunde wurden bekräftigt durch eine an
normalen Versuchspersonen durchgeführte Untersuchung, die
Schule zu machen verspricht. 18 Über Schläfen- und
Scheitellappen wurden beidseitig EEG-Elektroden befestigt, ehe
man die Versuchspersonen einer Reihe von Tests unterzog. Sind
unterschiedliche Buchstabensorten niederzuschreiben – eine
Aufgabe, die sprachperformative und analytische Befähigungen
aktiviert –, so registriert das EEG über der linken Hemisphäre
schnelle Wellen von schwacher Spannung, was bedeutet, daß
die linke Hemisphäre die Arbeit verrichtet; über der rechten
Hemisphäre treten gleichzeitig langsame Alpha-Wellen (wie sie
bei einer Versuchsperson in Ruhestellung mit geschlossenen
Augen beidseits registriert werden) in Erscheinung, was verrät,
daß die rechte Hemisphäre nicht arbeitet. Erhält dieselbe
Versuchsperson eine Aufgabe, die ihre Befähigung zu
räumlicher Synthese anspricht – wie beispielsweise der zuvor
erwähnte Würfel-Test –, so ergibt sich der umgekehrte Befund.
Jetzt tut die rechte Hemisphäre die Arbeit.
Weitere Annahmen, welche bestimmten Funktionen residual
17
Zu sehen in einem Film, den R. W. Sperry 1971 an der Princeton
University vorführte.
18
David Galin u. R. E: Ornstein, Lateral Specialization of Cognitive Mode:
An EEG Study, Psychophysiology 9 /1972, S. 412-418.
- 168-
in der rechten Hemisphäre vorhanden sein müßten, lassen sich
aus Überlegungen zu der Frage herleiten, was die göttlichen
Stimmen der bikameralen Psyche in bestimmten Situationen zu
leisten hatten. Um Erfahrungen sortieren und zu
Handlungsanleitungen synthetisieren zu können, mußten die
Götter in der Lage sein, gewisse Wiedererkennungsleistungen
zu vollbringen. Solche Identifizierungsleistungen sind in
sämtlichen göttlichen Verlautbarungen der Literatur des
Altertums an der Tagesordnung. Ich meine nicht nur das
Identifizieren speziell von Individuen, sondern ebensosehr auch
allgemeiner von Menschentypen und Klassen von
Sachverhalten. Eine höchst wichtige Leistung des menschlichen
Urteilsvermögens war zu allen Zeiten die Identifizierung von
Gesichtsausdrücken, insbesondere im Hinblick auf etwaige
freundliche oder feindliche Absichten ihres Trägers. Sah ein
bikameraler Mensch ein nichtidentifiziertes Individuum auf sich
zukommen, dürfte die Entscheidung der Gott-Komponente
seiner Mentalität über freundliche oder feindliche Absicht der
unbekannten Person von erheblicher überlebenswichtiger
Bedeutung gewesen sein.
Die nebenstehende Abbildung dient einem Experiment, das
ich mir vor ungefähr zehn Jahren aufgrund der soeben
beschriebenen Annahme ausgedacht habe. Die zwei Gesichter
sind Spiegelbilder voneinander. Ich habe bis dato nahezu
tausend Menschen befragt, welches von beiden fröhlicher
aussieht. Durchaus folgerichtig entschieden sich ungefähr 80
Prozent der befragten Rechtshänder für das untere Gesicht mit
dem vom Betrachter aus gesehen linksseitig emporgezogenen,
also lächelnden Mundwinkel. Daraus folgt, daß sie das Gesicht
mit der rechten Gehirnhemisphäre beurteilten – vorausgesetzt
natürlich, daß ihr Blick auf den Mittelpunkt des Bildes gerichtet
war. Dieses Ergebnis fällt noch überzeugender aus, wenn die
Zeichnung mittels eines Tachistoskops dargeboten wird. Wählt
man den Brennpunkt genau in der Bildmitte und als
- 169-
Belichtungszeit eine Zehntelsekunde, so erscheint das untere
Gesicht ausnahmslos allen Rechtshändern als das fröhlichere.
Diese beiden Gesichter sind Spiegelbilder voneinander.
Richten Sie Ihren Blick jeweils auf die Nasen: Welches
Gesicht sieht fröhlicher aus?
Eine zunächst durchaus plausible andere Erklärung für diese
Bereitschaft, einen Gesichtsausdruck anhand der linken Hälfte
- 170-
des Gesichtsfelds zu beurteilen, besagt, daß man es hier mit
einer Folgeerscheinung unserer kulturellen Gepflogenheit, von
links nach rechts zu lesen, zu tun hat. Und zweifellos erfährt der
beschriebene Effekt in unserer Kultur durch diese Gepflogenheit
eine Verstärkung. Daß jedoch die Hemisphärendifferenzierung
den eigentlichen Kern der Sache bildet, geht aus den Befunden
mit Linkshändern hervor. 55 Prozent der befragten Linkshänder
sahen das obere Gesicht als das fröhlichere, was darauf
hindeutet, daß die linke Hemisphäre die Beurteilung vornahm.
Und das läßt sich nicht aus der kulturell vorgegebenen SchreibLese-Richtung erklären. Hinzu kommt, daß Menschen mit
vollständiger Dominanz der linken Körperhälfte (also nicht nur
der Hand) offenbar noch sehr viel häufiger das obere Gesicht als
das fröhlichere empfinden.
Zu ähnlichen Befunden kamen wir neuerdings in einem
Experiment, in dem wir Fotos verwendeten, auf welchen ein
Schauspieler Trauer, Fröhlichkeit, Ekel und Überraschung
mimt.19 Unsere – sehr sorgfältig auf Rechtshändigkeit hin
überprüften – Versuchspersonen hatten zunächst den Blickpunkt
eines Tachistoskops zu fixieren, dann wurde ihnen für wenige
Millisekunden ein Foto in zentraler Position dargeboten und
anschließend mit der gleichen Expositionszeit ein weiteres
rechts oder links davon. Die Versuchspersonen hatten zu
bestimmen, ob die beiden Bilder identisch oder verschieden
waren; die Zeit, die sie für ihre Entscheidung benötigten, wurde
registriert. Die meisten identifizierten übereinstimmende
Gesichtsausdrücke mit größerer Treffsicherheit und schneller,
wenn das Duplikat im linken Gesichtsfeld dargeboten wurde. Im
Kontrollversuch wurden Verzerrungen derselben Fotografien
benutzt (also im Grunde genommen sinnlose Figuren); auch in
diesem Fall wurden übereinstimmende Figuren schneller und
sicherer identifiziert, wenn das Duplikat im linken Gesichtsfeld
19
Die Durchführung des Experiments oblag Jack Shannon. Wir beide danken
Stevan Harnad für Kritik und Anregungen.
- 171-
erschien freilich nicht annähernd mit der Zügigkeit und
Zuverlässigkeit wie im Fall der unverzerrten Bilder.
Klinisches Material aus jüngerer Zeit deutet unverkennbar in
die gleiche Richtung. Das Unvermögen, Gesichter – nicht bloß
Gesichtsausdrücke – zu identifizieren, tritt sehr viel häufiger in
Verbindung mit Schädigungen der rechten als mit Schädigungen
der linken Gehirnhemisphäre auf. In einem klinischen Test
besteht die Aufgabe des Patienten darin, anhand der
Frontalansicht
eines
Gesichts
unter
wechselnden
Beleuchtungsverhältnissen
die
dazugehörigen
Dreiviertelansichten zu identifizieren. Patienten mit Läsionen
der rechten Hemisphäre haben damit unverhältnismäßig viel
größere Schwierigkeiten als normale Probanden oder Patienten
mit Läsionen der linken Hemisphäre. 20 Das Erkennen von
Gesichtern und Gesichtsausdrücken ist also primär eine
Funktion der rechten Hemisphäre.
Und in ungewohnten Situationen Freund und Feind
auseinanderzuhalten war eine der Funktionen der Götter.
5. Das Gehirn in neuer Sicht
Wie ist es möglich – so könnte nun eingewandt werden –, daß
ein System wie dieses: das Gehirn mit der Struktur, die ich als
bikamerale Psyche bezeichnet habe, und die, mit der in unserem
Modell
beschriebenen
Distribution
von
Funktionen,
jahrtausendelang das Substrat der menschlichen Kultur bildete –
ich sage: wie ist es möglich, daß hier innerhalb so relativ kurzer
Frist ein Wandel des Funktionsprinzips eintritt, in dessen
Verlauf jene erzieherischen Stimmen verstummen und wonach
wir es alsdann mit einer neuen Organisiertheitsform namens
20
H. Hecaen u. R. Angelergues, Agnosia for Faces (Prosopagnosia),
Archives of Neurology 7/1962, S. 92-100; A. L. Benton u. M. W. Allen,
Impairment in Facial Recognition in Patients with Cerebral Disease, Cortex 4
/ 1968, S. 345-358.
- 172-
Bewußtsein zu tun haben? Auch wenn es in der Welt seit jenem
Wandel Völkermord genug gegeben hat, um eine gewisse
natürliche Selektion und Evolution zu bewirken, spielt dieser
Punkt in meiner Beweisführung keinerlei Rolle. Was an
natürlicher Selektion während der Herausbildung des
Bewußtseins ins Spiel kam, hat sicherlich zu dessen Überdauern
beigetragen, kann jedoch nicht als Bedingungsrahmen für eine
regelrechte Evolution von der bikameralen Psyche zum
Bewußtsein in Anspruch genommen werden – Evolution in dem
Sinn, wie der Weg von den Läufen und Pfoten irgendeines
Vorfahren zu den Flossenfüßen der Robben als Evolution
bezeichnet wird.
Ein angemessenes Begreifen des Sachverhalts läßt sich nur
aus einem neuen Bild vom Gehirn gewinnen, unter Preisgabe
von Auffassungen, wie sie noch vor wenigen Jahrzehnten
geläufig waren. Die neue Perspektive betont vor allen Dingen:
die Plastizität des Gehirns; die redundante Repräsentation eines
psychischen Vermögens innerhalb einer spezialisierten Region
beziehungsweise eines »Zentrums«; die »multiple Steuerung«
des einzelnen psychischen Vermögens, also seine Steuerung
durch mehrere Zentren, die entweder bilateral paarig angeordnet
sind oder in einem Verhältnis zueinander stehen, das Hughlings
Jackson als »Re-Repräsentation« von Funktionen bestimmte, als
Spiegelung von Spiegelungen der Funktionen auf zunehmend
höheren und phylogenetisch jüngeren Entwicklungsebenen des
Nervensystems. 21 Daß das Gehirn von Säugern in dieser Weise
organisiert ist, ist der Grund für jene Erfahrungstatsachen, die
sich unter der Rubrik »Wiederherstellung von Funktionen«
zusammenfassen lassen. Im Vordergrund des neuen Bildes vom
Gehirn steht jedoch die Eigenschaft der Plastizität: Das Gehirn
ist sehr viel plastischer als bisher angenommen; es verfügt über
21
Hughlings Jackson, Evolution and Dissolution of the Nervous System,
Selected Writings of Hughlings Jackson, hg. von J. Taylor, Bd. 1, London:
Staples Press 1958, S. 45-75.
- 173-
einen geradezu schwindelerregenden Überschuß von Neuronen,
dergestalt, daß beispielsweise 98 Prozent der Sehnerven einer
Katze durchtrennt werden können, ohne daß die Fähigkeit zur
Unterscheidung von Helligkeitsgraden und Figuren dadurch
verlorengeht. 22 Das Gehirn quillt förmlich über von in sich
redundant ausgestatteten Zentren, deren jedes vielleicht eine
direkte Rolle in einem Leitungsbogen spielt oder die
Arbeitsweise anderer Zentren modifiziert, oder beides zugleich,
wobei es zu den vielfältigsten Formen und Graden der
Vernetzung zwischen zusammenwirkenden Zentren kommen
kann.
Dieses ganze System redundanter Repräsentation und
multipler Steuerung führt zu dem Bild eines sehr viel
wandelbarer organisierten Gehirns, als die ältere Neurologie
wahrhaben wollte. Die Ausführung einer Verhaltenseinheit oder
eines Verhaltensmusters beschäftigt eine Unmenge gleichartiger
Neuronen eines bestimmten Zentrums und versetzt unter
Umständen eine Reihe weiterer Zentren in Aktion, die je nach
ihrem evolutionären Status in unterschiedlichen Konfigurationen
von Hemmung und Bahnung miteinander gekoppelt sind. Die
Dichte der Kopplungen zwischen den einzelnen Zentren
schwankt ihrerseits von Funktion zu Funktion gewaltig. 23 Mit
anderen Worten, das Ausmaß der Veränderungen, denen die
Distribution kortikaler Funktionen unterliegen kann, ist für jede
Funktion ein anderes; die Veränderlichkeit der Distribution als
solche jedoch ist, wie jetzt immer offenkundiger wird, ein
hervorstechendes Kennzeichen des Gehirns der hö heren Säuger.
Der biologische Zweck, der Selektionsvorteil derartiger
redundanter Repräsentation und multipler Steuerung sowie der
22
R. Galambos, T. T. Norton u. G. P. Fromer, Optic Tract Lesions Sparing
Pattern Vision in Cats, Experimental Neurology 18/1967, S. 18-25.
23
Ich stütze mich hier auf einen vorzüglichen neueren Abriß dieses
Fragenkomplexes: Burton Rosner, Brain Functions, Annual Reviews of
Psychology 21 / 1970, S. 555-594.
- 174-
daraus resultierenden Plastizität, ist ein doppelter: Zum einen ist
das Gehirn damit gegen die Auswirkungen von Läsionen
gesichert, zum anderen und das dürfte der wichtigere Aspekt
sein – ergibt sich so ein Organismus, der weitaus flexibler,
anpassungsfähiger auf das Risiko ständig sich wandelnder
Umweltbedingungen zu antworten in der Lage ist. Ich denke
hierbei an existentielle Risiken der Art, wie die fortschreitende
Vergletscherung sie für den Urmenschen mit sich brachte, und
selbstverständlich auch an jenes noch viel größere Risiko, das
im Scheitern der bikameralen Psyche lag und dem Menschen die
Anpassungsleistung des Bewußtseins abnötigte.
Das bedeutet aber nicht nur, daß das Verhalten des
ausgewachsenen Menschen weniger rigide ist als das seiner
Vorfahren, obzwar dies gewiß auch zutrifft. Wichtiger jedoch
ist, daß damit ein Organismus geschaffen ist, bei dem
Einzelheiten der frühkindlichen Entwicklungsgeschichte
beträchtliche Konsequenzen für die spätere Gehirnorganisation
haben können. Noch vor wenigen Jahren hätte eine solche Idee
für rundheraus abwegig gegolten. Doch eine steigende Flut
einschlägiger Forschungen hat jegliche starre Auffassung vom
Gehirn weggewaschen und die Tatsache ins Licht gerückt, in
welch erstaunlichem Umfang das Gehirn Strukturdefizite –
gleichgültig, ob angeborene Deformationen oder spätere
Läsionen
–
zu
kompensieren
vermag.
Zahlreiche
Untersuchunge n
an
Tieren
haben
bewiesen,
daß
Gehirnschädigungen im Kindheitsstadium sich im Verhalten des
erwachsenen Exemplars kaum auswirken, während gleichartige
Läsionen
im
Erwachsenen-Stadium
hier
gravierende
Veränderungen bewirken können. Wir haben schon darauf
hingewiesen, daß frühkindliche Schädigungen der linken
Hemisphäre beim Menschen normalerweise in einer
Verlagerung des gesamten Sprachapparats in die rechte
Hemisphäre resultieren.
Einer der verblüffendsten Beweise für diese Elastizität des
- 175-
Gehirns ist der Fall eines fünfunddreißigjährigen Mannes, der an
einer Unterleibsgeschwulst gestorben war. Die Autopsie ergab,
daß ihm die Fimbria hippocampi, die Fornix, das Septum
pellucidum sowie das größte Stück vom Mittelteil des Thalamus
von Geburt an fehlten; außerdem besaß er einen abnorm kleinen
Hippokampus und einen ebenso abnorm kleinen Gyrus
parahippocampalis und Gyrus dentatus. Ungeachtet dieser
beträchtlichen Anomalien hatte der Patient sich stets als
»Gemütsmensch« und »Lebenskünstler« erwiesen und war in
der Schule sogar Klassenbester gewesen! 24
Während des Wachstums kompensiert also das Nervensystem
Erb- oder umweltbedingte Schäden, indem es andere, wiewohl
weniger begangene Entwicklungswege einschlägt und dabei
unversehrtes Gewebe in Dienst nimmt. Im Erwachsenenstadium,
nach Abschluß der Entwicklung, sind diese Wege versperrt. Die
durchgebildete Gehirnorganisation ist bereits auf normalem
Weg erreicht. Nur im Verlauf der Kindheitsentwicklung kann
die Neugliederung, die vom Normalfall abweichende
Redistribut ion der Systeme der multiplen Steuerung erfolgen.
Und ganz entschieden trifft dies für die im vorliegenden
Zusammenhang zentral wichtige Beziehung zwischen den
beiden Gehirnhemisphären zu. 25
Vor diesem Hintergrund sehe ich nichts, was gegen die
Annahme
spräche,
daß
die
Region
der
rechten
(nichtdominanten) Gehirnhemisphäre, die das Gegenstück zum
Wernicke-Zentrum bildet, in der bikameralen Epoche ihre genau
24
P. W. Nathan u. M. C. Smith, Normal Mentality Associated with a
Maldeveloped Rhinencephalon, Journal of Neurology, Neurosurgery and
Psychiatry 13 / 1950, S. 191-197 (zit. nach Rosner, a. a.0.; vgl. Fußnote auf
Seite 156).
25
R. E. Saul u. R. W. Sperry, Absence of Commissurotomy Symptoms with
Agenesis of the Corpus Callosum, Neurology 18/1968, S. 307; D. L. Reeves
u. C. B. Carville, Complete Agenesis of Corpus Callosum: Report of Four
Cases, Bullen of Los Angeles Neurological Society 3 / 1938, S. 169- 181.
- 176-
umschriebene bikamerale Funktion ausübte, daß sie jedoch nach
Jahrtausenden der psychologischen Neugliederung, der
Redistribution, in welchem Zeitraum jeder aufkeimende Ansatz
zur Bikameralität bereits in früher Kindheit unterdrückt wurde,
ganz anders funktioniert. Aus denselben Gründen wäre es
verfehlt zu glauben, daß die gegenwärtige Neurologie des
Bewußtseins, wie immer sie aussehen mag, eine für alle
Ewigkeit festgeschriebene Größe sei. Die Beispiele, die wir in
diesem Kapitel kennengelernt haben, sprechen im Gegenteil
dafür, daß kein unabdingbar festgelegter Zusammenhang besteht
zwischen Hirngewebe und der Funktion, die es ausübt; und
damit ist es durchaus denkbar, daß veränderte Umstände, die
dem Individuum ein verändertes Entwicklungsprogramm
vorschreiben, Veränderungen der Hirnorganisation bedingen
können.
- 177-
SECHSTES KAPITEL
Der Ursprung der Kultur
Aber bikamerale Psyche – Wozu das? Und warum Götter?
Was mag der Ursprung des Göttlichen sein? Und wenn das
menschliche Gehirn in der bikameralen Epoche so organisiert
war, wie ich es im vorausgegangenen Kapitel darstellte: was für
ein Selektionsdruck könnte im Lauf der Evolution des
Menschen ein so einschneidendes Ergebnis hervorgebracht
haben?
Die spekulative These, die ich in diesem Kapitel zu
explizieren versuchen werde – und sie ist sehr spekulativ –, ist
einfach nur eine selbstverständliche Folgerung aus dem
Bisherigen. Die bikamerale Psyche ist eine Form von sozialer
Kontrolle – diejenige Form der sozialen Kontrolle, die den
Übergang
der
Menschheit
von
Jäger-und-SammlerKleingruppen zu ackerbauenden Gemeinschaften möglich
machte. Die bikamerale Psyche mit ihren göttlichen
Kontrollinstanzen bildet das Endstadium der Evolution der
Sprache. Und in dieser Entwicklung liegt der Ursprung der
Kultur.
Was bedeutet der Begriff der sozialen Kontrolle? Beginnen
wir mit einer Klärung dieser Frage.
GRUPPENEVOLUTION
Die Säuger insgesamt weisen ein breites Spektrum sozialer
Gruppenbildung auf, das vom Einzelgängertum bestimmter
Raubtiere bis hin zu dem sehr starken sozialen Zusammenhalt
reicht, der bei anderen Arten und Familien anzutreffen ist. Tiere,
die in Gruppen leben, sind häufiger Jagdobjekte von Räubern:
soziale Gruppenbildung als solche ist eine Erbanpassung zum
Schutz gegen Räuber. Bei Huftieren ist die Struktur der Herde
- 178-
verhältnismäßig einfach und wird mittels präzis umschriebener,
genetisch verankerter anatomischer und behavioraler Signale
aufrechterhalten, die alle dem Schutz der Gruppe dienen und
infolgedessen evolutionär selegiert wurden. Primaten sind von
ähnlicher Verletzbarkeit und haben sich daher gleichfalls zu
Herdentieren mit hohem Zusammenhalt unt ereinander
entwickelt. Im Schutz dichter Wälder mag die Zahl der
Gruppenmitglieder nicht mehr als sechs betragen, wie etwa bei
den Gibbons, in offenerem Gelände dagegen kann sie sich bis
auf achtzig belaufen, so zum Beispiel bei den südafrikanischen
Tschakmas
(Bärenpavianen). 1
Unter
ausgefallenen
Umweltbedingungen kann der Gruppenumfang sogar noch
größer sein.
Es ist demnach die Gruppe, die sich evolutionär entwickelt.
Wenn dominante Tiere einen Warnruf ausstoßen oder
davonlaufen, ergreifen die anderen Gruppenmitglieder die
Flucht, ohne von der Gefahrenquelle Notiz zu nehmen. So ist es
die Erfahrung eines einzelnen Exemplars und sein
Dominanzstatus, was der Gruppe als ganzer Vorteil bringt.
Einzeltiere reagieren im allgemeinen noch nicht einmal auf
elementare physiologische Bedürfnisse, solange die damit
verbundene Handlung nicht dem Gesamtschema der
augenblicklichen Gruppenaktivität entspricht. So verläßt
beispielsweise ein durstiger Pavian nicht die Gruppe und begibt
sich auf die Suche nach Wasser: entweder wechseln alle
Gruppenmitglieder gemeinsam den Standort oder keines. Durst
wird im Rahmen der autonom strukturierten Gruppenaktivität
gestillt. Das gleiche gilt, mutatis mutandis, auch für andere
Bedürfnisse und Situationen.
Das Wichtige an der Sache ist für uns, daß diese
Sozialstruktur von der Kommunikation unter den Individuen
1
Irven DeVore u. K. R. L. Hall, Baboon Ecology, Primate Behavior, hg. von
I. DeVore, New York: Holt, Rinehart & Winston 1965, Kap. 2, S. 20-52.
- 179-
abhängt. Bei den Primaten hat daher die Evolution zu einer
ungeheuren Vielfalt komplexer Signale geführt: Die taktile
Kommunikation reicht vom Huckepack und der Körperpflege
bis zu den verschiedenen Formen der Umarmung, des Stupsens
mit der Schnauze und des Befingerns; dazu kommen im
stimmlichen Bereich diverse Grunz-, Bell- und Kreischtöne
sowie mehr oder weniger heftiges Schnattern, wobei das alles
ohne scharfe Abgrenzung ineinander übergeht; überdies gibt es
noch nichtvokale Lautsignale, wie etwa Zähneknirschen oder
das Patschen auf Zweige;2 zu den visuellen Signalen zählt eine
Reihe unterschiedlichster Gesichtsausdrücke, dazu das drohende
Augein-Auge-Starren, bei Pavianen ein bestimmtes Lidflattern,
bei dem die Brauen hochgezogen und die Augenlider gesenkt
werden, so daß ihre helle Färbung scharf gegen den dunkleren
Hintergrund des Gesichts kontrastiert, das Ganze begleitet von
aggressivem Zähnefletschen; auch Körperbewegungen und
Gesten
dienen
als
Signale,
so
etwa
plötzliches
Vorwärtsschießen, Kopfrucken oder Wedeln mit den Händen,
und das alles in den unterschiedlichsten Zusammenstellungen. 3
Dieses enorm umfangreiche, komplexe und redundante
Signalverhalten dient in allererster Linie den Erfordernissen der
Gruppenexistenz, der Schaffung einer sozialen Rangordnung
(als Dominanz-Unterordnungs-Hierarchie), der Aufrechterhaltung des Friedens, der Reproduktion und der Aufzucht der
Jungen. Mit Ausnahme der Fälle, wo sie eine potentielle
Bedrohung der Gruppe anzeigen, beziehen sich die Signale der
Primaten selten auf Vorkommnisse außerhalb der Gruppe, etwa
2
K. R. L. Hall, The Sexual, Agonistic, and Derived Social Behaviour
Patterns of the Wild Chacma Baboon (Papio ursinus), Proceedings of the
Zoological Society, London, 139/1962, S. 283-327.
3
Peter Marler, Communication in Monkeys and Apes, Primate Behavior (vgl.
Fußnote auf Seite 160), Kap. 16.
- 180-
Nahrungs- oder Wasservorkommen. 4 Sie verbleiben vollständig
im Bereich der Gruppenangelegenheiten und sind nicht so weit
entwickelt, daß sie Umweltinformationen übermitteln könnten,
wie die menschliche Sprache das vermag.
Damit hätten wir unseren Ausgangspunkt. Unter
gleichbleibenden Umweltbedingungen ist es für die meisten
Tierarten das gegebene Kommunikationssystem, was über die
Größe der Gruppe entscheidet. Paviane bringen es zu Gruppen
von bis zu 80 und mehr Einzeltieren, indem sie bei ihren
Wanderungen auf den Savannen ein streng geometrisches
Muster aus Untergruppen bilden, deren jede für sich eine
Dominanzhierarchie
darstellt.
Aber
im
allgemeinen
überschreitet die normale Primatengruppe nicht die Zahl von 30
bis 40 Mitgliedern, ein Limit, das sich aus den für eine
funktionierende
Dominanz-Unterordnungs-Hierarchie
erforderten Kommunikationsbedingungen ergibt.
Bei Gorillas zum Beispiel bildet das dominante Männchen –
normalerweise das größte weißrückige Exemplar – zusammen
mit sämtlichen Weibchen und den Jungen den Kern der rund
zwanzig Einzeltiere zählenden Herde, während die übrigen
Männchen mehr oder weniger an die Peripherie verwiesen sind.
Der Durchmesser einer Herde ist so gut wie niemals größer als
60 Meter, da jedes Tier in der dichtwaldigen Umgebung die
Bewegungen einzelner Genossen im Auge behält. 5 Die Herde
wechselt den Ort, wenn das dominante Männchen mit
gespreizten Beinen reglos stehenbleibt und in eine bestimmte
Richtung blickt. Dann scharen sich die anderen
Gruppenmitglieder um den Anführer, und der ganze Trupp rückt
ein Stück weiter auf seiner gemütlichen Tagesroute von etwa
4
Wie man es von manchen Vogelarten kennt. Vgl. M. Konishi, The Role of
Auditory Feedback in the Vocal Behavior of Domestic Fowl, Zeitschrift für
Tierpsychologie 20/1963, S. 349-367
5
G. Schaller, The Mountain Gorilla: Ecology and Behavior, Chicago:
University of Chicago Press 1963.
- 181-
500 Metern. Hier kommt es entscheidend darauf an, daß die
verzweigten Kommunikationskanäle zwischen der Spitze der
Dominanzhierarchie und dem Rest der Gruppe jederzeit offen
und intakt bleiben.
Nichts spricht dafür, daß die Lebensweise des Frühmenschen
nach Entstehung der Gattung Homo vor zwei Millionen Jahren
auch nur im geringsten anders ausgesehen hätte. Die
archäologischen Zeugnisse, soweit vorhanden, deuten auf eine
Gruppenstärke von rund 30 Mitgliedern hin. 6 Diese Zahl, so
meine ich, war als Höchstmaß festgelegt durch das Problem der
sozialen Kontrolle und die Übertragungskapazität der
Kommunikationskanäle zwischen den Individuen. 7 Und es
dürfte so sein, daß die Götter aus keinem anderen Grund auf der
Bühne der Evolutionsgeschichte erschienen sind, als um dieses
Problem des von vornherein eingeschränkten Gruppenumfangs
zu lösen.
Doch bevor wir uns diesem Gesichtspunkt zuwenden, müssen
wir erst noch einige Betrachtungen über die Evolution der
Sprache als der notwendigen Voraussetzung für die Existenz
von Göttern überhaupt einschalten.
DIE EVOLUTION DER SPRACHE
Die Frage von Zeitpunkt und Zeitraum
Man findet gemeinhin die Ansicht vertreten, die Sprache sei
ein so integrierender Teil der menschlichen Konstitution als
6
Glynn L. Isaac, Traces of Pleistocene Hunters: An East African Example,
Man the Hunter, hg. von Richard B. Lee u. Irven DeVore, Chicago: Aldine
Press 1968.
7
Die Gruppenstärke ist in etwa die gleiche wie bei nomadischen
Jägerstämmen der Neuzeit. Ansonsten jedoch sind die beiden Fälle nicht
miteinander vergleichbar. Vgl. Joseph B. Birdsell, On Population Strucrure in
Generalized Hunting and Collecting Populations, Evolution 12/ 1958, S. 189205.
- 182-
solcher, daß ihre Anfänge über mehr oder weniger die gesamte
stammesgeschichtliche Ahnenreihe des heutigen Menschen, also
einen Zeitraum von zwei Millionen Jahren, hinweg auf die
Anfänge der Gattung Homo selber zurückreichen müßten. Die
meisten heutigen Linguisten, die ich kenne, würden mir die
Wahrheit dieser Auffassung hoch und heilig beteuern. Aber
gerade diese Auffassung ist es, mit der ich hier rundheraus und
so entschieden wie nur möglich brechen möchte. Wenn die
ersten Menschen am Anfang dieser zwei Millionen Jahre auch
nur im Keim über eine Sprache verfügten weswegen haben sie
uns dann kaum Zeugnisse auch nur der einfachsten Kultur und
Technik hinterlassen? Denn abgesehen von allerprimitivsten
Steinwerkzeugen hat uns die Archäologie für die gesamte Zeit
vor 40000 v. Chr. in dieser Hinsicht wirklich nur Dürftiges zu
bieten.
Wer bestreitet, daß der Urmensch sprechen konnte, bekommt
zuweilen den Einwand zu hören: Aber wie haben die Menschen
dann ihr Leben bewältigt und miteinander kommuniziert? Die
Antwort darauf ist sehr einfach: Genau wie alle anderen
Primaten mit einer Fülle von visuellen und stimmlichen
Signalen, die freilich sehr weit entfernt waren von der
syntaktischen Sprache, deren wir uns heute bedienen. Und wenn
ich dann sogar so weit gehe, diese Sprachlosigkeit bis weit ins
Pleistozän – in dem der Mensch verschiedene Formen von
behauenen Geröllsteinen und Faustkeilen als Gerätschaften
entwickelte – hinein dauern zu lassen, nehmen das meine
sprachwissenschaftskundigen Bekannten abermals zum Anlaß,
meine anmaßende Unwissenheit zu beklagen und heilige Eide
darauf zu schwören, daß man Sprache nötig hatte, um derartige,
sei’s auch bloß rudimentäre Fertigkeiten von einer Generation
an die nächste weitergeben zu können. Aber bedenken wir
einmal, daß es so gut wie unmöglich ist, sprachlich zu
beschreiben, wie man einen Feuerstein so behaut, daß ein
Faustkeil daraus wird. Dieses Können wurde ganz allein durch
- 183-
Imitationslernen tradiert, auf haargenau dem gleichen Weg also,
auf dem Schimpansen den Trick mit dem Strohhalm
weitergeben, den man in einen Ameisenhügel steckt, um
Ameisen herauszuangeln. Das Problem ist das gleiche wie bei
der Weitergabe der Kunst des Fahrradfahrens: spielt die Sprache
dabei irgendeine Rolle?
Da die Sprache Informationsübertragung großen Stils
ermöglicht, bringt sie notwendigerweise dramatische
Wandlungen in der menschlichen Aufmerksamkeitsorientierung
gegenüber Personen wie Sachen mit sich; infolgedessen muß sie
in einer Zeitperiode entstanden sein, für die derartige
Wandlungen archäologisch bezeugt sind. Eine solche Periode ist
das späte Pleistozän: grob umrissen die Zeitspanne von 70000
bis 8000 v. Chr. In klimatischer Hinsicht war sie durch
beträchtliche Temperaturschwankungen gekennzeichnet, die in
Parallele zum Ab- und Zunehmen der Vereisung standen, und in
biologischer Hinsicht durch die Auswirkungen dieser
Klimawechsel: gewaltige Wanderbewegungen von Tieren und
Menschen. Aus dem afrikanischen Herzland dehnte sich die
Hominidenpopulation explosionsartig in die eurasische
Subarktis und weiter auf den amerikanischen Doppelkontinent
und nach Australien aus. Rund um das Mittelmeer erreichte die
Population einen Höchststand wie nie zuvor und übernahm die
Führung in der kulturellen Innovation, wodurch sich der
Brennpunkt
der
kulturellen
und
biologischen
Menschheitsentwicklung aus den Tropen in die mittleren Breiten
verlagerte. 8 Feuer, Höhlen und Pelze schufen für den Menschen
eine Art transportables Mikroklima, das diese Wanderungen
ermöglichte.
Wir sind es gewohnt, jene Menschen als Spät-Neandertaler zu
bezeichnen. Zuzeiten glaubte man, es habe sich bei ihnen um
8
J. D. Clark, Human Ecology During the Pleistocene and Later Times in
Africa South of the Sahara, Current Anthropology 1/ 1960, S. 307-324.
- 184-
eine Spezies für sich gehandelt, die um 35000 v. Chr. vom CroMagnon-Menschen verdrängt wurde. Die neuere Auffassung
geht jedoch dahin, daß sie nur eine von vielen Varietäten auf der
allgemeinen menschlichen Stammeslinie waren, der Varietäten,
deren Vielzahl ein beschleunigtes Evolutionstempo ermöglichte
zu jenen Zeiten, als der Mensch mit seinem künstlichen Klima
im Gepäck in die neuen ökologischen Nischen einströmte. Die
bisherige Forschung reicht noch nicht aus, die tatsächlichen
Siedlungsschemata zu bestimmen, doch scheinen sie sich nach
neuester Einsicht vor allem durch Abwechslungsreichtum
auszuzeichnen: Es gab Gruppen, die ständig unterwegs waren,
während andere jahreszeitlich bedingt wanderten und wieder
andere das ganze Jahr seßhaft blieben. 9
Ich habe die Klimaänderungen während dieser jüngsten
Eiszeit deswegen besonders betont, weil ich glaube, daß sie der
Ursprung des Selektionsdrucks waren, der über mehrere Stadien
hin die Entwicklung der Sprache prägte.
Rufe, Modifikatoren, Imperative
Erstes Stadium und Conditio sine qua non der
Sprachentwicklung ist der Übergang von zufallsbedingten
»unwillkürlichen« Ausrufen zu intentionalen Zurufen, nämlich
Ausrufen, die im Prinzip so lange wiederholt werden, bis eine
Verhaltensänderung des Empfängers sie abstellt. Auf der
vorausliegenden Etappe in der Evolution der Primaten waren
nur mimische/gestische Signale wie die Drohgebärden, also
visuelle Signale, intentionale Signale gewesen. Die evolutionäre
Ausdehnung der Intentionalität auf auditive Signale wurde
unumgänglich, als der Mensch in nördliche Klimate
einwanderte, wo sowohl im Freien wie in den dunklen Höhlen,
die er sich zur Behausung wählte, die Lichtverhältnisse
9
Vgl. Karl W. Butzer, Environment and Archaeology: An Introdudion to
Pleistocene Geography, Chicago: Aldine Press 1964, S. 378.
- 185-
schlechter waren und visuelle Signale nicht mit der gleichen
Zuverlässigkeit und Promptheit übermittelt werden konnten wie
auf den sonnigen afrikanischen Savannen. Der fragliche
Evolutionsprozeß dürfte bereits im tertiären Eiszeitalter,
womöglich sogar noch früher eingesetzt haben. Doch erst wenn
im quartären Eiszeitalter zunehmende Kälte und Dunkelheit in
den nördlichen Klimaten erlebt werden, bedeuten die
intentionalen Stimmsignale einen Selektionsvorteil für den, der
über sie verfügt.
Was ich hier biete, ist das Resümee einer Theorie der
Sprachevolution, die ich anderswo ausführlicher und mit
umfassender Argumentation dargelegt habe. 10 Diese Theorie ist
nicht als das letzte Wort über das tatsächliche
Evolutionsgeschehen gemeint, sondern vielmehr als eine grob
umrissene Arbeitshypothese zur ersten Annäherung an die
Tatsachen. Überdies handelt es sich bei den von mir
beschriebenen
Stadien
der
Sprachentwicklung
nicht
notwendigerweise um diskrete (abgegrenzte) Zustände, noch
treten sie allerorten stets in der gleichen Reihenfolge auf. Um es
zu wiederholen: die zentrale Aussage, die sich aus meiner Sicht
der Dinge ergibt, lautet: Jede neue Etappe der Wortgeschichte
schuf buchstäblich neue Wahrnehmungen und eine neue
Aufmerksamkeitsorganisation, und diese neuen Wahrnehmungen
und Aufmerksamkeitsrichtungen hatten jeweils bedeutende
kulturelle Veränderungen zur Folge, die sich in den
archäologischen Zeugnissen widerspiegeln.
Die ersten Elemente einer Wortsprache waren die Schlußlaute
intentionaler Rufe in der durch unterschiedliche Intensität
bewirkten Differenzierung. So würde man zum Beispiel einen
Warnruf in einer höchst akuten Gefahrensituation mit erheblich
verstärktem Nachdruck ausstoßen, wodurch das Schlußphonem
10
Julian Jaynes, The Evolution of Language in the Late Pleistocene, Annals
of the New York Academy of Sciences Bd. 280 (1976).
- 186-
eine Veränderung erfährt. Ein sprungbereiter Tiger etwa könnte
ein »wahi!« provozieren, während man es für einen Tiger in der
Ferne mit einem weniger nachdrücklichen Ruf – der
dementsprechend anders aus – lautet, etwa »wahu!« – genug
sein läßt. Aus diesen Endungen wurden in der Folge die ersten
Modifikatoren, mit der Bedeutung »nah« und »fern«. Und der
nächste Schritt bestand darin, daß diese Endungen »hi« und
»hu« vom ursprünglichen Ruf abgetrennt und unter Erhaltung
ihres Bedeutungswerts mit anderen Rufen kombiniert werden
konnten.
Der springende Punkt hierbei ist, daß die Differenzierung von
Stimmlauten zu spezifizierenden Konstituenten der Erfindung
der zu spezifizierenden Nomina vorausgehen mußte und nicht
umgekehrt. Und was noch wichtiger ist: in diesem Stadium hat
die Sprache lange verharren müssen, bis jene Modifikatoren
stabilisiert waren. Die langsame Entwicklung war auch in dem
Erfordernis begründet, das Grundrepertoire des Rufsystems
intakt zu halten, damit es weiterhin seine intentionalen
Funktionen erfüllen konnte. Die Epoche der Modifikatoren
dauerte vermutlich bis um 40000 v. Chr., bis zu der Zeit also,
die in archäologischer Hinsicht durch retuschierte Faustkeile
(Einseiter wie Zweiseiter) gekennzeichnet ist.
Die nächste Etappe könnte eine Epoche des Imperativs
gewesen sein, in der die Modifikatoren – abgetrennt von den
Rufen, die sie spezifizieren, und verselbständigt – nunmehr
direkt zur Spezifizierung von menschlichem Handeln dienen
konnten. Insbesondere seit die Menschen unter kühleren
Klimabedingungen mehr und mehr auf die Jagd als
Lebensunterhalt angewiesen waren, muß der auf einer solchen
mittels stimmlicher Kommandos zusammengeha ltenen und
gesteuerten Gruppe von Jägern lastende Selektionsdruck
immens gewesen sein. Und es ist nicht schwer, sich
vorzustellen, daß die Erfindung eines Modifikators mit der
Bedeutung »schärfer«, und dieser sodann als Kommando
- 187-
ausgegeben (»schärfer!«), einen merklichen Fortschritt in der
Herstellung von Gerätschaften aus Feuerstein und Knochen zu
bewirken vermochte, der sich in dem Zeitraum 40000 – 25000
v. Chr. zu einer wahren Explosion von neuen Gerätetypen
auswuchs.
Substantive
Sobald ein Stamm über ein Repertoire von Modifikatoren und
Imperativen verfügt, ist die Notwendigkeit, das ältere, primitive
Rufsystem unverändert aufrechtzuerhalten, hinfällig geworden
und kann erstmals so weit gelockert werden, wie es erforderlich
ist zur Bezeichnung von Referenten der Modifikatoren und
Imperative. Bedeutete »wahi!« mit seinem höheren
Intensitätsgrad einmal eine akute Gefahr, so könnte »waki!«
jetzt einen herannahenden Tiger und »wabi!« einen
herannahenden Bären signalisieren. Wir hätten hier die ersten
Sätze – bestehend aus Substantiv + prädikativem Modifikator
(in Suffixform) – vor uns: zu dergleichen dürfte es zu
irgendeinem Zeitpunkt zwischen 25000 und 15000 v. Chr.
gekommen sein.
Dies sind nicht einfach willkürlich aus der Luft gegriffene
Spekulationen. Daß auf Modifikatoren Imperative und – jedoch
erst wenn diese hinreichend stabilisiert sind – weiter dann
Substantive folgen, ist kein Zufall. Und ebensowenig die
Chronologie. Wie die Epoche der Imperative mit der
Herstellung von stark verbesserten Geräten einhergeht, so bringt
die Epoche der Substantive die Anfänge von Tierdarstellungen
auf Höhlenwänden und Gerät au Horn.
Das nächste Stadium – praktisch die Fortschreibung des
vorigen – bringt die Herausbildung von Substantiven als
Sachbezeichnungen. Und wie die Tiernamen einst die
Tierdarstellungen hervorriefen, so rufen jetzt die Namen der
Dinge neue Dinge hervor. In diese Epoche fällt nach meinem
- 188-
Dafürhalten die Erfindung der Keramik, der Schmuckketten und
Anhänger sowie der mit Widerhaken versehenen Harpune und
Speerspitze, die zwei letzteren von überragender Bedeutung für
die Ausbreitung der menschlichen Spezies in dir schwierigeren
Klimate. Aus Fossilfunden wissen wir zuverlässig, daß das
Gehirn, insbesondere der Stirnlappen vor der Zentralfurche, mit
einem Tempo wuchs, das die Evolutionsforscher noch heute in
Erstaunen setzt. Und mit dem Abschluß dieser Epoche, die
ungefähr dem Zeitraum der Kultur des Magdalenien entspricht;
war auch die Entwicklung der Sprachzentren zum heute
gegebenen Zustand abgeschlossen.
Der Ursprung von Gehörshalluzinationen
An dieser Stelle wollen wir uns kurz einem weiteren Problem
zuwenden, das sich im Zusammenhang mit der Frage nach dem
Ursprung der Götter stellt: der Frage nach dem Ursprung von
Gehörshalluzinationen. Die Problematik liegt gerade darin, daß
die Existenz solcher Halluzinationen in der Welt von heute nicht
zu bezweifeln ist, für die bikamerale Epoche jedoch allenfalls
erschlossen werden kann. Woher also halluzinierte Stimmen?
Die plausibelste Hypothese ist die, daß sie eine Nebenwirkung
des Sprachverstehens waren, das sich durch natürliche Selektion
als Mittel der Verhaltenskontrolle herausbildete.
Nehmen wir den Fall eines Mannes, der sich selbst oder dem
das Stammesoberhaupt den Befehl gab, weit weg vom Lager
den Flußlauf hinauf ein Fischwehr anzulegen. Wenn er kein
Bewußtsein hat! und infolgedessen die Umstände nicht
narrativieren kann, das heißt kein »Ich (qua Analogon)« in
spatialisierter Zeit mit allem, was dazugehört, vor seinem
»inneren Auge« sich ständig präsent halten kann – wie geht er
dann die Sache an? Ich meine, nur die Sprache hält ihn bei der
Stange – bei dieser langwierigen, den Nachmittag aufzehrenden
Plackerei. Ein Mensch des mittleren Pleistozäns würde sofort
wieder vergessen haben, was er da zu tun im Begriff war. Doch
- 189-
der sprechende Mensch hätte seine Sprache, ihn daran zu
erinnern: entweder indem er selbst das Kommando wiederholt –
was einen Typ des Wollens voraussetzt, zu dem er meiner
Meinung nach seinerzeit noch nicht in der Lage war – oder aber,
wie es wahrscheinlicher ist, vermittels wiederholter »innerer«
Sprachhalluzination, die ihm sagt, was zu tun ist.
Jemandem, der das vorige Kapitel nicht ganz verstanden hat,
müssen derartige Überlegungen höchst befremdlich und
abwegig vorkommen. Stellt man sich jedoch unumwunden und
ernsthaft dem Problem, die Entwicklung des menschlichen
Geistes einsehbar zu machen, dann erkennt man, daß solche
Lösungsvorschläge wichtig und notwendig sind, auch wenn wir
derzeit noch nicht wissen, auf welchem Weg sie zu
substantiieren wären. Ein Verhalten, das enger an aptische
Strukturen gebunden ist (in älterer Ausdrucksweise:
»Instinktverhalten«),
bedarf
keiner
fortwährenden
Impulszündung. Aber erlernte Handlungsweisen ohne
Endhandlung müssen durch einen äußeren Faktor, der nicht zur
Handlung selbst gehört, aufrechterhalten werden. Und
Sprachhalluzinationen könnten der Faktor sein, der das leistet.
So etwa setzt der halluzinierte Imperativ »Schärfer!« den
Urmenschen ohne Bewußtsein beim Verfertigen eines Geräts in
den Stand, für sich allein bei der Sache zu bleiben. Das gleiche
leistet ein halluzinierter Ausdruck mit der Bedeutung »feiner«
für einen anderen, der Körner zwischen Steinen zu Mehl
zerreibt. In der Tat begann nach meiner Meinung zu diesem
Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte das artikulierte Sprechen
unter dem Selektionsdruck langwieriger Aufgaben im Gehirn
nur mehr einseitig repräsentiert zu werden, damit die andere
Seite frei blieb für die halluzinierten Stimmen, die dieses
Verhalten aufrechterhielten.
- 190-
Die Epoche der Eigennamen
In leider nur allzu skizzenhafter Raffung zeigten wir bisher,
was aus der Evolution der Sprache nicht wegzudenken ist. Doch
bevor die Götter ihren Auftritt haben konnten, mußte zuerst
noch ein weiterer Schritt gemacht, mußte die Erfindung eines
hochbedeutsamen sozialen Phänomens getätigt werden: die
Erfindung der Eigennamen.
Es berührt uns irgendwie seltsam, zu hören, daß Eigennamen
an einem speziellen Punkt der Menschheitsgeschichte speziell
erfunden werden mußten. Wann war das? Und welche
Veränderungen in der menschlichen Kultur mußte das
bedingen? Ich meine, nicht vor dem Mesolithikum, so etwa
zwischen 10000 und 8000 v. Chr. traten erstmals Eigennamen
auf. Während dieser Periode paßte der Mensch sich den
veränderten Umweltbedingungen der wärmeren Nacheiszeit an.
Die ausgedehnte Eisdecke war bis auf die Höhe von
Kopenhagen zurückgewichen, und der Mensch stimmt sich jetzt
auf ein spezifisch neues Umweltverhältnis ein, auf die Jagd in
der Tundra, das Waldleben, das Schalentiersammeln oder auf
die Kombination von Festlandjagd mit der Ausbeutung
maritimer
Ressourcen
(Fischfang,
Muschelsammeln,
Schlingenjagd am Strand). Die Lebensweise dieser Menschen
zeichnet sich gegenüber der ihrer Vorläufer, der mobileren
Jägertrupps mit ihrer hohen Sterblichkeit, durch stabilere
Populationen aus. Verfestigung der Populationsverhältnisse,
Verfestigung zwischenmenschlicher Beziehungen, erhöhte
Lebenserwartung
und
wahrscheinlich
innerhalb
der
Einzelgruppe eine größere Zahl von Mitgliedern, die
auseinanderzuhalten waren -- das alles macht sowohl
Notwendigkeit wie Wahrscheinlichkeit der Weiterentwicklung
vom Substantiv zum Eigennamen für das einzelne Individuum
leicht begreiflich.
Sobald aber nun ein Stammesmitglied seinen eigenen Namen
hat, kann es in seiner Abwesenheit gewissermaßen reproduziert
- 191-
werden. Man kann an »ihn«/»sie« denken – »denken« in der
speziellen, keine Bewußtseinskomponente einschließenden
Bedeutung des Eingliederns in Sprachstrukturen. Zwar gibt es
auch aus früherer Zeit Funde, die man zur Not als Gräber
bezeichnen kann, doch begegnen wir erstmals in dieser Epoche
der förmlichen Bestattung als allgemeinem Brauch. Nun denken
Sie sich einen jüngst Verstorbenen, der Ihnen nahestand, und
nehmen Sie einmal an, er oder sie wäre namenlos: Wie wäre es
dann um Ihren Kummer bestellt? Wie lange könnte er währen?
Vermutlich hatte der Mensch in vorausgegangenen Zeiten, wie
die anderen Primaten auch, seine Toten einfach dort
liegenlassen, wo sie gerade verendet waren; oder er hatte sie mit
Steinen zudringlichen Blicken entzogen und in manchen Fällen
sie wohl auch gebraten und verzehrt. 11 Aber genau wie die
generische Bezeichnung für ein Tier die Objektbeziehung
intensiviert, so auch der Eigenname der menschlichen Person.
Und wenn die Person stirbt, dauert gleichwohl der Name und
damit die Beziehung weiter fast wie zu Lebzeiten, und daher
rühren die Bestattungssitten und die Trauer. Die Vertreter der
mesolithischen Ertebölle-Kultur von Morbihan beispielsweise
beerdigten ihre Toten in Fellkleidern, die von Knoche nnadeln
zusammengehalten wurden; manchmal gaben sie ihnen ein
Hirschgeweih als Kopfschmuck mit und bedeckten sie zum
Schutz mit Steinplatten. 12 Aus anderen Gräbern der gleichen
Periode kamen Tote mit Krönchen, vielfältigen Schmuck- und
möglicherweise auch Blumenbeigaben zum Vorschein, sämtlich
in sorgfältig ausgehobene Gruben gebettet – was alles, wie ich
meine, das Resultat der Erfindung des Eigennamens ist.
Aber noch ein anderer Wandel stellt sich gemeinsam mit den
11
So um die Mitte des Pleistozäns in Chou-Kou-Tien und später in der Höhle
von Krapina in Kroatien. Vgl. Grahame Clark und Stewart Piggott,
Prehistoric Societies, London: Hutchinson 1965, S. 61.
12
Grahame Clarke, The Stone Age Hunters, New York: McGraw-Hill 1967,
S. 105.
- 192-
Namen ein. Bis zur fraglichen Periode waren vermutlich
fallweise auftretende Gehörshalluzinationen anonym und ohne
die geringste Bedeutung im sozialen Interaktionszusammenhang
geblieben. Sobald jedoch diese oder jene Halluzination
namentlich – als von dieser oder jener bestimmten Person
ausgehende Stimme – identifiziert wird, gewinnt der Vorgang
eine ganz andere Qualität. Die Halluzination ist jetzt eine soziale
Interaktion von sehr viel größerem Einfluß auf das Verhalten
des Individuums. Vor ein neues Problem geraten wir hier mit
der Frage, wie denn nun halluzinierte Stimmen eine Identität
bekamen, mit welcher Person sie identifiziert wurden und wie
sie, wenn sie zu vielen auftraten, auseinandergehalten wurden.
Die vorhandenen autobiographischen Schriften Schizophrener
werfen einiges Licht auf die se Fragen – freilich nicht genug, um
uns in die Lage zu versetzen, hier tiefer in die Materie
eindringen
zu
können.
Wir
benötigen
dringend
Spezialforschungen in diesem Bereich des schizophrenen
Erlebens, die uns helfen würden, unser Verständnis des
Mensche n der mittleren Steinzeit zu erweitern.
Das Aufkommen der Landwirtschaft
Wir stehen nunmehr an der Schwelle zur bikameralen Epoche,
denn der Mechanismus der sozialen Kontrolle, der die
Organisation zahlenstarker Populationen zu Stadtstaaten erlaubt,
ist vorhanden. Es herrscht allgemeine Übereinstimmung, daß der
Übergang von der Jäger-und-Sammler-Wirtschaft zu einer
Wirtschaftsweise, die auf der Produktion der Nahrungsmittel
durch Domestikation von Pflanze und Tier beruht, der
Riesenschritt war, der Kultur und Zivilisation ermöglichte. Doch
über das Wie und Warum dieses Wandels gehen die Meinungen
weit auseinander.
Die herkömmliche Theorie knüpft in erster Linie an den
folgenden Umstand an: Gegen Ende des Pleistozäns, als der
größte Teil Europas von Gletsche rn bedeckt war, erfreute sich
- 193-
der Landstrich, der von der nordafrikanischen Atlantikküste
über den Nahen Osten bis zum Zagrosgebirge im Iran reichte, so
ausgiebiger Regenfälle, daß man ihn in der Tat als einen
einzigen fruchtbaren Garten Eden betrachten kann, wo Pflanzen
im Überfluß wuchsen, um ein vielzähliges, vielgestaltiges
Tierleben – einschließlich des altsteinzeitlichen Menschen – mit
Nahrung versorgen zu können. Mit dem Zurückweichen der
Eisdecke hätte sich der Kurs dieser atlantischen Regenwinde
weiter nach Norden verlagert, und der gesamte Nahe Osten sei
zunehmend ausgetrocknet. Die eßbaren Wildpflanzen und das
jagdbare Wild reichten für die menschliche Existenzform des
schlichten Nahrungssammelns nicht mehr aus. Als Folge davon
wanderten viele Stämme aus jenem Gebiet nach Europa ab. Die
zurückbleibenden – so Pumpelly, der anhand der eigenen
Ausgrabungen als erster diese Hypothese formulierte – »wurden
in die Oasen gedrängt und begannen unter dem Zwang, sich
neue Nahrungsquellen zu erschließen, die urwüchsigen Pflanzen
zu kultivieren, und in diesem Zusammenhang wiederum
erlernten sie, die Körner verschiedener Grasarten zu nutzen, die
auf dem ausgetrockneten Boden und in den Dschungelsümpfen
um die Mündungen der größeren Wüstenflüsse wuchsen«.13
Dieser Ansicht hat sich dann eine Reihe von späteren
Historikern angeschlossen, unter ihnen Childe 14 und auch
Toynbee 15 , der diese mutmaßliche Dürre im Nahen Osten als
»Herausforderung seitens der physischen Umwelt« verstand, auf
welche ackerbauende Kulturen die Antwort waren.
Neuere Forschungen16 haben jedoch erwiesen, daß es keine
13
R. Pumpelly, Explorations in Turkestan: Expedition of 1904: Prehistoric
Civilizations of Anau, Washington: Carnegie Institution 1908, S. 65 f.
14
V. G. Childe, The Most Ancient East, London: Routledge & Kegan Paul 4
1954.
15
J. Toynbee, A Study of History, London: Oxford University Press 1962, S.
304 f. – Dt. (Ausw.): Der Gang der Weltgeschichte Bd. 1: Aufstieg und
Verfall der Kulturen, München: dtv 1970, S. 118-120.
16
Butzer, a. a. O. (vgl. Fußnote auf Seite 165), S. 416.
- 194-
derartige ausgedehnte Dürre gab und daß der Ursprung der
Landwirtschaft nicht in ökonomischem »Zwang« zu suchen ist.
Ich habe schon einmal die überwältigende Bedeutung der
Sprache für die Entwicklung der Kultur im Mesolithikum
hervorgehoben, und das gleiche möchte ich auch hier wieder
tun. Wie wir im Dritten Kapitel gesehen haben, ermöglicht die
Sprache mit der metaphorischen Bezeichnung von Dingen die
Steigerung von Wahrnehmung und Aufmerksamkeit und schafft
damit die Möglichkeit, neue Namen für neue Sachverhalte von
Bedeutung zu prägen. Dieser sprachlich vermittelte
Geisteszuwachs fand sich im Nahen Osten inmitten einer
Umwelt wieder, die der Zufall mit domestizierbarer Fauna und
Flora gesegnet hatte: mit wilden Weizensorten und Wildgerste,
deren natürliches Verbreitungsgebiet überlappte mit den sehr
viel weiter ausgedehnten Lebensräumen der südwestasiatischen
Herdentiere Ziege, Schaf, Rind und wildes Schwein. Und aus
diesem Zusammentreffen des sprachvermittelten Neugeists mit
der solchermaßen konstellierten Umwelt sind nach meiner
Ansicht Ackerbau und Viehzucht erwachsen.
DER ERSTE GOTT
Wenden wir jetzt vorübergehend unsere Aufmerksamkeit der
bestbekannten, am gründlichsten untersuchten mesolithischen
Kultur zu, dem Natoufien, so benannt nach dem ersten Fundort,
dem Wadi el-Natuf in Palästina. Um 10000 v. Chr. waren die
Natoufien-Menschen Jäger wie ihre paläolithischen Vorfahren,
etwa 1,50 in groß, und bewohnten häufig Höhleneingänge; sie
waren ebenso geschickt als Bearbeiter von Knochen und
Geweihen wie als Hersteller von retuschierten Feuersteinklingen
und sticheln; was Tierzeichnungen betraf, konnten sie es
beinahe mit den Höhlenmalern von Lascaux aufnehmen; als
Schmuck trugen sie durchbohrte Muscheln und Tierzähne.
Um 9000 v. Chr. sehen wir sie ihre Toten in formellen
Gräbern bestatten und eine seßhaftere Lebensweise annehmen.
- 195-
Letzteres tut sich in den ersten Anzeichen einer geregelteren
Bautätigkeit kund, wie zum Beispiel das Bepflastern und
Auskleiden von Abris (das sind Wohnstätten unter
Felsvorsprüngen oder in Felsnischen) mit reichlich Gips oder
Gräberfelder, die bis zu 87 Bestattungsplätze umfassen, eine in
früheren Zeiten nie gekannte Dimension. Wir haben es jetzt, wie
ich schon sagte, mit der Epoche der Eigennamen zu tun – mit
allem, was diese mit sich bringen.
Die unter freiem Himmel liegende Natoufien-Ansiedlung bei
‘Aïm Mallaha (Eynan) zeigt den Wandel in seiner
dramatischsten Form. 17 Sie wurde im Jahr 1959 entdeckt;
inzwischen ist der knapp 20 Kilometer nördlich vom See
Genezareth auf einer natürlichen Terrasse oberhalb des HulehSumpfsees gelegene Ort eine der am fleißigsten bearbeiteten
Ausgrabungsstätten.
Drei
zeitlich
aufeinanderfolgende
Dauersiedlungen aus der Zeit um 9000 v. Chr. sind dort in
penibler Kleinarbeit exhumiert worden. Jede bestand aus etwa
fünfzig runden schilfgedeckten Steinhäusern mit Durchmessern
von bis zu sieben Metern. Die Häuser waren um einen Platz
herum errichtet, auf dem zahlreiche glockenförmige Gruben
ausgehoben waren, die, mit Gips ausgekleidet, der
Aufbewahrung von Nahrungsmitteln dienten. In einigen Fällen
waren die Gruben als Bestattungsplätze wiederverwendet
worden.
Hier nun haben wir einen sehr bedeutsamen Wandel in den
Gegebenheiten des Menschseins vor uns: statt eines
Nomadenstamms von rund zwanzig Mitgliedern, der in
Höhleneingängen kampiert, eine Stadt von wenigstens 200
Bewohnern. Eine Fülle von Erntemessern, Stößeln und
Stampfern sowie in den Boden jedes Hauses eingelassene
17
Vgl. J. Perrot, Excavations at Eynan, 1959 Season, Israel Exploration
Journal 10/1961, S. I; James Mellaart, Earliest Civilizations of the Near East,
New York: McGraw-Hill 1965, Kap. 2; Clark u. Piggott, a. a. O. (vgl.
Fußnote auf Seite 171), S. 150 ff.
- 196-
Mahlsteine und Mörser, also Geräte zum Einbringen und
Verarbeiten von Getreide und Hülsenfrüchten, das alles bezeugt
das Aufkommen des Ackerbaus, und der aufkommende
Ackerbau ist es, der diese Seßhaftigkeit und Zahlenstärke der
Gruppe ermöglicht. Die Landbestellung war zur gegebenen Zeit
unbeschreiblich primitiv und der Ertrag lediglich eine
Ergänzung zur großen Vielfalt der Tierfauna – Wildziegen,
Gazellen, Wildschweine, Füchse, Hasen, Nager, Vögel, Fische,
Schildkröten, Krebse, Muscheln und Schnecken – die, wie aus
14C-datierten Überresten hervorgeht, den wesentlicheren Teil
der Kost ausmachte.
Der halluzinogene König
Eine Stadt! ... Nun ist es zwar nicht undenkbar, daß ein
einzelnes Stammesoberhaupt über ein paar hundert Menschen
gebietet, aber es wäre eine aufreibende Arbeit, wenn die
Herrschaft in wieder und wieder erneuertem direktem Kontakt
mit jedem einzelnen Gruppenmitglied realisiert werden müßte,
wie die Dominanz in Primatengruppen mit streng
hierarchischem Aufbau.
Wenn wir jetzt versuchen, uns die soziale Seite des Lebens in
‘Aïn Mallaha zu vergegenwärtigen, bitte ich den Leser, dabei
nie zu vergessen, daß die Natoufiens kein Bewußtsein hatten.
Sie konnten nicht narrativieren, und es gab für sie kein »Ich (qua
Analogon)«, vermittels dessen sie »sich« in ihrem Verhältnis zu
den anderen zu »sehen« vermocht hätten. Sie waren, so könnte
man aus heutiger Sicht sagen, signalverhaftet, das heißt, sie
reagierten fortwährend reflektorisch auf Hinweisreize aus der
Umgebung und wurden durch diese Hinweisreize gesteuert.
Und welches waren die Hinweisreize, die einen so
umfänglichen Sozialkörper organisierten? Welche Signale übten
die soziale Kontrolle über die zwei-, dreihundert Glieder an
diesem Sozialkörper aus?
- 197-
Ich
habe
die
These
vorgetragen,
derzufolge
Gehörshalluzinationen als Nebenwirkungen im Zuge der
Sprachrevolution auftraten und dazu dienten, das Individuum
zum Ausharren bei den vom Stammesleben erheischten
längerwierigen Arbeiten zu bewegen. Diese Halluzinationen
nahmen ihren Ausgang von lauten Befehlen, die das Ind ividuum
sich entweder selbst erteilte oder vom Stammesoberhaupt erteilt
bekam. Von hier aus führt ein geradliniger Zusammenhang zu
den komplexeren Gehörshalluzinationen, die nach meinem
Dafürhalten die Hinweisreize der sozialen Kontrolle in ‘Aïn
Mallaha und als solche aus den Befehlen und Reden des Königs
hervorgegangen waren.
Wir dürfen hier allerdings nicht in den Irrtum verfallen, uns
diese Gehörshalluzinationen als Reproduktion faktisch
geäußerter königlicher Kommandos – also etwa so wie das
Abhören von Tonbandaufzeichnungen – vorzustellen. Zwar mag
die Sache so angefangen haben, doch gibt es keinen
vernünftigen Grund, der dagegen spräche, daß die halluzinierten
Stimmen mit fortschreitender Zeit auch »denken« und Probleme
lösen konnten, obzwar alles unbewußt. Die »Stimmen« unserer
zeitgenössischen Schizophrenen »denken« genausoviel wie und
oftmals noch mehr als ihre Wirte. Demnach vermochten die
»Stimmen«, die, wie ich meine, die Natoufien-Menschen hörten,
mit der Zeit auch zu improvisieren und Sachen zu »sagen«, die
der König selbst nie gesagt hatte. Freilich dürfen wir annehmen,
daß all diese neu hinzutretenden Halluzinationen stets einen
engen Zusammenhang zum Persönlichkeitsbild des realen
Königs wahrten. Der Sachverhalt ist der gleiche, wie wenn wir
heute »intuitiv« wissen, wie ein abwesender Bekannter in dieser
oder jener Situation höchstwahrscheinlich urteilen würde.
Dergestalt trug jeder Arbeiter- gleichgültig, ob beim
Muschelsammeln, beim Fallenstellen, im Streit mit einem
Rivalen oder beim Säen an dem Platz, wo man zuvor das
Wildgetreide geerntet hatte die Stimme seines Königs in sich,
- 198-
die für den kontinuierlichen, ausdauernden Fortgang und den
Kollektivnutzen seines Tuns sorgte.
Der Gottkönig
Wir haben dafür optiert, im Anschluß an die heutigen
Gegebenheiten als auslösenden Faktor für die Halluzinationen
Streß anzunehmen. Wenn unsere Überlegung insoweit richtig
ist, dann leuchtet weiter ein, daß der durch den Tod eines
Menschen bewirkte Streß mehr als genug war, um die
halluzinierte Stimme des Toten zu evozieren. Vielleicht ist dies
der Grund, warum in so vielen prähistorischen Kulturen die
Köpfe der Toten vom Rumpf getrennt oder die Beine gebrochen
oder gefesselt wurden, warum man so häufig Eßwaren als
Grabbeigaben findet und warum die Funde so hä ufig darauf
hindeuten, daß ein Leichnam zweimal bestattet wurde, beim
zweitenmal (nach Erlöschen seiner Stimme) in einem
Kollektivgrab.
Und wenn sich das schon bei einem gewöhnlichen Sterblichen
so verhielt, um wieviel mehr bei einem König, dessen Stimme
bereits zu seinen Lebzeiten mit Halluzinationen geherrscht hatte.
Wir dürfen also mit Fug erwarten, daß die letzte Ruhestätte
dieses reglosen Menschen, dessen Stimme noch immer den
Zusammenhalt der ganzen Gruppe stiftete, eine ganz besonders
aufmerksame Zuwendung erfuhr.
Unter diesem Gesichtspunkt ist das Grabhaus in ‘Aïn Mallaha
der Zeit um 9000 v. Chr. – das einzige (bisher entdeckte) seiner
Art – ein beachtlicher Fall. Das eigentliche Grabhaus war ein
Rundbau wie die übrigen Häuser, mit einem Durchmesser von
etwa fünf Metern. Im Inneren lagen, in der Mitte des Raumes
rücklings ausgestreckt, zwei vollständige menschliche Skelette
mit abgetrennten und unnatürlich verdrehten Beinen. Das eine
trug einen Kopfputz aus Schalen von »Elefantenzähnen« (in
diesem Fall Weichtiere der Klasse Grab- oder Kahnfüßer) und
- 199-
wird für das der Frau des Königs angesehen. Das zweite – das
Skelett eines erwachsenen Mannes, vermutlich des Königs – war
mit Steinen teils bedeckt, teils auf sie gestützt, und der
aufgerichtete, in weitere Steine gebettete Kopf blickte zu den
schneebedeckten Gipfeln des 50 Kilometer entfernten Bergs
Hermon hinüber.
Zu irgendeinem späteren Zeitpunkt – ob bald oder erst Jahre
nach der Bestattung, wissen wir nicht – wurde das Grabhaus mit
einer gemauerten, mit Ocker bestrichenen Brüstung umgeben.
Die Himmelsöffnung wurde mit großen flachen Steinen
zugepflastert, so daß die beiden reglosen Bewohner fortan
ungestört unter einem festen Dach ruhten. Auf dem Flachdach
wurde eine Feuerstelle errichtet. Noch später wurde auch diese
mit einer niedrigen runden Brüstung ummauert, die ihrerseits ein
flaches Steindach erhielt, auf dem in der Mitte drei große, von
kleineren Steinen umgebene Steinblöcke gruppiert wurden.
Meine Vermutung geht dahin, daß der auf sein steinernes
Ruhekissen aufgestützte tote König in den Halluzinationen
seines Volkes noch immer Befehle ausgab, daß die rotbemalte
Ringmauer mit Terrassendach und Feuerstelle die Antwort auf
die Zersetzung des Leichnams darstellte und daß die Anlage als
solche, die auf mehrere hundert Meter im Umkreis das
Gesichtsfeld beherrschte, wenigstens zeitweilig – wie die grauen
Nebelschleier über der Ägäischen See für Achilleus – ein
Quellpunkt der Halluzinationen und Imperative war, die das
soziale Leben in der Welt des mesolithischen ‘Aïn Mallaha
steuerten.
In paradigmatischer Form war hier vorgebildet, was die
kommenden acht Jahrtausende bringen sollten. Ist der König tot,
wird er zum lebendigen Gott. Das Mausoleum des Königs ist
das Haus des Gottes: Hier nehmen die kunstreichen
Gotteshäuser und Tempel, denen wir im folgenden Kapitel
unsere Aufmerksamkeit zuwenden wollen, ihren Anfang. Noch
die zweistufige Bauweise weist voraus auf die vielstufigen
- 200-
Zikkurats, auf die übereinandergebauten Tempel, wie zum
Beispiel in Eridu, oder auf die gigantischen Pyramiden im
Niltal, die die allerhabene Zeit in Tausenden, von Jahren zu
geschichtlicher Blüte bringen wird.
Der erste Gott: der tote König von ‘Aïn Mallaha, das Haupt auf
einem Steinkissen erhöht, aus der Zeit um 9000 v. Chr., wie er
im Jahre 1959 n. Chr. ausgegraben wurde.
Wir sollten ‘Aïn Mallaha nicht verlassen, ohne zuvor das
diffizile Problem der Amtsnachfolge wenigstens gestreift zu
haben. Zugegeben, in dieser Hinsicht finden sich in ‘Aïn
- 201-
Mallaha so gut wie keine konkreten Fingerzeige. Doch der
Umstand, daß das königliche Grabhaus auch ältere Begräbnisse
enthielt, die für den toten König und seine Frau beiseite geräumt
worden waren, läßt vermuten, daß es sich bei jenen früheren
Bewohnern um vorausgegangene Könige handelt. Und der
Umstand, daß sich neben der Feuerstelle auf der nächsthöheren
Ebene über dem aufgestützten König noch ein Schädel fand,
könnte dafür sprechen, daß es sich hierbei um den des
unmittelbaren Nachfolgers handelt und daß nach und nach die
halluzinierte Stimme des alten mit der des neuen Königs
verschmolz. Vielleicht hatte der Osiris-Mythos, der die
treibende Kraft hinter den altägyptischen Herrscherdynastien
war, schon hier begonnen.
Die Gleichung königliches Grabhaus = Gotteshaus bleibt
jahrtausendelang charakteristisch für viele Zivilisationen,
insbesondere die ägyptischen. Häufiger jedoch geht die eine
Seite der Gleichung, nämlich die menschliche, verloren, und
zwar in solchen Fällen, wo der Nachfolger eines Königs
während der Dauer seiner eigenen Herrschaft fortfährt, die
Stimme seines Vorgängers zu halluzinieren, und sich daraufhin
selbst zum Priester oder Diener des verstorbenen Königs erklärt:
Dieses Schema galt für alle mesopotamischen Zivilisationen.
Anstelle des Grabhauses gibt es nur mehr schlicht und einfach
den Tempel, und die Stelle des Leichnams hat eine Statue
eingenommen, die noch mehr Dienstbarkeit und Verehrung
genießt, da sie nicht der Zersetzung unterworfen ist. Im nächsten
und übernächsten Kapitel werden wir auf diese Idole-Surrogate
für die Leichen der Könige – ausführlicher eingehen. Sie spielen
eine wichtige Rolle. Wie im Termitenbau oder im Bienenkorb
die Königin sind in der bikameralen Welt die Idole die
wohlbehüteten Zentren der sozialen Kontrolle, nur daß hier
Gehörshalluzinationen an die Stelle von Pheromonen getreten
sind.
- 202-
Der Sieg der Zivilisation
Hier also haben wir den Anfang der Zivilisation. Ziemlich
unvermittelt treten um 9000 v. Chr. archäologische Zeugen des
Ackerbaus wie die Erntemesser, Stampf- und Mahlwerkzeuge
von ‘Aïn Mallaha mehr oder weniger gleichzeitig an mehreren
Fundorten in der Levante und im Irak auf, was auf eine sehr
frühe Verbreitung des Ackerbaus im nahöstlichen Hochland
hindeutet. Und wie in ‘Aïn Mallaha ging in diesem
Anfangsstadium auch andernorts der Landbau, wie später die
Viehzucht, Hand in Hand mit einer zunächst noch vorrangigen
Sammelwirtschaft. 18
Aber bis um 7000 v. Chr. war die Landwirtschaft in den an
diversen Fundorten in der Levante, dem Zagrosgebiet und im
Südwestteil
Anatoliens
ausgegrabenen
bäuerlichen
Ansiedlungen zum ersten Rang unter den Quellen des
Nahrungserwerbs aufgestiegen. Als Erntefrucht wurden
Einkorn, Emmer und Gerste angebaut, als Zuchttiere Schafe,
Ziegen und mitunter Schweine gehalten. Bis um 6000 v. Chr.
hatten sich bäuerliche Gemeinschaften über einen Großteil des
Nahen Ostens verbreitet. Und um 5000 v. Chr. war die
bäuerliche
Kolonisierung
der
Alluvialflußtäler
von
Euphrat/Tigris und Nil in rapidem Fortschritt begriffen, was
bedeutete, daß wachsende Bevölkerungszahlen diese
ertragreichen Kulturlandschaften überschwemmten. 19 Städte von
10000 Einwohnern, wie Merinde am Westrand des Nildeltas,
waren keine Seltenheit. 20 In Ur und Ägypten traten die großen
Dynastien in die Geschichte ein, deren Bild sie so nachhaltig
prägen sollten. Um 5000 v. Chr., möglicherweise auch 500 Jahre
18
Vgl. R. J. Braidwood, Levels in Pre-History: A Model for the
Consideration of the Evidence, Evolution after Darwin, hg. von S. Tax,
Chicago: University of Chicago Press 1960, Bd. 2, S. 143-151.
19
Vgl. Butzer, a. a. O. (Fußnote auf Seite 165), S. 464.
20
Vgl. K. W. Butzer, Archaeology and Geology in Ancient Egypt, Science
132/ 160, S. 1617-1624.
- 203-
früher, begann zudem die Postglaziale Mittlere Wärmezeit (auch
Atlantikuni genannt), die bis gegen 3000 v. Chr. dauerte; wie
sich vor allem anhand von Pollenuntersuchungen belegen läßt,
zeichnete sich das Erdklima während dieser Periode durch
optimale Wärme- und Feuchtigkeitsbedingungen aus, was das
weitere Vordringen der Landwirtschaft nach Europa und
Nordafrika sowie die Steigerung der Produktivität im Nahen
Osten begünstigte. Und das Steuerungsorgan für diesen
ungeheuer komplexen Prozeß der Zivilisation der Menschheit
war die bikamerale Psyche – diesen Schluß, so meine ich,
machen die historischen Zeugnisse unabweislich.
Dem Beweismaterial der Geschichte wollen wir uns nunmehr
in den folgenden Kapiteln zuwend en.
- 204-
ZWEITES BUCH
DAS BEWEISMATERIAL DER
GESCHICHTE
- 205-
ERSTES KAPITEL
Götter, Gräber und Idole
ZIVILISATION IST DIE KUNST des menschlichen
Zusammenlebens in Städten von solcher Größe, daß nicht mehr
jeder jeden kennt. Sie mag einen nicht gerade vom Sitz reißen,
diese Definition, aber sie trifft ins Schwarze. Wir haben die
Hypothese aufgestellt, daß es die bikamerale Psyche war, die die
sozialorganisatorischen Rahmenbedingungen dafür schuf. In
diesem und dem folgenden Kapitel werde ich versuchen, in
einem weltweiten Überblick, zusammengefaßt und ohne
übertriebene Detailversessenheit, die Belege vorzustellen, die
dafür sprechen, daß immer und überall, wo erstmals Zivilisation
aufkam, tatsächlich auch diese Geistesverfassung (oder
Mentalität) existierte.
In einer gegenwärtig noch viel und kontrovers diskutierten
Frage vertrete ich die Ansicht, daß die Zivilisation oder
Hochkultur an mehreren Orten im Nahen Osten jeweils
autochthon entstand (wie im vorigen Kapitel angedeutet) und
sich von dort in die Täler von Euphrat und Tigris, nach
Anatolien und ins Nil- Tal ausbreitete, sodann nach Zypern,
Thessalien und Kreta und späterhin durch Diffusion ins IndusTal und darüber hinaus sowie in die Ukraine und nach
Innerasien, dann teils durch Diffusion, teils autochthon am
Jangtse-Fluß entlang; eine autochthone Zivilisation entstand
dann in Mittelamerika, eine weitere teils autochthon, teils durch
Diffusion im Andenhochland. In jeder dieser Regionen finden
wir eine Abfolge von Monarchien, die sämtlich
übereinstimmende Merkmale aufweisen, Merkmale, die wir
späterhin als die Kennzeichen ihrer Bikameralität verstehen
lernen werden. Zwar hat es im Verlauf der Weltgeschichte ganz
gewiß noch andere bikamerale Königtümer gegeben,
wahrscheinlich im ganzen Küstenstreifen des Golfs von
- 206-
Bengalen und auf der Malaiischen Halbinsel sowie auch in
Europa, mit Sicherheit – von Ägypten aus durch Diffusion
dorthin gelangt – in Zentralafrika, möglicherweise auch bei den
Indianern Nordamerikas während der sogenannten MissouriPeriode. Aber was von diesen Zivilisationen bisher an Spuren
dingfest gemacht werden konnte, reicht bei weitem nicht aus,
um bei der Überprüfung unserer Hauptthese irgendeinen Nutzen
zu bringen.
Nehmen wir die Theorie, wie ich sie bisher skizziert habe, so
würde ich meinen, daß die Zivilisationen des Altertums in den
archäologischen Befunden eine Reihe hervorstechender
Merkmale aufweisen müssen, die anders als mit Hilfe dieser
Theorie nicht zu begreifen sind. Solche augenfälligen Merkmale
sind Gegenstand des vorliegenden Kapitels; das nächste widmet
sich dann den schriftbesitzenden Hochkulturen Mesopotamiens
und Ägyptens.
DIE GOTTESHÄUSER
Stellen wir uns vor, wir kämen als Fremde in ein unbekanntes
Land und uns fiele auf, daß dort alle Ansiedlungen nach dem
gleichen Prinzip angelegt sind: gewöhnliche Wohn- und
sonstige Gebäude um eine größere und prunkvollere Behausung
herum gruppiert. Wir würden ohne weiteres annehmen, daß es
sich bei der großen, prunkvollen Behausung um die des
Lokalherrschers handelt. Und womöglich hätten wir recht damit.
Falls wir uns jedoch in einer der alten Zivilisationen befänden,
würde unser Irrtum in dem Moment beginnen, wo wir uns
diesen Herrscher als eine Person vom Zuschnitt neuzeitlicher
Potentaten vorstellen wollten. Er war vielmehr eine
Halluzinatio n oder – im verbreiteteren Fall – eine Statue, häufig
am einen Ende dieses höherklassigen Hauses aufgestellt, mit
einem Tisch davor, auf dem Krethi und Plethi ihre Opfergaben
abladen konnten.
- 207-
Nun denn: wo immer wir auf einen derartigen Siedlungs- oder
Stadtplan stoßen, bei dem ein größeres Gebäude die
Mittelpunktstellung einnimmt, das keine menschliche
Behausung ist und auch sonst keinerlei praktischen Zwecken –
etwa als Kornspeicher oder Scheune – dient, und zumal wenn
dieses Gebäude ein menschliches Bildnis irgendwelcher Art
beherbergt: immer und überall, wo dies so ist, dürfen wir darin
ein Anzeichen für das Vorliegen einer bikameralen Kultur oder
einer Kultur, die historisch aus einer bikameralen entstanden ist,
erblicken. Dieses Unterscheidungskriterium mag sinnlos
erscheinen, und zwar einfach deshalb, weil es den Grundriß so
vieler Siedlungsanlagen von heute beschreibt. Der
Siedlungsgrundriß mit der Kirche in der Mitte und den Wohnund Geschäftshäusern drumherum ist für uns etwas so
Selbstverständliche s, daß wir nichts Bemerkenswertes an ihm
finden können. Aber unsere zeitgenössische Sakral- wie
Stadtarchitektur ist nach meinem Dafürhalten in Teilen ein Erbe
unserer bikameralen Vergangenheit. Die Kirche, die Synagoge,
die Moschee heißt man noch heute das Gotteshaus. In ihrem
Innern reden wir noch heute mit dem Gott, auf einem Tisch oder
Altar werden dort noch heute vor dem Gott oder seinem
Sinnbild Opfer dargebracht. Mit dieser objektivierten
Darstellungsweise
versuche
ich
einen
gewissen
Verfremdungseffekt zu erzielen: Das Strukturschema in alldem
muß für unser Empfinden so weit verfremdet werden, wir
müssen uns von diesen Dingen innerlich so weit distanzieren,
als nötig ist, um den zivilisierten Menschen vor dem
Hintergrund seiner gesamten Primatenevolution wahrzunehmen
und dabei zu erkennen, daß ein derartiges Grundrißschema für
Stadtanlagen doch etwas Bemerkenswertes und von unseren
Neandertaler-Ursprüngen her gesehen durchaus keine
Selbstverständlichkeit ist.
- 208-
Von Jericho bis Ur
Mit nur wenigen Ausnahmen zeigt der schematische Grundriß
kommunaler Siedlungsformen vom Ende des Mesolithikums bis
hin zu verhältnismäßig jungen Epochen stets ein Gotteshaus,
umringt von menschlichen Behausungen. Bei den ältesten
Dörfern1 , so etwa auf der Ausgrabungsebene in Jericho, die dem
9. Jahrtausend v. Chr. entspricht, ist dieses Schema nicht restlos
klar und könnte bezweifelt werden. Indes ist keinerlei Zweifel
möglich in Bezug auf den Zweck des von schlichteren
Behausungen umgebenen größeren Gotteshauses in Jericho auf
der Ebene des 7. Jahrtausends, ein Bauwerk; bestehend aus einer
– möglicherweise säulengetragenen Vorhalle und einem
Hauptraum mit Nischen und Apsiden. Hier haben wir es nicht
mehr mit einem Grabhaus für den toten König zu tun, wo auf
Steine gebettet der Leichnam lag. Die Nischen beherbergten fast
lebensgroße Standbilder: naturalistisch in Lehm geformte
Köpfe, auf Rohrschäfte oder Schilfbündel aufgesetzt und rot
angestrichen. Ähnlich halluzinogen dürften auch die am selben
Ort gefundenen, vielleicht von toten Königen stammenden zehn
Menschenschädel gewirkt haben, die in Gips realistisch
nachgebildete Gesichtszüge trugen, mit weißen Kaurimuscheln
anstelle der Augen. Auch in der anatolischen Hacilar-Kultur der
Zeit um 7000 v. Chr. gab es auf erhöhter Grundlage aufgestellte
Schädel, was den Schluß zuläßt, daß die Angehörigen dieser
Kultur durch ein ähnliches bikamerales Kontrollverfahren bei
den der Nahrungsmittelproduktion oder der Sicherheit
dienenden
Kollektivunternehmungen
zusammengehalten
wurden.
Mit einer Fläche von 32 Morgen – von denen vorerst lediglich
1
Als Quellen für das folgende wurden u. a, benutzt: Grahame Clark u.
Stewart Piggott, Prehistoric Societies, London: Hutchinson 1965; James
Mellaart, Earliest Civilizations of the Near East, New York: McGraw-Hill
1965; Grahame Clark, World Prehistory: A New Outline, Cambridge:
Cambridge University Press 1969.
- 209-
ein oder zwei Morgen vollständig untersucht sind – ist Catal
Hüyük die größte Ausgrabungsstätte im Nahen Osten. Hier
begegnen wir einer etwas veränderten Lage der Dinge. Die
Funde in der Schicht, die etwa der Zeit um 6000 v. Chr.
entspricht, geben zu erkennen, daß beinahe jedes Haus vier bis
fünf auf gleicher Ebene liegende Räume enthielt, die einen
Gottesraum wie schützend in ihrer Mitte bargen. In diesen
Gottesräumen wurden zahlreiche Statuengruppen aus Stein oder
gebrannter Erde gefunden.
Grundriß der Schicht VI in Çatal Hüyük aus der Zeit um 6000
v. Chr. Auffällig sind die mit S markierten Sanktuarien in fast
jeder Wohnungseinheit.
Fünfhundert Jahre später in Eridu errichtete man die
Gotteshäuser auf einem Ziegelsteinsockel (und hatte damit die
Vorform der Zikkurat geschaffen). In einer langgestreckten
Cella blickte das Gott-Idol von seinem Postament an der einen
zum Opfertisch an der anderen Schmalwand hinüber. Die
Traditionsfolge der Heiligtümer vo m Eridu-Typ reicht bis zur
Obed-Kultur im südlichen Irak, ehe dieser Typ sich um 4300 v.
Chr. über ganz Mesopotamien ausbreitet und damit zur Basis
sowohl der sumerischen als auch der nachfolgenden
- 210-
babylonischen Hochkultur wird (auf beide werde ich im
folgenden Kapitel näher eingehen). In Städten von vielen
tausend Einwohnern kam es zugleich zu jenen monumentalen
und
kolossalen
Gotteshäusern,
die
–
wohl
als
Halluzinationshilfen für jedermann auf Meilen im Umkreis –
fortan allenthalben das Stadtbild prägen und beherrschen sollten.
Selbst der Zeitgenosse der Moderne, steht er im Schatten eines
solchen künstlich angelegten Stufenbergs wie beispielsweise der
Zikkurat von Ur, die mit ihren Stufenrampen heute zwar nur
noch bis zur Hälfte ihrer ursprünglichen Höhe, doch noch immer
gewaltig über den ausgegrabenen Ruinen ihres ehemaligen
bikameralen Kulturzusammenhangs emporragt; und stellt er sich
dann die dreifach gestufte Tempelanlage vor, die sich dort ganz
oben einstmals in die Sonne reckte – dann fühlt sogar der
Zeitgenosse unserer Tage noch etwas von dem machtvollen
Bann, den eine solche Architektur allein durch sich selbst auf
die Geistesverfassung des Betrachters auszuüben vermag.
Die hethitische Variante
Im Zentrum ihrer Hauptstadt Hattusa (dem heutigen
Bogazköy) im zentralen Anatolien2 unterhielten die Hethiter vier
riesige Tempel, deren aus Granitsteinen gebautes Sanktuarium
die Außenmauern aus Kalkstein nach oben überragte, damit von
den Seiten her Licht nach innen auf mehrere monumentale
Götteridole fallen konnte.
Doch die Rolle einer Zikkurat – also einer hochgebauten
Tempelanlage, die überall, wo Arbeiter das Land bestellten, zu
2
Die Hethiter sind möglicherweise Vertreter einer Gruppe von
Nomadenstämmen, die die bikamerale Zivilisation von ihren Nachbarn
erlernten. Für die Zeit um 2100 v. Chr. verzeichnet die Archäologie auf dem
kappadozischen Hochland ein sprunghaftes Überhandnehmen von farbenfroh
dekorierter Keramik gegenüber der hier ursprünglich vertretenen einfarbig
glatten Keramik; man nimmt dies als Indiz für die Ankunft der Hethiter (sehr
wahrscheinlich aus den Steppen des südlichen Rußland).
- 211-
sehen war – spielte wohl das eindrucksvolle Felsheiligtum von
Yazilikaya, nicht weit außerhalb der Stadtmauern gelegen,
dessen Wände mit Götterreliefs übersät sind.; Daß die Berge
selber auf die Hethiter halluzinatorisch wirkten, geht hervor aus
den auf den Felswänden im Innern des Heiligtums noch deutlich
erkennbaren Reliefbildern mit den üblichen stereotypen
Umrißdarstellungen von Bergen, die gekrönt sind von
Götterhäuptern oder mit einem den Göttern vorbehaltenen
Kopfputz. Wie singt doch der Psalmist? »Ich hebe meine Augen
auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt« (121, I).
Auf der Ostwand des Felsenraums 3 in diesem Heiligtum
findet sich die Reliefdarstellung des Königs Tuthalija IV. in der
Staatsrobe. Ihm zur Seite steht, den König um mehr als
Kopflänge überragend und eine sehr viel höhere Krone als
dieser tragend, der Gott Šarruma. Den rechten Arm hält er
ausgestreckt, um dem König den Weg zu weisen, den linken hat
er um des Königs Schultern gelegt; die linke Hand des Gottes
hält das rechte Handgelenk des Königs fest umschlungen. Hier
haben wir das Sinnbild der bikameralen Psyche vor uns, wie es
sich treffender nicht denken läßt.
3
Gute Fotografien von Yamlikaya findet man in: Seton Lloyd, Early
Highland Peoples of Anatolia, New York: McGraw-Hill 1967 (Kap. 3). Eine
kommentierende Beschreibung enthält: Ekron Akurgal, Ancient Civilizations
and Ruins of Turkey, Istanbul 1969.
- 212-
Felsrelief in Yazihkaya aus der Zeit um 1250 v. Chr. Der Gott
arruma hält seinen Statthalter-König Tuthalija umarmt. Die
brezelförmige Hieroglyphe für »Gottheit« findet sich sowohl
an der Stelle des Kopfes in dem Ideogramm links oben als auch
an der Tiara des Gottes als ornamentales Muster. Auch im
Ideogramm des Königs oben rechts taucht es auf und bedeutet
nach meiner Überzeugung, daß auch der König per
Halluzination von seinen Untertanen »gehört« wurde.
Der Umstand, daß die Hethiter – als einziges Volk, soweit ich
sehe – Götterdarstellungen besitzen, die die Götter in langer
Reihe aufgestellt zeigen, scheint mir der Schlüssel zur Lösung
eines alten Problems der Hethiterforschung zu sein. Es betrifft
die korrekte Übersetzung des wichtigen Begriffs pankus.
Ursprünglich sahen die Gelehrten in ihm eine Bezeichnung für
die ganze Volksgemeinschaft, möglicherweise auch für eine Art
Nationalversammlung. Andere Texte machten die Korrektur
- 213-
dieser Auffassung erforderlich; danach verstand man das Wort
in der Bedeutung »Adelskaste« oder »Elitegemeinschaft«. Eine
weitere Möglichkeit besteht nun, wie ich meine, darin, daß es
auf die ganze vielköpfige Göttergemeinschaft verweist, zumal
auf jene exquisiten Momente, da sämtliche bikameralen
Stimmen sich in einhelliger Entscheidung zusammenfinden. Die
Tatsache, daß in den letzten rund hundert Jahren der
Hethiterherrschaft, also ungefähr von 1300 v. Chr. an, in keinem
einzigen Text mehr von der pankus die Rede ist, könnte auf ihr
kollektives Verstummen und den Beginn des turbulenten
Wandels zur Subjektivität hindeuten.
Olmeken und Maya
Kennzeichen der ältesten bikameralen Reiche in Amerika sind
ebenfalls solch riesengroße, in jeder sonstigen Hinsicht nutzlose
Bauwerke in zentraler Lage: die sonderbar unförmige
Olmekenpyramide in La Venta, aus der Zeit um 500 v. Chr.
datierend, mit ihrem Spalier von kleineren, mit rätselhaften
Mosaiken von Jaguarköpfen übersäten Erdauftürmungen; oder
die um 200 v. Chr. wie Pilze aus dem Boden schießenden
großen Tempelpyramiden. 4 Die größte von ihnen, die riesige
Sonnenpyramide in Teotihuacän (wörtlich übersetzt: »Ort der
Götter«); hat mehr Rauminhalt als die größte Pyramide
Ägyptens; sie hat eine Seitenlänge von 200 in an der Basis und
ist höher als ein zweiundzwanzigstöckiges Haus. 5 Die Kammer
des Gottes an ihrer Spitze war über ein System steiler Treppen
zugänglich. Und oben auf dieser Kammer, so will es die
Überlieferung, erhob sich ein gigantisches Standbild der Sonne.
4
Vgl. dazu C. A. Burland, The Gods of Mexico, London: Eyre &
Spottiswoode 1967; ferner G. H. S. Bushnell, The First Americans: The PreColumbian Civilizations, New York: McGraw-Hill 1968.
5
Aus nahezu drei Millionen Tonnen Lehmziegeln erbaut: eine gewaltige
Menge von Arbeitsstunden ... Zum Verständnis dieser Handarbeit (in
Mittelamerika war das Rad noch unbekannt) vgl. in diesem Buch S. 520 f.
- 214-
Zur Pyramide führte ein von anderen Pyramiden flankierter
Prozessionsweg, und auf Meilen im Umkreis sind auf dem
mexikanischen Hochland noch heute die Überreste einer großen
Stadt zu sehen: die Häuser der Priester, zahlreiche Innenhöfe
und kleinere Behausungen, die Wohnbauten allesamt
eingeschossig, so daß man von jedem Ort in der Stadt aus die
großen Wohnpyramiden der Götter sehen konnte. 6
Nach etwas späteren Anfängen, doch ansonsten zeitgleich mit
der Teotihuacän-Kultur entstehen auf der Halbinsel Yucatán
zahlreiche Maya-Städter mit erkennbar dem gleichen
bikameralen Anlageschema: Jede einzelne ist um steil
aufragende Pyramiden zentriert, die mit einem Gotteshaus
gekrönt sind und verziert mit Jaguarmasken vom Olmeken-Typ
sowie mit anderen Wanddekorationen und Reliefs, auf welchen
sich eine unerschöpfliche Vielfalt von Schlangen mit
menschlichen Gesichtern grimmig durch Ornamentendschungel
hindurchwindet. Außerordentlich interessant ist der Umstand,
daß einige der Pyramiden wie in Ägypten Gräber enthalten, was
auf eine Phase des Gottkönigtums hindeuten könnte. Vor den
Maya-Pyramiden stehen gewöhnlich Stelen mit eingemeißelten
Götterbildern oder Inschriften in einer Hieroglyphenschrift, die
noch längst nicht vollständig entschlüsselt ist7 . Da diese
Schriftart immer im Zusammenhang mit den religiösen
Vorstellungen der jeweiligen Benutzer steht, scheint es nicht
ausgeschlossen, daß die Hypothese von der bikameralen Psyche
mit dazu beitragen könnte, ihre Geheimnisse zu enträtseln.
Maya-Städte findet man sonderbarerweise häufig in recht
unwirtlicher Umgebung, wo sie ebenso unvermittelt gegründet
6
Vgl. S. Linne, Archaeological Researches at Teotihuacan, Mexiko,
Stockholm: Ethnographic Museum of Sweden 1934; ferner Miguel
Covarrubias, Indian Art of Mexico and Central America, New York: Knopf
1957.
7
Vgl. Victor W. von Hagen, Die Kultur der Maya, Hamburg, Wien: Paul
Zsolnay 1960.
- 215-
wie abrupt wieder aufgegeben wurden. Auch dafür ergibt sich
meiner Meinung nach die beste Erklärung, wenn man annimmt,
daß derlei Gründungen und Auszüge auf den Befehlen der
Halluzinationen beruhten, die sich in bestimmten Epochen nicht
nur reichlich sprunghaft verhalten konnten, sondern auch
regelrechte Selbstbestrafungsaktionen verordneten – wie Jahwe
das zuweilen seinem Volk gegenüber tat oder Apollon (durch
den Mund des Delphischen Orakels) gegenüber dem seinen,
etwa wenn er sich auf die Seite von Invasoren schlug (vgl.
weiter unten, Drittes Buch, Erstes und Zweites Kapitel sowie
Fußnote Seite 424).
Gelegentlich kommt es sogar zur Verbildlichung des
bikameralen Geschehens. Eine solche liegt ganz klar vor auf
zwei Reliefsteinen aus Santa Lucia Cotzumalhaupa, einem nicht
zur Maya-Kultur gehörenden Ruinenplatz im pazifischen
Tiefland von Guatemala. Die Reliefdarstellung zeigt einen in
Prostrationshaltung – die Stirn am Boden, die Arme ausgebreitet
– vor zwei Göttergestalten, die zu ihm sprechen, im Gras
knienden Mann; eine dieser Gestalten ist halb Mensch, halb
Hirsch, die andere eine Verkörperung des Todes. Daß es sich bei
der Szene um eine direkte Wiedergabe von aktualem Erleben im
bikameralen Seelenzustand handelt, leuchtet vollends ein,
sobald man Gelegenheit hat, in derselben Region die
sogenannten chilanes oder Wahrsager von heute zu beobachten.
Wie eh und je halluzinieren sie Stimmen in exakt der gleichen
Haltung, wenngleich man vielfach die Meinung vertreten findet,
daß in unserer Zeit der halluzinogenen Trance mit Meskalin
(Peyote) kräftig nachgeholfen wird. 8
8
J. Erik S. Thompson, Maya History and Religion, Normani University of
Oklahoma Press 1970, S. 186. Übrigens kam Peyote bei den meisten
mittelamerikanischen Indianervölkern in Gebrauch, als ihre Bikameralität zu
versagen begann. Eine Ausnahme bilden die Maya, das Volk, das als einziges
eine Schrift besaß. Wäre es nicht möglich, daß (Fortsetzung nächste Seite)
- 216-
Andenkulturen
Von den Hochkulturen in den Anden, die dem Inkareich
vorausgingen, ein halbes Dutzend an der Zahl, sind unter dem
Gestrüpp der Zeit noch weniger Spuren aufzufinden. 9 Die älteste
ist bezeugt durch den Ruinenplatz Kotos. Er stammt aus einer
Zeit vor 1800 v. Chr.; den Mittelpunkt der Anlage bildet ein
rechteckiges Gotteshaus, errichtet auf einem 7,5 in hohen
Stufenunterbau auf einem mächtigen Erdhügel, auf dem sich
ringsum Reste noch weiterer Bauwerke finden. Alle Innenwände
hatten jeweils mehrere hohe Nischen; in einer davon fand man
die Gipsplastik eines verschränkten Händepaars – wohl ehemals
Teil von einem größeren Idol, das inzwischen zu Staub zerfallen
ist. Die Ähnlichkeit mit dem fünftausend Jahre älteren
Heiligtum in Jericho ist unübersehbar.
Während Kotos möglicherweise von Auswanderern aus
Mexiko ins Leben gerufen wurde, zeigt die nächstfolgende
Hochkultur, der etwa um 1200 v. Chr. beginnende sogenannte
Chavin-Horizont, ausgeprägt olmekische Züge: im Maisanbau,
in bestimmten charakteristischen Einzelheiten der Keramik und
im Jaguar als Mittelpunkt des religiösen Kultes und
dementsprechend als vorherrschendes bildnerisches Motiv. In
Chavin selbst (im Tal des Mozna im nördlichen Hochland
gelegen) beherbergt ein großer kastenförmiger, von
Mauerdurchbrüchen wabenartig überzogener Tempel ein
imposantes Idol in Gestalt eines prismatisch geformten
Granitblocks, mit Basrelief überzogen, so daß er einen
Menschenkörper mit Jaguarkopf darstellt.10 Die nachfolgende
»Lesen« bzw. Halluzinieren anhand von Schriftzeichen für die Maya die
gleiche Funktion hatte wie das halluzinogene Peyote für andere Völker?
9
Das ist zum Teil auf den Umstand zurückzuführen, daß jede neue
bikamerale Zivilisation in einer Region dazu tendiert, die Spuren ihrer
Vorgängerin auszulöschen. Bikamerale Götter sind eifersüchtige Götter.
10
Die unmittelbar anschließende Paracas-Kultur (ca. 400 v. Chr. ca. 400 n.
Chr.) bildet eine rätselhafte Anomalie. Sie (Fortsetzung nächste Seite)
- 217-
Hochkultur – das Reich der Mochica 11 II in Nordperu (400 n.
Chr.-1000 n. Chr.) errichtete ihren Göttern gewaltige
Pyramiden; sie erheben sich nahe außerhalb von
Einfriedungsmauern, hinter denen vermutlich die Städte la gen –
wie heute noch im Chicamatal bei Trujillo zu sehen. 12
Dann folgte im kahlen Hochland unweit des Titicacasees das
große Reich von Tihuanaco (1000-1300 n. Chr.) mit einer noch
gewaltigeren steinverkleideten Pyramide, um und um mit
riesigen pflasterähnlichen Relieffiguren von Göttern verziert, die
aus ihren Geier- und Schlangenköpfen (warum?) Tränen
vergießen. 13
Dann kommen die Chimú, und mit ihnen wird alles noch um
eine Dimension größer. Die Hauptstadt ihres Reiches, Chanchn,
bedeckte 28 Quadratkilometer und war mit Mauern in zehn
Areale unterteilt, jedes von ihnen in sich selber eine kleine Stadt
mit eigener Pyramide, eigenem palastähnlichem Gebäude,
eigenen
Bewässerungsanlagen,
Wasserspeichern
und
Friedhöfen. Was genau die Existenz solcher durch Mauern
abgegrenzter benachbarter Stadtbezirke im Licht der
hinterließ keinerlei Bauwerke, sondern lediglich rund 900 farbenfroh
gewandete Mumien in tief unter der Erdoberfläche gelegenen Höhlen auf der
Halbinsel Paracas.
11
Wie man es heute nennt. Bei all diesen alten Kulturen haben wir natürlich
keine Ahnung, wie sie sich selber genannt haben.
12
Auf Luftaufnahmen ähneln ihre Städte den mesopotamischen der
bikameralen Periode. Zur gleichen Zeit existierten nach Süden hin noch
andere Kulturen, so z. B. die Ica-Nazca-Kultur. Von ihr ist freilich wenig
übriggeblieben außer den rätselhaften Linien und Figuren, die sich zuweilen
kilometerweit über die Länge der Nazca-Trockentäler erstrecken, und
riesenhafte Umrißzeichnungen von Vögeln und Insekten mit Tausenden von
Quadratmetern Flächeninhalt, für die kein Mensch eine Erklärung weiß.
13
Um 1300 n. Chr. so schnell und vollständig zusammengebrochen –
möglicherweise infolge Übervölkerung (vgl. Zweites Buch, Drittes Kapitel
bezügl. Der Gründe für die Instabilität bikameraler Königtümer) – daß 250
Jahre später, nach der Invasion der Europäer, auch nicht mehr die geringste
Kunde von diesem Reich existierte.
- 218-
Bikameralitätshypothese
zu
bedeuten
hat,
ist
hochinteressantes Problem für zukünftige Forschungen.
ein
Das Goldreich der Inka
Zuletzt dann die Inka, wie eine Synthese aus Ägypten und
Assyrien. Auf jeden Fall zu Beginn ihrer Machtentfaltung dürfte
ihre Herrschaft den Gottkönig- Typus der bikameralen
Monarchie verkörpert haben. Doch binnen eines Jahrhunderts
hatten die Inka sämtliche bereits existierenden Reiche dem ihren
unterworfen und damit vielleicht, wie zu anderer Zeit und in
anderen Breiten die Assyrer, ihre Bikameralität selber
aufgeweicht.
Die sozialen Gegebenheiten im Inkareich zur Zeit seiner
Eroberung durch Pizarro könnte man vielleicht als eine
Kombination aus Bikameralität und Proto-Subjektivität
beschreiben. Das Zusammentreffen der zwei Mentalitäten war
wohl nur noch einen Schritt entfernt von jener Kraftprobe, von
der das vorliegende Buch handelt. Die Kraft der Subjektivität
erwuchs aus den riesenhaften Dimensionen des Imperiums; denn
bringt man die sowohl horizontale wie vertikale Mobilität in
Anschlag, für die die effiziente Verwaltung eines Reichs von
solcher Größe heute schlicht Voraussetzung ist, 14 so ist leicht zu
sehen; daß der Inkastaat auf bikamerale Weise allein kaum noch
regierbar gewesen wäre. Glaubt man den – freilich auf
Hörensagen beruhenden – überlieferten Berichten, dann durften
die Häuptlinge der unterworfenen Völker Amt und Titel weiter
führen, mußten jedoch ihre Söhne zur Erziehung – und
vermutlich auch als Geiseln – nach Cuzco an den Hof des Inka
schicken, ein Schema, das die Grenzen des bikameralen Geistes
doch wohl überschritt. Offenbar durften die unterworfenen
14
J. H. Rowe, Inca Culture at the Time of the Spanish Conquest, in: J. H.
Steward, Handbook of South American Indians, Bd. 2, Washington, D. C.
1946-1950.
- 219-
Völker auch ihre Sprache behalten, wenngleich Amtsträger die
Kultsprache, das Quechua, erlernen mußten.
Demgegenüber gab es in der Staatsorganisation eine große
Zahl von Eigenheiten, die zweifellos bikameralen Ursprungs
waren, auch wenn für einen Teil von ihnen mit der
explosionsartigen Entwicklung des hoch gelegenen kleinen
Stadtstaats Cuzco zu einer Art Imperium Roma num der Anden
die Raison d’etre mehr und mehr zur bloßen Trägheitskraft der
Tradition verkümmern sollte. Der Inka selbst war der Gottkönig:
In diesem Punkt glich das Bild so sehr den Verhältnissen im
Alten Ägypten, daß die weniger konservativen unter den
Geschichtsschreibern des Alten Amerika zu der Überzeugung
gelangten, hier müsse auf irgendeine Weise kulturelle Diffusion
mit im Spiel sein. Ich meine jedoch, daß unter den
vorgegebenen Rahmenbedingungen von »Mensch«, »Sprache«
und »Kommunalorganisation auf bikameraler Basis«
historisches Geschehen allüberall nur ganz bestimmten
wohlumschriebenen Mustern folgen kann.
Der König war aus göttlichem Geschlecht, ein Abkömmling
der Sonne, ein Schöpfergott des Bodens und der Erde, des
Schweißes der Sonne (Gold) und der Tränen des Mondes
(Silber). Sein Anblick vermochte selbst die Großen seines
Reiches in solche Ehrfurchtschauer zu versetzen, daß sie
förmlich von den Füßen gerissen wurden15 – in eine numinose
Ehrfurcht, wie sie für die Psychologie unserer Tage Schlichtweg
unbegreiflich ist. Das Alltagsleben des Königs war ein einziges
ausgefeiltes Ritual. Auf seinen Schultern ruhte ein Umhang, der
gesteppt war aus den Flügeln frisch erlegter Fledermäuse; sein
Haupt war von einer Franse aus roten Troddeln umgeben, die
wie ein Vorhang vor seinem Gesicht hing, als solle sie die
15
Nach einem Bericht von Pedro Pizarro, einem Vetter des Konquistadors,
zitiert in: Victor W. von Hagen, Das Reich der Inka, Hamburg, Wien: Paul
Zsolnay 1958, S. 141.
- 220-
Seigneurs in seiner Umgebung vor dem übergroßen Grauen
bewahren, das mit einem unbedachten Blick in dieses für
Menschenaugen nicht gemachte Götterantlitz verbunden wäre.
Wenn der Inka starb, ergaben sich sein Harem und seine
Leibdienerschaft einem Zech- und Tanzgelage, auf dessen
Höhepunkt sie hingemetzelt wurden, um ihren Herrn auf seiner
Reise zur Sonne zu begleiten: ein Brauch, der zuvor schon in
Ägypten, Ur und China existiert hatte. Der Leichnam des Inka
wurde einbalsamiert und die Mumie in seiner Residenz bestattet,
die fortan als Tempel galt. Man fertigte ein lebensgroßes
Standbild des Inka aus Gold, das ihn auf seinem goldenen
Thronsessel sitzend wie zu Lebzeiten zeigte, und wie in den
Königtümern des Vorderen Orients wurden der Statue täglich
frische Speisen dargeboten.
Nun ist es zwar denkbar, daß im sechzehnten Jahrhundert der
Inka mitsamt seiner Aristokratenkaste nur mehr schauspielerisch
ein bikamerales Rollenpensum absolvierte, das in einem sehr
viel früheren, echt bikameralen Stadium der Herrschaft
festgeschrieben worden war – genauso wie das wohl der Kaiser
Hirohito, der erhabene Sonnengott Japans, heutigentags noch
tut. Indes, nimmt man alles zusammen, was wir über die
Inkakultur wissen, zeigt sich doch, daß man es sich mit dieser
Erklärung allzu einfach machen würde. Je näher im Umkreis des
Inka die Stellung einer Person zum Mittelpunkt war, desto
deutlicher herrschte in ihrer Geistesverfassung das bikamerale
Moment vor. Noch die Ohrstecker aus Gold und Edelsteinen,
zuweilen mit Darstellungen der Sonne, die die Spitzen der
Gesellschaft, der Inka selber eingeschlossen, trugen, hatten wohl
nichts anderes zu bedeuten, als daß die dergestalt
ausgezeichneten Ohren die Stimme der göttlichen Sonne
vernahmen.
Am bezeichnendsten in dieser Hinsicht ist jedoch zweifellos
- 221-
die Art und Weise, in der dieses Riesenreich erobert wurde.16
Die arglossanftmütige Kapitulation der Ureinwohner vor den
europäischen Invasoren ist für alle, die sich mit der Entdeckung
und Eroberung Amerikas beschäftigen, seit langem das in
diesem Zusammenhang rätselhafteste Phänomen. Das Faktum
als solches liegt klar zutage, doch das Warum und Weshalb ist
in den Berichten darüber von Vermutungen und Vorurteilen
getrübt, die bereits mit den ersten Berichten der abergläubischen
Konquistadoren beginnen. Wie war es möglich, daß ein Reich,
dessen Truppen die Kulturen eines halben Kontinents
unterworfen hatten, in den Nachmittagsstunden des 16.
November des Jahres 1532 zur Beute einer Rotte von nicht mehr
als rund 150 Spaniern wurde?
Wäre denn nicht folgende Erklärung möglich? Es handelte
sich um eine der seltenen direkten Konfrontationen zwischen
Vertretern des subjektiven Geistes einerseits und der
bikameralen Psyche andererseits. Und zu all dem fremdartig
Neuen, dem Inka Atahualpa sich hier gegenübersah –
raubbeinige Männer mit einer Haut wie Milch und Haaren, die
sich vom Kinn statt vom Scheitel abwärts kräuselten, so daß ihre
Köpfe wie umgekehrt aufgesetzt aussahen, Männer in
metallenen Gewändern, mit flackernden Augen, auf seltsamen,
lamaähnlichen Kreaturen mit silbrig glänzenden Hufen
einherreitend, Männer, die in gewaltig großen, wie
Mochicatempel gestuften künstlichen Bergen über das für InkaUntertanen unbefahrbare Meer gekommen waren wie Götter –
zu alldem blieben die bikameralen Stimmen, die sonst von der
Sonne oder von den goldenen Statuen in den gleißenden Türmen
von Cuzco kamen, sprachlos und stumm. Des subjektiven
Bewußtseins nicht teilhaftig, der Heimtücke nicht fähig und
ebenso unfähig, sich die Heimtücke anderer narrativ zu
16
Eine detailgenaue und trotzdem lesbare Darstellung gibt John Hemming,
The Conquest of the Incas, New York: Harcourt Brace Jovanovich 1970.
- 222-
vergegenwärtigen, 17 wurden der Inka und seine Magnaten wie
wehrlose Puppen überwunden. Vor den Augen des antriebslos
erstarrten Volkes beraubte dieser Schiffsbauch voll subjektivbewußter Männer die heilige Stadt ihrer Goldverkleidungen,
schmolz die goldenen Bildwerke und alle Schätze des Goldenen
Bezirks ein – die goldenen Maisfelder mit kunstvoll
goldgefertigten Kolben, Blättern und Stengeln –, ermordete den
leibhaftigen Gott samt seinen Prinzen, schändete die
widerstandslosen Frauen, und seine Zukunft in Spanien
narrativierend vorwegnehmend, segelte er mit dem gelben
Metall auf und davon, zurück in jenes System subjektiv
bewußter Werte, aus dem er gekommen war.
Von ‘Aïn Mallaha bis hierher ist eine lange Strecke.
DIE LEBENDEN TOTEN
Die Leichen wichtiger Personen so zu bestatten, als ob diese
noch am Leben wären, ist in sämtlichen dieser alten Kulturen,
deren Baustil wir soeben genauerer Betrachtung unterzogen
haben, eine weltverbreitete Praxis. Der Brauch läßt sich
stichhaltig nicht erklären, es sei denn, man nimmt an, daß die
Stimmen der Toten noch über das Grab hinaus von den
Lebenden vernommen wurden – und womöglich sogar selbst
eine derartige Unterbringung forderten. Wie in den Abschnitten
über ‘Aïn Mallaha bereits ausgeführt (Erstes Buch; Sechstes
Kapitel), waren jene auf einem Pfühl von Steinen gelagerten
toten Könige, deren Stimmen die Halluzinationen der Lebenden
beherrschten, die ersten Götter.
Während sich diese Frühkulturen dann zu bikameralen
Königtümern fortentwickeln, füllen sich die Gräber ihrer
Honoratioren
mehr
und
mehr
mit
Waffen,
17
In Cuzco gab es weder Diebe noch Türen: Zwei kreuzweise vor einen
Hauseingang gelegte Stäbe signalisierten, daß niemand zu Hause war, und
kein Fremder hätte auf dieses Zeichen hin das Haus betreten.
- 223-
Ausrüstungsgegenständen, Schmuck und vor allem mit
Essensgefäßen. Das gilt für die frühesten Kammergräber im
gesamten Europa und Asien ab 7000 v. Chr. und wird mit
zunehmendem Umfang und wachsender Komplexität der
bikameralen Staatsorganisationen zu unerhörten Graden
ausgebaut. Allgemein bekannt sind die Prachtgräber der
ägyptischen Pharaonen in einer regelrechten Geschlechterfolge
von Pyramiden (mehr darüber im folgenden Kapitel). Doch
ähnliche,
sei’s
auch
weniger
ehrfurchtgebietende,
Bestattungsformen trifft man auch andernorts. Während der
»frühdynastischen« Zeit in der ersten Hälfte des dritten
Jahrtausends v. Chr. wurden die Könige von Ur mit ihrem
gesamten Anha ng bestattet, wobei die Gefolgsleute – in
manchen Fällen noch lebend – in kauernder Stellung wie zum
Dienst bereit um ihren Herrn herum postiert wurden. Achtzehn
solcher Gräber hat man bisher entdeckt, die in unterirdischen
Gewölben Speise und Trank, Kleider, Geschmeide, Waffen, aus
Stierköpfen geformte Lyren, ja sogar Triumphwagen mit
geopferten
Zugtieren
als
Gespann
enthielten. 18
Dienerbeisetzungen (aus etwas späteren Perioden) sind auch aus
Kiš und Aššur bekannt. Im anatolischen Alaca Hüyük waren die
Königsgräber mit ganzen gebratenen Ochsen bedeckt, damit die
reglosen Bewohner auch im Nachleben nicht Hunger zu leiden
brauchten.
In vielen Kulturen wird selbst der gemeine Mann nach seinem
Tod noch wie ein Lebender behandelt. Die allerältesten dem
Thema Beisetzung gewidmeten Inschriften sind Listen der
monatlichen Bier- und Brotrationen, die den Toten des
einfachen Volks zustehen. Um 2500 v. Chr. erhielt ein
Dahingegangener in Lagas 7 Krüge Bier, 420 flache Brote, 2
Scheffel Korn, 1 Gewand, 1 Kopfstütze sowie 1 Bett mit ins
18
Vgl. C. L. Woolley, Ur Excavations, Bd. z, London u. Philadelphia 1934.
- 224-
Grab. 19 In einigen frühgriechischen Gräbern hat man nicht nur
das vielfältige Zubehör des täglichen Lebens gefunden, sondern
sage und schreibe auch Sonden für künstliche Ernährung, was
doch wohl nichts anderes bedeutet, als daß die archaischen
Griechen Suppen und Brühen in die fahlen Kinnbacken des
modernden Leichnams einfüllten. 20 Und im Metropolitan
Museum in New York ist (als Inventarstück Nr. 14. 130. 15) ein
bemalter Krater oder Mischkrug zu besichtigen, auf dem ein
Knabe mit der einen Hand sich offenbar die Haare rauft,
während er mit der anderen Speise in den Mund eines
Leichnams stopft (bei dem es sich vermutlich um den seiner
Mutter handelt). Darauf kann man sich nur schwer einen Reim
machen, solange man nicht annimmt, daß der Fütternd e zugleich
in halluzinatorischem Kontakt mit der Leiche steht.
Das Material über die Kulturen im Indus-Tal21 ist dünner
gesät: Sämtliche Papyrusschriften sind ein Opfer der Fäulnis
geworden, über sonstigen Zeugnissen ruhen Schichten von
Alluvialanschwemmungen, und zu alldem ist die Region
archäologisch noch keineswegs ausreichend erforscht. Doch
soweit dies geschehen ist, fand man auf den Ausgrabungsstätten
im Indus- Tal den Totenacker häufig an hoch gelegenem Ort
nächst der Zitadelle und fünfzehn bis zwanzig Töpfe mit
Speisen als Beigabe bei jeder Leiche – was wiederum
übereinstimmt mit der Hypothese, daß man die Toten zum
Zeitpunkt der Bestattung noch als lebendig empfand. Die
19
Wie König Urukagina von Lagas, der diese Mengen später um einiges
herabsetzte, uns auf einem Kegel belehrt. Vgl. Alexander Heidel, The
Gilgamesh Epic and Old Testament Parallels, Chicago: University of
Chicago Press 1949, S. 151.
20
E. R. Dodds, The Greeks and the Irrational, Berkeley: University of
California Press 1968.
21
Sir Mortimer Wheeler, Civilizations of the Indus Valley and Beyond, New
York: McGraw-Hill 1966; ausführlicher: ders., The Indus Civilizations (=
The Cambridge History of India, Erg.-Bd.), Cambridge: Cambridge
University Press 1960.
- 225-
neolithische Yangshao-Kultur in China 22 , für die bislang noch
keinerlei chronologische Daten fixiert werden konnten (außer
als Terminus ante quem die Mitte des zweiten Jahrtausends v.
Chr.), beerdigte ihre Toten in mit Holz verschalten Gräbern und
gab ihnen Töpfe mit Speisen und Steingeräte mit. Um 1200 v.
Chr. dann weist die Shang-Dynastie Königsgräber mit
Menschen- und Tieropfern auf; die Ähnlichkeit mit den um ein
Jahrtausend älteren Grabfunden in Mesopotamien und Ägypten
ist so frappant, daß einige Gelehrte zu der Überzeugung kamen,
die Zivilisation sei vom Westen her auf dem Weg der Diffusion
nach China gelangt. 23
Ähnlich waren in Mittelamerika die Olmekengräber der Zeit
800-300 v. Chr. reichlich mit Töpfen voll Speisen versehen. In
den Maya-Königtümern wurden die Toten des Adels so
bestattet, als ob sie auf den Tempelplätzen weiterlebten. Ein
Häuptlingsgrab, das kürzlich unter einem Tempel in Palenque
entdeckt wurde, kann es an prachtvoller Ausgestaltung mit
jedem Gegenstück in der Alten Welt aufnehmen. 24 In
Kammaljuyu, einer Stätte aus der Zeit um 500 n. Chr., war ein
Häuptling in Gesellschaft zweier Jünglinge, eines Kindes und
eines Hundes begraben. Angehörige des gewöhnlichen Volks
begrub man mit dem Mund voll gestampfter Maiskörner im
Lehmboden ihrer Behausungen zusammen mit ihren Waffen und
Gerätschaften sowie mit Töpfen, angefüllt mit Speis und Trank,
22
Vgl. William Watson, Early Civilizations in China, New York: McGrawHill 1966; ferner Chang Kwang-Chih, The Archaeology of Ancient China,
New Haven: Yale University Press 1963.
23
Wagenbegräbnisse, die alles enthalten bis hin zu getöteten Pferden und
Wagenlenkern, breiten sich zum Ende der Shang-Zeit (in. Jh. v. Chr.) hin
immer mehr aus; die Sitte überdauert bis in die Chou-Zeit (8. Jh. v. Chr.) und
stirbt dann aus. Wie kommt es zu so etwas? Ist denn nicht die einzig
mögliche Erklärung die, daß man glaubte, die Könige seien noch am Leben
und benötigten daher weiterhin ihre Wagen und ihr Personal? Und daß man
dies glaubte, weil man sie noch reden hörte?
24
von Hagen, Die Kultur der Maya (vgl. Fußnote auf Seite 193), S. 143.
- 226-
genau wie in früheren Kulturen auf der anderen Seite des
Ozeans. Zu erwähnen sind ferner die Porträtskulpturen von
Yucatán, die als Urnen für die Asche abgeschiedener Häuptlinge
dienten; die Schädelabgüsse von Mayapan; sowie im
Andenhochland die kleinen Katakomben, in denen Leute des
gemeinen Volks in Sitzhaltung gefesselt, umringt von Schalen
mit chicha und den Dingen und Gerätschaften, die sie im Leben
benutzt hatten, bestattet wurden. 25 Die Toten wurden alsdann
huaca, gottgleich, gena nnt, was, ich als weiteres Indiz dafür
werte, daß man sie als die Quellen halluzinierter Stimmen
identifizierte. Und wenn die Konquistadoren berichten, daß nach
Meinung der Eingeborenen jenes Landes ein Mensch erst lange
nach seinem Tod »stirbt«, dann sche int mir das nur so zu
verstehen, daß es eben so lange dauerte, bis die halluzinierte
Stimme dieses Menschen schließlich verstummte.
Daß die Götter ursprünglich nichts anderes als die Toten
waren, erhellt auch aus den Schriftzeugnissen derjenigen
bikamerale n Kulturen, die eine Schrift entwickelten. In einem
zweisprachigen Beschwörungstext aus Assyrien werden die
Toten unumwunden als Ilani, Götter, apostrophiert. 26 Und drei
Jahrtausende später notierte Sahagun in einem der frühesten
Berichte über Land und Leut e Mittelamerikas: die Azteken
»nannten den Ort Teotihuacan, d. h. Grabstätte der Könige; die
Alten sagten: der Verstorbene ist zum Gott geworden; oder sagte
jemand: er ist zum Gott geworden, so sollte das heißen: er ist
gestorben«. 27
Noch in der Epoche des Bewußtseins kannte man die
Überlieferung, daß Götter in grauer Vorzeit verstorbene
Menschen waren. Hesiod weiß von einem goldenen
Menschengeschlecht, das dem eisernen seines eigenen Zeitalters
25
von Hagen, Das Reich der Inka (vgl. Fußnote auf Seite 197), S. 137.
Heidel, a.a.O. (vgl. Fußnote auf Seite 201), S. 153, 196.
27
Zitiert bei Covarrubias (vgl. Fußnote auf Seite 193), S. 123.
26
- 227-
vorausging; und wenn von diesem Geschlecht irgendwelche
gestorben sind, »werden sie fromme Dämonen der oberen Erde
genennet, Gute, des Wehs Abwehrer, der sterblichen Menschen
Behüter«. 28 Noch vier Jahrhunderte später ist diese Vorstellung
den Griechen geläufig: Platon zum Beispiel zitiert sie sowohl in
der »Politeia« (469A) wie im »Kratylos« (398).
Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, als seien Töpfe mit
Essen und Getränken in ausnahmslos allen Gräbern der
genannten Kulturen und Regionen anzutreffen; ich sage nur:
Grabbeigaben dieser Art sind im bezeichneten Rahmen weit
verbreitet. Und häufig ist es sogar so, daß Ausnahmen die Regel
bestätigen. So zum Beispiel war Sir Leonard Woolley bei der
Ausgrabung der (in die Zeit um 1900 v. Chr. datierenden)
Privatgräber im mesopotamischen Larsa zunächst überrascht
und enttäuscht angesichts der Armseligkeit dessen, was sie
enthielten. Selbst mit großem Konstruktionsaufwand gebaute
Gewölbe hatten an Beigaben nichts weiter aufzuweisen als etwa
ein paar irdene Gefäße hinter der Tür der Grabkammer, jedoch
keinerlei Ausstattung der Art, wie man sie von anderweitigen
Grabfunden kannte. Die Erklärung dafür lag auf der Hand,
sobald er sich vor Augen hielt, daß diese Gräber sämtlich
jeweils unter Wohnstätten angelegt waren: Der Tote der
altbabylonischen Epoche brauchte keine Ausstattung oder
größere Essensvorräte als Grabbeigaben, da ihm ja alles in dem
Haus über seinem Kopf zur Verfügung stand. Essen und
Getränk nahe der Kammertür dürften wohl so etwas wie eine
Erste-Hilfe-Maßnahme für den Dringlichkeitsfall großen
Hungers dargestellt haben, damit der Tote, falls ihn das
Bedürfnis nach »geselligem Beisammensein« mit der Familie
ankam, sich gut gelaunt zeigte.
Von Mesopotamien bis Peru sind also für die Hochkulturen
zumindest
auf
einer
Etappe
ihrer
Entwicklung
28
Hesiod, Werke und Tage, 120-121.
- 228-
Bestattungsgepflogenheiten, kennzeichnend, die den Toten
behandeln, als würde er noch weiterleben. Und soweit
Schriftzeugnisse vorliegen, bekunden sie, daß die Toten häufig
als Götter bezeichnet wurden. Das mindeste, was sich dazu
bemerken läßt, ist, daß es der Hypothese vom Überdauern der
Stimmen der Toten in den Halluzinationen der Lebenden nicht
widerspricht.
Indes, ist die Annahme eines Zusammenhangs zwischen
Totenkult und Stimmhalluzinationen zwingend? Könnte es nicht
einfach so sein, daß der Grund für die geschilderten Bräuche in
bloßer Trauer zu suchen ist – in einer Art Weigerung, sich mit
dem Tod eines geliebten Menschen oder eines verehrten Führers
abzufinden, die dazu führt, daß man dem Toten, gleichsam als
Zeichen der Liebe und Zuneigung, den Namen »Gott« beilegt?
Immerhin eine denkbare Erklärung. Sie ist jedoch zu schwach,
um dem Gesamtbild, zu dem sich die Befunde zusammenfügen,
gerecht werden zu können: Sie erklärt nicht die Ubiquität des
einheitlichen Musters, Tote als Götter zu betiteln, in weit
auseinanderliegenden Weltteilen; nicht das Gigantische mancher
kultischen Veranstaltungen, etwa der Pyramidenbauten; und
noch nicht einmal, wieso wir in Volksglauben und Literatur
noch heute auf dis Spur von Geistern treffen, die mit
Botschaften für die Lebenden aus ihren Gräbern zurückkehren.
SPRECHENDE IDOLE
Eine dritte Eigenheit der frühen Hochkulturen, die im
Zusammenhang der Bikameralitätshypothese für mich
Beweiswert hat, ist die gewaltige Anzahl und Vielfalt plastischer
Menschendarstellungen sowie die unverkennbar zentrale Ro lle,
die sie im Alltag des Altertums spielen. Als deren Vorform
haben ohne Zweifel die bereits erwähnten aufgestützten
Leichname von Stammesführern und nachbehandelten Schädel
zu gelten. Davon ausgehend folgte eine erstaunliche
Entwicklung der Menschenplastik. Deren unverkennbare
- 229-
Wichtigkeit im jeweiligen kulturellen Rahmen ist schwerlich zu
verstehen ohne die Annahme, daß sie als Hilfsmittel bei der
Erzeugung von Stimmhalluzinationen dienten. Dies ist jedoch
alles andere als eine einfache Angelegenheit, und die
erschöpfende Erklärung dürfte wohl ein Geflecht durchaus
unterschiedlicher Prinzipien in sich fassen.
Statuetten
Die kleinsten dieser Plastiken sind Statuetten, wie sie in fast
allen alten Königtümern von den ersten menschlichen
Dauersiedlungen an gefunden wurden. Im siebenten und
sechsten Jahrtausend v. Chr. sind sie äußerst primitiver Machart
– kleine Steine mit eingeritzten Gesichtszügen oder groteske
Tonfiguren. Daß sie im Kulturzusammenhang etwa um 5600 v.
Chr. eine wichtige Rolle spielten, belegen die Ausgrabungen in
Hacilar in der südwestlichen Türkei. Flache weibliche
Standbilder aus gebrannter Erde oder aus Stein, Augen, Nase,
Haar und Kinn auf der Oberfläche eingeritzt, waren in jedem
Haus zu finden29 – ich würde sagen: geradeso, als seien sie die
halluzinatorischen Überwacher der Bewohner. In den Amrahund Gerzeh-Kulturen Ägyptens (um 3600 v. Chr.) hatte man auf
Stoßzähne geschnitzte bärtige Köpfe mit konzentrischen Ringen
als Augen, das Ganze jeweils 15-20 Zentimeter lang und in die
Hand passend. 30 Und ihnen kam solche Bedeutung zu, daß man
sie nach dem Tod ihres Besitzers in seinem Grab aufstellte.
29
Mellaart, a. a. O. (vgl. Fußnote auf Seite 187), S. 106; vgl. ferner Clark &
Piggott, a. a. O. (vgl. Fußnote auf Seite 187), S. 204.
30
Vgl. Flinders Petrie, Prehistoric Egypt, London: British School of
Archaeology in Egypt 1920, S. 27 u. 36. Selbst Götter werden zuweilen mit
Handidolen in der Hand dargestellt. Ein Beispiel aus Anatolien findet man in:
Seton Lloyd, a. a. O. (vgl. Fußnote auf Seite 190), S. 51; ein Beispiel aus der
Maya-Kultur in: A.P. Maudslay, Archaeology in Biologia CentraliAmericana, New York: Arte Primitivo 1975, Bd. 2, Tafel 36 (Stele F,
Nordseite).
- 230-
In den meisten Zentren mesopotamischer Hochkulturen
wurden Statuetten in gewaltigen Mengen ausgegraben, so in
Lagaš, Uruk, Nippur und Susa. 31 In Ur fand man, jeweils an der
Wand im Zimmerboden vergraben, kastenartige Verschalungen
aus gebrannten Ziegeln, die schwarz und rot bemalte Tonfiguren
enthielten, doch war eine Wand der Verschalung weggelassen,
so daß sie zur Mitte des Raums hin offenstand.
Indes, was genau die Funktion all dieser Statuetten war, zählt
nicht zu den geringsten Rätseln der an Rätseln nicht armen
Archäologie. Die geläufigste Ansicht zu dieser Frage verdankt
sich dem kritiklosen Eifer, mit dem die Ethnologen im Anschluß
an Frazer Fruchtbarkeitsriten aus jedem zerkratzten Kieselstein
herauslasen. Wenn die Statuetten jedoch irgend etwas mit
Fruchtbarkeitskulten im Frazerschen Sinn zu tun hätten, dürften
wir sie nicht an Orten finden, wo es mit der Fruchtbarkeit
keinerlei Probleme gab. So ist es aber nicht. Die Kultur der
Olmeken im fruchtbarsten Landstrich von Mexiko hat eine
erstaunliche Vielfalt solcher Statuetten, häufig mit
aufgesperrtem Mund und übertrieben großen Ohren – exakt wie
man es erwarten würde, wenn man annimmt, daß ihre
Ausdrucksgestaltung den Zweck erfüllt, den Stimmen, die man
hörte, in der sichtbaren Welt einen Platzhalter zu schaffen, mit
dem man gegebenenfalls Dialoge führen konnte. 32
Freilich ist die weitergehende Erklärung nicht einfach. Genau
wie die Kultur, der sie angehören, scheinen auch die Statuetten
eine Entwicklung durchlaufen zu haben. Um beim zuletzt
genannten Beispiel zu bleiben: Im Anfangsstadium bilden die
früholmekischen Statuetten eine überzogene Prognathie
(Vorstehen des Oberkiefers) aus, die sie schließlich fast wie
31
In späteren Ritualen wurden sie mit übernatürlichen Kräften ausgestattet;
vgl. H. W. F. Saggs, The Greatness That Was Babylon, New York: Mentor
Books 1962, S. 301-303.
32
Vgl. Burland, a. a.0. (Fußnote auf Seite 192), S. 22 f; Bushnell, a. a. O.
(Fußnote auf Seite 192), S. 37 f.
- 231-
Tiere erscheinen läßt. In der Teotihuacan-Periode dann sind sie
kunstvoller und feiner ausgestaltet; in ihren großen, mit
zartroten, gelben und weißen Farbtupfern bemalten
Kopfbedeckungen und Umhängen ähneln sie sehr den
olmekischen Priestern. In einer dritten Entwicklungsetappe sind
die Statuetten der Olmeken noch sorgfältiger lebensgetreu
modelliert, zuweilen mit ausgebildeten Gelenken an Armen und
Beinen; zuweilen haben sie, wie Reliquiare, einen Hohlraum im
Innern, der mit einem kleinen quadratischen Deckel
verschlossen war und weitere, winzig kleine Figurinen enthielt –
was möglicherweise ein Ausdruck der Verwirrung im
bikameralen Führungsprinzip ist, die unmittelbar vor dem
Zusammenbruch der olmekischen Hochkultur auftrat. Denn
diese Phase, die nicht nur eine Flut von Statuetten, sondern auch
neue Riesenstandbilder mit offenen Mündern in halbfertigem
Zustand aufweist, ging um 700 v. Chr. mit der mutwilligen
Zerstörung der Metropole Teotihuacän zu Ende: Man brannte
die Tempel nieder und schleifte die Mauern, ehe man aus der
Stadt wegzog. Waren die Stimmen verstummt und sollten mit
vermehrter Bilderproduktion wieder heraufbeschworen werden?
Oder hatten sie sich zu einem chaotischen Durcheinander
vervielfacht?
Für die Mehrzahl dieser Statuetten muß aufgrund ihrer Größe
und Quantität bezweifelt werden, daß sie dazu da waren,
Gehörshalluzinationen auszulösen. Tatsächlich könnte es sich
bei einem Teil von ihnen um die mnemotechnischen Hilfsmittel,
die Erinnerungsstützen eines Menschenschlags ohne Bewußtsein
gehandelt haben, dem es nicht gegeben war, normbildende
Erfahrungen per Willensakt zu reproduzieren; in diesem Fall
mag man sich ihre Funktion ähnlich derjenigen der Quipu
(Knotenschriftschnüre) der Inka oder des uns aus unserer
eigenen Kultur vertrauten Rosenkranzes denken. So kennt man
zum Beispiel drei Typen von Fundament-Statuetten aus Bronze,
die in Mesopotamien an den Ecken neuerrichteter Gebäude oder
- 232-
unter Türschwellen vergraben wurden: einen knienden Gott, der
einen Pflock in den Boden treibt; einen Korbträger; und einen
liegenden Stier. Die derzeit akzeptierte Theorie, wonach sie
dazu da waren, böse Geister unter den Boden des Gebäudes zu
verbannen, darf wohl kaum als das letzte Wort zur Sache gelten.
Statt dessen ist es denkbar, daß es sich um semihalluzinatorische
Gedächtnishilfen für einen Menschenschlag ohne Bewußtsein
handelte, die dazu anhielten, die Pfosten gerade aufzustellen,
beim Heranschaffen des Baumaterials nicht zu erlahmen und für
schwere Stücke die Ochsen einzuspannen.
Doch dürfen wir sicher sein, daß ein Teil dieser kleinen
Objekte als Hilfsmittel für die Hervorbringung bikameraler
Stimmen tauglich war. Dies gilt insbesondere für die aus der
Zeit um 3000 v. Chr. stammenden Augenidole, wie sie vor allem
im Tell Brak am Èagða a (einem Nebenfluß des Habur, der
seinerseits ein Nebenfluß des Euphrat ist) zu Tausenden
gefunden wurden: schwarzweiße Gebilde aus Alabaster,
bestehend aus einem flachen, keksähnlichen Korpus mit einem
augenförmigen, ehemals malachitgrün getönten Aufsatz. Wie
die älteren Stoßzahn-Idole der Amrah- und Gerzeh-Kulturen
eignen sie sich dazu, in der Hand gehalten zu werden. Die
meisten haben nur ein Augenpaar, doch gibt es auch welche mit
zweien; manche tragen Kronen, manche Kennzeichnungen, die
sie eindeutig als Gottheiten ausweisen. An anderen
Ausgrabungsstätten – in Ur, Mari und Lagas – wurden größere
Augenidole aus Terrakotta gefunden; da ihre Augen die Form
von offenen Schlaufen haben, hat man sie Brillenidole getauft.
Andere Augenidole, aus Stein verfertigt und auf Sockeln oder
Altären postiert, sehen aus wie zwei Muffen auf einer
quadratischen, mit Einritzungen verzierten Platte, die einen
Mund darstellen könnte. 33
33
Vgl. M. E. L. Mallowan, Early Mesopotamia and Iran, New York:
McGraw-Hill 1965, Kap. 2.
- 233-
Zu Tausenden wurden solche »Augenidole«, die man in der
Hand halten konnte, gefunden. Dieses Exemplar stammt aus
dem Tell Brak an einem der Quellflüsse des Euphrat (etwa 3
300 v. Chr.). Die gehörnte Gazelle ist das Symbol der Göttin
Ninhursag.
Eine Theorie der Idole
Hier ist nun ein weiterer Ausblick in die Psychologie
vonnöten. Blickkontakt ist unter Primaten von überaus wichtiger
Bedeutung. Unterhalb der Menschheitsebene artikuliert sich in
ihm die relative Position zweier Individuen in der Rangordnung
der Sozietät, was bei vielen Primatenarten so aussieht, daß sich
das rangniedrigere Tier grinsend abwendet. Beim Menschen hat
sich der Blickkontakt vermutlich im Zusammenhang mit dem
stark verzögerten Reifungsprozeß zu einer hochbedeutsamen
sozialen Interaktion entwickelt. Ein Säugling sieht der Mutter in
die Augen, nicht auf den Mund, wenn sie mit ihm spricht; es
handelt sich dabei um eine automatische und universelle
Reaktion. Der Ausbau solchen Blickkontakts zum
Artikulationsmedium von Autoritäts- und Liebesbeziehungen ist
- 234-
ein immens wichtiger Entwicklungsweg, dessen Verlauf noch
der Erforschung harrt. Wir können uns hier mit der Andeutung
begnügen, daß die Autorität eines Höhergestellten in der Regel
eindrücklicher empfunden werden dürfte bei direkter
Konfrontation Auge in Auge mit ihm. Das Erleben einer solchen
Situation ist verbunden mit einem Gefühl von Streß, von
Unentschlossenheit
und
obendrein
mit
einer
Art
Bewußtseinsschwäche, so daß man sich leicht vorstellen kann,
wie das Simulieren einer derartigen Situation mit Hilfe einer
Statue zur Vertiefung des Effekts halluzinierter Götterreden
beiträgt.
Die Augen werden somit zu einem hervorstechenden
Merkmal der Tempelplastik der gesamten bikameralen Epoche.
Der Durchmesser des menschlichen Auges beträgt ungefähr 10
Prozent der Schädelhöhe; die entsprechende Proportion bei
einem Idol werde ich künftig als dessen Augenindex
bezeichnen. Die berühmten zwölf Statuen, 34 die in der Favissa
des Abu-Tempels zu Ešnunna (dem heutigen Tell Asmar)
gefunden wurden und die, den auf ihren Basen eingemeißelten
Symbolen zufolge, Gottheiten darstellen, haben einen
Augenindex von nicht weniger als 18 Prozent: Aus riesengroßen
kreisrunden Augen blicken sie uns mit unbeugsamer Autorität
aus
fünftausendjähriger
geschichtsloser
Vergangenheit
hypnotisierend an.
34
Abgebildet in zahlreichen Überblicksdarstellungen, so beispielsweise bei
Mallowan, a. a. O. (vgl. vorige Fußnote), S. 43 u. 45.
- 235-
- 236-
Der Gott Abu, auf der gegenüberliegenden Seite eine
unbekannte Göttin. Beide Statuen wurden in einem Tempel
von Tell Asmar bei Bagdad gefunden, wo sie heute im
Nationalmuseum aufbewahrt werden. Sie datieren in die Zeit
um 2600 v. Chr.
Das gleiche Bild bei anderen Idolen von anderen Fundorten.
Ein besonders schönes und mit Recht berühmtes Marmorhaupt
aus Uruk 35 hat einen Augenindex von über 20 Prozent; zu
erkennen ist noch, daß Augen und Brauen ehemals
Inkrustierungen aus Edelstein sowie daß Gesicht und Haare
bemalt waren und daß der Kopf zu einer lebensgroßen,
inzwischen zu Staub zerfallenen Holzstatue gehörte. Um 2700 v.
Chr. gibt es in dem reichen Stadtstaat Mari am mittleren Euphrat
eine Überfülle von Alabaster- und Kalkspatplastiken
leichtgewandeter Gottheiten, Herrscher und Priester, deren
35
Vgl. Mallowan, a. a. O. (vgl. Fußnote auf Seite 209), S. 55.
- 237-
Augen, kräftig mit schwarzer Farbe konturiert, bis zu 18 Prozent
der Schädelhöhe messen. Im Haupttempel von Mari herrschte
die berühmte »Göttin mit der Blütenvase«, deren riesengroße
leere Augenhöhlen einst hypnotische Edelsteine faßten und die
einen Aryballos (eine kleine Kugelvase) schräggeneigt in
Händen hält. Durch das Innere der Statue lief eine Röhre, die
den Aryballos mit einem Wasserreservoir verband: Über den
Rand des Gefäßes hinaustretend; strömte die Flüssigkeit über
das Gewand des Idols abwärts und hü llte die untere Partie in
einen wallenden Schleier; zugleich entstand ein zischendes
Geräusch, wie es sich trefflich eignet, in eine
Gehörshalluzination eingebaut zu werden. Nicht zu vergessen
sind hier die berühmten Abbilder des Gudea, des rätselhaften
Herrschers von Lagas (um 2100 v. Chr.), aus härtestem Stein
gemeißelt und allesamt mit einem Augenindex von 17 oder 18
Prozent.
Der Augenindex der Tempel- und Grabplastiken ägyptischer
Pharaonen erreicht manchmal 20 Prozent. Die wenigen
ägyptischen Holzstatuen, die überdauert haben, lassen erkennen,
daß ihre übergroßen Augen ehemals aus in Kupfer gefaßten
Quarzen oder Kristallen bestanden. Wie für eine Monarchie vom
Gottkönig- Typ (vgl. das folgende Kapitel) nicht anders zu
erwarten, spielten Idole in Ägypten offenbar nicht die gleiche
herausragende Rolle wie in Mesopotamien.
Von der Steinplastik der Indus-Kulturen sind nur wenige
Beispiele erhalten, doch an diesem wenigen lassen sich
auffallende Augenindizes von mehr als 20 Prozent feststellen. 36
Aus der bikame ralen Epoche Chinas sind bislang noch keine
Idole bekannt. Doch mit dem neuerlichen Beginn einer
Hochkultur um 90o v. Chr. in Mittelamerika zeigt sich
wiederum ein ähnliches Bild wie Jahrtausende früher im
36
Vgl. z. B. die Illustrationen in: Wheeler, a. a. O. (vgl. Fußnote auf Seite
201).
- 238-
Vorderen
Orient,
wenngleich
mit
charakteristischen
Eigenheiten: mächtige, oft knapp zweieinhalb Meter hohe
Köpfe, ohne Körper bei La Venta und Tres Zapoltes aus dem
Boden wachsend (ein Teil von ihnen ist heute im Olmekenpark
in Villahermosa aufgestellt); sie sind aus hartem Basalt
gemeißelt, tragen in der Regel eine Haube, nicht selten mit
großen Ohrenklappen, so daß die ganze Kopfbedeckung sehr
den Schutzhelmen der amerikanischen Footballspieler ähnelt.
Der Augenindex dieser Köpfe reicht von normalen 11 bis zu
mehr als 19 Prozent. Gewöhnlich ist der Mund halb geöffnet wie
beim Reden. In zahlreichen Exemplaren war in der
Olmekenkultur auch ein schwer deutbares Keramikidol in
Gestalt eines geschlechtslosen Kindes verbreitet; diese Figuren
sitzen ausnahmslos mit weitgespreizten Beinen da, als wollten
sie ihre Geschlechtslosigkeit zur Schau stellen, und halten mit
vorgebeugtem Oberkörper ihre breiten Schlitzaugen fest auf den
Betrachter gerichtet; die dicken Lippen sind wie zum Sprechen
geöffnet. Waren die Lider geöffnet, so betrug der Augenindex
bei der Auswahl von Figuren, die ich zu diesem Zweck selbst in
Augenschein genommen habe, im Durchschnitt 17 Prozent. Man
kennt aus der Olmekenkultur auch Statuetten von halber
Lebensgröße mit noch größerem Augenindex; nicht selten findet
man sie als Grabbeigaben, so auf der von olmekischem Einfluß
zeugenden Ausgrabungsstätte von Tlatilco bei Mexico City, die
auf die Zeit um 500 v. Chr. zurückgeht; man gewinnt hier den
Eindruck, daß der Tote zusammen mit seinem Privatidol
begraben wurde, um weiterhin von ihm hören zu können, was er
zu tun hatte.
Maya-Idole haben gewöhnlich keinen derart anomalen
Augenindex. Aber in den großen Städten auf Yucatán pflegte
man verstorbene Führer in Porträtstatuen zu verewigen, die nach
meinem Dafürhalten gleichfalls halluzinogenen Zwecken
dienten. Im Hinterkopf wurde ein Hohlraum gelassen, der die
Asche des Toten aufnahm. Und Bischof Landa, ein Chronist des
- 239-
sechzehnten Jahrhunderts, berichtet: »sie bewahrten diese
Bildwerke mit großer Ehrfurcht auf.« 37
Bei den Cocom, ehemals (um 1200 n. Chr.) Herrscher von
Mayapan, wiederholte sich ein kulturelles Muster, das wir vom
neuntausend Jahre älteren Natoufien her kennen. Sie
enthaupteten ihre Toten, »und nachdem sie die Schädel
ausgekocht hatten, befreiten sie sie vom Fleische, sägten sodann
die eine Hälfte des Hinterschädels ab und ließen nur die
Vorderpartie mit Kieferknochen und Zähnen unangetastet. Dann
ersetzten sie das Fleisch ... durch eine Art Erdpech [und
Gipsmörtel], was ihnen ein natürliches und lebensähnliches
Aussehen verlieh ... sie bewahrten sie in den Beträumen ihrer
Häuser auf und boten ihnen an Festtagen Nahrung dar ... sie
glaubten, ihre Seelen wohnten darin, und diese Gaben kämen
ihnen zugute«. 38
Nichts spricht gegen die Auffassung, daß man die präparierten
Köpfe so behandelte, weil die Stimmen ihrer früheren Besitzer
»in ihnen« steckten.
Die Maya verwendeten noch viele andere Arten von Idolen,
und zwar in solchen Mengen, daß ein spanischer Statthalter, der
1565 den Auftrag erhielt, in seiner Stadt mit dem Götzendienst
aufzuräumen, angesichts der erbrachten Ernte entgeistert
berichtete: »In meiner Gegenwart wurden mehr als eine Million
Idole herbeigeschafft.« 39 Ein Typ des Maya-Idols wurde aus
Zedernholz geschnitzt, das die Maya kuche (heiliges Holz)
nannten. »Und das heißen sie: Götter machen.« Die
Schnitzarbeit wurde unter Furcht und Zittern von Priestern
(chak) ausgeführt, die zu strengem Fasten in eine zuvor mit
Räucherwerk und Gebeten geweihte Hütte eingeschlossen
37
Zitiert nach von Hagen, Die Kultur der Maya (vgl. Fußnote auf Seite 193),
S. 144.
38
Landa, zitiert nach von Hagen, ebd.
39
von Hagen, ebd., S. 178.
- 240-
waren.
Maya-Gott, etwa 3, 5 in hohe Stele aus Copan in Honduras.
Datiert: um 700 n. Chr.
Die Herrgottsschnitzer »schnitten sich des öfteren in ein Ohr,
um die Götzen mit dem Blut einzureiben, und brannten
Räucherwerk vor ihnen ab«. Die fertigen Gottheiten wurden
- 241-
reich gekleidet auf Podesten in Miniaturbauwerken aufgestellt,
von denen einige an weniger zugänglichen Orten das
Zerstörungswerk des Christentums und der Zeit überlebt haben,
so daß stets von neuem die eine und andere gefunden wird.
Nach einem Augenzeugenbericht aus dem sechzehnten
Jahrhundert »glaubten die armseligen Tölpel, die Götzenbilder
sprächen mit ihnen, und darum opferten sie ihnen Vögel, Hunde
und auch von ihrem eigenen Blut, ja sogar Menschen«. 40 41
Sprachen die Idole?
Wie können wir wissen, daß diese Idole »sprachen« im Sinne
der Bikameralitätshypothese? Mir ist es hier nicht zuletzt auch
darum zu tun gewesen, einsichtig zu machen, daß allein schon
die Existenz von Groß- und Kleinplastik nach einer Erklärung
verlangt. (Daß hier überhaupt eine Problematik vorliegt, ist
bisher noch kaum wahrgenommen worden.) Diese Erklärung
liefert die Hypothese von der bikameralen Psyche. Das
Aufstellen derartiger Idole an kultischen Plätzen; die in einer
Reihe von Kulturen beobachtete Praxis, in die Augenhöhlen
Edelsteine vom glänzenden Typ einzusetzen; ein in den zwei
bedeutendsten frühen Hochkulturen anzutreffendes ausgefeiltes
Ritual, um neuen Statuen den Mund zu öffnen (vgl. das folgende
Kapitel): all das rückt die vorhandenen Beweisstücke in eine
bestimmte Perspektive.
Die Keilschriftliteratur zitiert sprechende Götterstandbilder
häufig. Noch am Anfang des ersten Jahrtausends v. Chr. heißt es
in einem königlichen Brief:
40
Alle Zitate nach dem Augenzeugenbericht des Spaniers Landa aus dem 16.
Jh.; zitiert in: J. Eric S. Thompson, Maya History and Religion, S, 189-191.
41
Auch bei den Inkas gab es eine Vielfalt von zum Teil mannshohen Idolen,
die man als Götter bezeichnete, einige aus Gold oder Silber gefertigt, andere
aus Stein, bekrönt und bekleidet; entdeckt wurden sie von den Spaniern
allesamt in abgelegenen Temp eln des Inkareichs. Vgl. von Hagen, Das Reich
der Inka (vgl. Fußnote auf Seite 197), S. 152, 197, 202.
- 242-
Ich habe die Omina zur Kenntnis genommen ... Ich habe sie der Reihe
nach Šamaš vortragen lassen ... das Königsbild [eine Statue] von
Aktrad ließ Gesichte vor mir aufsteigen und rief mit lauter Stimme:
»Welch böses Omen hast du dir vom Königsbild gefallen lassen?«
Wiederum sprach es: »Sage dem Gärtner ... [hier wird die Keilschrift
unleserlich, entzifferbar ist dann wieder das folgende] ...es erhob
Fragen nach Ningal-Iddina, Šamaš-Ibni und Na’id-Marduk.« Die
Rebellion im Lande betreffend, sagte es: »Nehmt die befestigten
Städte ein, eine nach der andern, damit kein Verfluchter sich vor dem
Gärtner zeige.« 42
Auch das Alte Testament der Bibel läßt erkennen, daß von
den dort erwähnten Idolen ein Typus, der Terap, sprechen
konnte. Hesekiel 21, 26 läßt den König zu Babylon bei
mehreren von ihnen Auskunft einholen. Ein weiteres direktes
Indiz stammt aus dem amerikanischen Erdteil. Die
unterworfenen
Azteken
erzählten
den
spanischen
Eindringlingen, wie ihre Geschichte begann, als eine Statue aus
einer Tempelruine – dem Relikt einer älteren Zivilisation – zu
ihren Führern sprach. Das Standbild befahl ihnen, von ihrem
Sitz aufzubrechen, den vor ihnen liegenden See zu überqueren
und es auf ihrer Reise überallhin mitzunehmen; es lenkte sie
hierhin und dorthin genau wie die körperlosen bikameralen
Stimmen, die Moses im Zickzack durch die Wüste Sinai
führten. 43
Und schließlich sind da die bemerkenswerten Zeugnisse aus
Peru. Alle frühesten Berichte von der Eroberung Perus, von
gelehrigen Schülern der spanischen Inquisition verfaßt, stimmen
darin überein, daß das Königreich der Inka vom Teufel regiert
wurde. Beweis: Der Leibhaftige persönlich redete wirklich und
wahrhaftig zu den Inka aus dem Mund ihrer Götzenbilder. Für
42
R. H. Pfeiffer, State Letters of Assyria, New Haven: American Oriental
Society 1935, S. 174.
43
C. A. Burland, a. a. O. (vgl. Fußnote auf Seite 192), S. 47.
- 243-
diese ungehobelten, in blindestem Dogmatismus befangenen
Christen, die aus den bildungsärmsten Regionen Spaniens
stammten, war dies nicht weiter verwunderlich. Der allererste in
die europäische Heimat abgesandte Bericht vermerkte: »in dem
Tempel [des Pachamac] hielt sich ein Teufel auf, der in einem
finsteren Raum, der so dreckig war wie er selber, zu den
Indianern zu sprechen pflegte.« 44 Und ein späterer Bericht
vermeldete:
... es war in den indianischen Landen erwiesenermaßen weit
verbreitet, daß der Teufel in diesen falschen Heiligtümern Rede und
Antwort stand... Gewöhnlich zur Nachtzeit traten sie, mit widerlich
gebeugtem Kopf und Rücken rückwärts gehend, zu ihrem Götzen ein,
und dergestalt pflegen sie auch Rat mit ihm. So er ihnen antwortete,
war dies gemeinhin einem furchterregenden Gezischel zu vergleichen,
oder wie ein Zähneknirschen, und solches regte ihr Entsetzen auf; und
alles, was er ihnen anwies und befahl, taugte doch nicht besser als wie
zu ihrem Verderben und Untergang.45
44
(Anon.), The Conquest of Peru, übersetzt und kommentiert von J. H.
Sinclair, New York: New York Public Library 1929, S. 37f.
45
Father Joseph de Acosta, The Natural and Moral History of the Indies,
London: Hakluyt Society 1880, Bd. 2, S. 325 f.
- 244-
ZWEITES KAPITEL
Bikamerale Theokratien mit Schriftkultur
Was ist die Schrift – Schrift schreitet von Bildern visueller
Ereignisse zu Symbolen phonetischer Ereignisse. Und das ist
eine erstaunliche Wandlung. Schriften des letztgena nnten Typs
wie zum Beispiel diejenige auf der vorliegenden Seite – wollen
ihrem Leser etwas sagen, was er nicht weiß. Doch je näher eine
Schrift dem Ausgangstypus steht, desto mehr ist ihre Funktion
zuallererst die eines mnemotechnischen Hilfsmittels zur
Aktivierung von Informationen, die ihr Leser schon besitzt. Die
protolautschriftlichen Piktogramme von Uruk, die Ikonographie
der ältesten Götterbilder, die Bilderschriften der Maya und der
Azteken, ja selbst die aus unserem eigenen Kulturkreis bekannte
Heraldik – all das gehört zu jenem erstgenannten Typ. Es kann
vorkommen, daß im Einzelfall die Informationen, die auf solche
Weise
aktiviert
werden
sollten,
unwiederbringlich
verlorengegangen sind, so daß eine Schrift auf ewig
unübersetzbar bleibt.
Zwischen den beiden genannten Extremformen stehen die
zwei Schriftarten, die – halb Bild und halb Symbol – das
Material für das gegenwärtige Kapitel abgeben. Es sind die
ägyptische Hieroglyphenschrift mit ihrer abgekürzten QuasiKurrentform, dem Hieratischen (was beides soviel wie »Schrift
der Götter« bedeutet), und die – der Form ihrer Striche wegen
von den Gelehrten unserer Epoche so genannte – Keilschrift,
deren Gebrauch noch viel weiter verbreitet war.
Von diesen beiden wird sich die Keilschrift als die für uns
wichtigere erweisen; zudem sind von ihr weit mehr Zeugnisse
erhalten. Tausende von Tontafeln harren ihrer Übersetzung und
weitere Tausende der Ausgrabung. Mindestens vier Sprachen
wurden in Keilschrift geschrieben: Sumerisch, Akkadisch,
- 245-
Hurritisch sowie, später, das Hethitische. Im Gegensatz zu
unserer Schrift mit ihrem Alphabet von 26 Buchstaben oder zur
aramäischen (die um 200 v. Chr. die Keilschrift auf allen
Verwendungsgebieten mit Ausnahme religiöser Texte
verdrängte) mit 22 Buchstaben besteht die Keilschrift aus über
sechshundert Zeichen, was sie zu einem recht schwerfälligen
und vieldeutigen Kommunikationssystem macht. Viele dieser
Zeichen werden logographisch gebraucht und können dabei in
ein und derselben Gestalt für eine Silbe, einen Gedanken oder
einen Namen stehen oder auch für ein Wort, welches seinerseits
wieder mehrere Bedeutungen haben kann, je nachdem, welche
Klasse es im gegebenen Fall vertritt (die Klasse kann durch eine
besondere Markierung gekennzeichnet sein, indes ist der
Gebrauch solcher Indizes nicht regelmäßig). Nur aus dem
Kontext heraus können wir einem solchen Zeichen eine
Interpretation zuordnen. So zum Beispiel hat das Zeichen
neun verschiedene Bedeutungen: in der Aussprache šamšu
bedeutet es »Sonne«; in der Aussprache ûmu »Tag«; in der
Aussprache pisu »weiß«; und dazu kann es auch für die Silben
ud, tu, tam, pir, lah und his stehen. In einem solchen Wust
kontextabhängiger Bedeutungen restlos klarzusehen war schon
vorzeiten keine ganz einfache Sache. Erst recht gewaltig (und
faszinierend) ist das Problem für uns, aus einem Abstand von
viertausend Jahren zu der Kultur, die sich in ihnen artikulierte,
Keilschrifttexte zu entziffern. Gleiches trifft im wesentlichen
auch für die Hieroglyphik/Hieratik zu.
Handelt es sich um konkrete Ausdrücke – und dies ist der
Regelfall, denn der größte Teil der Keilschriftliteratur besteht
aus Auflistungen von Einnahmen, Sachbeständen und
Opfergaben für die Götter –, so ergeben sich beim Übersetzen
kaum Zweifelsfragen. Doch je abstrakter die Bedeutung der
Ausdrücke, und zumal wenn sie eine psychologische Deutung
zulassen, desto ausgeprägter die Neigung der Übersetzer, die
Texte im Interesse leichterer Eingängigkeit mit neuzeitlichen
- 246-
Kategorien
zu
überformen.
Die
einschlägigen
Populärdarstellungen und selbst gelehrtes Schrifttum servieren
ihren Stoff mit glättenden »Verbesserungen« kandiert und
appetitlich garniert mit Erläuterungen und lassen dabei die
Menschen des Altertums sich wie unseresgleichen gebaren oder
legen ihnen doch zumindest eine Art Lutherdeutsch in den
Mund. Was der Übersetzer tut, ist nicht selten mehr ein Hineinals ein Herauslesen. Viele der fraglichen Texte – diejenigen, in
denen es scheinbar um Entscheidungsfindungen geht, oder
sogenannte Spruchweisheiten, auch Epen und Unterweisungen –
müssen erst in die präzisen Termini konkreten Verhaltens
neuübersetzt werden, ehe sie als Daten für die PsychoArchäologie des Menschen in Frage kommen. Und ich warne
den Leser gleich, daß die Ergebnisse dieses Kapitels nicht mit
dem übereinstimmen, was das Populärschrifttum zum gleichen
Gegenstand zu sagen hat.
Dies bedenkend, fahren wir also fort.
Mit dem Aufkommen der Schrift im dritten Jahrtausend v.
Chr. werden jene glanzvollen Hochkulturen, wie wenn über
einer zuvor dunklen Bühne die Beleuchtung angeht, für unser
Auge in ein zwar noch unvollständiges, aber klares Licht
getaucht, und wir sehen, daß zu dem fraglichen Zeitpunkt bereits
seit längerem zwei Hauptformen der Theokratie existieren: 1.
das Statthalter-Königtum, bei dem der Führer oder König der
erste Stellvertreter der Götter oder – im gewöhnlicheren Fall –
des Gottes einer bestimmten Stadt ist, der Verwalter und Pfleger
seiner Ländereien. Dies war der bedeutendste und am weitesten
verbreitete Typ der Theokratie in den bikameralen
Königtümern. Es war die Herrschaftsform in vielen bikameralen
Stadtstaaten Mesopotamiens, in Mykene (vgl. Erstes Buch,
Drittes Kapitel) und nach allem, was wir wissen, in Indien,
China und wahrscheinlich auch in Mittelamerika. 2. Das
Gottkönigtum, bei dem der König selbst ein Gott ist. Am
deutlichsten vertreten finden wir diesen Typ in Ägypten sowie,
- 247-
wenn nicht in allen, zumindest in einigen Andenreichen und mit
hoher Wahrscheinlichkeit im ältesten japanischen Königtum.
Meiner bereits früher dargelegten These zufolge (vgl. Erstes
Buch, Sechstes Kapitel) haben sich beide Herrschaftsformen aus
der ursprünglicheren bikameralen Organisationsform entwickelt,
bei der die Herrschaftsmacht eines neuen Königs im Gehorsam
gegenüber der halluzinierten Stimme des toten Königs bestand.
Auf diese Typen will ich nun am Beispiel der zwei
bedeutendsten frühen Hochkulturen näher eingehen.
MESOPOTAMIEN: DIE GÖTTER ALS EIGENTÜMER
Seit den frühesten Zeiten der Sumerer und Akkader war in
ganz Mesopotamien alles Land stets Eigentum der Götter, und
die Menschen waren ihre Sklaven. Daran lassen die
Keilschrifttexte nicht den geringsten Zweifel. 1 Jeder Stadtstaat
hatte seine eigene Obergottheit, und in den allerältesten uns
überkommenen Schriftdokumenten findet man den König als
den »Pachtbauern des Gottes« bezeichnet.
Der Gott selbst war ein Standbild. Die Plastik war nicht das
Abbild eines Gottes (wie wir heute sagen würden), sondern eben
dieses Bild war der Gott selbst. Er wohnte in seinem eigenen
Haus, das bei den Sumerern das »große Haus« hieß. Es bildete
das Zentrum eines Tempelkomplexes, dessen Umfang von Fall
zu Fall schwankte, je nach Bedeutung des betreffenden Gottes
und dem Reichtum der betreffenden Stadt. Der Gott war
vermutlich aus Holz, damit er nicht zu schwer war, um auf den
Schultern von Priestern mitgeführt werden zu können. Sein
1
Die meisten der einschlägigen Quellen sind gut erschlossen und in
zahlreichen hervorragenden Darstellungen nachzulesen, u. a. in: H. W. F.
Saggs, The Greatness That Was Babylon, New York: Mentor Books 1962;
The Cambridge Ancient History, Bd. 1-3, Cambridge: Cambridge University
Press (zahlreiche Auflagen); George Roux, Ancient Iracq, Baltimore:
Penguin Books 1966; A. L. Oppenheim, Ancient Mesopotamia: Portrait of a
Dead Civilization, Chicago: University of Chicago Press 1964.
- 248-
Gesicht war eine Einlegearbeit aus wertvollen Metallen und
Edelsteinen. Er war kostbar gekleidet und stand auf einem
Piedestal in einer Nische im innersten Raum seines Hauses. In
den größeren und bedeutenderen Gotteshäusern gab es kleine
Innenhöfe, deren umliegende Räume dem Statthalter-König und
seinen Nebenpriestern vorbehalten waren.
In den meisten der in Mesopotamien ausgegrabenen großen
Städte war das Haus der obersten Gottheit eine Zikkurat, ein
viereckiger, in Stufen hoch ins Licht emporsteigender Turm, auf
dessen oberster Plattform ein Tempel stand. Im Zentrum der
Zikkurat lag die gigunu, eine geräumige Kammer, wo nach
Meinung der Mehrheit der Gelehrten die Statue der Obergottheit
wohnte, die nach anderer Ansicht jedoch nur der Abhaltung von
Riten diente. Derartige Zikkurat oder ähnliche Tempeltürme
sind während einer bestimmten Epoche den meisten
bikameralen Königtümern gemein.
Da die göttliche Statue der Eigentümer des Bodens und die
Menschen seine Leibeigenen waren, bestand die erste Pflicht des
königlichen Statthalters nicht allein in loyaler Verwaltung der
königlichen Ländereien, sondern ebensosehr auch in privateren
Dienstbarkeiten. Die Götter liebten den Keilschrifttexten zufolge
Essen und Trinken, Musik und Tanz; sie benötigten Betten zum
Schlafen und für das geschlechtliche Vergnügen mit anderen
Götterstatuen, die von Zeit zu Zeit zum Behufe solcher
Hochzeitsfeste von anderswoher zu Besuch kamen; sie wollten
gewaschen und gekleidet und mit Wohlgerüchen geschmeichelt
sein; bei Staatsfeierlichkeiten mußten sie umhergefahren
werden; und um all das lagerte sich mit fortschreitender Zeit
immer mehr Zeremoniell und Ritual an.
Das tägliche Tempelritual schloß das Waschen, Ankleiden
und Füttern der Statuen ein. Gewaschen wurden sie
wahrscheinlich, indem priesterliche Diener sie mit reinem
Wasser besprengten möglicherweise haben wir hier die
Ursprünge unserer Tauf- und Salbungszeremonien vor uns. Als
- 249-
Kleidung stand eine Vielfalt von Gewandformen zur Verfügung.
Vor den Gottheiten waren Tische aufgestellt – die Urformen
unserer Altäre –, von denen einer Blumenschmuck trug, der
zweite Speis und Trank für den göttlichen Hunger. Das Essen
bestand aus Brot, Kuchen und Fleisch; das Fleisch lieferten
Stier, Hammel, Ziege, Hirsch, Fisch und Geflügel. Will man
bestimmten Interpreten der Keilschriften glauben, so wurde
zunächst das Essen aufgetragen, woraufhin das menschliche
Personal sich zurückzog, damit die göttliche Statue sich allein
und ungestört an ihrem Mahl gütlich tun konnte. Nach
geziemender Frist betrat dann der Statthalter-König das
Allerheiligste durch einen Nebeneingang und verzehrte, was der
Gott übriggelassen hatte.
Im übrigen mußten die Götterstatuen auch bei Laune gehalten
werden. Man nannte das: »ihrer Leber schmeicheln« und
verrichtete dieses Geschäft mittels Opfergaben von Butter, Fett,
Honig und Konfekt, die wie das reguläre Essen auf die Tische
gelegt wurden. Man kann sich vorstellen, daß Menschen, deren
bikamerale Stimme sich kritisch und verärgert zeigte, derlei
Opfergaben zum Gotteshaus trugen.
Gibt es eine andere Erklärung für all diese Dinge und für ihre
historische Dauerhaftigkeit – denn in der einen oder anderen
Form blieben sie tatsächlich über Tausende von Jahren der
zentrale Bezugspunkt der Lebensorganisation –, ich sage: Gibt
es dafür eine andere Erklärung als unser Postulat, daß jene
Menschen die Statuen genauso sprechen hörten, wie die Helden
der »Ilias« die Stimmen ihrer Götter hörten oder die heilige
Johanna ihre Stimmen? Ja, daß sie diese Statuen sogar reden
hören mußten, um zu wissen, was sie tun sollten.
Wir können das unmittelbar in den Texten selber lesen. Der
- 250-
große »Zylinder« 2 des Gudea von Lagas (um 2100 v. Chr.) gibt
an, daß die Priesterinnen in einem neuerbauten Te mpel für
Gudeas Gott Ningirsu die sieben Töchter aus der
Nachkommenschaft der Baba, die Ningirsu mit ihr zeugte, die
Göttinnen Zazaru, Impae, Urentaea, Hegirnunna, Hesagga,
Guurma, Zaarmu, [aufstellten], damit sie an der Seite des
Landesherrn Ningirsu güns tige Entscheidungen aussprächen.
Im einzelnen betrafen die auszusprechenden Entscheidungen
diverse Fragen der Bodenbestellung, damit das Getreide »die
Abhänge des heiligen Feldes bedecke« und »sämtliche reichen
Kornspeicher von Lagas zum Überfließen gebracht werden«.
Und ein Tonkegel der Dynastie, die um 1700 v. Chr. in Larsa
herrschte, preist die Göttin Ningal als Ratgeberin, überaus weise
Befehlshaberin, Fürstin aller großen Götter, erhabene Rednerin,
deren Worten nichts gleichkommt. 3
Allenthalben in diesen Texten sind es die Worte der Götter,
die darüber entscheiden, was zu tun ist. Auf einem Kegel aus
Lagas liest man:
Mesilin, König von Kiš, errichtete auf Geheiß seiner Gottheit
Kadi, betreffend die Bepflanzung jenes Feldes, eine Stele an
jenem Ort. Uš, Patesi von Umma, um sich ihrer zu bemächtigen,
fertigte Zauberformeln an; jene Stele zerbrach er in Trümmer; in
die Ebene von Lagaš rückte er vor. Ningirsu, der Held des Enlil,
auf dessen rechtmäßiges Geheiß führte Krieg gegen Umma. Auf
das Geheiß des Enlil schnappte sein großes Netz zu. An jenem
Ort auf der Ebene errichtete er ihren Grabhügel. 4
Nicht die Menschen üben die Herrschaft aus, sondern die
halluzinierten Stimmen der Götter Kadi, Ningirsu und Enlil.
2
Spalte in, Zeile 4-14; vgl. GeorgeA. Barton, The Royal Inscriptions of
Sumer and Akkad, New Haven: American Oriental Society 1919. Die
Hervorhebungen stammen – wie auch in den folgenden Zitaten – von mir.
3
Ebd., S. 327.
4
Ebd., S. 61. Inimma ist hier mit Zauberformeln« übersetzt.
- 251-
Man beachte, daß die zitierte Textstelle von einer Stele handelt,
einer Steinplatte, in die in Keilschrift die Worte eines Gottes
eingemeißelt waren und die auf einem Feld errichtet worden
war, um Anweisungen zu erteilen, wie man dieses Feld zu
bestellen hatte. Daß solche Stelen ihrerseits Manifestationen des
Göttlichen waren, läßt sich daraus vermuten, wie sie umkämpft
und verteidigt, zertrümmert und als Beutestücke weggeführt
wurden. Und daß sie die Quellen von Gehörshalluzinationen
waren, wird von anderen Texten nahegelegt. Eine besonders
aufschlußreiche Stelle aus einem anderen Textzusammenhang
schildert, wie eine Stele bei Nacht entziffert wird:
Die Glätte ihrer Oberfläche gibt ihm sein Hören kund; die
eingemeißelte Schrift gibt ihm sein Hören kund; das Licht der
Fackel hilft ihm besser hören. 5
Lesen dürfte also im dritten Jahrtausend v. Chr. eine Sache
des Hörens der Keilschrift gewesen sein, das heißt des
Halluzinierens gesprochener Rede beim Betrachten ihrer BildSymbole, ungleich dem visuellen Lesen von Silben nach unserer
Art.
Das hier mit »Hören« wiedergegebene Wort ist ein
sumerisches Zeichen, das in der Transliteration »gistugpi«
lautet. Zahlreiche andere königliche Inschriften verzeichnen,
wie der König von irgendeinem Gott mit diesem »gistugpi«
ausgestattet wird, das ihn zu Großem befähigt. Noch 1825 v.
Chr. rühmt sich Waradsin, der König von Larsa, auf einem
Tonkegel, er habe die Stadt umgebaut mit »gistugpi dagal«, das
bedeutet: seinen Gott Enki »auf Schritt und Tritt hörend«. 6
Zeremonielle Mundwaschungen
Ein weiterer Anhaltspunkt dafür,
5
6
Ebd., S. 47.
Ebd., S. 320.
- 252-
daß
die
Statuen
Halluzinationshilfen waren, ergibt sich bei Betrachtung anderer
zeremonieller Verrichtungen, die sämtlich sehr präzis und
konkret auf Keilschrifttafeln beschrieben sind. Die StandbildGottheiten wurden in der bitmummu, einer speziellen
gottge weihten Werkstatt, angefertigt. Selbst die Handwerker
wurden bei ihrer Arbeit von einem Handwerker-Gott, Mummu,
angeleitet, der ihnen »diktierte«, wie sie bei der Herstellung der
Statue zu verfahren hatten. Vor der Aufstellung im Heiligtum
wurde das Standbild den Ritualen des mispi, das heißt der
Mundwaschung, und des pitpi; der Öffnung des Mundes,
unterzogen.
Nicht nur im Zusammenhang mit der Herstellung der Statue,
sondern turnusmäßig auch danach – und vor allem wohl gegen
Ende der bikameralen Ära, als die halluzinierten Stimmen
weniger häufig aufzutreten begannen – vermochte die mit
umständlichem Zeremoniell vorgenommene Mundwaschung die
Redegabe der Götter zu erneuern. Beim Licht tropfender
Fackeln trug man den Gott mit seinem Intarsiengesicht aus
Juwelen zum Flußufer, und dort wurde ihm unter Zeremonien
und Beschwörungen mehrmals der Mund ausgewaschen, wobei
das Gesicht nacheinander gen Osten, Westen, Norden und
schließlich gen Süden gewandt war. Das benutzte Weihwasser
war ein Sud von vielerlei Zutaten: Tamariskenrinde,
verschiedene Gräser, Schwefel, verschiedene Gummis, Salze
und Öle, dazu Dattelhonig sowie verschiedene kostbare Steine.
Nach weiteren Beschwörungen wurde der Gott »an der Hand«
zurück auf die Straße »geleitet«, wobei der Priester ein
litaneiartiges »Fuß, der vorwärtsschreitet – Fuß, der
vorwärtsschreitet ...« intonierte. Am Tempeltor wurde dann
nochmals eine Zeremonie abgehalten. Darauf nahm der Priester
den Gott »bei der Hand« und geleitete ihn zu seinem Thron in
der Nische, wo ein goldener Baldachin aufgeschlagen war und
- 253-
der Mund der Statue abermals ausgewaschen wurde. 7
Die bikameralen Königtümer darf man sich nicht eines wie
das andere vorstellen oder so, als hätten sie nicht im Lauf der
Zeit eine beträchtliche Entwicklung durchgemacht. Die Texte,
denen die zuletzt angezogenen Informationen entstammen,
datieren aus der Zeit etwa gegen Ende des dritten Jahrtausends
v. Chr. Es mag also sein, daß sie eine Spätentwicklung der
Bikameralität repräsentieren, eine Phase, in der der erreichte
Komplexitätsgrad der Zivilisation an sich schon die Deutlichkeit
der Stimmen trübte und die Häufigkeit ihres Auftretens
beschnitt und damit dieses Reinigungsritual ins Leben rief, in
welchem sich die Hoffnung auf eine Regeneration der göttlichen
Stimme ausspricht.
Der Privatgott
Es wäre allerdings verkehrt, nun annehmen zu wollen, daß der
gemeine Mann die Stimmen der großen Götter, denen die Stadt
gehörte, selbst unmittelbar vernommen hätte; eine derartige
Vielfalt des individuellen Halluzinierens wäre mit
systematischer staatlicher Kontrolle unvereinbar gewesen. Der
gemeine Mann diente den Göttern, bestellte ihr Land und nahm
teil an den Festlichkeiten ihnen zu Ehren. Aber nur in extremer
Not flehte er sie an, und auch dann nur über Mittelsleute. Das
geht aus zahllosen Rollsiegeln hervor. Ein Großteil der
Keilschrifttafeln vom Inventarverzeichnis-Typ trägt Abdrücke
solcher Rollsiegel auf der Rückseite; gewöhnlich zeigen diese
einen sitzenden Gott sowie eine weitere; untergeordnete Gottheit
– in der Regel eine Göttin –, die den Besitzer der Tafel an der
rechten Hand vor das Angesicht des Gottes führt.
7
Die Übersetzung dieses Texts (von Sidney Smith) in: Journal of the Royal
Asiatic Society, Januar 1925; abgedruckt in (und hier zitiert nach): S. H.
Hooke, Bäbylonian and Assyrian Religion, Normani University of Oklahoma
Press 1963, S. 118-121.
- 254-
Als derartige Mittelsleute fungierten die Privatgötter. Jedes
Individuum, ob König oder Bauer, hatte seinen eigenen
persönlichen Gott, dessen Stimme er hörte und auf dessen
Stimme er hörte. 8 In fast allen der bei Ausgrabungen zutage
geförderten Wohnhäuser gab es einen Raum, der als Weihestätte
diente; dieser Raum beherbergte wahrscheinlich die
Privatgottheiten der Bewohner in Gestalt von Idolen und
Statuetten. Mehrere späte Keilschrifttexte schildern rituelle
Verrichtungen
an
ihnen,
die
den
zeremoniellen
Mundwaschungen bei den großen Göttern ähneln. 9
Durch flehentliches Bitten waren diese Privatgötter dazu zu
bringen, bei anderen Göttern, die einen höheren Platz in der
Götterhierarchie einnahmen, wegen spezieller Gnadenerweise
vorstellig zu werden. Und so seltsam uns Heutigen das
vorkommen mag – der Instanzenweg funktionierte auch
andersherum: Hatte der Grundeigner-Gott sich einen Fürsten
zum Statthalter-König erkoren, so informierte er zuerst den
Privatgott des Designierten von seiner Wahl, und erst danach
wurde der Betreffende selbst ins Bild gesetzt. Aus meinen
früheren Ausführungen (vgl. Erstes Buch, Fünftes Kapitel)
ergibt sich, daß diese Stufung in der vertikalen Sozialdimension
insgesamt in der rechten Hirnhemisphäre vonstatten ging, und
ich bin mir der Probleme der Authentizität und der kollektiven
Akzeptanz, die sich mit einem derartigen Erwählungsvorgang
verknüpfen, durchaus bewußt. Wie auch anderweitig im
Altertum war der persönliche Gott verantwortlich für das
Handeln des Individuums – im Fall des Königs wie in dem des
8
Nach Thorkild Jacobsens Überzeugung »erscheint [der Privatgott] als die
Personifizierung von Glück und Erfolg eines MenschenN (vgl. T. J.
Mesopotamia, The Intellecrual Adventures of Ancient Man, hg. von H.
Frankfort u. a., Chicago: University of Chicago Press 1946, S. 203). Nach
meiner eigenen festen Überzeugung handelt es sich dabei um nichts anderes
als eine Überfremdung des Sachverhalts aus modernem Empfinden heraus.
9
Saggs, a. a. O. (vgl. Fußnote auf Seite 221), S. 301 f.
- 255-
gemeinen Bauern.
Andere Keilschrifttexte weisen aus, daß der Mensch im
Schatten seines Privatgotts, seines ili, lebte. So unauflöslich
waren Mensch und Privatgott miteinander verbunden, daß der
Name des Privatgotts in die Bildung des Personennamens
einging und so die bikamerale Natur des Menschen plakatierte.
Höchst interessant sind die Fälle, in denen der Name des Königs
den Privatgott bezeichnet: beispielsweise Rimsinili, das bedeutet
»Rimsin ist mein Gott« (Rimsîn war ein König von Larsa), oder,
noch einfacher, Šarruili, »Der König ist mein Gott«. 10 Diese
Beispiele legen die Vermutung nahe, daß der Statthalter-König
selbst zuweilen Gegenstand vo n Halluzinationen sein konnte.
Wann der König zum Gott wird
Insofern mit dieser Möglichkeit gerechnet werden muß, hat
die Unterscheidung, die ich zwischen Statthalter-König- Typ und
Gottkönig- Typ der Theokratie getroffen habe, keine absolute
Geltung. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang
ferner der Umstand, daß auf mehreren Keilschrifttafeln neben
den Namen einer Reihe von frühen mesopotamischen Königen
der achtzackige Stern – das Determinativzeichen für Göttlichkeit
– erscheint. In einem älteren Te xt sind von einer größeren
Anzahl von Königen der Städte Ur und Isin elf mit diesem oder
einem gleichbedeutenden Determinativum ausgezeichnet. Zur
Erklärung dieses Sachverhalts wurden bereits mehrere Theorien
aufgestellt; keine von ihnen ist sonderlich überzeugend.
Das richtungweisende Indiz ist hier meiner Meinung nach
darin zu sehen, daß das Göttlichkeitsdeterminativum den
Königen meistenteils erst nach längerer Regierungszeit und auch
dann nur in bestimmten Städten ihrer Herrschaft erteilt wird.
Das könnte bedeuten, daß die Stimme eines besonders
mächtigen Königs einer Anzahl seiner Untertanen – wenngleich
10
The Intellectual Adventures ... (vgl. Fußnote auf Seite 227), S. 306.
- 256-
nicht allen – in ihren Halluzinationen vernehmlich wurde,
freilich nur an einigen Orten, und nachdem er bereits seit
längerer Zeit an der Herrschaft war.
Doch selbst in solchen Fällen scheint der Unterschied
zwischen göttlichen Königen und Göttern im eigentlichen Sinn
in ganz Mesopotamien niemals seine Bedeutung verloren zu
haben. 11 Ganz anders ist das in Ägypten, wohin wir uns nun
wenden wollen.
ÄGYPTEN : DIE KÖNIGE ALS GÖTTER
Das weite Tiefland um die Flüsse Euphrat und Tigris geht
allmählich und ohne klare Begrenzung einerseits über in die
endlosen arabischen Wüsten, andererseits in die sanft
ansteigende Hügellandschaft im Vorfeld der Gebirgsketten von
Persien und Armenien. Ägypten dagegen ist, vom Süden
abgesehen, auf zwei Seiten achsensymmetrisch eingeschlossen
von unverrückbaren natürlichen Grenzen und damit eine klar
definierbare geopolitische Einheit. Denn ein Pharao, der seine
Macht nilaufwärts aus zudehnen suchte, geriet alsbald in
Landstriche, wo er zwar Raubzüge veranstalten konnte, die er
jedoch niemals völlig zu unterwerfen vermochte. So zeigte sich
in Ägypten seit jeher eine über den geographischen Raum wie
durch die historische Zeit sich erstreckende und selbst das
Volkstum prägende Einförmigkeit. Wie Untersuchungen an
Schädelfunden ergaben, waren die Menschen Ägyptens einander
im Körpertyp erstaunlich ähnlich, und dies konstant über
Zeitalter hinweg. Diese ökologisch abgeschirmte Homogenität
war 12 meines Erachtens die Voraussetzung für das lange
Überdauern der archaischeren Spielart der Theokratie, des
Gottkönigtums.
11
Saggs, a. a.0. (vgl. Fußnote auf Seite 121), S. 343 f.
G. M. Morant, Study of Egyptian Craniology from Prehistoric to Roman
Times, Biometrika 17/1925, S. 1-52.
12
- 257-
Die »Memphitische Theologie«
Betrachten wir zunächst die berühmte »Memphitische
Theologie«. 13 Es handelt sich um einen Granitblock aus dem
achten Jahrhundert v. Chr. (den sogenannten »Schabakastein«,
heute Britisches Museum 138), auf den eine ältere Handschrift
(vermutlich von einer vom Verfall bedrohten Lederrolle aus der
Zeit um 3000 v. Chr.) übertragen wurde. Der Text beginnt mit
einer Apostrophe des »Schöpfer«-Gottes Ptah, fährt fort mit dem
Zwist zwischen den Göttern Horus und Seth und dessen
Schlichtung durch Geb, schildert die Erbauung des königlichen
Gotteshauses zu Memphis, um dann in der berühmt gewordenen
Schlußsektion festzustellen, daß die anderen Götter im
ägyptischen Pantheon Varianten von Ptahs Stimme oder
»Zunge« seien.
Übersetzt man nun, wie es häufig getan wird, das Wort
»Zunge« an dieser Stelle mit »objektivierte Begriffe seines
Denkens« oder ähnlichem, so ist dies ohne Frage eine
Überformung des Textes mit neuzeitlichen Kategorien. 14
Vorstellungen wie die von objektivierten Denkbegriffen und
selbst noch diejenige von einer im Erscheinenden sich Ausdruck
suchenden Geistigkeit haben sich erst sehr viel später
herausgebildet. Es herrscht allgemeine Übereinstimmung
darüber, daß die allägyptische Sprache genau wie die
sumerische durch und durch konkret war. In irgendeiner Form
zu unterstellen, sie sei Ausdruck abstrakter Gedanken gewesen,
heißt nach meinem Dafürhalten, hier die moderne Vorstellung
mit einzuschmuggeln, die Menschen seien einander zu allen
13
Zusätzlich zur sonstigen Quellenliteratur habe ich für diesen Abschnitt
benutzt: John A. Wilson, The Culture of Ancient Egypt, Chicago: University
of Chicago Press 1951; Cyril Aldred, Egypt and the End of the Old Kingdom,
New York: McGraw-Hill 1965; W. W. Hallo u. W. K. Simpson, The Ancient
Near East: A History, New York: Harcourt Brace Jovanovich 1971.
14
Henri Frankfort, Kingship and the Gods, Chicago: University of Chicago
Press 1948, S. 28.
- 258-
Zeiten gleich gewesen. Auch an den Stellen, wo in der
»Memphitischen Theologie« davon die Rede ist, daß von der
Zunge beziehungsweise den Stimmen alles andere geschaffen
wird, vermute ich bereits in dem Wort »geschaffen« eine
moderne Überfremdung: Als die korrektere Lesart will mir
»befehligt« erscheinen. Diese Theologie ist also im wesentlichen
ein Mythos von der Sprache, und was Ptah in Wahrheit befehligt
– worüber er herrscht und gebietet –, sind nichts anderes als die
bikameralen Stimmen, die die ägyptische Zivilisation ins Leben
riefen, sie lenkten und leiteten.
Osiris: die Stimme des toten Königs
Schon manches Mal wurde Verwunderung geäußert
angesichts der Art und Weise, wie in dem erwähnten Text
Mythologie und Realität durcheinandergehen – dergestalt, daß
der himmlische Zank zwischen Horus und Seth ein reales Stück
Land zum Gegenstand hat, oder daß die Osirisgestalt des letzten
Abschnitts zu Memphis realiter begraben liegt, oder auch, daß
jeder König bei seinem Tod zu Osiris wird, so wie er zu
Lebzeiten Horus war. Indes, in der angenommenen
Voraussetzung, daß es sich bei all diesen Gestalten um einzelne
Stimmhalluzinationen handelt, wie sie von Königen und den
ihnen im Rang Nächststehenden vernommen wurden; und daß
die Stimme eines Königs dessen Tod überdauern und als
Wegweiserin seines Nachfolgers ihre »Existenz« fortsetzen
konnte; und daß wir es bei den Mythen von Göttergezänk und
von den vielfältigen Beziehungen der Mitglieder des Pantheons
untereinander mit Rationalisierungsversuchen zu tun haben, die
dem Auftreten einander widerstreitender belehrender
Stimmautoritäten Rechnung tragen und im übrigen die real
existierende Herrschaftsorganisation reflektieren – in dieser
Voraussetzung haben wir zumindest einen neuen Ansatz für die
Deutung der Befunde gewonnen.
Um gleich zum Kern der Sache zu kommen: Osiris war kein
- 259-
»sterbender Gott«, nicht »das Leben im Bann des Todes« und
kein »toter Gott«, wie moderne Interpreten gemeint haben. Er
war die halluzinierte Stimme eines verstorbenen Königs, dessen
Belehrungen noch immer etwas galten. Und da er sich noch
immer vernehmen ließ, liegt kein Widersinn darin, daß man den
Körper, von dem die Stimme ehemals ausging, einbalsamierte
und sein Grab mit allem Lebensnotwendigen ausstattete: mit
Speis und Trank, mit Sklaven und Frauen und allem sonstigen
Drum und Dran. Da war keine geheimnisvolle Macht, die er
ausströmte – da war nur das Andenken seiner Stimme, die sich
in den Halluzinationen derer, die ihn gekannt hatten, geltend
machte, ihnen ebenso gebot und sie beriet, wie sie es getan
hatte, bevor sein Leib aufgehört hatte, zu atmen und sich zu
bewegen. Und daß, unter anderem, eine Naturerscheinung wie
das Gewisper der Wellen im Fluß als Hinweisreiz für derartige
Halluzinationen wirken konnte, erklärt, wie es zu dem Glauben
kam, daß Osiris beziehungsweise der König, dessen Leib sich
nicht mehr bewegte und in Mumiengewänder eingekleidet war,
weiterhin die Überflutungen des Nils kontrollierte. Des weiteren
ist die Beziehung zwischen Horus und Osiris und ihre auf ewig
wiederholte »Verkörperung« in jedem neuen König und seinem
verstorbenen Vater nur zu verstehen als die langsame
Angleichung einer halluzinierten gebietenden Stimme an des
Königs eigene Stimme, ein Vorgang, der sich von Generation zu
Generation wiederholte.
Herrschaftshäuser für Stimmen
Daß die Stimme und mithin die Macht eines Gottkönigs
weiterlebten, nachdem sein Leib bereits aufgehört hatte, zu
atmen und sich zu bewegen, geht fraglos aus der Art des
Begräbnisses hervor, das man ihm bereitete. Freilich ist
Begräbnis hier wohl kaum das richtige Wort. Solche göttlichen
Könige wurden nicht in triste Gräber eingesperrt, sondern
heimgeführt in strahlende Paläste. Sobald man die Technik des
- 260-
Steinbaus gemeistert hatte, kurz nach 3000 v. Chr., schossen die
zuvor als Stufenmastaba ausgeführten Grabbauten empor zu den
uns unter dem Namen Pyramiden bekannten Galabühnen für das
Nachleben der unsterblichen bikameralen Stimmen: zu
Komplexen von Festhöfen und mit heiligen Bildwerken und
Schriften heiter ausgezierten Galerien, häufig umgeben von
Gräberfeldern für des Gottes Dienerschaft, überragt vom
Pyramidenpalais des Gottes selbst, das – im Äußeren von beinah
allzu selbstgewisser Nüchternheit – zur Sonne aufstieg wie eine
lichtüberflutete Zikkurat und dessen Bauweise von einer
ungebrochenen Gesinnung kündete, die sich nicht scheute,
neben Alabaster und Kalkstein die härtesten Gesteinsarten zu
verwenden – geschliffenen Basalt, Granit und Diorit.
Der psychologische Sinn von alldem harrt noch der
Enträtselung – nicht zuletzt, weil die Materialien, auf die man
sich dabei stützen könnte, durch »Goldsammler« jeglicher
Couleur in so bedenklichem Ausmaß dezimiert sind, daß diese
ganze Frage vielleicht überhaupt in ewiges Dunkel gehüllt
bleiben wird. Ein Rätsel ist beispielsweise der Umstand, daß
man die reglose Mumie des Gottkönigs häufig in einem recht
schlichten Sarkophag findet, während seine prunkvollen
Ebenbilder mit unvergleichlich viel mehr Ehrfurcht umhegt
wurden: Ist das damit zu erklären, daß letztere als Realursachen
des halluzinierten Geschehens erlebt wurden? Wie die
Statuengottheiten Mesopotamiens waren auch diese ägyptischen
Plastiken lebens- oder überlebensgroß. Zuweilen trugen sie eine
kunstreiche Bemalung; die Augen bestanden in der Regel aus
Edelsteinen,
die
seither
längst
von
bewußten,
nichthalluzinierenden Grabräubern brutal aus ihren Fassungen
gebrochen worden sind. Anders als ihre Vettern im Osten
wurden die ägyptischen Götterbilder niemals von ihrem Platz
entfernt, so daß man ihre Züge, unbesorgt um Transportrisiken,
im Kalkstein, Schiefer, Diorit, oder welchen Stein man auch
immer benutzte, aufs feinste ausmeißeln konnte; nur
- 261-
gebietsweise wurden sie aus Holz verfertigt. In einer Nische
hatten sie gewöhnlich ihren Dauerplatz, den sie manchmal
sitzend, manchmal freistehend einnahmen und manchmal auch,
als vielfache Ausfertigungen des einen Gottkönigs, sitzend oder
stehend in einer Reihe; manchmal findet man sie in eine kleine
Kapelle, den Serdab, eingemauert, mit zwei Gucklöchern vor
den Juwelenaugen, damit der Gott in den Vorraum
hinausblicken konnte auf geopferte Speisen und Schätze und wir
wissen nicht, was sonst noch alles, was seither in die Hände von
Plünderern gefallen ist. Gelege ntlich kam es sogar vor, daß die
halluzinierte Rede des verstorbenen Gottkönigs im Wortlaut
schriftlich aufgezeichnet wurde, wie in der »Lehre, von der
Majestät des von Rechts wegen König Amenemhet I. seinem
Sohn erteilt, als er in einer Traum-Offenbarung zu ihm sprach«.
Auch den gemeinen Mann behandelt die Begräbnissitte, als ob
er noch weiterlebte. Bereits seit vordynastischen Zeiten wurden
Bauern Töpfe mit Speisen, Gerätschaften und Opfergaben zum
Gebrauch im anderen Leben mit ins Grab gegeben. Weiter oben
in der Gesellschaftshierarchie hielt man Leichenfeiern ab, an
denen auf ungeklärte Weise der Leichnam selber teilnahm.
Relieftafeln, die den Verstorbenen als Mit-Esser beim eigenen
Leichenmahl zeigen, wurden in einer Wandnische des
Grabhügels oder der Mastaba aufgestellt. In jüngeren
Begräbnisstätten ist das zur gemauerten Grabkammer mit
bemalten Reliefs und dem Serdab mit Statuen und Opfergaben
wie in den richtigen Pyramiden fortentwickelt.
Häufig wurde dem Namen eines Toten ein Epitheton mit der
Bedeut ung »wahrhaftig von Stimme« beigefügt. Außerhalb der
hier vorgetragenen Theorie läßt sich dafür schwerlich eine
Erklärung finden. »Wahrhaftig von Stimme« war ursprünglich
das Attribut von Osiris und Horus, das sie als Sieger über ihre
Widersacher bezeichnete.
Auch Briefe wurden an die Toten gerichtet, als ob sie
Lebende wären. Wahrscheinlich ging man dazu über, nachdem
- 262-
einige Zeit verstrichen war und der Adressat sich nicht mehr
halluzinativ »vernehmen« ließ. Ein Mann schreibt an seine tote
Mutter und bittet sie um einen Schiedsspruch in der Streitigkeit
zwischen ihm und seinem toten Bruder. Wie wäre das anders zu
erklären als unter der Voraussetzung, daß der lebende die
Stimme des toten Bruders in seinen Halluzinationen hörte? Oder
ein Toter wird gebeten, seine Vorfahren aufzuwecken, damit sie
seiner Witwe und ihrem Kind helfen. Diese Briefe sind private
Zeugnisse alltäglicher Sorgen und Nöte, unbeeinflußt von
Offizialdoktrinen und schaustellerischen Bedürfnissen.
Eine neue Theorie des Ka
Könnte man von einer psychologischen Wissenschaft der
alten Ägypter sprechen, müßte man sagen, daß deren
fundamentales Konzept in der Idee des »Ka« bestand – und
damit erhebt sich die Frage: Was ist dieser Ka? Dieser
besonders schwer zu deutende Begriff begegnet in ägyptischen
Inschriften auf Schritt und Tritt; das Kopfzerbrechen über seinen
Sinn hat in der gelehrten Welt zu einem Schwall von
Übersetzungslesarten
geführt:
»Geist«,
»Seele«,
»Doppelgänger«, »Lebenskraft«, »Geschick« oder »Schicksal«,
»Vorsehung«, und Gott weiß, was sonst noch alles. Man hat ihn
mit dem Lebenshauch der Semiten und der Griechen wie mit
dem »genius« der Römer gleichgesetzt. Aber diese späteren
Begriffe
gehören
offenkundig
zu
den
überlebten
Sprachgewändern aus dem Restbestand der bikameralen Psyche.
Auch läßt sich diese semantische Vieldeutigkeit weder in der
Weise bereinigen, daß man für die Ägypter eine Mentalität
annimmt, die durch vieldeutigen Wortgebrauch ein und dieselbe
geheimnishafte Wesensheit einzukreisen versuchte, noch durch
das Postulat einer »Eigenart des ägyptischen Denkens, die auf
die Möglichkeit hinauslief, einen Gegenstand nicht durch eine
einzige, bündige Definition zu bestimmen, sondern in ihrem
Begriff unterschiedliche und untereinander unverbundene
- 263-
Perspektiven zusammenzufassen«. 15 Das alles schafft keine
zufriedenstellende Erklärung.
Die hieratischen Texte liefern verwirrende Befunde. Jeder
Mensch hat seinen eigenen Ka und spricht von ihm etwa so wie
wir von unserer Willenskraft. Andererseits heißt es von
jemandem, der gestorben ist, er sei zu seinem Ka gegangen. In
den bekannten Pyramidentexten aus der Zeit um 2200 v. Chr.
werden die Toten »Herren ihres Ka« genannt. Das
Hieroglyphenzeichen für den Ka ist eine ermahnende Geste:
zwei erhobene Arme mit flachgestreckten Händen, das Ganze
auf einem Querbalken postiert, der in der Hieroglypenschrift
sonst den Symbolen für die Götter vorbehalten ist.
Nach dem bisher Gesagten leuchtet ohne weiteres ein, daß der
Ka als bikamerale Stimme gedeutet werden muß. Er ist nach
meinem Dafürhalten das, was der ili, der Privatgott, für die alten
Babylonier war. Der Ka des einzelnen war die für ihn selber
deutlich vernehmbare Stimme, die sein Handeln dirigierte und
die für ihn wahrscheinlich den Klang einer Elternstimme oder
der Stimme einer ihm bekannten Autoritätsperson hatte, die
jedoch, wenn sie nach seinem Tod für Bekannte und Verwandte
hörbar wurde, von diesen selbstverständlich mit dem
Stimmklang des Verstorbenen halluziniert wurde.
Vergessen wir jetzt einmal die hier ansonsten strikt betonte
Bewußtseinslosigkeit dieser Menschen und stellen sie uns mehr
oder weniger als unseresgleichen vor, so könnten wir uns etwa
einen Landarbeiter denken, der draußen auf dem Feld plötzlich
die Stimme des vorgesetzten Aufsichtsbeamten ihm irgendeine
Anweisung geben hört. Würde er nach seiner Rückkehr in die
Stadt dem Beamten erzählen (in der zeitgenössischen
Wirklichkeit hätte es für ihn natürlich nicht den geringsten
Anlaß gegeben, das zu tun), er habe seinen, des Aufsehers, Ka
gehört, so würde der Beamte – vorausgesetzt, er hätte ein
15
Ebd., S. 61.
- 264-
Bewußtsein wie wir annehmen, daß es sich um die gleiche
Stimme handelt, die er auch selber hört und die auch sein
eigenes Leben lenkt. Tatsächlich jedoch hätte der Ka des
Aufsehers zu dem Arbeiter auf dem Feld mit der Stimme des
Aufsehers gesprochen gehabt, wohingegen er zu dem Aufseher
selbst mit der Stimme seines Vorgesetzten oder einer Legierung
mehrerer
Vorgesetztenstimmen
spräche.
Daß
diese
Wahrnehmungsdiskrepanz niemals entdeckt werden könnte,
liegt auf der Hand.
Andere Aspekte des Ka stimmen mit dieser Deutung überein.
Die Haltung der Ägypter dem Ka gegenüber ist reinste
Passivität. Wie im Fall der griechischen Götter, so auch hier:
Hören ist gleich Gehorchen. Der Ka gibt nicht nur Befehle,
sondern ist zugleich die Antriebskraft des Vollzugs. Auf einigen
Inschriften von Hofleuten heißt es mit Bezug auf den König: Ich
habe gehandelt, wie sein Ka es liebte« oder »Ich habe gehandelt,
wie sein Ka es guthieß« 16 , was so ausgelegt werden kann, daß
der Höfling die halluzinierte Stimme des Königs seiner Arbeit
Beifall spenden hörte.
In manchen Texten heißt es, der König mache eines Mannes
Ka, und einige Gelehrte übersetzen Ka in dieser Verwendung
mit Glück. 17 Auch dies ist eine neuzeitliche Überfremdung.
Einen Begriff von Glück und Erfolg zu haben ist für die
bikamerale Zivilisation Ägyptens unmöglich. Nach meiner
Lesart sind derartige Stellen so zu verstehen, daß der betreffende
Mann eine erzieherische halluzinierte Stimme erlangt, die ihn
dann bei seiner Arbeit leitet. In den Namen der ägyptischen
Beamten taucht der Ka so häufig auf wie der ili in denen der
babylonischen: Kaininesut, das heißt »Mein Ka gehört dem
16
Ebd., S. 68.
Vgl. jedoch Alan H. Gardiner, Egyptian Grammar (Oxford 1957), S. 172,
Anm. 12.
17
- 265-
König«, oder: Kainesut, »Der König ist mein Ka«. 18 Auf der
Stele Nr. 20 538 im Museum von Kairo heißt es: »Der König
gibt seinen Dienern Ka und nährt, die ihm treu sind.«
Der Gott Chnum formt auf der Töpferscheibe mit der rechten
Hand den künftigen König, mit der linken den Ka des Königs.
Dieser Ka deutet mit dem Zeigefinger seiner linken Hand auf
seinen Mund zum Beweis seiner Sprechfunktion. Die in dieser
Figurengruppe durchgehaltene Verteilung auf die beiden
Körperhälften (Lateralisierung) entspricht dem im Kapitel
»Das
Doppelhirn«
(Seite
128-158)
dargestellten
neurologischen Modell.
Besonders interessant ist der Ka des Gottkönigs. Nach meiner
Vermutung teilte er sich dem König mit dem Stimmbild von
dessen Vater mit. Doch in den Halluzinationen des Hofstaats –
und dies ist der eigentlich wichtige Punkt – wurde er als die
Stimme des Königs selbst gehört. Die Texte vermerken, daß,
wenn der König sich zu Tisch setzte und aß, sein Ka dabeisaß
und mitaß. Die Pyramiden sind voller Scheintüren – manchmal
sind sie einfach nur auf die Kalksteinwand aufgemalt –, durch
18
Frankfort, a.a. O. (vgl. Fußnote auf Seite 230), S. 68; vgl. auch John A.
Wilson, Egypt: The Values of Life, The Intellectual Adventures ... (vgl.
Fußnote auf Seite 227) Kap. 4, S. 97.
- 266-
die der Ka des abgeschiedenen Gottkönigs in die Welt
hinaustreten konnte, um sich dort hören zu lassen. Auf
Denkmälern wird nur des Königs eigener Ka abgebildet,
manchmal als Standartenträger, der die Kopfstütze des Königs
und die Feder hält, bisweilen auch als hinter dem Kopf des
Königs hockender Vogel. Am bezeichnendsten ist jedoch die
Wiedergabe von König und Ka als Zwillingsgestalten in
mythischen Geburtsdarstellungen. Eine dieser Darstellungen
zeigt den widderköpfigen Gott Chnum, wie er auf seiner
Töpferscheibe den König und seinen Ka modelliert, zwei
Figürchen, die sich nur darin unterscheiden, daß der Ka mit dem
Zeigefinger der linken Hand auf seinen Mund deutet – offenbar
um sich damit als personifizierte Rede (wie man sagen könnte)
zu bezeichnen. 19
Als Anzeichen zunehmender Komplexität in diesen Dingen ist
vielleicht eine Reihe von Texten zu werten, die aus der Zeit der
achtzehnten Dynastie – um 1500 v. Chr. – und später datieren
und beiläufig erwähnen, daß der König vierzehn (!) Ka besitzt.
Eine höchst verblüffende Feststellung! Das Verwaltungssystem
– so könnte man sie interpretieren – war so kompliziert
geworden, daß die Stimme des Königs als vierzehn verschiedene
Stimmpersonifikationen vernommen wurde, wobei die letzteren
die Stimmen von Mittelsleuten zwischen dem König und
denjenigen waren, die seine Befehle letzten Endes in die Tat
umsetzten. Die Auffassung, wonach dem König vierzehn Ka
zugeschrieben werden, bleibt für jede andere Auffassung des Ka
als die hier vertretene unerklärlich.
Jeder König, so sagten wir, ist Horus, während sein
verstorbener Vater sich in Osiris verwandelt. Dem König eignet
ein Ka oder, in späteren Zeiten, mehrere Ka, was am besten mit
»personifizierte Stimmen« zu übersetzen wäre. Dies richtig zu
verstehen ist unabdingbare Voraussetzung für das richtige
19
Abbildung 23 bei Frankfort, a. a. O. (vgl. Fußnote auf Seite 230).
- 267-
Verständnis der gesamten ägyptischen Zivilisation, denn das
Verhältnis zwischen König, Gott und Volk gestaltet sich durch
Vermittlung des Ka. Der königliche Ka ist selbstverständlich
göttlicher Ka; er operiert als Überbringer der königlichen
Botschaften; für den König selbst ist er die Stimme seiner
Vorfahren, für seine Untergebenen die Stimme, die dem
einzelnen Anweisungen erteilt. Und wenn ein Untertan, wie es
in manchen Texten vorkommt, feststellt: »Mein Ka stammt vom
König«, oder: »Der König macht meinen Ka«, oder: »Der König
ist mein Ka«, dann ist das so zu verstehen, daß sich die
möglicherweise den Eltern nachempfundene innere Stimme, die
das Tun des Betreffenden lenkte, dem Klang (oder vermuteten
Klang) der Stimme des Königs angeglichen hatte.
Eine andere, in der altägyptischen Mentalität der des Ka
verwandte Vorstellung ist die des »Ba«. Doch zumindest im
Alten Reich steht der Ba nicht auf derselben Stufe wie der Ka.
Er ist eine visuelle Materialisierung dessen, was sonst als Ka nur
zu hören ist, und hat demzufolge mehr mit unserer üblichen
Geistererscheinung gemein. Auf Grabbildern ist der Ba
gewöhnlich als kleiner menschengestaltiger Vogel dargestellt,
was seinen Grund darin haben mag, daß Gesichtshalluzinationen
oft mit vogelgleich huschenden Bewegungen auftreten. Solche
Bilder zeigen ihn in der Regel in direkter oder indirekter
Verbindung mit der Leiche oder mit Statuen des Verstorbenen.
Daß der Ba nach dem Zusammenbruch des hochzentralisierten
Alten Reiches bikamerale Funktionen des Ka übernimmt, läßt
sich zum einen aus der Veränderung seiner Hieroglyphe
entnehmen: Aus dem kleinen Vogel wird ein kleiner Vogel
neben einer Lampe (die den einzuschlagenden Weg erhellt);
zum andern tritt es in dem berühmten Papyrus Berlin 3024 aus
der Zeit um 1900 v. Chr. zutage, in dem der Ba die Rolle einer
Gehörshalluzination
spielt.
Sämtliche
vorliegenden
Übersetzungen dieses erstaunlichen Textes – einschließlich der
- 268-
jüngsten, die ansonsten ein Bravourstück an Gelehrsamkeit ist20
20 – kranken daran, daß sie mit einer Unzahl von modernen
Geistkategorien überformt sind. Und kein Ausleger hat sich je
getraut, dieses »Streitgespräch zwischen einem Lebensmüden
und seinem Ba« für das zu nehmen, was es allen Anzeichen
nach ist: ein Dialog mit einer Gehörshalluzination, wie man ihn
heute noch ganz ähnlich bei Schizophrenen beobachten kann.
THEOKRATIEN IM WANDEL DER ZEITEN
Im vorigen Kapitel war es mir um die Hervorhebung der
Gleichförmigkeiten zwischen bikameralen Königtümern zu tun:
große, zentral gelegene Kultstätten; die Behandlung von Toten,
als ob sie Lebende wären; das Vorhandensein von Idolen.
Freilich weisen die alten Kulturen neben diesen Globalaspekten
und über sie hinaus zahlreiche Differenzierungen auf, deren
Erwähnung an Ort und Stelle der angestrebten Prägnanz der
Argumentation zum Opfer fiel. Wir alle wis sen ja sehr wohl,
welch handfeste Unterschiede zwischen Zivilisationen und
Kulturen bestehen können, und so dürfen wir auch nicht
erwarten, daß überall, wo die bikamerale Psyche in Erscheinung
trat, dies mit ein und demselben Ergebnis geschah. Andere
Bevölkerungszahlen, eine andere Umwelt, andere Priester,
Verwaltungshierarchien, Idole, Produktionsmerkmale das alles
bedingt, so meine ich, halluzinatorische Kontrollen von jeweils
markant anderer Autorität und Intervalldichte, anderem
Streuungs- und Wirkungsgrad.
Hauptthema dieses Kapitels sind demgegenüber die
Unterschiede zwischen den zwei größten dieser Zivilisationen.
Allerdings habe ich jede von ihnen bisher so dargestellt, als
seien sie sich im Laufe der Zeit immer gleichgeblieben. Und das
trifft nicht zu. In Bezug auf die bikameralen Theokratien den
20
Hans Goedicke, The Report about the Dispute of a Man with His Ba.
Papyrus Berlin 3024, Baltimore: Johns Hopkins Press 1970.
- 269-
Eindruck über Raum und Zeit hinweg anhaltender Statik und
Stabilität zu erwecken wäre ein Mißgriff ganz und gar. Darum
möchte ich im letzten Abschnitt dieses Kapitels die bisher
einseitige Akzentverteilung korrigieren, indem ich kurz auf den
intrakulturellen Strukturwandel sowie auf interkulturelle
Strukturdifferenzen der bikameralen Königtümer eingehe.
Zunehmende Komplexitätsgrade
Was an den Theokratien als erstes ins Auge fällt, ist ihr
»Erfolg«
nach
biologischen
Maßstäben.
Die
Bevölkerungszahlen nahmen stetig zu. Im selben Zug wurden
die Probleme der sozialen Kontrolle auf der Grundlage von
Halluzinationen, die Götter hießen, immer komplizierter. Das
Strukturschema
der
sozialen
Kontrolle
in
einer
Dorfgemeinschaft von wenigen hundert Mitgliedern, wie sie
weit zurück in der Vergangenheit im ‘Aïm Mallaha des neunten
Jahrtausends v. Chr. bestand, ist fraglos himmelweit
unterschieden von dem, was wir in gleicher Hinsicht in den
zuletzt erörterten Hochkulturen mit ihren hierarchisch
geordneten Götter-, Priester- und Beamtenschichten finden.
In der Tat meine ich, daß den bikameralen Theokratien so
etwas wie eine eingebaute Periodizität eignet: daß
halluzinatorische Kontrolle eben dank ihres Erfolgs soziale
Komplexit ät schafft, und zwar bis zu einem Grad, wo die
Aufrechterhaltung des Zivilisationszustands und zivilisierter
zwischenmenschlicher Beziehungen nicht mehr gelingt und als
Folge davon der Zusammenbruch der bikameralen Gesellschaft
eintritt. Wie ich im vorigen Kapitel bemerkte, ereignete sich dies
zu wiederholten Malen mit präkolumbischen indianischen
Hochkulturen: Ganze Populationen verließen ohne äußeren
Grund urplötzlich ihre Städte, um unter Preisgabe der erreichten
Herrschaftsorganisation in den umliegenden Gebieten auf die
Entwicklungsstufe des Stammeslebens zu regredieren, nach rund
hundert Jahren jedoch wieder zu ihren Städten und Göttern
- 270-
zurückzukehren.
In den Jahrtausenden, die Gegenstand des vorliegenden
Kapitels sind, war die Komplexität der Gesellschaft offenkundig
im Steigen begriffen. Sinn und Zweck vieler der bisher
geschilderten Riten und Gebräuche war Komplexitätsreduktion.
Sogar an der aufkommenden Schrift läßt sich das ablesen: Die
ältesten Piktogramme dienten der Etikettierung, Katalogisierung
und Systematisierung. Und einige der ältesten syntaktisch
aufgebauten Texte sprechen bereits von Übervölkerung. Das
akkadische Epos von »Atramhasis« (dem »überaus Weisen«)
platzt mit einem Problem heraus –
Das Volk wurde zahlreich ...
Der Gott war betrübt über ihren Tumult, Enlil vernahm ihren
Lärm.
Er klagte den großen Göttern:
Der Lärm der Menschen ist zur Plage geworden 21
– das sich ganz so anhört, als ob die Stimmen Schwierigkeiten
gehabt hätten durchzudringen. Die mythische Erzählung
schildert im weiteren, wie die Götterversammlung Pest,
Hungersnöte und zum Schluß eine große Flut (das Urbild der
biblischen Sintflut) über die Menschen verhängt, um die
»Schwarzköpfe« – wie die babylonischen Götter ihre
menschlichen Sklaven verächtlich nannten – zu dezimieren.
Die göttliche Maschinerie begann an Überlastung zu kranken.
In den ersten Jahrtausenden der bikameralen Epoche war das
Kollektivleben einfacher gewesen, in der Ausdehnung auf ein
kleines Gebiet begrenzt, der politische Organisiertheitsgrad
mäßig – dazu bedurfte es damals nur weniger Götter. Doch zum
dritten Jahrtausend v. Chr. hin und in dessen Verlauf steigt der
Komplexitätsgrad der Sozialorganisation rapide an, so daß jetzt
21
Zitiert nach Saggs, a. a. O. (vgl. Fußnote auf Seite 221), S. 384 f.
- 271-
innerhalb gleicher Zeiteinheften an Zahl sehr viel mehr auf sehr
viel
abwechslungsreichere
Problemtypen
passende
Entscheidungen zu treffen waren. Das führt zu einer Schwemme
von Gottheiten, damit jedermann in jedweder Bedarfssituation
einen Ansprechpartner hatte. Von den großen Gotteshäusern der
sumerischen und babylonischen Städte, wo die Hauptgötter
wohnten, bis hin zu den häuslichen Andachtskapellen, wo jede
Hausgemeinschaft ihre Privatgötter verwahrte, war die alte Welt
der Tummelplatz für regelrechte Schwärme von Göttern, was
wiederum den Bedarf an Priestern erhöhte, die eine strenge
Rangfolge in diesen Haufen brachten. Für jede vorstellbare Lage
gab es einen zuständigen Gott. Man kann beispielsweise das
Aufkommen von offenbar populären Landstraßen-Heiligtümern
beobachten, wie etwa die Pasag-Kapelle eines war, in welcher
der Statuengott Pasag Entscheidungshilfen für den Weg durch
die Wüste vermittelte. 22
Beide nahöstlichen Theokratien reagieren auf diese Zunahme
der Komplexität auf je verschiedene, höchst aufschlußreiche
Weise. In Ägypten erweist sich das Gottkönigtum des Alten
Reichs – ungeachtet der Tatsache, daß dieses sich über
gewaltige Entfernungen den Nil entlang erstreckt- als die
weniger flexible Regierungsform: weniger fähig, menschliches
Potential zu aktivieren, weniger innovationsbereit, weniger
duldsam gegenüber ind ividuellen Faktoren in unteren
Verwaltungsbereichen. Für den Historiker – gleichgültig,
welche Theorie des politischen Zusammenhalts er vertreten
mag, gibt es keinen Zweifel, daß im letzten Jahrhundert des
dritten Jahrtausends v. Chr. jegliche Staatsautorität in Ägypten
zusammenbrach.
Es
könnte
sein,
daß
irgendeine
Naturkatastrophe dabei als Auslöser gewirkt hat: Aus manchen
alten Texten, die sich auf die Zeit etwa um 2100 v. Chr.
22
Nach Keilschrifttafeln, die Sir Leonard Woolley zusammen mit einer grob
behauenen Kalksteinstatue von Pasag fand. Vgl. C. L. Woolley, Excavations
at Ur: A Record of Twelve Years Work, London: Benn 1954, S. 190-192.
- 272-
beziehen, lassen sich Hinweise auf eine Austrocknung des
Nilbetts herauslesen; das Menschen trockenen Fußes überquert
haben sollen; auch sollen Verdunkelungen der Sonne und
Mißernten aufgetreten sein. Was immer die unmittelbare
Ursache gewesen sein mag, fest steht, daß die Machtpyramide
mit dem Gottkönig zu Memphis an der Spitze um jene Zeit
einstürzte wie ein Kartenhaus. Literarische Quellen schildern
uns Menschen auf der Flucht aus ihren Wohnorten, Adelsleute
beim Durchwühlen des Ackerbodens nach irgend etwas
Eßbarem, Zwietracht unter Brüdern, Morde, begangen an den
eigenen Eltern, die Plünderung von Pyramiden und Grabstätten.
Die Forschung vertritt seit langem die Ansicht, daß dieser
absolute Verfall der politischen Macht in keinerlei äußerer
Einwirkung seinen Grund hatte, sondern die Folge irgendeiner
unergründlichen inneren Schwäche war. Und in der Tat meine
ich, daß sich hier die Schwachstelle der bikameralen Psyche
zeigte,
ihre
Unzulänglichkeit
angesichts
wachsender
Komplexität, und daß ein solch vollständiger Zusammenbruch
politischer Machtstrukturen nur daraus zu erklären ist. Ägypten
war zur damaligen Zeit vom Delta bis zum Oberlauf des Nils in
Gaue
eingeteilt,
deren
jedes
eine
höchstrangige
Verwaltungseinheit darstellte und im Prinzip hätte autark
bestehen können. Doch eben der Umstand, daß der totale Verfall
der Herrschaftsgewalt nicht zum Aufstand führte und daß keines
dieser Untergebiete Selbständigkeit für sich beanspruchte, deutet
nach meinem Dafürhalten auf eine Mentalität hin, die sich von
der unseren gewaltig unterschied.
Dieser Zusammenbruch der bikameralen Psyche in der
sogenannten Ersten Zwischenzeit ähnelt zumindest von fern den
periodischen Zusammenbrüchen der Maya-Zivilisationen mit
ihrer totalen Preisgabe fortgeschrittener Herrschaftsorganisation
und der Rückkehr von Stadtbevölkerungen zur Kulturstufe des
Stammeslebens im Urwald. Und ebenso wie nach einer
Interimsperiode der Auflösung die Maya-Städte wieder bezogen
- 273-
wurden oder neue Städte entstanden, so wurde Ägypten nach
einer weniger als hundert Jahre währenden Zwischenzeit der
Auflösung zu Beginn des zweiten Jahrtausends v. Chr. unter
einem neuen Gottkönig zu dem, was nachmals Mittleres Reich
heißen sollte, wiedervereinigt. In gleicher Weise fielen auch
anderswo im Nahen Osten von Zeit zu Zeit Zivilisationen dem
Zusammenbruch anheim, so beispielsweise um 2700 v. Chr. die
von Aššur, wie wir im folgenden Kapitel noch genauer sehen
werden.
Die Idee des Rechts
Dagegen blieb der Südteil des Zweistromlands von
Katastrophen dieses Ausmaßes verschont. Natürlich fanden dort
Kriege statt. Stadtstaaten schlugen sich darum, wessen Gott (und
mithin wessen Statthalter) über welche Ländereien herrschen
sollte. Aber niemals kam es dort irgendwo zum vollständigen
Kollaps der Staatsmacht wie in Mittelamerika oder in Ägypten
beim Zusammensturz des Alten Reichs.
Einer der Gründe dafür war, so glaube ich, die größere
Flexibilität der Theokratie vom Typ des Statthalter-Königtums.
Einen zweiten, vom erstgenannten nicht ganz unabhängigen
Grund sehe ich in der Verwendung, die man hier von der Schrift
machte. Anders als in Ägypten wurde die Schrift in
Mesopotamien schon früh für Zwecke der Verwaltung
eingesetzt. Um 2100 v. Chr. begann man in Ur damit, die
Urteilssprüche, die die Götter durch den Mund ihrer Statthalter
kundgaben, schriftlich festzuhalten. Hier liegen die Anfänge der
Idee des Rechts. Solche in Schriftform niedergelegten Urteile
konnten räumlich gestreut werden und bewahrten Dauer in der
Zeit: So schufen sie Zusammenhalt in einer größeren
Gesellschaft. Vergleichbares ist uns aus Ägypten erst für einen
beinah ein Jahrtausend späteren Zeitpunkt bekannt.
Im Jahr 1792 v. Chr. reißt der verwaltungstechnische
- 274-
Gebrauch der Schrift im beschriebenen Sinn eine nahezu
vollständig neue Dimension der Regierungstätigkeit auf, deren
Anfänge verkörpert sind in der die babylonische Geschichte
beherrschenden Gestalt des Hammurabi, des größten aller
Statthalter-Könige, Stellvertreter des Stadtgotts von Babylon,
Marduk. Hammurabis lange Statthalterschaft – sie währt bis
1750 v. Chr. – ist dem Zusammenschluß der Stadtstaaten im
unteren Zweistromland zu einem Hegemonialreich unter der
Vorherrschaft seines Gottes Marduk zu Babylon gewidmet. In
Botmäßigkeit gebracht und gehalten werden Hammurabis
Tributäre unter Verwendung einer nie zuvor gekannten Fülle
von Briefen, Tontafeln und Stelen. Da all seine KeilschriftBriefe von ein und derselben Hand in den feuchten Ton geritzt
zu sein scheinen, vertritt man heute sogar die Ansicht, daß
Hammurabi als erster König überhaupt selber des Schreibens
Hammurabi halluziniert Urteile seines Gottes Marduk (oder
auch Fama’s): Relief vom Kopf einer Stele, die solche Urteile
aufzählt. Aus der Zeit um 1750 v. Chr.
- 275-
kundig war und keinen Privatschreiber beschäftigte. Schrift im
verwaltungstechnischen Einsatz war etwas Neues – in der Tat
haben wir hier Keim und Urbild des uns Neueren vertrauten,
ohne Akten und Protokolle nicht denkbaren Regierungsstils vor
uns. Ohne diesen Gebrauch der Schrift wäre ein geeinigtes
Babylonien unmöglich gewesen. Wir begegnen hier erstmals
einem Verfahren der sozialen Kontrolle, das, wie wir im
nachhinein feststellen können, binnen kurzem die bikamerale
Psyche ablösen sollte.
Die berühmteste Hinterlassenschaft dieses Königs ist der –
von den Interpreten ein bißchen überstrapazierte und
möglicherweise zu Unrecht so benannte – Codex Hammurabi.23
Die Originalversion ist auf einer etwa zweieinhalb Meter hohen
Stele aus schwarzem Basalt eingemeißelt, die zu Ende der
Regierungszeit Hammurabis neben einer Statue –
möglicherweise einem Idol – des Herrschers aufgestellt wurde.
Soweit wir auszumachen vermögen, war es Gepflogenheit, daß
jemand, der gegen einen andern einen Sühneanspruch geltend
machte, vor die Statue des Statthalters trat, um »zu hören meine
Worte« (wie es am Fuß der Stele heißt), und dann zu den auf der
Stele aufgezeichneten, durch den Statthalter vermittelten
Präzedenzurteilen des Gottes hinüberwechselte. Der Gott des
Statthalters, wie erwähnt, war Marduk; über den Schriftzeichen
ist auf der Stele ein Relief eingemeißelt, das den Vorgang der
Rechtsprechung zeigt: Der Gott sitzt auf eine m Unterbau, wie er
in der altbabylonischen Ikonographie einen Berg symbolisiert.
Von den Schultern des Redenden geht eine Flammenaura aus
(was einige Altertumswissenschaftler zu der Ansicht geführt hat,
daß es sich um den Sonnengott Damas handelt). Hammurabi, ein
wenig unterhalb direkt vor ihm stehend (»verstehend«), hört mit
gebannter Aufmerksamkeit zu. (Zur Etymologie des Wortes
»verstehen« [wie im Englischen »unterstand«] meint das
23
Ich habe die Übersetzung von Robert Francis Harper benutzt: The Code of
Hammurabi, King of Babylon, Chicago: University of Chicago Press 1904.
- 276-
Spezialwörterbuch: »Grundbedeutung ist wohl ›vor etwas
[unterhalb von etwas] stehen‹ ...« Anm. d. Übs.) In der Rechten
hält der Gott die Attribute der Macht, Stab und Reif, die
Gemeingut solcher Götterbilder sind. Mit diesen Insignien rührt
er leicht an den linken Ellbogen seines Statthalters Hammurabi.
Zum Großartigsten dieser Szene gehört die trancegleiche
Unerschütterlichkeit, mit der Gott und Intendant, beide
gleichermaßen majestätisch ruhig, die Blicke ineinandersenken;
die erhobene Rechte des Königs ist dabei zwischen uns, die
Betrachter, und die Kommunikationsebene geschoben. Noch
nichts ist hier zu finden von den Selbstdemütigungen, der
bettlerischen Haltung im Angesicht eines Gottes, wie sie nur
wenige Jahrhunderte später in Erscheinung treten. Hammurabi
besitzt kein subjektiv bewußtes Ich, das sich narrativ in eine
solche Beziehungslage hineinversetzen könnte. Hier gibt es nur
das Ge-Horchen. Und was Marduk diktiert, sind
Urteilsfindungen in einer Reihe von ganz spezifischen Fällen.
Auf der Stele sind Marduks Urteilssprüche zwischen einen
Prolog und einen Epilog von Hammurabi selbst gesetzt.
Gewaltig auftrumpfend rühmt er sich darin seiner Taten, seiner
Macht und seiner Vertraulichkeit mit Marduk; er zählt die
Eroberungen auf, die er für Marduk gemacht hat, nennt die
Gründe für das Aufstellen der Stele und droht zum Schluß mit
fürchterlichen Sanktionen jedem, der sich an ihr vergreifen
sollte. Mit ihrem naiven Geprahle erinnern Prolog und Epilog
sehr an die »Ilias«.
Doch zwischen ihnen finden sich die 282 gelassen
vorgetragenen Urteilssprüche des Gottes: klar formulierte
Entscheidungen betreffend die Zuteilung von Gütern an die
verschiedenen Handwerkssparten, die Strafen für Haussklaven,
Diebe oder ungebärdige Söhne, Bußen nach dem Muster »Auge
um Auge, Zahn um Zahn«, Donationen und Domestiken,
Eheschließungen, Todesfälle und die Adoption von Kindern (die
eine recht geläufige Praxis gewesen zu sein scheint) – das alles
- 277-
in kühlen, lakonischen Worten, sehr zum Unterschied von der
bramarbasierenden Suada des Prologs und des Epilogs. Man
meint zwei ganz verschiedene »Persönlichk eiten« zu hören –
und im Sinne der Bikameralität waren sie das auch. Es waren
zwei getrennte, jede für sich integrale Organisationseinheiten
von Hammurabis Nervensystem, deren eine in der linken
Hirnhemisphäre Prolog und Epilog verfaßte und in plastischer
Verbildlichung neben der Stele postiert war; die andere, in der
rechten Hemisphäre zu Hause, fällte Urteilssprüche. Und keine
von beiden tat, was sie tat, mit Bewußtsein im heutigen Sinn:
Während auf der einen Seite die Stele als solche ein
unbezweifelbarer Beleg für eine gewisse Ausprägung von
Bikameralität der Psyche ist, scheint auf der anderen die
Sachlage bei den Problemfällen, denen die Verdikte des Gottes
gelten, weniger klar. Man erfährt ja aus diesen »Gesetzen« so
einiges von dem, was unter Menschen im achtzehnten
Jahrhundert v. Chr. an der Tagesordnung war, und kann sich nur
sehr schwer vorstellen, wie das alles soll getan worden sein,
ohne daß die Täter mit subjektivem Bewußtsein vorausdachten
und -planten, Vortäuschungen ersannen und Hoffnungen hegten.
Wir sollten jedoch nicht aus den Augen verlieren, in welch
unentwickelten Zusammenhängen sich das alles abspielte und
wie irreführend die Wiedergabe dieser Zusammenhänge in
neuzeitlicher Sprache sein kann. Das Wort, das fälschlich mit
»Geld« oder sogar mit »Kredit« übersetzt wird, lautet kaspu,
was schlicht »Silber« bedeutet. Von Geld in unserem Sinn kann
nicht die Rede sein, denn niemals hat man irgendwelche
Münzen gefunden. Ähnlich ist das, was mit »Pachtzins«
übersetzt wurde, in Wirklichkeit ein Zehnter in Form einer
Naturalabgabe: Die Tontafel hält die Übereinkunft fest, wonach
ein Teil des Ernteertrags an den Eigentümer des Bodens
abzuführen ist. Wein gab es nicht zu kaufen, sondern man
erwarb ihn durch Tausch – soundso viel Maß Wein gegen
soundso viel Maß Getreide. Und wenn manche Übersetzer gar
- 278-
Ausdrücke des modernen Bankwesens verwenden, so ist das
Bild, das dabei entsteht, rundweg falsch. Wie bereits an anderer
Stelle
erwähnt,
zeugen
viele
Übersetzungen
von
Keilschriftquellen von dem beharrlichen Bemühen der
Gelehrten, diese alten Kulturen in moderne Denkkategorien zu
pressen, um sie so für das moderne Publikum anheimelnder und
damit – vorgeblich – interessanter zu machen.
Auch die Regeln auf der Stele sollte man sich nicht nach
modernen Kategorien vorstellen – als Gesetze, über deren
Einhaltung eine Polizei wachte: So etwas gab es damals nicht.
Es handelt sich vielmehr um eine Aufzählung der in Babylon
selbst geübten Praktiken, wie sie von Marduk festgesetzt waren;
für deren Wahrung genügte allein das Echtheitssiegel ihres
Vorhandenseins auf der Stele selbst.
Aus dem Umstand, daß sie schriftlich aufgezeichnet wurden,
wie überhaupt aus der weiten Verbreitung des visuellen
Kommunikationsmediums Schrift ist, wie ich glaube, abzulesen,
daß die auditive Komponente in der Kontrolle der bikameralen
Psyche im Schwinden begriffen war. Insgesamt brachte das
kulturelle Determinanten in Bewegung, die im Verein mit
anderen Kräften, wie sie wenige Jahrhunderte später hinzutreten
sollten, einen tiefgreifenden Strukturwandel in der Psyche selber
bewirkten.
Fassen wir zusammen.
In diesem wie im vorigen Kapitel war es um die Sichtung und
Entschlüsselung von historischen Zeugnissen aus einer
gewaltigen Zeitspanne zu tun. Ziel dabei war, die These
einleuchtend zu machen, wonach der Mensch des Altertums
mitsamt seinen frühen Hochkulturen in einer radikal anderen
Geistesverfassung lebte, als die unsere es ist; tatsächlich hatten
jene Menschen kein Bewußtsein, wie wir es haben; sie waren
demnach für das, was sie taten, nicht verantwortlich, so daß
nichts von allem, was sie über diese langen Jahrtausende hin
taten und ausrichteten, ihnen als Verdienst oder Schuld
- 279-
angerechnet werden kann. Vielmehr steckte im Leib jedes
einzelnen ein Nervensystem, das in einem Teil »göttlich«
organisiert war, und dieser Teil kommandierte den Menschen
herum, als sei er ein x-beliebiger Sklave; die Stimme(n), in der
oder denen er in Erscheinung trat, waren zu ihrer Zeit das, was
wir heute das Wollen nennen: Sie formulierten nicht nur
Direktiven, sondern bildeten zugleich die energetisierende
Komponente; die halluzinierten Stimmen aller einzelnen standen
untereinander im Zusammenhang eines differenzierten
hierarchischen Systems.
Das Grundmuster des Gesamtbilds, das sich uns bot, deckt
sich mit dieser Auffassung. Das ist selbstverständlich kein
absolut zwingender Beweis. Die erstaunliche Konsequenz
jedoch, mit der Hochkulturen von Ägypten bis Peru, von Ur bis
Yucatán stets im Verein mit bestimmten Bestattungssitten, mit
Idolatrie, mit einer göttlichen Staatsführung und mit dem
Phänomen halluzinierter Stimmen auftraten, spricht jedesmal für
jene Idee einer von der unseren weit entfernten Mentalität.
Wie ich ebenfalls darzutun versucht habe, wäre es jedoch
verfehlt, die bikamerale Psyche als etwas Statisches zu
betrachten. Zwar hat sie sich in dem Zeitraum vom neunten bis
zum zweiten Jahrtausend v. Chr. so langsam entwickelt, daß
sich für jedes einzelne Jahrhundert der Eindruck einer Statik
ergibt, die der von Zikkurat und Tempel gleicht. Ihr Zeitmaß is t
das Jahrtausend. Doch zumindest im Vorderen Orient tritt mit
dem zweiten Jahrtausend v. Chr. eine Beschleunigung des
Entwicklungstempos ein. In der Vielzahl sowohl der
akkadischen Götter wie der Ka in Ägypten verrät sich eine
Zunahme an Komplexität. Und mit der weiteren Entfaltung
dieser Komplexität kommt erstmals Ungewißheit auf und
erstmals das Bedürfnis nach Privatgöttern als Mittlern im
Verhältnis zu den höherrangigen Göttern, die sich immer weiter
himmelwärts zu entfernen scheinen: Nach Ablauf eines weiteren
kurzen Jahrtausends werden sie sich in den oberen Regionen
- 280-
ganz verflüchtigt haben.
Angefangen von dem auf sein Sitzkissen von Stein drapierten
königlichen Leichnam im rotgestrichenen Turmgrab von ‘Aïm
Mallaha, der in den Halluzinationen seiner Untertanen sein
Natoufien-Dorf über den Tod hinaus weiterregiert, bis hin zu
den mächtigen Wesen, die den Donner regieren und Welten
schaffen und sich schließlich in einem himmlischen Jenseits
verlieren, sind alle Götter einerseits nichts weiter als ein blo ßer
Nebeneffekt der Sprachevolution, andererseits zugleich aber
auch die bemerkenswerteste Hervorbringung der Evolution des
Lebens seit Entstehung des Homo sapiens. Das alles sollte nicht
als poetische Rhetorik verstanden werden. Keineswegs waren
die Götter »figmenta imaginationis«, Fiktionen aus irgendeines
Menschen Einbildungskraft. Sie waren des Menschen Wollen.
Ihr
Ort
war
das
menschliche
Nervensystem,
höchstwahrscheinlich die rechte Hirnhemisphäre, wo sie, aus
dem aufgespeicherten erzieherischen und sittlich verbindlichen
Erfahrungsschatz schöpfend, diese Erfahrungen in artikulierte
Rede umsetzten, die dann dem betreffenden Menschen »sagte«,
was er zu tun hatte. Warum diese Rede, um in Funktion zu
treten, so häufig ein Requisit wie den Leichnam eines Führers
oder eine übergoldete, juwelenäugige Statue in einem Kulthaus
benötigte – auf diese Frage bin ich die Antwort eigentlich
schuldig geblieben. Der Punkt bedarf ebenfalls einer
überzeugenden Klärung. Ich habe die Materie, um die es geht,
keineswegs in diesem ersten Anlauf erschöpft, und es bleibt zu
hoffen, daß vollständige und genauere Übersetzungen der
vorhandenen Texte sowie das zügigere Fortschreiten
archäologischer
Grabungen
uns
künftig
zu
einem
realitätsgerechteren Verständnis dieses Jahrtausende und
Jahrtausende durchmessenden Wegs der Menschheit zur
Zivilisation verhelfen werden.
- 281-
DRITTES KAPITEL
Bedingungen für Bewußtsein
Ein altes sumerisches Sprichwort lautet in moderner
Übersetzung: »Handle unverzüglich, mach deinem Gott
Vergnügen.« 1 Sehen wir einen Moment lang davon ab, daß die
beziehungsreichen Wörter unserer Sprache nur eine tastende
Annäherung an sehr viel weniger aufgeschlüsselte sumerische
Gegebenheiten zu liefern vermögen, so können wir die
Verständnisbrücke zwischen dieser seltsamen Aufforderung und
unserer eigenen subjektiven Mentalität in folgender Lesart
finden: »Denke nicht nach: laß keinen Zeit-Raum sein zwischen
dem Hören deiner bikameralen Stimme und der Ausführung
dessen, was sie dich tun heißt.
Das war recht und gut unter den Bedingungen einer stabilen
hierarchischen Herrschaftsorganisation, die solche stets
unfehlbaren Stimmen als konstitutiven Faktor einschloß, die
gottgewollte Lebensordnung durch unveränderliche Rituale
festlegte und schützte und von sozialer Unruhe weitgehend
verschont blieb. Aber im zweiten Jahrtausend v. Chr. sollte das
nicht so bleiben. Diese Zeit steht im Zeichen von Kriegen,
Katastrophen, Völkerwanderungen. Chaotische Zustände trübten
die heilige Gelichtetheit der Welt ohne Bewußtsein. Hierarchien
bröckelten und stürzten in sich zusammen. Und zwischen das
Handeln und seine göttliche Quelle trat der Schatten – die
profanisierende Pause, die schreckenerregende Ungebundenheit,
die die Götter mißvergnügt, hadernd und eifersüchtig machte.
Bis schließlich mit der aus dem Leistungspotential der Sprache
geborenen Erfindung eines Analog-Raums mit einer
1
Nr. I, 145 in: Edmund I. Gordon, Sumerian Proverbs, Philadelphia:
University Museum 1959, S. 113.
- 282-
Komponente namens »Ich« ein wirksamer Schutzschild gegen
ihre Tyrannei errichtet war. Die hochdifferenziert strukturierte
bikamerale Psyche war ins Bewußtsein gerüttelt worden.
Soviel als kurzer Umriß der gewichtigen Thematik dieses
Kapitels.
Die Labilität des bikameralen Königtums
Hören wir in unserer gegenwärtigen Welt von einem streng
autoritären Regime, so assoziieren wir dazu sofort Militarismus
und polizeistaatliche Unterdrückungsmethoden. Man muß sich
jedoch davor hüten, diese Gedankenverbindung auf die autoritär
regierten Staatsgebilde der bikameralen Epoche zu übertragen.
Militarismus, Polizeistaat und Schreckensherrschaft sind
extreme Methoden zur Reglementierung einer aus subjektiv
bewußten Menschen bestehenden, durch Identitätskrisen in
permanenter Unrast gehaltenen und in eine Unzahl von
persönlichem
Hoffen
und
Hassen
durchdrungener
Privatexistenzen zersplitterten Bevölkerung.
In der bikameralen Epoche war die bikamerale Psyche die
soziale Kontrolle – und nicht Schrecken oder Unterdrückung
oder auch nur Gesetz und Recht. Es gab keinen privaten
Ehrgeiz, keinen privaten Groll, keine privaten Frustrationenes
gab überhaupt nichts Privates, weil der bikamerale Mensch
keinen inneren Raum hatte, in dem er hätte privat, also »für
sich« sein können, und kein Analogon namens »Ich«, zu dem er
ein Privatverhältnis hätte unterhalten können. Alle
Handlungsinitiative ging von den Stimmen der Götter aus. Und
der Unterstützung durch die nach göttlichem Diktat
aufgeschriebenen Gesetze bedurften die Götter erst in den
historisch späten Staatenbünden des zweiten Jahrtausends v.
Chr.
Die Binnenbeziehungen in einem bikameral verfaßten
Staatsgebilde waren daher höchstwahrscheinlich friedlicher und
- 283-
freundschaftlicher als in jeder anderen Zivilisation seither.
Anders war das jedoch an den Kontaktstellen zweier
verschiedener bikameraler Zivilisationen, wo ganz andere,
hochkomplexe und daher brisantere Lagen eintraten.
Überlegen wir einmal, was passieren müßte, wenn zwei
einander unbekannte Menschen aus verschiedenen bikameralen
Zivilisationen unverhofft zusammentreffen, und gehen wir dabei
von der Annahme aus, daß keiner von beiden des anderen
Sprache versteht und daß jeder Eigentum eines anderen Gottes
ist.
Der Verlauf einer solchen Begegnung würde abhängen von
den Erziehungslehren, Geboten, Verboten und Ermahnungen,
mit denen die beiden aufgewachsen sind. In Friedenszeiten,
wenn der Stadtgott sich im Wohlstand sonnt und alles – die
Bestellung seiner Felder, das Einbringen, Lagern und
Umverteilen seiner Bodenfrüchte – so reibungslos läuft wie in
einem Ameisenvolk, dürfte man damit rechnen, daß seine
göttliche Stimme im Grundton voller Wohlwollen und
Freundlichkeit ist, ja daß sämtliche von den Einzelmenschen
vernommenen
Stimmphänomene
mit
überwiegend
wohlwollenden und friedfertigen Tönen zur weiteren Steigerung
der Harmonie beitragen, in deren Erhaltung das
Entwicklungsziel dieser Form der sozialen Kontrolle zu suchen
ist.
Wären also die bikameralen Theokratien, denen die beiden
zusammentreffenden Individuen entstammen, während deren
Lebensdauer von keinerlei Gefahr bedroht gewesen, so wäre in
beiden Fällen der handlungslenkende Gott aus wohlwollenden
Stimmen gebildet. Im Ergebnis könnte das zu einem
probeweisen
Austausch
von
Grußgesten
und
Gesichtsausdrücken führen, die wiederum freundschaftliches
Gebaren und sogar den Austausch von Geschenken im Gefolge
haben könnten. Denn wir dürfen überzeugt sein, daß der
Seltenheitswert, den die Besitztümer der fremden Kultur für
- 284-
jedes der beiden Individuen haben, einen solchen Austausch
beiderseits wünschenswert macht.
So hat man sich wahrscheinlich den Ursprung des Handels
vorzustellen. Die Urform des Tauschs läßt sich zurückverfolgen
bis auf das Teilen und Zuteilen der Nahrungsmittel innerhalb der
familiären Gruppe, das sich zum Tausch von Gütern und
Produkten innerhalb der Stadtgemeinschaft weiterentwickelte.
Wie in den frühesten Ackerbauersiedlungen die Getreideernten
nach bestimmten gottgesetzten Regeln zur Verteilung gelangten,
so traten mit zunehmender Spezialisierung der Arbeitskraft die
neuen Produkte und Dienste Wein, Schmuck, Kleider oder
Häuserbau – in gottgesetzte Tauschwertverhältnisse zueinander.
Der Handel zwischen zwei Völkern ist nichts weiter als die
Ausweitung dieses Gütertauschs über die Grenzen des eigenen
hinaus auf ein anderes bikamerales Königtum. In Sumer
aufgefundene Texte aus der Zeit um 2500 v. Chr. sprechen von
Tauschbeziehungen, die bis zum Industal reichen. Und erst
kürzlich wurden auf halber Strecke zwischen Sumer und dem
Industal, bei Tepe Yahya an der Mündung des Persischen Golfs,
die Überreste einer bisher unbekannten Stadtanlage entdeckt,
deren Handwerkserzeugnisse zweifelsfrei erkennen lassen, daß
es sich um die Hauptlieferantin des Steatits (Seifenstein)
handelt, der in Mesopotamien ein sehr verbreiteter Werkstoff
war: was wiederum zuverlässig beweist, daß jene Stadt als
Umschlagplatz für den Tauschhandel zwischen den beiden
genannten Reichen fungierte. 2 Man hat dort kleine, etwa fünf
Zentimeter im Quadrat messende Tontafeln gefunden; sie tragen
Zählmarken, die sehr wahrscheinlich die Tauschsätze angeben.
All das spielte sich in einer Ära des Friedens um die Mitte des
dritten Jahrtausends v. Chr. ab. Bei späterer Gelege nheit werde
ich die Hypothese begründen, daß gerade der ausgedehnte
Tauschhandel unter bikameralen Theokratien möglicherweise
2
New York Times, 20.12.1970, S. 53.
- 285-
zur Schwächung der bikameralen Organisationsform
beigetragen hat, die den tragenden Grund der Zivilisation
bildete.
Doch kehren wir jetzt zu unseren beiden Individuen aus den
unterschiedlichen Kulturen zurück. Bisher haben wir überlegt,
was in einer friedlichen Welt, die von friedfertigen Göttern
gelenkt wird, geschieht. Aber was, wenn das Gegenteil der Fall
wäre? Kämen die beiden aus gefährdeten Kulturen, würden sie
sehr wahrscheinlich kampflüsterne Stimmen halluzinieren, die
sie anweisen würden, den Fremden zu töten, und das wäre der
Beginn von Feindseligkeiten. Das gleiche Ergebnis würde auch
eintreten; wenn nur einer von beiden Angehöriger einer
gefährdeten Kultur wäre: Ist nämlich der andere erst einmal in
die Verteidigerrolle gedrängt, wird sein Gott – egal, wie er heißt
– ihn ebenfalls zum Kampf anspornen.
In den Beziehungen zwischen den Theokratien gibt es also
keinen Platz für Kompromisse. Daß mahnende Stimmen, in
denen die Autorität von Königen, Aufsehern, Eltern nachklingt,
dem einzelnen eine Kompromißhandlung auferlegen, ist höchst
unwahrscheinlich. Noch heute sind unsere Vorstellungen von
adeligem Wesen großenteils Relikte des bikameralen
Autoritarismus: Es ist unedel, über erlittenen Schmerz zu
klagen; es ist unedel, an die Großmut des andern zu appellieren;
es ist unedel, sich zum Bittsteller zu erniedrigen – auch wenn all
diese Haltungen im Grunde jeweils höchst moralische Methoden
sind, Divergenzen zu bereinigen. Hierin liegt der Grund für die
Labilität der bikameralen Welt und für den Umstand, daß
grenzüberschreitende Beziehungen in der bikameralen Epoche
nach meiner Einschätzung dazu tendierten, sich entweder
uneingeschränkt freundlich oder uneingeschränkt feindlich zu
gestalten, und kaum je eine Zwischenform zwischen den beiden
Extremen annahmen.
Und das ist noch nicht alles. Das reibungslose Funktionieren
eines bikameralen Königtums ist an den intakten Zustand seiner
- 286-
autoritären Hierarchie gebunden. Sobald die klerikale oder
weltliche Hierarchie von außen in Frage gestellt oder von
inneren Störungen befallen wird, muß das so krasse Folgen
haben, wie es in einem Polizeistaat nie der Fall sein könnte. Von
einem gewissen Punkt in der Wachstumsentwicklung der
theokratischen Stadtstaaten an – wir haben es bereits erwähnt –
wird es um die Effektivität der bikameralen Kontrolle höchst
prekär bestellt. Je größer die bikameralen Städte wurden, desto
mehr war die Priesterhierarchie damit beschäftigt, die
mitwachsende Zahl der Götterstimmen nach Rang und Namen
zu klassifizieren. Bei der geringsten Erschütterung lief diese
Equilibristik menschlicher wie halluzinierter Autoritäten Gefahr,
zusammenzustürzen wie ein Kartenhaus. Wie scho n im vorigen
und vorvorigen Kapitel erwähnt, kam es tatsächlich vor, daß
solche Theokratien ohne erkennbaren äußeren Grund
zusammenbrachen.
Im Vergleich mit Staatsverbänden der Bewußtseins-Ära sind
bikamerale Staatsgebilde also in höherem Grad von plötzlichem
Zusammenbruch bedroht.. Die Entscheidungskompetenz der
Götter hat ihre Grenzen. Tritt nun zu dieser inneren Brüchigkeit
ein äußeres Geschehen ganz neuartigen Charakters hinzu – wie
beispielsweise die (durch welche Ursachen auch immer)
erzwungene Vermischung bikameraler Völker –, so tun die
Götter sich schwer, eine solche Lage auf friedlichem Wege zu
bereinigen.
Die Schwächung der göttlichen Autorität durch den
Vormarsch der Schrift
Das Leistungsdefizit des Götterwesens wurde durch den
Vormarsch der Schrift im zweiten Jahrtausend v. Chr. im selben
Zuge kompensiert und gewaltig verstärkt. Einerseits schuf die
Schrift überhaupt erst die Voraussetzungen für die Stabilität
eines Staatswesens wie das des Hammurabi. Andererseits jedoch
trug sie zum schrittweisen Abbau der Macht des Hörens
- 287-
innerhalb der bikameralen Struktur mit bei. Mehr und mehr
wurden Berichte und Anweisungen der Verwaltung in
Keilschrift – vor allem auf Tontafeln – verbreitet. Bis auf den
heutigen Tag werden stets von neuem ganze Archive solc her
Tafeln entdeckt. Behördliche Sendschreiben wurden zur
Alltagserscheinung. Um 1500 v. Chr. war die Entwicklung so
weit fortgeschritten, daß sogar Bergwerksarbeiter hoch droben
in der Steinwüste der Halbinsel Sinai ihre Namen und ihr
Verhältnis zur Grubengöttin in die Grubenwände ritzten. 3
Die Eingabeinformation für die halluzinatorische göttliche
Dimension der bikameralen Psyche war eine ins Lautliche
transformierte Information. Dieser ganze Erscheinungsaspekt
des Systems beschäftigte auf der physiologischen Seite
Hirnrindenbezirke, die überwiegend mit der Gehörsfunktion zu
tun haben. Und sobald das Wort Gottes tonlos auf stummen
Tontafeln oder schweigsamen Steinblöcken erschien, konnte
man sich den göttlichen Befehlen oder den – königlichen
Anweisungen kraft eigener Anspannung zuwenden oder auch
von ihnen abwenden, wie das mit Gehörshalluzinationen allein
niemals möglich gewesen wäre. Die Worte eines Gottes hatten
jetzt eine fremder Verfügungsgewalt unterworfene dingfeste
Lokalisierung und waren nicht länger die allgegenwärtige
Macht, die unmittelbaren Gehorsam erzwang. Dies ist eine
Sache von allerhöchster Bedeutung.
Das Versagen der Götter
Die Lockerung der Partnerbindung zwischen Gott und
Mensch eine Folge vielleicht des zwischenstaatlichen Handels
sowie auf alle Fälle der Ausbreitung des Schriftgebrauchs – war
als Hintergrundfaktor an dem hier in Frage stehenden
Geschehen beteiligt. Die unmittelbare und die Katastrophe
3
Romain F. Butin, The Sarabit Expedition of i93o, IV: The Protosinaitic
Inscriptions, Harvard Theological Review 25 / 1932, S. 130-204.
- 288-
auslösende Ursache für den Zusammenbruch der bikameralen
Psyche – was den Keil des Bewußtseins zwischen Gott und
Mensch, halluzinierte Stimme und puppenhaftes Handeln trieb –
war der Umstand, daß die Götter niemandem sagen konnten, wie
er sich in einem sozialen Chaos zu verhalten hatte.
beziehungsweise, wenn sie es taten, führten ihre Anweisungen
in den Tod oder zuallermindest zu einer Steigerung des Stresses,
der auf der physiologischen Seite das Auftreten der Stimme
überhaupt erst bewirkt hatte – bis schließlich Stimmen in
undurchdringlicher babylonischer Verwirrung auftraten.
Der historische Kontext, in dem sich das alles abspielte, war
beispiellos. Das zweite vorchristliche Jahrtausend führte eine
schwere Fracht von tiefgreifenden und irreversiblen historischen
Wandlungen mit. Geologische Katastrophen ungeheuren
Ausmaßes ereigneten sich. Kulturen gingen unter. Die halbe
Weltbevölkerung wurde ins Flüchtlingsdasein gestoßen. Kriege,
die es vorher nur sporadisch gegeben hatte, wurden häufiger und
erbitterter geführt, je weiter dieses hochbedeutsame Jahrtausend
in seinem Siechtum vor- und seinem finsteren, blutigen Ende
näher rückte.
Was sich uns zeigt, ist ein komplexes Bild; die Variablen, die
soviel Wandel bedingen, sind vielschichtig; was wir an Fakten
zu kennen glauben, darf keineswegs als gesichert gelten. Fast
jährlich werden Fakten vo n gestern von der jeweils jüngsten
Generation von Archäologen und Altertumswissenschaftlern für
ungenügend befunden und durch neue ersetzt. Um den
komplexen Sachverhalt wenigstens näherungsweise zu erfassen,
wollen wir in der Folge die zwei Hauptfaktoren jener
Umwälzungen betrachten. Der eine von ihnen sind die
Völkerwanderungen und Invasionen, die rund um das östliche
Mittelmeer im Anschluß an den Vulkanausbruch auf der Insel
Thera stattfanden; der zweite ist der über drei Etappen führende
Aufstieg Assyrie ns zum Großreich, das sich ganz Mesopotamien
einverleibte und im Westen bis nach Ägypten, im Norden bis
- 289-
zum Kaspischen Meer vorstieß, auf seinem Weg jegliche
Lokalherrschaft unterjochte und einen ganz anderen Typ des
Reiches bildete, als ihn die Welt bisla ng gekannt hatte.
Die assyrische Springflut
Betrachten wir zunächst die Lage im nördlichen
Mesopotamien, dem Umland der Stadt des Gottes Aššur, wie sie
sich zu Beginn des zweiten Jahrtausends v. Chr. darstellt.4
Ursprünglich zu Akkad und späterhin zum dreihundert
Kilometer südlich gelegenen altbabylonischen Reich von Ur
gehörig, war die friedliche bikamerale Stadt Aššur am Oberlauf
des gemächlichen Tigris bis ungefähr um 1950 v. Chr. von
Außenwelteinflüssen so ziemlich unberührt geblieben. Unter der
Herrschaft von Aššurs oberstem menschlichem Diener PuzurAššur I. begann die Stadt an friedlicher Macht und an
Wohlstand zuzunehmen. In höherem Maß als bei irgendeiner
Nation zuvor verdankt sich diese Zunahme dem Gütertausch mit
anderen Theokratien. Rund zweihundert Jahre später wird aus
der Stadt des Aššur das Reich Assyrien, das noch mehr als
tausend Straßenkilometer weit weg im Nordosten, in Anatolien,
Handelsposten unterhält.
Der Gütertausch zwischen Städten war um diese Zeit
durchaus nichts Neues mehr. Es ist jedoch zu bezweifeln, daß er
je zuvor ein solches Ausmaß erreichte wie in den Händen der
Assyrer. Von Ausgrabungen aus jüngerer Zeit her kennen wir
die karum oder (in kleineren Ansiedlungen) ubartum, die
Handelskolonien direkt vor den Toren mehrerer anatolischer
Städte, in denen der Tausch abgewickelt wurde. Von ganz
besonderer Bedeutung ist der unmittelbar neben der
4
In bezug auf die Grundzüge der assyrischen Geschichte stütze ich mich auf
verschiedene einschlägige Standardwerke, insbesondere jedoch auf das von
H. W. F. Saggs (vgl. Fußnote auf Seite 221); hinzu kommen mehrere
Aufsätze von William F. Albright.
- 290-
kappadokischen Stadt Kanis (heutiger Ruinenname: Kültepe)
ausgegrabene karum: fensterlose Häuschen, wo in Regalfächern
aus Steinen oder Holz mit Keilschrift bedeckte Tontafeln
gefunden wurden, die größtenteils noch der Entzifferung harren,
sowie hie und da Krüge, die etwas enthalten, was wie Zählsteine
aussieht. 5 Die Schriften auf den Tontafeln – in altassyrischer
Sprache abgefaßt – sind die ersten Schriftzeugnisse überhaupt,
denen man in Anatolien begegnet.
Dieser Tauschhandel war freilich kein echter Handel im Sinne
des ökonomischen »Marktes«. Es gab keine mit dem Druck von
Angebot und Nachfrage variierenden Preise, kein Kaufen und
Verkaufen, kein Geld. Es war ein Geben und Nehmen nach
einer
durch
göttlichen
Ratschluß
festgesetzten
Äquivalentenordnung. Kein einziger der bisher übersetzten
Keilschrifttexte spricht auch nur im entferntesten von Gewinnen
oder Verlusten. Da und dort scheint diese Regel durchbrochen,
es wird sogar eine »Inflation« angenommen (möglicherweise in
einem Hungerjahr, als das Tauschen sich schwieriger gestaltete)
– doch alles das vermag Karl Polanyis Sicht der Dinge, der ich
mich hier anschließe, nicht ernstlich zu erschüttern. 6
Verweilen wir ein wenig bei diesen assyrischen Kaufleuten.
Sie waren, so dürfen wir annehmen, lediglich Agenten, die –
durch Familientradition in ihre Stellung gelangt und hier
überliefertes Familienwissen verwertend – den Gütertausch
makelten nach jahrhundertealter, von Vätern und Vorvätern
ererbter Gewohnheit. Doch ergibt sich an dieser Stelle für den
Psychohistoriker eine Vielzahl von Fragen. Was geschah mit
den bikameralen Stimmen dieser Kaufleute in einer Entfernung
von bis zu tausend Kilometern und mehr von der lokalisierten
Quelle der Stimme ihres Stadtgotts und dazu im täglichen
5
Nimet Osguc, Assyrian Trade Colonies in Anatolia, Archeology 4/1965, S.
250-255.
6
Karl Polanyi, Trade and Market in the Early Empires, Glencoe: Free Press
1957.
- 291-
Umgang mit bikameralen Menschen (möglicherweise sogar,
wenngleich nicht notwendigerweise, deren Sprache sprechend),
die von den Stimmen einer ganz anderen Götterwelt regiert
wurden? Wäre es denkbar, daß in diesen an der Berührungslinie
zweier unterschiedlicher Zivilisationen angesiedelten Händlern
so etwas wie ein protosubjektives Bewußtsein auftrat? Brachten
sie bei ihren periodischen Besuchen in Aššur eine geschwächte
Bikameralität mit nach Hause, die sich womöglich in den
nachfolgenden Generationen verbreitete? So daß vielleicht auf
diesem Wege die bikameralen Fesseln zwischen Göttern und
Menschen gelockert wurden?
Die Entstehungsbedingungen des Bewußtseins sind
vielfältiger Art, doch scheint es mir kein Zufall, daß in dieser
Entwicklung ausgerechnet diejenige Nation eine Schlüsselrolle
spielte, die den ausgedehntesten Gütertausch mit anderen
Zivilisationen unterhielt. Träfe es zu, daß die Macht der Götter
und insbesondere Aššurs zu jener Zeit eine zunehmende
Schwächung erfuhr, so hätte man hier eine mögliche Erklärung
für den vollständigen Untergang von Aššurs Stadtstaat um 1700
v. Chr., mit dem ein zweihundert Jahre währendes finsteres
Zeitalter der Anarchie in Assyrien anhebt. Dieses Ereignis
konnte bisher auf keine Weise erklärt werden. Kein Historiker
weiß sich einen Reim darauf zu machen. Und es besteht wenig
Hoffnung, daß sich daran jemals etwas ändert, denn nicht eine
einzige assyrische Inschrift aus der fraglichen Periode wurde
gefunden.
Die Neustrukturierung Assyriens nach jenem Zusammenbruch
mußte warten, bis andere Ereignisse die Voraussetzungen für sie
schufen. Um 1450 v. Chr. vertreibt Ägypten die Mitanni aus
Syrien und drängt sie dabei über den Euphrat auf ehemals
assyrisches Gebiet. Aber weniger als hundert Jahre später
werden die Mitanni von den aus dem Norden einrückenden
Hethitern unterworfen – und damit ist, nach zwei Jahrhunderten
anarchischer Finsternis und einer Periode der Mitanni- 292-
Hegemonie, 1380 v. Chr. der Weg frei für die Wiedererrichtung
eines assyrischen Reichs.
Und was für ein Reich dies war! Nie zuvor hatte die Welt eine
so militaristische Nation gesehen. Anders als die früheren
Inschriften allerorten strotzen die Inschriften aus der mittleren
assyrischen Periode von Nachrichten über grausame Feldzüge.
Ein dramatischer Wandel hat hier stattgefunden. Doch die
Erfolge der Assyrer, die sich mit unnachsichtigem Wüten ihren
Weg zur Weltherrschaft erstreiten, sind Umwandlungen einer
von Katastrophen ganz anderer Art ausgehenden Schubkraft.
Vulkanausbruch, Massenwanderung, Invasion
Der Zusammenbruch der bikameralen Psyche wurde
sicherlich beschleunigt durch das Einbrechen einer großen
bevölkerten Landmasse in der Ägäis, die mit einemmal unter
dem Meeresspiegel versank. Darauf folgte ein Ausbruch – oder
eine Serie von Ausbrüchen – des Vulkans auf der Insel Thera
(Santorin), knapp hundert Kilometer nördlich von Kreta. 7 Was
heute eine Touristenattraktion ist, war zu damaliger Zeit ein Teil
dessen, was bei Platon (Kritias 108 ff u. a.) und in späteren
Legenden als der untergegangene Kontinent Atlantis
beschrieben wird, der zusammen mit Kreta das Minoische Reich
bildete. Der größte Teil der Landfläche von Atlantis sowie
möglicherweise auch Teile von Kreta sanken mit einem Schlag
dreihundert Meter tief unter den Wasserspiegel. Das verbliebene
Stück Boden, Thera, lag größtenteils unter einer fast fünfzig
Meter hohen Schicht von Bims und Vulkanasche begraben.
Geologen haben die Hypothese aufgestellt, daß die bei dem
Ausbruch entstandene Aschenwolke den Himmel tagelang
verdunkelte und auf Jahre hinaus die Atmosphäre in
7
Vgl. Jerome J. Pollit, Atlantis and Minoan Civilization: An Archeological
Nexus; ferner Roben S. Brumbaugh, Platos Atlantis; beide Aufsätze in The
Yale Alumni Magazine 33 / 1970, S. 20-29.
- 293-
Mitleidenschaft zog. Die Stärke der Druckwelle wurde auf das
Dreihundertfünfzigfache einer Wasserstoffbombenexplosion
geschätzt. Auf Meilen im Umkreis wurden dicke
Giftgasschwaden über die blaue See ausgespien. Ihnen folgte
eine Tsunami, eine Flutwelle gewaltigen Ausmaßes. Über
zweihundert Meter hoch aufgetürmt, fegte sie mit einer
Fortbewegungsgeschwindigkeit von rund 550 Stundenkilometer
krachend über die ungeschützten Inseln der Ägäis und die
Küsten der angrenzenden bikameralen Königtümer auf dem
Festland. Bis auf drei Kilometer weit ins Landesinnere wurde
alles zerstört. Es war das Ende einer Zivilisation und ihrer
Götter.
Wann genau sich das zutrug, ob eine ganze Reihe von
Vulkanausbrüchen stattgefunden hat oder ein Drama in zwei
Akten mit einjähriger Verzögerung zwischen der Eruption auf
Thera und dem Kollaps der Kulturen – das sind Fragen, die sich
zuverlässig erst werden beantworten lassen, wenn bessere
wissenschaftliche Methoden für die Datierung von Vulkanasche
und Bimsstein zur Verfügung stehen als heute. Manche vertreten
die Ansicht, das alles habe sich um 1470 v. Chr. ereignete.8
Andere datieren den Untergang von Thera in die Zeit 1180-1170
v. Chr., als das gesamte Mittelmeergebiet einschließlich
Zyperns, des Nildeltas und der palästinensischen Küste von
einer universellen Katastrophe heimgesucht wurde, die das
Zerstörungswerk von 1470 v. Chr. weit in den Schatten stellte. 9
Wann immer das Ganze stattgefunden hat und gleichgültig, ob
es sich um eine einzige Eruption oder eine Folge von Eruptionen
handelte: auf jeden Fall löste das Ereignis eine gewaltige
Kettenreaktion von Massenwanderungsbewegungen und
Invasionen aus, die das Hethiterreich und das Reich von
Mykene zerschlugen und die Welt in ein finsteres Zeitalter
8
9
S. Marinatos, Crete and Mycaenae, New York: Abrams 1960.
New York Times, 28.9.1966, S. 34.
- 294-
stürzten, das den Rahmen für das Aufdämmern des Bewußtseins
abgab. Lediglich Ägypten scheint sich den Hochstand seiner
Zivilisation bewahrt zu haben, wenngleich der Auszug der
Israeliten etwa um die Zeit des Trojanischen Kriegs, vermutlich
um 1230 v. Chr., nahe genug bei diesem weltbewegenden
Ereignis liegt, um als ein Teil von ihm betrachtet werden zu
können. Die Legende von der Teilung des Roten Meers geht
wahrscheinlich auf den veränderten Rhythmus der Gezeiten im
Gefolge der Eruption auf Thera zurück.
Im Ergebnis sind damit ganze Landesbevölkerungen- besser:
der überlebende Rest von ihnen – innerhalb eines einzigen
Tages schlagartig ins Nomadendasein gestoßen. Man dringt in
die benachbarten Territorien ein, der Nachbar überfällt den
nächsten Nachbarn, und so breiten sich Anarchie und Chaos wie
ein Lauffeuer über einen mit Entsetzen geschlagenen Erdstrich
aus. Und was haben die Götter inmitten dieser Trümmerwüste
zu sagen? Was könne n sie sagen, wenn Hunger und Tod das
Regiment führen – ein Regiment, viel strenger als das ihrige;
wenn Unbekannte Unbekannten drohend in die Augen starren
und fremdartige Sprachlaute wie unverständliches Blaffen an
fremde Ohren schlagen? Der bikamerale Mensch wurde in
banalen Alltagssituationen von unbewußten Gewohnheiten
gesteuert, und wenn ihm in seinem eigenen oder dem Verhalten
anderer
Menschen
irgend
etwas
Neuartiges
oder
Außergewöhnliches begegnete, dann wiesen ihm seine
Stimmvisionen den Weg. Aus dem Umfeld der hierarchisch
strukturierten Großgruppe herausgerissen und in eine Lage
versetzt, wo ihm weder die Gewohnheit noch die bikamerale
Stimme zu helfen oder ihn anzuleiten vermochte, muß er
wahrhaftig eine bedauernswerte Kreatur gewesen sein. Wie
hätte sein Reservoir von sublimierten Erziehungserlebnissen,
das sich unter den Bedingungen eines friedlichautoritär
geordneten bikameralen Staatswesens angesammelt hatte, jetzt
noch irgendeinen praktikablen, Erfolg verbürgenden Ratschluß
- 295-
entbinden können?
Wandernde Menschenmassen ergießen sich über Ionien und
von dort nach Süden. Von der Land- wie der Seeseite her
dringen osteuropäische Völker – die Philister des Alten
Testaments sind eines von ihnen – als Invasoren in die
Küstenländer der Levante ein. Der Druck der Nomaden wird um
1200 v. Chr. in Anatolien so groß, daß unter ihm das mächtige
Hethiterreich zusammenbricht; die Hethiter werden nach Syrien
abgedrängt, wo andere Nomaden neuen Lebensraum suchen.
Assyrien lag geschützt im Binnenland. Und das Chaos, das jene
Invasionen schufen, ermöglichte es den brutalen assyrischen
Kampftruppen, bis weit nach Phrygien, Syrien und Phönikien
vorzustoßen und selbst die Bergvölker Armeniens im Norden
und des Sagrosgebirges im Osten zu unterjochen. Ist es
vorstellbar, daß ein rein bikameral organisiertes Volk dazu in
der Lage war?
Der mächtigste König von Assyrien während dieser mittleren
Periode war Tiglat-Pileser I. (1115 – 1077 v. Chr.). Man
beachte, daß er seinem Namen nicht mehr den seines Gottes
anhängt. Seine Taten sind mit ungeheuerlicher Großsprecherei
auf einem großen Tonblock bestens verzeichnet. Seine
grausamen Gesetze sind uns in einer Sammlung von Tontafeln
überliefert. Gelehrte haben seinen politischen Stil als »Politik
des Schreckens« bezeichnet. 10 Und das zu Recht. Die Assyrer
fielen wie Schlächter über wehrlose Dorfbewohner her, nahmen
unter ihren Opfern Sklaven, soviel sie gebrauchen konnten, und
metzelten die übrigen zu Tausenden nieder. Es existieren
Basreliefs, die zeigen, daß allem Anschein nach die
Einwohnerschaffen ganzer Städte bei lebendigem Leib gepfählt
wurden.
Tiglat-Pilesers
Gesetzgebung
vergalt
selbst
geringfügige Vergehen mit den blutigsten Strafen, die die
Weltgeschichte bis dahin gesehen hatte. Sie steht in schreiendem
10
Saggs, a. a. O. (vgl. Fußnote auf Seite 211), S. 101
- 296-
Gegensatz zu den von größerem Gerechtigkeitssinn getragenen
Vorschriften, die sechs Jahrhunderte zuvor der Stadtgott von
Babylon dem bikameralen Hammurabi diktiert hatte.
Warum diese brutale Härte? Und dies zum erstenmal in der
Geschichte der Zivilisation? Die einzige Erklärung liegt darin,
daß die vorausgegangene Methode der sozialen Kontrolle
vollständig zusammengebrochen sein mußte und diese Form der
sozialen Kontrolle war die bikamerale Psyche. Eben diese
Anwendung von Grausamkeit in dem Bemühen, eine
Schreckensherrschaft aufzurichten, markiert nach meinem
Dafürhalten den Übertritt zum subjektiven Bewußtsein.
Das Chaos ist weit verbreitet und währt lange. Seine dunklen
Umrisse in Griechenland haben den Namen »Dorische
Wanderung« erhalten. Gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts
v. Chr. geht die Akropolis in Flammen auf. Am Ende des
zwölften Jahrhunderts v. Chr. hat Mykene zu bestehen
aufgehört. Als Bodensatz der Geschichte sind nur Legenden und
märchenhafte Erzählungen übriggeblieben. Und man kann sich
mühelos vorstellen, wie der erste Aoidos, noch ganz bikameral,
in Trance von Nomadenlager zu Nomadenlager in den Ruinen
schweift und durch seine fahlen Lippen der strahlenden Göttin
Gesang ertönen läßt vom Zorn des Peliden Achilleus in einem
goldenen Zeitalter, das ehedem war und längst nicht mehr ist.
Sogar aus der Gegend des Schwarzen Meers drangen
Völkerschaften – bisweilen »Muski«, im Alten Testament
»Mesech« genannt- bis in das zerstörte Hethiterreich vor.
Zwanzigtausend von ihnen trieb es weiter in den Süden, wo sie
in die assyrische Provinz Kummuhi einfielen. Aramäerhorden
drängten fortgesetzt vom Wüstenland im Westen her auf
assyrisches Gebiet vor, und das blieb so bis ins erste Jahrtausend
v. Chr. hinein.
Im Süden machten andere Nomaden, die in den
Hieroglyphentexten als »Seevölker« bezeichnet werden, zu
Beginn des elften Jahrhunderts v. Chr. den Versuch, über das
- 297-
Nildelta in Ägypten einzufallen. Ihre Vernichtung durch Ramses
III. ist Gegenstand einer Reliefdarstellung an der Nordwand des
Totentempels dieses Pharaos in Medinet Habu im Westteil von
Theben, die dort noch heute zu besichtigen ist. 11 Die Angreifer
nähern sich Ägypten von der See her auf Schiffen und auf dem
Land
in
pferdebespannten
Streitwagen,
die
nach
Nomadenmanier gefolgt sind von Ochsenkarren, welche die
Familien und die Habe tragen. Wäre die Invasion erfolgreich
gewesen,
so
hätte
möglicherweise
Ägypten
die
geistesgeschichtliche Rolle gespielt, die für das darauffolgende
Jahrtausend an Griechenland fiel. Doch die Seevölker wurden
zurückgeschlagen und nach Osten in die Krallen des assyrischen
Militarismus abgedrängt.
Und schließlich waren all diese Bedrängnisse selbst für die
Brutalität der Assyrer nicht mehr zu bewältigen. Im zehnten
Jahrhundert v. Chr. verliert auch Assyrien die Herrschaft über
die Lage und schrumpft auf eine Armutsprovinz hinterm Tigris
zusammen. Aber nur um Atem zu holen. Denn schon im
darauffolgenden Jahrhundert stürzen sich die Assyrer mit
gesteigerter sadistischer Wildheit erneut in das Abenteuer der
Welteroberung,
erkämpfen
sich
blutvergießend
und
schreckenverbreitend das Reich in seiner früheren Größe zurück
und stürmen dann weiter nach Ägypten und das fruchtbare Niltal
hinauf bis zum heiligen Sonnengott selbst – so wie zweieinhalb
Jahrtausende später auf der entgegengesetzten Seite der
Erdkugel Pizarro den göttlichen Inka in die Gefangenschaft
führen sollte. Und zu diesem Zeitpunkt war der große Umbruch
in der Geistesart bereits vollzogen. Der Mensch war sich seiner
selbst und seiner Welt bewußt geworden.
Die Anfänge des Bewußtseins
11
Abbildungen davon in: William Stevenson Smith, Interconnections in the
Ancient Near East, New Haven: Yale University Press 2965, S. 220f.
- 298-
Bislang galt unser Augenmerk der Frage, wieso und warum
die bikamerale Psyche zusammenbrach. Jetzt könnte man
allerdings auch fragen, warum der Mensch dann nicht einfach
auf den vorausgegangenen Zustand regredierte. Mitunter tat er
das auch. Doch das Trägheitsmoment der komplexeren Kulturen
verhinderte die Rückkehr zum Stammesleben. Der Mensch war
der Gefangene seiner eigenen Zivilisation. Die riesigen Städte
existierten nun einmal einfach, und ihre zählebigen
Funktionsgewohnheiten blieben bestehen, auch als ihr göttliches
Regiment dahinstarb. Auch die Sprache wirkt als Bremse des
sozialen Wandels. Die bikamerale Psyche war ein Nebentrieb
des Spracherwerbs, und bis zur fraglichen Zeit hatte die Sprache
ein Vokabular entwickelt, das ein solch hochgradiges
Aufmerken auf eine zivilisierte Umwelt bedingte, daß hierdurch
die Rückkehr zu Gegebenheiten einer mindestens fünftausend
Jahre alten Vergangenheit so gut wie unmöglich geworden war.
Die faktische Seite des Übergangs von der bikameralen zur
subjektiv bewußten Psyche werde ich in den folgenden beiden
Kapiteln darzustellen versuchen. Hier beschäftigt uns die Frage,
wieso es überhaupt zu einem solchen Wechsel kam – eine Frage,
zu deren Beantwortung noch eine ganze Menge
Forschungsarbeit zu leisten sein wird. Wir brauchen eine
Paläontologie des Bewußtseins, die uns Schicht für Schicht
demonstriert, wie und unter welchen speziellen Bedingungen
sozialer Druckverhältnisse diese metaphorisierte Zweitwelt, die
wir subjektives Bewußtsein nennen, aufgebaut wurde. Alles,
was ich zu diesem Unternehmen hier beisteuern kann, sind
einige wenige Fingerzeige.
Dabei möge der Leser bitte zweierlei nicht vergessen. Erstens:
Hier ist nicht die Rede von den bereits früher (auf Seite 65-87)
besprochenen Mechanismen der Metaphorik, die das
Bewußtsein konstituieren, sondern es geht vielmehr um deren
historischen Ursprung – um die Frage: Warum wurden diese
Bewußtseinseigenschaften zu einer bestimmten Zeit vermittels
- 299-
der sprachlichen Metaphorik erzeugt? Zweitens: Es ist hier nur
vom Nahen Osten die Rede. Ist das Bewußtsein erst einmal da,
treten ganz andere Gründe in ihr Recht, die es so erfolgreich
machen und zu seiner Verbreitung unter den übrigen
bikameralen Völkern führen: Diese Frage werden wir in einem
späteren Kapitel aufgreifen.
In der Beobachtung kultureller Unterschiede liegt
möglicherweise der Ursprung des Analog-Raums des
Bewußtseins. In einem für uns kaum vorstellbaren Ausmaß
waren in den Wirren nach dem Zusammenbruch der
Autoritätsstrukturen und der Götter die Reaktionen der
Menschen von Panik und ihr Handeln von Unentschlossenheit
beherrscht. Wir sollten jedoch bedenken, daß im bikameralen
Zeitalter alle, die ein und demselben Stadtgott gehörten, sich
mehr oder weniger glichen in Ansichten und Handlungsweisen.
Aber in dem vom Druck der Umstände erzeugten gewaltsamen
Durcheinander von Völkern unterschiedlicher Nationalität und
jeweils anderen Göttern zugehörig, könnte die Beobachtung, daß
Fremde, mochten sie einem äußerlich auch noch so sehr
gleichsehen, anders sprachen, andere Ansichten hatten und sich
anders betrugen als man selbst, zu der Annahme geführt haben,
daß irgend etwas in ihrem Innern anders sein müsse. Tatsächlich
ist uns dieser Vorgang durch die philosophische Tradition in der
Ansicht überliefert, daß Gedanken, Meinungen und
Verblendungen subjektive Erscheinungen des menschlichen
Innenlebens seien, da die »wirkliche«, »objektive« Welt keinen
Platz für sie hat. Es wäre also möglich, daß der Einzelmensch,
bevor er zu seinem eigenen inneren Selbst kam, dieses zuerst
unbewußt in anderen Menschen, vor allem in Fremden, als die
Ursache ihres andersartigen und bestürzenden Verhaltens
voraussetzte. Mit anderen Worten: Die philosophische
Tradition, für die die Erkenntnis des Fremdpsychischen in einer
Logik des Schließens von der eigenen Subjektivität auf die
Subjektivität anderer gründet, stellt die tatsächlichen
- 300-
Verhältnisse auf den Kopf. Es mag durchaus so sein, daß wir
zunächst unbewußt (!) fremde subjektive Existenzen annehmen
und dann von ihnen durch Generalisierung auf unsere eigene
Subjektivität schließen.
Der Ursprung der Narrativierung in der epischen Dichtung
Zu sagen, daß die Götter lernen, mag befremdlich wirken. Da
sie jedoch (wenn das im Ersten Buch, Fünftes Kapitel [Seite
128-158] aufgestellte Modell korrekt ist) nichts anderes sind als
die Funktion einigermaßen umfänglicher Partien des rechten
Schläfen- und Scheitelhirns, gibt es keinen Grund, warum nicht
auch sie – genau wie das linke Schläfen- und Scheitelhirn und
vielleicht sogar in noch höherem Maße – neue Fähigkeiten
erlernen sollten, indem sie neue Erfahrungen speichern und
verarbeiten und dabei ihre Erzieherrolle neu gestalten, um sich
neuen Bedürfnissen gewachsen zu zeigen.
Narrativierung bezeichnet in einem einfachen Wort einen sehr
verschachtelten Komplex von Fähigkeiten zur Bildung von
Beziehungsganzheiten; Fähigkeiten, die meiner Meinung nach
eine verzweigte Genealogie besitzen. Doch was größere
Ganzheiten wie Lebensspannen, Geschichten, Vergangenheit
und Zukunft betrifft, dürften die entsprechenden Fähigkeiten
von linkshemisphärisch dominanten Menschen anhand eines
neuen Funktionstyps der rechten Hirnhemisphäre erlernt worden
sein. Dieser Funktionstyp war eben die Narrativierung, und
diese war zuvor, so meine ich, in einer bestimmten Epoche der
Geschichte vo n den Göttern erlernt worden.
Wann könnte das gewesen sein? Es ist fraglich, ob wir darauf
jemals eine zuverlässige Antwort werden geben können; zum
Teil liegt dies daran, daß wir keine absolut sicheren Kriterien
haben für die Unterscheidung zwischen dem Bericht von einem
jüngstvergangenen Ereignis und einem Epos. Außerdem geraten
bei der Suche in der Vergangenheit die Dinge stets
- 301-
durcheinander mit den Problemen der Entwicklung der Schrift.
Doch verdient es in diesem Zusammenhang Interesse, daß um
die Mitte des dritten Jahrtausends v. Chr. oder kurz davor in der
Zivilisation des südlichen Mesopotamien offenbar ein neues
Merkmal auftaucht. Ausgrabungen lassen erkennen, daß vor der
als »Frühdynastische Zeit II« bezeichneten Periode Siedlungen
und Städte in diesem Gebiet nicht befestigt waren und keine
Verteidigungseinrichtungen besaßen. Danach jedoch entstanden
in den Hauptregionen der städtischen Siedlungsentwicklung in
einigermaßen
gleichbleibender
Entfernung
voneinander
ummauerte Städte, deren Bewohner das umliegende Land
bebauten und gelegentlich mit den Nachbarn Krieg um die
Grundherrschaft führten. Ungefähr in die gleiche Zeit datieren
die ersten uns bekannten Epen, wie beispielsweise die Gedichte
um Enmerkar, den König von Uruckaluba, und seinen Zwist mit
dem Herrscher von Aratta. Und eben die Beziehungen zwischen
benachbarten Stadtstaaten sind die Themen dieser Epen.
Meine Vermutung geht dahin, daß die Narrativierung aus dem
Bedürfnis entstand, die Ergebnisse zurückliegender politischer
Entwicklungen zu normieren: Das Epos stattet den Bericht von
den Ereignissen mit der normativen Kraft des Kodex aus. Bis
zur fraglichen Zeit war die Schrift – deren Erfindung nur wenige
Jahrhunderte zurücklag – in erster Linie ein Instrument der
Buchführung gewesen, das dazu diente, Bestände und
Umschlagbewegungen in den Speichern des göttlichen
Grundherrn zu verzeichnen. Jetzt wird sie zum Mittel für die
Aufzeichnung gottbefohlenen Geschehens, aus dessen
nachträglicher Rekapitulation im mündlichen Vortrag die
Narrativierung des epischen Gedichts erwächst. Da der Vorgang
des Lesens, wie ich im vorigen Kapitel ausführte, ein
Halluzinieren aus Keilschriftzeichen gewesen sein könnte,
dürfte es sich dabei um eine Funktion des rechten
Schläfenlappens gehandelt haben. Und da es Ereignisse der
Vergangenheit waren, die da aufgezeichnet wurden, wurde die
- 302-
rechte Hirnhemisphäre dadurch zumindest zeitweilig zum Ort
göttlichen Reminiszierens.
Im Vorbeigehen sollten wir festhalten, wie sehr sich das
Lesen auf Tafeln fixierter Keilschrifttexte in Mesopotamien
unterschied von der griechischen Tradition jedesmaliger
mündlicher Neudichtung des epischen Gesangs in der
Generationenfolge der Aoidoi: möglicherweise brachte die orale
Tradition der Griechen insofern einen unermeßlichen Vorteil,
als sie es dem »Apoll« und den »Musen« in der rechten
Hemisphäre zur Aufgabe machte, sich zur Quelle des
Gedächtnisses auszubilden und das Narrativieren zu erlernen,
um die Erinnerungen an Achilleus im Zusammenhang der
epischen Struktur zu bewahren. Später, im chaotischen Umbruch
zum Bewußtsein, wird sich der Mensch sowohl diese
Gedächtnisfähigkeit aneignen als auch die Fähigkeit der
narrativen. Zusammenfassung von Erinnerungen zu einem
Beziehungsgeflecht.
Der Ursprung des Ich (qua Analogon) in der Hinterlist
Täuschendes Verhalten könnte ebenfalls zu den Ursachen des
Bewußtseins gehören. Doch müssen wir vor der eingehenden
Erörterung dieses Punkts eine Unterscheidung treffen zwischen
instrumenteller oder kurzfristiger List und langfristiger Arglist,
die man besser als Intriganz bezeichnen würde. Mehrere Fälle
kurzfristiger Täuschungsmanöver sind von Schimpansen
bekannt. So kommt es vor, daß Schimpansenweibchen sich dem
männlichen Tier in der sexuellen Anlockungspose
»präsentieren«, um ihm dann, sobald sein Interesse auf diese
Weise vom Futter abgelenkt ist, seine Banane wegzuschnappen.
In einem anderen Fall nahm ein Schimpanse das Maul voll
Wasser, lockte einen verhaßten Wärter vor die Käfigstangen und
spuckte ihm dann das Wasser ins Gesicht. In beiden Fällen fällt
das in dem Vorgang enthaltene Täuschungsmanöver unter die
Kategorie des instrumentellen Lernens: Ein bestimmtes
- 303-
Verhaltensmuster wird von einem angenehmen Sachverhalt
gefolgt. Weitergehender Erklärungen bedarf es hier nicht, Etwas
ganz anderes ist demgege nüber die List von der Art des
intriganten Trugs. Tiere oder bikamerale Menschen sind ihrer
nicht fähig. Auf lange Sicht angelegte Täuschungsmanöver
setzen die Erfindung eines Selbst (qua Analogon) voraus, das
ganz anderes zu »tun«, etwas anderes zu »sein« vermag als das,
was die Person in der Sicht ihrer unmittelbaren Umgebung
tatsächlich ist und tut. Man kann sich leicht vorstellen, welch
bedeutender Überlebenswert einer solchen Fähigkeit in jenen
Jahrhunderten zukommen mußte. Ein Mann, der im Ansturm
von Invasoren seine Frau vergewaltigt sieht, würde, wenn er
seiner Stimme gehorcht, auf der Stelle losschlagen und dabei
wahrscheinlich ums Leben kommen. Wer jedoch innerlich ein
anderer sein kann als von außen, wer Haß und Rachegelüste
hinter der Maske des Sichschickens ins Unvermeidliche zu
verbergen weiß – ein solcher wird mit höherer
Wahrscheinlichkeit überleben.
Oder auch in der gewöhnlicheren Situation, daß man von den
fremden Invasoren – womöglich in fremder Sprache – Befehle
erhält: die weitaus größten Aussichten auf Selbsterhaltung und
Fortsetzung seines Stammes ins neue Jahrtausend hat derjenige,
der mit seinem sichtbaren Teil zu gehorchen vermag, aber »im
Innern« ein zweites Selbst beherbergt, dessen »Gedanken«
seinem trügerischen Tun widersprechen; derjenige, der seinem
verhaßten Gegenüber ins Gesicht zu lächeln vermag.
Natürliche Selektion
Als letztes in diesem Kapitel möchte ich die Möglichkeit
erwägen, daß natürliche Selektion beim Aufkommen des
Bewußtseins mitgewirkt haben könnte. Doch ist in diesem
Zusammenhang nochmals mit allem Nachdruck daran zu
erinnern, daß das Bewußtsein zur Hauptsache eine kulturelle
Schöpfung ist und keinerlei biologische Notwendigkeit: Es wird
- 304-
auf sprachlicher Basis erlernt und an andere weitervermittelt.
Der Umstand allerdings, daß es Überlebenswert besaß und noch
immer besitzt, spricht dafür, daß natürliche Selektion beim
Übergang zum Bewußtsein in gewissem Umfang eine
begünstigende Rolle gespielt haben könnte.
Es läßt sich nicht genau errechnen, welcher Prozentsatz der
zivilisierten Menschheit in jenen grausigen Jahrhunderten gegen
Ende des zweiten Jahrtausends v. Chr. ausgerottet wurde.
Meiner Schätzung nach muß er enorm hoch gewesen sein. Und
der Tod ereilte diejenigen zuerst, deren Handeln den Impulsen
ihrer unbewußten Gewohnheiten folgte oder die den Befehlen
ihrer Götter, auf jeden Fremden loszuschlagen, der sich in ihre
Angelegenheiten mischte, nicht zu widerstehen vermochten.
Demnach ist damit zu rechnen, daß Menschen des verhärtet
bikameralen Typs, die sich am loyalsten gegenüber den
vertrauten Gottheiten verhielten, mit großer Wahrscheinlichkeit
untergingen und daß es die weniger ungestümen, die Menschen
mit weniger stark ausgeprägter Bikameralität waren, die
übrigblieben
und
ihre
Gen-Ausstattung
an
die
Nachfolgegenerationen weitergaben. Wie zuvor bei der
Erörterung der Sprache können wir auch hier wieder das Prinzip
des Baldwinschen Evolutionismus heranziehen. Das Bewußtsein
muß in jeder neuen Generation neu erlernt werden, und
diejenigen, die von der biologischen Ausstattung her am ehesten
fähig
sind,
es
zu
erlernen,
haben
die
besten
Überlebensaussichten. Wie wir in einem späteren Kapitel noch
sehen werden, findet sich sogar in der Bibel ein Beleg dafür, daß
rein bikameral veranlagte Kinder schließlich einfach
umgebracht wurden (Sacharja 13, 3-4).
Zusammenfassung
Dieses Kapitel ist nicht so zu verstehen, als sei es hierum die
Faktenbelege für meine Theorie vom Ursprung des Bewußtseins
gegangen. Diese beizubringen ist die Aufgabe der folgenden
- 305-
Kapitel. Die vorstehenden Ausführungen sind rein deskriptiver
und theoretischer Natur: In ihnen war es mir darum zu tun, ein
Bild zu zeichnen, das allgemeine Plausibilitätsbedingungen
enthält; das einen gewaltigen Umbruch in der menschlichen
Geistesverfassung gegen Ende des zweiten Jahrtausends v. Chr.
im Hinblick auf Wieso und Warum als überhaupt im Rahmen
des Möglichen liegend erscheinen läßt.
In summa habe ich eine Reihe von Faktoren namhaft
gemacht, die für den großen Umschwung von der bikameralen
Psyche zum subjektiven Bewußtsein eine Rolle spielten; im
einzelnen sind dies: 1. der Bedeutungsverlust der auditiven
Sinnesmodalität als Folge der aufkommenden Schrift; 2. die
inhärente Brüchigkeit der halluzinatorischen Kontrolle; 3. die
Praxisferne der Götter im Chaos des his torischen Umbruchs; 4.
die Annahme einer inneren Ursache für die beobachteten
Verhaltensabweichungen Fremder; 5. die Übernahme der
Narrativierung aus der epischen Dichtung; 6. der
Überlebenswert der Verstellung und 7. ein Quentchen natürliche
Selektion.
Ich möchte schließen mit der Frage nach den
Geltungsbedingungen meines Bildes. Tauchte das Bewußtsein
wirklich nur zu dieser Zeit und keiner anderen als Novum in der
Welt auf? Wäre es nicht möglich, daß zum mindesten einige
Einzelmenschen schon in viel früherer Zeit ein subjektives
Bewußtsein entwickelten? Ja, das wäre möglich. So wie
Menschen von heute sich in ihrer Mentalität unterscheiden
können, so wäre es auch für vergangene Zeitalter durchaus
denkbar, daß ein einzelner oder wohl eher eine Sekte oder
Clique einen metaphorischen Raum mit einem Analog-Selbst zu
konstruieren begonnen hatte. Doch eine derart abweichende
Mentalität wäre nach meinem Dafürhalten im Rahmen einer
bikameralen Theokratie eine kurzlebige Angelegenheit gewesen
und noch weit entfernt von dem, was wir heute mit dem
Ausdruck Bewußtsein meinen.
- 306-
Worum es uns hier geht, ist die kulturelle Norm, und die
Belege für einen dramatischen Wandel in der kulturellen Norm
bilden den Hauptinhalt der nächsten Kapitel. Die drei
Weltgegenden, in denen dieser Umschwung der Beobachtung
am leichtesten zugänglich ist, sind Mesopotamien, Griechenland
und die Welt der bikameralen Nomadenvölker. Ihnen werden
wir uns jetzt in dieser Reihenfolge zuwenden.
- 307-
VIERTES KAPITEL
Metanoia in Mesopotamien
Um das Jahr 1230 v. Chr. ließ Tukulti-Ninurta I., der Tyrann
Uvon Assyrien, einen Steinaltar errichten, der in schroffem
Kontrast steht zu allem, was ihm in der Weltgeschichte
vorausgeht. Das Reliefbild auf der Vorderseite zeigt den König
zweimal in ein und derselben Szene: einmal, wie er sich dem
Thron seines Gottes naht, zum andern auf den Knien vor diesem
Thron. Gerade das zweifache Vorkommen der Figur in einem
Bild plakatiert recht grell die in der gesamten Geschichte bis
dato beispiellose Bettlerpose, in die sich hier ein Monarch
begibt. Während der Blick des Betrachters von dem stehenden
König zu dem direkt vor ihm knienden König hinübergleitet,
gewinnt die Szene die Ausdruckskraft bewegter Bilder an und
für sich bereits eine bemerkenswerte künstlerische Innovation.
Weitaus bemerkenswerter ist jedoch der Umstand, daß der
Thron, vor dem der wildeste unter all den grausamen
assyrischen Erobererkönigen sich erniedrigt, leersteht.
In der ganzen vorherigen Geschichte wird kein König jemals
kniend dargestellt. In der ganzen vorherigen Geschichte gibt es
keine bildliche Darstellung, die auf einen abwesenden Gott
hindeutet.
Jetzt
war
die
bikamerale
Psyche
zusammengebrochen.
Die Abbildungen Hammurabis (etwa die auf Seite 245) zeigen
diesen stets stehend und einem sehr gegenwärtige n Gott
lauschend. Und zahllose Rollsiegel aus der gleichen Periode
tragen Bilder, auf denen noch andere Personen von Angesicht zu
Angesicht einem menschengestaltigen Gott, der ebenso real ist
wie sie, lauschen oder ihm vorgeführt werden. Der Aššur-Altar
des Tukulti-Ninurta steht in konsternierendem Gegensatz zu
allen
früheren
Bilddarstellungen
von
Gott-MenschBeziehungen. Und keineswegs handelt es sich hier bloß um eine
- 308-
vereinzelte künstlerische Laune.
Relief von der Vorderseite des Tukulti-Altars (Berlin,
Pergamon-Museum). Der assyrische Tyrann Tukulti-Ninurta I.
steht und kniet sodann vor dem leeren Thron seines Gottes.
Ausdrucksvoll ist seine hinweisende Gebärde mit dem
Zeigefinger.
Andere Altarbilder von Tukulti-Ninurta sind gleichermaßen
götterleer. Und auch auf Rollsiegeln der Zeit ist ein TukultiNinurta zu sehen, der sich dieser oder jener nichtvorhandenen –
mitunter durch ein Symbol vertretenen – Gottheit nähert. Solche
Bildvergleiche sprechen dafür, daß der Zusammenbruch der
bikameralen Psyche zeitlich irgendwo zwischen Hammurabi
und Tukulti-Ninurta anzusiedeln ist.
Diese Hypothese wird bestätigt durch die erhaltenen
Keilschrifttexte aus der Epoche von Tukulti-Ninurta I. Das
sogenannte »Tukulti-Ninurta-Epos« ist nach Hammurabi das
erste wieder sicher zu datierende und guterhaltene
- 309-
Keilschriftdokument von Bedeutung. Zur Zeit Hammurabis steht
die fort- und immerwährende Gegenwart der Götter unter den
Menschen, deren Handeln sie leiten, niemals in Zweifel.
Dagegen sind zu Beginn des propagandistisch angehauchten
»Tukulti-Ninurta-Epos« die babylonischen Götter verbittert über
den König von Babylonien, weil er es an Respekt fehlen läßt.
Darum verlassen sie die babylonischen Städte, so daß deren
Bewohner ohne göttliche Führung zurückbleiben – womit der
Sieg des assyrischen Heeres unter Tukulti-Ninurta besiegelt ist.
Götter, die ihre menschlichen Sklaven unter irgendwelchen
Umständen im Stich zu lassen fähig sind, wären im Babylonien
Hammurabis ein Unding gewesen. Sie sind ein Novum in der
Welt.
Und solchen Göttern begegnet man in den literarischen
Texten, die sich aus den letzten drei Jahrhunderten des zweiten
Jahrtausends v. Chr. erhalten haben, auf Schritt und Tritt.
Wer keinen Gott hat, auf seinen Wegen
Hüllt ihn der Kopfschmerz ein wie ein Gewand
liest man auf einer Keilschrifttafel etwa aus der Zeit der
Regierung von Tukulti-Ninurta.
Diese Aussage gewinnt zusätzliche Bedeutung vor dem
Hintergrund unserer früher geäußerten Vermutung, daß mit dem
Zusammenbrechen der bikameralen Psyche ungewollte
Hemmungen im Bereich des rechten Schläfenhirns verbunden
waren.
Ungefähr aus der gleichen Zeit stammt das berühmte, auf drei
Tontafeln nebst einer vierten von anfechtbarer Echtheit
überlieferte Gedicht »Ludlul bel nemeqi«, so betitelt nach seinen
Anfangsworten, die gewöhnlich übersetzt werden mit »Ich will
preisen den Herrn der Weisheit«. »Weisheit« ist an dieser Stelle
eine unverbürgte moderne Bedeutungsinterpolation. Das
- 310-
eigentlich Gemeinte wäre etwa wiederzugeben mit »Fertigkeit
(oder Fähigkeit, Vermögen), Unglück abzuwenden«; und der
»Herr« – derjenige, der diese Fähigkeit beherrscht – ist in
diesem Fall Marduk, der Stadtgott von Babylon. Die ersten
vollständig lesbaren Zeilen auf der beschädigten ersten Tafel
lauten:
Mein Gott hat mich verlassen und entschwand, Meine Göttin hat mich
im Stich gelassen und hält sich fern. Der gute Engel, der mir zur Seite
schritt, ist auf und davon.
Dies bedeutet de facto den Zusammenbruch der bikameralen
Psyche. Der Sprecher ist ein gewisser Šubši-Mešre-Šaqqan (wie
wir auf der dritten Tafel informiert werden), ein Stadtvogt,
möglicherweise ein Vasall Tukulti-Ninurtas. Er beschreibt im
weiteren, wie er nach dem Wegzug der Götter bei seinem König
in Ungnade fällt, seines Amtes verlustig geht und am Ende zu
einem gesellschaftlich Geächteten und Ausgestoßenen wird. Die
zweite Tafel schildert, wie er in seinem gottverlassenen Zustand
von allen möglichen Krankheiten und Übeln heimgesucht wird.
Warum haben die Götter ihn verlassen? Und er zählt die
Fußfälle auf, die Gebete und die Opfer, die ihm allesamt die
Götter nicht zurückzubringen vermocht haben. Priester und
Omendeuter werden zu Rate gezogen, doch trotzdem
Ist mein Gott mir nicht zu Hilfe gekommen und hat mich bei der Hand
genommen, Noch hat sich meine Göttin meiner erbarmt und ist mir zur
Seite geschritten.
Auf der dritten Tafel begreift der Sprecher, daß für alles, was
ihm widerfährt, der allmächtige Marduk verantwortlich ist. Im
Traum erscheinen ihm – nach bikameraler Manier – Marduks
Engel und richten ihm von Marduk selber Trostbotschaften und
Verheißungen künftigen Wohlergehens aus. Auf diese
- 311-
Zusicherung hin wird Šubši erlöst von seinen Übeln und Plagen;
er begibt sich in den Tempel des Marduk, um dem großen Gott,
der »meine Verfehlungen im Wind zerstreute«, seinen Dank
abzustatten.
Die gewaltigen Themen der Weltreligionen sind hier zum
erstenmal angeschlagen. Warum haben die Götter uns
verlassen? Wie Freunde, die uns die Freundschaft aufkündigen,
müssen sie durch irgendeine Verfehlung, die wir gegen sie
begangen haben, verletzt sein. Die Übel und Mißgeschicke, die
uns befallen, sind die Strafe für unsere Verfehlungen. Wir
werfen uns auf die Knie und bitten um Vergebung. Und finden
dann Entsühnung und Erlösung im auf diese oder jene Weise
wiedergekehrten Wort Gottes. Diese Aspekte der Religion der
Gegenwart finden ihre Erklärung in der Theorie von der
bikameralen Psyche und ihrem seinerzeitigen Zusammenbruch.
Regeln und Pflichten hatte die Welt damals schon seit langem
gekannt. Sie waren von den Göttern festgesetzt und wurden von
den Menschen befolgt. Doch die Vorstellung von Gut und Böse,
die Vorstellung von einem guten Menschen, von der Erlösung
von Sünde und göttlicher Vergebung- dergleichen kam erst auf
mit dem quälerischen Nachgrübeln über die Ursachen des
Verstummens der göttlichen Führer.
Das
gleiche
vorherrschende
Thema
von
den
verlorengegangenen Göttern tritt uns grell aus den Tontafeln der
sogenannten »Babylonischen Theodizee« entgegen. 1 Dieses
1
Vor ein faszinierendes Problem gerät man mit der Frage, warum zur
fraglichen Zeit in den Apoströphierungen der Götter der Nominalausdruck in
Pluralform gebraucht wird, selbst wenn das Verb im Singular steht. Das
geschieht in Zusammenhängen, wo man in der älteren Literatur hätte davon
ausgehen dürfen, daß ein Privatgott gemeint war. Der Fall tritt sowohl
stellenweise im »Ludlul« (II, 12.25.33) als auch durchgängig in der
»Babylonischen Theodizee« auf und später dann wieder in der Pluralform
elobim des Elohisten im Alten Testament. Nicht vergessen sollte man in
diesem Zusammenhang auch die Musen der Griechen, und möglicherweise
- 312-
Zwiegespräch zwischen einem Gepeinigten und seinem
ratspendenden Freund ist offenkundig späteren Datums –
vielleicht aus der Zeit um 900 v. Chr. –, hallt jedoch von den
gleichen qualvollen Klagen wider. Warum haben die Götter uns
verlassen? Und warum haben sie, die Allgewaltigen, Unglück
auf Unglück über uns ausgegossen? In dem Gedicht meldet sich
zugleich eine aufdämmernde neue Individualität – etwas, das
wir als Selbst (qua Analogon) bezeichnen könnten –, in der wir
das neue Bewußtsein erkennen. Das Ganze endet mit einem
Aufschrei, der in der seitherigen Geschichte bis zur Gege nwart
nachhallt:
O daß die Götter, die mich verworfen haben, Hilfe brächten,
O daß die Göttin, die mich verlassen hat, sich gnädig zeigte.
Von hier bis zu den Psalmen des Alten Testaments ist der
Weg nicht mehr weit. Nicht die geringste Spur solchen Grämens
jedoch findet sich in der Literatur, die den hier erörterten Texten
geschichtlich vorausgeht.
Die
Konsequenzen
des
Verschwindens
der
Gehörshalluzinationen aus der menschlichen Geistesverfassung
reichen tief und weit; sie treten auf vielen verschiedenen Ebenen
auf. Eine von ihnen zeigt sich als Unklarheit im Hinblick auf
Autorität als solche. Was ist Autorität? Herrscher, die der Götter
als Führer entraten, sind launisch und wankelmütig. Sie
verlassen sich auf Omina und Orakelkünste (auf die wir alsbald
zu sprechen kommen). Und wie ich bereits erwähnte, werden
Grausamkeit und Unterdrückung der Untertanen jetzt zu der
Methode, mit der die Herrscher in Ermangelung von
Gehörshalluzinationen ihre Herrschaft durchsetzen. Im Zustand
der Götterferne wird sogar die Autorität des Monarchen selbst
fragwürdig. Rebellion im modernen Sinne ist jetzt als
gehört auch der auf hethitischen Tontafeln genannte pankusch hierher. Hören
und hörten Halluzinationen sich wie ein Summenchor an, wenn auf
neurologischer Ebene eine Schwächung ihrer Zuverlässigkeit eintritt?
- 313-
Möglichkeit gegeben.
In der Tat war es eine solche neuartige Rebellion, was das
Regiment sogar eines Tukulti-Ninurta beendete. Der Monarch
hatte gegenüber von Aššur jenseits des Tigris eine komplette
neue Hauptstadt erbauen lassen, der er gottlos seinen eigenen
Namen gab: Kar-Tukulti-Ninurta. Doch unter der Führung
seines eigenen Sohnes und Nachfolgers schlossen ihn seine
konservativer eingestellten Granden in der neuen Stadt ein,
legten Feuer an sie und brannten sie bis auf den Grund nieder:
Mit seinem Tod in den Flammen beginnt die Herrschaft dieses
Königs in die Legende hinüberzugleiten. (In den Nebeln der
alttestamentlichen Geschichtsdarstellung taucht er schattenhaft
als Nimrod 2 auf und als König Ninos3 im griechischen Mythos.)
Unruhe und soziale Wirren hatte es natürlich auch zuvor schon
gegeben. Doch planvolle Meuterei und vorsätzlicher
Tyrannenmord wie in diesem Fall sind undenkbar für die
gottergebenen Hierarchien der bikameralen Epoche.
Von weitaus größerer Bedeutung sind jedoch die Anfänge
einiger neuer kultureller Themen, die als Reaktion auf diesen
Zusammenbruch der bikameralen Psyche und ihrer göttlichen
Autorität auftraten. Die Fortbewegungsart der Geschichte ist
nicht der sprunghafte Wechsel zu irgend etwas isoliert
dastehendem Neuem, sondern vielmehr ein selektives
Akzentuieren von Aspekten der unmittelbaren Vergangenheit.
Und bei den neuen Aspekten der Menschheitsgeschichte, die als
Reaktion auf den Verlust der göttlichen Autorität auftraten,
handelt es sich ausnahmslos um neu akzentuierende
Fortentwicklungen aus der bikameralen Epoche.
2
E. A. Speiser, In Search of Nimrod, Oriental and Biblical Studies: Collected
Writings of E. A. Speiser, hg. von J. J. Finkelstein u. Mosh Greenberg,
Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1967, S. 41-52.
3
H. Lewy, Nitokoris -Naqi'ja, Journal of Near Eastern Studies 11/1952, S.
264-286.
- 314-
Gebet
Bei der klassischen bikameralen Psyche – will heißen: der
bikameralen Psyche vor ihrer Schwächung durch die Schrift um
2500 v. Chr. – gab es nach meinem Dafürhalten keine
Verzögerung im Auftreten der halluzinierten Stimme und also
keinen Anlaß zum Gebet. Eine neuartige Situation, Streß – und
prompt war da auch die Stimme, die einem sagte, was zu tun
war. Ohne Zweifel ist so die Sachlage bei halluzinierenden
Schizophrenen heute. Sie flehen nicht darum, ihre Stimme zu
hören: das ist nicht nötig. Wenn dies bei einigen wenigen
Patienten anders ist, dann während der Genesungsphase, in der
die Stimmen sich nicht mehr so häufig wie früher hören lassen.
Mit zunehmender Komplexität der Kulturen und ihrer
Binnenbeziehungen indessen werden die Götter gegen Ende des
dritten Jahrtausends v. Chr. gelegentlich um Entgegenkommen
in verschiedenen Anliegen gebeten. In der Regel handelt es sich
bei diesen Bitten freilich nicht um das, was wir unter Gebeten
verstehen.
Es
sind
verschiedene
Spielarten
von
Verfluchungsformeln, wie etwa die gewöhnliche Schlußformel
von Standbildinschriften:
So jemand dieses Bild verschandelt, möge Enlil seinen
Namen auslöschen und seine Waffe zerbrechen! 4
oder Lobpreisungen von der Art, mit der Gudea von Lagas auf
seinen großen »Zylindern« seine Götter bedenkt. Eine
bemerkenswerte Ausnahme freilich bilden auf Zylinder A
Gudeas durchaus echte Gebete an seine Mutter, in denen er
diese um die Deutung eines Traums bittet. Doch ist dies, wie so
vieles an dem rätselhaften Gudea, eine Abweichung von der
Norm. Das Beten als die zentral wichtige Handlung des
Gottesdiensts tritt erst dann in den Vordergrund, wenn die
Götter mit dem Menschen nicht mehr »von Angesicht zu
Angesicht« (wie es in 5. Mose 34, 10 heißt) sprechen. Was zur
4
Vgl. Barton, a. a. O. (Fußnote auf Seite 223), S. 113.
- 315-
Zeit von Tukulti-Ninurta noch neu war, wird im Verlauf des
ersten Jahrtausends v. Chr. zur Alltäglichkeit – das alles, wie ich
meine, eine Folge des Zusammenbruchs der bikameralen
Psyche. Ein typisches Gebet hebt an:
O Herr, du Starker, du Berühmter, du, der du alles weißt, dich
selbst verjüngst, du Vollkommener, Erstgezeugter des Marduk
... und fährt dann auf vielen Zeilen fort mit der Aufzählung von
Titeln und Attributen
... der du die Kultstätten dauerhaft festigst, der du alle Kulte
auf dich versammelst ... was möglicherweise auf den
chaotischen Zustand innerhalb der Hierarchie der Götter
hindeutet, der sich eingestellt hatte, seitdem sie nicht mehr zu
hören waren, ... du wachst über alle Menschen, du erhörst ihre
Bitten.
Der Bittsteller führt dann sich selbst und sein Anliegen ein:
Ich, Balasu, Sohn seines Gottes, dessen Gott Nabu ist, dessen
Göttin Ta’smetu ... Ich bin einer, der matt und geplagt ist und
dessen Leib sehr krank, ich neige mich vor dir ... O Herr, du
Weiser unter den Göttern, durch deinen Mund befiehl du meine
Wohlfahrt; o Nabu, Weiser unter den Göttern, durch deinen
Mund möge ich gesunden und das Leben haben. 5
Das allgemeine Schema des Gebets mit dem emphatischen
Lobpreis des Gottes am Anfang und dem persönlichen Anliegen
am Schluß hat sich im Grunde seit den Tagen der
mesopotamischen Zivilisationen nicht geändert. Gerade diese
Erhöhung des Gottes, ja allein schon das Konzept einer
anbetenden Gottesverehrung steht in scharfem Gegensatz zu der
sachlicheren Beziehung zwischen Gott und Mensch, wie sie
tausend Jahre früher an der Tagesordnung war.
Zur Genealogie der Engel
5
Vgl. Saggs, a. a. O. (Fußnote auf Seite 221), S. 312.
- 316-
Während der sogenannten neusumerischen Periode gegen
Ende des dritten Jahrtausends v. Chr. nehmen auf Bildnereien,
insbesondere auf Rollsiegeln, »Präsentationsszenen« einen
herausragenden Platz ein: eine – häufig weibliche –
untergeordnete Gottheit führt einen Menschen (wahrscheinlich
den Eigentümer des Siegels) einem höherrangigen Gott vor.
Dies steht in vollem Einklang mit dem, was unsere Theorie als
Wahrscheinlichkeit für die bikameralen Theokratien nahelegt:
nämlich daß jede Person ihre Privatgottheit hatte, deren
Funktion auf der phänomenalen Ebene die Vermittlung
zwischen jener Person und den höheren Gottheiten war. Und
dieser Typ der Präsentations- oder Mittlerszene lebt bis weit in
das zweite Jahrtausend v. Chr. hinein fort.
Doch dann tritt ein tiefgreifender Wandel ein. Als erstes
verschwinden die höheren Götter aus derartigen Bildern, genau
wie auf dem Aššur-Altar des Tukulti-Ninurta. Es folgt eine
Periode, während der nur noch die Privatgottheit zu sehen ist,
die den Menschen vor eine symbolische Repräsentation des
höheren Gottes geleitet. Gegen Ende des zweiten Jahrtausends
v. Chr. begegnen wir dann den ersten Mischwesen aus Menschund Tiergestalt als Mittlern und Boten zwischen den
entschwundenen Göttern und ihren verlorenen Schäfchen. Diese
Boten waren stets halb Vogel, halb Mensch; zuweilen handelt es
sich um einen bärtigen Mann mit zwei Flügelpaaren und gekrönt
wie ein Gott, der häufig eine Art Tasche oder Beutel mit – so
wird angenommen – den Zutaten für eine Reinigungszeremonie
trägt. Diesen gemutmaßten Bediensteten der himmlischen
Hofhaltung begegnet man auf assyrischen Rollsiegeln und
Reliefs mit zunehmender Häufigkeit. Anfangs sieht man diese
Engel – oder Genien, wie die Assyriologen sie häufiger nennen
einen Menschen vor das Symbol eines Gottes führen, wie es auf
den älteren Präsentationsbildern der Privatgott tat. Doch bald
wird auch das aufgegeben. Mit Beginn des ersten Jahrtausends
v. Chr. erscheinen solche Engelsfiguren in einer unübersehbaren
- 317-
Vielfalt von Szenen, manchmal zusammen mit Menschen und
manchmal in diverse Auseinandersetzungen mit anderen
Mischwesen verwickelt. Zuweilen haben sie Vogelköpfe. Oder
es sind geflügelte Stiere und geflügelte Löwen mit menschlichen
Köpfen, die als Palastwächter fungieren – so beispielsweise im
neunten Jahrhundert v. Chr. in Kalhu (dem heutigen Nimrud) –
oder die Stadttore bewachen wie im achten Jahrhundert v. Chr.
in Horsabad. Oder sie zeigen sich – wie in einem Wandrelief
von Ässurnasirpal aus dem neunten Jahrhundert v. Chr. – mit
Falkenköpfen und breiten Schwingen hinter einem König
einherschreitend, einen Pinienzapfen in der Hand, der zuvor in
einen kleinen Eimer eingetunkt wurde: Eine Szene, die an die
Besprengungszeremonie der Taufhandlung erinnert. Keines
dieser Bilder vermittelt den Eindruck, daß die Engel sprechen
oder die Menschen zuhören. In allen Fällen handelt es sich um
wortlose visuelle Szenen, in denen das auditorische Vollerleben
des alten bikameralen Geschehens zu einer nur mehr
angenommenen und vermuteten stummen Beziehung wird. Wir
könnten auch sagen: zum Mythos wird.
Dämonen
Doch Engel allein reichten nicht aus, das anfängliche Vakuum
zu füllen, das der Rückzug der Götter hinterließ. Außerdem
wurden sie als Boten der höchsten Götter, die sie waren,
gemeinhin nur in Verbindung mit dem Monarchen und seinen
Unterfürsten gedacht. Im gemeinen Volk, dessen hilfreiche
Privatgötter den Dienst versagen, wirft nunmehr eine ganz
andere Art von halbgöttlichen Wesen ihren furchterregenden
Schatten auf das Alltagsleben.
Wie kann man sich erklären, daß die böswilligen Dämonen zu
jener bestimmten Zeit ihren Einzug auf der Bühne der
menschlichen Geschichte hielten? Das gesprochene Wort, und
sei es auch in einer unverständlichen Sprache, ist für Menschen
der wichtigste Weg, einander zu begrüßen. Bleibt ein
- 318-
ergangener Gruß unerwidert, so wird daraus automatisch eine
feindselige Absicht des Schweigenden gefolgert. Da die
Privatgötter schweigen, müssen sie verärgert und feindselig
gesinnt sein. Aus dieser Logik entspringt die Idee des Bösen, die
beim Zusammenbruch der bikameralen Psyche erstmals in der
Menschheitsgeschichte auftaucht. Daß die Götter nach
Gutdünken über unser Schicksal herrschen, unterliegt nicht dem
geringsten Zweifel: Was können wir also tun, um ihren Zorn zu
beschwichtigen und sie uns neuerlich geneigt zu machen? Daher
also die Gebete und Opferhandlunge n, von denen wir zuvor
gesprochen haben, und von daher also erhält die Demütigung
vor einem Gott ihren Sinn.
Während die Götter sich zurückziehen, um fortan nur noch in
Menschen von besonderer Art – in Propheten und Orakeln – zu
erscheinen oder über Engel und Omina eine schattenhafte
Verbindung mit den Menschen aufrechtzuerhalten, schießt in
das so entstehende Machtvakuum der Dämonenglaube ein. Der
Himmel Mesopotamiens wurde mit der Zeit förmlich von
Dämonen verdunkelt. Naturerscheinungen nahmen deren
Feindseligkeit an: Ein wütender Dämon steckte in dem
Sandsturm, der über die Wüste fegte; es gab einen Dämon des
Feuers und Skorpionmenschen, die die aufgehende Sonne hinter
den Bergen bewachten; da waren Pazuzu, der fratzenhafte
Sturmwinddämon, Asakku und zahllose andere Pest- und
Krankheitsbringer und die schrecklichen Asapper-Dämonen, die
mit Hilfe von Hunden abgehalten werden konnten. Dämonen
lagen auf der Lauer, um sich, wann immer sich Gelegenheit bot,
der Menschen zu bemächtigen: an einsamen Orten, beim
Schlafen, Essen, Trinken und vor allem im Kindbett. Sie
hängten sich an die Menschen in Gestalt aller Krankheiten, die
Menschen widerfahren können. Sogar die Götter konnten in die
Lage kommen, sich der Angriffe von Dämonen erwehren zu
müssen, und das erklärte in einigen Fällen, wieso sie von der
Ausübung des Regierungsgeschäfts über die Menschen
- 319-
abgehalten waren.
Schutzmaßnahmen gegen diese bösen Gottheiten – für die
bikamerale Zeit etwas Unvorstellbares – gab es in vielerlei
Formen. Aus der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends v. Chr.
datieren Tausende von apotropäischen Amuletten, die um den
Hals oder das Handgelenk getragen wurden. In der Regel zeigen
sie ein Bild des betreffenden Dämons, dessen Einfluß abgewehrt
werden soll, fallweise mit gestikulierenden Priestern darüber,
die das Böse verscheuchen, und häufig mit einer Beschwörung
im unteren Teil, in der die Hochgötter gegen den gefürchteten
Graus zu Hilfe gerufen werden; etwa so:
Beschwörung. Jener, der sich dem Haus genaht hat, schreckt
mich aus dem Bett, treibt Schindluder mit mir, macht mir
Alpträume. Dem Gott Bine, dem Türhüter der Unterwelt, mögen
sie ihn überantworten nach dem Ratschluß des Ninurta, Fürsten
der Unterwelt. Nach dem Ratschluß des Marduk, der zu Esagilia
in Babylon wohnt. Tür und Riegel sei es kund, daß ich unter
dem Schutz der zwei Herren stehe. Beschwörung. 6
Überall in Mesopotamien wurden im Laufe des ersten
Jahrtausends v. Chr. Rituale ohne Zahl andächtig gemurmelt
und inszeniert, um die Kräfte des Bösen zu bannen. Die
Hochgötter wurden um Intervention angefleht. Alle
Krankheiten, Gebresten und Schmerzen wurden dem Wirken
von boshaften Dämonen angelastet, bis schließlich die ärztliche
Kunst nur mehr im Exorzismus bestand. Was wir über diese
Praktiken der Dämonenbekämpfung wissen, stammt zum
größten Teil aus der riesigen Bibliothek, die Aššurbanipal um
650 v. Chr. in Ninive anlegte. Buchstäblich Tausende von
erhaltenen Tontafeln aus dieser Sammlung beschreiben
Exorzismusriten, und weitere Tausende zählen Omen um Omen
auf: Alles in allem liefern sie uns das Bild einer verfallenden
6
Ebd., S. 291.
- 320-
Kultur, auf der sich Wolken von Dämonen abgesetzt haben wie
Fliegen auf einem Stück faulen Fleisch.
Ein neuer Himmel
In vorangegangenen Kapiteln sahen wir, daß die Götter
üblicherweise ein festes Domizil hatten, auch wenn sie sich
ihren Dienern an jedem beliebigen Ort vernehmlich machten.
Der Aufenthaltsort war in vielen Fällen die Zikkurat oder das
häusliche Heiligtum. Mochten einige Götter auch mit
Himmelskörpern wie Sonne, Mond und Sternen assoziiert sein
und der oberste von ihnen, Anu, im Himmel residieren, so
wohnte nichtsdestoweniger die Mehrzahl der Götter auf Erden
gemeinsam mit den Menschen.
Das alles ändert sich mit dem Eintritt in das erste Jahrtausend
v. Chr., die Zeit, da nach unserer These die gö ttlichen Stimmen
nicht mehr zu hören sind. Wie nun die Erde zum Tummelplatz
von Engeln und Dämonen wird, so scheint es auch ausgemacht,
daß die entschwundenen Götter bei Anu im Himmel Wohnung
genommen haben. Und dies ist auch der Grund dafür, daß die
Engel stets in geflügelter Gestalt erscheinen: Sie sind Sendboten
vom Himmel, wo die Götter wohnen. 7 Der Gebrauch des Worts
Himmel in Verbindung mit Götternamen wird in der
akkadischen Literatur mehr und mehr zum Gemeinplatz. Und als
7
Wenn man spätere Abschriften des »Enuma elisch«, des neubabylonischen
Weltschöpfungsepos, in dieser Hinsicht als zuverlässige Quellen betrachten
darf, setzte diese Abwanderung der Hochgötter in den Himmel bereits in der
zweiten Hälfte des zweiten Jahrtausends v. Chr. ein. Vgl. die Übersetzung
von E. A. Speiser in Near Eastern Texts Relating to the Old Testament, hg.
von J. B. Pritchard, Princeton: Princeton University Press 1950. Der Titel
gibt einfach die ersten zwei Wörter des Epos wieder, sie bedeuten: »Als oben
[der Himmel noch nicht benannt war]«. Wie so viele andere Texte wurde
auch dieser in der – im siebten Jahrhunden v. Chr. Angelegten großen
Bibliothek des Aššurbanipal entdeckt. Es handelt sich um die Abschrift eines
Urtexts, der möglicherweise ins zweite Jahrtausend v. Chr. datiert.
- 321-
im siebten Jahrhundert v. Chr. die Geschichte von der Großen
Flut (der Ursprung der biblischen Erzählung von der Sintflut) in
den Gilgamesch-Zyklus eingegliedert wird, dient sie dort als
Rationalisierung für den Wegzug der Götter von der Erde:
Selbst die Götter wurden von Entsetzen ergriffen angesichts
der Flut. Sie flüchteten sich hinauf in den Himmel des Anu. 8
Diese Verwandlung der ehemals erdbewohnenden Götter in
Himmelsbürger wird bekräftigt durch eine bedeutsame
Veränderung in der Bauweise der Zikkurat. Wir haben gesehen,
daß die frühesten Zikkurat der mesopotamischen Geschichte als
baulichen Kern eine große Halle, die sogenannte gigunu,
enthielten, wo sich in den Ritualen der menschlichen Sklaven
das »Leben« der göttlichen Statue abspielte (vgl. Seite 221).
Doch bis zum Ende des zweiten Jahrtausends v. Chr. hatte sich
offenbar die gesamte Konzeption der Zikkurat gewandelt. Sie
enthält jetzt keinerlei Zentralraum mehr, und immer ferner
rücken die Statuen der Hochgötter ihrer alten Rolle als Zentrum
ausgefeilter Rituale. Denn der heilige Turm der Zikkurat war
jetzt eine Landungsbrücke, deren sich die Götter bei der
Herabkunft vom Himmel, in den sie entschwunden waren, auf
die Erde bedienten. Dies ist die unumstößliche Bilanz aus
Texten des ersten Jahrtausends v. Chr., in denen sogar von
einem »Himmelsboot« die Rede ist. Den genauen Zeitpunkt
dieser Veränderung zu bestimmen ist schwierig, weil die noch
existierenden Zikkurat schwere Schäden aufweisen oder, noch
schlimmer, in einigen Fällen »restauriert« sind. Doch meine ich,
daß die zahlreichen von den Assyrern seit Beginn der Herrschaft
Tukulti-Ninurtas I. gebauten Zikkurat allesamt zu diesem Typ
gehörten: nicht mehr wie früher Behausungen irdischer Götter,
sondern riesenhafte Trittschemel für den Abstieg der
8
Gilgamesch, Tafel 2, Zeile 113 f. Nach Alexander Heidel, The Gilgamesh
Epic and Old Testament Parallels, Chicago: University of Chicago Press
1949
- 322-
Himmlischen zur Erde.
Die Zikkurat, die Sargon im achten Jahrhundert v. Chr. für
seine neue Riesenstadt Horsabad errichten ließ, ragte mit ihren
sieben Stufen, so hat man anhand neuerer Ausgrabungen
errechnet, bis zur Höhe von 42 Metern über die umliegende
Stadt hinaus; ganz oben erglänzte ein Tempel, der dem Aššur
geweiht war, der noch immer als der göttliche Eigentümer
Assyriens verehrt wurde, auch wenn er sich nicht mehr hören
ließ. Einen weiteren Aššur-Tempel gibt es in Horsabad nicht,
Vom Tempel herab führte nicht, wie in früheren Zikkurat, eine
gewöhnliche Treppe, sondern im Innern des Bauwerks eine
lange, um die Zentralachse gewendelte Piste, auf der Aššur
hinabschreiten konnte, wann immer – oder falls überhaupt
jemals – ihm danach war, oben anzulanden und die Stadt zu
besuchen.
Und ebenso war die Zikkurat im neubabylonischen Reich, der
biblische Turm von Babel, keine göttliche Behausung wie die
Bauten der ungeschwächt bikameralen Epoche, sondern eine
himmlische Landungsbrücke für die ins Überirdische
abgewanderten Götter. Im siebten und sechsten Jahrhundert v.
Chr. gebaut, ragte sie in sieben Kolossalstufen 91,5 Meter hoch
auf, gekrönt von einem funkelnden blauglasierten MardukTempel. Schon ihr Name verrät ihren Zweck: Eteurenanki,
Tempel (E) des Empfangssteigs (teuren) zwischen Himmel (an)
und Erde (ki). 9 Die einschlägige Passage im z. Buch Mose (II, 29) bleibt sinnlos, solange man sie nicht als Umstilisierung einer
neubabylonischen Legende von exakt einer solchen Landung
Jahwes begreift, der zusammen mit anderen Göttern
»hernieder(fuhr), daß er sähe die Stadt und den Turm«, um
alsdann Kihre Sprache daselbst (zu) verwirren, daß keiner des
9
Zu meiner Übersetzung von teuren und möglichen Alternativen vgl. das
Glossar in: James B. Nies, Ur Dynasty Tablets, Leipzig: Hinrichs 1920, S.
171.
- 323-
andern Sprache verstehe«. Letzteres könnte das narrativierte
Echo des Wirrwarrs von halluzinierten Stimmen sein, der das
Niedergangsstadium der Bikameralität kennzeichnet.
Der griechische Geschichtsschreiber Herodot in seiner
unersättlichen Neugier erklomm im fünften Jahrhundert v. Chr.
die steilen Treppen und gewundenen Rampen von Etemenanki,
um herauszufinden, ob sich ganz oben irgendwelche
Götterbilder befänden: dem leeren Thron auf dem Altarbild des
Tukulti-Ninurta vergleichbar, war da nichts als ein leeres
Ruhebett. 10
WEISSAGUNG
Bisher haben wir uns ausschließlich nach Belegen für den
Zusammenbruch der bikameralen Psyche umgesehen. Das
beigebrachte Material ist von gewichtiger Aussagekraft, wie ich
meine. Das Fehlen von Göttern auf Reliefs und Rollsiegeln, die
Klagen um verlorene Götter, die aus den stummen
Keilschriftzeichen dringen, die Hinwendung zum Gebet, das
Auftreten eines neuen Typs von stummen Gottheiten – von
Engeln und Dämonen –, die neue Vorstellung vom Himmel: das
alles deutet mit Nachdruck darauf hin, daß die halluzinierten
Stimmen, alias Götter, nicht mehr da sind, um die Menschen zu
führen und zu geleiten.
Aber was übernimmt jetzt ihre Funktion? Was wirkt als
handlungsauslösendes Moment? Wenn Stimmhalluzinationen
sich der davongaloppierenden Komplexität der Verhaltenswelt
nicht mehr gewachsen zeigen, auf welchem Wege werden dann
Entscheidungen gefunden?
Die umfassendste Lösung, die Lösung von weltverändernder
Bedeutung erfuhr dieses Dilemma bekanntlich mit dem
10
Historien I, 18 1. Eine weitere Szene mit einem leeren Thron zeigt Stele
Nr. 91027 im Britischen Museum (mit Esarhaddon in einer Haltung, die der
des Tukulti-Ninurta ähnelt).
- 324-
subjektiven Bewußtsein, das heißt mit der in Sprachmetaphern
gründenden Entwicklung eines Operationsraums, in dem ein
»Ich«
Handlungsalternativen
mit
ihren
jeweiligen
Konsequenzen narrativ zu entfalten vermag. Daneben gibt es
eine primitivere Lösung, die dem Bewußtsein nicht nur zeitlich
vorangeht, sondern es durch seine gesamte Geschichte auf
paralleler Spur begleitet: es ist dies jener Verhaltenskomplex,
den wir unter der Bezeichnung Mantik (Weissagung,
Wahrsagerei, Sehertum, Divination und dergleichen) kennen.
Diese Bestrebungen, die Rede der nunmehr schweigenden
Götter zu ermitteln, bringen es in der praktischen Ausformung
zu erstaunlicher Vielfalt und Komplexität. Ich meine jedoch,
daß man diese vielfältigen Formen am besten versteht, wenn
man
sie
in
vier
Hauptklassen
einteilt,
deren
Unterscheidungsmerkmale in den historischen Anfängen ihrer
Elemente bestehen sowie darin, daß man diese Klassen als
aufeinanderfolgende Schritte in Richtung auf das. Bewußtsein
betrachten kann. Die vier Klassen sind: Omina, Losorakel,
Augurienschau und spontane Divination.
Omina und Omentexte
Die primitivste, plumpste, aber auch beständigste Methode,
den Willen der schweigenden Götter zu entdecken, besteht in
der schlichten Aufzeichnung ungewöhnlicher oder bedeutsamer
Ereignisfolgen. Im Gegensatz zu allen anderen Klassen der
Weissagung handelt es sich hier um eine rein passive
Vorgehensweise. Sie besteht einfach nur in der Ausweitung
einer den Nervensystemen aller Säuger gemeinsamen Kapazität:
wenn ein Organismus zuerst A und daraufhin B erlebt, bildet er
im Ansatz die Tendenz aus, sich auf B einzustellen, sobald er
wieder A erlebt. Da Omina im Grunde nichts weiter sind als ein
Einzelfall dieses Zusammenhangsschemas in sprachlicher
Abbildung, kann man sagen, daß die Omenbetrachtung sich
nicht so sehr von einem spezifischen Faktum der zivilisierten
- 325-
Kultur, sondern vielmehr von Gegebenheiten der animalischen
Natur herleitet.
Omina – das heißt Aufeinanderfolgeverhältnisse zwischen je
zwei Erscheinungen, mit deren Wiederauftreten in derselben
Form zu rechnen war – kannte man als Beiläufigkeiten wohl
schon während der gesamten bikameralen Epoche. Doch wurde
ihnen kaum Bedeutung beigemessen. Es bestand ja auch
keinerlei
Nötigung,
derlei
Ereignisfolgen
besondere
Aufmerksamkeit
zuzuwenden,
da
die
halluzinierten
Götterstimmen in allen ungewohnten Situationen die
erforderlichen Entscheidungen trafen. So gibt es beispielsweise
überhaupt keine sumerischen Omentexte. Zwar finden sich die
ersten Spuren der Omenbetrachtung schon bei den semitischen
Akkadern, doch zur inneren und äußeren Wucherung derartiger
Omentexte, die schließlich überall verbreitet sind und jeden nur
vorstellbaren Lebensaspekt erfassen, kommt es genaugenommen
erst gegen Ende des zweiten Jahrtausends v. Chr. mit dem
Absterben der bikameralen Psyche. Im ersten Jahrtausend v.
Chr. entstehen riesige Sammlungen von solchen Texten. In der
von König Aššurbanipal um 650 v. Chr. zu Ninive angelegten
Bibliothek fallen mindestens 30 Prozent der zwanzig- bis
dreißigtausend Tontafeln, die sie umfaßte, unter die Kategorie
der Omenliteratur. Jede Texteinheit dieser ermüdenden
Sammlungen irrationaler Logik besteht aus einem Bedingungsund einem Folgesatz (Protasis und Apodosis) nach dem »Wenn
..., dann ...«-Schema. Es gab viele verschiedene Arten von
Omina; so beschäftigten sich etwa die terrestrischen Omina mit
Alltagsangelegenheiten:
Wenn eine Stadt auf einer Anhöhe liegt, so bringt dies den
Bewohnern die ser Stadt nichts Gutes.
Wenn auf neuerrichteten Fundamenten schwarze Ameisen zu
sehen sind, dann wird das betreffende Haus fertiggestellt
werden; der Besitzer dieses Hauses wird ein hohes Alter
erreichen.
- 326-
Wenn ein Pferd in eine menschliche Behausung eindringt und
dort einen Esel oder einen Menschen beißt, dann wird der
Besitzer des Hauses sterben und sein Anhang zerstreut werden.
Wenn ein Fuchs auf einen öffentlichen Platz läuft, dann wird
die betreffende Stadt verwüstet werden.
Wenn ein Mann unabsichtlich auf eine Eidechse tritt und sie
tötet, dann wird er über seinen Gegner obsiegen. 11
Und so endlos weiter über all jene Aspekte des Lebens, die in
der unmittelbar vorausgegangenen Epoche durch göttlichen
Ratschluß geregelt worden wären. Man kann diese Omina als
ersten Schritt in Richtung Narrativierung betrachten, insofern sie
mittels simpler Sprachformeln das gleiche Ziel anstreben wie
das Bewußtsein mit seiner komplexeren Verfahrensweise. In
den seltensten Fällen läßt sich irgendein logischer
Zusammenhang zw ischen dem ominösen und dem
vorausgesagten Sachverhalt erkennen; häufig besteht die
Verbindung in bloßen Klang- oder Bildassoziationen.
Es gab Geburtsomina, die sich mit ungewöhnlichen Vorfällen
und Erscheinungen während Schwangerschaft und Geburt bei
Mensch und Tier, vor allem mit Mißgeburten aller Art,
beschäftigten. 12 Die medizinische Wissenschaft gründet de facto
in den medizinischen Omina, einer Folge von Texten, die
anheben mit den Worten: »Wenn der Seher das Haus eines
Kranken betritt ...«, um dann mit mehr oder weniger sinnvollen,
aus den verschiedenen Symptomen abgeleiteten Prognosen
fortzufahren. 13
Daneben
existieren
physiognomischdiagnostische Omina, die sich auf Gesichts- oder
Körpermerkmale einer ratsuchenden oder zufällig begegnenden
11
Die zitierten Beispiele sämtlich aus: Saggs, a. a. O. (vgl. Fußnote auf Seite
221), S. 308f.
12
Erle Leichty, Teratological Omens, La divination en Mesopotamie
ancienne et dans les regions voisines, S. 131-139.
13
J.V. Kinnier Wilson, Two Medical Texts from Nimrud, Iraq 18/1956, S.
130-146.
- 327-
Person stützen; in ihnen besitzen wir, nebenbei gesagt, die
zuverlässigsten Informationen über das Aussehen der Menschen
jener Zeit. 14 Weiterhin sind da die Omina auf kalendarischem
Gebiet: die Menologien (Monatswählerei), die Aufschluß
gewähren darüber, welche Monate des Jahrs für ein bestimmtes
Unternehmen günstig oder ungünstig sind, und die
Hemerologien (Tagewählerei), die das gleiche für die einzelnen
Tage eines jeden Monats tun. Ferner Omina, in denen wir die
Anfänge der Meteorologie und der Astronomie erblicken dürfen:
Eine ganze Serie von Tontafeln widmet sich Beobachtungen an
Sonne, Mond, Planeten und Sternen, liest Vorbedeutungen aus
Zeiten
und
Umständen
ihres
Verschwindens,
aus
Verfinsterungen, aus Höfen und Ringen; ominös sind seltsame
Wolkenbildungen, Donne r und Regen sind Mitteilungen der
Götter, Hagel und Erdbeben geben Auskunft über Krieg und
Frieden, Ernten und Überflutungen; und ominös sind die
Bewegungen der Planeten, insbesondere der Venus, im
Verhältnis zu den Fixsternen. Bis zum fünften Jahrhundert v.
Chr. hatte diese Beobachtung der Gestirne zu dem Zweck, den
Willen der stummen Götter, die jetzt bei ihnen wohnten, zu
erkunden, sich zu der uns vertrauten Horoskopstellung
gemausert: Der Stand der Gestirne bei der Geburt eines Kindes
verriet dessen künftiges Schicksal wie auch den Charakter, den
es annehmen würde. Auch die Geschichtsschreibung nimmt,
sei’s auch in nebelhafter Form, ihren Ausgang von den
Omentexten, denn es ist nicht unwahrscheinlich, daß einige der
ältesten Texte – als höchst eigenwillige und spezifisch
mesopotamische Form der Historiographie – eine schwache
Erinnerung
an
irgendwelche
historischen
Ereignisse
aufbewahren. 15 Wie ein der Mutter beraubtes Kind muß die ihrer
14
J. V. Kinnier Wilson, The Nimrud Catalog of Medical and Physiognomical
Omina, Iraq 24/1962, S. 52-62.
15
Vgl. J. J. Finkelstein, Mesopotamian Historiography, Proceedings of the
American Philosophical Society, Jg. 1963, S. 461-472.
- 328-
Götter beraubte Menschheit sich in Furcht und Zittern an die
Erkundung ihrer Welt machen.
Traumomina wurden (wie sie es heute noch sind) zu einem
Hauptzweig der Wahrsagekunst. 16 Besonders während der
spätassyrischen Periode im ersten Jahrtausend v. Chr. wurden
sie gesammelt und in Traumbüchern wie dem »Ziqiqu«
vereinigt; zwischen dem Traumgeschehen und seiner
Vorbedeutung tritt schon ein gewisses Assoziationsprinzip in
Erscheinung, so zum Beispiel, wenn der geträumte Verlust eines
Rollsiegels als Vorausdeutung auf den Tod eines Sohnes gilt.
Tragweite und Entscheidungskraft vo n Omina jeglicher Art sind
jedoch prinzipiell eingeschränkt. Stets bleibt das Eintreten des
ominösen Ereignisses abzuwarten. Ungewohnte Situationen
pflegen indes mit ihrem Kommen nicht zu warten.
Los-Orakel
Das Los-Orakel (Sortilegium) unterscheidet sich in wichtiger
Hinsicht von der Omenbetrachtung, insofern es ein aktives
Verfahren darstellt, eine Antwort der Götter auf eine
spezifische, durch eine ungewohnte Sachlage bedingte Frage zu
provozieren. Man übte es aus, indem man mit Kerben, Löchern
oder sons twie markierte Stäbchen, Knochen oder Bohnen auf
die Erde warf oder aus einer Urne mit mehreren solcher Lose
eines herauszog oder indem man die Lose im Schoß der
gerafften Tunika so lange schüttelte, bis eines heraussprang.
Manchmal ging es bei der erwarteten Antwort um Ja oder Nein,
bei anderen Gelegenheiten war eine Wahl zu treffen unter
mehreren Männern, Grundstücken oder Handlungsoptionen. Die
Einfachheit des Verfahrens – die sich in unseren Augen sogar
wie Unbedarftheit ausnehmen mag- sollte uns nicht blind
16
Vgl. A. Leo Oppenheim, Mantic Dreams in the Ancient Near East, The
Dream and Human Societies, hg. von G. E. von Grunbaum u. Roger Caillois,
Berkeley: University of California Press 1966, S. 341-350.
- 329-
machen gegenüber der wichtigen psychologischen Dimension,
die es besitzt, noch gegenüber seiner ebenfalls nicht
unerheblichen historischen Bedeutung. Die Existenz einer
riesigen Vielfalt von Glücksspielen – Würfeln, Roulette und
dergleichen –, die allesamt Nachfahren der antiken Praxis des
Los-Orakels sind, ist für uns eine solche Selbstverständlichkeit,
daß es uns schwerfällt, den historischen Stellenwert dieser
Praxis richtig einzuschätzen. Eine gewisse Verständnishilfe
schafft man sich, wenn man sich klarmacht, daß es für das
menschliche Denken bis in die allerjüngste Zeit hinein keinerlei
Zufall (Undeterminiertheit) gab. Daher war die Entdeckung (wir
finden es vielleicht schon seltsam, daß es sich hierbei um eine
Entdeckung handeln soll!), daß man eine Zweifelsfrage
entscheiden konnte, indem man Stäbe oder Bohnen auf den
Boden warf, von höchst gravierender Bedeutung für die Zukunft
der Menschheit. Denn da es keinen Zufall gab, mußte das
Resultat von den Göttern bewirkt sein, deren Absichten auf
diese Weise offenbart wurden.
Was die psychologische Dimension des Los-Orakels angeht,
möchte ich die Aufmerksamkeit des Lesers auf zwei
bemerkenswerte Punkte lenken. Zum einen: Diese Praxis ist eine
kulturelle Hervorbringung mit dem sehr spezifischen Zweck, die
rechtshemisphärische Funktion wahrzunehmen in einer Lage,
wo diese Funktion infolge des Zusammenbruchs der
bikameralen Psyche nicht mehr so umstandslos zuhanden ist wie
zu der Zeit, als sie sprachlich kodiert wurde in den Stimmen der
Götter. Aus Laboruntersuchungen wissen wir, daß Raum- und
Gestaltinformationen vorrangig in der rechten Hirnhemisphäre
verarbeitet werden. Die rechte Hemisphäre zeigt sich
geschickter, wenn es darum geht, Teile zu einem Ganzen
zusammenzufügen, wie beispielsweise im Kohsschen WürfelTest; sie nimmt Lage und Zahl von Punkten, die ein Bildmuster
ergeben, leichter wahr und ebenso Klangmuster, zum Beispiel
- 330-
eine Melodie. 17 Das Problem nun, das mit Hilfe des Los-Orakels
gelöst werden soll, ist ungefähr von gleicher Art: Es geht darum,
eine Ordnung in die Teile eines Ganzen zu bringen, etwa um die
Frage, welche Person welche Handlung ausführen oder welches
Stück Land welcher Person zugeteilt werden soll. Ursprünglich,
so meine ich, wurden derartige Entscheidungen in einfacher
strukturierten Gesellschaften ohne weitere Umstände von den
halluzinierten Stimmen, alias Göttern, getroffen, die ja primär
eine Angelegenheit der rechten Hemisphäre waren. Und als –
wahrscheinlich aufgrund der zunehmenden Kompliziertheit
derartiger Entscheidungen – die Götter diese Funktion nicht
mehr auszuüben vermochten, war dies die geschichtliche Stunde
des
Los-Orakels,
das
nunmehr
ersatzweise
die
rechtshemisphärische Funktion wahrnahm.
Der zweite aus psychologischer Sicht bemerkenswerte
Sachverhalt liegt darin, daß die Operation des Losewerfens
genau wie das Bewußtsein selbst auf der Metaphorik aufbaut. In
der im Zweiten Kapitel des Ersten Buches entwickelten
Terminologie läßt sich das so beschreiben: Der
unausgesprochene Wille der Götter bildet den Metaphoranden,
der lexikalisch erweitert werden soll; der Metaphorator besteht
in dem verwendeten Lospaar beziehungsweise dem Bündel oder
der Menge von Losen, gleichviel, ob Stäbchen, Bohnen oder
Steine.
Paraphoratoren
sind
die
unterschiedlichen
Kennzeichnungen der einzelnen Lose oder aufgeschriebene
Wörter: Sie spiegeln zurück in den Metaphoranden, wo sie als
Befehl des jeweils angerufenen Gottes entziffert werden. Der
wichtige Punkt, den es hier zu begreifen gilt, ist der, daß ein
induziertes Orakel wie das Losewerfen mit der gleichen Art von
Generierungsprozessen arbeitet, die auch das Bewußtsein
konstituieren, nur daß diese Prozesse beim Los-Orakel
17
D. Kimura, Functional Asymmetry of the Brain in Dichotic Learning,
Cortex 3 / 2967, S. 163. – Quarterly Journal of Experimental Psychology 23 /
1971, S. 46.
- 331-
außerpsychisch – nichtsubjektiv – ablaufen.
Wie schon im Fall der Omentexte reichen die Wurzeln des
Los-Orakels zurück bis ins bikamerale Zeitalter. Nach
derzeitigem Kenntnisstand ist die Praxis des Losewerfens
erstmals auf Gesetzestafeln erwähnt, die um die Mitte des
zweiten Jahrtausends v. Chr. datieren; doch erst gegen Ende
dieses Jahrtausends wird sie zur Entscheidungsfindung in
wichtigen Fragen allgemein gebräuchlich – so etwa, wenn es um
die Aufteilung von Ländereien unter den Söhnen einer Familie
geht (etwa in Susa) oder um die Höhe der Beteiligung einzelner
Tempelbeamter an den Einkünften des Tempels oder um die
Festsetzung einer für bestimmte Anlässe erforderlichen
Rangfolge unter Personen von gleichem Status. Das
Losverfahren wird nicht mit Rücksicht auf seine praktische
Zweckmäßigkeit benutzt, wie das bei uns der Fall ist, sondern
weil es die Befehle eines Gottes offenbar macht. Um 833 v. Chr.
pflegte man jedes neue Jahr nach einem anderen hohen
Würdenträger zu benennen. Der solchermaßen geehrte
Würdenträger wurde jeweils mit Hilfe eines Tonwürfels
bestimmt, auf dessen Seiten die Namen verschiedener
Kandidaten aufgeschrieben waren, dazu Gebete an Aššur: jedes
einzelne davon eine Bitte, doch diese bestimmte Seite nach oben
kommen zu lassen. 18 Obgleich zahlreiche akkadische Texte aus
dieser Zeit eine Reihe verschiedenartiger Losprozeduren
erwähnen, ist schwer zu sagen, welchen Grad der Allgemeinheit
das Los-Orakel als Entscheidungsfindungsverfahren bei den
Assyrern erreicht hatte und ob es auch im gewöhnlichen Volk
zur Regelung trivialerer Angelegenheiten herangezogen wurde.
Wir wissen, daß es bei den Hethitern zur allgemein geübten
Praxis wurde, und sein Vorkommen im Alten Testament gehört
mit zu den Themen eines späteren Kapitels.
18
Eine Illustration dazu in: Hallo & Simpson, a. a. O. (vgl. Fußnote auf Seite
229), S. 150; vgl. auch Oppenheim (Fußnote auf Seite 292), S. 100.
- 332-
Augurienschau
Den dritten, dem Bewußtsein strukturell noch näher stehenden
Typus der Mantik möchte ich als qualitative Augurienschau
bezeichnen. Das Los-Orakel ist ein ordnendes Verfahren: Es
bringt eine Ordnung nach Priorität in eine Menge gegebener
Möglichkeiten. Die zahlreichen Methoden der qualitativen
Augurienschau dagegen dienen dazu, ein sehr viel höheres Maß
an Information aus den schweigsamen Göttern herauszulocken.
Der Unterschied ist der gleiche wie zwischen einem Digital- und
einem Analogcomputer. Das älteste Verfahren – in drei
Keilschrifttexten beschrieben, die etwa von der Mitte des
zweiten Jahrtausends v. Chr. stammen bestand darin, daß Öl in
eine im Schoß gehaltene Schale Wasser gegossen wurde: die
Bewegungen des Öls im Verhältnis zur Wasseroberfläche oder
zum Rand der Schale gaben Auskunft über die Absichten des
Gottes in bezug auf Frieden und Wohlstand, Gesundheit und
Krankheit. In diesem Fall ist der Metaphorand die Absicht oder
sogar das Handeln eines Gottes, nicht lediglich seine Worte wie
beim Los-Orakel. Metaphorator ist die Regsamkeit des Öls auf
der Wasseroberfläche, der die Regungen und Befehle der Götter
entsprechen. Paraphoratoren sind die spezifischen Formen und
Abstände der Öllache, und deren Paraphoranden sind die
Umrisse göttlicher Entscheidungen und Handlungen.
Die Augurienschau war in Mesopotamien stets eine
Angelegenheit kultischen Ranges. Ihre Ausübung oblag einem
besonderen Priester, dem baru; sie war in Ritualformen
eingekleidet und wurde eingeleitet von einem Bittgebet an den
Gott, er möge seine Absicht im Öl (oder welchem Medium auch
immer) offenbaren. 19 Um die Wende vom zweiten zum ersten
Jahrtausend v. Chr. blühen die Methoden und Techniken des
baru zu einer erstaunlichen Vielfalt von Metaphoratoren für die
19
Vgl. Oppenheim (Fußnote auf Seite 292), S. 208 u. 212.
- 333-
göttlichen Absichten auf: Über das Öl hinaus beschaut der Seher
jetzt die Bewegungen des Rauchs, der aus dem Weihrauchfaß in
seinem Schoß aufsteigt, 20 oder die Form des Wachses, das
flüssig in ein Wassergefäß getropft wurde, oder das Muster einer
willkürlich hingetupften Anzahl von Punkten oder die Formen
und Muster von Aschenresten und schließlich auch die
Eingeweide von Opfertieren.
Die Eingeweideschau entwickelt sich im Lauf des ersten
Jahrtausends v. Chr. zum wichtigsten Typus des induzierten
Analog-Orakels. Die Idee des Opfers als solche hat, wie wir
bereits sahen (siehe Seite 233), ihre Wurzeln in der Praxis, die
halluzinogenen Idole mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Mit
dem Zusammenbruch der bikameralen Psyche büßten die Idole
ihre halluzinogene Eigenschaft ein und wurden zu bloßen
Götterbildern, doch die Darreichungszeremonien, die nunmehr
auf die abwesenden Götter zielten, überlebten in den
verschiedenen Kulten als Opferhandlungen. Es ist daher nicht zu
verwundern, daß Tiere an die Stelle von Öl, Wachs, Rauch und
anderen Dingen als die bedeutendsten Medien der
Kommunikation mit den Göttern traten.
Die Eingeweideschau unterscheidet sich insofern von anderen
Methoden der Augurienschau, als der Metaphorand bei ihr
ausdrücklich nicht die Rede oder die Handlungen von Göttern
sind, sondern deren Schrift. Vor der Tötung des Opfertieres
betete der baru zu den Göttern Damas und Adad, daß sie ihre
Botschaft auf dessen Eingeweide »schreiben« mögen, oder er
20
Da keine Erwähnungen von Öl-Orakeln auf jüngeren Keilschrifttafeln
existieren, scheint diese Praxis vergleichsweise (Fortsetzung nächste Seite)
früh außer Gebrauch gekommen zu sein. Dazu stimmt allerdings nicht ganz
die Stelle im Buch Genesis des Alten Testaments (44, 5), wo von Josephs
silbernem Becher die Rede ist, aus dem sein Besitzer »trinkt und damit er
weissagt"; der Zeitpunkt dafür ist auf ungefähr 60o v. Chr. zu veranschlagen.
Vgl. dazu unten, Fußnote auf Seite 359.
- 334-
flüsterte die Bitte dem Tier ins Ohr. 21 Hiernach untersuchte er
die Innereien in der durch Tradition festgelegten Reihenfolge –
Luftröhre, Lunge, Leber, Gallenblase, die Darmwindungen – auf
Abweichungen von der normalen Beschaffenheit, Form oder
Färbung. Jede Atrophie, -Hypertrophie, Lageveränderung,
besondere Zeichnung oder sonstige Abnormität, insbesondere
der Leber, war eine göttliche Botschaft, die in metaphorischer
Beziehung zum göttlichen Handeln stand. Die erhaltenen Texte
über Eingeweideschau übertreffen an Zahl und Umfang alle
anderen Arten von Wahrsageliteratur und sind noch längst nicht
gründlich genug untersucht. Von den ersten, ganz flüchtigen
Erwähnungen im zweiten Jahrtausend bis zu den umfangreichen
Textsammlungen der Seleukidenzeit um 250 v. Chr. liegt die
Geschichte der Eingeweideschau als eines Mediums
exopsychischen
Denkens
mitsamt
ihren
lokalen
Sonderentwicklungen als ein offenes Forschungsfeld da, wo es
zuallererst nur schlichtweg darauf ankäme, das vorhandene
Tafelmaterial einmal methodischgründlich zu erfassen und zu
klassifizieren. Besonders interessant ist, daß Zeichnungen und
Verfärbungen in der Spätphase der Entwicklung in einem
hermetischen Fachidiom beschrieben werden, das an die Praxis
der mittelalterlichen Alchimisten gemahnt. 22 Eingeweidepartien
von Opfertieren tragen da Namen wie »das Palasttor«, »der
Pfad«, »das Joch« oder »der Damm«, und indem sie die
betreffenden Örtlichkeiten und Dinge zugleich symbolisch
repräsentieren, schaffen sie ein metaphorisches Universum, aus
dem sich die gebotene Handlungsweise herauslesen läßt. Auf
einigen Tontafeln aus der Spätphase sind sogar Diagramme von
Darmwindungen zusammen mit Bedeutungserklärungen zu
21
Vgl. J. Nougayoral, Pres2ges medicaux de I’haruspicine babylonienne,
Semitica 6/1956, S. 5-14.
22
Vgl. Mary I. Hussey, Anatomical Nomenclature in an Akkadian Omen
Text, Journal of Cuneiform Studies 2/1948, S.21-32; zitiert nach Oppenheim,
a.a.0. (vgl. Fußnote auf Seite 292), S. 216.
- 335-
finden. Auf einer Reihe von Ausgrabungsstätten hat man
zuweilen höchst kunstreich ausgeführte, zuweilen grob
gearbeitete Ton- oder Bronzemodelle von Lebern und Lungen
gefunden. Zum Teil wurden sie wahrscheinlich zu
Unterrichtszwecken benutzt. Da man jedoch manchmal die
Organe der geschlachteten Tiere dem König zum Beleg für die
korrekte Entzifferung der göttlichen Botschaft übersandte,
mögen solche Modelle auch als eine geruchsärmere Methode
der dokumentarischen Berichterstattung gedient haben. 23
Ich bitte den Leser, sich stets den metaphorischen Charakter
allen derartigen Tuns vor Augen zu halten: denn die realen
Funktionszusammenhänge hierbei sind – wiewohl auf anderer
Ebene – von ähnlicher Form wie die innerste Mechanik des
Bewußtseins. Daß Form und Gestalt der Leber oder irgendeines
anderen Organs den Metaphorator für Form und Gestalt eines
göttlichen Wollens abgeben, ist auf der Ebene äußerster
Simplizität das genaue Äquivalent zu dem, was wir im
Bewußtsein tun, wenn wir einen metaphorischen Raum kreieren,
der metaphorische Dinge und Aktionen »enthä lt«.
Spontanes Divinieren
Spontanes Divinieren unterscheidet sich von den bisher
behandelten Orakeltypen nur in dem einzigen Punkt, daß es
nicht an ein bestimmtes Medium gebunden ist. Es ist im Grunde
eine Generalisierung aller drei Typen. Wie in den anderen
Fällen sind göttliche Befehle, Absichten oder Ziele der
Metaphorand; dagegen kann als Metaphorator alles mögliche
dienen, das zufällig die Aufmerksamkeit des Sehers bindet und
sich in Beziehung zu seinem Anliegen setzen läßt. Der Ausgang
von Unternehmungen oder die Absichten eines Gottes werden
dergestalt aus jeder beliebigen Erscheinung herausgelesen, die
zufällig das Auge oder das Ohr des Sehers trifft.
23
Robert H. Pfeiffer, a. a. O. (vgl. Fußnote auf Seite 216), Brief Nr. 335.
- 336-
Der Leser kann das an sich selber ausprobieren. Denken Sie
mit gewissermaßen freischwebender Aufmerksamkeit an
irgendein Problem oder eine offene Frage. Dann blicken Sie
rasch aus dem Fenster oder an Ihrem augenblicklichen
Aufenthaltsort in die Runde: halten Sie das erste, worauf Ihr
Blick fällt, in Gedanken fest, und versuchen Sie jetzt, etwas
daraus »herauszulesen«, das Ihre Angelegenheit betrifft. Es kann
vorkommen, daß gar nichts passiert. Ebensogut jedoch kann es
auch sein, daß die Botschaft ganz einfach schlagartig in Ihrer
Vorstellung auftaucht. Ich habe den Versuch eben jetzt, während
des Schreib ens, ausgeführt und sehe beim Blick aus dem Fenster
nach Norden eine Fernsehantenne, die sich in der
hereinbrechenden Dämmerung vom Abendhimmel abhebt. Das
könnte ich mir in dem Sinne auslegen, daß ich viel zu spekulativ
verfahre, indem ich jeden schwachen Impuls aus der blauen Luft
aufgreife – eine unerquickliche Wahrheit, falls ich mich darauf
überhaupt einlassen will. Zum zweitenmal denke ich jetzt ohne
krampfhafte Konzentration an die Fragen und Probleme, die
mich beim Schreiben beschäftigen, und während ich dabei im
Zimmer auf und ab gehe, fällt mein Blick mit einemmal durch
eine offenstehende Tür auf den Fußboden des Nebenzimmers,
wo ein Assistent kurz zuvor eine Versuchsapparatur
zusammengebaut hat: Ich bemerke ein Kabel, an dessen Ende
mehrere Adern gespreizt auseinanderstehen. Das nehme ich als
Orakel dafür, daß mein Problem in diesem Kapitel darin besteht,
verschiedene Stränge und lose Enden des Faktenmaterials
miteinander zu verflechten. Dieses Spiel ist beliebig fortsetzbar.
Dieser Typus des Orakels ist mir noch in keinem
mesopotamischen Text begegnet. Trotzdem bin ich der festen
Überzeugung, daß er sich zu einem allgemein gebräuchlichen
Verfahren entwickelt haben muß, auch wenn ich mich dabei
einzig auf den Umstand stützen kann, daß spontanes Divinieren
– wie wir in einem späteren Kapitel noch genauer sehen werden
– im Alten Testament als allgemeines Brauchtum erscheint, das
- 337-
dort zudem eine höchst wichtige Rolle spielt. Und allgemeines
Brauchtum bleibt es bei vielerlei Sehern und Wahrsagern bis
weit ins Mittelalter. 24
Soweit also die vier Haupttypen der Orakeltechnik: Omina,
Los-Orakel, Augurienschau und spontanes Divinieren. Ich
möchte nochmals in Erinnerung rufen, daß sie sich als
exopsychische Methoden des Denkens und besonders der
Entscheidungsfindung begreifen lassen und daß die einzelnen
Typen ebenso viele aufeinanderfolgende Schritte zur
Bewußtseinsstruktur hin bedeuten. Der Umstand, daß alle vier
mit ihren Wurzeln bis weit in die bikamerale Epoche
zurückreichen, sollte nicht taub machen für die kräftige Sprache
des verallgemeinerten Befunds, daß sie erst nach dem zu
Anfang dieses Kapitels geschilderten Zusammenbruch der
bikameralen Psyche als Medien der Entscheidungsfindung
wichtig wurden.
DIE GRENZSCHEIDE DER SUBJEKTIVITÄT
Bisher hatten wir es in diesem heterogenen Kapitel mit dem
Zusammenbruch der bikameralen Psyche in Mesopotamien zu
tun sowie mit den Reaktionen auf diese Veränderung in der
menschlichen Mentalität: den Bemühungen, da sich keine
halluzinatorischen Stimmen mehr hören lassen, auf anderem
Weg herauszubekommen, was man tun soll. Daß zu diesen
Entscheidungsfindungsverfahren auch das Bewußtsein gehört
und daß dieses in der Geschichte unseres Planeten erstmals
nirgendwo anders als gegen Ende des zweiten Jahrtausends v.
Chr. in Mesopotamien aufgetreten ist, ist eine sehr viel
24
So z. B. war spontanes Divinieren um 1000 n. Chr. bei den Wahrsagern der
Beduinen im Schwang. Vgl. Alfred Guillaume, (Fortsetzung nächste Seite)
Prophecy and Divination among the Hebrews and Other Semites, New York:
Harper 1938, S. 127. Tatsächlich ist es ebensowohl Bestandteil alltäglicher
Denkprozesse wie auch von herausragender Bedeutung in der kreativen
geistigen Arbeit.
- 338-
schwieriger zu beweisende Behauptung. Die Gründe dafür
liegen hauptsächlich darin, daß wir nicht in der Lage sind,
Keilschrifttexte ebenso akkurat in unserer Sprache
wiederzugeben wie etwa Texte in Griechisch oder Hebräisch,
und deshalb hier noch nicht die Form der Analyse anwenden
können, an der ich mich im folgenden Kapitel versuchen werde.
Größte Schwierigkeiten setzen einer akkuraten Übersetzung
gerade diejenigen Wörter der Keilschrift entgegen, in denen wir
Elemente der metaphorischen Konstruktion des Bewußtseins
und seines »Innenraums« vermuten müssen. In diesem
Zusammenhang ist kategorisch festzustellen, daß eine wirklich
autoritative Untersuchung der Veränderungen, die sich im Lauf
jenes zweiten Jahrtausends v. Chr. in der mesopotamischen
Mentalität vollzogen haben, erst dann möglich sein wird, wenn
ein höheres Niveau von Kenntnissen über Keilschrift und
Keilschriftliteratur als das gegenwärtige die Voraussetzungen
dafür bietet. Eine solche Untersuchung würde unter anderem
Referentenverschiebungen
und
Wandlungen
der
Verwendungshäufigkeit bei Wörtern verfolgen müssen, die
späterhin »Bewußtseinsakte« bezeichnen. Eines dieser Wörter
ist beispielsweise Ša (in anderer Transliteration auch Šab oder
Šag geschrieben), ein akkadischer Ausdruck, dessen
Grundbedeutung »in« oder »drinnen« zu sein scheint. Dem
Namen einer Stadt vorangestellt, bedeutet er »in dieser Stadt«.
Dem Namen eines Menschen vorangestellt, bedeutet er »in
diesem Menschen« und ist in dieser Verwendung
möglicherweise ein frühes Beispiel für die Verinnerlichung von
Ereigniszuschreibungen.
Ich hoffe auf Nachsicht, wenn ich im Hinblick auf diese wie
so viele andere Fragen die etwas abgenützte Phrase bemühe, daß
ihre endgültige Klärung zukünftigen Forschunge n vorbehalten
bleiben muß. In so rascher Folge werden derzeit neue
Ruinenstätten entdeckt und neugefundene Texte übersetzt, daß
wir bereits nach Ablauf der nächsten zehn Jahre hier sehr viel
- 339-
klarer sehen werden, insbesondere wenn die Auswertung der
Daten aus der Perspektive des vorliegenden Kapitels erfolgt.
Das Äußerste, was ich an dieser Stelle zum gegebenen Zeitpunkt
zu leisten vermag, sind einige synoptische Vergleiche
literarischer Materialien, aus denen erhellt, daß ein derartiger.
psychologischer Wandel wie das Aufkommen des subjektiven
Bewußtseins tatsächlich stattgefunden hat. Für diese Synopse
ziehe ich Briefe, Gebäude-Inschriften und unterschiedliche
Überlieferungen der Gilgamesch-Geschichte heran.
Vergleich zwischen assyrischen und altbabylonischen Briefen
Einen ersten Vergleich, der den Wandel von der Bikameralität
zur Subjektivität verdeutlichen soll, ziehe ich zwischen
Keilschriftbriefen auf Tontafeln aus dem Assyrien des siebten
Jahrhunderts v. Chr. und den um tausend Jahre älteren Briefen
der altbabylonischen Könige. Die Briefe Hammurabis und
seiner Zeit sind tatsachenorientiert, konkret, behavioristisch,
formelhaft, befehlshaberisch und grußlos. Ihr Adressat ist nicht
der Empfänger, sondern genau betrachtet die Tontafel als
solche, denn stets werden sie von der Formel eingeleitet: Zu A
sprich: so spricht B. Und darauf folgt dann, was der B dem A zu
sagen hat. Wir sollten uns hierzu ins Gedächtnis zurückrufen,
was ich andernorts über die Anfänge des Lesens ausgeführt
habe, nämlich daß Lesen – als Fortentwicklung des
Halluzinierens anhand von Idolen und späterhin Piktogrammen
– in der spätbikameralen Epoche noch ein Hören der Keilschrift
war. Das erklärt diese Eingangsformel der Tontafeln.
In den altbabylonischen Briefen geht es stets um
Sachzus ammenhänge. Die Briefe Hammurabis zum Beispiel
(möglicherweise sämtlich von Hammurabi selbst geschrieben,
denn die Strichführung verrät in allen ein und dieselbe
Schreiberhand) weisen einen Vasallenkönig oder einen
Amtsträger in seinem Hegemonialreich an, diese oder jene
Person zum König zu schicken, soundsoviel Bauholz nach
- 340-
Babylon zu expedieren, wobei in einem Fall noch genauer
verfügt wird: »nur kräftige Stämme sind zu fällen«, oder sie
setzen die Tauschquote zwischen Getreide und Vieh fest oder
ordern Arbeitskräfte nach irgendwohin ab. Ein Grund wird
selten angegeben. Ein Zweck nie.
Zu Sinidinnam sprich: so spricht Hammurabi. Ich schrieb dir
und hieß dich, den Enubi-Marduk zu mir zu schicken. Warum
hast du ihn also nicht geschickt? Wenn du diese Tafel siehst,
schicke den Enubi-Marduk vor mich. Sorge dafür, daß er Tag
und Nacht unterwegs ist, damit er eilends eintrifft. 25
Und über diesen Komplexitätsgrad im »Denken« und den
Beziehungen gehen die Briefe selten hinaus.
Interessanter ist ein Brief, in dem befo hlen wird, mehrere
erbeutete Idole nach Babylon zu bringen:
Zu Sinidinnam sprich: so spricht Hammurabi. Ich schicke nun
den Amtmann Zikirilisu und den Dugab-Amtmann
Hammurabibani, die Göttinnen von Emutbalum zu holen. Laß
die Göttinnen in einer Prozessionsbarke wie in einem Heiligtum
nach Babylon reisen. Und das Tempelweib soll ihnen folgen.
Zur Ernährung der Göttinnen wirst du Schafe bereitstellen (...).
Sorge dafür, daß sie ohne Aufenthalt eilends in Babylon
eintreffen. 26
Der Brief ist interessant, weil er sowohl den Alltagscharakter
der Gott-Mensch-Beziehung in Altbabylonien aufzeigt als auch
die Erwartung bezeugt, die Götter würden auf ihrer Reise etwas
zu sich nehmen wollen.
Wechseln wir jetzt von den Briefen Hammurabis über zu den
assyrischen Staatsbrie fen des siebten Jahrhunderts v. Chr., so
lassen wir das gedankenlose Einerlei von Direktiven, die
keinerlei Ungehorsam dulden, hinter uns und betreten eine Welt
25
Umschrift und fJbersetzung in: L. W. King, Letters and Inscriptions of
Hammurabi, London: Luzac 1900, Bd. 3, Brief Nr. 46, S. 94 f.
26
Ebd., Brief Nr. 2, S. 6 f.
- 341-
reich an Abwechslungen, Empfindlichkeiten, Ängsten, Habgier,
Widerborstigkeit und Bewußtheit – eine Welt, die sich nicht gar
sehr von der unseren unterscheidet. Diese Briefe sind an
Menschen, nicht an Tontafeln gerichtet und ließen sich wohl
nicht mehr von selbst hören, sondern mußten laut vorgelesen
werden. Die angesprochenen Themen sind im Lauf vo n tausend
Jahren zu einem weit umfänglicheren Katalog menschlicher
Tätigkeiten angewachsen. Zugleich aber auch sind sie
eingebettet in ein Gespinst von Verstellung und Mißtrauen; von
polizeilichen Ermittlungen ist die Rede, von Nachlässigkeiten
bei den Kultriten, paranoische Ängste machen sich bemerkbar,
Bestechungsvorwürfe werden erhoben, über Gnadengesuche
eingekerkerter Amtsleute wird befunden – alles Dinge, die in
der Welt des Hammurabi ebenso unbekannt wie unmöglich
waren. Sogar Sarkasmus zeigt sich, so etwa in dem Brief eines
assyrischen Herrschers an seine ungebärdigen »babylonisierten«
Statthalter im eroberten Babylonien aus der Zeit um 670 v. Chr.:
Botschaft des Königs an die Pseudo-Babylonier. Ich bin
wohlauf. (...) Ihr habt euch also – der Himmel helfe euch – in
Babylonier verwandelt! Und fort und fort erhebt ihr gegen
meine Diener Anschuldigungen – falsche Anschuldigungen –,
die ihr euch zusammen mit eurem Meister ausgekocht habt. (...)
Das Dokument, das ihr mir geschickt habt (nichts als
zudringliches hohles Geschwätz!), sende ich euch
neueingesiegelt wieder zurück. Jetzt werdet ihr natürlich sagen:
»Was sendet er uns da zurück?« Von den Babyloniern schreiben
mir meine Diener und Freunde: Wenn ich das Siegel erbreche
und lese, o welche Wohlgeratenheit der Heiligtümer,
Sündenvögel ... 27
Der Rest der Tafel ist zerstört.
Ein weiterer aufschlußreicher Unterschied liegt in dem Bild
der assyrischen Könige, das diese Briefe zeichnen. Die
27
Pfeiffer, a. a. O. (vgl. Fußnote auf Seite 216), Brief Nr. 80.
- 342-
babylonischen Könige vom Beginn des zweiten Jahrtausends v.
Chr. waren selbstsicher und furchtlos und brauchten sich wohl
auch nicht allzu militaristisch zu gebärden. Die grausamen
assyrischen Herrscher dagegen, deren Paläste betont viril mit
Darstellungen athletischer Löwenjagden und Handgemenge mit
reißenden Bestien ausge ziert sind, zeigen sich in ihren Briefen
als entschlußlose, geängstigte Kreaturen, die ihren Astrologen
und Orakelpriestern in den Ohren liegen, daß sie doch ja mit den
Göttern Kontakt aufnähmen, um dem Tyrannen dann sagen zu
können, was er tun solle und wann er es tun solle. Diese Könige
bekommen von ihren Orakelpriestern zu hören, daß sie Bettler
sind oder daß sie mit ihrer Sündhaftigkeit die Götter erzürnen;
man sagt ihnen, wie sie sich zu kleiden und was sie zu essen
oder auch bis auf weiteres nicht zu essen haben:28 »Es geht
etwas vor am Himmel, ist es Ihnen aufgefallen? Was mich
betrifft, so beobachte ich unverwandt. Ich sage: ›Welche
Erscheinung habe ich versehentlich nicht bemerkt oder
versehentlich dem König nicht berichtet? Habe ich etwas
übersehen, was ihm nicht zum Los fällt?‹ (...) Was die
Sonnenfinsternis betrifft, von welcher der König sprach, so hat
sie nicht stattgefunden. Am 27. werde ich wieder beschauen und
einen Bericht einsenden. Von wem befürchtet mein Herr und
König Mißgeschick? Ich habe keinerlei Anhaltspunkt.« 29
Beweist der Vergleich dieser – durch eine Kluft von tausend
Jahren voneinander getrennten – Briefe jene Veränderung der
Mentalität, die Gegenstand dieses Buches ist? Zweifellos könnte
man eine lange Diskussion an diese Frage knüpfen. Und
Forschungen dazu: Inhaltsanalysen, Vergleiche von Syntax,
Gebrauch von Pronomina, Verwendung des Futurs, auch
Untersuchungen bestimmter Wörter, die in assyrischen Briefen,
aber nicht in altbabylonischen vorkommen und die auf
Subjektivität hinzudeuten scheinen. Aber so, wie unsere
28
29
Ebd., Nr. 265, 439, 553
Ebd., Nr. 315.
- 343-
Kenntnisse der Keilschrift derzeit beschaffen sind, ist eine
gründliche Analyse nicht möglich. Auch die Übersetzungen, die
ich hier benutzt habe, sind geglättet und syntaktisch aufgefüllt
und infolgedessen nicht ganz zuve rlässig. Nur ein
oberflächlicher Vergleich läßt sich also ziehen, mit klarem
Ergebnis, wie ich finde: die Briefe aus dem siebten Jahrhundert
v. Chr. ähneln unserem Bewußtsein weit mehr als die um
eintausend Jahre älteren des Hammurabi.
Die Spatialisierung der Zeit
Ein weiterer Vergleich schriftlicher Materialien läßt sich im
Hinblick auf das Zeitgefühl anstellen, wie es in GebäudeInschriften zutage tritt. Wie ich bereits erwähnte (Erstes Buch,
Zweites Kapitel), zählt zu den wesentlichen Eigenheiten des
Bewußtseins die Metapher der Zeit als Raum, der in Regionen
unterteilt werden kann, in denen Menschen und Ereignisse
angesiedelt werden; darin gründet der Sinn für Vergangenheit,
Gegenwart
und
Zukunft,
die
Voraussetzung
des
Narrativierungsvermögens.
Die Anfänge dieses Bewußtseinscharakteristikums lassen sich
mit zumindest einem Quentchen Sicherheit auf ungefähr 1300 v.
Chr. datieren. Im vorigen Kapitel haben wir gesehen, daß die
Entwicklung der Omina und Orakel dies als Schlußfolgerung
nahelegt. Präzisere Anhaltspunkte liefern in dieser Hinsicht
jedoch die Gebäude-Inschriften. Vor dem genannten Zeitpunkt
verkündete die typische Inschrift Namen und Titel des
königlichen Bauherrn, häufte reichlich Lobpreis auf dessen
speziellen Gott oder seine Götter, erwähnte knapp die
Zeitumstände des Baubeginns und ging dann noch auf die eine
oder andere Einzelheit der Bautätigkeit selber ein. Nach 1300 v.
Chr. wird nicht mehr nur das dem Baubeginn unmittelbar
vorausgehende
Ereignis
genannt,
sondern
eine
Zusammenfassung sämtlicher militärischer Glanzleistungen des
Königs bis zum fraglichen Zeitpunkt gegeben. Und in den
- 344-
darauffolgenden Jahrhunderten werden diese Angaben immer
systematischer katalogisiert nach jährlichen Feldzügen, bis sie
sich schließlich zu der ausgefeilten Annalistik entfalten, die das
nahezu universelle Kennzeichen der Aufzeichnungen
assyrischer Herrscher des ersten Jahrtausends v. Chr. ist. Über
das Herzählen kruder Fakten hinaus wächst diese Annalistik
sich aus zur Angabe von Motiven, Kritik von
Handlungsverläufen und Charakterzeichnung von Akteuren.
Und weiter bis zur Berücksichtigung politischen Wandels und
militärischer Strategien und zu historischen Anmerkungen über
bestimmte Regionen: All diese Einzelheiten, so behaupte ich,
sind ebenso viele Belege für die Erfindung des Bewußtseins.
Keine von ihnen ist in den älteren Inschriften anzutreffen.
Zugleich haben wir hier zweifellos auch die Erfindung der
Geschichte vor uns, die eben mit der Entwicklung dieser
königlichen Inschriften anhebt. 30 Wie seltsam zu denken, daß
die Idee der Geschichte erfunden werden mußte! Herodot, der
den Ruf genießt, der »Vater der Geschichte« zu sein, hatte,
bevor er seine »Historien« schrieb, im fünften Jahrhundert v.
Chr. Mesopotamien bereist und sich vielleicht dort aus jenen
assyrischen Quellen die Idee der Geschichte überhaupt erst
angeeignet. Was diese Spekulation für mich interessant macht,
ist der Gedanke, daß dem Bewußtsein auf seinem
Entwicklungsweg von Anfang an wie geringfügig auch immer
voneinander abweichende Routen offe nstehen: Wie interessant
wäre es, den Einfluß der Schriften Herodots auf die weitere
Entwicklung des griechischen Bewußtseins zu erforschen. Der
entscheidende Punkt ist an dieser Stelle jedoch, daß es keine
Geschichte gäbe ohne die Spatialisierung der Zeit, die zu den
Eigentümlichkeiten des Bewußtseins zählt.
Gilgamesch
30
Vgl. Saggs, a. a.0. (Fußnote auf Seite 221), S. 472 f.
- 345-
Und abschließend noch ein vergleichender Blick in den Text
dieses bekanntesten Beispiels der assyrischen Literatur. Das
eigentliche Gilgamesch-Epos ist enthalten auf zwölf
durchgezählten To ntafeln (daher auch als »Zwölftafel- Epos«
bezeichnet), die in Ninive in den Ruinen der Tempelbibliothek
des Gottes Nabu und der Palastbibliothek des Assyrerkönigs
Aššurbanipal gefunden wurden. Diese sogenannte akkadischninivetische Fassung wurde um 650 v. Chr. für den König aus
älteren Erzählungen angefertigt; ihr Held Gilgamesch ist zu
zwei Dritteln göttlichen Wesens und nur zu einem Drittel
Mensch, Sohn der Göttin Ninsun, die sein Vater Esarhaddon
verehrt hatte. Die Überlieferung um die Gestalt des Gilgamesch
reicht weit zurück in die mesopotamische Geschichte, und man
kennt noch viele Tontafeln, die in näherer oder fernerer
Beziehung zu der Zwölftafel-Serie stehen.
Unter jenen anderen Tafeln fallen drei auf, die offenkundig
älteren Datums als die ninivetischen sind und zu einigen von
diesen in inhaltlicher Parallele stehen. Über ihren Fundort und
archäologischen Kontext ist nichts bekannt: Sie wurden nicht
bei archäologischen Ausgrabungen gefunden, sondern von
privaten Käufern von einem Händler in Bagdad erworben. Mit
ihrer ursprünglichen Herkunft bleibt auch ihre Datierung
ungesichert. Aus inneren Gründen möchte ich sie in die gleiche
Zeit wie einige hethitische und hurritische Bruchstücke von
Gilgamesch- Erzählungen datieren, also ungefähr auf 1200 v.
Chr. Geläufiger ist jedoch die Datierung auf ungefähr 1700 v.
Chr. Doch gleichgültig, welches Datum das richtige ist: in
keinem Fall ist die von manchen Popularisierern des Epos zu
hörende Auffassung gerechtfertigt, die aus dem siebten
Jahrhundert v. Chr. bekannte Fassung der GilgameschGeschichte gehe unverändert auf die altbabylonische Epoche
zurück.
Was uns hier interessiert, sind die Abwandlungen des
Erzählgeschehens, die zwischen der Version auf den wenigen
- 346-
älteren Tafeln und der ninivetischen Fassung von 650 v. Chr.
vorgenommen wurden. Der interessanteste Vergleich ergibt sich
mit Tafel 10 als Ausgangspunkt. In der älteren Fassung (auf der
»Male-Tafel«, so genannt, weil sie sich im Besitz der
gleichnamigen Universität befindet) hält der göttliche
Gilgamesch in Trauer um seinen toten Freund Enkidu
Zwiesprache mit dem Gott Damas und späterhin mit der Göttin
Siduri. Letztere, die auch die göttliche »Schenkin« heißt, sagt
Gilgamesch, daß der Tod für den Menschen unausweichlich sei.
Diese Zwiegespräche sind nic htsubjektiv. In der jüngeren
ninivetischen Fassung dagegen ist der Dialog mit Damas gar
nicht mehr enthalten und die »Schenkin« mit sehr
menschlichirdischen Zügen ausgestattet: in Selbst-Bewußtheit
befangen, trägt sie sogar einen Schleier. Unserem subjektiven
Geist erscheint das als eine Vermenschlichung der Erzählung.
An einer Stelle der jüngeren ninivetischen Tafel sieht die
»Schenkin« Gilgamesch näherkommen. Der Text läßt sie den
Blick in die Ferne richten und gleichzeitig »zu ihrem eigenen
Herzen« – also unhörbar zu sich selber – sagen: »Dieser Mann
ist gewiß ein Mörder! Wohin führt sein Weg?« Dies ist
subjektives Denken. Nichts dergleichen ist auf der älteren Tafel
zu finden.
Mit großer Kunstfertigkeit (und ebenso großer Schönheit)
gestaltet die ninivetische Tafel in der Folge die subjektive
Traurigkeit aus, die Gilgamesch angesichts des Verlusts seines
Freundes »in seinem Herzen« empfindet. Einer der poetischen
Kunstgriffe besteht hier (wenn der von den Übersetzern
vorgenommenen Emendation einer zerstörten Stelle zu trauen
ist) in einer Folge rhetorischer Fragen, die ein Bild von
Gilgameschs äußerem Habitus geben, um dann zu fragen,
warum er dieses Aussehen trage und jenes Verhalten zeige, so
daß der Leser fortwährend angeregt wird, sich den »inneren
Raum« und das analoge »Ich« des Helden vorzustellen.
Warum ist dein Herz so traurig, und warum sind deine Züge
- 347-
so verzerrt? Warum ist da Weh in deinem Herzen?
Und warum ist dein Gesicht gleich dem Gesicht eines, der
eine weite Reise gemacht hat?
Von dieser an die biblischen Psalmen gemahnenden
Besorgnis findet sich auf der älteren Tafel keine Spur. Eine
andere Gestalt des Epos ist der göttliche Utnapischtim, »der
Ferne«, der in der älteren Fassung nur kurz erwähnt ist. In der
Version von 650 v. Chr. jedoch spricht er, während er in die
Ferne blickt, Worte zu seinem »Herzen«, legt ihm Fragen vor
und bildet sich so seine eigenen, privaten Ansichten.
Zusammenfassung
Das Material, das wir im vorigen untersuchten, ist teils von
starker, teils von schwacher Beweiskraft. Das literarische Thema
vom Verlust der Götter ist eine unbezweifelbare Neuerung in
der mesopotamischen Geschichte, die sich mit nichts
Vorausgegangenem vergleichen läßt. Es bezeichnet in der Tat
die Geburtsstunde der modernen Religiosität: Noch wir selber
vermögen uns in diesem psalmistischen Verlangen nach
religiöser Gewißheit wiederzuerkennen, das seit der Zeit des
Tukulti-Ninurta bis weit in das erste Jahrtausend v. Chr. die
akkadische Literatur durchzieht.
Das jähe Emporwuchern aller Arten von Orakel-Techniken
und deren enormer Einfluß auf das politische wie das private
Leben ist ebenfalls ein unumstößliches historisches Faktum.
Und wenngleich der Ursprung dieser Praktiken in früheren
Zeiten liegt – was sich vielleicht sogar so interpretieren ließe,
daß mit steigendem Komplexitätsgrad der Zivilisation gegen
Ende des dritten Jahrtausends v. Chr. schon die bikameralen
Götter irgendwelche Zusatzverfahren der Entscheidungsfindung
benötigten –, ist unübersehbar, daß diese Techniken erst nach
dem Untergang der Götter zu beherrschender Stellung und
universaler Geltung im zivilisatorischen Lebenszusammenhang
- 348-
gelangen.
Desgleichen steht außer Zweifel, daß die Gottnatur selbst zur
fraglichen Zeit einem Wandel unterlag und daß der Glaube, in
einer von feindseligen, Krankheit und Unheil bringenden
Dämonen überschatteten Welt zu leben, sich nur begreifen läßt
als Ausdruck der tiefgreifenden und irreversiblen Ungewißheit
im Anschluß an den Verlust der halluzinierten Entscheidungen
der bikameralen Psyche.
Die Schwachstelle in unserer Tour d’horizon bilden
ausgerechnet die direkten Zeugnisse für das Vorhandensein von
subjektiver Bewußtheit selbst. Es liegt etwas Unbefriedigendes
in meinem vergleichenden Hin und Her zwischen fragwürdigen
Übersetzungen von Keilschrifttafeln aus unterschiedlichen
Epochen. Was wir gern mit einem Blick überschaubar vor uns
hätten, ist eine zusammenhängende literarische Tradition,
innerhalb deren wir die Entfaltungsschritte des subjektiven
»Seelenraums« und seine operative Funktion sorgsamer
studieren können. Aber genau dies bietet sich einige
Jahrhunderte später in Griechenland, und im folgenden Kapitel
werden wir uns mit unserer Analyse in diese Richtung wenden.
- 349-
FÜNFTES KAPITEL
Das intellektuelle Bewußtsein der
Griechen
Man hat es die »Dorische Wanderung« getauft. Aber der
Name ist in Wahrheit Schall und Rauch, so erfährt man von den
Altertumsforschern, nicht weniger als jeder x-beliebige andere,
der genausogut an seine Stelle treten könnte: so tief ist in diesem
speziellen Fall das Dunkel der Vergangenheit. Immerhin
bringen Abhängigkeiten im Töpfereistil zwischen einzelnen
Fundstätten ein wenig Licht in diese unermeßliche,
schweigsame Nacht, und in solch flackernder Beleuchtung zeigt
sich unscharf der gewaltige Umriß eines komplizierten
Wellenmusters
von
Wanderungsbewegungen
und
Vertreibungen, das den Zeitraum von 1200 bis 1000 v. Chr.
überdeckt. 1 Soviel ist Tatsache.
Der Rest ist Vermutung. Unklar ist sogar, wer diese
sogenannten Dorer waren. In einem früheren Kapitel habe ich
die These zur Diskussion gestellt, daß dieses ganze Chaos von
dem Vulkanausbruch auf Thera und seinen Folgen eingeleitet
wurde. Es ist die Lage, die Thukydides, den Schlußstrich unter
eine orale Überlieferung ziehend, so beschreibt: »Wanderungen
waren ein häufiges Vorkommnis, denn unter dem Druck
zahlenmäßiger Überlegenheit gaben die einzelnen Stämme ihre
Heimat schnell verloren.« Paläste und Siedlungen, die einmal
dem Agamemnon und seinen Göttern Lehnstreue gehalten
hatten, wurden geplündert und niedergebrannt von fremden
Völkerschaften, die zwar ebenfalls bikameral organisiert waren,
jedoch ihren eigenen gebieterischen Visionen folgten, so daß sie
sich mit den Ureinwohnern weder verständigen konnten noch
1
V R. d’A. Desborough, The Last Mycenaeans and Their Successors: An
Atchaeological Survey, c. 1200c. 1000 B. C., Oxford: Clarendon Press 1964.
- 350-
Mitleid für sie empfanden. Überlebende wurden versklavt oder
ins Flüchtlingsdasein geworfen, und Flüchtlinge mußten
ihrerseits erobern oder untergehen. Was wir am gewissesten von
damals wissen, ist negativer Art: alles, was die mykenische Welt
in
so
erstaunlich
durchgängiger
Gleichförmigkeit
hervorgebracht hatte – die wuchtige Steinarchitektur ihrer
gottgeordneten Paläste und Befestigungswerke, ihre wogenden
Mauerfresken mit ihrer delikaten Klarheit, ihre Schachtgräber
mit ihren kunsthandwerklichen Beigaben, ihre Megaronhäuser,
die Terrakotta-Idole und -Statuetten, die Totenmasken aus
gehämmertem Gold, die Bronze- und Elfenbeinarbeiten und die
charakteristische Keramik-, mit alldem war es jäh und für immer
zu Ende.
Diese Ruinenlandschaft ist der leidgetränkte Ackerboden, auf
dem in Griechenland das Bewußtsein erwächst. Ein wesentlicher
Faktor hierbei ist die ganz andere Lage im Vergleich zu den
assyrischen Riesenstädten, die, von der Schwerkraft der
Verhältnisse geschoben, in eine dämonenbesessene tappende
Bewußtheit hineintaumeln. Im Gegensatz dazu war die
mykenische Kultur ein weitmaschiges und weiträumiges Netz
von göttlich befehligten kleineren Stadtkulturen gewesen. Der
Zusammenbruch der bikameralen Psyche, mit dem der gesamte
Gesellschaftsverband auseinanderbrach, hatte eine noch weiter
gehende Zerstreuung zur Folge.
Es hat sogar etwas für sich, wenn man annimmt, daß eben
diese ganze politische Verheerung die Herausforderung
darstellte, welche die großen Epen als trotzige Antwort
provozierte, und daß die von Flüchtlingslager zu
Flüchtlingslager getragenen langen Erzählgesänge der aoidoi
einem frischgebackenen Nomadenvolk in seinem Bemühen, die
verlorengegangenen Gewißheiten wiederzuerlangen, das freudig
begrüßte Gefühl der Einheit mit einer in Bindungen ruhenden
Vergangenheit bescherten. Dichtungen sind Flöße, an die sich
die Menschen klammern, um nicht in der Unzulänglichkeit ihrer
- 351-
Seelenausstattung zu ertrinken. Und dieses einzigartige Moment
– die vitale Bedeutung der Dichtung inmitten eines
verheerenden gesellschaftlichen Chaos – ist der Grund, warum
das griechische Bewußtsein zu jener strahlenden intellektuellen
Helle aufgleißt, die noch heute unsere Welt erleuchtet.
Im vorliegenden Kapitel werde ich den Leser gewissermaßen
auf eine Besichtigungsreise durch die erhaltene frühgriechische
Literatur führen. Die Liste der Texte ist leider nur kurz.
Ausgehend von der »Ilias« werden wir nacheinander die
»Odyssee« und die dem Hesiod zugeschriebenen böotischen
Gedichte ansteuern, um dann weiterzureisen zu den Fragmenten
der Lyriker und Elegiker des siebten Jahrhunderts v. Chr. und
noch eine kurze Strecke darüber hinaus. Auf eine fortlaufende
Kommentierung der Landschaft, durch die wir uns bewegen,
werde ich verzichten. Die findet der Leser besser ausgeführt, als
ich es könnte, in einer Reihe bereits vorhandener guter
Darstellungen der frühgriechischen Literaturgeschichte. Statt
dessen werde ich mich darauf beschränken, die Aufmerksamkeit
des Lesers auf ausgewählte Details zu lenken, die sich im Lichte
unserer Theorie des Bewußtseins als besonders interessant
erweisen.
Bevor wir jedoch aufbrechen, sind noch einige vorbereitende
Erkundungsausflüge vonnöten, so insbesondere einer mit dem
Zweck der gründlichen Analyse von »psychologischen«
Ausdrücken in der »Ilias«.
EIN BLICK IN DIE ZUKUNFT DURCH DIE »ILIAS«
In einem früheren Kapitel machte ich die Bemerkung, die
»Ilias« sei das Fenster, das uns den Durchblick auf die
unmittelbar vorausliegende bikamerale Vergangenheit eröffnet.
Hier nun wollen wir uns einmal auf der anderen Seite vor
diesem Fenster postieren, um vorwärts und hinüber zu spähen in
die ferne selbstbewußte Zukunft; das heißt: wir wollen diesen
- 352-
geheimnisvollen großen Päan auf den Zorn nicht als den
Endpunkt der vorausliegenden oralen Tradition betrachten,
sondern förmlich als Ansatz und Beginn der neu
heraufkommenden Mentalität.
Im Dritten Kapitel des Ersten Buches (Seite 88-108) sahen
wir, daß die Wörter, die später im Griechischen auf Aspekte der
Bewußtseinsfunktion verweisen, in der »Ilias« noch konkretere,
körperliche Bedeutungen haben. Aber gerade der Umstand, daß
diese Wörter dann mentale Bedeutungen annahmen, legt die
Vermutung nahe, daß sie für das Vorhaben, die
Entwicklungsweise des griechischen Bewußtseins zu begreifen,
Schlüsselwert haben könnten.
Insgesamt sieben solcher Wörter sind es, die wir hier in
Augensche in nehmen wollen: thymos, phrenes, noos und
psyche, die allesamt abwechselnd mit »(innerer) Sinn«,
»Gemüt«, »Seele« öder »Geist« übersetzt werden, sowie kradie,
ker und etor, häufig mit »Herz« übersetzt und manchmal auch
mit »Gemüt« oder »Geist«. Aber es ist völlig falsch und durch
nichts in der »Ilias« gerechtfertigt, irgendeines dieser sieben
Wörter mit »Geist« oder einem vergleichbaren Ausdruck zu
übersetzen. Sie bezeichnen schlicht und geradewegs und ohne
die mindeste Doppeldeutigkeit einen Ausschnitt der Dingwelt,
der Leiblichkeit. Auf diesen Sachverhalt werden wir im Zuge
einer ausführlichen Erörterung in Kürze zurückkommen.
Zuvor stellt sich jedoch die Frage, weshalb die so
bezeichneten Dinge in der Dichtung überhaupt vorkommen. Ich
habe ja in vorangegangenen Partien dieses Buches sehr
nachdrücklich
herausgestellt,
daß
hauptsächlicher
Handlungsantrieb hier die Stimmen der Götter sind und nicht
der thymos, die phrenes, das etor und so weiter. Diese letzteren
sind völlig redundant. Ja, häufig scheinen sie sogar – wie ein
Keil zwischen den zwei Seiten der bikameralen Psyche – die
einfache Befehl-Gehorsam-Verbindung zwischen Gott und
Mensch zu blockieren. Weswegen also sind sie überhaupt da?
- 353-
Überlegen wir etwas genauer, was sich mit Beginn des
Zusammenbruchs der bikameralen Psyche zugetragen haben
muß. Im Vierten Kapitel des Ersten Buches (Seite 120 f) stellten
wir fest, daß der physiologische Hinweisreiz, der – sei’s beim
bikameralen Menschen, sei’s beim heutigen Schizophrenen –
das Auftreten einer halluzinierten Stimme nach sich zieht, in
irgendeiner Form von Entscheidungs- oder Konfliktstreß
besteht. Wenn nun unter den Bedingungen einer chaotischen
sozialen Lage die Götterstimmen zusehends erfolgsuntauglich
und mithin unterdrückt wurden, so dürfen wir davo n ausgehen,
daß jetzt ein höheres Maß an Streß erforderlich war, um eine
Stimmhalluzination zu bewirken.
Es ist also durchaus wahrscheinlich, daß mit der Schwächung
der bikameralen Psychoorganisation der Entscheidungsstreß in
ungewohnten Situationen beträchtlich anstieg und daß er jetzt
sowohl der Stärke wie der Dauer nach fortschreitend zunehmen
muß, ehe die Schwelle erreicht ist, die das halluzinierte
Erscheinen eines Gottes bedeutet. Ein derart vermehrter Streß
bringt vielfältige physiologische Begleiterscheinungen mit sich:
Gefäßveränderungen, die als Hitzewallungen empfunden
werden, jähe Veränderungen der Atmung, Herzklopfen oder
Herzflattern und so weiter und diese Reaktionen sind es, die in
der »Ilias« als thymos, phrenes oder kradie bezeichnet werden.
Dies – und nicht Geist oder sonst etwas dergleichen – ist die
Bedeutung dieser Wörter. Während die Götter sich mit
fortschreitender Zeit seltener und seltener hören lassen, werden
diese inneren Reize als Reaktionen auf fortschreitend
wachsenden Streß mehr und mehr mit den darauffolgenden
menschlichen Handlungen gleich welcher Art assoziiert, bis
ihnen sogar die göttliche Funktion zuwächst und sie sich im
phänomenalen Bereich als das alleinige handlungsauslösende
Moment darstellen.
Belege dafür, daß wir uns mit diesen Annahmen auf der
richtigen Spur befinden, lassen sich in der »Ilias« selbst
- 354-
entdecken. Gleich zu Anfang wird Agamemnon, der König der
Mannen (doch Sklave von Göttern), von seinen Stimmen
geheißen, dem Achilleus, dem sie zur Beute gefallen war, die
zartwangige Briseis wegzunehmen. Die Reaktion des Achilleus
setzt in seinem etor ein (also mit einem Krampf in den
Gedärmen, wie ich meine): Dort erlebt er den Konflikt, er ist
»zwiegespalten« (mermerizo), ob er seinem thymos (der
unmittelbaren inneren Empfindung des Zorns) folgen und den
anmaßenden König umbringen soll oder nicht. Erst nach dieser
Zwischenphase
des
Schwankens
unter
wachsendem
Bauchgrimmen und Blutwallungen und während Achilleus
bereits sein mächtiges Schwert zieht, ist der Streß so weit
aufgebaut, daß die Halluzination der gewaltig glänzenden Göttin
Athene eintritt, die von nun an (I, 188 ff) das Kommando
übernimmt und Achilleus sagt, was er tun soll.
Ich möchte hier die These aufstellen, daß solche
Leibempfindungen in rein bikameraler Zeit sich weder intensiv
noch extensiv so deutlich bemerkbar machten und daß es auch
die Namen für sie noch nicht gab. Wenn wir einmal annehmen
wollen, daß es so etwas wie eine »Ur-Ilias« gab – die orale
Version der Dichtung, wie sie von den Lippen der frühesten
Generation von aoidoi kam –, dann dürfen wir davon ausgehen,
daß diese »Ur-Ilias« von einer solchen Zwischenphase – von
einem etor und einem thymos, die der Stimme des Gottes
vorausgingen – nichts wußte: Die – wie wir noch sehen werden:
zunehmende – Verwendung dieser Ausdrücke in der
bezeichneten Weise spiegelt den Wandel in der Mentalität
wieder den Keil zwischen Gott und Mensch, dessen Folge das
Bewußtsein ist.
Vorbewußte Hypostasen
Wir können diese »psychologischen« Ausdrücke, die später
so etwas wie Bewußtseinsfunktionen bezeichnen, vorbewußte
Hypostasen nennen. Die zweite Komponente des Terminus ist
- 355-
die griechische Bezeichnung für alles, was einer anderen Sache
unter(ge)stellt wird (etwa als Grundlage, Fundament). Die
vorbewußten Hypostasen werden als Handlungsursachen
unterstellt, sobald andere Ursachen nicht mehr in Erscheinung
treten. In ungewohnten Situationen handelt der Mensch nicht
von sich aus, sondern es sind, wenn kein Gott auftritt, die
vorbewußten Hypostasen, die sein Handeln veranlassen. Sie sind
demnach der Grund für Reaktivität und Zurechnungsfähigkeit,
wie er im Übergang von der bikameralen Psyche zum
subjektiven Bewußtsein auftritt. Auf unserer Reise von Text zu
Text werden wir bemerken, daß die Bedeutung dieser
Ausdrücke und die Häufigkeit ihres Vorkommens sich in der
Zeit von ungefähr 850 bis 600 v. Chr. allmählich ändert,
nämlich zunimmt, bis sich ihre Einzelbedeutungen im sechsten
Jahrhundert v. Chr. zu der Einheit zusammenschließen, die wir
heute als den subjektiv bewußten Geist bezeichnen. 2
Ich möchte das eben Gesagte erweitern und präzisieren,
indem ich die zeitliche Entwicklung der vorbewußten
Hypostasen in ein grobes Detailschema von vier
aufeinanderfolgenden Phasen bringe:
Phase I: Objektiv: Fällt in die bikamerale Epoche: die
fraglichen Ausdrücke bezeichnen einfach nur in der Außenwelt
beobachtbare Dinge.
Phase II: Intern: Die Ausdrücke beziehen sich jetzt auf
körperinnere Entsprechungen, insbesondere auf bestimmte
innere Empfindungen.
Phase III: Subjektiv: Die Ausdrücke beziehen sich auf
Vorgänge, die wir als »mentale« bezeichnen würden;
Entsprechungen sind nicht mehr Innenreize, denen die
Verursachung von Handlungen zugeschrieben wird, sondern
2
Professor A. D. H. Adkins hat diese Zusammenziehung der verschiedenen
Ausdrücke für »Ge istiges« dargestellt in seinem Buch From the Many to the
One, Ithaca: Cornell University Press 1970.
- 356-
nunmehr innere Räume, in denen es zu metaphorischem
Handeln kommen kann.
Phase IV: Synthetisch: Die einzelnen Hypostasen schließen
sich zusammen zur Einheit des bewußten Selbst, das
Introspektion halten kann.
Der Grund, warum ich diese vier Phasen in vielleicht
übertrieben klarer Abgrenzung ins Spiel bringe, ist der, daß ich
dem Leser auf diese Weise die wichtigen psychologischen
Unterschiede in den Übergängen von Phase zu Phase besser
verdeutlichen kann.
Der Übergang von der ersten zur zweiten Phase fand zu
Beginn der Zeitspanne statt, in der sich der Zusammenbruch der
bikameralen Psyche ereignet. Veranlaßt ist er durch das
Ausbleiben oder die Inkompetenz der Götter und ihrer
halluzinierten Direktiven. In Ermangelung zureichender
göttlicher Entscheidungen verstärkt sich der Streß und mit ihm
die physiologischen Begleiterscheinungen, bis diese schließlich
namentlich bezeichnet werden mit Ausdrücken, die zuvor nur in
Bezug auf Außenweltwahrnehmungen gebraucht wurden.
Der Übergang von der zweiten zur dritten Phase ist eine sehr
viel komplexere Angelegenheit. Und auch eine sehr viel
interessantere. Er verdankt sich dem im Zweiten Kapitel des
Ersten Buches (Seite 65-87) beschriebenen ParaphorandGenerieren der Metapher. In jenem Kapitel habe ich den
vierstufigen Prozeß der Metaphernbildung skizziert, bei dem wir
zunächst einen weniger bekannten Term (den Metaphoranden)
haben, der beschrieben werden soll; diesen beschreiben wir
dann, indem wir einen besser bekannten Metaphorator, der ihm
in irgendeiner Hinsicht ähnelt, in Beziehung zu ihm setzen. In
der Regel hat der Metaphorator einfache Assoziationen
(Paraphoratoren), die sich dann projektiv in den ursprünglichen
Metaphoranden hinein verlängern als neu zu ihm hinzutretende
Assoziate (Paraphoranden). Paraphoranden sind generativ in
dem Sinn, daß ihre Assoziation mit dem Metaphoranden eine
- 357-
Neuheit ist. Und es ist dieses Verfahren, das uns in den Stand
setzt, jene Art »Raum« zu erzeugen, der sich unserer
Introspektion darbietet und das unerläßliche Substrat des
Bewußtseins ist. Ein im Grunde ganz einfacher Zusammenhang,
wie wir in Kürze sehen werden.
Und wiederum ein anderer Vorgang ist schließlich die
Synthese der einzelnen Hypostasen zum einheitlichen
Bewußtsein der Phase IV. Nach meinem Dafürhalten hat man
sich diesen Vorgang folgendermaßen vorzustellen: Mit
zunehmender Festigung der subjektiven Bedeutungen von
thymos, phrenes und so weiter während der Phase III lösen sich
diese nach und nach aus ihrer Verwurzelung in voneinander
verschiedenen inneren Empfindungen, so daß sie auf der Basis
ihrer gemeinsamen Metaphoratoren – zum Beispiel als
»Behälter« oder »Personen« gegeneinander austauschbar
werden und schließlich miteinander verschmelzen. Freilich mag
zur synthetischen Einheit des Bewußtseins auch ein Vorgang
beigetragen haben, den man die »Profanisierung der
Aufmerksamkeit« im siebten Jahrhundert v. Chr. nennen könnte:
mit um sich greifendem Wiedererkennen individueller
Unterschiede einhergehend, führte er im Ergebnis zu einem
neuen Konzept vom Selbst.
Bevor wir uns den faktischen Belegen für diese Dinge
zuwenden, wollen wir uns zunächst an eine detailliertere
Untersuchung der vorbewußten Hypostasen und ihrer Semantik
machen, so wie sie in den verschiedenen Phasen in der »Ilias«
vorkommen. Die Reihenfolge lassen wir uns dabei von der
allgemeinen Bedeutsamkeit dieser Wörter im Text der Dichtung
vorgeben.
Thymos
Dies ist der bei weitem meistgebrauchte und wichtigste
hypostatische Ausdruck in der ganzen Dichtung. Er kommt
- 358-
dreimal so oft vor wie jeder andere. Ursprünglich – in der
objektiven Phase – bezeichnete er nach meinem Dafürhalten
einfach nur die der Außenwahrnehmung zugängliche Aktivität.
Ohne irgendeinen »Innenaspekt« mitzumeinen! Dieser
Sprachgebrauch der mykenischen Zeit läßt sich in der »Ilias«
vielfach nachweisen, zumal in den Schlachtszenen, wo ein
Krieger den thymos, also die Aktivität eines anderen zum
Erliegen bringt, indem er mit dem Speer die richtige
Körperstelle trifft.
Die zweite (interne) Phase ergibt sich, wie wir am Beispiel
vom Zorn des Achilleus gesehen haben, in ungewohnter,
streßgeladener Situation während der Zusammenbruchsperiode,
da jetzt die Streßschwelle für das Auftreten der halluzinierten
Stimme höher liegt. Thymos bezeichnet dann ein Aufwallen von
inneren Empfindungen; die als Reaktion auf eine kritische
Umweltlage eintreten. Es handelte sich, wie ich meine, um ein
Reizmuster, das auch der modernen Physiologie vertraut ist: die
sogenannte Streß- oder Notfallfunktion des sympathischen
Nervensystems mit Ausschüttung von Adrenalin und
Noradrenalin aus den Nebennieren (Cannon-Syndrom). Dazu
gehört die Erweiterung der Blutgefäße in der Skelett- und
Herzmuskulatur, erhöhter Tremor in der quergestreiften
Muskulatur, jäh ansteigender Blutdruck, Kontraktion der
Blutgefäße in den Bauchhöhleneingeweiden und der Haut,
Entspannung der glatten Muskulatur, vermehrte Energie durch
erhöhten Blutzucker infolge gesteigerter Glykogenolyse in der
Leber
und
gegebenenfalls
eine
veränderte
Wahrnehmungsfähigkeit, bedingt durch eine Erweiterung der
Pupillen. Dieses Syndrom also bildete das innere Reizmuster,
das in kritischen Situationen einer besonders heftigen oder
gewaltsamen Handlung voranging. Und durch häufige
Wiederkehr dieser Konstellation bahnt sich allmählich ein
Designationsverhältnis zwischen dem Gesamtbild dieser
Leibreize und dem Folgehandeln als solchem an. Danach ist es
- 359-
dann der thymos, der einem Krieger im Streit Stärke verleiht und
dergleichen mehr. Sämtliche Fälle, in denen der thymos in der
»Ilias« eine innere Empfindung bezeichnet, stimmen mit dieser
Interpretation überein.
Indes macht sich in der »Ilias« sogar schon der bedeutsame
Übergang zur dritten (subjektiven) Phase bemerkbar,
wenngleich noch nicht in sonderlich augenfälliger Weise. Wir
erkennen ihn in der unausdrücklichen Metapher vom thymos als
einem Behälter: An mehreren Stellen wird menos (Mut oder
Stärke) in jemandes thymos »gelegt« (eingegeben) (16, 529;
17,451; 22, 312). Implizit wird der thymos auch einer Person
gleichgestellt: nicht Aias, sondern sein thymos ist von
Kampfeseifer entbrannt (13, 73); nicht Aineias freut sich,
sondern sein thymos (13, 494 vgl. auc h 14, I56). Wenn nicht ein
Gott, so ist es meistenteils der thymos, der den Menschen zum
Handeln »drängt«. Und als ob jener eine Person für sich wäre,
können die Menschen mit ihrem thymos sprechen (11, 403),
hören, was er zu sagen hat (7, 68), oder auf seine Antwort wie
auf die eines Gottes warten (9, 702).
Das alles sind äußerst wichtige Metaphern. Die inneren
Empfindungen von Veränderungen im Körperkreislauf und in
den Muskeln sprachlich als ein Ding zu behandeln, in das Mut
oder Stärke hineingetan (eingegeben) werden kann, heißt einen
(im vorliegenden Fall stets in der Brust lokalisierten)
vorgestellten »Raum« erzeugen, in dem wir den Vorläufer
unseres zeitgenössischen Bewußtseinsraums vor uns haben. Und
die Funktion jener Empfindung der einer zweiten Person oder
sogar derjenigen der nunmehr seltener auftretenden Götter zu
vergleichen, heißt jene Metaphernprozesse in Gang setzen, aus
denen später das Analogon »Ich« werden wird.
Phrenes
Die in der »Ilias« am zweithäufigsten gebrauchte Hypostase
- 360-
sind die phrenes. Deren ursprüngliche Entsprechung während
der objektiven Phase läßt sich nicht mit gleicher Zweifelsfreiheit
angeben. Der Umstand jedoch, daß der Ausdruck fast immer im
Plural erscheint, könnte darauf hindeuten, daß die dingliche
Entsprechung der phrenes ursprünglich die Lunge (mit ihren
zwei Flügeln) war; möglicherweise wurden sie auch mit phrasis,
der artikulierten Rede, in Verbindung gebracht.
In der internen Phase werden die phrenes zur Bezeichnung für
das zeitliche Empfindungsmuster, das in Verbindung mit
Veränderungen der Atmung auftritt. Letztere gehen vom
Zwerchfell aus sowie von den Interkostalmuskeln des Thorax
und der glatten Muskulatur der Atemwege (Luftröhre mit
Bronchien), die deren Querschnitt und damit ihre
Durchlässigkeit für den Luftstrom regeln. Dieser ganze Apparat
wird vom sympathischen Nervensystem gesteuert.
Wir sollten uns in diesem Zusammenhang daran erinnern, wie
extrem empfindlich unsere Atmung auf verschiedene Arten von
Umweltreizen reagiert. Ein jäher Reiz läßt uns »den Atem
anhalten« oder »verschlägt uns den Atem«. Schluchzen und
Lachen sind mit je verschiedener deutlich empfundener
Innenreizung von Seiten des Zwerchfells und der
Interkostalmuskeln verbunden. Bei körperlicher Anstrengung
oder heftiger Erregung nimmt – mit den entsprechenden
Leibreizen im Gefolge – sowohl die Frequenz wie die Tiefe der
Atmung zu. Lust- wie Unlustgefühle treten gewöhnlich im
Verein mit gesteigerter Atemtätigkeit auf. Eine vorübergehende
Konzentration der Aufmerksamkeit geht erkennbar Hand in
Hand mit teilweiser oder vollständiger Hemmung der
Atemtätigkeit. Auf ein Überraschungserlebnis reagieren wir mit
gesteigerter und unregelmäßiger Atemfrequenz.
Abgesehen von der Frequenz, treten höchst charakteristische
Verschiebungen auch in den Zeitanteilen von Einatmung und
Ausatmung innerhalb des einzelnen Atemzyklus auf. Die
Messung wird hier am zweckmäßigsten durch Bestimmung des
- 361-
prozentualen
Anteils
vorgenommen,
den
der
Einatmungsvorgang in der Gesamtdauer des Atemzyklus
einnimmt. Dieser Anteil beträgt ungefähr 16 Prozent beim
Reden, 23 Prozent beim Lachen, 30 Prozent bei konzentrierter
geistiger Arbeit, 43 Prozent in Ruhehaltung, 60 Prozent und
mehr in Erregungszuständen, 71 Prozent bei Versuchspersonen,
die sich eine beglückende oder überraschende Situation
vorstellen, und 75 Prozent bei einem plötzlichen heftigen
Schreck. 3
Mit alldem will ich sagen, daß unsere phrenes oder
Atmungsorgane sich als eine Art seismographischer Apparat
betrachten lassen, der alles, was wir tun, genau und differenziert
registriert. Es ist zum mindesten denkbar, daß dieser innere
Spiegel des Verhaltens im Reizuniversum der vorbewußten
Psyche eine weit beherrschendere Position einnahm, als er es für
uns heute tut. Jedenfalls läßt uns sein abwechslungsreiches
Muster interner Reizung verstehen, warum die phrenes während
der Übergangszeit zum Bewußtsein eine so wichtige Rolle
spielten und warum der Ausdruck in den Dichtungen, die wir in
diesem Kapitel betrachten, auf so vielerlei funktional
unterschiedliche Weisen gebraucht wird.
An vielen Stellen der »Ilias« ist er einfach nur mit »Lunge« zu
übersetzen. Agamemnons schwarze phrenes füllen sich mit Wut
(1, 103), und wir können uns gut das Bild des in steigender
Erregung schwer atmenden (»wutschnaubenden«) Königs
vorstellen. Automedon füllt seine dunklen phrenes mit Kraft und
Stärke (17, 499): Er atmet tief durch. Erschrockene Rehe haben
nach langem Lauf keine Kraft mehr in ihren phrenes (4, 243245): Sie sind außer Atem. Beim Weinen werden die phrenes
3
Einatmung bezeichnet hier die Phase vom Beginn des Atemholens bis zum
Beginn des Ausstoßens der Luft, schließt also die Zeit, während welcher die
Luft einbehalten wird, mit ein. Die angegebenen Werte sind aus
verschiedenen Quellen kompiliert. Vgl. Robert S. Woodworth, a. a. O.
(Fußnote auf Seite 59) S. 264.
- 362-
vom Kummer »heimgesucht« (1, 362; 8, 124); und diese
Atmungsorgane können Bangen (10, 10) oder Ergötzen (9, 186)
»fassen«. Bereits diese Aussagen sind zum Teil metaphorischer
Natur, indem sie eine Art Fassungsraum in den phrenes
ansetzen.
Vereinzelte Fälle zeugen deutlicher von der dritten Phase im
Sinne eines inneren Seelenraums. Es sind die, in denen von den
phrenes gesagt wird, daß sie eine Information »enthalten« und
unter Umständen »behalten«. Solche Informationen stammen
zuweilen von einem Gott (1, 55), zuweilen von einem anderen
Menschen (1, 297).
Laboruntersuchungen haben gezeigt, daß bereits die einfache
sinnliche Erfahrung eines Gegenstands, sein Wiedererkennen
und das Erinnern des mit ihm assoziierten Namens sich allesamt
in gleichzeitig vorgenommenen Monitoraufzeichnungen der
Atemtätigkeit nachweisen lassen. 4 Es kann daher nicht
verwundern, daß, wenn bestimmte Ausschnitte des inneren
Empfindens erstmals in der Geschichte mit Funktionen wie
Wiedererkennen und Erinnern in Verbindung gebracht werden,
sie in den phrenes lokalisiert werden. Einmal heißt es von den
phrenes, daß sie Geschehnisse zu erkennen vermögen (22, 296):
Das bedeutet, daß sie hier metaphorisiert sind auf der Grundlage
des Metaphorators »Person«; die Paraphoranden von »Person«
von einem Etwas, das im Raum zu agieren vermag – gelangen
dergestalt projektiv in die phrenes und verleihen ihnen die
metaphorischen Eigenschaften von Räumlichkeit und
menschlicher Handlungsfähigkeit allgemein. So stellen wir auch
fest, daß die phrenes eines Menschen gelegentlich »überredet«
werden wie eine Person, sei’s von einem anderen Menschen (7,
120), sei’s von einem Gott (4, 104). Möglicherweise können die
4
Mario Ponzo, La misura del decorso di processi psichici esequita per mezzo
delle grafiche del respiro, Archives Italiennes de Psicologia 1/1920-1921, S.
214-238.
- 363-
phrenes sogar imperativ »sprechen« wie ein Gott, wie etwa in
dem Fall, wo Agamemnon bekennt, er habe seinen
verderblichen phrenes gehorcht (9, 119). Fälle wie die zuletzt
zitierten sind in der »Ilias« durchaus noch seltene Ausnahmen,
nichtsdestoweniger kündigt sich in ihnen bereits die
Entwicklung zum Bewußtsein an, die im Lauf der nächsten zwei
Jahrhunderte stattfinden wird.
Kradie
Dieses Wort, das später die Form kardia annimmt (in der es
heute in Zusammensetzungen wie Kardiogramm, Kardiologe
erscheint), ist nicht ganz so wichtig und gibt auch nicht so viele
Fragen auf wie die anderen Hypostasen. Es bezeichnet das Herz.
In der Tat ist es die am weitesten verbreitete heute noch
gebräuchliche Hypostase. Wenn wir Zeitgenossen des
zwanzigsten Jahrhunderts Aufrichtigkeit zum Ausdruck bringen
wollen, lassen wir immer noch unser Herz und nicht unser
Bewußtsein sprechen. Die tiefsten von unseren Gedanken und
die innigsten von unseren Überzeugungen hegen wir im Herzen.
Und wir lieben »von Herzen«. Sonderbarerweise haben sich die
Lungen, die phrenes, ihre hypostatische Rolle niemals so
bewahren können wie die kradie.
Von dem Verb kroteo (schlagen, klopfen) abgeleitet,
bedeutete kradie nach meinem Dafürhalten ursprünglich einfach
eine zitternde oder zuckende Bewegung. An manchen
frühgriechischen Textstellen bezeichnet das Wort sogar einen
zitternden Zweig. In der Internalisierungsphase (zweiten Phase)
während der Dorischen Wanderung wurde das äußerlich
wahrnehmbare – für das Auge sichtbare und für die Hand
fühlbare – Zucken dann zum Namen für die innere Empfindung
des Herzklopfens, wie es sich als Reaktion auf bestimmte äußere
Situationen einstellte. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist
dies die Bedeutung des Wortes in der »Ilias«. Noch ist da
niemand, der irgendeine Überzeugung im Herzen hegt.
- 364-
Auch hier möchte ich den Leser wieder an die umfangreiche
Literatur zum Thema erinnern: in diesem Fall zur
Reaktionsbereitschaft
unseres
Herzens
auf
unsere
Wahrnehmungen in der Außenwelt. Wie die Atmung oder die
Arbeit des sympathischen Nervensystems reagiert auch das
kardiale System extrem empfindlich auf bestimmte Aspekte der
Umwelt. So hat beispielsweise einer der neueren Forscher auf
diesem Gebiet von einer »Seele des Herzkranken« und vom
Herzen als dem spezifischen Empfindungsorgan der Angst
gesprochen (wie das Auge das Organ der visuellen
Empfindungen ist). 5 Angst ist in dieser Perspektive nicht das,
was die poetischen Paraphrasen meinen, mit denen wir dieses
Gefühl in unserem Bewußtsein wiedergeben mögen. Angst ist
vielmehr eine innere taktile Empfindung in den sensorischen
Nervenenden im kardialen Gewebe, die die Umgebung auf ihr
Angstpotential hin entziffert.
Zwar ist diese Auffassung im Hinblick auf heutige
Gegebenheiten so nicht haltbar, doch entspricht sie genau der
homerischen Psychologie. Ein Feigling hat in der »Ilias« nicht
Angst, sondern es klopft ihm laut die kradie (13, 282). Hier hilft
nur, daß Athene Stärke (2, 452) oder Apoll Kühnheit (21, 547)
in die kradie »eingibt«. Das metaphorische Substrat des
Behältnisses installiert im Herzen einen »Raum«, in dem die
Nachgeborenen ihre tiefsten Überzeugungen, Gedanken und
Gefühle bewahren und bewegen können.
Etor
Die Philologen übersetzen gewöhnlich sowohl kradie wie etor
mit »Herz«. Und zweifellos kann es sein, daß ein Wort
Synonyme hat. Aber sobald es um so wichtige Dinge geht wie
um die Zuschreibung eines speziellen Sitzes für Empfindungen
5
Ludwig Braun, Herz und Angst, Wien: Deuticke 1932, S. 14 und passim.
- 365-
und
Handlungsantriebe,
erscheint
mir
eine
solche
Bedeutungsgleichsetzung a priori illegitim; statt dessen halte ich
für gewiß, daß diese Ausdrücke im antiken Sprachgebrauch für
unterschiedliche Lokalisierungen und Empfindungen gestanden
haben müssen. Zuweilen werden sie im Text der »Ilias« bereits
durch die Syntax klar gegeneinander abgehoben (20, 169). Ich
wage daher die These, daß etor in der ersten Phase eine
Ableitungsform zu dem Substantiv etron, Bauch, darstellt und
daß der Ausdruck in der zweiten Phase verinnerlicht wurde zur
Bezeichnung von Empfindungen im Magen-Darm- Trakt, und
zwar vor allem von solchen im Magen oder in der Magenregion.
Tatsächlich läßt sich das sogar aus der »Ilias« belegen, wo klipp
und klar gesagt wird, daß Speis und Trank dazu da sind, das etor
zu erlaben (19, 307; vgl. auch Hesiod, »Werke und Tage«, 593)
Diese Übersetzung ist auch in anderen Zusammenhängen die
passendere, so zum Beispiel, wenn einem Krieger in vorderster
Schlachtreihe das etor, mit anderem Wort: das Gedärm, entfällt,
weil ihm der Bauch aufgeschlitzt wurde.
Von größerer Bedeutung ist das etor jedoch als Reizfeld für
die Seelentätigkeit. Es ist eine bekannte Tatsache, daß der
Magen-Darm-Trakt über ein weitgespanntes Repertoire von
Reaktionen auf menschliche Befindlichkeiten verfügt. Jeder von
uns kennt das flaue Gefühl beim Eintreffen einer schlechten
Nachricht oder den Krampf in der Magengrube, kurz bevor es
zum Autounfall kommt. Ebenso empfindlich reagieren die
Därme schon auf emotionale Reize von vergleichsweise
geringer Intensität, und dieses Verhalten läßt sich mit dem
Durchleuchtungsgerät mühelos sichtbar machen. 6 Magen- und
Darmmotorik setzen beim Auftreten eines unangenehmen
Reizes aus und können sogar ihre Funktionsrichtung ändern,
wenn die Unlustkomponente erhöht wird. Die sekretorische
Tätigkeit des Magens ist ebenfalls ein höchst genauer Spiegel
6
Howard E. Ruggles, Emotional Influence an the Gastro-Intestinal Tract,
California and Western Medicine 29/1928, S. 221-223.
- 366-
des Gefühlslebens. In der Tat ist der Magen eines der reizbarsten
Körperorgane, das mit Krämpfen und Entleerung, mit
Veränderungen der Motorik und der Sekretion auf nahezu alle
Emotionen und Empfindungen reagiert. Deshalb auch waren
Magen-Darm-Erkrankungen der historische Ausgangspunkt für
die psychosomatische Betrachtungsweise.
Von daher hat es seinen Sinn, wenn ich meine, daß es dieses
Spektrum gastrointestinaler Empfindungen war, was mit dem
Ausdruck etor bezeichnet wurde. Als Andromache die klagende
Hekuba hört, wogt ihr etor bis zum Hals hinauf: Sie ist nahe
daran, sich zu übergeben (22, 452). 7 Als Achilleus Lykaons
Bitte um Schonung höhnisch verwirft, ist es Lykaons etor, das
zusammen mit den Knien »sich lockert« und kraftlos wird (21,
114). Wir würden heute sagen: er hat ein flaues Gefühl in der
Magengrube. Und während Zeus vom Olymp aus zuschaut, wie
die Götter selbst am Kampfgetümmel teilnehmen, lacht sein etor
vor Freude (21, 389): die englische Sprache hat dafür den
speziellen Ausdruck »bellylaugh«, ein Lachen aus dem Bauch.
Anders als die anderen Hypostasen wird das etor nicht zum
metaphorischen Behältnis gemacht, was daran liegen mag, daß
der Magen faktisch bereits Nahrungsbehältnis ist. Aus eben
diesem Grund erlangt es in der nachfolgenden Literatur, wie wir
noch sehen werden, auch keine sonderliche Bedeutung als
Komponente irgendeiner Form von subjektivem Bewußtsein.
Ich glaube, die medizinisch vorgebildeten unter meinen
Lesern werden ohne weiteres einsehen, daß die Fragen, die wir
hier unter das Rubrum »vorbewußte Hypostasen« gebracht
haben, von erheblicher Tragweite für jede Theorie der
psychosomatischen
Krankheiten
sind.
Mit
unseren
Ausführungen über thymos, phrenes, kardie und etor haben wir
7
Und da der Magen rhythmische Bewegungen ähnlich wie das Herz ausführt,
werden beide manchmal miteinander verwechselt, so wenn in des
verwundeten Löwen kradie sein starkes etor stöhnt (Ilias 20, 169).
- 367-
ja beiläufig die vier Organsysteme umschrieben, welche die
Hauptangriffsziele jener Leiden bilden. Und daß sie zugleich
den eigentlichen Unterbau des Bewußtseins bilden – einen Urund Partialtyp von Bewußtseinsfunktion –, hat bedeutende
Konsequenzen für die medizinische Theorie.
Die ker erwähne ich hier lediglich im Vorübergehen –
einesteils weil sie für unsere Geschichte des Bewußtseins eine
schwindende Rolle spielt, zum andern aber auch, weil Herkunft
und Bedeutung des Ausdrucks in Unklarheit gehüllt sind. Zwar
ist es nicht auszuschließen, daß er sich von cheir herleitet und in
somatisierter Bedeutung einmal zitternde Hände und Glieder
bezeichnete; mit größerer Wahrscheinlichkeit jedoch könnte er
aus der gleichen Wurzel wie kardia in einem anderen Dialekt
gebildet sein. Und eigentlich läßt die »Ilias« in dieser Hinsicht
wenig Zweifel, wenn sie verzeichnet, wie ein Krieger vom Speer
an der Stelle getroffen wird, wo die phrenes (die Lungen) sich
der pulsierenden ker nähern (16, 481). Die ker wird fast
ausnahmslos als das Organ des Kummers erwähnt und ist aufs
Ganze gesehen von eingeschränkter Bedeutung.
Von allerhöchster Bedeutung ist dagegen die folgende
Hypostase. Sagen wir gleich dazu, daß es sich um einen
Ausdruck handelt, der in der »Ilias« selten vorkommt – so
selten, daß der Verdacht gerechtfertigt ist, wir könnten es hier
mit einer Hinzufügung späterer Generationen von aoidoi zu tun
haben. Aber auf die kleinen Anfänge in der »Ilias« folgt eine
rapide Entwicklung, und es dauert nicht lange, bis der Ausdruck
ins beherrschende Zentrum unseres Sachbereichs vorgerückt ist.
Die Rede ist vom Noos.
Bis hierher hatten wir es mit plastischen, unverkennbaren
inneren Empfindungen zu tun, die in einer Zeit des Umbruchs
und der Krise nur mehr benannt zu werden brauchten und dabei
nach objektiven äußeren Wahrnehmungen benannt wurden. Der
noos, von dem Verb noeo = »sehen« abgeleitet, ist die
- 368-
Wahrnehmung selbst. Mit ihm gelangen wir auf unserer
Geistesreise in eine Sphäre, wo es um sehr viel stärkere
Potenzen geht.
Denn wie wir in einem früheren Kapitel gesehen haben,
stammt die große Mehrzahl der Ausdrücke, in denen wir unser
Bewußtseinsleben beschreiben, aus dem visuellen Bereich. Vor
unserem geistigen »Auge« »sehen« wir Problemlösungen, die
ihrerseits »glänzend« oder »schattenhaft« sein können. Das
Gesicht ist für uns der Fernsinn par excellence. Es ist unser
Raumsinn in einem Maße, an das keine andere Sinnesmodalität
auch nur annähernd heranreicht. Und wie wir bereits gesehen
haben, ist die Eigenschaft der Räumlichkeit die eigentliche
Matrix und Textur des Bewußtseins.
Als interessante Beobachtung sei hier in Parenthese vermerkt,
daß eine Parallele zur Hypostase des Gesichtssinnes im Bereich
des Gehörs nicht existiert. Auch heute noch sieht man zwar mit
dem geistigen Auge, hört aber nicht etwa mit einem geistigen
Ohr. Und wir sprechen zwar von einem hellen, dagegen nicht –
obwohl es im Prinzip das gleiche wäre – von einem lauten Kopf,
wenn wir dem Besitzer des betreffenden Körperteils Intelligenz
bescheinigen wollen. Der Grund dafür mag darin liegen, daß das
Gehör das eigentliche Wesen der bikameralen Psyche
ausmachte, was seinerseits durch eben jene im Vergleich mit
dem Gesicht ganz andersartigen Merkmale bedingt war, die ich
im Vierten Kapitel des Ersten Buches (Seite 118 ff) beschrieben
habe. Die Heraufkunft des Bewußtseins läßt sich in einem
gewissen unspezifischen Sinn als Wechsel von einer auditiven
zu einer visuellen Psyche begreifen.
Dieser Wechsel ist, einigermaßen sporadisch, erstmals in der
»Ilias« zu erkennen. Der mykenische Wortursprung aus der
objektiven Phase zeigt sich, noch im objektiven Gebrauch der
Verbform und an den Stellen, wo noos soviel wie »Blick(feld)«,
»Anblick« oder »Schauspiel« bedeutet. Seine Mannen zum
Kampf anstachelnd, mag da ein Fürst sagen, es sei kein besserer
- 369-
noos als das Handgemenge mit dem Feind (15, 510). Und Zeus
behält Hektor in seinem noos (15, 461).
Aber auch die Internalisierungsphase des noos wird in der
»Ilias« sichtbar. Der verinnerlichte noos sitzt in der Brust (3,
63). Wie sonderbar für uns, daß er nicht in die Augen verlegt
wurde! Das mag daran gelegen haben, daß er in seiner neuen
Rolle mit dem thymos vermengt zu werden begann. Tatsächlich
nimmt der noos jetzt Attribute an, die eigentlich besser zum
thymos passen würden, zum Beispiel Unerschrockenheit (3, 63)
oder Stärke (16, 688). Und Odysseus redet den Achaiern, die zur
Heimfahrt in See stechen wollen, ihr Vorhaben aus, indem er
ihnen sagt, sie wüßten ja noch gar nicht, welchen noos
Agamemnon in sich trüge (2, 192). Für die am modernsten
anmutende Verwendungsweise findet sich ein Beispiel schon in
der allerersten Episode, wo Thetis den weinenden Achilleus
tröstet und ihn fragt: »Warum ist Kummer über deine phrenes
gekommen? Sprich, verbirg’s nicht im noos, damit wir
zusammen es wissen« (1, 363). 8 Von solchen Fällen abgesehen,
gibt es in der »Ilias« keine weitere Subjektivierung. Niemand
trifft in seinem noos irgendwelche Entscheidungen. Im noos
findet kein Denken statt und noch nicht einmal ein Erinnern.
Diese Dinge sind immer noch Sache jener Stimmen der
rechtshemisphärischen Organisation, die Götter heißen.
Die genaue Bestimmung der Ursachen für diese
Verinnerlichung des Sehvermögens zu einem Behältnis, in dem
das Sehen »geborgen« sein kann, erfordert eine detailliertere
Betrachtung, als sie im gegebenen Rahmen möglich ist:
Vielleicht handelte es sich einfach nur um die Generalisierung
8
Im Gegensatz zu meiner These steht ferner die Stelle 15, 80 f, wo Heras
Schnelligkeit verglichen wird mit der Schnelligkeit von eines Mannes nous,
der sich in seinen phrenes an Orte wünscht, die er vor langer Zeit auf seinen
Wanderungen besucht hat. Zur Ausgefallenheit einer derartigen Wendung bei
Homer vgl. Walter Leaf, a. a. O. (Fußnote auf Seite 106), S. 257. Es handelt
sich hier ganz offenkundig um eine nachträgliche Interpolation.
- 370-
von Internalisierung als solcher, eine Generalisierung, die, wie
ich meine, mit den Internalisierungen im Zusammenhang mit
den erwähnten plastischen inneren Empfindungen in die Wege
geleitet wurde. Denkbar wäre auch, daß die Beobachtung
äußerlicher Unterschiede in dem Völkergemenge, von dem ich
im Dritten Kapitel des Zweiten Buches (Seite 262 f) sprach, sich
als Axiom diese visuelle Hypostase schuf, die in
unterschiedlichen Menschen unterschiedlich war und so
ursächlich erklärte, warum diese Menschen unterschiedliche
Dinge sahen.
Psyche
Und damit abschließend zu dem Wort, von dem die
Psychologie ihren Namen hat. Es ist vermutlich von dem Verb
psycho (atmen) abgeleitet und wurde, so wie es in der »Ilias«
hauptsächlich
gebraucht
ist,
zur
Bezeichnung
von
Lebenssubstanzen verinnerlicht. In den meisten Fällen scheint
unser Wort Leben der Bedeutung von Psyche am genauesten zu
entsprechen. In der Konsequenz kann dies jedoch zu einem
schwerwiegenden Mißverständnis führen. Denn »Leben«
bedeutet für uns auch soviel wie eine strukturierte Zeitspanne
zwischen Geburt und Tod, ausgefüllt von einer schematischen
Ereignisfolge und der Entwicklung eines bestimmten
Charakters. Die »Ilias« weiß von absolut nichts dergleichen.
Wird ein Krieger vom Speer tödlich getroffen, so daß seine
Psyche sich auflöst (5, 296), vernichtet wird (22, 325) oder ihn
einfach verläßt (16, 453) oder wenn sie aus dem Mund
verröchelt (9, 409) oder aus einer Wunde verblutet (14, 518; 16,
505): so hat das mit Zeit oder dem Ende von irgend etwas nicht
das geringste zu tun. Im Dreiundzwanzigsten Gesang gibt es
eine Stelle, an der Psyche mit abweichender Bedeutung
vorkommt; die Erörterung darüber verschiebe ich auf den
Schluß des vorliegenden Kapitels. Im allgemeinen jedoch meint
der Ausdruck eine ablösbare Eigenschaft (Belebtheit),
- 371-
vergleichbar dem unter gleichen Bedingungen gleichermaßen
ablösbaren thymos (Aktivität), der zusammen mit der Psyche
eine häufig benutzte Wortkoppelung eingeht.
Wenn wir diese Ausdrücke verstehen wollen, müssen wir uns
unserer Bewußtseinsgewohnheit entschlagen, Räumlichkeit in
sie einzupflanzen, noch bevor das historisch geschehen ist. In
gewissem Sinn ist die Psyche die primitivste von allen
vorbewußten Hypostasen: Es ist schlicht die Eigenschaft, das
Eigentümliche dieses physischen Objekts da drüben – eines
Objekts, das Mensch oder Tier genannt wird –, daß es atmet und
bluten kann und noch einiges andere mehr: ein Eigentum, das
ihm entrissen werden kann wie eine Trophäe (22, 160f), wenn
man eine Speerspitze an die richtige Stelle placiert. Und im
allgemeinen (abgesehen von den Ausnahmen, auf die ich im
letzten Teil dieses Kapitels eingehen werde) geht die
hauptsächliche Verwendungsweise von Psyche in der »Ilias«
über diese Bedeutung nicht hinaus. Niemals und von
niemandem wird hier in der Psyche auch nur im allergeringsten
gesehen, entschieden, gedacht, gewußt, gefürchtet oder irgend
etwas erinnert.
Dies also sind die im Körperinneren angenommenen
Substantive, denen via poetische Metapher, durch Gleichsetzung
mit
Behältnissen
und
Personen,
räumliche
und
Verhaltensqualitäten zuwachsen, Qualitäten, die in der späteren
Literatur zu einem einheitlichen Seelenraum mit seinem
Analogon-»Ich« zusammenwachsen, den wir heute Bewußtsein
nennen. Die Anfänge dieses Entwicklungsprozesses lassen sich
in der »Ilias« aufzeigen: doch ungeachtet dessen ist
nachdrücklich
daran
zu
erinnern,
daß
die
Haupthandlungsschemata
der
Dichtung
nichtbewußten
Ursprungs und göttlichem Diktat entsprungen sind (vgl. Seite 95
f). Die erwähnten vorbewußten Hypostasen wirken bei keiner
wichtigen Entscheidung mit. Gleichwohl sind sie in der
Dichtung
unzweifelhaft
präsent:
gewissermaßen
in
- 372-
Statistenrollen. Es ist in der Tat so, als ob der eine bewußte
Geist hier in seinen Anfängen in der »Ilias« noch in siebenerlei
Wesenheit aufträte, in jeder von ihnen mit geringfügig anderer
Funktion ausgestattet und mit Unterscheidungsmerkmalen
gegenüber den anderen, die nachzukonstruieren wir heute fast
unmöglich finden.
DER LISTENREICHTUM DER »ODYSSEE«
Nach der »Ilias« die »Odyssee«: wer diese Dichtungen mit
unbefangenem Blick hintereinander liest, sieht auf Anhieb,
welch gewaltiger Abstand der Mentalitätsstadien hier
überspannt wird! Natürlich gibt es noch immer Gelehrte, die
sich an der Vorstellung erbauen, ein einzelner Mensch namens
Horneros habe die beiden Kolossalepen aufgezeichnet oder
sogar selbst verfaßt: das eine in jugendlichem, das zweite in
reiferem Alter. Besser begründet scheint mir dagegen die
Ansicht, daß ein Altersabstand von wenigstens hundert Jahren
und wahrscheinlich mehr die »Odyssee« von der »Ilias« trennt
und daß die jüngere Dichtung, genau wie die ältere, nicht das
Werk eines einzelnen, sondern einer Generationenfolge von
aoidoi ist.
Im Gegensatz zur »Ilias« jedoch ist die »Odyssee« kein Epos
aus einem Guß, sondern aus mehreren Stoffkreisen
zusammengesetzt. Die ursprünglichen Erzählteile handelten
wahrscheinlich von ganz verschiedenen Helden und wurden
dann in späterer Zeit um die Mittelpunktsfigur des Odysseus
herum zusammengezogen. Wie das kam, ist nicht schwer zu
erraten. Odysseus war zumindest in Teilen Griechenlands zum
Mittelpunkt eines Kults geworden, mit dem sich unterworfene
Völkerschaften ihrer Überlebensfähigkeit versicherten. Er ist
jetzt der »listenreiche Odysseus«, und vermutlich haben spätere
aoidoi dieses Epitheton nachträglich in die »Ilias« eingefügt, um
ihre Zuhörer damit an die »Odyssee« zu erinnern.
Archäologische Materialien geben zu erkennen, daß dem
- 373-
Odysseus zu irgendeiner Zeit nach 1000 v. Chr., mit Sicherheit
jedoch vor 800 v. Chr. in bedeutendem Umfang Weihegaben
dargebracht wurden. 9 Zuweilen waren dies dreifüßige
Bronzekessel, die in eigenartigem Zusammenhang mit dem Kult
standen. Es waren Weihegaben, wie man sie in älterer Zeit
einem Gott dargebracht hätte. Spätestens vom neunten
Jahrhundert v. Chr. an und damit just zu einem Zeitpunkt, da die
Insel im Begriff stand, von einer neuen Invasionswelle aus
Korinth überrannt zu werden, wurden auf Ithaka Kampfspiele zu
Ehren des Odysseus abgehalten. Mit einem Wort: Odysseus, der
Listenreiche, ist der Held der neuen Mentalität, mit der man sich
in einer zertrümmerten Welt und im Zustand der Götterferne
forthilft.
Die »Odyssee« signalisiert dies schon im allerersten Vers mit
dem Wort polytropon (vielverschlagen). Sie ist das Epos des
gewundenen Wegs zum Ziel. Ihr Thema ist die
»Verschlagenheit«: Sie wird hier entdeckt, erfunden und
gefeiert. Die »Odyssee« singt von indirekten Strategien,
Verkleidungen und Täuschungen, von Verwandlungen und vom
Wiedererkennen, von Zauberkräutern und Gedächtnisverlust, sie
handelt von Menschen in anderer Menschen Rolle, von
Geschichten in Geschichten, vom Menschen im Menschen.
Der Gegensatz zur »Ilias« ist erstaunlich. In Reden und Taten
wie in den Charakteren der Akteure kommt in der »Odyssee«
eine neue und andere Welt zur Anschauung, eine Welt, die neue
und andere Wesen beherbergt. Die bikameralen Götter der
»Ilias« sind auf dem Weg in die »Odyssee« verunsichert und
kraftlos geworden. Immer öfter legen sie jetzt Verkleidungen an
und finden sogar an Hexereien Gefallen. Bikameralität ist per
definitionem nur mehr in stark verringertem Maß am
Handlungsablauf beteiligt. Die Götter haben gegenüber früher
9
S. Benton, zitiert nach T. B. L. Wehster, a. a. O. (vgl. Fußnote auf Seite
104), S. 138.
- 374-
nicht mehr soviel zu tun, und gleichsam wie pensionierte
Gespenster reden sie jetzt mehr miteinander – und das mit
ermüdender Weitschweifigkeit! Die Geschehensinitiative geht
ihnen verloren, ja richtet sich oftmals gegen sie und wandert
mehr und mehr in die Hände der bewußten menschlichen
Akteure, wenngleich diese noch der Aufsicht eines Zeus
unterliegen, der sich mit Einbuße seiner absoluten Macht zum
König-Leargleichen Advokaten der Gerechtigkeit gewandelt
hat. Seher und Omina, diese Erkennungszeichen des
Zusammenbruchs der bikameralen Psyche, sind weitverbreitete
Erscheinungen. Halbgottheiten, entmenschende Zauberinnen;
Kyklopen und Sirenen- Wesen, vergleichbar jenen Genien, die,
wie wir gesehen haben, einige Jahrhunderte früher auf den
Basreliefs der Assyrer den Zusammenbruch der Bikameralität
signalisierten – bezeugen einen tiefgreifenden Wandel der
Mentalität. Und in den großen thematischen Motiven der
»Odyssee« – den Motiven von Irrfahrten fern der Heimat, vom
Gefangen- und Versklavtsein, von verborgenen und
wiedergefundenen Dingen – hören wir zweifellos den Widerhall
des Zusammenbruchs der Gesellschaft unter dem Ansturm der
dorischen Invasoren, als das subjektive Bewußtsein sein Debüt
auf der griechischen Geschichtsbühne gab.
Auf statistischer Ebene ist zunächst der Wandel in der
Häufigkeit benutzter vorbewußter Hypostasen zu vermerken.
Einschlägige Befunde ergeben sich leicht aus dem Vergleich
von Wortkonkordanzen zur »Ilias« und zur »Odyssee«. Als
eindrucksvolles Ergebnis zeigt sich eine nachhaltige Zunahme
im Gebrauch von phrenes, noos und Psyche sowie ein deutlicher
Rückgang im Gebrauch von thymos. Natürlich könnte man hier
nun einwerfen, daß sich der verminderte Gebrauch von thymos
in der »Odyssee« im Vergleich mit der »Ilias« ganz von selbst
aus der andersgearteten Thematik jener Dichtung erklärt. Doch
das hieße an der eigentlichen Frage vorbeigehen. Denn der
- 375-
Themenwandel selbst ist ja Teil dieses ganzen Umbruchs in der
ureigensten Menschennatur. Die zuerst genannten Hypostasen
sind passiv. Thymos dagegen, die adrenalinerzeugte
Notfallreaktion des sympathischen Nervensystems auf
ungewohnte Situationen, ist alles andere als passiv. Um dieses
jäh anschwellende Energiepotential als Metaphoranden herum
läßt sich nicht jenes Feld vo n passivvisuellen Metaphern
aufbauen, das sich als geeignet für die Aufgabe des
Problemlösens erweist.
Demgegenüber verdoppelt sich der Gebrauch von phrenes in
der Zeitspanne zwischen »Ilias« und »Odyssee«, während er
sich für noos wie Psyche verdreifacht. Auch hier könnte man
einwenden, daß sich im vermehrten Gebrauch dieser Wörter
lediglich der Themenwandel widerspiegelt. Und wiederum
müßte man entgegnen: eben das ist der springende Punkt. Aus
der Dichtung als objektiver Schilderung eines äußeren
Geschehe ns wird auf dem Weg der Subjektivierung eine
Dichtung des selbstbewußten Persönlichkeitsausdrucks.
Aber nicht allein, wie häufig diese Ausdrücke vorkommen,
interessiert uns hier, sondern auch ihr veränderter Sinn und die
zu seiner Verdeutlichung benutzten Metaphoratoren. Während
die Bedeutung der Götter als Lenker der menschlichen
Angelegenheiten zurückgeht, übernehmen die vorbewußten
Hypostasen einen Teil der göttlichen Funktion und bringen diese
damit dem Bewußtseinszustand näher. Thymos, wenngleich
nicht mehr so häufig wie früher, ist immer noch der
meistgebrauchte hypostatische Ausdruck. Und seine Funktion ist
eine andere geworden. Er ist in die subjektive Phase eingetreten
und ähnelt jetzt einer Person für sich. Sein thymos »befiehlt«
dem Sauhirten, zu Telemachos zurückzukehren (16, 466). In der
»Ilias« hätte in gleicher Lage ein Gott das Wort ergriffen. In
dem älteren Epos kann ein Gott menos, Heldenkraft, in das
»Behältnis« thymos »eingeben«; aber in der »Odyssee« kann ein
- 376-
ganzer Wiedererkennensakt darein »gegeben« werden.
Eurykleia erkennt Odysseus unter seiner Verkleidung an der
Narbe, weil ein Gott diese Erkenntnis in ihren thymos »gelegt«
hat (19, 484). (Man beachte, daß sie Wiedererkennen zeigt, doch
kein Erinnern.) Und die Mägde der Penelope tragen das Wissen
von der Abfahrt ihres Sohnes im thymos (4, 730).
Auch die phrenes besitzen jetzt die räumliche Qualität der
dritten Phase. Sogar die Schilderung eines möglichen
Zukunftsereignisses kann in die phrenes gelegt werden, so etwa,
wenn Telemachos geheißen wird, auf die Frage, warum er die
Waffen vor den Freiern verwahrt habe, als Vorwand anzugeben,
ein daimon (in der »Ilias« hätte es wenigstens ein Gott sein
müssen) habe ihm in die phrenes gelegt: »daß ihr nicht etwa,
wenn ihr vom Wein berauscht seid und unter euch einen Streit
anhebt, einander verwundet« (19, 10). In der »Ilias« gibt es
keine Geheimnisse, dagegen viele in der »Odyssee«, und diese
werden in den phrenes »bewahrt« (16, 459). Während die
vorbewußten Hypostasen in der »Ilias« fast immer unzweideutig
lokalisiert waren, verwischt ihr zunehmend metaphorischer
Charakter in der »Odyssee« ihre anatomischen Kennungen.
Einmal wird sogar der thymos in der Lunge – den phrenes –
angesiedelt (22, 38).
Aber es gibt noch eine andere und sogar noch wichtigere
Verwendungsweise von phrenes, des Wortes, das ursprünglich
die Lunge und später die komplexen Empfindungen beim
Atmen bezeichnete. Sie indiziert die ersten Anfänge der
Moralität. Von den göttlich gesteuerten Marionetten der »Ilias«
besitzt keine so etwas wie Moral. Gut und Böse existiert für sie
nicht. In der »Odyssee« dagegen kann Klytaimnestra sich dem
Aigisthos widersetzen, weil ihre phrenes »agathai« sind: ein
Wort, das möglicherweise aus einer Wurzel abgeleitet ist, von
der es die Bedeutung »gottähnlich« haben könnte. An anderer
Stelle sind es die agathai – die göttlichen oder guten phrenes
des Sauhirten Eumaios, die ihn daran erinnern, den Göttern eine
- 377-
Weihegabe darzubringen (14, 421). Und gleicherweise sind die
agathai die guten phrenes der Penelope für ihre Keuschheit und
ihre Treue zu Odysseus verantwortlich (19, 124). Noch ist nicht
Penelope selber gut, sondern lediglich der metaphorische Raum
in ihrer Lunge.
Ähnlich verhält es sich mit den anderen Hypostasen. Während
Odysseus schiffbrüchig auf der stürmischen See umhertreibt,
»hört« er Untergangsahnungen aus seiner kradie: aus dem
pochenden Herzen (5, 389). Und es ist seine ker, also wiederum
das bebende Herz oder vielleicht die bebenden Hände, die Pläne
für die Vernichtung der Freier schmiedet (18, 344). In der
»Ilias« hätte sich in dieser Situation ein Gott zu Wort gemeldet.
Der noos wird zwar häufiger angeführt, manchmal jedoch mit
unveränderter Bedeutung. Aber meistenteils befindet er sich
ebenfalls in der dritten (subjektiven) Phase. Einmal versucht
Odysseus, Athene hinters Licht zu führen (in der »Ilias« eine
unvorstellbare Situation!), indem er ihr mit treuherzigem Blick
ein Lügenmärchen erzählt und zugleich in seinem noos
viellistige Gedanken wälzt (13, 255). Oder der noos ist wie eine
Person: erfreut (8, 78) oder gewalttätig (18, 381), nicht zu
hintergehen (10, 329) oder ein Wesen zum Kennenlernen (1, 3).
Psyche bedeutet auch hier wieder Leben, diesmal jedoch
womöglich etwas mehr als abgegrenzte Strecke in der Zeit
empfunden. Auf einige hochbedeutsame Ausnahmefälle wird an
späterer Stelle zurückzukommen sein.
Das Fortschreiten in Richtung auf das subjektive Bewußtsein
ist in der »Odyssee« nicht nur an der zunehmenden
Verwendung, räumlich dimensionierten Innerlichkeit und
Personifikation der vorbewußten Hypostasen abzulesen, sondern
ebensowohl und sogar noch deutlicher an den Ereignissen und
den sozialen Beziehungen. Hierzu gehört die bereits erwähnte
Hauptrolle, die Betrug und Hinterlist in dieser Dichtung spielen.
In der »Ilias« gibt es allenfalls verwaschene und ungenaue
- 378-
Zeitbezüge. Dagegen findet sich in der »Odyssee« eine
zunehmende Spatialisierung der Zeit im Gebrauch solcher
zeitliche Modalität ausdrückenden Wörter wie »beginnen«,
»zögern«, »rasch«, »dulden« und so weiter sowie im nunmehr
häufiger vorkommenden Zukunftsbezug. Außerdem hat sich das
Zahlenverhältnis
zwischen
abstrakten
und
konkreten
Ausdrücken zugunsten der ersteren verschoben, und zwar vor
allem dank Wörtern, denen im Deutschen Nominalbildungen
mit der Endsilbe »heit« entsprechen würden. Hand in Hand
damit geht, wie nicht anders zu erwarten, eine merkliche
Abnahme der ausgeführten Vergleiche: sie werden weniger stark
benötigt. Sowohl die Häufigkeit, mit der Odysseus von sich
selbst spricht, als auch die Art, wie er es tut, liegen auf einer
ganz anderen Ebene als die Fälle von Selbstbezüglichkeit in der
»Ilias«. Das alles steht im Zusammenhang mit der
Herausbildung einer neuen Mentalität.
Ich beschließe diese notgedrungen kurzen Bemerkungen über
ein Gedicht von überragender Bedeutung mit dem Hinweis auf
ein Rätsel. Es liegt in dem Umstand, daß die Geschichte, die in
der »Odyssee« erzählt wird, ihrem Schema nach die mythische
Version des Geschehens ist, das ich in diesem Buch
nachzuzeichnen versuche. Die »Odyssee« handelt von der
werdenden Identität, von einer Reise zum Selbst, wie es beim
Zusammenbruch der bikameralen Psyche geschaffen wird. Ich
gebe nicht vor, die Antwort auf die tiefgründige Frage zu
kennen, wie man das zu erklären habe: warum die Musen, diese
Organisationsmuster des rechten Schläfenlappens, die durch den
Mund der aoidoi dieses Epos singen, ihren eigenen Sturz, ihr
Verklingen und Verschwinden im subjektiven Denken
narrativieren und die Heraufkunft einer neuen Mentalität feiern,
die just ihren Gesang überwinden und abstellen wird. Denn dies
ist es doch offenbar, worum die Handlung sich dreht.
Ich meine nämlich – und muß mich anstrengen, mir selbst zu
glauben –, daß diese ganze Sagengeschichte mit ihrer gründlich
- 379-
durchkomponierten Anlage, in der sich unverkennbar die
metaphorische Abbildung des gewaltigen Umschwungs zum
Bewußtsein entdecken läßt, weder in ihren Einzelelementen
verfaßt noch im Großen geplant und kompiliert wurde von
Dichtern, die sich ihres Tuns bewußt gewesen wären. Es ist, als
hätte sich die Gott-Komponente des bikameralen Menschen
früher als die Mensch-Komponente dem Bewußtseinszustand
genähert, die rechte Hemisphäre früher als die linke. Aber wie,
wenn uns der Glaube hier verläßt und wir uns bemüßigt fühlen,
so spöttisch wie theatralisch einzuwerfen: Wie kann ein Epos,
das in sich selbst vielleicht eine Art Impulsgeber für das
Bewußtsein war, von nichtbewußten Menschen verfaßt worden
sein? Dann läßt sich demgegenüber mit der gleichen Theatralik
fragen: Wie kann es von bewußten Menschen verfaßt worden
sein? Und Schweigen wäre hier wie da die Antwort. Beides ist
für uns gleichermaßen unerklärlich.
Aber so stehen nun einmal die Dinge. Und im Schwung der
Episodenfolge, die ihren Ausgang nimmt von dem in
bikameraler Hörigkeit zu seiner schönen Nymphe Kalypso
schmachtenden und am fremden Gestade hilflos schluchzenden
Helden, durch eine Welt von Halbgöttern, Prüfungen, Lug und
Trug mäandert, um jenen schließlich heimzuführen zu lautem,
blutigem Triumph über die schmarotzende Bande der Rivalen;
in seiner Bewegung vom Trancezustand über Maskeraden zum
Sichzuerkennen-Geben, vom Meer aufs Festland, von Ost nach
West, aus der Botmäßigkeit zum Seigneurstatus ist das ganze
Gedicht nur eine einzige lange Odyssee zum Ziel der
subjektiven Identität und zum triumphierenden Ausrufen ihrer
Befreiung aus den halluzinatorischen Sklavenbanden der
Vergangenheit. Auf dem Weg vom willenlosen Gigolo einer
Göttin zum blutbefleckten Löwen auf eigenem Grund und
Boden verwandelt sich Odysseus in »Odysseus«.
DER TÖRICHTE PERSES
- 380-
Einige der in zeitlicher Reihenfolge hier anschließenden
Dichtungen will ich lediglich im Vorbeigehen streifen. Hierzu
gehören die sogenannten »Homerischen Hymnen«, die
größtenteils nachweislich aus sehr viel späterer als homerischer
Zeit stammen. Daneben existieren die im achten Jahrhundert v.
Chr. im nordöstlich von Athen gelegenen Boiotien entstandenen
und ehemals einer Kultfigur namens Hesiod zugeschriebenen
Dichtungen. Leider handelt es sich bei den erhaltenen Texten
häufig
um
Zusammenschnitte
schlecht
emendierter
Gedichtbruchstücke offenkundig unterschiedlicher Herkunft.
Die meisten von ihnen geben für unsere Zwecke wenig her. Die
»Theogonie«, eine häufig umstandskrämerische Aufzählung der
Geschlechter- und sonstigen Beziehungen unter den Göttern,
wird gewöhnlich auf einen Zeitpunkt kurz nach der »Odyssee«
datiert, doch sind hypostatische Wörter hier seltener gebraucht
und zeigen keine Weiterentwicklung. Für uns das Interessanteste
an der »Theogonie« ist, daß ihre Beschäftigung mit dem
Intimleben der Götter möglicherweise als eine Folge von deren
Verstummen aufzufassen ist: als ein weiterer Ausdruck der
Sehnsucht nach dem Goldenen Zeitalter vor der Dorischen
Wanderung.
Weitaus interessanter ist das faszinierende Problem, vor das
ein anderer dem Hesiod zugeschriebener Text mit dem Titel
»Werke und Tage« uns stellt. Es handelt sich offenbar um ein
Ragout aus verschiedenen Ingredienzien, eine Art
Bauernkalender für den boiotischen Landmann – einen
ärmlichen und darbenden Vertreter seines Standes obendrein.
Die Welt der »Werke und Tage« ist weltenweit entfernt von der
Welt der großen homerischen Epen. Statt eines Helden, der in
Botmäßigkeit zu seinen Göttern ein erhabenes Erzählgeschehen
hinter sich bringt, finden wir hier Unterweisungen für den
Landmann, mit dessen Gehorsam gegenüber den Göttern es
bestellt sein mag, wie es will: praktische Lehren, wie er seine
Arbeit verrichten solle, und Auskunft über die vom Glück
- 381-
gesegneten Tage; und wir finden außerdem ein
hochinteressantes neues Gerechtigkeitsgefühl.
Oberflächlich betrachtet, scheint diese Mixtur aus
ungeordneten Einzelheiten des ländlichen Alltags und
sehnsüchtigen Rückblicken in das dahingegangene Goldene
Zeitalter das Werk eines bäuerlichen Verfassers zu sein, und
dieser war nach Meinung der Gelehrten Hesiod. Er hadert, so
wird gemeint, erbost mit seinem Bruder Perses über die
Ungerechtigkeit eines Urteilsspruchs, nach dem ihres Vaters
Besitz geteilt wurde, und erteilt dabei kurioserweise dem Perses
Ratschläge über alles und jedes von der Ethik bis zur Ehe, von
der richtigen Behandlung der Sklaven bis zu den Problemen der
Aussaat und der Abwasserbeseitigung. Der Text wimmelt von
Stellen wie der folgenden:
Törichter Perses! Verrichte die Arbeit, die dem Menschen von
den Göttern bestimmt ist, damit du nicht mitsamt Weib und
Kindern in bitterer Qual des thymos dein Brot bei den Nachbarn
erbetteln mußt (397 ff).
So jedenfalls lesen die meisten Gelehrten diese Dichtung.
Doch eine andere Lesart ist zumindest denkbar. Sie geht von der
Möglichkeit aus, daß die älteren Partien des Werks in
Wirklichkeit nicht von Hesiod – der im Text nirgends erwähnt
wird –, sondern von niemand anderem als dem törichten Perses
selbst geschrieben wurden und daß es sich bei diesen
Hauptteilen der Dichtung um die Gebote seiner bikameralen
göttlichen Stimme handelt, mit denen sie ihn anweist, was er tun
soll. Sollte das dem Leser von der Sache her unmöglich
vorkommen,
möchte
ich
ihn
an
zeitgenössische
Schizophreniekranke erinnern, bei denen es vorkommen kann,
daß sie den ganzen Tag über ähnlich herrische Stimmen hören,
die an ihnen herumkritteln und sie fortgesetzt in ähnlicher
Manier ermahnen.
Vielleicht sollte ich im vorigen den Ausdruck »geschrieben«
zurücknehmen. Höchstwahrscheinlich wurde das Gedicht einem
- 382-
Schreiber zur Niederschrift diktiert, wie das ja auch mit den
bikameralen Mahnworten von Perses Zeitgenossen Amos, dem
israelitischen Hirten, der Fall war. Und ich hätte wohl auch
gleich präzisieren sollen, daß die Urfassung der erwähnten
Hauptteile gemeint ist und daß es sich bei dem in den
Schlüsselzeilen 37-39 vorgetragenen Protest um eine
nachträglich eingefügte Passage handelt (wie gleicherweise auch
bei den Zeilen 654-662, worüber seit Plutarch allgemeine
Übereinstimmung herrscht). Andererseits wäre es auch denkbar,
daß sich diese Zeilen ursprünglich auf eine Art bikameralen
Kampf um die Zügelung von Perses’ bereits zu subjektivem und
damit (zur fraglichen Zeit) unzweckmäßigem Verhalten
bezogen.
Die vorbewußten Hypostasen treten in den »Werken und
Tagen« jeweils mit annähernd gleicher Häufigkeit auf wie in der
»Odyssee«. Die meistbenutzte ist der thymos, der insgesamt
achtzehnmal vorkommt und etwa in der Hälfte dieser Fälle
einfach nur einen der Phase II entsprechenden inneren
Handlungsimpuls meint, beziehungsweise den inneren Ort von
Freude oder Traurigkeit angibt. Die anderen Male jedoch ist es
ein der Phase III entsprechender Raum, in den oder in dem
Informationen (27), Rat (297, 491), Anblicke (296) oder Ränke
(499) »gelegt«, »behalten« oder »bewahrt« werden können.
Auch die phrenes sind wie ein Schrank, in dem der in dem
Gedicht fortgesetzt erteilte Rat (107, 274) gestapelt werden und
wo ihn der törichte Perses sorgsam »betrachten« soll. Zur kradie
tritt eher der Metaphorator »Person« als »Behältnis« hinzu: Sie
kann anmutig (340) oder aufgebracht (451) sein, kann etwas
mögen oder nicht mögen (681). Psyche (686) und etor (360,
593) dagegen lassen keine Weiterentwicklung erkennen und
bedeuten einfach nur Belebtheit oder Bauch.
Der noos erweist sich in den »Werken und Tagen« insofern
als interessant, als er in allen vier Fällen seines Vorkommens
einer Person in ihrer moralischen Dimension gleicht. Zweimal
- 383-
(67, 714) zeigt er Scham oder läßt sie vermissen, und ein
andermal ist er adikos, ohne die rechte Lenkung (260). Eine
eingehendere Untersuchung würde die speziellen Details in der
Entwicklung des Ausdrucks dike herauszuarbeiten haben. Die
ursprüngliche Bedeutung war »zeigen« (sie ist in Resten
erhalten im lat. digitus, engl. digit, Finger), und wo das Wort
dike in der »Ilias« vorkommt, ließe es sich am
zurückhaltendsten mit »Lenkung«, »Direktive« im Sinn von
»zeigen, was zu tun ist«, übersetzen. Sarpedon schirmt Lykien
mittels seiner dike (»Ilias« 16, 542). In den »Werken und
Tagen« dagegen hat das Wort die Bedeutung von gottgegebenen
Direktiven oder Recht angenommen, und darin ist
möglicherweise ein Ersatz für die Götterstimmen zu sehen. 10 Ein
stummer Zeus, der Sohn einer mittlerweile spatialisierten Zeit,
setzt hier erstmals Bike oder Recht annähernd in der Form, wie
wir sie aus der späteren griechischen Literatur kennen (etwa in
Vers 267 ff). Wie unendlich fremd ist der amoralischen Welt der
»Ilias« der Gedanke, daß eine ganze Stadt für die Bosheit eines
einzelnen zu büßen haben könnte (240)!
Unser Rechtsempfinden hängt von unserem Zeitempfinden
ab. Recht ist nur als Phänomen einer Bewußtseinswelt möglich,
denn eine als räumliche Erstreckung verbildlichte Zeit ist sein
allerwesentlichstes Konstituens. Recht erwächst also nur auf der
Grundlage
der
Metaphorisierung
von
Zeit
mittels
Raumkategorien.
Beispiele
für
diese
zunehmende
Spatialisierung der Zeit finden sich in den »Werken und Tagen«
allenthalben. Ein Gewaltakt zu einem gegebenen Zeitpunkt zieht
seine Bestrafung zu irgendeinem späteren Zeitpunkt nach sich
(245 f). Weit und steil ist der Weg zur Rechtschaffenheit (290).
10
Daß freilich der Ursprung dieser neuen Vorstellung von einem
gottgesandten Recht eine halluzinierte Sendbotin des Zeus sein könnte, deutet
sich an, wenn es von Dike heißt, daß sie weint und klagt, wenn Menschen
sich bestechlich zeigen und übelrun (220 f). Meine Etymologie des Wortes
dike weicht von der geläufigen ab.
- 384-
Rechtschaffen ist der Mensch, der sieht, was hinterher das
Bessere ist (294). Füge Kleines zu Kleinem, und es wird Großes
daraus (362). Wirke mit einmal Gewirktem neues Werk, um
Reichtum zu erlangen (382). All diese Vorstellungen sind
unmöglich, solange das Davor und Danach der Zeit nicht zu
einer räumlichen Erstreckung metaphorisiert ist. Diese
Grundkomponente des Bewußtseins, die sich in den assyrischen
Gebäudeinschriften um 1300 v. Chr. zu zeigen begann (vgl.
Seite 305 f), ist mittlerweile recht weit gediehen.
Es kommt hier entscheidend darauf an zu sehen, wie eng
dieses neue Rechts- und Zeitempfinden mit etwas gekoppelt ist,
das man die Profanisierung der Aufmerksamkeit nennen könnte.
Darunter verstehe ich die Verschiebung der Aufmerksamkeit auf
die Alltagsprobleme der Daseinsvorsorge – etwas, das den
gewaltigen, von Göttern entworfenen Epen der vorausliegenden
Zeit vollkommen fremd ist. Ob die »Werke und Tage« nun
ihrerseits noch göttlicher Inspiration entsprunge n oder ob sie,
der Mehrheitsmeinung der Gelehrten zufolge, bloß mürrische
Ermahnungen von Perses’ Bruder Hesiod sind: gleichviel – in
jedem Fall bezeichnen sie einen dramatischen Wendepunkt in
der Interessenrichtung der Menschen. Anstelle des grandios
unpersönlichen Berichts finden wir hier den detaillierten
Persönlichkeitsausdruck.
Anstelle
einer
alterslosen
Vergangenheit finden wir eine lebhaft dargestellte Gegenwart,
die eingespannt ist zwischen Vergangenheit und Zukunft. Und
es ist eine rauhe und dürftige Gegenwart, die bäuerliche Realität
der nachdorischen Zeit, gezeichnet von elementarer Not und der
Mühsal, dem Boden ein Auskommen abzuringen; und an der
Peripherie dieser Sphäre lagert noch sehnsüchtiges Heimweh
nach dem großartigen Goldglanz der bikameralen mykenischen
Welt, besiedelt von einem gerechteren und edleren Geschlecht,
einem göttlichen Heldengeschlecht von Menschen, die
Halbgötter genannt werden, dem Geschlecht vor dem unseren
allüberall auf der grenzenlosen Erde (158 ff).
- 385-
Beinahe hätte ich hingeschrieben, daß sich das griechische
Bewußtsein in den »Werken und Tagen« seiner Vollendung
nähert. Es wäre jedoch eine sehr irreführende Metapher
gewesen, das Bewußtsein mit einer Sache gleichzusetzen, die
auf dem Weg des Aufbaus, der Heranbildung oder der Formung
zur Vollendung oder in einen Fertigzustand gebracht wird. So
etwas wie ein fertiges Bewußtsein gibt es nicht.
Der Sachverhalt, den ich so bezeichnet hätte, ist der, daß die
grundlegenden Metaphorisierungen: der Zeit mittels des Raums,
innerer Hypostasen als Personen in einem mentalen Raum
begonnen haben, sich zu Leit- und Kontrollinstanzen des
Alltagslebens herauszupräparieren.
Gegenüber dieser Entwicklung scheint die griechische Poesie
des siebten Jahrhunderts v. Chr., die chronologisch hier
anschließt, fast einen Abstieg zu bezeichnen. Doch liegt dies
daran, daß von dem, was die Lyriker und Elegiker dieser Epoche
hervorbrachten, nur bitter wenig dem Zerstörungswerk der Zeit
entronnen ist. Wenn wir uns hier sinnvollerweise auf diejenigen
beschränken, von denen sich mindestens ein rundes Dutzend
Gedichtzeilen erhalten hat, haben wir es mit nicht mehr als
sieben Dichtern zu tun.
Bei diesen handelt es sich das verdient zuallererst Erwähnung
– nicht um Dichter im heutigen Wortsinn. Ihre soziale Rolle
ähnelte vielmehr der der Propheten im zeitgenössischen Israel:
Sie waren heilige Lehrer der Menschen; die von den Königen im
Bedarfsfall zu Schiedsrichtern in Rechtsstreitigkeiten oder zu
Heerführern berufen wurden; mit manchen ihrer Funktionen
rücken sie in die Nähe von Schamanen, wie wir sie bei den
heute noch existierenden Stammeskulturen kennen. Zu Anfang
des Jahrhunderts war ihre Aufgabe vermutlich noch mit den
kultischen Tänzen verknüpft. Doch nach und nach
verselbständigte sich ihr Dichten gegenüber dem Tanz und
seiner religiösen Aura zu profaneren Gesängen, die zur Leier
oder mit Flötenbegleitung vorgetragen wurden. Dieser
- 386-
künstlerische
Wandel
ist
jedoch
lediglich
eine
Nebenerscheinung von Wandlungen sehr viel bedeutenderer Art.
Die »Werke und Tage« waren Ausdruck der Gegenwart. Die
neue Poesie ist Ausdruck der Person in dieser Gegenwart –
dieses bestimmten Individuums in seinen Unterschieden zu
anderen. Und sie ist zugleich Feier des individuellen
Unterschieds. Und in den Verfahrensweisen, die sie dabei
anwendet, können wir den fortschreitenden Ausbau der älteren
Hypostasen zum Seelenraum des Bewußtseins beobachten.
In die erste Jahrhunderthälfte fällt die Lebenszeit des
Terpandros, des Erfinders des Trinklieds, wenn man Pindar
glauben darf. Insgesamt dreizehn, Gedichtzeilen haben sich von
ihm erhalten, und eine von ihnen schickt über die Jahrhunderte
hinweg den Ruf:
Vom fernhintreffenden Gebieter singt mir, o phrertes!11
Das ist interessant. Mit dem »Gebieter« ist Apollon gemeint.
Man beachte jedoch, daß dem nun zwar ein nostalgisches
Gedicht auf einen verlorenen Gott folgen soll, daß aber kein
Gott und keine Muse angerufen wird, es zu erdichten. In der
»Odyssee legt ein Gott dem Sänger die Gesänge in die phrenes,
die er dann vorträgt, wie wenn er sie dort gleichsam vom Blatt
läse (22, 347). Terpandros hingegen, der keine Götter mehr hört,
bittet seine eigenen phrenes, ein Lied für ihn zu erdichten,
geradeso als ob sie ein Gott wären. Und diese implizite
Gleichsetzung zusammen mit den assoziierten Paraphoranden
eines Existenzraums der gottgestaltigen phrenes ist, so meine
ich, auf dem besten Wege, den Seelenraum plus Analogon »Ich«
des Bewußtseins zu erschaffen.
11
Fr. z in det Loeb-Ausgabe (Lyra Graeca, hg.. von J. M. Edmonds, London:
Heinemann 1928). Alle Quellenangaben bis zum Kapitelende beziehen sich
auf diese Ausgabe, und zwar entweder auf den erwähnten Band Lyra Graeca
oder die Parallelbände Elegy and Iambus 1 u. 2 (ebenfalls hg. von J. M.
Edmonds, London: Heinemann 1931).
- 387-
Aber nicht nur im Wortgebrauch, sondern auch in den
Themen der Dichtung wird der Wandlungsprozeß während des
siebten
Jahrhunderts
greifbar.
Profanisierung
und
Personalisierung der Inhalte, die mit den » Werken und Tagen«
eingesetzt hatten, überschwemmten gegen die Mitte des
Jahrhunderts in den zornigen Jamben des fahrenden Söldners
und Poeten Archilochos aus Paros springflutartig alle Deiche.
Seinem Epitaph zufolge hat er » als erster eine gallige Muse mit
Schlangengift benetzt und den sanften Helikon mit Blut
befleckt« – letzteres eine Anspielung auf die Anekdote,
derzufolge er zwei Menschen durch die Gewalt seiner
Schmähgedichte zum Selbstmord getrieben hat. 12 Schon dieser
Gebrauch der Dichtung für persönliche Rachefeldzüge und zum
Ausdruck persönlicher Vorlieben und Abneigungen war etwas
in der Welt bis dahin Unerhörtes. Und einige der erhaltene n
Fragmente kommen dem modernen reflexiven Bewußtsein so
nahe, daß der Untergang des größten Teils von Archilochos’
Gedichten als einer der schwerwiegendsten Verluste für die alte
Literaturgeschichte betrachtet werden muß.
Doch die von Archilochos nie gehörten Götter herrschen noch
immer über die Welt. Der siegreiche Ausgang liegt bei den
Göttern (Fragment 55). Und die Hypostasen bleiben. Die
schädlichen Auswirkungen des Trinkens (Fr. 77) und des Alters
(Fr. 94) treten in den phrenes auf; und wenn Archilochos
bekümmert ist, dann ist es sein thymos, der niedergeschlagen
wurde wie ein kraftloser Krieger und nun ermahnt wird: »erhebe
deinen Blick und verteidige dich gegen deine Gegner« (Fr. 66).
Archilochos redet seinen thymos an, als sei er eine Person für
sich, und diese implizite Gleichsetzung, in der als
Paraphoranden ein Raum und ein vom Selbst »beobachtetes«
»Selbst« mitspielen, bedeutet einen weiteren Schritt in Richtung
auf das dem folgenden Jahrhundert zugehörige Bewußtsein.
12
Nach der (um 920 n. Chr. aus älteren Quellen kompilierten) Anthologia
Palatina. Vgl. Edmonds’ Elegy and Jambus 2 (Fußnote auf Seite 343) S. 97.
- 388-
Als nächste in der chronologischen Reihenfolge kommen
Kallinos und Tyrtaios, zwei andere Soldatendichter, deren
erhaltene Fragmente uns wenig Aufschluß bringen. Die
meistgebrauchte Hypostase ist bei ihnen der thymos, und
meistenteils schärfen sie dem Hörer ein, im Kampf einen festen
thymos zu bewahren.
Und dann, um 630 v. Chr., zwei Poeten anderen Schlags:
Alkman und Mimnermos. Sie wollen niemandem etwas
einschärfen; sondern zelebrieren in nie zuvor gekannter Weise
ihr eigenes subjektives Empfinden. »Wer vermag vom noos
eines anderen Bericht zu geben?« (Fr. 55), fragt der erste, wobei
er den noos metaphorisch zu einem Geschehen macht – mit
allem, was dies an paraphorischen Konsequenzen nach sich
zieht. Und Mimnermos klagt über Lieblosigkeiten, die seine
phrenes aufreiben (Fr, 1), und über die »Sorgen, die im thymos
aufsteigen« (Fr. 2). Die schlichten Hypostasen der homerischen
Epen liegen weit zurück.
Am Ende dieses zukunftsweisenden Jahrhunderts stehen die
Gedichte des Alkaios und – beachtenswert sie vor allem – die
schmachtende Leidenschaft der mannhaften Sappho, der zehnten
Muse, wie Platon sie genannt hat. Über ihren thymos und ihre
phrenes sagen diese beiden Dichter aus Lesbos die üblichen
Dinge, wobei sie die beiden Ausdrücke ungefähr mit der
gleichen Häufigkeit benutzen. Sappho besingt sogar die theloi,
die Zurüstungen, ihres thymos, aus denen dann späterhin unser
Wünschen und Wollen wird (Fr. 36, 3). Und sie ist praktisch die
Erfinderin der Liebe im romantischmodernen Sinn. Die Liebe
drückt qualvoll auf ihren thymos (Fr. 43) und wühlt in ihren
phrenes wie ein Sturmwind in einem Eichbaum (Fr. 54). Von
größerer Bedeutung ist jedoch die Entwicklung des Ausdrucks
noema. Gegen Ende des siebten Jahrhunderts hat sich für das
noema eine Bedeutung herauskristallisiert, die sich als ein
Zusammenfluß dessen darstellt, was wir von Fall zu Fall
- 389-
differenzierend als Gedanke, Wunsch, Absicht und ähnliches
bezeichnen würden; das noema in diesem Sinn fließt zusammen
mit den theloi des thymos. »Wenn Zeus erfüllen will, was unser
noema ist«, sagt Alkaios (Fr. 43). Von einem, den er reden hört,
meint er, daß er »sein noema nicht im geringsten verheimlicht
(oder entschuldigt)« (Fr. 144). In den erhaltenen Bruchstücken
der Sappho wird das Wort dreimal gebraucht: gegenüber
denjenigen, die sie liebt, »kann mein noema sich niemals
wandeln« (Fr, 14); ihr »noema ist nicht so nachgiebig gegenüber
dem Zorn eines Kindes« (Fr. 35); und sie klagt: »ich weiß nicht,
was tun, meine noemata sind entzweit ...« (Fr. 52). Damit
verschiebt sich das Aufmerksamkeitszentrum auf das
vorgestellte innere Metapher-Ding, das zu einem Gedanken
hypostasiert wird. Die Liebe ist es, die die Menschheit das
Introspizieren, die Selbst-Beobachtung, lehrt. Und bei Sappho
findet sich sogar schon ein Wort, das synoida lautet (Fr. 15),
»mit(jemandem gemeinsam um etwas)wissen«, dem dann das
lateinische Wort für Bewußtsein nachgebildet wird: conscius
bzw. conscientia.
Bei diesen sieben Dichtern des siebten Jahrhunderts haben wir
also die bemerkenswerte Entwicklung zu verzeichnen, daß mit
dem Wechsel des Sujets von der kriegerischen Anfeuerung zum
persönlichen Gefühlsausdruck, zumal dem von Liebe, die
Verwendungsweise der mentalen Hypostasen und deren Kontext
sich mehr und mehr dem annähern, was für uns das subjektive
Bewußtsein ist.
Es sind jedoch trübe historische Gewässer, in denen wir uns
hier bewegen, und wir dürfen überzeugt sein, daß diese sieben
Poeten, von deren Gedichten ein paar Bruchstücke auf der für
uns sichtbaren Oberfläche des siebten Jahrhunderts treiben, nur
Zufallsrepräsentanten vo n vielen sind, die neben ihnen
existierten und ebenso wie sie ihren Teil zur Entwicklung jener
neuen Mentalität beitrugen, die wir Bewußtsein nennen.
- 390-
SOLONS GEIST
Ich für meinen Teil bin der Ansicht, daß jene sieben ihre
Zeitgenossen auf keinen Fall erschöpfend repräsentieren
können, da bereits der zeitlich nächste uns bekannte Dichter sich
spektakulär von ihnen allen unterscheidet. Er ist der
Morgenstern des griechischen Geistes und der Mann, der nach
unserer Kenntnis ganz allein der Idee der Rechtsordnung
menschlicher Verhältnisse zu wirklich präziser Bedeutung
verhalf. Die Rede ist von dem Athener Solon, dessen öffentliche
Erscheinung sich am Eingang des grandiosen sechsten
Jahrhunderts v. Chr. – des Jahrhunderts der Thales,
Anaximander und Pythagoras – abzeichnet. Es ist das
Jahrhundert, in dem wir uns zum erstenmal geistig zu Hause
fühlen können in der Gesellschaft von Menschen, deren
Denkweise in etwa der unseren entspricht.
Das Tempo, in dem sich die griechische Kultur jetzt zur
Hochblüte entfaltet, ist erstaunlich. Und an Solon, der am
Anfang von alledem steht, ist erstaunlich allein schon sein
Gebrauch des Wortes noos. Bei den Dichtern, die wir eben
betrachtet haben, kommt es selten vor. Dagegen wird es in den
(rund) 280 Zeilen, die uns von Solon überliefert sind, achtmal
verwendet. Das entspricht der extrem hohen Wortfrequenz von
4,4 Promille. Der Befund läßt erkennen, daß wir es mit der
vierten (subjektiven) Phase zu tun haben, in der die
verschiedenen Hypostasen sich zur Einheit zusammenschließen.
Thymos kommt bei Solon nur zweimal, phrenes und etor nur je
einmal vor.
Aber auch das, was er inhaltlich über den noos zu sagen hat,
ist die erste echte Aussage über den subjektiv bewußten Geist.
Er spricht von solchen, deren noos nicht artlos, das heißt intakt
oder ein Ganzes, sei (Fr. 6). In Bezug auf einen
Wiedererkennungsakt eine völlig unmögliche Aussage!
Fehlerhaft an einem schlechten Führer ist sein noos (Fr. 4): In
seiner homerischen Bedeutung ließ das Wort keine moralischen
- 391-
Epitheta zu. Etwa mit 42 Jahren ist »eines Mannes noos in allem
ausgebildet«: Mit Sicherheit betrifft dies nicht sein visuelles
Wahrnehmungsvermögen. Und in den ,Fünfzigern sind »noos
und Redegabe auf der Höhe ihrer Kraft« (Fr. 27).
Ein anderes Fragment bezeichnet den Anfang eines echten
Begriffs von persönlicher Verantwortlichkeit: Hier rät Solon den
Athenern, die Schuld am eigenen Unglück nicht bei den Göttern,
sondern bei sich selber zu suchen. Das steht in diametralem
Gegensatz zum Geist der »Ilias«. Und er fährt fort:
»Jeder von euch geht mit den Schritten eines Fuchses; euer
aller noos ist chaunos (das heißt: porös oder schwammig oder
zerfasert): denn ihr achtet auf eines Menschen Zunge und
wechselhafte Rede und niemals auf seine Taten« (Fr. 10).
Weder Achilleus noch der erfindungsreiche Odysseus, und
selbst der törichte Perses nicht (oder sein Bruder), hätten diese
Ermahnung »verstanden«.
Bewußtsein und Moralität wachsen auf einem Holz. Denn in
Ermangelung von Göttern muß eine im Bewußtsein der Folgen
seines Handelns gründende Moralität dem Menschen sagen, was
er tun soll. Die dike oder Rechtssatzung der »Werke und Tage«
ist bei Solon noch weiterentwickelt. Es ist nun das moralisch
Richtige, das beim Ausüben der Regierungsmacht getroffen
werden muß und das die Ausgangsbasis des Rechts und des
rechtmäßigen Handelns abgibt.
Zuweilen wird Solon noch eine Reihe von Aussprüchen
zugeschrieben, die auch die bekannte Ermahnung zum
»Maßhalten in allen Dingen« (meden agan) umfaßt. Passender
zum vorliegenden Thema ist das noch berühmtere »Kenne dich
selbst!« (gnothi seauton), für das manchmal Solon als Autor
angegeben wird, das aber möglicherweise von einem seiner
Zeitgenossen stammt. Auch dies wäre für den homerischen
Helden etwas Unvorstellbares gewesen. Wie macht man das,
- 392-
sich selber kennen? Indem man einsam für sich Erinnerungen an
die eigenen Handlungen und Gefühle in Gang setzt und sie
zusammen mit einem Analogon »Ich« betrachtet, sie
konzeptualisiert, in Charaktereigenschaften einteilt und einen
narrativen Zusammenhang schafft, aus dem hervorgeht, wie man
sich in dieser oder jener Situation wahrscheinlich verhalten
wird. Man muß »sich selbst« wie ein Ding in einem imaginären
»Raum« »sehen« – dies sind faktisch die autoskopischen
Illusionen, wie wir sie in einem der Anfangskapitel (Seite 39 ff)
genannt haben.
Mit einem Schlag sehen wir uns also ins moderne Zeitalter
der Subjektivität versetzt. Wir können nur bedauern, daß die
Literatur des siebten Jahrhunderts v. Chr. in solch spärlichem
Umfang und so bruchstückhafter Form auf uns gekommen ist:
das Auftauchen des subjektiven Bewußtseins in nahezu voll
entfalteter Form bei Solon wirkt dadurch fast unverständlich,
solange wir diesen Staatsmann und Dichter lediglich als Glied
der griechischen Traditionskette begreifen. Doch um Solons
Leben rankt sich eine Vielzahl von Legenden. Und mehrere von
ihnen wollen wissen, er sei ein wehgereister Mann gewesen und
habe sich, bevor er sich für den Rest seines Lebens in Athen
niederließ, wo er den größten Teil seiner Gedichte verfaßte, in
den Ländern Kleinasiens umgetan. So ist zum mindesten die
Mutmaßung gerechtfertigt, daß sein eigentümlicher Gebrauch
des Wortes noos und die Verdinglichung von dessen Sinn zum
imaginären Innenraum des Bewußtseins sich dem Einfluß der
höherentwickelten Kulturvölker des Vorderen Orients
verdanken.
Nicht zuletzt dank seinem Einfluß als überragender politischer
Führer ist mit Solon der Operator Bewußtsein in Griechenland
fest etabliert. Solon verfügt über einen inneren Raum, der noos
heißt und in dem ein Analogon seiner selbst narrativiert,
welches Handeln für das Volk dike oder rechtmäßig ist. Ist die
- 393-
Entwicklung erst einmal so weit gediehen, ist der Mensch erst
einmal imstande, » sich selbst zu kennen«, wie Solons Ratschlag
lautet, imstande, in der linearen Dimension des Innenraums
»Zeiten« zu addieren oder aneinanderzureihen, in sich selber
»hineinzublicken« und seine Welt vor das »Auge« des noos zu
stellen: dann sind die Götterstimmen – zum wenigsten im
Alltagsleben – überflüssig. Sie sind an besondere Orte, die
Tempel, und in besondere Personen, die Orakel heißen,
abgeschoben worden. Und daß der neue einheitliche nous (so
die endgültige Schreibweise), der sich die Funktionen der
anderen Hypostasen einverleibt hatte, auf Erfolgskurs lag, wird
nicht nur durch die gesamte nachfolgende Literatur, sondern
auch durch die Neuorganisation des menschlichen Verhaltens
und der Gesellschaft bezeugt.
Aber wir sind dem Gang unserer Geschichte vorausgeeilt.
Denn in diesem hochbedeutenden sechsten Jahrhundert findet
noch eine andere Entwicklung statt, und zwar eine, die an die
weitere Zukunft eine gewaltige Hypothek an Komplikationen
vererben wird. Sie betrifft den altbekannten Ausdruck Psyche,
der bald auf unvorhersehbar neue Weise verwendet wird. Mit
der Zeit beginnt er sich in Parallele zu nous zu setzen, bis
Psyche und nous dann beliebig miteinander vertauschbar
gebraucht werden; gleichzeitig jedoch zeugt eine bestimmte
Verwendungsweise von Psyche jenes Bewußtsein des
Bewußtseins, das hier am Anfang des Ersten Buches als falsches
Bewußtsein vorgestellt wurde. Hinzu kommt noch, wie ich
gleich plausibel zu machen versuchen werde, daß dieses neue
Konzept ein fast kunstmäßiges Produkt der Begegnung
zwischen griechischer und ägyptischer Kultur darstellt.
DIE ERFINDUNG DER SEELE
Von den hypostatischen Wörtern hat Psyche als letztes die
Komponente
»innerer
Raum«
in
seine
Bedeutung
aufgenommen. Das liegt, wie ich meine, an dem Umstand, daß
- 394-
Psyche = Belebtheit sich für eine Metaphorisierung vom
Behältnis- Typ erst anbot, nachdem die bewußte Spatialisierung
der Zeit so weit fortgeschritten war, daß der Mensch jetzt ein
Leben im Sinne einer Zeitspanne und nicht mehr nur Leben im
Sinne von Atem und Blutstrom hatte. Was freilich die
Weiterentwicklung von Psyche zum Konzept der Seele angeht,
so liegt sie durchaus nicht so klar auf der Hand.
Denn mehr als bei den anderen Hypostasen trifft man bei
Psyche auf verwirrend unterschiedliche Verwendungsweisen,
die sich auf den ersten Blick gegen eine chronologische
Ordnung sperren. In der überwiegenden Zahl der Fälle bedeutet
das Wort, wie erwähnt, Belebtheit. Nach den homerischen Epen
gebraucht beispielsweise Tyrtaios es in diesem Sinn (Fr. 10. 11)
und ebenso Alkaios (Fr. 77B). Und noch Euripides verwendet
im fünften Jahrhundert v. Chr. den Ausdruck »seiner Psyche
zugetan sein« in der Bedeutung »am Leben hängen« (»Iphigenie
in Aulis«, Vers 1385). In manchen aristotelischen Schriften
kommt Psyche ebenfalls mit der Bedeutung »Belebtheit« vor,
und dieser Wortgebrauch setzt sich fort bis in viele Stellen des
Neuen Testaments. »Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte läßt
seine Psyche für die Schafe«, heißt es im Johannesevangelium
(10, 11). Jesus meinte hier nicht seinen Geist oder seine Seele.
Nun aber der Dreiundzwanzigste Gesang der »Ilias«: Hier
erscheint gleich zu Anfang (65 ff) dem Achilleus die Psyche des
toten Patroklos im Traum, und als der Träumer die Arme nach
ihr ausstreckt, versinkt sie schwirrend in die Erde. In den
gespenstischen Hadesszenen des Elften und Vierundzwanzigsten
Gesangs der »Odyssee« ist Psyche im gleichen Sinn gebraucht.
Der Ausdruck meint in diesen Fällen fast das genaue Gegenteil
von dem, was er in »Ilias« und »Odyssee« sonst bedeutet: nicht
Leben, sondern was da ist, nachdem das Leben gewichen ist.
Nicht was im Kampf als Blut aus den Wunden verströmt,
sondern die Geist-Seele, die in den Hades einzieht – eine
Auffassung, die der griechischen Literatur vor Pindar, also bis
- 395-
etwa um 500 v. Chr., sonst gänzlich unbekannt ist. Für sämtliche
Autoren des achten und siebten Jahrhunderts v. Chr., die wir
bisher erwähnten, ist die Psyche niemals die Geistseele, sondern
hat stets die ursprüngliche Bedeutung von Leben oder besser:
Belebtheit.
Wir könnten die Etymologie des Wortes Psyche drehen und
wenden, wie wir wollen, es würde nicht helfen, die zwei grell
dissonanten Bedeutungen – eine mit Grundbezug auf den
Zustand der Lebendigkeit, die andere mit Bezug auf den
Zustand des Todes miteinander in Einklang zu bringen. Als
naheliegender Schluß bietet sich an, die von der
ursprünglicheren und geläufigeren Bedeutung so unvermittelt
abweichende Verwendungsweise bei Homer auf das Konto von
Interpolationen aus sehr viel späterer als der Entstehungszeit des
eigentlichen Rahmengedichts zu schreiben. Und in der Tat deckt
sich dies mit der innerhalb der Hornerforschung mehrheitlich
akzeptierten und mit ausgiebigerem Beweismaterial, als wir hier
zitieren könnten, abgestützten Meinung. Da die fragliche
Bedeutung von Psyche hernach erst wieder bei Pindar auftaucht,
dürfen wir ziemlich sicher davon ausgehen, daß die vom Hades
und den in seinem Schatten weilenden Seelen handelnden
Stellen zu irgendeinem Zeitpunkt im sechsten Jahrhundert nicht
allzu lange vor der Blüte Pindars in die homerischen Epen
interpoliert wurden.
Die Frage, die sich jetzt stellt, lautet: Woher dieses dramatisch
veränderte Konzept von Psyche, und auf welchem Weg hat es
sich eingeführt? Wir wollen sofort klarstellen, daß hier einzig
und allein von der Anwendung der alten Bezeichnung für Leben
auf das, was nach dem Tod weiterlebt, und sein Fürsich-Sein
gegenüber dem Körper die Rede ist. Der Tatbestand des
Weiterlebens als solcher steht nach allem, was wir in
vorausgegangenen Kapiteln erfahren haben, nicht in Frage.
Nach der Theorie der bikameralen Psyche konnte die
halluzinierte Erscheinung eines Menschen, der irgendeine
- 396-
Autoritätsposition genoß, dessen Tod überdauern: ein
alltäglicher Vorgang. Daher rührt ja auch der nahezu universell
verbreitete Brauch, die Toten mit Nahrung zu versorgen und
ihnen Lebenszubehör mit ins Grab zu geben.
Ich sehe mich nic ht in der Lage, für die aufgeworfene Frage
eine restlos zufriedenstellende Antwort anzubieten. Mit
Sicherheit jedoch ist wenigstens ein Teil der Antwort im Einfluß
jener sagenumwobenen Monumentalgestalt der Antike mit
Namen Pythagoras zu suchen. Von Pythagoras, dessen Blütezeit
in die Mitte des sechsten Jahrhunderts v. Chr. fällt, nimmt man
an, daß er wie Solon verschiedene Länder Kleinasiens und vor
allem Ägypten bereist habe. Danach gründete er in der
griechischen Pflanzstadt Kroton in Unteritalien eine Art
mystischer Geheimgesellschaft. Ihre Angehörigen verschrieben
sich dem Studium der Mathematik, einer vegetarischen
Lebensweise und einem unbeirrbaren Analphabetismus: Eine
Sache aufzuschreiben galt bereits als der erste Schritt zu ihrer
Verfälschung. Unter den Lehren dieser Gruppe oder jedenfalls
dem, was uns davon aus dritter Hand von späteren Autoren
überliefert ist, befand sich auch die von der Seelenwanderung.
Nach dem Tod geht die Seele des Menschen in den Körper eines
neugeborenen Kindes oder Tieres über und lebt solchermaßen
ein neues Leben.
Herodot ist bespöttelt worden für seinen Kommentar,
Pythagoras habe diese Lehre in Ägypten aufgelesen. Akzeptiert
man jedoch die Theorie der bikameralen Psyche, so hat man
keine Schwierigkeiten, den Ursprung der Seelenwanderung in
den Vorstellungen der Ägypter auszumachen. Nach meiner
Meinung handelt es sich um eine griechische Fehlinterpretation
der Funktionen des ba, der, wie wir im Zweiten Kapitel des
Zweiten Buches (Seite 238) gesehen haben, oftmals den
Anschein einer leiblichen Materialisation des ka, das heißt der
nach dem Tod halluzinierten Stimme, hat. Der ba wies häufig
- 397-
Vogelgestalt auf. Nun hatte aber das Griechische keine Wörter
für ka (außer Gott im gegebenen Zusammenhang eindeutig
unpassend) und ba, ja überhaupt keine Bezeichnung für ein
»Leben«, das aus einem stofflichen Körper in einen anderen
übergehen konnte. Also wurde Psyche in diesen Dienst gepreßt.
Alle Erwähnungen der pythagoreischen Lehre von der
Seelenwanderung gebrauchen Psyche in dieser ne uen
Bedeutung: als fürsichseiende Entität, die von einem Körper in
einen anderen überzuwechseln vermag, wie es in Ägypten den
halluzinierten Stimmen gegeben war.
Genaugenommen ist aber damit die aufgeworfene Frage nicht
beantwortet. Denn was wir hier haben, sind ja keine kraftlosen
abgeschiedenen Seelen, die klagend in einer Unterwelt
umherschweifen und dampfendes Blut aufsaugen, um wieder zu
Kräften zu kommen – wie es die ausdrucksstarke Episode
schildert, die als Elfter Gesang nachträglich in die »Odyssee«
interpoliert wurde. Aber immerhin gleichen sich pythagoreische
und odysseische Psyche insofern, als sie beide ein Etwas am
Menschen sind, das sich beim Tod verselbständigt und vom
Körper trennt. Bei der Auffassung von den psychai im Hades
könnte es sich um eine Kombination der pythagoreischen Lehre
mit der dem griechischen Altertum zugehörigen Auffassung von
den Toten in ihren Gräbern handeln.
Diese ganze eigenartige Entwicklung, die da im sechsten
Jahrhundert v. Chr. stattfand, ist von äußerster Wichtigkeit für
alle spätere Psychologie. Denn dieses Umbiegen der Bedeutung
von Psyche = Belebtheit zu Psyche = Seele ging mit
kompensatorischen Veränderungen in anderen lexikalischen
Bereichen Hand in Hand, wie das infolge der enormen
Kräftespannung, die innerhalb des Ausdrucksrepertoires einer
gesprochenen Sprache herrscht, immer unvermeidlich ist. Das
Wort soma hatte zuvor Leichnam oder Leblosigkeit bedeutet,
strukturellfunktional also den Gegensatz zu psyche qua
Belebtheit. Während aus psyche jetzt die Seele wird, bleibt die
- 398-
strukturelle Relation erhalten, so daß soma die Bedeutung von
Körper annimmt. Und damit ist der Leib-Seele-Dualismus, die
vorgeblich separaten Daseinsformen von Geist und Körper,
institutionalisiert.
Aber damit ist die Sache nicht zu Ende. Bei Pindar, Heraklit
und anderen Autoren um die Wende des sechsten zum fünften
Jahrhundert v. Chr. beginnen Psyche und nous ineinander
überzugehen. Der Seelenraum des subjektiven Bewußtseins und
sein Bewohner, das Selbst, bilden jetzt den Gegensatz zum
stofflichen Körper. Kulte um diese staunenerregende
Geschiedenheit von Psyche und soma schießen wie Pilze aus
dem Boden. Sie stimuliert die neue Bewußtheitserfahrung und
dient zugleich als deren Erklärung, was wiederum darauf
hinausläuft, diese Bewußtheitserfahrung in ihrer Existenz zu
bekräftigen. Die ihrer selbst bewußte Psyche findet sich im
Körper eingekerkert wie in einem Grab. Sie wird zum
Gegenstand blauäugiger Wortgefechte. Wo haust sie? Die einen
weisen ihr diesen, die anderen jenen Ort im Körper oder
außerhalb als Wohnsitz zu. Woraus besteht sie? Der eine sagt
Wasser (Thales), der andere Blut; Luft (Anaximenes), Atem
(Xenophanes), Feuer (Heraklit) oder was auch immer: jedenfalls
ist zu sehen, daß die Wissenschaft der Psychologie ihre ältesten
Wurzeln in einem Morast von Pseudoproblematik hat.
Damit also hat der Leib-Seele-Dualismus, die zentrale
Denkschwierigkeit in der gesamten Bewußtseinsproblematik, zu
seiner langen gespenstischen Laufbahn durch die Geschichte
angesetzt: Platon wird ihn demnächst fe st am Ideenhimmel
verankern, dann wird er in die Gnostik und die großen
Religionen eingehen und auch vor der angemaßten Gewißheit
eines Descartes nicht haltmachen, um schließlich die moderne
Psychologie mit einem ihrer großen Scheinprobleme
heimzusuchen.
Dieses Kapitel ist lang und diffizil geraten. Das Resümee läßt
- 399-
sich am besten in einer Metapher geben. Eingangs stellten wir
fest, daß die Archäologen, nachdem sie den Staub der
Jahrhunderte von den Keramikscherben aus der Epoche der
Dorischen Wanderung gebürstet hatten, anhand des
Wechselspiels
von
Kontinuität
und
Varianz
ein
Dependenzschema zwischen den einzelnen Fundstätten
aufzustellen und damit zugleich ein kompliziertes Muster von
Wanderungswellen dingfest zu machen vermochten. In
gewissem Sinn haben wir im Lauf dieses Kapitels das gleiche
im Sprachbereich getan. Wir haben die Bruchstücke aus dem
Wortschatz der Zeit, die nach und nach zur Bezeichnung dieser
oder jener Mentalfunktion dienten, aufgenommen und durch
Vergleich ihrer von Text zu Text variierenden Bedeutungsfelder
nachzuweisen versucht, daß in jener in historisches Dunkel
gehüllten Zeit, die auf den Einfall der Dorer in Griechenland
folgte, ein komplizierter Wandel der Mentalität stattfand.
Man glaube nun aber ja nicht, es habe sich lediglich um einen
Sprachwandel gehandelt. Sprachwandel ist Begriffswandel, und
Begriffswandel ist Verhaltenswandel. Die gesamte Geschichte
der Religionen, der Politik, ja sogar der Wissenschaft gibt
lauthals Zeugnis davon. Ohne solche Wörter wie »Seele«,
»Freiheit« oder »Wahrheit« würde das Schauspiel der
menschlichen Geschichte andere Rollen und andere Höhepunkte
aufweisen. Und dies gilt nicht minder auch für jene Wörter, die
wir als vorbewußte Hypostasen bezeichneten und die im Lauf
jener wenigen Jahrhunderte dur ch Vermittlung des generativen
Prozesses der Metaphernbildung zu dem einen Operator
»Bewußtsein« zusammentreten.
Hier endet meine Darstellung der Geschichte des griechischen
Bewußtseins, soweit sie in diesem Buch vorzutragen war. Zu
dem Thema ließe sich no ch mehr ausführen, etwa wieso die
zwei nichtstimulusgebundenen Hypostasen die anderen
überflügelten oder wieso nous und Psyche von späteren
Autoren, wie Parmenides und Demokritos, fast synonym
- 400-
gebraucht werden konnten und dann mit der Erfindung des
Logos sogar neuen metaphorischen Tiefsinn hinzugewannen;
auch über die Formen des Wahren, Guten, Schönen wäre
manches zu sagen.
Doch das soll einer anderen Studie vorbehalten bleiben.
Ungeachtet des Scheingebildes der Seele ist das subjektive
Bewußtsein der Griechen aus Gesang und Dichtung geboren.
Von diesem Ursprung aus geht es seinen eigenen historischen
Weg: zu den narrativierenden Introspektionen eines Sokrates
und den spatialisierten Klassifikationen und Analysen eines
Aristoteles, um von hier aus in das hebräische, alexandrinische
und römische Denken zu gelangen. Und von dort aus weiter in
die Geschichte einer Welt, die seinethalben eine irreversible
Wandlung erfuhr.
- 401-
SECHSTES KAPITEL
Das moralische Bewußtsein der Habiru
Der dritte große Bereich, in dem wir die Entwicklung des
Bewußtseins beobachten können, ist zweifellos der
interessanteste und tiefgründigste. Überall im Mittleren Osten
existierten gegen Ende des zweiten Jahrtausends v. Chr. große,
unzusammenhängende Massen halbnomadischen Volks ohne
feste dira, das heißt Weideland. Bei Teilen davon handelte es
sich um im Zuge der von Thera ausgehenden Katastrophe und
der anschließenden Dorischen Wanderung entwurzelte
Völkerschaften. Aus einer Keilschrifttafel wissen wir speziell
von Wanderzügen, die sich von Nord nach Süd durch den
ganzen Libanon wälzten. Die Eroberungsfeldzüge der Assyrer
hatten ebenfalls Flüchtlinge geschaffen, und diese bildeten
wahrscheinlich einen weiteren Teil jener Masse von
Nichtseßhaften; hinzu kamen dann noch die Flüchtlinge aus dem
Hethiterreich, als dieses unter dem Ansturm der vom
Nordwesten her einfallenden Völker zusammenbrach. Und
wieder ein anderer Teil mögen jene vereinzelten resistent
bikameralen Städtebewohner gewesen sein, die sich schwer
damit taten, die Götter zum Verstummen zu bringen, und die,
sofern man sie nicht gleich umbrachte, mit fortschreitender Zeit
immer unnachgiebiger ausgesondert und buchstäblich »in die
Wüste geschickt« wurden.
Ein Gemisch von Menschen unterschiedlichster Herkunft
also, die sich unter Extrembedingungen vorübergehend
zusammengewürfelt
fanden,
um
alsbald
wieder
auseinanderzulaufen: die einen geradewegs in den Untergang,
andere, um sich in unsicheren Stammesorganisationen
zusammenzuschließen; manche veranstalteten Raubzüge in
Siedlungsgebieten oder kämpften untereinander um die
Wasserlöcher in der Wüste; zuweilen wurden sie wohl auch
- 402-
gejagt und gefangen wie ermattete Tiere und von ihren Jägern
zu Sklaven gemacht, oder aber sie begaben sich in verzweifelter
Hungersnot für Brot und Saatgut freiwillig in die
Leibeigenschaft, wie es etwa auf einigen in Nuzi ausgegrabenen
Tontafeln aus dem fünfzehnten Jahrhundert v. Chr. und übrigens
auch in 1. Mose 47, 18-26 geschildert ist. Manche bemühten
sich vielleicht noch immer um Gehorsam gegenüber einer ihrer
Aufgabe nicht mehr gewachsenen bikameralen Stimme, manche
werden aus Furcht vor der freien Wildnis als Schaf- und
Kamelzüchter ihren Lebensraum in unmittelbarer Nähe der
Siedlungsgebiete gesucht haben, während andere nach
vergeblichem Bemühen, unter seßhafteren Menschen Fuß zu
fassen, in die offenen Wüsten hinauszogen, wo nur die Härtesten
und Skrupellosesten überlebten; und zogen auf diesem
gefahrvollen Weg vielleicht irgendeiner halluzinierten Vision
von einem Gott, einer neuen Stadt oder dem Gelobten Land
»hintennach« (2. Mose 33, 23).
In den bestehenden Stadtstaaten sah man in diesen
Entwurzelten die Desperados der Wüstenei. Für die
Stadtbewohner waren sie durch die Bank Räuber, Strauchdiebe
und Vagabunden. Und in der Tat traf dies auch häufig zu:
entweder auf einzelne obdachlose arme Luder, die nachts die
Trauben von den Stöcken stahlen, die den Beerenlesern zu
schlecht zum Pflücken gewesen waren, oder auf ganze Stämme,
die Stadtrandsiedlungen überfielen, um das Vieh und die Ernten
zu rauben (wie das nomadisierende Beduinen sogar heute noch
manchmal tun). Im Akkadischen, der Sprache Babyloniens,
lautet der Ausdruck für Vagabunden habiru, und so heißen diese
Wüstenflüchtlinge auf den Keilschrifttafeln. 1 Unter dem
mouillierenden Einfluß der Wüstenluft werden aus den habiru
1
Vieles des hier Gesagten findet der Leser breiter ausgeführt in Alfred
Guillaumes »Bampton Lectures« Prophecy and Divination among the
Hebrews and Other Semites, New York: Harper 1938. Guillaumes
facettenreicher Darstellung hat das vorliegende Kapitel viel zu verdanken.
- 403-
die Hebräer.
Die Geschichte oder besser: die imaginierte Geschichte der
nachmaligen Habiru oder Hebräer ist in Schriften niedergelegt,
die uns als das Alte Testament der Bibel überliefert sind. Die
These, auf die wir uns mit diesem Kapitel verpflichten wollen,
besagt, daß diese herrliche Sammlung von Geschichten und
Gedichten, Gelehrsamkeit und Beredsamkeit, Predigt und Poesie
im groben Umriß nichts anderes darstellt als die Geschichte vom
Verlust der bikameralen Psyche und ihrer Ersetzung durch die
Subjektivität im Lauf des ersten Jahrtausends v. Chr.
Damit sehen wir uns jedoch sofort einem textkritischen
Problem von immenser Bedeutung gegenüber. Denn ein
Großteil des Alten Testaments, darunter die für unsere These so
wichtigen ersten Bücher, ist bekanntlich das Werk von
Fälschern des siebenten, sechsten und fünften Jahrhunderts v.
Chr.: eine brillante Webarbeit aus unzähligen an entlegensten
Orten aus allen möglichen Zeiten zusammengelesenen bunten
Fäden. 2 Im 1. Buch Mose zum Beispiel wird im ersten und
zweiten Kapitel jeweils eine andere Schöpfungsgeschichte
erzählt; die Geschichte von der Sintflut ist eine monotheistische
Überarbeitung alter sumerischer Inschriften; 3 und die
Geschichte Jakobs mag zwar durchaus in eine Zeit vor 1000 v.
Chr. datieren, doch die unmittelbar daran anschließende seines
vorgeblichen Sohnes Joseph ist um mindestens fünfhundert
Jahre jüngeren Datums. 4 Das alles hatte damit angefangen, daß
2
In den das Alte Testament betreffenden Fragen der Datierung sowie von
Verfasserschaften und sonstigen exegetischen Gesichtspunkten stütze ich
mich in diesem Kapitel auf verschiedene Standardwerke, in erster Linie
jedoch auf die einschlägigen Artikel der Encyclopaedia Britannica.
3
Heidel, a. a. O. (vgl. Fußnote auf Seite 286), S. 224 ff.
4
Donald B. Redford, A Srudy of the Biblical Story of Joseph, Genesis 37-50
Leiden: Brill 1970. Die ursprüngliche Quelle könnte eine Profanerzählung
aus Mesopotamien über Wahrsagerei gewesen sein.
- 404-
nach König Josias Reform, die eine Säuberung und Reinigung
des Tempels von allen Restbeständen bikameraler Riten
einschloß, im Jahr 621 v. Chr. in Jerusalem die Handschrift des
jetzigen 5. Buchs Mose aufgefunden wurde. Und gleich einem
Nomaden, der unvermutet ein riesiges Vermögen erbt, schlüpfte
die habirische Geschichte in diese Luxusgewänder, von denen
ein Teil ihr nicht gerade auf den Leib geschneidert war, aber mit
Hilfe von Abnähern, Gürteln und Spangen sprich: einer
hinzuerfundenen Vorgeschichte – wurden die Sachen dann
gerafft und passend gemacht. Es stellt sich uns also die Frage,
ob derart buntscheckige und gebosselte Materialien als Beleg für
eine Theorie von der Psyche – gleich welcher Art – überhaupt in
Frage kommen.
Vergleich zwischen dem Buch Amos und dem Prediger
Salomo
Zuallererst möchte ich auf jene Skepsis antworten. Wie
erwähnt, sind die Bücher des Alten Testaments zum größten
Teil
aus
Elementen
zusammengewirkt,
die
aus
unterschiedlichsten Quellen aus entlegensten Zeiten geschöpft
wurden. Einige Bücher jedoch gelten als unverfälscht in dem
Sinn, daß sie keine Komp ilationen, sondern praktisch
vollständig Originalwerke aus einem Guß und eben das sind,
was zu sein sie vorgeben: und diese Bücher lassen sich überaus
präzise datieren. Beschränken wir uns also für den Augenblick
auf diesen Bereich und vergleichen wir hier das älteste mit dem
jüngsten Buch, dann wird uns diese Gegenüberstellung ein
einigermaßen echtes und, gleichgültig wie es ausfällt,
zuverlässiges Ergebnis liefern. Das älteste der unverfälschten
Bücher ist das Buch Amos (8. Jahrhundert v. Chr.), das jüngs te
der Prediger Salomo (2. Jahrhundert v. Chr.). Beide sind nicht
sonderlich umfangreich, und es wäre zu hoffen, daß der Leser,
bevor er in meinem Text fortfährt, sich jetzt zuerst diese zwei
biblischen Bücher vornimmt, um sich aus eigener Anschauung
- 405-
einen Eindruck von dem Unterschied zwischen einem noch
nahezu bikameralen Menschen und einem Menschen mit
subjektivem Bewußtsein zu verschaffen.
Denn der Augenschein deckt sich verblüffend genau mit
unserer Hypothese. Das Buch Amos ist fast noch unverfälschte
bikamerale Rede, von einem analphabetischen Wüstenhirten
vernommen und einem Schreiber zur Niederschrift diktiert.
Beim Prediger Salomo dagegen ist höchst selten von Gott die
Rede, ganz zu schweigen davon, daß der gebildete Autor jemals
Gottes höchsteigene Stimme vernähme. Und es gibt sogar
Alttestamentler genug, die meinen, jene spärlichen
Erwähnungen Gottes seien nachträglich in das Buch vom
Prediger interpoliert worden, um dieses großartige Werk so mit
dem Entreebillet für die Aufnahme unter die kanonischen
Schriften auszustatten.
Wörter wie »Seele«, »denken«, »glauben«, »verstehen« oder
auch nur im entferntesten mit diesen verwandte Wörter gibt es
im Buch Amos nicht. Amos erwägt niemals etwas in seinem
Herzen: Dazu ist er nicht in der Lage, mehr noch: Er wußte
einfach nicht zu sagen, was das überhaupt ist. In den wenigen
Fällen, wo er von sich selber spricht, tut er das kurz angebunden
und sachlich ohne Ausschmückung; er ist kein Prophet, sondern
nur »ein Hirt, der Maulbeeren abliest« (7, I4). Er denkt nic ht
bewußt über etwas nach, bevor er spricht; ja, er denkt überhaupt
nicht in dem Sinn, den wir mit dem Wort verbinden: Sein
Denken wird anderwärts für ihn erledigt. Er spürt, daß seine
bikamerale Stimme sich zum Sprechen rüstet, gebietet den
Anwesenden mit einem »So spricht der Herr« Schweigen und
läßt eine zornige Tirade folgen, die er vielleicht selbst nicht
recht versteht.
Der Prediger ist in allem das genaue Gegenteil. So tief und
innig wie nur möglich erwägt er die Dinge in den
Paraphoranden seines hypostatischen Herzens. Wer anders als
ein höchst subjektiver Mensch vermöchte zu sagen: »Eitelkeit
- 406-
der Eitelkeiten, und alles ist Eitelkeit« (1, 2), oder zu sagen, er
sehe, daß die Weisheit die Torheit übertrifft (2, 13). Man
braucht ein Analogon »Ich«, das einen Seelenraum überblickt,
um so sehen zu können. Und in den berühmten Versen des 3.
Kapitels: »Alles hat seine Zeit, und alles unter dem Himmel geht
vorüber nach seiner Zeit ...« haben wir exakt die
Bewußtseinstypische Spatialisierung der Zeit, ihre lineare
Projektion in den inneren Raum vor uns. Der Prediger denkt,
überlegt und vergleicht in einem fort eins mit dem andern und
verfertigt dabei hinreißende Metaphern. Amos betätigt sich
gelegentlich als Zeichendeuter, der Prediger hingegen nie. Amos
ist von leidenschaftlicher Rechtschaffenheit und unbeugsamer
Überzeugungsfestigkeit – ein erhabener Grobian, der mit der
unbewußten Eloquenz eines Achilleus oder Hammurabi ein
Donnergepolter von Gottesworten losläßt. Der Prediger Salomo
wäre ein ausgezeichneter Gesellschafter für einen soignierten
Plausch am Kaminfeuer: Kultiviert und warmherzig,
teilnahmsvoll und zugleich diskret, mit einem Sinn für das
Leben als Ganzes, der für Amos unerreichbar gewesen wäre.
Hier haben wir also die Extrempositionen im Alten Testament
vor uns. Ähnliche Gegenüberstellungen ließen sich noch mit
anderen frühen und späten Büchern oder mit frühen und späten
Textpassagen ein und desselben Buches vornehmen, und immer
wieder käme das gleiche Verhältnismuster heraus, für das sich
außerha lb der Theorie der bikameralen Psyche kaum eine
Erklärung findet.
Einige Anmerkungen zum Pentateuch
Zumal die wunderbaren Geschichten der fünf Bücher Mose
sind uns durch Gewöhnung so vertraut, daß es uns fast
unmöglich ist, sie mit unbefangenem Blick als das zu sehen, was
sie sind. Ja, schon der Versuch mutet uns, unabhängig von
unserer religiösen Einstellung, wenn nicht wie ein Sakrileg, so
doch als Respektlosigkeit gegenüber dem tiefsten Sinnerleben
- 407-
anderer an. Respektlos zu sein liegt bestimmt nicht in meiner
Absicht, aber andererseits können wir nur durch eine Lektüre
ohne Andacht und Gefühl das volle Ausmaß des psychischen
Ringens ermessen, das sich im Anschluß an den
Zusammenbruch der bikameralen Psyche einstellte.
Was war der Grund, diese Bücher zu kompilieren? Als
allererstes gilt es zu begreifen, daß seinerzeit nichts anderes
dazu bewog, das vorhandene Deuteronomium (das ist: das 5.
Buch Mose) an eine hinzukonstruierte Vorgeschichte
anzubinden, als die quälende Sehnsucht eines subjektiv
bewußten Volkes nach der verlorenen Bikameralität: Nichts
anderes ist Religion. Und ausgeführt wurde die Sache zu eben
der Zeit, als sich zumal Jahwe nicht mehr sonderlich häufig und
deutlich vernehmen ließ. Aus welchen Quellen sie auch immer
stammen mögen – in den Geschichten, so wie sie letztlich gefaßt
und arrangiert wurden, spiegeln sich menschliche Seelenlagen
des neunten bis fünften Jahrhunderts v. Chr., also der Ära des
beschleunigten Dahinschwindens von Bikameralität.
Die elohim. – Die nächste Anmerkung betrifft jenes
höchstwichtige Wort, um das der gesamte Text von Genesis 1
(das ist: das 1. Kapitel im 1. Buch Mose) sich dreht: »elohim«.
Gemeinhin wird es fälschlich mit dem Singular Gott übersetzt.
Elohim ist jedoch eine Pluralform, die als Kollektivum
gebraucht wird und entsprechend die Singularform des Verbs
regieren kann oder aber als regulärer Plural den Plural des Verbs
regiert. Das Wort leitet sich von einer Wurzel her, die »mächtig
sein« bedeutet, und am besten wäre es wohl mit »die Großen«,
»die Mächtige n«, »die Erhabenen«, »die Majestäten«, »die
Richter« oder ähnlichem zu übersetzen.
Vom Standpunkt der hier vertretenen Theorie ist ohne
weiteres ersichtlich, daß elohim der Allgemeinbegriff zur
Bezeichnung der Stimmvisionen der bikameralen Psyche ist.
Die Schöpfungsgeschichte, wie sie in Genesis erzählt wird, ist
mithin eine im Übergang zur Subjektivität getroffene
- 408-
Rationalisierung der bikameralen Stimmen. »Im Anfang schufen
die Stimmen Himmel und Erde.« So gefaßt, wird daraus ein
mythischer Archetyp, der in allen bikameralen Kulturen der
Antike gleichursprünglich zu Hause ist.
Der Seiende. – Zu dem speziellen historischen Zeitpunkt, der
mit der Geschichtsdarstellung in der Fassung des Pentateuch
(der fünf Bücher Mose) korreliert, sind nur noch einige wenige
elohim übrig – im Gegensatz zu früher, als es wahrscheinlich
Mengen von ihnen gab. Der bedeutendste unter ihnen wird als
Jahwe identifiziert, was unterschiedliche Übersetzungen zuläßt;
die gebräuchlichste ist »der Seiende«. 5 Als das subjektive
Zeitalter der Propheten heraufzog, folgte offenbar eine
bestimmte Gruppe unter den Habiru nur mehr der Stimme des
Seienden und überarbeitete die alte Schöpfungsgeschichte von
den elohim in sehr viel gefühlswärmerem und menschlicherem
Ton, wobei der Seiende zum einzigen wahrhaften eloha
avancierte: und das ist dann die Schöpfungsgeschichte gemäß
Genesis 2, 4 ff. Die beiden Geschichten werden alsdann mit
anderen Elementen aus anderen Quellen zu den biblischen
Büchern Mose verwebt.
5
Die im Buch Exodus (3, 14) gegebene Deutung des Namens Jahwe als »Ich
bin, der ich bin« halten die meisten Fachgelehrten für Volksetymologie – so
als würde heute jemand behaupten, der Name Manhattan leite sich von einem
Mann auf der Halbinsel ab, der einen Hut auf dem Kopf trug: »manhatan".
Ernster zu nehmen sind wissenschaftliche Versuche, den Namen auf ein
Epitheton zurückzuführen, das soviel wie »der Niederschmetterer« bedeutete.
Die meisten Belege, einschließlich der Septuaginta und der lateinischen
Vulgata, stimmen jedoch eher mit einer Deutung im Sinn von »der Seiende«
zusammen. Vgl. William Gesenius, Hebrew and English Lexicon of the Old
Testament, übs. von E. Robinson, hg. von F. Brown, Oxford: Clarendon
Press 1952, S. 218. Ich bitte um Nachsicht für die formale Inkonsequenz, die
darin liegt, daß der Name Jahwe im Text in übersetzter Form erscheint,
während andere Ausdrücke, wie elobim oder reabi, in Hebräisch belassen
wurden. Mir ging es dabei um eine für das Verständnis meines Hauptpunktes
wesentliche Defamiliarisierung.
- 409-
In sämtlichen älteren Partien des Alten Testaments tauchen
gelegentlich noch andere elohim außer Jahwe auf. Der
wichtigste von ihnen ist Baal oder ba’l, was soviel wie
»Eigentümer« bedeutet. Im Kanaan damaliger Zeit gab es viele
»Eigentümer«: Jede Ansiedlung hatte ihren eigenen Baal, so wie
noch heute viele katholische Gemeinden jeweils ihre eigene
Jungfrau Maria haben, die gleichwohl alle ein und dieselbe sind.
Das verlorene Paradies. – Eine weitere Anmerkung betrifft
die Geschichte vom Sündenfall und die Möglichkeit, sie als
einen Mythos vom Zusammenbruch der bikameralen Psyche zu
verstehen. Arum, das hebräische Wort für »verschlagen« und
»hinterlistig« und mit Sicherheit ein subjektivbewußten
Geschichtszeiten zuzurechnender Ausdruck –, wird im gesamten
Alten Testament nicht mehr als drei- oder viermal gebraucht. In
der Sündenfallgeschichte dient es dazu, die Urheberin der
Versuchung zu charakterisieren. Die Fähigkeit zu Verstellung,
Täuschung und Betrug ist, wie wir uns erinnern, ein
Kennzeichen des Bewußtseins. Die Schlange verspricht: ihr
»werdet sein wie die elohim und wissen, was gut und böse ist«
(1. Mose 3, 5) eine Eigenschaft, deren nur Menschen mit
subjektivem Bewußtsein teilhaftig werden können. Und als die
ersten Menschen dann vom Baum der Erkenntnis gegessen
hatten, »da wurden ihrer beider Augen aufgetan« – nämlich ihre
Analog-Augen in ihrem metaphorischen Innerlichkeitsraum –,
»und sie wurden gewahr, daß sie nackt waren« (1. Mose 3, 7),
das heißt, sie hatten autoskopische Visionen: Narrativierend
sahen sie sich selbst, wie ein anderer einen sieht. 6 Und also wird
ihre Beschwer »vervielfältigt« (1. Mose 3, 16), und sie werden
aus dem Garten verstoßen, wo man den Seienden sehen und mit
ihm sprechen konnte, als sei er ein Mitmensch.
6
Höchst aufschlußreich ist es, in diesem Zusammenhang Maimonides’
Führer der Unschlüssigen (Moreh newuchim, dt. Ausg. in 3 Bdn., Leipzig
1923 f) zu lesen.
- 410-
Als eine Narrativierung des Zusammenbruchs der
bikamerale n Psyche und der Heraufkunft des Bewußtseins
empfiehlt
sich
die
Sündenfallgeschichte
zum
entmythologisierenden kontrastiven Vergleich mit der
»Odyssee«, so wie wir diese im vorigen Kapitel dargelegt
haben. Die Problematik ist freilich hier wie dort die gleiche, und
hier wie dort sollten wir die gleiche Ehrfurcht verspüren, wenn
wir an das anonyme Zustandekommen dieser Geschichten
denken.
Die nebi’im. – Das hebräische Wort nabi 7 , das in
irreführender Weise mit einer Lehnbezeichnung aus dem
Griechischen als »Prophet« eingedeutscht wurde, führt eine
überaus aufschlußreiche Verständnisschwierigkeit mit sich.
Prophezeien im neuzeitlichen Sinn heißt »die Zukunft
voraussagen«, aber das ist ganz und gar nicht, was mit dem Verb
naba gemeint ist, welches eben die Tätigkeit bezeichnet, deren
Ausübende die nebi’im (Plural des Singulars nabi) waren. Diese
Ausdrücke gehören zu einer Wortfamilie, deren Semantik mit
»Zeit« nichts zu tun hat, sondern mit »fließen« und
»aufleuchten«. Wir können uns also einen nabi als jemanden
vorstellen, der, metaphorisch gesprochen, von Worten und
Visionen überfloß oder sprudelte. Sie waren Menschen in einer
Übergangsphase, halb subjektiv und halb noch bikameral. Und
sobald der Anruf kam und der leuchtende Strom entfesselt war,
mußte der nabi sich seiner bikameralen Botschaft entledigen,
mochte er sich auch noch so unvorbereitet (Amos 7, 14 f) oder
unwürdig fühlen (2. Mose 3, 11; Jesaja 6; Jeremia 1, 6) oder
zuzeiten seinen eigenen Sinnen nicht trauen (Jeremia 20, 7-10).
7
Transliterationen aus dem Hebräischen haben immer etwas Mißliches. Im
vorliegenden Fall ließen sich vielleicht bessere Argumente für die Form nbi
oder nvi vorbringen. Daß die Bedeutung des Worts schon zur fraglichen Zeit
schwankend war, scheint aus 2. Samuel 9,9 hervorzugehen. Vgl, auch John
L. McKenzie, A Theology of the Old Testament, New York: Doubleday
1974, S. 85.
- 411-
Wie fühlte sich ein nabi, wenn einer seiner bikameralen Anfälle
einsetzte? So als habe er ein Stück glühende Kohle im Mund
(Jesaja 6, 6 f) oder als sei ein verzehrendes Feuer in seinen
Gebeinen eingeschlossen (Jeremia 20, 9), nicht auszuhalten und
nur durch das Hervorquellen des göttlichen Wortes zum
Verlöschen zu bringen.
Die Geschichte der nebi’im läßt sich auf zweierlei Weise
wiedergeben Einmal von außen, indem man den
Entwicklungsgang von ihrem Aufkommen und der
Anerkennung ihrer Führerrolle bis hin zu ihrer Abschlachtung
und totalen Ausmerzung ungefähr im vierten Jahrhundert v. Chr.
nachzeichnet. Zum Beleg der hier vertretenen Theorie ist es
jedoch aufschlußreicher, die Sache aus der Binnenperspektive
zu behandeln, das heißt die Wandlungen im bikameralen
Erleben selbst zu untersuchen. Diese Wandlungen bestehen in:
schrittweisem Dahinschwinden der visuellen Komponente;
zunehmender Widersprüchlichkeit unter den Stimmen
verschiedener Personen; sich häufenden Widersprüchen der
Stimme ein und derselben Person – bis schließlich die Stimmen
der elohim ganz von der historischen Bildfläche verschwinden.
Im folgenden werde ich der Reihe nach auf die erwähnten
Faktoren eingehen.
Dahinschwinden der visuellen Komponente
In
ungemindert
bikameraler
Zeit
schloß
die
Stimmhalluzination in der Regel auch eine visuelle Komponente
mit ein, die entweder ihrerseits eine Halluzination oder aber ein
Standbild im Wahrnehmungsbereich des Hörenden war. Art und
Verbreitung der visuellen Komponente waren zweifellos von
Kultur zu Kultur verschieden, wie aus dem Umstand zu
erschließen ist, daß in manchen Kulturen halluzinogene
Bildwerke anzutreffen sind, in anderen dagegen nicht.
Nicht
zuletzt,
weil
er
aus
zeitlich
so
weit
- 412-
auseinanderliegenden Quellen gearbeitet ist, überrascht es am
Pentateuch, daß er Schritt für Schritt in konsequenter Folge das
Schwinden der visuellen Komponente beschreibt. Im Anfang ist
der Seiende ein sichtbares und körperliches Dasein – ein
Duplikat seiner Schöpfung. Er wandelt im Garten bei der Kühle
nach Mittag und unterhält sich mit Adam, seiner jüngsten
Kreatur. Wenn Kain und Abel ihre Opfer bringen, ist er
sichtbarlich zugegen, er verschließt eigenhändig die Tür der
Arche Noah, er redet mit Abraham zu Sichern, zu Bethel und zu
Hebron, und er rauft mit Jakob eine ganze Nacht lang wie ein
Schläger.
Zur Zeit von Mose präsentiert sich die visuelle Komponente
dann schon ganz anders. Nur ein einziges Mal redet der Seiende
mit Mose »von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit
seinem Freunde redet« (2. Mose 33, 11). Ein andermal kommt
es zu einer Massenhalluzination, bei der Mose, Aaron, Nadab,
Abihu und siebzig von den Ältesten Israels den Seienden in der
Ferne auf einem saphirnen Untergrund stehen sehen (2. Mose
24, 9 f). Ansonsten gestalten sich die halluzinierten
Begegnungen weniger persönlichvertraulich. Visuell zeigt sich
der Seiende als brennender Dornbusch, als finstere Wolke oder
als gewaltige Feuersäule. Und je weiter sich die visuelle
Komponente des bikameralen Erlebnisses in dichte Finsternis
zurückzieht, um mit Blitz und Donnerwetter und
sturmgepeitschten
schwarzen
Wolkenungetümen
die
unerreichbar fernen Gipfel des Sinai zu umlagern, desto klarer
tritt uns die zentrale Botschaft des gesamten Alten Testaments
vor Augen, die besagt: Indem dieser Letzte der elohim seine
halluzinatorischen Qualitäten ablegt und nicht länger die Form
einer für andere unzugänglichen Stimme im Nervensystem
einiger weniger semibikameraler Menschen behält, sondern zur
Schrift auf steinernen Tafeln wird, verwandelt er sich in Gesetz
und Recht- in etwas Unwand elbares und allen Zugängliches,
etwas für alle Menschen – ob König oder Viehhirt –
- 413-
gleichermaßen Verbindliches, etwas Universelles und
Transzendentes.
Mose selbst reagiert auf das Verschwinden der visuellen
Qualität, indem er sein Angesicht vor einem vermeinten
übermächtigen Strahlenglanz verhüllt. Bei anderer Gelegenheit
rationalisiert Moses bikamerale Stimme selbst den Verlust der
visuellen halluzinatorischen Komponente, indem sie zu Mose
sagt: »... kein Mensch wird leben, der mich sieht ... Wenn denn
nun meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in der
Felskluft lassen stehen und meine Hand ob dir halten, bis ich
vorübergehe. Und wenn ich meine Hand von dir tue, wirst du
mir hintennach sehen; aber mein Angesicht bann man nicht
sehen« (2. Mose 33, 20-23).
Im gleichen Zusammenhang steht auch die Schaffung eines
(Bundeslade genannten) Schreins für eine Anzahl beschriebener
Tafeln als Ersatz für halluzinogene Bildwerke der
herkömmlicheren Art, wie etwa das Goldene Kalb. Während
einerseits der Untergang der bikameralen Stimmen eingesetzt
hat, rückt andererseits die Schrift zu überwältigender Bedeutung
auf. Was jetzt mitgeteilt werden muß, wird schweigend
mitgeteilt, indem es in Stein gemeißelt und vom Rezipienten
visuell aufgenommen wird.
Nach der Periode, von der der Pentateuch handelt, ist die
bikamerale Stimme weiter auf dem Rückmarsch. Wenn der
Verfasser des 5. Buchs Mose erklärt: »Und es stand hinfort kein
nabi in Israel auf wie Mose, den der Herr erkannt hätte von
Angesicht zu Angesicht« (34, 10), so ze igt dies das
Verschwinden der bikameralen Psyche an. Die Stimmen sind
jetzt weniger oft zu hören, und die Wechselreden hören auf.
Josua spricht weniger mit seiner Stimme, als daß er Gebote von
ihr zudiktiert erhält; und als einer, der halbwegs zwischen
Bikameralität und Subjektivität steht, muß er auch schon mal
zum Los-Orakel greifen, um eine Entscheidung treffen zu
können.
- 414-
Unstimmigkeiten zwischen verschiedenen Personen
Eine strikt hierarchische Gliederung, eine fest etablierte
Grenzgeographie, Zikkurat, Tempel und Plastiken, dazu die
allgemeinen Erziehungsbedingungen – alles zusammen wirkte
in den Gesellschaften der rein bikameralen Epoche darauf hin,
eine unverrückbare Rangordnung zwischen den bikameralen
Stimmen der einzelnen Individuen zu stiften. Wessen
bikamerale Stimme in diesem oder jenem Fall das Richtige
gesagt hatte, war aufgrund dieser Rangordnung ohne weiteres
entschieden; die Erkennungssignale, nach denen die
Götterstimmen zu identifizieren waren, waren jedermann
bekannt, und die Vertrautheit mit ihnen noch weiter
einzuschärfen, zählte mit zu den Aufgaben der Priesterschaft.
Aber sobald der Verfall der Bikameralität eingesetzt hat, und
insbesondere sobald ein vordem bikamerales Volk nomadisch
wird wie im Fall der Kinder Israel nach dem Auszug aus
Ägypten, lassen sich die Stimmen je verschiedenen Menschen
gegenüber je verschieden vernehmen, und die Autoritätsfrage
wird zu einem erheblichen Problem. Etwas dergleichen könnte
der Tatsachenhintergrund für jene Stelle im Buch Numeri (das
ist das 4. Buch Mose) sein, wo Mirjam, Aaron und Mose alle
zusammen die Stimme des Seienden gehört haben, aber sich
nicht darauf einigen können, wer von ihnen die echte Stimme
gehört hat (4. Mose 12, 1-2).
In späteren Büchern des Alten Testaments tritt dieses Problem
noch viel schärfer hervor, und zwar vor allen Dingen in der
Konkurrenz zwischen den noch verbliebenen bikameralen
Stimmen. Joas hört eine bikamerale Stimme, in der er die des
Eigentümers erkennt, und so errichtet er dem Eigentümer (Baal)
einen Altar; doch sein Sohn Gideon hört eine Stimme, in der er
die des Seienden erkennt, und sie heißt ihn seines Vaters BaalAltar niederreißen und statt dessen ihm, dem Seienden, einen
Altar errichten (Buch der Richter 6, 25 f). Derlei
Eifersüchteleien unter den übriggebliebenen elohim sind die
- 415-
unmittelbare und unvermeidliche Folge der sozialen
Desorganisation.
Derartige Unstimmigkeiten zwischen bikameralen Stimmen,
wie sie in der durch schwache Organisationsgrade
gekennzeichneten
Zusammenbruchsperiode
auftreten,
begründen die wichtige Rolle von Zeichen und Wundern als
Beweismitteln für die Echtheit beziehungsweise Vorrangigkeit
dieser oder jener Stimme. So sieht sich Mose in einem fort
genötigt, mittels Zauberkräften seine Berufung unter Beweis zu
stellen. Solche Zeichen und Wunder haben nicht nur das ganze
erste Jahrtausend v. Chr., sondern sogar bis in unsere Gegenwart
hinein überdauert. Was heute zum Nachweis der Heiligkeit an
Wundern verlangt wird, ist vom gleichen Schlag wie Moses
halluzinatorische Verwandlungen seines Stabs in eine Schlange
und wieder zurück oder seiner gesunden in eine aussätzige Hand
und wieder zurück (2. Mose 4, 1-7).
Das Vergnügen, das wir auch heute noch beim Anblick von
Zaubertricks und Taschenspielerkünsten empfinden, ist zu
einem gewissen Teil vielleicht ein Abkömmling jenes
archaischen Verlangens nach übernatürlicher Beglaubigung:
Vielleicht genießen wir dabei in irgendeinem Winkel unseres
Selbst den Schauer, in dem Zauberer oder Illusionisten eine
mögliche bikamerale Autorität zu erkennen.
Aber wenn die Zeichen ausbleiben, was dann? Im siebten
Jahrhundert v. Chr. ist dies das Problem zumal von Jeremia,
dem analphabetischen Bußprediger gegen Israels Bosheit und
Verderbtheit. Obschon er das Zeichen erfahren hat, daß die
Hand des Seienden auf ihm ruht (1, 9; 25, 17), und obschon er
beständig das Wort des Seienden hört, das wie ein Feuer in
seinem Herzen ist (20, 9), und obschon er gesandt wurde (11, 6
und öfter), ist er sich dennoch seiner Sache nicht ganz sicher:
wer hört die richtige Stimme? »Du bist mir worden wie ein
Born, der nicht mehr quellen will«, kontert Jeremia seine
bikamerale Stimme (15, 18). Doch in diesem Fall kann sie
- 416-
überlegen parieren. Was immer Jeremias rationales Bewußtsein
an Widerständen aufgebaut haben mag, wird niedergewalzt, und
er erhält den Befehl, allen anderen Stimmen öffentlich
entgegenzutreten. Ein besonders prägnantes Beispiel ist das 28.
Kapitel mit dem ein bißchen komisch wirkenden Wettstreit
zwischen Hananja und Jeremia, wer von beiden denn nun die
wahre Stimme höre. Und erst Hananjas zwei Monate später
eintretender Tod liefert das Zeichen, das den Überlebenden
beglaubigt. Wäre statt seiner Jeremia gestorben, hätten wir jetzt
wahrscheinlich im Alten Testament ein Buch Hananja anstelle
des Buches seines siegreichen Konkurrenten.
Widersprüche in ein und derselben Person
Nach Wegfall der Sozialhierarchie, die für stabile
Verhältnisse und zuverlässige Orientierung sorgt, geraten die
bikameralen Stimmen nicht nur von Person zu Person, sondern
auch innerhalb ein und derselben Person in Widersprüche.
Besonders im Pentateuch zeigt sich die bikamerale Stimme
häufig von der gleichen Starrsinnigkeit und aufbrausenden
Launenhaftigkeit wie ein in die Enge getriebener menschlicher
Tyrann: » Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und wes ich
mich erbarme, des erbarme ich mich« (2. Mose 33, 19). Von
Tugendhaftigkeit oder Gerechtigkeit ist keine Rede. So findet
der Seiende Gefallen an Abel, doch nicht an Kain; er tötet Ger,
den Erstgeborenen Judas, weil er ihm unsympathisch ist; und
erst heißt er Abraham einen Sohn zeugen, später jedoch trägt er
ihm auf, diesen Sohn umzubringen: Das alles erinnert fatal an
die
Unberechenbarkeiten
und
Affekthandlungen
von
delinquenten Psychotikern unserer Tage. Ganz ähnlich der Fall
in 2. Mose 4, 24, wo Moses bikamerale Stimme möglicherweise
den jähen Impuls verrät, ihn umzubringen – ohne den geringsten
Grund.
Die gleiche Inkonsequenz zeigt das Beispiel des
nichtjüdischen Propheten Bileam. Seine bikamerale Stimme
- 417-
untersagt ihm zuerst, mit den Fürsten der Moabiter zu ziehen (4.
Mose 22, 12), kurz darauf jedoch gibt sie ihm den gegenteiligen
Auftrag (22, 20). Und als Bileam gehorcht, ergrimmt sie in
Zorn. Eine Gesichts-Gehörshalluzination, willens, den
Propheten zu »erwürgen, tritt Bileam in den Weg, aber auch sie
ändert schließlich ihren Auftrag ins Gegenteil um (22, 35). In
die Kategorie der Selbstanklage gehört auch die
selbstquälerische Stimme des nabi mit dem aschebestreuten
Gesicht, der Vorbeigehende auffordert, ihn zu schlagen, weil
seine Stimme es ihm so befiehlt (1. Könige 20, 35-38). Und
gleicherweise der »nabi aus Juda«, dessen bikamerale Stimme
ihn den Ort verlassen heißt, um ihn dem Hungertod auszusetzen
(1. Könige 13, 9-17). Alle diese widerspruchsvollen Stimmen
ähneln stark den Stimmen der Schizophrenen, die wir im
Vierten Kapitel des Ersten Buches (Seite 114 f) kennengelernt
haben.
Götter als Wahrsager
Daß Angelegenheiten durch das Los – vermutlich das Werfen
von Würfeln, Knochen oder Bohnenentschieden wurden, liest
man an vielen Stellen des Alten Testaments. Wie wir im Vierten
Kapitel des Zweiten Buches (Seite 293 ff) gesehen haben,
bedeutet das Losewerfen im Prinzip, sich ein Analogon der
Gottfunktion zu schaffen. Das Los (hebräisch goral) wird auf
metaphorischem Weg zum Wort Gottes, das über
Stammeseinteilungen oder die Teilung von Grund und Boden
entscheidet, sagt, was zu tun oder wer zu vernichten ist, und das
dabei die Rolle der älteren bikameralen Autoritätsinstanz
übernimmt. Wie schon erwähnt, erleichtert es die richtige
Einschätzung des autoritativen Ranges solcher Praktiken, wenn
man sich klarmacht, daß bis weit ins subjektive Zeitalter hinein
keinerlei Konzept des Zufalls existierte.
Sehr viel interessanter als die Los-Orakel indes sind für uns
im Alten Testament die Fälle von spontaner Divination aus
- 418-
unmittelbaren Sinneserlebnissen – jene Orakelform, die nur
noch einen Entwicklungsschritt vom subjektiven Bewußtsein
entfernt ist. Interessant ist sie, weil im gegebenen
Zusammenhang die spontane Divination nicht von der
menschlichen Seite der bikameralen Psyche, sondern von den
bikameralen Stimmen selbst ausgeht.
Auf andere Weise zeigt sich auch hierin wieder die
Ungewißheit der bikameralen Stimmen, wenn sie jetzt wie die
Menschen zur Divination greifen und einer Art Initialzündung,
einer Vorgabe oder Anregung bedürfen, um zu einer
Entscheidung zu kommen. Im neunten Jahrhundert v. Chr.
weissagt die Stimme eines der nebi’im vor Ahab aus einem Paar
eiserner Hörner durch Metaphorisierung, wie eine feindliche
Armee zu schlagen sei (1. Könige 22, r11). Aus den Dingen, auf
die zufällig sein Blick fällt, leitet Jeremias bikamerale Stimme
zu wiederholten Malen ab, was er predigen solle. Sieht er einen
siedenden Topf im blasenden Wind von Norden her, so macht
der Seiende daraus das metaphorische Bild eines von Norden
hereinbrechenden Unglücks, das alles, was auf seinem Weg
liegt, aufzehrt wie ein Feuer vor dem Wind (Jeremia 1, 13-15).
Sieht er zwei Feigenkörbe, der eine voll guter, der andre voll
schlechter Feigen, so läßt seine rechte Hemisphäre den Seienden
über die unterschiedliche Behandlung guter und schlechter
Menschen sprechen (Jeremia 24, 1-10). Und erblickt Amos
einen Maurer, der das Lot an sein Mauerwerk hält, so
halluziniert seine Psyche statt des Maurers den Seienden auf der
Mauer, der dann den Vorgang metaphorisch umdeutet zu einem
Richten der Menschen nach ihrer Rechtschaffenheit (Amos 7,
8).
Zumal in den spontanen Divinationen der Götter (deren
Weissagung ja stets eine spontane ist) kommt es häufiger vor,
daß Wortspiele den Analogie-»Keim« bilden. Ein Beispiel dafür
ist Amos (8, 1f), der einen Korb mit reifendem Obst betrachtet,
woraufhin seine bikamerale Stimme kalauernd von qajits (Obst)
- 419-
zu qets (Ende) überleitet und über das Ende des Volks Israel zu
reden beginnt. Ein anderes Beispiel: Jeremia sieht einen
Mandelbaumzweig (saqed), und seine bikamerale Stimme macht
daraus, die Klangähnlichkeit der beiden hebräischen Wörter
nutzend, die Versicherung, daß sie über ihn wachen (saqad)
werde (Jeremia 1, 11 f).
Das 1. Buch Samuel
Das 1. Buch Samuel ist gewissermaßen ein Musterkatalog, in
dem all diese Dinge in informativer Übersichtlichkeit
versammelt sind: Die Lektüre vermittelt eine Anschauung
davon, wie es in dieser halb bikameralen, halb subjektiven Welt
des zum Bewußtseinszustand überwechselnden ersten
Jahrtausends v. Chr. zugegangen sein muß. Im Handlungsabriß
dieses faszinierenden Dramas, das man als die älteste Tragödie
der geschriebenen Literatur bezeichnen könnte, enthüllt sich
nahezu das gesamte Formenspektrum der Übergangsmentalität.
Die Bikameralität im Niedergang verkörpern die wilden Haufen
der nebiim, die ausgesiebte bikamerale Spreu der Habiru, wie
eingangs dieses Kapitels geschildert: Draußen vor den
Stadtmauern durchstreifen sie das Hügelland und geben den
Stimmen Laut, die sie in ihrem Inneren hören, die ihrer eigenen
Meinung nach jedoch von außen kommen; sie stehen den
Stimmen Rede und Antwort, mit Musik und Trommelklängen
steigern sie sich in Ekstase.
Teilweise bikameral ist der Knabe Samuel: Eine Stimme reißt
ihn aus dem Schla f, von der ihm gesagt wird, daß es die des
Seienden ist; im kritischen Alter wird er von dem alten Priester
Eli unterstützt und in die bikamerale Existenz eingewiesen, bis
schließlich »ganz Israel von Dan bis Beer-Seba« ihn als das
Medium des Seienden anerkennt. Aber auch ein Samuel muß
sich mitunter zur Divination aus objektiven Zeichen
herablassen, so zum Beispiel, wenn er aus seinem zerrissenen
Gewand weissagt (15, 27-29).
- 420-
Ihm in der Bikameralität am nächsten steht David, den
Samuel in bikameraler Manier aus den Söhnen Isais erwählt.
Davids Bikameralität reicht gerade noch so weit, daß ihm ein
paar knappe Anrufe des Seienden (»Gehe hin!«, »Auf, ziehe
hinab!«) zuteil werden. Subjektives Bewußtsein zeigt sich in
seiner Fähigkeit, den König Achis durch Verstellung hinters
Licht zu führen (21, 13). Als nächster kommt Jonathan,
einerseits subjektiv genug, um seinen Vater täuschen zu können,
andererseits auf Kledonomantik – die Deutung eines Anrufs als
Omenangewiesen, wenn es um eine militärische Entscheidung
geht (14, 8-13). Daß zur fraglichen Zeit allgemein Idole in
Gebrauch waren, geht aus der beiläufigen Erwähnung eines
»Bildes offenbar von menschlicher Gestalt hervor, das ins Bett
gelegt wird und dort, mit Ziegenfell drapiert, die Gestalt Davids
simulieren soll (19, 13). Das anscheinend für selbstverständlich
gehaltene Vorhandensein eines solchen Idols in Davids Haus
könnte auf eine seinerzeit verbreitete halluzinogene Praxis
hindeuten, die bei der Textredaktion unterschlagen wurde.
Den Abschluß der Reihe bildet der subjektive Saul, der hagere
verdatterte Jüngling vom Lande, dem eine irrationale Regung
von Samuels bikameraler Stimme die politische Führerrolle
zuspielt und der sich seinerseits um Bikameralität bemüht,
indem er sich zu einer Rotte ekstatischer nebi’im gesellt, um
unter der Einwirkung von Psalterklang und Paukenschall
schließlich selbst zu glauben, daß er die göttlichen Stimmen
höre (10, 5). Aber auf sein subjektives Bewußtsein wirken sie so
wenig überzeugend, daß er sogar, nachdem die drei
beglaubigenden Zeichen eingetroffen sind, davonzulaufen und
sich vor seinem Schicksal zu verstecken sucht. Der subjektive
Saul sucht wie wild in seiner Umgebung nach Hinweisen, was er
tun soll. Kaum tritt eine ungewohnte Situation ein – etwa wenn
der verantwortungslose Samuel eine Verabredung versäumt,
während die Männer Israels sich in Höhlen und Klüften
verkrochen haben und die Philister sich gegen Saul
- 421-
zusammenrotten –, schon will Saul mit einem Brandopfer eine
Stimme herbeizwingen (13, 12) und muß sich dafür von dem
säumigen Samuel einen Toren heißen lassen. Und dann der Saul,
der dem Seienden, den er nie gehört hat, einen Altar baut, um
ihn, vergebens, zu befragen (14, 37). Warum spricht der Gott
nicht zu ihm? Jetzt Saul, wie er durch Los den vermeintlichen
Sünder ermittelt, der schuld ist am Schweigen des Gottes; und
Saul, der, sich beugend unter das Orakel, das Todesurteil über
den Erlosten ausspricht, auch wenn es sein eigener Sohn ist.
Doch selbst das kann nicht richtig sein; denn das Volk lehnt sich
auf und weigert sich, die Hinrichtung zu dulden – ein Verhalten,
das in bikameraler Zeit unmöglich gewesen wäre. Und da ist der
Saul, der für Samuels archaisches Halluzinieren allzu
bewußtnachsichtig mit seinen Feinden umgeht. Und dann, als
Sauls Eifersucht auf David und seines Sohnes Zuneigung zu
David ins Extrem gerät, kommt ihm mit einem mal seine
Subjektivität abhanden, seine Seelenverfassung schlägt in
Bikameralität um, er zieht seine Kleider aus und wird zum nabi
unter den nebi’im: »Daher spricht man: Ist Saul auch unter den
nebi’im?« (19, 23 f). Aber als diese nebi’im ihm auch nicht
sagen können, was er tun soll, vertreibt er sie zusammen mit
anderen bikameralen Magiern aus dem Land (28, 3), um im
Traumorakel und in der Kristallschau (wenn wir das Wort urirr
so verstehen dürfen) nach einiger Gewißheit über den göttlichen
Willen zu suchen (28, 6). Und als auch das nichts fruchtet, greift
er, am Ende mit seinem Bewußtseins-Latein, verzweifelt zum
letzten Mittel: In Verkleidung (eine Maßnahme, wie sie nur ein
subjektiv bewußter Mensch zu treffen vermag) sucht er nächtens
Rat bei der Hexe zu Endor oder vielmehr bei der bikameralen
Stimme, die von dem Weib Besitz ergreift, während der in
seinem Bewußtsein ratlose Saul sich vor ihm demütigt, indem er
ihm seine Unschlüssigkeit eingesteht, um dann von den Lippen
der Zauberin Worte zu vernehmen, die er für Worte des toten
Samuel hält und die ihm seinen nahen Tod und Israels
- 422-
Niederlage ankündigen (28, 19). Und dann, als die Philister die
letzten Reste der israelischen Streitmacht fast aufgerieben
haben, als Sauls Söhne alle erschlagen und seine Hoffnungen
alle dahin sind, kommt die grauenhafteste unter allen
subjektiven Taten zur Ausführung – der Selbstmord: der erste
historisch belegte, dem jedoch der zweite, der von Sauls
Waffenträger, unmittelbar auf dem Fuße folgt.
Die Zeit des berichteten Geschehens ist das elfte Jahrhundert
v. Chr., die Zeit der Niederschrift des Berichts das sechste
Jahrhundert v. Chr.: mithin dürfte die Psychologie des Ganzen
etwa dem Stand des achten Jahrhunderts v. Chr. entsprechen.
Die Idole der Habiru
Wie Überbleibsel aus der bikameralen Epoche wirken die
halluzinogenen Plastiken, die allenthalben im Alten Testament
vorkommen. Wie in diesem Spätstadium der Zivilisation nicht
anders zu erwarten, gibt es sie in vielen Spielarten. Es existieren
einige generelle Termini zur Bezeichnung der Idole, wie etwa
das von Jesaja verwendete elil oder der Begriff mazzeba für alle
Idole, die auf Säulen oder Altären postiert waren, mehr als diese
Gattungs- haben uns jedoch die Artbezeichnungen zu sagen.
Der wichtigste Typ des Idols war der zelem, eine
geschmiedete oder gegossene und in der Regel mit dem Meißel
feinbearbeitete Metallplastik, häufig aus Gold oder Silber, aus
dem eingeschmolzenen Geld (Richter 17, 4) oder dem
eingeschmolzenen Schmuck (2. Mose 32, 4) von Stiftern
gewonnen, und manchmal in teure Kleider gewandet (Hesekiel
16, 18). Die Verfertigung solcher Idole in Juda um 700 v. Chr.
schildert Jesaja mit Mißbilligung (44, 12). Der zelem konnte
sowohl Tier- als auch Menschengestalt haben. Zuweilen bestand
er in nichts weiter als einem erhöht – auf einem Sockel oder
Altar – aufgestellten Kopf (2. Chronik 14, 3), oder er glich der
riesigen goldenen Bildsäule, »sechzig Ellen hoch und sechs
- 423-
Ellen breit«, die Nebukadnezar aufstellen ließ (Daniel 3, 1).
Häufiger scheint man ihn in einem »Aschera« aufgestellt zu
haben: in einem jener mit exquisiten Wandteppichen
ausgekleideten hölzernen Schreine, die sich in manchen
Bibelübersetzungen als »Hain« bezeichnet finden.
An Bedeutung am nächsten scheint ihm der peset zu kommen,
ein Meißelstandbild, über das wenig bekannt ist. Wahrscheinlich
bestand der peset aus Holz und war identisch mit dem azzab der
Philister: Nach Sauls Tod und der Niederlage Israels laufen die
Philister los, um ihren Sieg zuerst den azzabim und dann unterm
Volk zu verkünden (1. Samuel 31, 9; 1. Chronik 10, 9). Daß
diese Idole mit Gold- oder Silberfarbe bestrichen waren, geht
aus einer Reihe von Psalmenstellen hervor; daß sie aus Holz
waren, erhellt aus dem Umstand, daß David einen
Scheiterhaufen mit ihnen errichtet, als er seine Rache an den
Philistern nimmt (2. Samuel S, 21). Außerdem gab es noch eine
Art Sonnenidol namens hammanim, dessen Form nicht bekannt
ist; es scheint jedoch ebenfalls auf Piedestalen aufgestellt
worden zu sein, denn sowohl im 3. Buch Mose (26, 30) wie bei
Jesaja (27, 9) und Hesekiel (6, 6) wird befohlen, es abzubrechen.
Wenngleich nicht das bedeutendste, so doch das verbreitetste
halluzinogene Idol war der terap. Daß ein terap dem Anschein
nach reden konnte, wird direkt ausgesprochen in Hesekiel 21,
21, wo der König von Babylon sich mit mehreren von ihnen an
der Wegscheide berät. Zuweilen muß es sich bei ihnen um
kleinere Statuetten gehandelt haben, denn anders hätte Rachel
wohl kaum ihres Vaters teraphim – also mehrere – entwenden
und verstecken können (1. Mose 31, 19). Es muß sie aber auch
in Menschengröße gegeben haben, denn es ist ein terap, der ins
Bett gesteckt wird, um einen schlafenden David vorzutäuschen
(1. Samuel 19, 13). Wie wir bereits feststellten, deutet die
Beiläufigkeit, mit der das an der betreffenden Stelle behandelt
wird, darauf hin, daß es für die israelischen Volksführer
offenbar nichts Besonderes war, ihre teraphim im Haus zu
- 424-
haben. Doch im offenen Bergland müssen solche Idole
Seltenheitswert gehabt haben und sehr begehrt gewesen sein. Im
Buch der Richter hören wir von Micha, der sich ein Haus der
elohim einrichtet: mit einem zelem, einem peset, einem terap
und einem ephod letzteres normalerweise ein verziertes
Ritualgewand, das (vermutlich durch Aufspannen über einem
Rahmen) zum Idol gemacht werden konnte. Und diese Idole
sind für ihn seine elohim, die den Kindern Dan so sehr in die
Augen stechen, daß sie sie ihm wegnehmen (Richter 17 und 18).
Wahrscheinlich wären unsere archäologischen Kenntnisse von
den Idolen der Hebräer heute besser, als sie tatsächlich sind,
hätte König Josia sie nicht 64 v. Chr. alle zerstören lassen (2.
Chronik 34, 3-7).
Ein weiteres Residuum aus bikameraler Zeit ist mit dem
Wörtchen ob bezeichnet, das häufig mit »Hausgeist« übersetzt
wird. »Wenn ein Mann oder Weib einen ob haben, die sollen des
Todes sterben«, heißt es im 3. Buch Mose (20, 27).
Gleicherweise vertreibt Saul alle, die einen ob haben (1. Samuel
28, 3). Obzwar ein ob etwas ist, von dem man Rat einholt (5.
Mose 18, 11), dürfte das Wort sich nicht auf eine stoffliche
Präsenz bezogen haben. Seine Erwähnung ist stets an die von
Zauberern oder Hexen gekoppelt, so daß es wahrscheinlich eine
bikamerale Stimme bezeichnete, die von den Verfassern des
Alten Testaments nicht als eine religiöse anerkannt war. Das
Wort hat den Übersetzern solche Rätsel aufgegeben, daß es in
einem Fall unsinnigerweise sogar mit »Schlauch«
wiedergegeben wurde, und zwar an einer Stelle (Hiob 32, 19),
wo aus dem Kontext hervorgeht, daß der verärgerte junge Elihu
spürt, wie eine bikamerale Stimme in ihm mit ungeduldigen
Worten herauszuplatzen droht wie ein übervoller Weinschlauch.
Der letzte nabi
Wir haben dieses Kapitel eingeleitet mit Betrachtungen über
die Flüchtlingsströme im Nahen Osten des ausgehenden zweiten
- 425-
Jahrtausends v. Chr. und über die Stämme, die – durch
Katastrophen dieser oder jener Art landlos gemacht – ein
unstetes Wanderleben führten. Ein Teil dieser Stämme war
zweifellos bikameral und nicht in der Lage, den Weg zum
subjektiven Bewußtsein zu beschreiten. Wahrscheinlich wurde
bei der im sechsten oder fünften Jahrhundert v. Chr.
stattfindenden Redaktion der Geschichtsbücher des Alten
Testaments und ihrer Harmonisierung zu einem durchlaufenden
Berichtszusammenhang historisches Material in großem
Umfang unterschlagen. Zu den Dingen, die wir heute vergeblich
in der Bibel suchen, gehört auch die klare Information darüber,
was aus jenen letzten bikameralen Menschengemeinschaften
geworden ist. An vereinzelten, über den ganzen Text verstreuten
Stellen des Alten Testaments tauchen sie sporadisch auf und
eröffnen dann jeweils einen blitzhaften Einblick in eine zur
damaligen Zeit bestehende fremdartige Zweitwelt, der die
Historiker bisher viel zuwenig Aufmerksamkeit geschenkt
haben.
Man darf wohl davon ausgehen, daß in Gruppen lebende
bikamerale Menschen bis zum Sturz des Reichs Juda existierten,
doch bleibt fraglich, ob mit irgendeiner theokratischen
Organisationsform ihrer halluzinierten Stimmen und ob in
irgendeiner
organisatorischen
Anbindung
an
andere
Stammesgemeinschaften. Häufig werden sie »Söhne der
nebi’im« genannt, was den Schluß zuläßt, daß wohl eine starke
Erbanlage die Basis für diesen Typus überdauernder
Bikameralität abgab. Es handelt sich, wie ich meine, um die
gleiche genetische Anlage, mit der wir als Teilursache in der
Ätiologie schizophrener Erkrankungen noch heute zu rechnen
haben.
Mancher König, unschlüssig und reizbar, suchte Rat bei
diesen Menschen. Ahab, im Jahr 835 v. Chr. König von Israel,
ließ vierhundert von ihnen wie Vieh zusammentreiben, um ihren
Rasereien zuzuhören (1. Könige 22, 6). Später sitzen er und der
- 426-
König von Juda feierlich gewandet auf ihren Thronsesseln auf
dem Platz vor den Toren Samarias, um einem Auftrieb von
Hunderten dieser armen bikameralen Kreaturen beizuwohnen,
die delirieren und einander nachäffen, nicht anders, als wir es
heute von den Schizophrenen in den »geschlossenen
Abteilungen« kennen (1. Könige 22, 10).
Was geschah mit diesen Menschen? Von Zeit zu Zeit wurden
sie wie Schadwild gehetzt und zur Strecke gebracht. Ein solches
Massaker ist offenbar der Hintergrund jener Stelle im z. Buch
der Könige (18, 4), wo Obadja sich eines Hunderts von nebi’im
– aus einer unbekannten, aber jedenfalls weitaus größeren Zahl
annimmt, sie in Höhlen versteckt und sie mit Brot und Wasser
versorgt, bis das Gemetzel vorüber ist. Ein weiteres derartiges
Massaker wird wenige Jahre später von Elia durchgeführt (1.
Könige 18, 40).
Danach hören wir nichts mehr von diesen bikameralen
Menschengruppen. Einige Jahrhunderte länger vermochten sich
die einzelgängerischen nebi’im zu halten – die Männer, deren
bikamerale Stimmen keinen Chor als Hintergrund, keinen
Gruppenverband von anderen Halluzinierenden als Rückhalt
benötigten, Männer, die halb schon subjektiv waren, zuzeiten
aber immer noch die bikamerale Stimme hörten. Es sind jene
berühmten nebi’im, deren bikamerale Botschaften wir im
vorstehenden auszugsweise kennengelernt haben: Amos, der
Maulbeerensammler; Jeremia, der unter der Last seines Joches
von Ansiedlung zu Ansiedlung wankt; Hesekiel, der die Engel
auf Rädern durch die Wolken ziehen sieht; die verschiedenen
nebi’im, deren religiös verzückte Reden im Buch Jesaja
gesammelt sind. Und diese Handvoll steht hier natürlich nur
stellvertretend für jene umfänglichere Zahl von Menschen,
deren bikamerale Stimmen zu ihrer Zeit am ehesten den
Anspruch erheben durften, in der Tradition des 5. Buchs Mose
zu stehen. Nach ihnen spielen aktual vernehmbare bikamerale
Stimmen in aller Regel keine Rolle mehr.
- 427-
An ihre Stelle ist das überlegte subjektive Denken von
Morallehrern getreten. Die Menschen hatten in Traumzuständen
wohl immer noch Gesichte und vernahmen geheimnisvolle
Reden. Aber der Prediger Salomo und Esra sind
Weisheitssucher, keine Gottsucher mehr. Sie ziehen nicht in die
Wildnis hinaus, um »von Jahwe zu erfragen«. Spätestens um
400 v. Chr. ist das bikamerale Prophetentum erledigt. »Die
nebi’im werden sich schämen jeder seines Gesichts.« Eltern, die
ihre Kinder beim »Nabiisieren« oder in Zwiesprache mit einer
bikameralen Stimme überraschen, sollen diese auf der Stelle
umbringen (Sacharja 13, 3 f). 8 Ein hartes Gebot. Wenn es
wirklich befolgt wurde, hat es als evolutionärer
Auslesemechanismus gewirkt, der mit dazu beitrug, den
Genpool der Menschheit in Richtung »Subjektivität« zu
verändern.
Über die Ursachen für Verfall und Untergang des
Prophetentums im nachexilischen Judentum wird in der
Wissenschaft seit langem kontrovers diskutiert. Die einen
vertreten die Ansicht, daß die nebi’im ihre historische Aufgabe
erfüllt und damit ausgedient hatten. Andere meinen, es habe sich
die Gefahr einer Kultbildung um das Prophetentum ergeben. Für
wieder andere wurde das Prophetentum unterdrückt, weil es
durch die Berührung mit den Babyloniern – dem von der Wiege
bis zur Bahre omenseligsten Volk jener Zeit – infiziert und
entartet war. Ein Körnchen Wahrheit steckt in jeder dieser
Ansichten; die einfachste Erklärung scheint mir jedoch, daß der
Niedergang des Prophetentums nur ein einzelnes Moment in
einem übergreifenden Geschehen globalen Ausmaßes war – im
Absterben der bikameralen Psyche.
Liest man das Alte Testament aus dieser Perspektive von vorn
8
Das Buch Sacharja ist auf ungefähr 520 v. Chr. zu datieren, doch sind sich
die Gelehrten darin einig, daß es sich bei den letzten Kapiteln um spätere
Hinzufügungen aus anderen Quellen handelt. Die Anstückelung wurde
möglicherweise im vierten oder dritten Jahrhundert v. Chr. vorgenommen.
- 428-
bis hinten durch, so enthüllt sich in der Abfolge der einzelnen
Bücher mit wunderbarer und überwältigender Klarheit ein
Sinnmuster, das auf nichts anderes als die langwierige,
schmerzhafte Geburt unseres subjektiven Bewußtseins
zurückverweist. Keine andere Nationalliteratur hat diesen
unüberbietbar wichtigen Vorgang vergleichbar ausführlich und
umfassend festgehalten. Das chinesische Schrifttum springt mit
Konfuzius, ohne vorher einen sonderlich langen Anlauf
genommen zu haben, gleichsam mit einem Satz mitten hinein in
die Subjektivität. Die indische Literatur gelangt in einer Art
Volte fast übergangslos von den bikameralen Werden zu den
ultrasubjektiven Upanischaden, und keines dieser beiden Werke
kommt an dokumentarischem Wert den Texten des Alten
Testaments gleich. Ihnen am nächsten steht, was den
historischen Zeugniswert angeht, die Literatur der Griechen,
deren Überreste, obzwar nicht in kontinuierlicher Linie, so doch
immerhin punktuell die Entwicklung von der »Ilias« zur
»Odyssee« und weiter über die Fragmente der Sappho und des
Solon bis hin zu Platon nachzeichnen – freilich in viel zu großer
Lückenhaftigkeit. Aus Ägypten hören wir zu den Problemen der
Übergangsmentalität so gut wie nichts. Dem allen gegenüber
erweist sich das Alte Testament, ungeachtet des sicherlich nicht
zu unterschätzenden Problems seiner historischen Faktentreue,
für uns als die immer noch am reichhaltigsten fließende Quelle
der Information über die Einzelheiten des Lebens während jener
Übergangszeit. Das Alte Testament ist im wesentlichen die
Geschichte vom Absterben der bikameralen Psyche, vom
allmählichen Rückzug der noch übriggebliebenen elohim ins
Schweigen, von darauffolgender Desorientiertheit und tragischer
Gewaltsamkeit, von dem letztlich vergeblichen Versuch, der
elohim in ihren Propheten wieder habhaft zu werden, bis sich
schließlich in der Idee des Handelns nach Gesetz und Recht ein
Ersatz auftut.
Aber wie ein Gespenst geht das uranfängliche unbewußte
- 429-
Wesen noch immer in der Seele um; sie zergrübelt sich in dem
Bemühen, die verlorengegangene Einheit mit der autoritativen
Instanz wiederzufinden; und das Verlangen – das tiefe und
auszehrende Verlangen – nach göttlichem Willen und
Zuwillensein dem Göttlichen läßt noch uns Heutige nicht los.
»Gleichwie der Hirsch lechzt nach den Wasserquellen, Also
lechzt meine Seele nach euch, ihr Götter!
Meine Seele dürstet nach Göttern, nach starken lebendigen
Göttern! Wann werd’ ich dahinkommen, daß ich der Götter
Angesicht schaue?« Psalm 42, 2f
- 430-
DRITTES BUCH
GEGENWART: RELIKTE DER
BIKAMERALEN PSYCHE IN DER
MODERNEN WELT
- 431-
ERSTES KAPITEL
Das Streben nach Autorisierung
Wir sind nunmehr in der Lage, im Rückblick auf die
Universalgeschichte der Menschheit diesen Gegenstand erstmals
in seiner natürlichen Form, Farbe und Beleuchtung
wahrzunehmen und einige der charakteristischsten Züge in der
Physiognomie der letzten drei Jahrtausende als Rudimente einer
historisch älteren Mentalität zu begreifen. Freilich müssen wir
dabei die Menschheitsgeschichte von der höchsten nur
denkbaren Warte aus betrachten. Wir müssen das Menschliche
zu diesem Zweck vor den Hintergrund seiner gesamten
Evolution rücken: in eine Perspektive, in der die verschiedenen
Zivilisationen, einschließlich der unseren, nichts weiter sind als
die im Himmelsblau sich abzeichnenden Gipfel eines einzigen
Gebirgsmassivs, zu dem wir uns in gebührendem Abstand halten
müssen, um seine Umrisse präzise wahrzunehmen. Und aus
dieser Perspektive betrachtet, ist ein Jahrtausend eine
verschwindend kurze Zeitspanne für einen so tiefgreifenden
Wandel wie den Übergang von der Bikameralität zum
Bewußtsein.
Auch heute, am Ende des zweiten Jahrtausends n. Chr.,
stecken wir in gewisser Hinsicht noch tief drinnen in diesem
Übergang zu einer neuen Mentalität. Und rund um uns her
verstreut liegen die Überreste unserer bikameralen jüngsten
Vergangenheit. Wir haben Gottes-Häuser, die unsere Geburt
registrieren, unsere Identität bestimmen, unsere Ehe schließen,
uns die Beichte abnehmen und als Mittler bei den Göttern die
Vergebung unserer Sünden erwirken. Unser Recht gründet in
Wertbegriffen, die ohne Bezug auf göttliche Satzung inhaltslos
und nicht durchsetzbar wären. Unsere Nationalhymnen (»God
Bless The Queen«) und staatlich verordneten Devisen (»Gott
mit uns«, »In God We Trust«) appellieren in aller Regel an die
- 432-
göttliche Vorsehung. Unsere Staatsoberhäupter, Minister,
Richter und Beamten beginnen ihre Amtslaufbahn mit einer den
heute schweigenden Göttern gegenüber abgegebenen
Eidesverpflichtung, die auf den Text des göttlichen Wortes
abgelegt wird, so wie es von jenen hinterlassen wurde, die es als
letzte mit eigenen Ohren gehört haben.
Das augenfälligste und bedeutendste Relikt jener älteren
Mentalität ist demnach unser religiöses Erbe in all seiner
labyrinthischen Schönheit und Formenvielfalt. Die überragende
Bedeutung, die der Religion sowohl in der allgemeinen
Weltgeschichte als auch in der Lebensgeschichte des
Durchschnittserdenbürgers zukommt, liegt für jeden halbwegs
objektiven Betrachter klar auf der Hand und bräuchte nicht
eigens betont zu werden, wären da nicht bestimmte
wissenschaftliche Auffassungen vom Menschen, die sich schwer
damit tun, diese in ihrer Offenkundigkeit fast schon banale
Tatsache gelten zu lassen. Denn allem zum Trotz, was
rationalistischmaterialistische
Wissenschaft
seit
der
Wissenschaftlichen Revolution als Konsequenz ihrer
Entdeckungen ausgibt, hat die Menschheit als ganze niemals
aufgehört, ist nicht im Begriff aufzuhören und wird vielleicht
auch niemals aufhören können, fasziniert zu sein von
irgendeinem Verhältnis zwischen dem Menschen und einem
»Umgreifenden« und »Ganz Anderen«, einem »mysterium
tremendum et fascinosum« voller Kräfte und Einsichten, die alle
linkshemisphärischen
Kategorien
sprengen,
zu
einer
zwangsläufig unbegreiflich dunklen Wesenheit, der man sich
nicht in der Atmosphäre klarer Begriffsbildung nähert, sondern
mit der man ehrfurchtsvoll staunend und namenlos ergriffen
kommuniziert, einer Wesenheit, die sich für den modernen
Gläubigen nicht so sehr in linkshemisphärischverbalen
Ausdrucksformen als vielmehr in Gefühlswahrheiten mitteilt, so
daß sie in unserer Zeit um so wahrhaftiger erlebt wird, je
weniger
sie
in
Worte
zu
fassen
ist:
die
- 433-
Empfindungskonfiguration eines »Selbst« in Relation zu einem
numinosen »Anderen«, der in Augenblicken schwärzesten
Kummers keiner von uns entgeht – wie ja auch schon der
unendlich viel geringfügigere Kummer, eine Entscheidung
treffen zu müssen, diese Konfiguration überhaupt erst zuwege
brachte.
Dazu wäre noch manches – noch vieles – zu sagen. Wollte
man das Thema in aller Ausführlichkeit erörtern, müßte man
beispielsweise mit Einzelheiten belegen, wie die von Jesus
angestrebte Reform des Judentums sich begrifflich
rekonstruieren läßt als Entwurf einer Religion für subjektiv
bewußte Menschen, die eine bikameral verwurzelte Religion
ersetzen sollte und damit zwangsläufig zur Neustiftung geriet.
Verhaltensmodifikationen müssen nun von drinnen, aus dem
neuen Bewußtsein heraus, kommen und nicht mehr durch die
Außenleitung mosaischer Gesetze bewirkt werden. Sünde und
Buße bestehen nun in bewußter Gier und bewußter Reue, nicht
mehr im Verstoß gegen die äußeren Verhaltensgebote der Zehn
Gebote und in Tempelopfern und öffentlicher Bestrafung. Das
Reich Gottes, das gewonnen werden soll, ist ein
psychologisches, kein materielles Reich. Es ist metaphorisch,
nicht buchstäblich zu nehmen. »In euch« und »nicht von dieser
Welt«, der Welt des Raum-Zeit-Koordinatens ystems.
Doch auch das Christentum hält im Lauf seiner Geschichte
seinem Stifter nicht die Treue – kann sie ihm nicht halten.
Wieder und wieder kehrt die Entwicklung der christlichen
Kirche zurück zum alten, wohlbekannten Verlangen nach den
absoluten Gewißheiten der Bikameralität: verzichtend auf das
schwer zu erlangende innere Reich der agape, bindet sie sich an
eine äußere Hierarchie, die durch ein Wolkenmeer von Wundern
und Unfehlbarkeit hindurch hinaufreicht bis zur archaischen
Autorisierungsinstanz in den fernen Himmeln. In den
vorausgegangenen Abschnitten dieses Buchs habe ich mehrfach
auf diese und jene Parallele zwischen antikbikameralen und
- 434-
modernreligiösen
Praktiken
hingewiesen,
und
diese
Gegenüberstellung noch weiter auszubauen gehört hier nicht zu
meiner Sache.
Desgleichen würde es den Rahmen dieses Buches sprengen,
hier nun in aller Ausführlichkeit erkunden zu wollen, welcher
Zusammenhang zwischen bestimmten Entwicklungen im
Profanbereich und ihrer Herkunft aus einer andersgearteten
Mentalität besteht. Ich denke da zum ersten an die Geschichte
der Logik und des rationalen Denkens von der Bildung des
Logosbegriffs im antiken Griechenland bis hin den Computern
und der Computerwissenschaft unserer Tage, aber auch an den
historischen Prunkzug der philosophischen Systeme mit ihrem
Bemühen, eine allumfassende Seinsmetapher zu finden, in der
wir unserem Bewußtsein Vertrautes wiederzuentdecken
vermögen und die es uns damit ermöglicht, uns im Universum
heimisch zu fühlen. Ich denke ferner an unsere Anstrengungen,
moralische Systemgebäude zu errichten: Versuche, mit Hilfe
bewußter Rationalität Ersatz zu schaffen für die frühere
Gottgewolltheit unseres Tuns – Ersatz, der normative
Verbindlichkeit solchen Grades besäße, daß wenigstens noch ein
Abglanz unserer früheren Hörigkeit gegenüber den
halluzinierten Stimmen in ihr wiederzuerkennen wäre. Und ich
denke an die Zyklen der politischen Geschichte, an corso und
ricorso unserer unsicheren Bemühungen, menschliche
Regierungsgewalt zu instituieren anstelle der göttlichen und
weltliche Rechtsordnungen aufzustellen, welche die ehemals
göttliche Funktion erfüllen, uns zu einem in sich gegliederten,
stabilen und gemeinwohlorientierten Sozialkörper zu verbinden.
Diese weitausgreifenden Fragestellungen sind zugleich die
wichtigsten. Doch hier, im vorliegenden Kapitel, möchte ich in
die Thematik dieses Dritten Buches zunächst in der Weise
einführen, daß ich mich mit etwa einem halben Dutzend nicht
ganz so bedeutsamer Eigentümlichkeiten der Antike beschäftige,
- 435-
die sich klar und eindeutig als Relikte der älteren Mentalität zu
erkennen geben. Ich wähle diese Vorgehensweise, weil von den
betreffenden geschichtlichen Erscheinungen Licht auch auf
einige noch klärungsbedürftige Punkte des Ersten und Zweiten
Buches fällt.
Kennzeichnend für derlei Relikte der älteren Mentalität ist es,
daß sie sich als solche in der komplexen Gesamtheit der
historischen Erscheinungen um so eindeutiger abzeichnen, je
näher wir uns noch dem Zusammenbruch der bikameralen
Psyche befinden. Das ist leicht zu erklären: Während die
universellen Merkmale des neuen Bewußtseins, wie etwa
Selbstreferenz, »innerer« Raum oder Narrativität, im Schlepptau
sprachlicher Innovation ein rasches Entwicklungstempo
erreichen, verändert sich demgegenüber der umfassende
zivilisatorische Rahmen, die allgemeine Kulturlandschaft nur
mit
geologischen
Entwicklungstempi
vergleichbarer
Langsamkeit. Inhalte und Formen früherer Zivilisationsalter
wandern ungeschwächt in neue Epochen ein und mit ihnen die
alten Schläuche überholten Brauchtums, in die der Wein der
neuen Mentalität sich vorerst noch fassen lassen muß.
Doch mit in diese Schläuche gefaßt ist eine verbissene Suche
nach, wie ich es nennen möchte, archaischer Autorität. Auch
nach dem Zusammenbruch der bikameralen Psyche wird die
Welt in gewissem Sinn noch von Göttern regiert: von
Proklamationen, und Gesetzen und Verordnungen aus
bikameralen Zeiten, die auf Stelen gemeißelt oder auf Papyrus
geschrieben sind oder im Gedächtnis alter Menschen
überdauern. Doch die Dissonanz ist bereits da. Wieso lassen sich
die Götter nicht mehr hören und sehen? Das Verlangen, in dieser
Frage beschwichtigt zu werden, äußert sich in den Psalmen mit
unüberhörbarer Lautstärke. Zu seiner Befriedigung wird mehr
gefordert als historische Überlieferungen und die wohlfeilen
Beteuerungen der Priester, die mit derlei Zusicherungen ja
schließlich ihren Lebensunterhalt verdienen. Nämlich
- 436-
Handfestes, Greifbares, unvermittelt Daseiendes, direkt
Erfahrbares und als solches die Gewähr dafür, daß die Götter
nur verstummt und nicht tot sind, daß hinter all diesem
schwankenden Herumtappen nach den Zeichen absoluter
Gewißheit auch wirklich ein absolut Gewisses steckt, dessen
man innewerden kann.
Während also die langsam absinkende Flut der Götterstimmen
und Göttererscheinungen wachsende Bevölkerungsteile auf den
Sandbänken der subjektiven Ungewißheit absetzt, wächst
zugleich die Vielfalt der Techniken, mit deren Hilfe der Mensch
die unterbrochene Verbindung zum Ozean der Gewißheit
wiederherzustellen versucht. Propheten, Poeten, Orakel,
Mantiker, Götzendienst, Astrologen, inspirierte Heilige und
Dämonenbesessene, Tarotkarten, Alphabettafeln, Päpste und
Peyote – das alles ist Rückstand der Bikameralität, der mit
fortschreitender Zeit, während Ungewißheit sich auf
Ungewißheit türmt, mehr und mehr zusammenschmilzt. In
diesem und dem folgenden Kapitel werden wir uns einige mehr
archaische Ruditmentformen der bikameralen Psyche aus der
Nähe ansehen.
ORAKEL
Die ungebrochenste Form rudimentärer Bikameralität ist
schlicht deren Weiterleben in bestimmten Menschen, namentlich
Wanderpropheten, wie sie im Sechsten Kapitel des Zweiten
Buches (Seite 378 ff) besprochen wurden, oder
institutionalisierten Orakeln, denen wir uns im folgenden
zuwenden wollen. Zwar existiert eine Reihe von Tontafe ln aus
dem siebten Jahrhundert v. Chr., auf denen assyrische Orakel
beschrieben sind; ein noch älteres Orakel des Amun befand sich
im ägyptischen Theben; doch sind es die griechischen Orakel,
denen sich unsere zuverlässigsten Kenntnisse dieser Einrichtung
verdanken. Nach dem Zusammenbruch der bikameralen Psyche
blieb die Befragung des Orakels in Griechenland über ein
- 437-
Jahrtausend, lang der Königsweg, um in wichtigen Fragen zu
einer Entscheidung zu kommen – ein Umstand, dem infolge des
plakativen Rationalismus moderner Historiker in der Regel die
gebührende Beachtung versagt wird. Orakel sind so etwas wie
die Nabelschnur, mit der die Subjektivität dem mütterlichen
Nährboden der subjektlosen Vergangenheit verhaftet bleibt.
Das Delphische Orakel
Mit dem eben gebrauchten Bild stimmt überein, daß sich an
der Stätte des berühmtesten Orakels – des Apollon-Orakels zu
Delphi – ein seltsamer konisch geformter Stein, genannt der
omphalos, der »Nabel«, befand. Er bezeichnete den Mittelpunkt
der Erde. Hier waltete an bestimmten Tagen des Jahres –
während einiger Jahrhunderte sogar tagtäglich – eine
Hohepriesterin ihres Amtes, zuweilen auch zwei oder drei in
zyklischem Turnus, für deren Auswahl und Ernennung, soweit
wir von diesen Dingen Kenntnis haben, keinerlei besondere
Kriterien maßgebend waren (zur Zeit Plutarchs, im ersten
Jahrhundert v. Chr., war die KPythia« ein einfaches
Bauernmädchen). 1 Nach einem Reinigungsbad und einem Trunk
aus einem geweihten Bach nahm sie vermittels des ihm heiligen
Baumes, des Lorbeers, Fühlung mit dem Gott auf 2 (was an die
Pinienzapfen erinnert, mit denen auf assyrischen Reliefbildern
die Genien den schon subjektivbewußten König bestreichen).
Die Prozedur bestand entweder darin, daß sie einfach nur einen
Lorbeerzweig in Händen hielt oder (wie Plutarch meint) den
Rauch verbrannter Lorbeerblätter einatmete und sich mit ihm
beräucherte, möglicherweise aber auch (wie Lukian behauptet)
im Kauen von Lorbeerblättern.
Die Fragen, die ihr vorgelegt wurden, beantwortete sie
spontan, ohne Nachdenken und Intervall. Die genauen
1
2
Alfred Guillaume, a. a. O. (vgl. Fußnote auf Seite 358), S. 42 ff.
Plutarch, De Pythiae oraculis 22, 405 c.
- 438-
Umstände, unter denen sie ihre Auskünfte erteilte – ob vom
Dreifuß (einem, so nimmt man an, zum Apollonkult gehörenden
Inventarstück) herunter oder einfach in einem Höhleneingang
postiert-, sind bis heute umstritten. 3 Einig jedoch sind sich alle
antiken Quellen vom fünften Jahrhundert v. Chr. an, daß sie, um
Heraklit zu zitieren (Fr. 92), »mit rasendem Munde Ungelachtes
und Ungeschminktes und Ungesalbtes redet und mit ihrer
Stimme durch tausend Jahre reicht«: sie war entheos, plena deo.
Mit der Zunge seiner Priesterin – doch stets in der ersten
grammatischen Personsprechend, stand »Apollon«, sei’s König;
sei’s Freigelassenem, Rede und Antwort, bestimmte die
Gründungsstätten neuer Kolonien (wie zum Beispiel des
heutigen Istanbul), entschied, welche fremden Völker als
Freunde oder Feinde zu gelten hatten, welche Herrscher ein
gutes Regiment führten, welche Gesetze zu erlassen seien,
machte die Ursachen von Seuchen und Hungersnöten namhaft,
nannte die besten Handelsrouten und gab bekannt, was aus der
Flut neuer Kulte, Musik- und Kunstformen als dem Apollon
wohlgefällig zu betrachten sei – das alles lag in der
Entscheidung dieser Mädchen mit dem »rasenden Munde«.
Das ist nun wahrhaftig eine erstaunliche Sache! Uns ist das
Delphische Orakel aus den Schulbüchern so geläufig, daß wir
nur mehr mit achselzuckender Gleichgültigkeit von ihm hören –
während in Wahrheit hier höchstes Interesse am Platze wäre.
Wie reimt man es sich zusammen, daß irgendeine Unschuld
vom Lande, die keine besonderen Voraussetzungen mitbringen
mußte, dazu ausgebildet werden konnte, sich in einen
psychischen Zustand zu versetzen, in dem sie spontan
weltbewegende Entscheidungen zu treffen vermochte?
Der verstockte Rationalist rümpft hier nur die Nase: »plena
3
Eine faszinierende Darstellung des gesamten Fragenkomplexes gibt Dodds,
a. a.0. (vgl. Fußnote auf Seite 201).
- 439-
deo – wer’s glaubt, wird selig.« So wie es ihm immer wieder
gelingt, die »Medien« unserer Zeiten als Betrüger zu entlarven,
genauso ist er auch überzeugt, daß diese sogenannten Orakel
nichts weiter waren als eine Form des Priestertrugs, ein von
Drahtziehern im Hintergrund für ungebildete Bauerntölpel
zwecks Macht- oder Geldgewinn manipuliertes Illusionstheater.
Aber diese » Realpolitiker«-Attitüde ist im allerbesten Fall
nur ein Beispiel doktrinären Dogmatismus. Zugegeben, in der
Endphase des Orakelkults könnte mitunter Manipulation im
Spiel gewesen sein, etwa in Form von Bestechung der
prophetai, der Unterpriester und -priesterinnen, die das
Gestammel des Orakels auslegten und verkündeten. Was jedoch
die davorliegende Geschichte des Orakels betrifft, so ist es
schlicht und einfach undenkbar, daß es möglich gewesen sein
sollte, einen derart frechen Betrug vor der geistig hellsten
Nation, die bis dahin in der Geschichte aufgetreten war, über
tausend Jahre lang aufrechtzuerhalten. Auch bliebe in diesem
Fall die Tatsache unerklärlich, daß vor Beginn der
Römerherrschaft niemals auch nur der geringste Zweifel an dem
Orakel laut wurde. Und ebenso unerklärlich wäre, wieso
ausgerechnet der in politischen Dingen abgeklärt und bisweilen
sogar zynisch urteilende Platon das Delphische Orakel als den
»angestammten Ratgeber (in Religionsfragen) für alle
Menschen« bezeichnet. 4
In der volkstümlichen und gelegentlich auch noch in der
Fachliteratur spukt eine Erklärung anderer Art –
genaugenommen eine Quasi- Erklärung – herum, die das
Phänomen auf einen biochemischen Vorgang reduzieren
möchte. Ihr zufolge war der Trancezustand durchaus echt,
allerdings durch irgendwelche Dämpfe verursacht, die aus
4
Platon, Politeia 427 B. Wir sollten uns auch daran erinnern, daß Sokrates
seine »archaische Autorisierung (ein Begriff, den ich hier neu einführen
möchte) zum Teil von dem Orakel zu Delphi bezog. Vgl. Apologie 20 E- 21
A.
- 440-
einem chasma, einem Erdspalt, im Boden der Höhle drangen.
Durch die französischen Ausgrabungen des Jahres 1903 sowie
neuere Ausgrabungen ist jedoch klar erwiesen, daß ein solches
chasma nicht existiert hat. 5
Nun könnte ja aber auch ein im Lorbeer enthaltenes
Rauschmittel diese appollinischen Zustände bewirkt haben. Um
diese Möglichkeit zu überprüfen, habe ich massenweise
zerstoßene Lorbeerblätter in meiner Pfeife geraucht, mit dem
Ergebnis, daß mir ein bißchen übel wurde, ohne daß ich mich
freilich erhobener gefühlt hätte als sonst. Auch gekaut habe ich
die Blätter über eine Stunde lang und muß in betreff meines
anschließenden Gemütszustands sagen, er war Jaynesischer als
je – von apollinisch, leider!, keine Spur. 6 Die Begeisterung, mit
der man hinter Erklärungen herjagt, die das Phänomen in
Äußerlichkeiten aufzulösen vorgeben, ist einfach nur ein
Ausdruck des in bestimmten Kreisen vorhandenen
Sichsträubens, die Existenz von psychologischen Phänomenen
dieses Typs überhaupt zuzugeben.
Demgegenüber möchte ich für meinen Teil eine ganz anders
geartete Erklärung vorschlagen. Zu diesem Zweck ist es
zunächst erforderlich, den Begriff des »allgemeinen bikameralen
Paradigmas« einzuführen.
Das allgemeine bikamerale Paradigma
Mit diesem Ausdruck bezeichne ich die hypothetische
Tiefenstruktur einer umfangreichen Klasse von Erscheinungen
5
A. P. Oppe, The Chasm at Delphi, Journal of Historical Studies 24 / 1904,
S. 214 f.
6
EveLyiln McGuiness habe ich für vieles in meinem Leben zu danken: hier
dafür, daß sie die Rolle des Beobachters übernommen hat (wenngleich sie
darin ein wenig beeinträchtigt war ebensowohl durch persönliche
Anteilnahme wie durch einen Restbestand an Ehrerbietung). Unsere
Negativbefunde stimmen überein mit T. K. Oesterreich, Possession,
Demoniacal and Other, engl. Übs. 1930, S. 319, Anm. 3.
- 441-
des verminderten Bewußtseins, die nach meiner Interpretation
als partielle Relikte unserer früheren Mentalität zu begreifen
sind. Folgende vier Einzelmomente machen das Paradigma aus:
– der kollektive kognitive Imperativ: ein System von
kollektiven Glaubensüberzeugungen oder von auf kultureller
Übereinkunft beruhenden Erwartungen und Vorschriften, das
durch Vorgabe eines Rollenkatalogs und eines Szenarios über
die bestimmte Form des jeweiligen Phänomens entscheidet; die
Induktion: ein als formelles Ritual ausgebildetes Verfahren zur
Verengung des Bewußtseins durch Fokussieren der
Aufmerksamkeit auf einen stark eingeschränkten Feldausschnitt;
– der eigentliche Trancezustand als Reaktion auf die zwei
zuvor genannten Momente; seine Kennzeichen sind: Minderung
des Bewußtseins, gegebenenfalls bis zum vollständigen
Schwund, sowie Schwächung des Analogons »Ich«,
gegebenenfalls bis zum vollständigen Verlust, mit daraus
resultierender Offenheit für eine von der Bezugsgruppe
akzeptierte, tolerierte oder beifällig unterstützte Rolle;
– die archaische Autorisierungsinstanz, die in der Trance
angepeilt wird beziehungsweise deren Raison d’etre ist; meist ist
es ein Gott, mitunter jedoch auch ein Mensch, dem von dem
Individuum und seiner Kultur Autorität über das Individuum
eingeräumt wird und dem der kollektive kognitive Imperativ die
Verantwortung für alles, was in der Trance geschieht, in
normativer Form überschrieben hat.
Diese Aufzählung sollte nun allerdings nicht zu dem Schluß
verleiten, daß die einzelnen Momente des allgemeinen
bikameralen Paradigmas zeitlich nacheinander auftreten. Zwar
ist es bei Induktion und Trance so, daß sie im Regelfall zeitlich
aufeinanderfolgen, doch der kognitive Imperativ und die
archaische Autorität sind von Anfang bis Ende durchgängig an
dem Geschehen beteiligt. Überdies herrscht zwischen den
- 442-
einzelnen Momenten eine Art Gleichgewichtsverhältnis oder so
etwas wie Summenkonstanz: je schwächer das eine, desto
stärker müssen die drei anderen zusammen sein, damit es zu
dem fraglichen bikameralen Phänomen kommt. Das erklärt,
warum mit fortschreitender Zeit und insbesondere im Lauf des
ersten Jahrtausends nach Erscheinen des Bewußtseins (parallel
zur Abschwächung des kollektiven kognitiven Imperativs oder
anders ausgedrückt – zur wachsenden Skepsis gegenüber
archaischer Autorität beim Durchschnittsmenschen) die
Induktionsprozeduren zusehends wichtiger und komplizierter
werden und die Trancezustände immer tiefer.
Das allgemeine bikamerale Paradigma ist eine Struktur nicht
nur im Sinn einer logischen Struktur, die sich analytisch in den
fraglichen Phänomenen auffinden läßt, sondern auch in dem
Sinn, daß es eine – derzeit noch nicht spezifizierbare –
neurologische Struktur bezeichnet: ein Vernetzungsschema
zwischen bestimmten Gehirnzentren, das man sich vielleicht
ähnlich wie das im Fünften Kapitel des Ersten Buchs
ausgeführte Modell der bikameralen Psyche vorzustellen hat
(vgl. Seite 128-158). Wir dürfen also damit rechnen, daß an
allen in diesem Dritten Buch behandelten Phänomenen
rechtshemisphärische Funktionen in einer Weise beteiligt sind,
die mehr oder minder von der Funktionsweise des alltäglichen
Bewußtseinslebens abweicht. Denkbar wäre sogar, daß wir es
bei einem Teil dieser Phänomene mit einer zeitweiligen
partiellen Dominanz der rechten Hemisphäre zu tun haben, die
wir als das neurologische Residuum der neuntausend Jahre
umspannenden Selektion zur Bikameralität betrachten dürfen.
Die Übereinstimmung zwischen diesem allgemeinen
bikameralen Paradigma und dem Delphischen Orakel ist in den
ausgefeilten Induktionsprozeduren, dem Trancezustand mit
vollständigem Bewußtseinsschwund und dem inbrünstigen
Verlangen nach der Autorität des Apollon mit Händen zu
greifen. Was ich jedoch in diesem Fall besonders hervorheben
- 443-
möchte, ist der kollektive kognitive Imperativ oder der
Gruppenglaube oder die kulturelle Vorgabe oder Erwartung (alle
diese Ausdrücke umschreiben das Gemeinte auf je verschiedene
Weise). Das volle Gewicht der gewaltigen Kulturforderung, die
auf der verzückten Priesterin lastete, können wir uns kaum
übertrieben vorstellen. Die gesamte griechische Welt glaubte –
glaubte mit dem Glauben, der nahezu ein Jahrtausend währte.
Bis zu 35000 Menschen, zu Schiff aus allen Gegenden des
Mittelmeerraums angereist, zwängten sich täglich durch den
winzigen Hafen von Itea, der sich in die einladende Bucht genau
unterhalb von Delphi schmiegt. Auch sie unterzogen sich
Induktionsprozeduren, indem sie im Wasser der Kastalischen
Quelle badeten und anschließend auf dem Heiligen Weg dem
Apollon und arideren Göttern opferten. In den letzten
Jahrhunderten des Orakelkults war dieser rund zweihundert
Meter lange Kletterpfad über den Hang des Parnässos hinauf
zum Heiligtum von mehr als viertausend Votivstatuen gesäumt.
In diesem mächtigen Strom konkretisierter sozialer Norm und
Erwartung – diese Begriffe kommen der gemeinten Sache näher
als etwa der des bloßen Überzeugtseins im Sinne von »für wahr
halten« – liegen nach meiner Meinung die Erklärungsgründe für
die Psychologie der Sibylle, zumal für das Wieausder-PistoleGeschossen ihrer Antworten. Hier handelte es sich um etwas,
demgegenüber auch nur die leisteste Skepsis ebenso unmöglich
war, wie es für uns unmöglich ist zu bezweifeln, daß die Worte,
die wir im Radio hören, in einem für uns momentan
unsichtbaren Studio erzeugt werden. Und es handelt sich um
etwas, das die moderne Psychologie nur mit ehrfürchtigem
Staunen quittieren kann.
Neben jener ursächlich wirkenden Erwartung ist noch die
natürliche Szenerie zu bedenken. Orakelkulte haben ihren
Ursprung an Orten, wo ganz bestimmte natürliche Bedingungen
vorherrschen, Gebirgsformationen oder Schluchten, oder was
dergleichen sonst eine eigenartig ehrfurchteinflößende Wirkung
- 444-
ausübt, mit halluzinogenem Windgeräusch oder Wellenspiel,
symbolträchtigen
Lichteffekten
und
Fernblicken
–
Gegebenheiten, die, wie ic h meine, jede für sich und erst recht
im Zusammenspiel weit mehr dazu angetan sind, Aktivitäten der
rechten Hirnhemisphäre zu entbinden, als die analytischen
Funktionsbereiche des Alltagslebens anzusprechen. Man darf
vielleicht sagen, daß die Geographie der bikameralen Psyche zu
Beginn des ersten Jahrtausends v. Chr. zusammenschrumpfte
auf solche Plätze von ehrfurchtgebietender Schönheit und
Erhabenheit, wo sich die Stimmen der Götter noch immer
vernehmen ließen.
Zweifellos passen die gewaltigen Steilwände von Delphi in
jeder Hinsicht zu dieser These, wie man es sich besser nicht
wünschen kann: ein Kessel aus nacktem Gestein hoch über dem
Meeresspiegel, auf dessen Rand der Seewind orgelt, an dessen
Wänden Salzdunst haftet, als ob die Natur, sich reckend und
streckend, aus einem Traum aufwache, das Ganze nach einer
Seite hin sich öffnend dem Blick, der über eine ihm
entgegenbrandende blaue Woge von flirrenden Olivenblättern
hinabstürzt in die unsterbliche graue See.
(Allerdings ist es für uns heute schwierig, das
ehrfurchteinflößende Moment solcher Szenerien richtig
einzuschätzen, denn die Unverfälschtheit unserer Reaktion auf
Landschaften wird durch die vorhandene »Innenwelt« des
Bewußtseins ebenso getrübt wie durch unsere Erlebnisse mit
raschen geographischen Ortswechseln. Zudem ist Delphi auch
nicht mehr ganz das, was es einmal war. Was sich da auf
zwanzigtausend Quadratmetern Boden an Säulenstümpfen,
munteren Kritzeleien, kameraschwenkenden Touristen und von
scheinbar kopflos hin und her rennenden ameisenartigen
Menschenmassen, die zwischen weißen Marmorbrocken
umherwimmeln, präsentiert, ist nicht gerade der Stoff, aus dem
die göttlichen Inspirationen sind.)
- 445-
Andere Orakel
Für eine kulturelle Erklärung des Orakels von Delphi spricht
insbesondere auch der Umstand, daß ähnliche, wenn auch
minder bedeutende Orakel damals überall in der zivilisierten
Welt anzutreffen waren. Apollon hatte noch andere Orakel: zu
Aidepsos in Euboia, am Berge Ptoon, zu Hysiai in Boiotien, in
Argos sowie zu Didyma und Patara in Kleinasien. Bei letzterem
gehörte es mit zur Induktionsprozedur, daß die Oberpriesterin
während der Nacht vor dem Orakeltag im Tempel
eingeschlossen wurde, damit der halluzinierte Gott ihr
beiwohnen und sie hinterher um so besser als sein Medium
fungieren konnte. 7 Dem Apollon von Klaros dienten männliche
Priester als Orakel. 8 Ein Orakel des Pan, das zu Akazesion
bestanden hatte, war schon frühzeitig wieder eingeschlafen. 9 Zu
Ephesos, dessen goldenes Orakel wegen seines enormen
Reichtums berühmt war, offenbarte sic h die Göttin Artetuis
durch den Mund verzückter Eunuchen10 (deren Kleidungsstil,
wie nebenbei vermerkt sei, in der griechischorthodoxen Kirche
noch heute in Gebrauch ist). Und der unnatürliche Spitzentanz
moderner Ballerinen wird auf die Tänze, die man vor dem Altar
dieser Göttin aufführte, zurückgeführt. 11 Alles, was aus dem
Rahmen des Alltäglichen herausfällt, kann als Hinweisreiz für
die Aktivierung des allgemeinen bikameralen Paradigmas
dienen.
Die Stimme des Zeus zu Dodona muß eines der ältesten
Orakel gewesen sein, denn Homer berichtet, daß Odysseus es
aufgesucht habe, »damit er aus der hochbelaubten Eiche des
7
Herodot, Historien 1, 182.
Tacitus, tlnnalen 2, 54.
9
Pausanias, Beschreibung Griechenlands 37, B.
10
Charles Picard, Ephese et Claros, Paris: de Bocard 1922.
11
Louis Sechan, La danse grecque antique, Paris: de Bocard 1930; ferner
Lincoln Kirstein, The Book of the Dance, Garden City: Garden City
Publishing Co 1942.
8
- 446-
Gottes den Rat ... vernähme: auf welche Weise er in den fetten
Gau von Ithaka heimkehren möchte ... ob offen oder
heimlich«. 12 Es scheint sich demnach zur fraglichen Zeit um
nichts weiter gehandelt zu haben als um einen mächtigen
heiligen Eichbaum, in dessen Nähe aus dem Rascheln des
Windes in den Blättern die Stimme des Olympiers halluziniert
wurde – was einen zu der Frage führt, ob nicht vielleicht etwas
Ähnliches auch bei den Druiden Brauch und der Grund dafür
war, daß sie den Eichbaum heilig hielten. Erst vom fünften
Jahrhundert v. Chr. an ist die Stimme des Zeus nicht mehr
unvermittelt zu hören, woraufhin Dodona einen Tempel erhält
und eine Priesterin, die in bewußtloser Ekstase anstelle des
Gottes spricht 13 : auch dies entspricht wieder dem aus der
Theorie der Bikameralität ableitbaren chronologischen
Etappenschema.
Nicht nur die Stimmen von Göttern, sondern auch die
verstorbener Könige waren im bikameralen Modus zu hören
(wir haben ja an früherer Stelle bereits ausgeführt, wie die
Götter überhaupt erst aus den letzteren erwuchsen). Amphiaraos,
sagenhafter Fürst von Argos während des heroischen Zeitalters,
findet, nicht ohne Zutun eines ergrimmten Zeus, den Tod in
einem jäh sich auftuenden Erdspalt, der ihn samt Rossen und
Wagen verschlingt. Seine Stimme war jahrhundertelang mit
Antworten auf die Fragen von Ratsuchenden aus jener Kluft zu
hören. Aber auch hier ergab sich im Lauf der Jahrhunderte
wieder die Situation, daß es nur noch bestimmten, an Ort und
Stelle lebenden Priesterinnen gelang, in Verzückung die
»Stimme« zu halluzinieren. In dieser späteren Phase
beantwortete das Orakel nicht mehr Fragen, sondern deutete die
Träume der Ratsuchenden. 14
12
Odyssee 14, 327; 19, 296.
Aelius Aristeides, Orationes 45, 11.
14
Pausanias, Beschreibung Griechenlands 1, 34, 5.
13
- 447-
Der aus der Perspektive der Bikameralitätshypothese in
mancher Hinsicht interessanteste Fall ist jedoch die halluzinierte
Stimme des Trophonios zu Lebadeia, einem rund dreißig
Kilometer östlich von Delphi gelegenen Ort. Es ist nämlich von
allen »Stimmen« die jenige, die am längsten direkt, ohne
Vermittlung von Priestern oder Priesterinnen, zu hören war. Der
Lageplatz des Orakels gibt auch heute noch etwas von dem
ehrfurchtgebietenden Charakter zu erkennen, den er einmal im
Altertum besaß: drei hochragende Steilhänge treffen hier
zusammen, murmelnde Gewässer quellen aus dem Boden des
weihevollen Ortes, um sich bescheiden in Steinschluchten zu
verlaufen, und ein Stück weiter oben, wo eine der Schluchten in
Windungen ins Innere des Bergmassivs vorzudringen beginnt,
befand sich in dem Gestein ehemals eine kammerähnliche
Vertiefung, von der eine Art Kamin abwärts in das Heiligtum,
eine backofenähnliche Höhlung über einem unterirdischen
Wasserlauf, führte.
Erleidet der kollektive kognitive Imperativ im Rahmen des
allgemeinen bikameralen Paradigmas eine Schwächung, anders
ausgedrückt: sind Gläubigkeit und Vertrauen gegenüber den
erwähnten Phänomenen infolge zunehmender Rationalität im
Schwinden begriffen, so wird zum Ausgleich dafür das
Induktionsverfahren langwieriger und komplizierter, zumal
wenn es keine geschulte Priesterin, sondern irgendein Laie ist,
der sich ihm unterzieht. Genau dieser Fall trat in Lebadeia ein.
Der römische Reisende Pausanias schildert die ausgeklügelte
Induktionsprozedur, mit der er es dort im Jahr 150 n. Chr. zu tun
bekam. 15 Nach langen, in steigender Erwartung mit
Läuterungsritcn und Omenschau hingebrachten Tagen des
Ausharrens, so berichtet er, wurde er eines Nachts ohne
Vorankündigung von zwei geweihten Jünglingen gepackt,
gebadet und gesalbt; dann gab man ihm zunächst Wasser aus
15
Ebd., 9, 39, 11.
- 448-
dem Lethefluß zu trinken, damit er vergäße, wer er sei
(Auslöschung des »Ich quaAnalogon«), und im Anschluß daran
einen Schluck aus dem Quell der Mnemosyne, damit er sich
später dessen entsinne, was ihm offenbart werden würde (ein der
posthypnotischen Suggestion vergleichbarer Akt). Dann ließ
man ihn ein geheimes Götterbild anbeten, hüllte ihn in geweihte
Wäsche, gürtete ihn mit geweihten Bändern und legte ihm
spezielles Schuhwerk an, und erst nachdem weitere
Omenbefragungen günstige Vorzeichen erbracht hatten, wurde
er zu guter Letzt über eine profane Leiter in die Höhle der
Heiligkeit hinabgelassen, wo der schwarze Gießbach schäumte
und das Orakel alsbald seine göttliche Botschaft verlauten ließ.
Die sechs Stadien des Orakulierens
Im Rahmen der Entwicklung des Griechentums von
universeller psychischer Bikameralität zur universellen
Ausbreitung des Bewußtseins unterliegen die als Relikte der
bikameralen Welt zu verstehenden Orakel und ihre Autorität
über die Menschen einem Wandel, der jene immer fragwürdiger
und diese immer schwieriger zu erlangen macht. In dem
Vorgang ist ein grobes Schema zu erkennen, das etwa so zu
umschreiben wäre: Während der tausend Jahre ihres Bestehens
befanden sich die Orakel in stetigem Niedergang, der sich in
sechs Stadien unterteilen läßt. Diese sechs Stadien kann man als
ebenso viele Etappen im Verfall des kollektiven kognitiven
Imperativs der bikameralen Psyche betrachten.
1. Orakel durch die Ortsbeschaffenheit. Die Urformen des
Orakels sind einfach nur bestimmte Örtlichkeiten, die ein
feierliches, eine ehrfürchtige Stimmung erweckendes Ansehen
hatten und/oder als Schauplatz eines bedeutsamen Ereignisses
galten und/oder wo Lichteffekte, Geräuschkulisse, der Wind, die
Meereswellen, Wasserläufe und ähnliches halluzinogene
- 449-
Bedingungen schufen, so daß Ratsuchende – und zwar xbeliebige laienhafte Ratsuchende – dort nach wie vor
unmittelbar eine bikamerale Stimme »hören« konnten.
2. Orakel durch Propheten. In der Regel folgte auf das eben
beschriebene Stadium eines, in dem nur noch bestimmte
Personen, Priester oder Priesterinnen, die göttliche Stimme an
dem betreffenden Ort zu »hören« vermochten.
3. Orakel durch geschulte Propheten. Im dritten Stadium
vermochten diese Personen – Priester oder Priesterinnen –
ihrerseits die Stimme erst nach langer Schulung und, im
konkreten Fall, umständlicher Induktion zuhören«. Bis in dieses
Stadium war die Seher-Person noch »bei sich« und übermittelte
selbst die Rede des Gottes ans allgemeine Publikum.
4. Orakulieren im Zustand der Besessenheit. Spätestens im
fünften Jahrhundert v. Chr. tritt als nächstes in der Reihe das
Stadium des besessenen Orakulierens ein: das Stadium des
»räsenden Mundes« und der Körperverrenkungen, die noch
weitergehende
Schulung
und
noch
aufwendigere
Induktionsprozeduren zur Voraussetzung haben.
5. Gedolmetschtes besessenes Orakulieren. Mit zunehmender
Abschwächung des kognitiven Imperativs wurde die Sprache
des Mediums stammelnd und verworren und mußte von
Unterpriestern oder -priesterinnen in verständlichen Ausdruck
übersetzt und gegebenenfalls auch interpretiert werden; auch
diese assistierenden Priester mußten sich zur Ausübung ihrer
Funktion einer Induktion unterziehen.
6. Das inkohärente Orakel. Doch damit der Schwierigkeiten
- 450-
nicht genug: Die Stimmen wurden unberechenbar, der Ausdruck
des Mediums inkohärent bis zur Undeutbarkeit – und damit
erlosch die Institution.
Das Delphische Orakel bestand am längsten. Seine lange
Lebensdauer ist der schlagende Beweis dafür, welch
überragende Bedeutung es für die gottessehnsüchtige
Subjektivität im Griechenland des Goldenen Zeitalters gehabt
haben muß, eine Bedeutung, die zu ermessen man erst dann in
der Lage ist, wenn man sich klarmacht, daß dieses Orakel fast
jedesmal, wenn fremde Eroberer in Griechenland einfielen, die
Partei der Invasoren ergriff: So sprach es im frühen fünften
Jahrhundert v. Chr. für Xerxes I., im vierten Jahrhundert v. Chr.
für Philipp II. von Makedonien, und noch im Peloponnesischen
Krieg schlug es sich auf die Seite der Spartaner. Vor diesem
Hintergrund wird ablesbar, welchen Rang das Orakel unter den
geschichtsformenden Kräften einnahm. Sogar der quicke Spott;
den ein patriotisch verbitterter Euripides im Theater über es
ausgoß, vermochte ihm nichts anzuhaben.
Doch mit dem ersten Jahrhundert n. Chr. war das Delphische
Orakel in sein letztes Stadium eingetreten. Während die Bik am
Eralität immer tiefer in einer von der Erinnerung
abgeschnittenen Vergangenheit versank, hatte der Skeptizismus
den Glauben überrundet. Der ehemals machtvolle kulturelle
kognitive Imperativ, der das Orakelwesen gestützt hatte, zog
nicht mehr und versagte, und immer öfter endete die ganze
Veranstaltung in einer Panne. Ein derartiger Fall aus dem Jahr
60 n. Chr. ist bei Plutarch überliefert. Die Seherin versuchte
widerwillig, sich in Trance zu versetzen, obgleich die Auspizien
Unheil verkündet hatten. Wie in tiefer Verstörung hob sie mit
heiserer Stimme an zu sprechen, erschien dann jedoch wie von
einem »stummen und bösen Geist« erfüllt und lief schreiend
zum Eingang, wo sie niederstürzte. Sämtliche Anwesenden, die
prophetai eingeschlossen, rannten von Panik ergriffen davon.
- 451-
Der Bericht erzählt weiter, daß man die Seherin bei der
Rückkehr halb erholt wiederfand, daß sie jedoch innerhalb
weniger Tage verschied. 16 Da Plutarch den Vorfall vermutlich
so wiedergibt, wie er ihm von einem der dabei anwesenden
prophetai geschildert wurde, haben wir keinen Grund, an der
Wahrheit der Geschichte zu zweifeln. 17
Doch derlei neurotischen Ausrutschern zum Trotz blieb der
Rat des Delphischen Orakels bei den traditionshungrigen, an
einem intellektuellen Griechen-Trauma leidenden Römern
weiterhin geschätzt. Der letzte, der dort vorstellig wurde, war
mein kaiserlicher Namensvetter Julian (»Apostata«), der im
Anschluß an einen weiteren Namensvetter (den Autor eines
nach dem Diktat halluzinierter Götter verfaßten Texts über die
»Orakel der Chaldäer«) die alten Götter wiederzuerwecken
versuchte. Im Zuge seiner persönlichen Suche nach Autorität
unternahm er es im Jahr 363 n. Chr., drei Jahre nachdem der Ort
von Kaiser Konstantin geplündert worden war, das Delphische
Orakel wieder zu Glanz und Ehren zu bringen. Durch den Mund
der noch verbliebenen Priesterin prophezeite Apollon, daß er
fortan nie wieder prophezeien werde. Und diese Prophezeiung
hat sich erfüllt. Wieder einmal war für die bikamerale Psyche
das Ende eines von ihren zahlreichen Enden gekommen ...
Sibyllen
Das Zeitalter des Orakulierens erstreckt sich über das gesamte
Jahrtausend nach dem Zusammenbruch der bikameralen Psyche.
Und während es langsam ausklingt, tauchen da und dort
Amateurorakel auf (wie man sie etwas salopp bezeichnen
könnte): Menschen, die sich in spontanem Erleben, ohne
Schulung und institutionellen Hintergrund, von Göttern ergriffen
fühlten. Kein Zweifel, daß manche von ihnen nur schizophrene
16
17
Plutarch, De defectu oraculorum 51, 438 c.
Dodds, a. a. O. (vgl. Fußnote auf Seite 201), S. 72.
- 452-
Abstrusitäten daherschwatzten. Wahrscheinlich waren es sogar
die meisten; die das taten. Andere dagegen traten mit einer
Überzeugungskraft auf, die Glauben erzwang. Zu diesen rechnet
auch jene kleine, mit letzter Genauigkeit nicht zu beziffernde
Zahl von absonderlichen, wundersamen Frauen, die als
»Sibyllen« (von aiolisch sios = Gott + bule = Rat) in die
Geschichte eingegangen sind. Nach Varros Zählung lebten zu
einem bestimmten Zeitpunkt während des ersten Jahrhunderts v.
Chr. mindestens zehn solcher Sibyllen über den gesamten
Mittelmeerraum verteilt. Aber zweifellos gab es in entlegeneren
Regionen noch mehr von ihnen. Sie führten ihr einsames Leben
bisweilen hoch verehrt in Bergheiligtümern, die man eigens für
sie angelegt hatte, bisweilen – wie die überragende cumäische
Sibylle – in unterirdischen Kalktuffhöhlen nahe dem ächzenden
Ozean. Der Sibylle von Cumae hat wahrscheinlich Vergil um 40
v. Chr. einen persönlichen Besuch abgestattet, bevor er das
Sechste Buch seiner »Aeneis« niederschrieb, in dem er das
Rasen der Seherin unter dem Ansturm des göttlichen Phoebus
schildert.
Ähnlich wie die Orakel wurden auch die Sibyllen von hoch
und niedrig um Entscheidungen in problematischen
Angelegenheiten angegangen, und das noch im dritten
Jahrhundert n. Chr. Ihre Auskünfte waren von solch moralischer
Inbrunst durchsetzt, daß selbst die frühen christlichen
Kirchenväter und das hellenistische Judentum sie als
gleichrangig mit den alttestamentarischen Propheten gelten
ließen. Insbesondere bediente sich die frühchristliche Kirche
(nicht selten gefälschter) sibyllinischer Orakel, um ihre eigene
göttliche Sendung unter Beweis zu stellen. Noch über ein
Jahrtausend später fanden vier Sibyllen (ich zähle die
»Delphische« nicht dazu), von Michelangelo gemalt, auf der
Decke der Sixtinischen Kapelle im Vatikan ein Unterkommen.
Und nochmals ein paar Jahrhunderte später blickten Kopien der
gleichen athletischen Damen mit den aufgeschlagenen
- 453-
Orakelbüchern in den Händen den verschüchterten Schreiber
dieser Zeilen in einer unitarischen Sonntagsschule Neuenglands
von oben herab an. Was zeigt, wie sehr unsere Institutionen
hungern und dürsten nach Beglaubigung durch autoritative
Instanzen.
Und als auch die Zeit der Sibyllen um war und die Götter
nicht länger in menschlichen Leibern Wohnung nehmen und aus
ihnen heraus prophezeien und orakeln wollten – da begibt sich
die Menschheit auf die Suche nach neuen Mitteln und Wegen,
die »Störungen« (so könnte man sagen) aus den Beziehungen
zwischen Himmel und Erde herauszubringen. Neue Religionen
treten auf: das Christentum, die Gnosis, der Neuplatonismus.
Neue Verhaltensmaßregeln werden ausgegeben, so etwa von der
stoischen und der epikureischen Philosophie, um ihrer Götter
beraubte Menschen in ein Verhältnis zur endlosen
Bewußtseinslandschaft der neuerdings spatialisierten Zeit
einzugewöhnen.
In
ungeahntem
Maßstab
greifen
Institutionalisierung,
Verfeinerung
und
Differenzierung
mantischer Techniken in Assyrien um sich: Die Mantik wird zu
einem Bestandteil der Staatsverfassung, das die offizielle
Entscheidung wichtiger Fragen besorgt. Wie zuvor die
griechische Zivilisation in den Orakeln einen göttlichen
Rückhalt besessen hatte, so findet ihn jetzt die römische in
Auspizien und Augurien.
Renaissance der Idolatrie
Aber selbst diese können das Verlangen des gemeinen
Mannes nach Transzendenzerfahrung nicht vollauf stillen.
Nachdem Orakel und Propheten den Dienst versagt haben, stellt
sich gleichsam zum Ersatz eine neubelebte Idolatrie ähnlich
derjenigen der bik ameralen Zeiten ein.
In den bikameralen Hochkulturen war, wie wir gesehen
haben, eine Vielfalt von Groß- und Kleinplastiken als
- 454-
Halluzinationshilfen in Gebrauch. Doch als im Zuge der
Umstellung auf das subjektive Bewußtsein die halluzinierten
Stimmen verstummten, geriet damit auch der Bilderdienst ins
Abseits. Die Idole wurden größtenteils zerstört. Spätbikamerale
Reiche hatten auf Geheiß ihrer eifersüchtigen Götter stets die
Idole gegnerischer Götter oder Herrscher zertrümmert. Und
diese Praxis geriet erst recht auf Touren, als die Idole nichts
mehr von sich hören ließen und daher die andachtsvolle
Verehrung einbüßten. Im siebten Jahrhundert v. Chr. ließ König
Josia alle Idole in seinem Herrschaftsbereich vernichten.
Unentwegt werden im Alten Testament »Götzenbilder« zerstört
und Flüche auf die Häupter derjenigen gehäuft, die neue
anfertigen. Um die Mitte des ersten Jahrtausends v. Chr. ist der
Bilderdienst ein nur noch vereinzelt und sporadisch auftretendes
und aufs Ganze gesehen bedeutungsloses Phänomen.
Merkwürdigerweise stößt man um die gleiche Zeit auf den
durchaus abseitigen Kultgebrauch des Halluzinierens unter
Zuhilfenahme abgetrennter Menschenhäupter. Herodot berichtet
(4, 26) von der Sitte des obskuren Volks der Issedonen, die
Schädel von Toten zu vergolden und ihnen zu opfern.
Kleomenes von Sparta soll das Haupt des Archonides in Honig
konserviert und es vor jedem wichtigen Schritt um Rat gefragt
haben. Auf mehreren etruskischen Vasen aus dem vierten
Jahrhundert v. Chr. ist die Befragung orakelnder
Menschenköpfe dargestellt. 18 Und Aristoteles erwähnt spöttisch
den abgetrennten Kopf bei ländlichen Kariern, der noch im Tode
zu »sprechen« fortfuhr. 19 Damit ist dieses Thema praktisch
schon erschöpft. Seitdem das subjektive Bewußtsein im
allgemeinen Dasein fest verankert ist, ist eben für die Praxis des
Halluzinierens unter Verwendung von Idolen nur mehr
versprengt ein äußerst knapper Spielraum übrig.
18
Vgl. John Cohen, Human Robots and Computer Art, History Today
8/1970, S. 562.
19
De pattibus animalium 3, 10, 9-12.
- 455-
Doch mit dem Anbruch der christlichen Ära, in der die Orakel
durch Verspottung und Lächerlichmachen zum Verstummen
gebracht werden, kommt es zu einer wahren Renaissance der
Idolatrie. Die Tempel, die Hügel und Städte im niedergehenden
Griechenland und im aufsteigenden Rom weiß färbten, wurden
jetzt
mit
Götterstandbildern
über
Götterstandbildern
vollgestopft. Im ersten nachchristlichen Jahrhundert sah dann
der Apostel Paulus, als er nach Athen kam, voller Grimm »die
Stadt voller Götzenbilder« (Apostelgeschichte 17, 16), und
Pausanias, dem wir vor wenigen Seiten in Lebadeia begegnet
sind, stolpert auf seinen Reisen förmlich an allen Ecken und
Enden über Idole von jeder nur denkbaren Art: aus Marmor oder
Elfenbein, vergoldet oder bemalt, mannshoch oder, wie es
zuweilen vorkam, bis zur Höhe von zwei- oder dreistöckigen
Häusern aufragend.
»Sprachen« diese Idole zu ihren Anbetern? Ohne Frage kam
das in der Weise wie in den bikameralen Zeiten noch
gelegentlich vor. Aber im ganzen genommen ist es für die Zeit
nach Anbruch der subjektiven Ära sehr zu bezweifeln, daß
derlei Stimmphänomene noch besonders häufig spontan (nicht
induziert) aufgetreten wären. Sonst wäre nämlich kein so großes
und immer größeres Aufheben gemacht worden um die
künstlichen – magischen oder chemischen – Mittel und Wege,
auf denen von den steinernen oder elfenbeinernen Göttern
halluzinierte Botschaften zu erlangen waren. Und auch hier läßt
sich wieder der Eintritt des allgemeinen bikameralen
Paradigmas in die Geschichte beobachten: der kollektive
kognitive Imperativ, die Induktion, die Trance und die
archaische Autorität.
In Ägypten, wo die Bruchstelle zwischen Bikameralität und
Subjektivität nicht so scharfkantig ausgefallen ist wie bei
regsameren und bewegteren Völkerschaften, entwickelt sich das
sogenannte hermetische Schrifttum. Es umfaßt eine Reihe von
Papyri
mit
Schilderungen
der
verschiedenartigen
- 456-
Induktionsprozeduren, die angesichts versiegender bikameraler
Gewißheit aufgekommen waren und in der neuen Welt des
Bewußtseins Verbreitung gefunden hatten. Auf einem davon
findet sich ein Dialog, der (nach dem griechischen Gott der
Heilkunst) als »Asklepios« bezeichnet wird und in dem eine
Technik angegeben ist, wie man unter Verwendung von
Kräutern, Edelsteinen und Düften die Seelen von Dämonen und
Engeln in Statuen bannen kann, so daß die Statuen hinterher
reden und weissagen können. 20 Andere Papyri enthalten weitere
Rezepte für die Verfertigung und Belebung von Statuen, so etwa
Hinweise, wann sie hohl zu lassen sind, um einen auf Blattgold
geschriebenen magischen Namen aufnehmen zu können.
Im ersten nachchristlichen Jahrhundert sind derlei Praktiken
so gut wie in der gesamten zivilisierten Welt verbreitet.
Klatschgeschichten über Wunderleistungen öffentlicher
Kuhstandbilder wuchsen sich in Griechenland zur Legende aus.
In Rom verehrte Nero eine Statuette, die Verschwörungen
aufdeckte. 21 Dem Apuleius wurde vorgeworfen, ein solches
Wunderbild im Privatbesitz zu haben. 22 Bis zum zweiten
Jahrhundert n. Chr. war die Verbreitung halluzinogener Idole
dann so allgemein geworden, daß Lukian sich veranlaßt sah, in
seinem »Philopseudes« die Statuengläubigkeit seiner
Zeitgenossen der satirischen Verspottung preiszugeben. Und
Iamblichos aus Chalkis, der neuplatonische Apostel der
»Theurgie« (wie er das in seiner Schrift »Peri agalmaton«
nannte), bemühte sich nachzuweisen, »daß die Idole göttlich und
von der Gegenwart Gottes erfüllt sind«, womit er den wütenden
20
Die Bücher der verschiedenen Asklepios-Tempel verzeichnen eine Fülle
von Diagnosen und Heilverordnungen, die den Kranken dort angeblich im
Schlaf zuteil wurden. Gesammelt und übersetzt wurde dieses Material von E.
J. u. L. Edelstein in: Asclepius: A Collection and Interpretation of the
Testimonies, x Bde., 1945.
21
Sueton, Nero 56.
22
Apuleius, Apologia sive de magia 63.
- 457-
Verdammungsurteilen christlicher Kritiker zum Trotz dem
Feuer der Begeisterung für diese Statuen neue Nahrung
zuführte. Die Schüler des Iamblichos gewannen ihren
Götterbildern Orakel jeglicher Art und Couleur ab. Einer dieser
halluzinierenden Geisterseher brüstete sich, er sei in der Lage,
ein Standbild der Hekate zum Lachen und die Fackel in ihrer
Hand zur Selbstentzündung zu bringen. Noch Cyprianus, der in
Ehren ergraute Bischof von Karthago, beklagte sich im dritten
Jahrhundert über die »Geister, die unter Statuen und geweihten
Bildern lauern«. 23 Dank der Anstrengung, nach dem Scheitern
von Orakeln und Propheten die bikamerale Psyche neu zu
beleben, war die gesamte zivilisierte Welt im Rahmen einer
bemerkenswerten Re naissance der Idolatrie Schauplatz einer
Epiphanie des Göttlichen in Statuen jeglicher Art und Gestalt.
Wie hat man sich den Glauben an diese Dinge zu erklären?
Wir befinden uns doch bereits weit im subjektiven Zeitalter, die
Menschen rühmten sich seit la ngem ihrer Vernünftigkeit und
ihres klaren Verstandes und hatten immerhin auch schon
begriffen, daß es so etwas wie halluzinatorische Trugbilder gab
– wie konnten sie da allen Ernstes glauben, daß ihren Statuen
reale Gottheiten innewohnten? Und daß sie wirklich und
wahrhaftig sprachen?
Um das zu verstehen, müssen wir uns den nahezu universellen
Glauben jener Jahrhunderte an den absoluten Dualismus von
Geist und Materie in Erinnerung rufen. Geist oder Seele oder
Bewußtsein (man traf da keine klaren Untersche idungen) war
etwas, das vom Himmel herab in den stofflichen Körper
eingegossen war, um ihn zu beleben. In diesem Punkt waren
sich sämtliche neuen Religionen jener Epoche einig. Und wenn
eine Seele in eine so hinfällige Sache, wie das Fleisch es ist,
eingehen und sie beleben kann – in einen verwundbaren
23
Weitere Beispiele bei Dodds, a. a. O. (vgl. Fußnote auf Seite 201).
- 458-
Madensack, in den zu seiner Erhaltung am einen Ende
pflanzliche und tierische Stoffe hineingestopft werden müssen,
die dann am anderen Ende unter Entwicklung von üblen
Gerüchen wieder ausgeschieden werden; ein von Sinnlichkeit
zerfressenes Gefäß der Sünde, das mit den Jahren Runzeln zieht,
von Blähungen geplagt und von grausamen Krankheiten
heimgesucht wird und mit dem gleichen Akt, der auch eine
Zwiebel spaltet, im Handumdrehen von der ihm einwohnenden
Seele zu trennen ist – um wieviel eher läßt sich dann Leben,
göttliches Leben, vom Himmel herab eingießen in ein Standbild
von unverwundbarer Schönheit mit seinem makellosen Körper
aus nichtwelkendem Marmor oder für Krankheiten
unangreifbarem Gold! So schreibt zum Beispiel Kallistratos im
vierten Jahrhundert n. Chr. über ein Asklepios-Standbild aus
Elfenbein und Gold:
Sollen wir zugeben, daß der göttliche Geist herabsteigt in
Menschenkörper, um dort sogar von Leidenschaften befleckt zu
werden, das gleiche jedoch abstreiten in einem Fall, wo
durchaus kein Zeugen von Übel damit verbunden ist?... denn
seht, wie eine Statue, nachdem die Kunst einen Gott in ihr
abgebildet hat, sogar in den Gott selbst übergeht! Obzwar
Materie, tut sie doch göttliches Wissen kund. 24
Und sowohl der Autor wie auch der größte Teil seiner
Zeitgenossen glaubten daran.
All das ließe sich heute sehr viel anschaulicher demonstrieren,
hätte nicht Kaiser Konstantin im vierten Jahrhundert n. Chr. –
hierin ganz ähnlich wie tausend Jahre früher König Josia in
Israel vorgehend – seine Armeen von neugetauften Christen mit
Hämmern in die vormals bikamerale Welt ausgesandt, damit sie
jeglichen materiellen Überrest von Bikameralität, den sie
24
Beschreibungen ro, übs. von A. Fairbanks, 1902 (Loeb Classical Library).
- 459-
entdecken würden, zertrümmerten. Nach dem Zusammenbruch
der bikameralen Psyche ist jeder Gott ein eifersüchtiger Gott.
Doch selbst dieses Zerstörungswerk vermochte mit der
Idolatrie nicht vollständig aufzuräumen: so essentiell ist dem
Menschen das Verlangen nach irgendeiner autoritativen
Beglaubigung seines Verhaltens. Im Italien und Byzanz des
Mittelalters glaubte man an die Macht magischer Standbilder,
Unheil zu bannen. Gegen die berühmtberüchtigten
Tempelherren wurde immerhin die Anschuldigung erhoben, sie
nähmen Befehle von einem goldenen Kopf entgegen, der
Baphomet heiße. Im ausgehenden Mittelalter erfreuten sich
halluzinogene Idole solcher Beliebtheit, daß Papst Johannes
XXII. in einer Bulle aus dem Jahr 1326 seinen Bannfluch gegen
jedermann richtete, der mittels Zauberei Dämonen in ein
Bildwerk oder sonstigen Gege nstand banne, um sich von ihnen
Fragen beantworten zu lassen. Noch bis zur Reformationszeit
konkurrierten
Klöster
und
Wallfahrtskirchen
mittels
wunderwirkender Statuen miteinander um die Pilger (und ihre
Opfergaben).
Zu manchen Zeiten – wahrscheinlich immer dann, wenn die
kognitiven Imperative hinter derartigen neobikameralen
Erlebnissen unter dem Druck aufklärerisch-rationalistischer
Tendenzen ins Wanken gerieten – wurde dem Glauben an
lebende Statuen von Fall zu Fall mit betrügerischen
Machenschaften nachgeholfen. 25 Um nur eines von zahlreichen
Beispielen zu zitieren: Zu Boxley wurden an einem mannshohen
mittelalterlichen Crucifixus, der in der Gegenwart von Büßern
die Augen rollte, Tränen vergoß und Schaum vorm Mund trug,
im sechzehnten Jahrhundert »gewisse Maschinerien und alte
Drähte zusammen mit alten, verfaulten Stöcken im Rücken
25
Vgl. F. Paulsen, Talking, Weeping, and Bleeding Sculptures, Acta
Archeologica 16/1945,S. 178f.
- 460-
desselben« 26 entdeckt. Doch sollten wir derlei nicht nur durch
die Brille des Zynikers betrachten. Zwar ist es sicher nicht zu
leugnen, daß diese artifiziell belebten Statuen hä ufig keinen
anderen Zweck hatten, als den wundergeilen Pilger hinters Licht
zu führen; andererseits mag es durchaus auch Fälle gegeben
haben, wo die Absicht darin bestand, den Gott mit einer
lebensechteren Statue um so eher zur Herniederkunft und
Verkörperung zu bewegen. Ein Traktat aus dem vierzehnten
Jahrhundert erklärt zu diesem Thema: »Gottes Wunderkraft
erfüllt mit ihrem Leuchten manche Bildwerke mehr als
andere.« 27 Nicht anders begründen noch heute manche
Stammeskulturen, warum sie ihre Idole mechanisch beleben.
Idolatrie ist bis auf den heutigen Tag wirksam geblieben als
soziale Bindekraft – was ja von allem Anfang an ihre eigentliche
Funktion war. In unseren Volksgärten und öffentlichen Anlagen
haben die Denkmäler verflossener Führerfiguren noch heute
eine blumenreiche Heimstatt. Zwar sind wohl nur wenige von
uns noch in der Lage, sie sprechend zu halluzinieren, doch hat
der Brauch sich kaum verändert, ihnen bei passenden
Gelegenheiten Spenden (in Form von Kränzen) darzubringen
gleich den Spenden, die (wenn auch in bedeutend größerem
Umfang) in den gigunu von Ur geopfert wurden. In Kirchen,
Tempeln und Heiligtümern allüberall auf der Welt werden bis
auf den heutigen Tag aus Stein gehauene oder aus Holz
geschnitzte oder aus Gips geformte, bemalte oder unbemalte
religiöse Bildwerke aufgestellt und verehrt. Püppchen, die die
Himmelskönigin darstellen, baumeln schutzgewährend an den
Rückspiegeln vieler Autos. Weibliche Teenager, Zöglinge
26
Vgl. Jonathan Sumption, Pilgrimage: An Image of Medieval Religion,
Totawa, N. J.: Roeman & Littlefield 1975; ferner Julia Halloway, The
Pilgrim, Berne: Peter Lang, im Druck.
27
Aus einer Lollardenhandschrift zitiert bei Sumption (vgl. Fußnote auf Seite
409), S. 270.
- 461-
tiefreligiöser Klosterschulen, haben dem Autor in persönlichen
Unterredungen gestanden, daß sie nicht selten in tiefer Nacht
sich heimlich in die Kapelle hinabstehlen, und sie verschwiegen
dabei auch nicht, wie freudig erregt sie sich fühlen, die Statue
der Jungfrau Maria sprechen zu »hören« und zu »sehen«, wie sie
die Lippen bewegt oder das Antlitz neigt oder – was
gelegentlich ebenfalls vorkommt – Tränen vergießt. In weiten
Teilen der katholischen Welt werden noch heute an bestimmten
Festtagen milde dreinblickende Idole von Jesus, Maria oder
einem Heiligen gewaschen und eingekleidet und beweihräuchert
und mit Blumen bekränzt und mit Edelsteinen geschmückt, um
alsdann mit großem Pomp auf Schultern aus glockentönenden
Kirchen hinaus und in Prozession durch die Straßen oder über
die Felder getragen zu werden. Besondere Speisen als
Opfergaben vor diesen Bildern abzulegen, vor ihnen zu tanzen
oder sich zu verneigen verfehlt noch heute nicht, eine Stimmung
numinoser
Erregtheit
hervorzubringen. 28
Derlei
Andachtshandlungen unterscheiden sich von ähnlichen
Ausflügen der Gottheiten ins Freie, wie sie vor viertausend
Jahren im bikameralen Zweistromland stattgefunden haben,
hauptsächlich darin, daß die Idole von heute sich
verhältnismäßig schweigsam zeigen.
28
Wie z. B. in Flauberts schöner Erzählung Un caeur simple (Ein einfaches
Herz, in: Drei Erzählungen).
- 462-
ZWEITES KAPITEL
Von Propheten und Besessenheit
Dem Leser dürfte die große Lücke in der hier vorgetragenen
Theorie der Orakel, über die ich im vorigen nonchalant
hinweggeglitten bin, nicht entgangen sein. Ich habe das
allgemeine bikamerale Paradigma als Relikt der bikameralen
Psyche bezeichnet. Gleichwohl handelt es sich bei dem durch
Bewußtseinsverengung
oder
Bewußtseinsverlust
gekennzeichneten Entrückungszustand nicht um ein Replikat der
bikameralen Psyche (jedenfalls gilt dies für das vierte und
spätere Stadien des Orakulierens). Vielmehr haben wir es (vom
vierten Stadium an bis zum Verschwinden der Orakel) mit
einem vollständigen Dominieren der Gott-Komponente über die
Person und ihr Sprechen zu tun – einem Dominieren, das zwar
die Person als Resonanzboden benutzt, ihr aber nicht gestattet,
sich hinterher an das Vorgefallene zu erinnern. Dieses
Phänomen kennt man unter dem Namen Besessenheit.
Ein Phänomen, das uns Fragen aufgibt. Fragen, die sich nicht
nur auf die längst vergangenen Orakel des Altertums beziehen.
Besessenheit tritt auch heute noch auf und ist über lange
historische Zeiten hin immer wieder aufgetreten. Sie kommt in
einer Negativform vor, die im neutestamentarischen Galiläa eine
der verbreitetsten Krankheiten gewesen zu sein scheint. Und mit
guten Gründen ließe sich behaupten, daß zumindest ein Teil der
Wanderpropheten in Mesopotamien, Israel, Griechenland und
anderswo nicht einfach irgend etwas an die Zuhörer weitergab,
was zuvor halluzinativ gehört worden war, sondern daß die
göttliche Botschaft unmittelbar vom Stimmapparat des
Propheten ausging, ohne daß dieser Kenntnis von dem Vorgang
gehabt oder sich hinterher hätte daran erinnern können. Wer wie
ich den damit verbundenen Zustand als Bewußtlosigkeit
bezeichnet, schuldet dafür einige Erklärungen. Denn könnte
- 463-
man nicht ebensogut auch sagen, daß es sich nicht um einen
»Verlust« des Bewußtseins, sondern um seinen Austausch gegen
eine neue, andersgeartete Form von Bewußtsein handelt? Doch
was könnte das konkret bedeuten? Oder ist es vielleicht so, daß
jene Sprachorganisation des Nervensystems, die aus dem
vermeintlich besessenen Menschen spricht, Bewußtsein im Sinn
des (hier im Zweiten Kapitel des Ersten Buches dargelegten)
Narrativierens in einem »Innenraum« gar nicht kennt?
Auf diese Fragen gibt es keine kurzen und bündigen
Antworten. Der Umstand, daß wir den Sachverhalt des
Besessenseins
von
metaphysischen
Wesenheiten
als
ontologischen Unfug abtun dürfen, sollte uns nicht blind machen
für die psychologischen und historischen Einsichten, die sich
aus der genauen Untersuchung solcher Auswüchse der
Geschichte und des Glaubens gewinnen lassen. In der Tat muß
jede Theorie über das Bewußtsein und seinen Ursprung in der
Zeit sich auch diesen rätselhaften Abseitigkeiten stellen. Und ich
behaupte nachdrücklich, daß die hier vertretene Theorie besser
als jede andere in der Lage ist, in diese dunklen Ecken und
Winkel der Psychohistorie hineinzuleuchten. Denn solange wir
an der rein biologischen Evolution des Bewußtseins im Rahmen
der Entwicklungsgeschichte der niederen Wirbeltiere festhalten,
sind die erwähnten Phänomene für uns unzugänglich und in
ihrer historisch wie kulturell abseitigen Natur nicht einmal
ansatzweise zu begreifen. Allein die Voraussetzung, daß
Bewußtsein unter dem Diktat eines kollektiven kognitiven
Imperativs erlernt wird, ermöglicht uns überhaupt erst einen
rationalen Zugriff auf die erwähnten Fragen.
Der erste Schritt zum Verständnis eines psychischen
Phänomens besteht darin, seine historische Zeitdauer
einzugrenzen. Wann ist es erstmals aufgetreten?
Die Antwort darauf braucht man, jedenfalls soweit es um
Griechenland geht, nicht lange zu suchen. Nirgendwo in der
»Ilias« oder der »Odyssee« oder sonst einer frühgriechischen
- 464-
Dichtung findet sich auch nur der leiseste Hinweis auf
Besessenheit oder sonst etwas dergleichen. Während des
eigentlich bikameralen Zeitalters kommt es niemals vor, daß ein
»Gott« durch den Mund eines Menschen spricht. Dagegen ist
diese Erscheinung allen Anzeichen nach bis um 400 v. Chr.
genauso selbstverständlich geworden, wie es heute etwa
Kirchenbauten sind: Nicht nur in den zahlreichen öffentlichen
Orakeln, sondern auch in einzelnen Privatleuten ist sie über ganz
Griechenland verbreitet. Die bikamerale Psyche ist
verschwunden und hat die Besessenheit als Rückstand
hinterlassen.
Im vierten Jahrhundert v. Chr. läßt Platon den Sokrates mitten
in einem Dialog über politische Fragen beiläufig hinwerfen:
»Gottbesessene Menschen sagen viel Wahres, wissen aber
nichts von dem, was sie sagen« 1 – so beiläufig, als könne man
solchen Propheten an jeder Straßenecke von Athen begegnen.
Und was die Bewußtlosigkeit der zeitgenössischen Orakel
betrifft, so läßt er daran keinen Zweifel:
... denn die Prophetie ist ein Wahnsinn, und die Prophetin zu
Delphi und die Priesterinnen zu Dodona haben im Wahnsinn
vieles Gute in privaten und öffentlichen Angelegenheiten
unserer Hellas zugewendet, bei Verstande aber Kümmerliches
oder gar nichts. 2
Und gleichermaßen bedeutet in der Folgezeit die
vermeintliche Besessenheit stets die Auslöschung des
gewöhnlichen Bewußtseins. Vierhundert Jahre nach Platon, im
1
Menon 99 C. Vgl. auch Timaios 71 E – 72 A, wo es u. a. heißt: »Niemand
übt mit Überlegung die gottbegeisterte und wahrhafte Seherkraft, sondern ...
vermöge eines Fiebers oder einer durch Verzückung erzeugten
Umwandlung.«
2
Phaidros 244A-B.
- 465-
ersten nachchristliche n Jahrhundert, stellt Philon aus Alexandria
kategorisch fest:
Wenn ihn [einen Propheten] die Begeisterung ankommt,
verliert er das Bewußtsein, sein Denken schwindet dahin und
verläßt die Festung seiner Seele, wo hingegen nun der göttliche
Geist eingezogen ist und Wohnung genommen hat, und dieser
bringt alle Organe zum Klingen, so daß der Mensch allem, was
der Geist ihm eingibt, klaren Ausdruck verleiht. 3
Das gilt auch noch im folgenden Jahrhundert, wo Aristides
über die Orakelpriesterinnen zu Dodona schreibt, daß sie
solange sie noch nicht von Begeisterung ergriffen sind, nicht
wissen, was sie sagen werden, ebensowenig wie sie sich, sobald
sie wieder zu Verstand gekommen sind, erinnern können, was
sie gesagt haben, also daß jedermann von dem weiß, was sie
sagen, nur sie selber nicht. 4
Und Iamblichos aus Chalkis, der führende Kopf des
Neuplatonismus zu Beginn des dritten Jahrhunderts, behauptete,
daß die göttliche Besessenheit eine »Teilhabe« am Göttlichen
sei, daß sie in einer »Vergemeinschaftung von Energie«
zwischen Gott und Mensch bestehe und »in der Tat alles, was in
uns vorgeht, begreift, jedoch unser eigentliches EigenBewußtsein
und
unsere
Eigenbewegung
auslöscht«.5
Besessenheit dieser Art bedeutet also nicht die Rückkehr zur
bikameralen Psyche im ursprünglichen Sinn. Denn wenn
tausend Jahre früher ein Achilleus die Göttin Athene hörte, dann
3
Philo Alexandrinus, De specialibus legibus 4, 343 in (hg. von L. Cohn u. P.
Wendland im Rahmen der Werkausgabe, Berlin 896 ff). In der gleichen
Schrift heißt es an anderer Stelle (222m): »Der wahrhaft Begeisterte und des
Gottes Volle fasst mit seinem Verstand nicht, was er spricht, er spricht bloß
nach, was ihm eingegeben wird, wie wenn ein anderer es ihm vorsagt.«
4
Aristeides, Opera 213.
5
Iamblichos, De mysterüs 3, 8 (dt. Übs. von T. Hopfner 1922).
- 466-
wußte er hinterher bestimmt, was sie ihm gesagt hatte: Das war
nämlich die Funktion der bikameralen Psyche.
Damit sind wir beim springenden Punkt des Problems
angelangt. Was ein besessener Prophet redet, ist nicht eigentlich
halluziniert, nicht etwas von einem bewußten, halbbewußten
oder – wie im Fall der eigentlichen bikameralen Psyche –
nichtbewußten Menschen Gehörtes. Die besessene Rede wird
äußerlich artikuliert und von anderen gehört. Sie tritt nur bei
normalerweise bewußten Menschen auf, und zwar korrelativ mit
Bewußtseinsschwund. Was berechtigt uns also dazu, zwischen
diesen beiden Phänomenen – den Halluzinationen der
bikameralen Psyche und der Rede von Besessenen – eine
Verwandtschaft zu behaupten?
Darauf habe ich keine wirklich hieb- und stichfeste Antwort
parat. Zugunsten der behaupteten Verwandtschaftsbeziehung
kann ich nur zaghaft vorbringen, daß beide (1) die gleiche
soziale Funktion erfüllen, (2) sich auch darin ähneln, daß sie
autoritativ Handlungsermächtigungen ausstellen, und daß (3)
das wenige, was wir an Faktenmaterial über die Frühgeschichte
der
Orakel
besitzen,
darauf
hindeutet,
daß
die
Institutionalisierung von Besessenheit in ausgesuchten Persone n
an bestimmten Orten in allmählichem Übergang aus dem
Halluzinieren von Gottheiten erwachsen ist, das jeder Beliebige
an diesen Orten erleben konnte. Berechtigt ist demnach
zumindest die hypothetische Vermutung, daß die Besessenheit
über Transformationsschritte eigener Art einen Abkömmling
von Bikameralität darstellt, bei dem die Induktionsrituale,
veränderten kollektiven kognitiven Imperative und eingeübten
Erwartungen in jener expressiven »Besessenheit«, das heißt im
Übermanntwerden des betreffenden Mens chen durch die GottKomponente der bikameralen Psyche resultieren. Vielleicht
kann man die Sache so formulieren: Um die ältere Mentalität zu
restituieren, war es nötig, das sich entwickelnde Bewußtsein
immer nachhaltiger auszuschalten, so daß im selben Zug
- 467-
schließlich die gesamte Mensch-Komponente als solche
unterdrückt wurde und die Gott-Komponente allein die
Kontrolle über den Sprachapparat ausübte.
Und wie hat man sich die neurologische Seite dieser
Mentalität vorzustellen? Aus dem im Fünften Kapitel des Ersten
Buches (Seite 128-159) ausgeführten Modell ergibt sich
praktisch von selbst die Hypothese, daß mit dem Besessensein
irgendeine Störung des normalen Dominanzverhältnisses
zwischen den beiden Hirnhemisphären einhergehen muß,
dergestalt, daß die Aktivität der rechten Hemisphäre um etliches
stärker ist als im Normalzustand. Mit anderen Worten und als
Frage formuliert: Hätten wir auf der Kopfhaut einer der
rasenden Orakelpriesterinnen von Delphi Elektroden anbringen
können, hätten wir dann über der rechten Hemisphäre –
insbesondere über dem Schläfenlappen – ein in direkter
Abhängigkeit vom Grad ihrer Besessenheit beschleunigtes EEG
(mithin verstärkte Aktivität) zu verzeichnen gehabt?
Ich meine: ja. Zum wenigsten ist die Möglichkeit nicht
auszuschließen, daß in dem Dominanzverhältnis zwischen den
beiden Hemisphären eine Veränderung eintrat und daß die
propädeutische Schulung der Orakel in nichts anderem bestand
als darin, die Beantwortung des komplexen Induktionsreizes mit
einer im Verhältnis zur linken verstärkten Aktivität der rechten
Hemisphäre per Bahnung als festes Reaktionsmuster zu
etablieren. Diese Hypothese würde auch die verzerrten Züge, die
äußeren Anzeichen von Raserei und den Nystagmus der Augen
erklären, indem sie diese Dinge auf die abnorme Interferenz der
rechten Hemisphäre oder den Wegfall linkshemisphärischer
Hemmung zurückzuführen erlaubt. 6
6
Wahrscheinlich ist es nicht so, daß der rechtshemisphärische motorische
Rindenbereich das Grimassieren steuert, sondern vielmehr so, daß die
ungewöhnlich starke Aktivität im rechten (Fortsetzung nächste Seite)
- 468-
Hier ist noch eine Anmerkung zum Geschlechterunterschied
zu machen. Wie inzwischen allgemein bekannt, sind Frauen in
puncto Gehirnfunktionen biologisch weniger lateralisiert als
Männer. In schlichtes Deutsch übertragen, bedeutet dies, daß die
psychischen Funktionen bei Frauen nicht im gleichen Grad wie
bei Männern überwiegend in der einen oder der anderen
Gehirnhälfte lokalisiert sind. Die mentalen Fähigkeiten sind bei
Frauen gleichmäßiger über die beiden Hemisphären verteilt.
Bereits im Alter von sechs Jahren vermag ein Junge die
Aufgabe, Gegenstände allein durch Betasten zu identifizieren,
mit der linken Hand besser zu lösen als mit der rechten. Bei
Mädchen funktioniert das mit beiden Händen gleich gut. Daran
zeigt sich, daß die Funktion des haptischen Wiedererkennens
(wie sie genannt wird) bei Jungen dieses Alters bereits
überwiegend rechtshemisphärisch lokalisiert ist, nicht jedoch bei
Mädchen. 7 Und ebenso allgemein bekannt ist, daß ältere Männer
mit einem Schlaganfall oder einer Blutung in der linken
Hemisphäre in größerem Umfang von Sprachstörungen
betroffen sind als Frauen in den gleichen Umständen. Demnach
dürfen
wir
davon
ausgehen,
daß
Residuen
der
rechtshemisphärischen Sprachfunktion bei Frauen stärker
vertreten sind, so daß es ihnen leichter fallen müßte, das
Orakulieren zu erlernen. Und in der Tat bestand die Zunft der
Orakel und Sibyllen zumindest im europäischen Kulturbereich
seit jeher zum überwiegenden Teil aus Frauen.
Schläfen-Scheitel-Bereich die Symmetrie des Inputs der Basalganglien zum
Gesichtsausdruck verzerrt.
7
Sandra F. Witelson, Sex and the Single Hemisphere, Science 193/1976, S.
425-427. Eine Auswertung von rund dreißig weiteren Untersuchungen zum
gleichen Thema unternehmen Richard A. Harshman und Roger Remington
in: Sex, Language, and the Brain, Part I: A Review of the Litersture an Adult
Sexual Differences in Lateralization (1975, noch ungedruckt); vgl. auch
Stevan Harnad, On Gender Differentes in Language, Contemporary
Anthropology 17/1976, S. 327f.
- 469-
Induzierte Besessenheit
Wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, wird das wie
unter göttlichem Einfluß stehende institutionalisierte bewußtlose
Reden der Orakelpropheten im Lauf der ersten Jahrhunderte der
christlichen Ära zus ehends inkohärenter, bis sich ihm
schließlich überhaupt kein Sinn mehr zuordnen läßt und die
Orakel ganz verstummen. Sie geraten unter Beschuß von seifen
eines rationalistischeren Denkstils; auf den Komödienbühnen
und in der Literatur werden Breitseiten vo n Kritik und
vernichtenden Respektlosigkeiten auf sie abgefeuert. Eine
derartige Unterdrückung eines allgemeinen kulturellen
Paradigmas in der Öffentlichkeit (genaugenommen: in der
städtischurbanen Öffentlichkeit) endet erfahrungsgemäß häufig
mit der Abwanderung dieses Paradigmas in den Privatbereich, in
den Untergrund des Sektierertums und der esoterischen Kulte,
wo der zugrundeliegende kognitive Imperativ vor Kritik
geschützt ist. Nicht anders verhält es sich im Fall der induzierten
Besessenheit. Zwar sind die öffentlichen Orakel durch
Verspottung zum Schweigen gebracht, doch bleibt das
Autoritätsverlangen nach wie vor so groß, daß jetzt auf breiter
Front die Privatbemühungen losbrechen, die Götter
zurückzuholen und sie im Mund fast x-beliebiger Menschen
wieder zum Reden zu bringen.
Im zweiten Jahrhundert n. Chr. ist eine wachsende Zahl
solcher »theurgischer« Kulte zu verzeichnen. Ihre Seancen
hielten sie zuweilen in den offiziellen Heiligtümern ab, mit
zunehmender Häufigkeit jedoch als Konventikel in privater
Umgebung. In der Regel versuchte eine pelestike genannte
Person, die das Ganze leitete, den Gott zur zeitweiligen
Inkarnation in einer anderen Person zu bewegen; diese zweite
Person – katochos oder, in speziellerem Sinn, docheus geheißen
– war das, was man heutigentags in einschlägigen Kreisen als
- 470-
ein »Medium« bezeichnen würde. 8 Es stellte sich bald heraus,
daß die Sache mit einem katochos aus einfachen Verhältnissen,
ohne große Bildung, am besten klappte – entsprechende
Empfehlungen ziehen sich wie ein Generalbaß durch die
gesamte einschlägige Literatur. Iamblichos aus Chalkis, der
wahre Apostel dieses Treibens, vermerkt zu Beginn des dritten
Jahrhunderts, die besten Medien seien »schlichte junge Leute«.
Und das waren ja auch, wie wir uns erinnern, die ungebildeten
Bauernmädchen, die man sich aussuchte, um sie als
Priesterinnen für das Delphische Orakel zu schulen. In anderen
Schriften ist von Heranwachsenden wie dem Knaben Aidesios
die Rede, »der nur den Kranz aufzusetzen und in die Sonne zu
blicken brauchte, um auf der Stelle in unübertroffener
Inspiriertheit ein zuverlässiges Orakel von sich zu geben«. Mit
Sicherheit war dies das Ergebnis sorgfältiger Schulung. Daß die
induzierte bikamerale Besessenheit erlernt werden mußte, erhellt
aus der Tatsache, daß die Orakel geschult wurden, wie auch aus
einer Bemerkung des Pythagoras von Rhodos, derzufolge die
Götter sich zuerst nur widerstrebend einstellen, später jedoch
wenn sie es gewohnt sind, in ein und dieselbe Person
einzukehren – mit größerer Bereitwilligkeit.
Das Lernziel bestand nach meiner Theorie darin, die
Hervorbringung eines der bikameralen Psyche nahekommenden
Zustandes zum konditionierten, durch die Induktionsprozedur
abrufbaren Reflex zu machen. Dies ist ein Punkt, der Beachtung
verdient: Norma lerweise kommt es uns nämlich nicht in den
Sinn, wir könnten eine neue, bewußtlose Mentalität und
womöglich ein völlig neues Verhältnis zwischen unseren
Hirnhemisphären erlernen wie das Fahrradfahren.
8
Für die Fakten in diesem Abschnitt bin ich der materialreichen Darstellung
von Dodds in »Appendix II: Theurgy« seines bereits mehrfach zitierten
Werkes (vgl. Fußnote auf Seite 201) verpflichtet. Dort findet der interessierte
Leser auch weiterführende Hinweise.
- 471-
Da es dabei um das Erlernen eines inzwischen zum
praktischen Problem gewordenen neurologischen Zustands ging
– eines vom Alltagsleben himmelweit unterschiedenen Zustands
–, ist es nicht weiter verwunderlich, daß die per Induktion
vermittelten Hinweisreize ausgefallen um jeden Preis und vom
Alltag denkbar weit entfernt zu sein hatten.
Und das waren sie ohne Frage: Seltsames und Abwegiges in
jeglicher Form: Rauchbäder oder Bäder in heiligen Gewässern,
sakrale Gewänder und magische Gürtel, bombastische Kränze
und geheimsymbolische Abzeichen; man postierte sich in einem
Zauberkreis, wie die mittelalterlichen Magier es taten, oder auf
characteres, wie Doktor Faustus, als er den Mephistopheles
herbeihalluzinierte; man rieb sich Strychnin in die Augen, um
Visionen hervorzurufen, wie es in Ägypten Brauch war, oder
man wusch sich mit Schwefel und Meerwasser, nach Porphyrios
(3. Jh. n. Chr.) ein sehr altes, in Griechenland aufgekommenes
Verfahren zur Läuterung der Geistseele, auf daß sie um so eher
ein höheres Wesen in sich zu empfangen in der Lage sei. All
diese Dinge bewirkten natürlich nur insoweit etwas, als man
glaubte, sie bewirkten etwas – so wie auch wir Zeitgenossen
einer Spätzeit keinen »freien Willen« haben, es sei denn, wir
glauben, wir hätten einen.
Und
was
dabei
bewerkstelligt
wurde,
die
»Gottesempfängnis«, unterschied sich psychologisch nicht von
den anderen Formen der Besessenheit, die wir bereits
kennengelernt haben. Bewußtsein und normale Reaktivität des
katochos waren gewöhnlich völlig ausgelöscht, so daß er auf
fremde Hilfe angewiesen war. Und in diesem Zustand tiefer
Trance offenbarte dann vermeintlich der »Gott« Vergangenes
und Zukünftiges, beantwortete Fragen oder traf Entscheidungen
genau wie in den alten griechischen Orakeln.
Welche Erklärung hatte man dafür, wenn die Auskünfte der
Götter sich als irrig erwiesen? Nun, dann hatte man wohl
versehentlich böse Geister herbeizitiert statt einen echten Gott,
- 472-
oder irgendwelche anderen Geister hatten sich ungebeten in dem
Medium breitgemacht. Iamblichos persönlich will einmal in
seinem Medium einen Geist demaskiert haben, der sich für
Apollon ausgab, aber nichts weiter war als der Geist eines
Gladiators. Mit Apologien dieser Art ist die gesamte
spiritualistische Dekadenzliteratur der Folgezeit gespickt.
Und wenn die Seance nicht zum Erfolg zu führen schien,
unterzog sich häufig der Versammlungsleiter seinerseits einer
Induktion durch Läuterungsriten, die ihn in einen
halluzinatorischen Zustand versetzte, in dem er dann klarer
»sah« oder auch von dem bewußtlosen Medium etwas »hörte«,
was dieses womöglich gar nicht gesagt hatte. Dieses »Doubeln«
der medialen Rolle, das dem Zusammenspiel zwischen den
prophetai und den eigentlichen Orakeln ähnelt, ist die Erklärung
für die vielfach berichteten Levitationen des Mediums oder die
Größen- und Formveränderungen an dessen Körper. 9
Zum Ende des dritten Jahrhunderts hatte unversehens das
Christentum
die
heidnische
Welt
mit
eigenen
Autorisiertheitsansprüchen überschwemmt und begann jetzt,
sich viele der damals existierenden heidnischen Praktiken zu
assimilieren. Zu diesen gehörte auch die Gedankenfigur der
Besessenheit, die jedoch im Zuge ihrer Einverleibung in das
Christentum ins Transzendentale gewendet wurde. Fast zur
gleichen Zeit, als Iamblichos die Herablassung des Göttlichen in
Standbilder und analphabetische junge katochoi lehrte, die
dergestalt auf dem Weg »energetischer Gemeinschaft« mit
einem Gott am göttlichen Wesen »partizipierten«, begann der
Vertreter eines Konkurrenzunternehmens, nämlich Athanasius,
der Bischof von Alexandria, das gleiche für den Analphabeten
Jesus zu reklamieren. Der Messias der Christen hatte bis dahin
9
Man darf getrost davon ausgehen, daß ein Großteil der Zaubertricks
berufsmäßiger Illusionisten aus dem Kopieren dieser »Beweise« göttlicher
Eingriffe entstanden ist.
- 473-
für gott-ähnlich gegolten, allenfalls für einen Halbgott, in dessen
Natur sich seine vorgeblich gemischte Abkunft widerspiegelte.
Doch Athanasius gelang es, Kaiser Konstantin, die Konzilsväter
zu Nicaea und später den größten Teil der Christenheit davon zu
überzeugen, daß Jesus an Jahwe partizipierte, einerlei Wesens
mit ihm war: DAS FLEISCHGEWORDENE BIKAMERALE
WORT. Wir dürfen, glaube ich, sagen, daß die sich ausbreitende
Kirche unter der Bedrohung, in Sekten zu zersplittern, das
subjektive Phänomen der Besessenheit zum objektiven
theologischen Dogma übersteigerte. Der Zweck, den sie dabei
verfolgte, war der, ihren noch weitergehenden Anspruch auf
absolute Autorisiertheit zu substantiieren. Für die athanasischen
Christen waren die realen Götter wirklich auf die Erde
zurückgekehrt und würden abermals wiederkehren.
Merkwürdigerweise hat die erstarkende frühchristliche Kirche
weder im Fall des Delphischen Orakels noch im Fall der
Sibyllen bestritten, daß hier Verbindung mit überirdischen
Realitäten aufgenommen werde. Doch heidnische Seancen mit
einfachen Bürschlein als gotterfüllten Medien wurden als
theologische Randale behandelt, als boshafter Unfug des Teufels
und zwielichtiger Geister. Also daß im selben Zuge, wie sich die
Kirche zur politischen Autorität des Mittelalters aufschwingt,
die willentlich induzierte Besessenheit verschwindet –
zumindest aus der öffentlichen Wahrnehmung. Sie wandert jetzt
noch tiefer in den subkulturellen Untergrund, ins Hexenwesen
und diverse Formen der Nekromantik ab und taucht von dort nur
mehr zeitweilig ins öffentliche Bewußtsein auf.
Auf die gegenwärtige Bedeutung dieser Praxis komme ich
alsbald zu sprechen. Zuvor sollten wir jedoch unsere
Aufmerksamkeit auf einen kulturellen Nebeneffekt der
induzierten Besessenheit richten, ihre eher besorgniserregende
Negativform, die ich hier bezeichnen möchte als
- 474-
Schwarze Besessenheit
Jenes ausgesprochen sonderbare Relikt der bikameralen
Psyche hat nämlich auch eine Kehrseite – seine Nachtseite
gewissermaßen. Und sie unterscheidet sich wesentlich von den
anderen im vorliegenden Kapitel behandelten Phänomenen. Es
ist nämlich keine Reaktion auf eine rituelle Induktion, die zu
dem Zweck durchgeführt wird, die bikamerale Psyche
wiederzuerlangen. Es ist eine krankhafte Störung, die als
Reaktion auf Streß auftritt. Praktisch tritt hier emotionaler Streß
an die Stelle der Induktion im allgemeinen bikameralen
Paradigma, das im übrigen genau wie im Altertum funktioniert.
Und wenn das geschieht, dann fallen allerdings Autorisierung
und autorisierende Instanz ganz anders aus.
Diese Andersartigkeit gibt hochinteressante Rätsel auf. Im
Neuen Testament, wo erstmals in der Geschichte von solch
spontanem Besessensein die Rede ist, heißt es (auf griechisch)
daimonizomai, zum Dämon werden. 10 Und von damals bis heute
eignet dem Phänomen, wann immer es auftaucht, meistenteils
jener Negativcharakter, der dem neutestamentlichen Namen
anhaftet. Das Woher dieses Negativcharakters ist derzeit noch
ungeklärt. In einem früheren Kapitel (Zweites Buch, Viertes
Kapitel) habe ich den Ursprung des »Bösen« hypothetisch in das
Willensvakuum verlegt, das aus dem Verstummen der
bikameralen Stimmen resultiert. Daß der Schauplatz, wo sich
das abspielte, Mesopotamien war und insbesondere Babylonien,
wohin die Juden im sechsten Jahrhundert v. Chr. ins Exil
verschleppt wurden, mag die Erklärung dafür sein, warum beim
Einsetzen dieses Syndroms in der Welt, die das Neue Testament
beschreibt, der Negativcharakter überwog.
10
Überdies sind die meisten Fälle derartiger Besessenheit in den ältesten und
authentischsten Evangelien überliefert, nämlich Markus 1, 32 und 5, 15- 18
sowie Matthäus 4, 24; 8, 16, 28-33; 9, 32; 12, 22 (das Matthäusevangelium
basiert nach Ansicht der Fachwelt einesteils auf Markus, zum andern auf
einem unbekannten älteren Evangelientext).
- 475-
Doch wo immer die eigentlichen Ursachen des Phänomens zu
suchen sein mögen: auf der individuellen Ebene müssen sie
denjenigen verwandt sein, die für den überwiegend
düsternegativen Charakter der Halluzinationen Schizophrener
verantwortlich sind. In der Tat springt diese Verwandtschaft
zwischen Schwarzer Besessenheit und Schizophrenie bei
näherem Hinsehen förmlich in die Augen.
Wie der schizophrene Schub beginnt die Schwarze
Besessenheit
gewöhnlich
mit
irgendeiner
Art
von
Halluzination. 11 Oft besteht diese in der tadelnden »Stimme«
eines »Dämons« oder ähnlichen Wesens, die sich nach einer
Periode starker Streßbelastung »hören« läßt. Doch anders als bei
der Schizophrenie entwickelt sich die Stimme dann zu einem
sekundären Persönlichkeitssystem: Das Subjekt verliert die
Selbstkontrolle und verfällt in periodisch auftretende
Trancezustände mit Bewußtseinsschwund, während deren der
»dämonische« Persönlichkeitsaspekt das Regiment führt. Diese
Entwicklung ist wahrscheinlich im Vorliegen eines – durch
Gruppen- oder Religions zugehörigkeit bedingten – starken
kollektiven kognitiven Imperativs begründet.
Bei den Betroffenen handelt es sich ausnahmslos um
Personen ohne nennenswerte Bildung – in der Regel um
Analphabeten –, die allesamt aus tiefster Seele an die Existenz
von Geistern oder Dämonen oder ähnlichen Wesen glauben und
in deren gesellschaftlichem Umfeld dieser Glaube fest verankert
ist. Die gewöhnliche Dauer der Anfälle schwankt zwischen
mehreren Minuten und ein, zwei Stunden; in der Zeit zwischen
den Anfällen ist das Erscheinungsbild des Patienten
vergleichsweise normal und erinnert wenig an sein Leiden. Im
11
Ich resümiere hier Fallgeschichten aus der einschlägigen Literarur. Der
Leser findet den Gegenstand ausführlicher behandelt und mit weiteren (nicht
sonderlich vollständigen) Fallgeschichten dokumentiert bei Oesterreich, a. a.
O. (vgl. Fußnote auf Seite 393) sowie in: J.L. Nevius, Demon Possession and
Allied Themes, Chicago: Revell 1896.
- 476-
Gegensatz zu dem, was Schauerromane uns glauben machen
wollen, ist die Schwarze Besessenheit hauptsächlich ein
sprachliches Phänomen, keine Angelegenheit des faktische n
Verhaltens. Unter allen von mir untersuchten Fällen war
Delinquenzverhalten gegenüber anderen Menschen die
Ausnahme. Der Besessene schießt nicht los und führt sich auf
wie ein Dämon: Er redet nur wie einer.
Die Anfallsepisoden sind in der Regel von Leib- und
Gliederverrenkungen und -windungen begleitet, wie sie auch bei
der induzierten Besessenheit auftreten. Die Stimme ist entstellt,
häufig ins Gutturale verschoben, voller Schreie, Seufzer und
Vulgarismen, und gewöhnlich lästert und beschimpft sie die
anerkannten Gottheiten der jeweiligen Epoche. Fast
ausnahmslos herrscht totaler Bewußtseinsverlust, und die
betroffene Person scheint währenddem in das Gegenteil ihres
normalen Selbst verwandelt. »Er« bezeichnet sich unter
Umständen als Gott, Dämon, Geist, Gespenst oder auch als ein
Tier (im Orient ist es meist »der Fuchs«), fordert ein Heiligtum
oder Anbetung und jagt Krämpfe in den Leib des Patienten,
wenn ihm die Erfüllung seiner Forderungen verweigert wird.
Von seinem natürlichen Selbst redet »er« gemeinhin in der
dritten Person und verächtlich wie von einem nichtsnutzigen
Fremden, so wie Jahwe zuweilen seine Propheten wegwerfend
behandelt oder die Musen ihre Dichter höhnten. 12 Und häufig
zeigt »er« sich sehr viel intelligenter und wacher als der Patient
im Normalzustand, so wie auch Jahwe und die Musen
intelligenter und wacher als ihre Propheten und Dichter waren.
12
Wahrscheinlich wird man mir diese Parallelisierung »aus methodischen
Gründen« verübeln. Immerhin mache ich aus meinem Denken keine
Mördergrube. Kann man vielleicht davon ausgehen, daß die
rechtshemisphärische Entsprechung zum Wernicke -Zentrum mit dem
linksseitigen Wernicke-Zentrum prinzipiell »von oben herab« verfährt?
Bezug genommen wird im Text auf 2. Mose 4, 24 und Hesiod, Theogonie,
Vers 26.
- 477-
Wie bei der Schizophrenie kommt der Fall vor, daß der
Patient ausführt, was er geheißen wird, und – was noch
merkwürdiger ist, daß er sich interessiert zeigt am
Zustandekommen von Verträgen oder Abmachungen mit seinen
Beobachtern, etwa in Gestalt des Versprechens, daß »er« aus
seinem Wirt weichen wird, sobald die oder jene Bedingung
erfüllt ist; kommen derartige Vereinbarungen zustande, werden
sie von dem »Dämon« so getreu und pünktlich erfüllt wie im
Alten Testament die zuweilen ähnlichen Bündnisse seitens
Jahwes. In gewisser Weise verwandt mit jener Ansprechbarkeit
und dem Interesse an Verträgen ist der Umstand, daß die Kur für
die spontane, streßbedingte Besessenheit, nämlich der
Exorzismus, von den Tagen des Neuen Testaments bis heute
stets die gleiche geblieben ist. Sie besteht einfach darin, daß eine
Autoritätsperson, die im Namen einer mächtigeren Gottheit
auftritt, die Befehlsgewalt an sich reißt und ausübt; häufig
erfolgt dies im Anschluß an ein Induktionsritual. Die Rolle des
Exorzisten läßt sich im Rahmen des allgemeinen bikameralen
Paradigmas als die Funktion der Autorisierungsinstanz
interpretieren, aus der nun der »Dämon« seinerseits verdrängt
wird. Die kognitiven Imperative des Glaubenssystems, das
überhaupt die Form des Leidens bedingt, bedingen auch die Kur.
Das Phänomen ist unabhängig vom Lebensalter, dagegen
zeigt es ausgeprägte Geschlechtsspezifik, variierend je nach der
historische n Epoche, worin sich seine Verwurzelung in kulturell
bedingten Erwartungshaltungen erweist. Die Besessenen, die im
Neuen Testament von Jesus oder seinen Jüngern geheilt werden;
sind in der überwältigenden Mehrzahl Männer. Vom Mittelalter
an ist das Zahlenverhältnis zugunsten der Weiblichkeit verkehrt.
Als weiteres Indiz dafür, daß es seine Basis in einem kollektiven
kognitiven Imperativ hat, sind die gelegentlich auftretenden
Epidemien zu werten, so etwa die epidemische Besessenheit in
mittelalterlichen Frauenklöstern oder in Salem (Massachusetts)
im achtzehnten Jahrhundert. Oder die epidemischen Fälle, wie
- 478-
sie nach vorliegenden Berichten im neunzehnten Jahrhundert in
den Savoyer Alpen vorgekommen sein und manchmal auch
heute noch da und dort vorkommen sollen.
Nochmals: bei so frappierenden Veränderungen der
Geistesverfassung wie im vorliegenden Fall kommt man um die
Frage nach der neurologischen Komponente nicht herum. Was
geht da vor? Werden die Sprachzentren der rechten
(nichtdominanten) Hemisphäre bei der spontanen Besessenheit
ebenso aktiviert wie, nach meiner bereits vorgetragenen
Auffassung, bei der induzierten Besessenheit der Orakel? Und
sind Verrenkungen und verzerrte Gesichtszüge darauf
zurückzuführen, daß die rechte Hemisphäre in die
Verhaltenskontrolle eingreift? Der Umstand, daß es sich bei der
Mehrzahl der Betroffenen (wie ja auch generell bei den Sibyllen
und bei den meisten Orakeln) um Frauen handelt, sowie der
weitere Umstand, daß Frauen (zur Zeit und in unserer Kultur)
weniger
lateralisiert
sind
als
Männer,
deuten
zusammengenommen in diese Richtung.
Zumindest in einem Teil der Fälle setzt die Besessenheit mit
linksseitigen Körperverrenkungen ein, was auf die
Stichhaltigkeit der vorgetragenen Vermutungen hindeutet.
Betrachten wir einen Fall, der aus der Zeit kurz nach der
Jahrhundertwende berichtet wird. Es handelt sich um eine
siebenundvierzigjährige Japanerin ohne Schulbildung, die sechs, siebenmal täglich vom »Fuchsgeist« (wie sie selber sagte)
besessen wurde, und zwar stets mit der gleichen
Lateralsymptomatik. Ihr Arzt berichtet darüber:
Zuerst zeigten sich leichte, dann stärkere Zuckungen links um
den Mund und im linken Arme. Sie schlug sich mit der geballten
rechten Faust wiederholt heftig auf die linke Brust, die von
früheren solchen Anlässen her ganz geschwollen und blutrünstig
war, und sagte zu mir: Ach Herr, jetzt regt er sich hier wieder,
hier in meiner Brust.« Da kam plötzlich aus ihrem Munde eine
- 479-
fremde scharfe Stimme in schnarrendem Ton: »Ja, freilich bin
ich da, und glaubst du dumme Gans etwa, daß du mich hindern
kannst?« Darauf die Frau zu uns: »Ach Gott, ihr Herren,
verzeiht, ich kann gewiß nichts dafür.« Dann sich immer wieder
auf die Brust schlagend und mit dem linken Gesicht zuckend
zum Fuchs: »Sei still, Bestie, schämst du dich denn gar nicht vor
diesem Herrn?« ... Die Frau droht ihm, beschwört ihn, ruhig zu
sein. Er unterbricht sie, und nach kurzer Zeit ist er im
Alleinbesitz des Denkens und der Sprache. Mit einer
unfaßlichen Schlagfertigkeit antwortet er auf alle Fragen, hat
sofort für alles eine Erklärung bereit. Die Frau ist jetzt passiv
wie ein Automat, versteht offenbar nicht mehr deutlich, was
man ihr sagt, an ihrer Stelle erwidert immer hämisch der Fuchs
... Nach zehn Minuten spricht der Fuchs undeutlicher ... nach
einiger Zeit ist [die Frau] wieder ganz normal. Sie kennt die
Vorgänge im ersten Teile des Anfalles genau, während sie über
die Zeit der Alleinherrschaft des Fuchses keine genaue Auskunft
geben kann... Sie bittet weinend um Entschuldigung und
Vergebung wegen des abscheulichen Benehmens des Fuchses. 13
Aber das ist ein Einzelfall. Ein Patient mit derart ausgeprägter
Lateralsymptomatik ist mir kein zweites Mal untergekommen.
Beim Rätselraten über die Neurologie der Schwarzen
Besessenheit kann, wie ich meine, ein Blick auf ein modernes
Leiden, das sogenannte »Lillesdela-Tourette-Syndrom« 14
(zuweilen auch als Koprolalie und »Zotenreißerkrankheit«
13
E. Baelz, Über Besessenheit und verwandte Zustände. Auf Grund eigener
Beobachtungen, Wien: Moritz Perles 1907, S. 26 f. Die behandelnden Ärzte
staunten über die Redegewandtheit, den Witz und die Ironie, die der »Fuchs«
an den Tag legte und die weit aus dem Rahmen dessen herausstachen, was
sonst das Sprachgebaren der Patientin ausmachte.
14
Wer neuere Arbeiten zu diesem Gegenstand und seiner Geschichte sucht,
findet sie in den Quellenverweisen und Belegen in: A. K. Shapiro, E:
Shapiro, H. L. Wayne, J. Clarkin u. R. D. Bruun, Tourette’s Syndrome:
Summary of Data an 34 Patients, Psychosomatic Medicine 35 / 1973, S. 419435.
- 480-
[foulmouth disease] bezeichnet), nützliche Hinweise vermitteln.
Die ausgefallene Symptomatik setzt gewöhnlich im
Kindheitsalter mit fünf Jahren, in manchen Fällen früher ein; sie
besteht dann unter Umständen lediglich in wiederholten
Gesichtszuckungen oder in einem zusammenhanglos
gebrauchten verpönten Wort. Im Lauf der Zeit wird daraus der
unbeherrschbare Zwang, mitten in einem sonst normal
verlaufenden Gespräch krasse Unflätigkeiten, Grunzer, Blaffer
oder Flüche hervorzustoßen; daneben entwickeln sich allerlei
Gesichtstics,
zwanghaftes
Zungeherausstrecken
und
dergleichen. Das alles setzt sich dann, sehr zum Kummer des
Patienten, im Erwachsenenleben fort. Selber am meisten entsetzt
und verlegen über ihre unkontrollierbaren Ausbrüche von
Vulgarität, wissen sich diese Menschen in ihrer Angst vor der
Blamage oftmals keinen anderen Rat, als überhaupt nicht mehr
aus den eigenen vier Wänden hinaus und unter Menschen zu
gehen. In einem mir bekannten Fall aus jüngerer Zeit erfand sich
ein Mann als Schutz vor dem Entdecktwerden ein schweres
Blasenleiden, das ihn zu häufigem Wasserlassen zwinge. In
Wirklichkeit spürte er jedesmal, wenn er im Restaurant oder in
der Wohnung seiner Gastgeber auf die Toilette stürzte, die
verbalen Gemeinheiten in sich aufsteigen, die er dann in der
Abgeschiedenheit des stillen Örtchens herausließ, um sich
Erleichterung zu verschaffen. 15 Was dieser Mann da in sic h
spürte, dürfte nicht unähnlich gewesen sein dem Feuer, das in
den Gebeinen des Propheten Jeremia verschlossen war (Jeremia
20, 9; vgl. hier Zweites Buch, Sechstes Kapitel), wenngleich das
semantische Ergebnis davon ein (indes durchaus nicht absolut)
15
Das Tourette-Syndrom wird häufig; wenn nicht sogar regelmäßig als eine
Form von Ge istesgestörtheit fehldiagnostiziert – was es ganz bestimmt nicht
ist. Glücklicher- und interessanterweise jedoch, so hat man herausgefunden,
lassen sich mittels eines neuen Antipsychotikums (Haloperidol) die
Symptome beseitigen – was bei den im Text erwähnten Fällen auch
geschehen ist.
- 481-
anderes war.
Was das Tourette-Syndrom für uns interessant macht, ist seine
unverkennbare Ähnlichkeit mit der Anfangsphase der
streßbedingten Besessenheit – eine Ähnlichkeit, die so weit
geht, daß sich die Vermutung, ein und’ derselbe physiologische
Mechanismus bilde die Basis beider Phänomene, förmlich
aufdrängt. Und dieser Mechanismus könnte sehr wohl eine
unvollständige Dominanzlateralisierung sein, die sich in der
Weise auswirkt, daß sich die Sprachzentren der rechten
Hemisphäre (möglicherweise stimuliert durch Impulse aus den
Basalganglien) unter Bedingungen, wie sie beim bikameralen
Menschen zu Halluzinationen geführt hätten, periodisch in das
Sprachverhalten einmischen. Demnach überrascht es nicht, daß
nahezu alle unter dem Tourette-Syndrom leidenden Personen ein
anomales Gehirnwellenbild aufweisen, daß bei einem Teil von
ihnen das Zentralnervensystem geschädigt ist, daß sie in der
Regel Linkshänder sind (bei der Mehrzahl der Linkshänder ist
die Dominanz nicht einseitig, sondern gemischt lateralisiert) und
daß die Symptome ungefähr im fünften Lebensjahr einsetzen,
also zu der Zeit, da die neurologische Entwicklung der
Hemisphärendominanz in bezug auf die Sprachfunktion ihren
Abschluß erfährt.
Als Aussage über unser Nervensystem ist all das höchst
wichtig, andererseits aber auch wieder Anlaß für Unbehagen.
Denn obschon ich von der grundsätzlichen Richtigkeit des im
Fünften Kapitel des Ersten Buches vorgestellten neurologischen
Modells überzeugt bin, sind wir augenblicklich dabei, uns
immer weiter von ihm zu entfernen. Es ist ganz
unwahrscheinlich, daß bei den Fällen von neuzeitlicher
Geistbesessenheit die rechtshemisphärischen Sprachzentren
direkt an der Artikulation der Rede als solcher beteiligt sind.
Eine dahingehende Hypothese stünde im Widerspruch zu so
vielen klinischen Befunden, daß sie von ganz abartigen
Ausnahmefällen abgesehen von vornherein als unhaltbar
- 482-
ausscheidet.
Größere Wahrscheinlichkeit hat die Möglichkeit für sich, daß
der Unterschied zwischen der bikameralen Psyche und den
modernen Besessenhe itszuständen darauf beruht, daß im Fall
der ersteren die Halluzinationen de facto in der rechten
Hemisphäre organisiert und von dort ins Gehör übermittelt
wurden; bei der Besessenheit dagegen fällt die Artikulation der
Rede in den Bereich der normalen linkshemisphärischen
Sprachfunktion, die jedoch unter Kontrolle oder Lenkung von
seifen der rechten Hemisphäre steht. Mit anderen Worten: das
Pendant zum Wernicke-Zentrum in der rechten Hemisphäre
bedient sich des Broca-Zentrums in der linken Hemisphäre als
Instruments, woraus eben deren Trancezustand und
Depersonalisierung resultiert. Ein solchermaßen überkreuztes
Steuerungsverhältnis ist möglicherweise das neurologische
Substrat für das Schwinden des normalen Bewußtseins.
Besessenheit in der Welt der Gegenwart
Anhand einer zeitgenössischen Form von induzierter
Besessenheit möchte ich im folgenden den einigermaßen
schlüssigen Beweis dafür liefern, daß es sich bei dem Phänomen
um das Ergebnis eines Lernprozesses handelt. Das geeignetste
Demonstrationsbeispiel, das ich finden konnte, ist die UmbandaReligion, wie sie heute in Brasilien praktiziert wird: Es ist die
zahlenmäßig bei weitem stärkste der afroamerikanischsynkretistischen Religionen, denen heute mehr als die Hälfte der
brasilianischen Bevölkerung anhängt. Menschen mit jedem nur
erdenklichen ethnischen Hintergrund glauben an sie als eine
Quelle verbindlicher Entscheidungen, und ganz bestimmt haben
wir es in ihr mit dem ausgedehntesten Vorkommen von
induzierter Besessenheit seit dem dritten nachchristlichen
Jahrhundert zu tun.
Spielen wir also einmal Zuschauer bei einer typischen gira,
- 483-
einer »Rundreise«, wie die Umbanda-Zusammenkünfte treffend
genannt werden. 16 Der Schauplatz, wo dergleichen heute
stattfindet, ist vielleicht der Oberstock eines Lagerhauses oder
eine leerstehende Autowerkstatt. Ein knappes Dutzend Medien
(zu zwei Dritteln Frauen), feierlich in Weiß gekleidet, tritt aus
einem Umkleideraum vor den weißdrapierten, mit Blumen,
Kerzen und christlichen Heiligenbildern und -Statuen
überladenen Altar, erwartet von einem etwa hundertköpfigen
Teilnehmerpublikum, das, durch eine Schranke vom Ort des
Rituals abgetrennt, den Rest des Raumes füllt. Unter dem
Getrommel der Musikanten und dem Gesang des Publikums
beginnen die Medien, ihre Körper in schwingende Bewegung zu
versetzen oder zu tanzen. Die Bewegung erfolgt dabei stets
gegen den Uhrzeigersinn, das heißt ausgehend von motorischen
Impulsen aus der rechten Hirnhemisphäre. Daran anschließend
findet eine Art Gottesdienst nach christlichem Vorbild statt.
Danach erneut frenetisches Getrommel, alles singt, und die
Medien beginnen ihre Geister zu rufen; manche kreiseln dabei
linksum wie wirbelnde Derwische, womit sie neuerlich die
rechte Hemisphäre erregen. Jetzt wird deutlich, warum das
Medium mit einer expliziten Metapher als cavalo, Pferd,
bezeichnet wird. Von dem Geist um welchen auch immer es sich
im Einzelfall handeln mag – wird angenommen, daß er sich in
sein cavalo hinabläßt, und während das geschieht, wirft das
Medium Kopf und Brustkorb gegenstrebig vor und zurück wie
ein Wildpferd beim Eingerittenwerden. Dabei fliegen die Haare
wild um den Kopf. Das Gesicht nimmt einen verzerrten
Ausdruck an wie bei den bereits erwähnten Besessenheitsformen
der Antike. Die Körperhaltung verändert sich zum Abbild
irgendeines der verschiedenen Geister, die nach allgemeiner
16
Der gesamte Abschnitt über Umbanda basiert auf der maßgeblichen,
äußerst faktenreichen Untersuchung von Esther Pressei: Umbands Trance and
Possession, in: Trance, Healing, and Hallucination, hg. von Felicitas
Goodman u. a., New York: Wiley 1974.
- 484-
Überzeugung im Ritual von ihrem Medium Besitz ergreifen. Ist
diese Besitzergreifung abgeschlossen, das Medium also
vollständig »besessen«, tanzen die »Geister« vielleicht noch für
eine Weile oder tauschen in diesem Besessenheitsstadium
untereinander Grußformalitäten aus oder treiben sonst etwas,
das zum Bild dieses oder jenes speziellen Geistes paßt, um dann,
sobald das Trommeln aussetzt, jeder seinen vorbestimmten Platz
einzunehmen, wo sie in absonderlicher Haltung – die Hände mit
auswärts gekehrten Handflächen seitlich herabhängend und
unter ebenso absonderlichem fortwährendem Fingerschnicken
darauf warten, daß einzelne Teilnehmer aus dem Publikum zur
consulta an sie herantreten. Bei der consulta erteilt das
besessene Medium auf die entsprechende Bitte hin eine konkrete
Anweisung, wie in der oder jener Angelegenheit praktisch zu
verfahren sei; die angesprochenen Probleme können aus allen
möglichen Lebensbereichen stammen – sie können zum Beispiel
die Frage betreffen; wie man Arbeit findet oder behält oder wie
man ein Geldgeschäft abwickeln soll, oder sie betreffen
Familienstreitigkeiten, eine Liebesaffäre und unter Umständen,
wenn die Ratsuchenden Schüler oder Studenten sind, sogar die
Frage, wie man sic h am zweckmäßigsten auf eine bevorstehende
Prüfung vorbereitet.
Der Beweis dafür, daß die Besessenheit eine erlernte
Geistesverfassung darstellt, ist nun allerdings in diesem
brasilianischen Kult mit Händen zu greifen. Auf einem bairroSpielplatz kann man gelegentlich Kinder beobachten; wie sie im
Spiel die charakteristischen Ruckbewegungen von Kopf und
Brustkorb nachahmen, die im Ritual zur Herbeiführung und
Beendigung des Besessenheitszustands eingesetzt werden.
Sobald ein Kind den Wunsch bekundet, Medium zu werden,
wird es darin bestärkt und erhält die entsprechende
Spezialausbildung- so wie die Bauernmädchen, die in Delphi
oder wo auch immer im griechischen Kulturbereich als Orakel
rekrutiert wurden. Ja, manche der zahlreichen Umbanda-Zentren
- 485-
(allein in Sao Paulo gibt es 4000) halten regelmäßig
Schulungskurse
ab,
und
die
dabei
angewandten
Unterrichtsmethoden umfassen verschiedene Techniken, die
Neophyten in einen Zustand der Bewußtseinstrübung zu
versetzen, um ihnen alsdann den Eintritt in den Trancezustand
wie auch hypnoseähnliche Techniken beizubringen. Und im
Trancezustand wird den Novizen oder Novizinnen dann weiter
beigebracht, wie jeder einzelne der in Frage kommenden Geister
sieh aufführt. Diese Differenzierung unter den in der
Besessenheit auftretenden Geistern ist ein wichtiger Umstand,
bei dem ich noch etwas länger verweilen möchte, um seine
kulturelle Funktion zu verdeutlichen.
Relikte der bikameralen Psyche existieren nicht in
irgendeinem luftleeren psychologischen Raum. Das bedeutet: sie
sind nicht als isolierte Erscheinungen aufzufassen, die einfach
innerhalb einer Kultur auftauchen, um es sich dort auf ihren
Lorbeeren von Anno dunnemals bequem zu machen und/oder
ein müßiggängerisches Eckensteherdasein zu führen, sondern ihr
Lebensraum ist stets die vitale Mitte einer Kultur oder
Subkultur: Sie sind die Energie und Antriebskraft des
Unausgesprochenen und Subrationalen. In der Tat bilden sie den
irrationalen und nicht hinterfragbaren Quell- und strukturellen
Vereinigungspunkt der fraglichen Kultur. Und die Kultur ist
ihrerseits wieder Substrat des Bewußtseinstyps ihrer Individuen,
der Art und Weise, wie das »Ich qua-Metapher« vom »IchquaAnalogon« »wahrgenommen« und wie exzerpiert wird, sowie
der Zwänge, die für Narrativierung und Kompatibilisierung
gelten.
Und die Relikte der bikameralen Psyche, um die es
augenblicklich geht, bilden durchaus keine Ausnahme davon.
Ein Besessenheitskult wie der der Umbands funktioniert als
mächtiger psychologischer Rückhalt für die Massen seiner
armen, unterprivilegierten, hungernden Anhänger. Er ist
durchsetzt mit dem Grundgefühl der caridade, der
- 486-
Nächstenliebe, in dem dieses bunte Gemisch politisch
Machtloser, durch Verstädterung und ethnische Ungleichheit
Entwurzelter Trost und Zusammenhalt findet. Und betrachten
wir die einzelnen Formen neurologischer Organisation, wie sie
in den von den Medien Besitz ergreifenden Geistern
repräsentiert erscheinen. Sie erinnern an die privaten
Fürsprechergottheiten der Sumerer und Babylonier, die als
Vermittler zu den Obergöttern auftraten. Jedes Medium kann am
jeweiligen Abend von einem einzelnen der namentlich
bekannten Geister aus irgendeiner der vier Hauptklassen von
Geistern besessen sein. Diese Klassen sind, nach der Häufigkeit
des Auftretens ihrer Mitglieder geordnet:
– die caboclos, Geister brasilindianischer Krieger, deren Rat
in Situationen gefragt ist, die schnelles und entschlossenes
Handeln verlangen, so etwa, wenn es darum geht, einen
Arbeitsplatz zu finden oder zu behalten.
– die pretos velhos, Geister der alten afrobrasilianischen
Sklaven, deren Geschick sich beim Lösen lange verschleppter
persönlicher Probleme bewährt.
– die criantas, Geister verstorbener Kinder, deren Medien
ausgelassenheitere Ratschläge geben.
– die exus (Dämonen) und – in der weiblichen Spielartpombagiras
(Ringeltauben),
Geister
böswilliger
Landesfremder, deren Medien niederträchtige und aggressive
Ratschläge geben.
In jedem dieser vier Haupttypen von Geistern ist jeweils eine
ethnische Gruppe aus dem Völkergemisch der Anhängerschaft
repräsentiert: Indios, Afrikaner, Brasilianer (die criantas sind
»unseresgleichen«) und Europäer. Und jeder verkörpert ein
anderes Familienverhältnis des Ratsuchenden: das zu Vater,
Großvater oder Geschwistern, oder er verkörpert das Verhältnis
zu Familienfremden. Dazu repräsentiert jeder einen anderen
- 487-
Entscheidungsbereich: rasche Entschlüsse angesichts konkreter
Handlungsalternativen, Trost und Zuspruch bei persönlichen
Problemen, Ratschläge, die auf Ausgelassenheit und Zeitvertreib
zielen, und Entscheidungen in Angele genheiten, bei denen
Aggressionen im Spiel sind. Auch für die griechischen Götter
war
das
Unterscheidungsmerkmal
ursprünglich
die
Zuständigkeit für einen bestimmten Entscheidungsbereich: Die
Geister der Umbands weisen also in diesem Punkt direkte
Ähnlichkeit mit ihnen auf. Und das Ganze ähnelt einer in sich
vierdimensionalen Struktur oder Metaphernmatrix, die
zwischenmenschliche Bindungen und kulturellen Zusammenhalt
stiftet.
Und das alles ist, wie ich meine, ein Überbleibsel der
bikameralen Psyche in dem nunmehr jahrtausendealten Prozeß
der Anpassung an eine neue Mentalität.
Die echte Besessenheit, so wie sie von Platon und anderen
geschildert wird, findet nach einhelliger Meinung nur im
bewußtlosen Zustand statt, und eben darin liegt der Unterschied
zwischen ihr und der Schauspielerei, dem Nursotunalsob. Bei
der Ausbildung der Orakel muß jedoch mit Abstufung und
Zwischenschritten gearbeitet worden sein, bis jener Zustand
erreicht war. Und genau das ist, nach allem, was wir wissen,
auch bei den brasilianischen Besessenheitskulten der Fall. Für
den jugendlichen Initianden beginnt die Sache vielleicht damit,
daß er/sie Besessenheit schauspielerisch darstellt, und die
nächsten Schritte der Ausbildung führen dann zu dem Ziel, daß
er/sie zwischen der Redeweise der Geister und dem, was er/sie
selber normalerweise sagen würde, zu unterscheiden vermag.
Das nächste Ausbildungsstadium bringt ein Oszillieren
zwischen Bewußtsein und Bewußtlosigkeit. Und dann
schließlich ist die vollendete Besessenheit erreicht – das heißt,
wenn ich oben richtig vermutet habe, der Brückenschlag
zwischen Wernicke-Zentrum rechts und Broca-Zentrum links
geschafft und damit jener heißbegehrte Zustand von
- 488-
Bewußtlosigkeit ohne alle Erinnerung an das, was geschieht.
Davon kann freilich nicht bei allen Medien die Rede sein. Und
bei einer derart verbreiteten pseudobikameralen Praxis wie dem
Umbandakult darf man nichts anderes erwarten, als, daß
Schauspielerei und Trance von unterschiedlicher Qualität oder
unterschiedlichen
Echtheitsgraden
in
wechselndem
Mischungsverhältnis miteinander verbunden sind und das
mitunter sogar in ein und demselben Medium.
Glossolalie
Zum Abschluß sei noch auf ein Phänomen eingegangen, das
eine schwache Ähnlichkeit mit der induzierten Besessenheit
aufweist: die Glossolalie, in der Apostelgeschichte (10, 46; 19,
6) als das »Reden in Zungen« erwähnt. Glossolalie ist das
fließende Reden in artikulierten Lauten, die sich wie Laute einer
unbekannten Sprache anhören; ein Reden, dem sogar der
Sprecher selbst keinen Sinn abzugewinnen vermag, ja an das er
sich hinterher in den seltensten Fällen überhaupt noch erinnert.
Das Phänomen scheint erstmals innerhalb der urchristlichen
Gemeinde aufgetreten zu sein, 17 nämlich als das sogenannte
Pfingstwunder, das als Ausgießung des Heiligen Geistes über
die versammelten Apostel oder als deren Erfüllung mit dem
Heiligen Geist beschrieben wird. Das Ereignis wurde bald als
die Geburtsstunde der christlichen Kirche angesehen und im
Pfingstfest – am fünfzigsten Tag nach Ostern gefeiert. 18 Im 2.
17
Gewisse Stellen, an denen davon die Rede ist, daß Jahwe seinen Geist
ausgießt, werden zuweilen als Belege für das Vorkommen von Glossolalie im
Alten Testament ins Treffen geführt. Das entbehrt m. E. jeglicher
Stichhaltigkeit. Man kann berechtigterweise sagen, daß es sich um ein
Phänomen spezifisch christlichen Ursprungs handelt, das anfänglich vor
allem in den paulinischen Schriften bzw. dem von Paulus beeinflußten
Schrifttum zu finden ist.
18
Zum Pfingstfest ist im Vatikan heute Rot die liturgische Farbe; sie vertritt
symbolisch die Feuerzungen. In protestantischen Kirchen wird die
- 489-
Kapitel der Apostelgeschichte wird es geschildert als »ein
Brausen vom Himmel wie eines gewaltigen Windes«, der
zerteilte Zungen »wie von Feuer« mit sich führt und unter
dessen Einfluß die Apostel wie betrunken in fremden Sprachen
zu predigen beginnen, die sie nie gelernt haben.
Der veränderte Geisteszustand, wie er den Aposteln und
ihresgleichen widerfuhr, fand seine Autorisierung in sich selbst.
Die Praxis breitete sich aus. Bald redeten die Frühchristen
allerorten in Zungen. Paulus erhob die Glossolalie in gle ichen
Rang mit der Prophetie (1. Korinther 14). Und in der
nachpaulinischen Geschichte gab es immer wieder Perioden, in
denen das Zungenreden als Ersatz für die verlorengegangene
Autorität der bikameralen Psyche in Mode war.
Die Formen, in denen es bis in die jüngste Zeit hinein
praktiziert wird – und zwar nicht nur von theologisch extrem
konservativen Sekten, sondern auch im Umkreis von Kirchen,
die der Hauptlinie des Protestantismus zuzurechnen sind-, haben
dem Phänomen die Aufmerksamkeit der Wissenschaft
zugezogen, die ihrerseits einige interessante Ergebnisse
produzierte. Die Glossolalie des Individuums manifestiert sich
beim erstenmal stets im Gruppenzusammenhang und stets im
Rahmen einer gottesdienstlichen Veranstaltung. Den Faktor
Gruppe habe ich hervorgehoben, weil ich glaube, daß diese
Bekräftigung des kollektiven kognitiven Imperativs unerläßlich
ist für eine besonders tiefe Art von Trance. Häufig trifft man
auch auf eine Phase, die einer Induktion entspricht, so
insbesondere aufputschenden Gesang, gefolgt von den Zurufen
eines charismatischen Führers: »Wenn ihr merkt, daß irgend
etwas mit eurem Sprechen vorgeht, dann sperrt euch nicht
Pfingstfeier in Weiß – Symbol des Heiligen Geistes – begangen; daher das
englische Wort » Whitsuntide« (= Zeit um den Weißen Sonntag) für die
Pfingstzeit.
- 490-
dagegen – laßt es einfach geschehen!« 19
Bei wiederholter Teilnahme an derartigen Zusammenkünften
lernen die Gläubigen durch die Beobachtung der Glossolalie
anderer Teilnehmer zunächst einmal, in einen Zustand tiefer
Trance einzutreten, in dem sie – bei stark vermindertem oder
völlig ausgelöschtem Bewußtsein auf exterozeptive Reize nicht
mehr reagieren. Die Trance ist in diesem Fall eine nahezu
autonome: mit Schütteln, Schauern, Schweißbildung,
Zuckungen und Tränenfluß verbunden. Daraufhin lernt der oder
die Betreffende auf irgendeine Weise, »es geschehen zu lassen«.
Und dann geschieht es auch, laut und deutlich, am Ende jedes
Satzes in Stöhnen ausklingend: aria ariari isa, vena amiria
asaria!20 Es ist ein stampfender Rhythmus, und so ähnlich
mögen die hexametrischen Daktylen auf die Zuhörer der aoidoi
gewirkt haben. Das Erstaunliche dabei ist: dieser regelmäßige
Wechsel von betonten und unbetonten Silben, der so sehr an das
Versmaß der homerischen Epen erinnert, ändert sich mit der
Muttersprache des Sprechers ebensowenig wie die steigende und
zum Satzende hin abfallende Intonationskurve. Gleichgültig, ob
der »in Zungen Stammelnde« Brite, Portugiese, Spanier,
Indonesier, Schwarzafrikaner oder Maya ist, gleichgültig auch,
an welchem Schauplatz das Geschehen stattfindet – das Schema
der Glossolalie ist immer das gleiche. 21
Nach der Glossolalie schlägt der Betreffende die Augen auf
und kehrt von seinem bewußtlosen Höhenflug langsam in die
staubigen Niederungen der Realität zurück. Er erinnert sich
19
Felicitas D. Goodman, Disturbances in the Apostolic Church: A TranceBased Upheaval in Yucatan, Trance, Healing, and Hallucination (vgl.
Fußnote auf Seite 430), S. 227-364.
20
So ein Glossolalierender indianischer (Maya-)Abstammung in Yucatán.
Nach einer Tonbandaufzeichnung von Dr. Goodman, ebd., S. 262 f.
21
Dies ist das bedeutsame Ergebnis von Dr. Goodmans früherer Studie
Speaking in Tongues: A Cross-Cultural Study of Glossolalia, Chicago:
University of Chicago Press 1972.
- 491-
kaum an das, was mit ihm vorgegangen ist. Aber man erzählt es
ihm. Er war vom Heiligen Geist besessen. Gott hatte sich ihn zur
Marionette auserkoren. Seine Sorgen lösen sich in Hoffnung
auf, und sein Kummer schlägt in Freude um. Das ist die
höchstmögliche Autorisierung, die man erfahren kann, denn der
Heilige Geist ist ja eins mit dem letzten Ursprung allen Seins.
Gott hat sich herabgelassen, in seinem nichtswürdigen Diener
Quartier zu nehmen, und hat mit des Dieners eigener Zunge
göttliche Worte gesprochen. Der Mensch ist zum Gott geworden
– für wenige Augenblicke.
Aus mystischem Halbdämmer ins nüchterne Tageslicht
gerückt, sieht die Sache nicht mehr ganz so erhebend aus. Zwar
besteht das Phänomen nicht im simplen Hervorstoßen sinnloser
Laute, und der Normalmensch wäre kaum imstande, derlei mit
gleicher Flüssigkeit und Durchgebildetheit zu imitieren; doch
steckt in allem, was da laut wird, nicht die geringste semantische
Bedeutung. Spielt man Tonbandaufzeichnungen von Glossolalie
Angehörigen der gleichen Religionsgruppe vor, so hört jeder
von ihnen etwas anderes heraus. 22 Daß alle derartigen
Stimmäußerungen einander im Metrum ähneln, unabhängig von
Kulturzugehörigkeit und Muttersprache der Glossolalierenden,
ist vermutlich ein Anzeichen dafür, daß im gleichen Ausmaß,
wie die Trance die kortikale Kontrolle schwächt, rhythmische
Entladungen aus subkortikalen Strukturen ins Spiel gelangen. 23
22
Das ergibt sich als Schlußfolgerung aus den sorgfältigen Untersuchungen
von John P. Kildahl an 26 amerikanischen Glossolalierenden, die sämtlich
der einen oder anderen namhafteren protestantischen Glaubensrichtung
angehörten. Vgl. J. P. K., The Psychology of Speaking in Tongues, New
York: Harper & Row 1972. Das Buch enthält auch eine ziemlich vollständige
Bibliographie zu diesem Thema.
23
Die Oberflächenstruktur einer nichtlinguistischen Tiefenstruktur, wie Dr.
Goodman es in strukturalistischer Terminologie ausdrückt (S. 151 f). Freilich
ist die Vorstellung von einer Energieentladung aus subkortikalen Strukturen
bei vermindertem Bewußtsein scharf kritisiert worden, zumal von dem
Sprachwissenschaftler W. J. Samarin in seiner Besprechung von Goodmans
- 492-
Die Fähigkeit des Zungenredens ist nicht von Dauer. Sie
verliert sich mit der Zeit. Je öfter sie ausgeübt wird, desto
bewußter wird sie, und das zerstört den Trancezustand. Einer der
wesentlichsten Parameter des Phänomens ist – zumindest bei
Gruppen mit höherem Bildungsstand, bei denen der kollektive
Imperativ sowieso schwächer ausgebildet ist- die Gegenwart
eines charismatischen Führers, der dem einzelnen das
Zungenreden überhaupt erst beibringt. Soll die Fähigkeit dann,
solange das überhaupt möglich ist, bewahrt werden – und die
Euphorie, die sich hinterher einstellt, macht die Glossolalie zu
einem innigst erwünschten Geisteszustand –, so geht das nur
unter der Bedingung, daß die Beziehung zu dem autoritativen
Führer aufrechterhalten wird. Im letzten ist es also bei der Sache
um die Fähigkeit zu tun, die bewußte Herrschaft über die
physiologischen Steuerungsmechanismen des Sprachapparats
angesichts einer als wohlwollend empfundenen Autoritätsfigur
aufzugeben. Wie vorauszusehen, erweisen sich Glossolalierende
im Thematischen Apperzeptions-Test als unterwürfiger
gegenüber real anwesenden Autoritätsfiguren, leichter durch sie
beeinflußbar und willensabhängiger von ihnen als Personen, die
keinerlei Eignung zum Zungenreden aufweisen. 24
Halten wir fest: die Konfiguratio n seiner Parameter – nämlich
der starke kognitive Imperativ eines religiösen Glaubens vor
dem Hintergrund einer Gruppe mit engem Zusammenhalt;
Bewußtseinsverengung bis zum Trancestadium; eine archaische
Autorisierungsinstanz einesteils im Heiligen Geist, zum andern
in dem charismatischen Führer – die Konfiguration dieser
Parameter ist es, was uns berechtigt, das Zungenreden als ein
Buch in Language, 50/1974, S. 207-212. Vgl. auch von demselben: Tongues
of Men and Angels: The Religious Language of Pentecostalism, New York:
Macmillan 1972. Ich danke Ronald Baker von der University of Prince
Edward Island für den Hinweis auf Samarins Gegenposition.
24
John P. Kildahl, The Final Progress Report: Glossolalia and Mental Health
(erstellt für die NIMH und als Privatdruck verbreitet).
- 493-
weiteres Beispiel für das allgemeine bikamerale Paradigma und
mithin als Relikt der bikameralen Psyche zu betrachten.
Aria ariari isa, vena amiria asaria
Menin aeide thea Peleiadeo Achilleos
Diese Gegenüberstellung des Klangbilds der Glossolalie und
des Klangbilds der griechischen Epen (die zweite zitierte Zeile
ist der erste Vers der »Ilias«) dient hier nicht etwa der bloßen
rhetorischen Ausschmückung meines Vortrags. Sondern es ist
ein sehr gezielter Vergleich. Er soll uns unter anderem an dieser
Stelle den Einstieg in das folgende Kapitel eröffnen. Denn wir
sollten unsere Betrachtung von Kulturkuriosa nicht beenden,
ohne uns zumindest überblicksartig einmal klargemacht zu
haben, was für ein sonderbar, abweichend, wahrhaft tiefgründig
und letztlich im eigentlichen Wortsinn fragwürdig Ding die
dichterische Rede ist.
- 494-
DRITTES KAPITEL
Von Dichtung und Musik
Warum waren unter den Texten, die wir in den
vorausgegangenen Kapiteln als Belegmaterial herangezogen
haben, so viele Texte in gebundener Rede – also: Poesie? Und
warum hat von den Lesern dieser Zeilen ein so hoher
Prozentsatz wenigstens einmal im Leben, und zwar
höchstwahrscheinlich in Zeiten erhöhter Streßbelastung, lyrische
Verse geschrieben? Welches unsichtbare Licht führt uns zu
solchen obskuren Praktiken? Und warum leuchten uns aus
Gedichten allerorten scheinbar unbekannte Ideen und Gedanken
wie altvertraute Erinnerungsbilder entgegen – warum dringen
die Verse auf ungewissen Wegen zu einem Etwas in uns vor,
das weiß und immer schon gewußt hat, einem Etwas, das, wie
ich meine, älter ist als die derzeitige Organisation unserer
Natur?
Eine Abschweifung in dieses abgelegene und wenigstens
scheinbar – nicht unbedingt zur Sache gehörige Thema könnte
an dieser Stelle, nachdem die Argumentationsführung soweit
einigermaßen geradlinig verlief, als ein überflüssiger Schnörkel
erscheinen. Demgegenüber ist hier herauszustellen, daß die
Kapitel
dieses
Dritten
Buches
keinen
linearen
Folgezusammenhang bilden wie diejenigen der beiden
vorangegangenen Bücher. Sie zeichnen vielmehr eine Auswahl
der nebeneinander herlaufenden Verbindungsbahnen zwischen
der bikameralen Vergangenheit und der Gegenwart nach. Und
im weiteren Verlauf wird, so meine ich, ganz von selbst deutlich
werden, in welchem Sinn dieses vorliegende Kapitel eine
unerläßliche Abrundung meiner früheren Ausführungen
darstellt, insbesondere soweit diese das griechische Epos
betrafen.
Meine These lautet ohne Umschweife: Die ersten Dichter
- 495-
waren die Götter. Die Poesie begann mit der bikameralen
Psyche. Die Gottkomponente unserer Altmentalität sprach –
zumindest während einer bestimmten Epoche im Regelfall,
möglicherweise aber auch ausnahmslos in Versen. Das bedeutet,
daß während einer bestimmten historischen Zeitspanne der
größte Teil der Menschheit den lieben langen Tag lang »Lyrik
hörte, die in der Psyche jedes einzelnen gedichtet und
vorgetragen wurde.
Der Beweis dafür läßt sich naturge mäß nur indirekt führen. Er
stützt sich auf den Umstand, daß in allen Fällen von bis ins
subjektive Zeitalter hineinreichender Bikameralität die
betreffenden Individuen, sobald sie im Namen oder als
Sprachrohr ihrer Gottkomponente sprachen, dies in gebundener
Rede taten. Die klassischen griechischen Epen wurden, fast
überflüssig zu wiederholen, von den aoidoi in gebundener Rede
vernommen und wiedergegeben. Was die ältesten Urkunden aus
Mesopotamien und Ägypten angeht, so tappen wir in der Frage,
wie die zugrundeliegenden Sprachen gesprochen klangen,
weitgehend im dunkeln; doch nach allem, was wir an
Transliteration als gesichert betrachten dürfen, ergaben diese
Schriftzeichen gesprochen ebenfalls gebundene Rede. Unter der
Sammelbezeichnung »Weda« laufen die ältesten Texte der
indischen Literatur, die den riºi oder Propheten von den Göttern
diktiert wurden – und zwar gleichfalls in gebundener Rede. Die
Orakel sprachen in gebundener Form. Dann und wann wurden
die Verlautbarungen des Delphischen oder anderer Orakel
aufgeschrieben, und wo immer von diesen Aufzeichnungen
mehr als nur ein Satzbruchstück überlebt hat, ist die Form des
daktylischen Hexameters erkennbar, das Versmaß der
homerischen Epen. Und auch die Propheten der Hebräer wurden
sämtlich zu Dichtern, wenn sie die halluzinierten
Verlautbarungen Jahwes übermittelten, obzwar ihre Schreiber
ihre Rede nicht in jedem Einzelfall in Versform aufzeichneten.
Je weiter die bikamerale Psyche in den Dämmer der
- 496-
Vergangenheit verschwindet, desto eher kommt es zu
Ausna hmen von jener Regelmäßigkeit- so im fünften Stadium
des Orakulierens. Die poetische Diktion der Orakel beginnt
Lücken zu zeigen. So redete beispielsweise das Delphische
Orakel im ersten nachchristlichen Jahrhundert allem Anschein
nach sowohl in Versen wie in Prosa – letztere wurden dann von
im Dienst des Heiligtums stehenden Dichtern versifiziert.1
Schon das bloße Bedürfnis, Orakeläußerungen in Prosa in
daktylische Hexameter zurückzuverwandeln, ist nach meinem
Dafürhalten Teil jenes spätzeittypischen Heimwehs nach dem
Göttlichen und ein weiterer Beleg dafür, daß zuvor metrische
Verse die Regel waren. Auch in späterer Zeit gab es noch
Orakel, die ausschließlich in daktylischen Hexametern sprachen.
So schildert beispielsweise Tacitus (»Annalen« 2, 54), wie
Germanicus im Jahre 18 n. Chr. in Kolophon landet, um das
Orakel des Apollon zu Klaros zu befragen:
Dort weissagt keine Frau wie in Delphi, sondern ein...
Priester, der sich nur die Anzahl und die Namen der
Orakelsuchenden sagen läßt. Dann steigt er in die Grotte hinab,
trinkt Wasser aus der heiligen Quelle und erteilt nun, obwohl er
meist der Schrift und der Dichtkunst unkundig ist, in Versen
Orakel über Dinge, die der Fragende in der Stille mit sich
herumträgt.
Die Poesie war also ein göttliches Wissen. Und nach dem
1
Strabon, Geographika 9.3.5. Die Feststellung bezieht sich auf einen
Zeitpunkt um 30 n. Chr. Mit seiner beiläufigen Bemerkung im zweiten
Jahrhundert n. Chr. der zufolge der unausgegorene prophetische Erguß des
Orakels in jedem Fall von inspirierten prophetai versifiziert werden mußte,
setzt sich Plutarch in Widerspruch zu allem älteren Schrifttum und dem
Zeugnis der Orakel selbst (vgl. Abschnitt 24-26 in Plutarchs Moralia).
Schwer zu sagen, wie ernst diese in Tischgesprächmanier locker
hingeworfene Bemerkung Plutarchs nun eigentlich zu nehmen ist.
- 497-
Zusammenbruch der bikameralen Psyche war Poesie Ton und
Tonart des Autoritativen. Die Poesie befahl, wo die Prosa nur
bitten konnte. Sie erweckte Wohlbefinden. Auf den
Wanderzügen der Hebräer nach dem Auszug aus Ägypten
wurde die Bundeslade vorweggetragen und die Volksmenge lief
hinterher – aber die Poesien von Mose entschieden darüber,
wann es losging und wann aufgehört wurde, wo es hinging und
wo man pausierte. 2
Die Assoziation zwischen einer Redeweise in rhythmischen
oder repetitiven Klangfigurationen auf der einen und
übernatürlichem Wissen auf der anderen Seite bleibt noch bis
weit in die Bewußtseinsepoche hinein erhalten. Bei den ältesten
arabischen Völkern hieß der Dichter scha’ir, was soviel wie
»der Wissende« oder eine von Geistern mit Wissen ausgestattete
Person bedeutet; daß die Rede des Poeten sich beim Vortrag als
metrisch geordnet erwies, war das Abzeichen ihres göttlichen
Ursprungs. Die Gedankenverknüpfung zwischen Dichter und
Seher hat in der alten Welt eine lange Tradition, und me hrere
indoeuropäische Sprachen bezeichnen beide mit ein und
demselben Wort. Auch Reim und Alliteration markierten stets
den sprachlichen Tummelplatz der Götter und ihrer Propheten. 3
Zumindest in einem Teil der Fälle von spontaner Besessenheit
lassen sich die Dämonen in metrischer Rede vernehmen. 4 Und
noch heute zeigt sich, wie wir im vorigen Kapitel gesehen
2
4. Mose 10, 35; 36. Mein Gewährsmann dafür, daß diese Zeilen im
originalen Hebräisch als Poesie zu klassifizieren sind, ist Alfred Guillaume;
vgl. a. a. O. (Fußnote auf Seite 358), S. 244.
3
Guillaume, S. 245.
4
In einem Fall von Besessenheit, der aus dem China der Jahrhundertwende
bekannt wurde, konnte eine Frau stundenlang aus dem Stegreif in Versen
reden. »Alles, was sie sagte, war in metrischen Versen und wurde in einer Art
Sprechgesang auf die immergleiche Melodie dargeboten ... der rasche,
vollkommen glatte und langwierige Vortrag konnte nach unserem Eindruck
unmöglich vorgetäuscht oder im voraus einstudiert worden sein.« J. L.
Nevius, a. a. O. (vgl. Fußnote auf Seite 423), S. 37f.
- 498-
haben, bei der Glossolalie, egal wo sie praktiziert wird, die
Tendenz, ein metrisches – insbesondere daktylisches –
Klangmuster auszubilden.
Die Poesie war also die Sprache der Götter.
Poesie und Gesang
Bislang hielt sich die gesamte Erörterung im Rahmen bloß
literarischer Tradition und hatte mehr Ähnlichkeit mit einem
Plädoyer als mit einer Beweisführung. Wir sollten uns deshalb
fragen, ob es nicht eine n Weg gibt, sich der Sache von einer
anderen Seite zu nähern und dabei den Zusammenhang
zwischen
Poesie
und
bikameraler
Psyche
auf
wissenschaftlichere Weise auszuleuchten. Dieser Weg, so meine
ich, eröffnet sich uns, wenn wir die Poesie in ihrem Verhältnis
zur Musik betrachten.
Zuerst und vor allem: die älteste Dichtung war Gesang. Der
Unterschied zwischen Rede und Gesang liegt in der Art und
Weise des Tonhöhenwechsels. Beim normalen Reden ist die
Tonhöhe in fortwährendem Wechsel mit fließenden Übergängen
begriffen, und dies sogar innerhalb einer einzigen Silbe. Beim
Singen dagegen finden die Tonhöhenwechsel diskontinuierlich
und in Sprüngen statt. Das Sprechen pendelt auf einem
bestimmten Sektor der Tonhöhenskala beständig auf und ab (bei
ruhigem Sprechen umfaßt dieser Sektor etwa eine
Fünfteloktave). Der Gesang wechselt innerhalb eines sehr viel
größeren Bereichs in genau bemessenen, klar voneinander
abgegrenzten Schritten von Ton zu Ton.
Die neuere Dichtung ist von daher gesehen eine
Zwitterbildung. Sie vereinigt die metrische Schrittfolge des
Gesangs mit den Glissandi des Sprechens. Demgegenüber steht
die Dichtung des Altertums dem Gesang viel näher. Akzentuiert
wurde in ihr nicht durch verstärkten Nachdruck, wie wir das
- 499-
beim normalen Sprechen tun, sondern durch Tonerhöhung. 5 Bei
den alten Griechen soll das entsprechende Intervall der
Quintenschritt gewesen sein, so daß ein Daktylus sich auf
unserer C-Dur-Tonleiter darstellen ließe als die Folge G-C-C
ohne zusätzlichen Akzent auf dem G. Ferner bestanden die drei
zusätzlichen, versfußunabhängigen Akzente Akut, Zirkumflex
und Gravis – wie ja bereits in ihrer graphischen Notation (`/ ~/ `)
zum Ausdruck kommt in einer Tonhebung auf einer Silbe
beziehungsweise einer Tonhebung und -Senkung auf ein und
derselben Silbe oder einer Tonsenkung auf einer Silbe. Das
ergab eine Dichtung, die wie Liedgesang vorgetragen wurde und
dabei durch modulatorische Ausschmückungen einen gefälligen
Abwechslungsreichtum erhielt.
Was hat das alles nun aber mit der bikameralen Psyche zu
tun? Das Sprechen ist, wie schon seit langem bekannt, in erster
Linie eine Funktion der linken Hirnhemisphäre. Das Singen
dagegen – und diese Entdeckung ist neu und noch nicht
vollständig abgeschlossen – ist in erster Linie eine Funktion der
rechten
Hirnhe misphäre.
Die
Belege
dafür
sind
unterschiedlicher Natur, stimmen jedoch untereinander überein:
– Es ist ein medizinischer Gemeinplatz, daß viele ältere
Menschen, die einen Gehirnschlag in der linken Hemisphäre
erlitten haben, daraufhin zwar nicht mehr sprechen, aber immer
noch singen können.
– Zur Bestimmung der hemisphärischen Dominanz wird in
Kliniken zuweilen der sogenannte Wade-Test angewendet.
Dabei wird entweder in die linke oder in die rechte
5
Von Thomas Day, dessen kernige Neuübersetzung der »Ilias« mit Spannung
erwartet wird, hörte ich zum erstenmal in meinem Leben griechische
Hexameter so vorgetragen oder, besser, gesungen, wie es sich eigentlich
gehört. Wer sich für den theoretischen Hintergrund dieses Textabschnitts
interessiert, sei auf das Buch The Sound of Greek von W. B. Stanford
verwiesen (Berkeley: University of California Press 1967); auch sollte er
nicht versäumen, sich die mitgelieferte Schallplatte anzuhören.
- 500-
Kopfschlagader des Probanden Natriumamytal eingespritzt, das
eine starke sedierende Wirkung auf die entsprechende
Hirnhemisphäre ausübt, während die andere Hemisphäre
unvermindert wach und reaktionsfähig bleibt. Wird die Injektion
links vorgenommen – also die linke Hemisphäre sediert, so daß
nur mehr die rechte aktiv ist – so kann der Proband zwar nicht
mehr sprechen, aber noch singen. Injiziert man rechts, so daß
nur die linke Hemisphäre aktiv bleibt, so kann der Proband noch
sprechen, aber nicht mehr singen. 6
– Patienten, denen zur Beseitigung eines Glioms die linke
Hemisphäre vollständig entfernt werden mußte, bringen in der
postoperativen Phase bestenfalls nur ganz wenige Worte hervor.
Aber zumindest ein Teil von ihnen ist imstande zu singen. 7 Ein
solcher Patient mit nur noch einer sprachlosen rechten
Hemisphäre in seinem Besitz »konnte fast wortgetreu und mit
nahezu perfekter Aussprache ›America‹ und ›Home an the
Range‹ singen«. 8
– Elektrische Reizung der rechten Hemisphäre in den dem
hinteren Schläfenlappen benachbarten Regionen, insbesondere
im Bereich des vorderen Schläfenlappens, führt häufig zu
Halluzinationen von Gesang und Musik. Auf einige der
betreffenden Probanden bin ich bereits im Fünften Kapitel des
Ersten Buches (Seite 138 ff) eingegangen. Die fragliche Region
ist im allgemeinen das rechtshemisphärische Gegenstück zum
linkshemisphärischen Wernicke-Zentrum, also der Bereich, in
6
H. W. Gordon, Hemispheric Lateralization of Singing aher Intracarotid
Sodium Ammobarbitol, Journal of Neurology, Neurosurgery and Psychiatry
37/1974, S. 727-739
7
H. W. Gordon, Auditory Specialization of Right and Left Hemispheres,
Hemispheric Disconnection and Cerebral Fundion, hg. von M. Kinsbourne u.
W. Lynn Smith, Springfield: Thomas 1974, S. 126-136.
8
Charles W. Burklund, Cerebral Hemisphere Function in the Human, Drug,
Development and Cerebral Fundion, hg. von W. L. Smith, Springheld:
Thomas 1972, S. 22.
- 501-
dem meiner Hypothese zufolge die Gehörshalluzinationen der
bikameralen Psyche organisiert wurden.
Gesang und Melos hängen also in erster Linie mit Aktivitäten
der rechten Hemisphäre zusammen. Und da Dichtung in der
Antike mehr singend als sprechend vorgetragen wurde, war sie
vermutlich weitgehend eine rechtshemisphärische Funktion
nicht anders, als die im Fünften Kapitel des Ersten Buches (Seite
128- 258) umrissene Theorie der bikameralen Psyche erwarten
läßt. Genauer gesagt: die antike Poesie forderte den hinteren
Bereich des rechten Schläfenlappens – der meiner Hypothese
zufolge
die
Organisationsgrundlage
der
göttlichen
Halluzinationen war – sowie Nachbarregionen, die heute noch
an musikalischen Funktionen beteiligt sind.
Für die hartnäckigen Skeptiker unter meinen Lesern lasse ich
hier ein Experiment folgen, anhand dessen sie sich aus
höchsteigenem Gefühl von der Wahrheit der Sache überzeugen
können. Denken Sie sich also, falls Sie zu diesen Skeptikern
zählen, zunächst zwei Themen (x-beliebiger Art, gleichgültig,
ob allgemeiner oder persönlicher Natur) aus, über die Sie zwei,
drei Minuten lang frei sprechen möchten. Stellen Sie sich
sodann vor, Sie hätten einen Bekannten zu Besuch, und tragen
Sie dem Gast mit lauter Stimme vor, was Sie zu dem einen
Thema zu sagen haben. Als nächstes behandeln Sie das zweite
Thema (die vorgestellte Situation bleibt die gleiche) lauthals
singend. Halten Sie in beiden Fällen mindestens je eine Minute
lang durch, indem Sie sich während der Ausführung ermahnen,
nicht aufzugeben. Vergleichen Sie anschließend per
Introspektion. Warum ist der zweite Teil des Versuchs soviel
schwieriger? Warum verfällt der Gesangstext in Phrasen und
Gemeinplätze? Oder warum flacht die Melodieführung zu einem
Rezitativschema ab?
Warum kommt Ihnen mitten in der schönsten Melodie das
Thema abhanden? Worin bestehen Ihre Anstrengungen, Ihr Lied
- 502-
wieder aufs Thema zurückzubringen? Oder vielmehr – denn
eher das ist, wie ich glaube, der Eindruck, den das Gefühl
vermittelt – die Anstrengungen, das Thema ins Lied
zurückzuholen?
Die Antwort liegt in der Tatsache beschlossen, daß Ihr Thema
sich »im« Wernicke-Zentrum in der linken Hemisphäre
befindet, Ihr Gesang hingegen »im« rechtshemisphärischen
Gegenstück zum Wernicke-Zentrum. Ich will gleich dazusagen,
daß diese Feststellung natürlich nur neurologische
Näherungswerte treffen kann. Und mit »Thema« und »Gesang«
meine ich das entsprechende neurale Substrat. Doch auch bloß
näherungsweise getroffen, ist der Sachverhalt schon
beweiskräftig genug. Alles spielt sich so ab, als ob die
willentlich gesteuerte Rede eifersüchtig auf die rechte
Hemisphäre wäre und Sie ganz für sich allein haben wollte; und
ebenso ist Ihr Gesang eifersüchtig auf die linke Hemisphäre und
möchte erreichen, daß Sie sich von Ihrem linkshemisphärischen
Thema trennen. Der durchgehaltene Versuch, ein festgelegtes
Thema in improvisiertem Gesang abzuhandeln, erzeugt ein
Gefühl, als ob wir zwischen den Hirnhemisphären hin und her
hüpften. Und in gewissem Sinn tun »wir« das auch: Links
wählen wir Wörter aus und hasten dann schleunigst mit ihnen
nach rechts zum Singen zurück, um ja zu verhindern, daß
irgendwelche anderen Wörter vor uns da sind und uns samt
unserer Last aus dem Re nnen werfen. Aber meistens passiert
genau dies, die Worte passen nicht zum Thema, sie machen sich
selbständig und verfolgen einen eigenen Kurs, oder sie ergeben
keinen folgerichtigen Zusammenhang, oder sie bleiben
überhaupt aus, und wir sind gezwungen, das Singen
einzustellen.
Selbstverständlich können wir lernen – und Musiker tun dies
nicht selten –, unser verbales Denken bis zu einem gewissen
Grad unmittelbar in Liedform vorzutragen. Da Lateralität
(laterale Dominanz) bei ihnen weniger ausgeprägt ist als bei
- 503-
Männern, dürften sich Frauen damit leichter tun. Wenn Sie es
einen Monat, ein Jahr oder ihr Leben lang regelmäßig zweimal
täglich üben und sich dabei gewissenhaft bemühen, in der
Textkomponente bloße Klischees und auswendig Gelerntes
ebenso zu vermeiden wie bloße Rezitativschemata in der
musikalischen Komponente, so dürften Sie mit der Zeit in dieser
Kunst immer besser werden. Wären Sie gerade zehn Jahre alt,
würde das Lernen vermutlich viel leichter gehen, und Sie hätten
alle Aussicht, dabei zu einem Dichter zu werden; und hätten Sie
dann irgendwann später das Pech, von einer Schädigung der
linken Hirnhemisphäre betroffen zu werden, könnte sich ihre
Fähigkeit, Gedanken zu singen, als höchst praktisch für Sie
erweisen. Durch Lernen erworben wird hier wahrscheinlich eine
neue Beziehung zwischen den beiden Hirnhemisphären, die
einem Teil der im vorigen Kapitel behandelten Lernvorgänge
nicht ganz unähnlich sein dürfte.
Das Wesen der Musik
Ich möchte hier noch ein wenig ausführlicher auf die Rolle
eingehen, welche die Instrumentalmusik in alldem spielt. Denn
auch Musik hören und verstehen wir mit der rechten
Hemisphäre.
Diese Lateralisierung der Musik läßt sich bereits in
allerfrühester Kindheit beobachten. Man kann sechs Monate alte
Säuglinge einem EEG unterziehen, während sie auf dem Schoß
ihrer Mutter sitzen. Placiert man die Elektroden direkt über dem
Wernicke-Zentrum und seinem rechten Gegenstück, zeigt sich
die linke Hemisphäre aktiver, sobald menschliche Rede vom
Band gespielt wird. Spielt man jedoch eine Spieluhr-Melodie
oder Gesang vom Band, dann zeigt die Elektrode über der
rechten Hemisphäre die größere Aktivität an. Bei dem konkreten
Experiment, auf das ich mich hier beziehe, war es nicht nur so,
daß die Kinder, die strampelten oder weinten, sich beruhigten,
sobald die Musik ertönte, sondern sie begannen auch zu lächeln
- 504-
und richteten den Blick geradeaus nach vorn, weg von den
Augen der Mutter, 9 und verhielten sich überhaupt in manchem
genauso wie ein Erwachsener, der Ablenkungen vermeiden will.
Dieser Befund spricht nachdrücklich für die Möglichkeit, daß
die Organisation des Gehirns zum Zeitpunkt der Geburt es dazu
disponiert, Reizungen im rechtsseitigen Gegenstück zum
Wernicke-Zentrum, das heißt musikalischen Eindrücken, zu
»gehorchen« und sich nicht von ihnen ablenken zu lassen –
genau wie nach unserer früheren Feststellung der bikamerale
Mensch den Halluzinationen aus diesem Bereich gehorchen
mußte. Nachdrücklich bekräftigt wird hier auch die große
Bedeutung
von
Wiegenliedern
für
die
Persönlichkeitsentwicklung des Kindes: Es ist nicht
auszuschließen, daß mit ihnen in irgendeiner Form darüber
entschieden wird, wie kreativ sich der Erwachsene später zeigen
wird.
Von der Lateralität der Musik kann der Leser sich aus eigener
Anschauung überzeugen. Man versuche, zwei verschiedene
Musikstücke in gleicher Lautstärke gleichzeitig über Kopfhörer
zu hören, eines mit dem linken, das andere mit dem rechten Ohr.
Es wird sich zeigen, daß man das dem linken Ohr zugespielte
Musikstück besser wahrnimmt und besser im Gedächtnis
behält. 10 Das liegt daran, daß das linke Ohr in der rechten
9
Die Rede ist hier von den interessanten neueren Forschungen Martin
Gardiners am Children’s Hospital in Boston. Martin F. Gardiner und Donald
O. Waltet, Evidente of hemispheric specialisation from infant EEG,
veröffentlicht in: Lateralization in the Nervous System, hg. von S. Harnad, R.
Doty, L. Goldstein, J. Jaynes u. G. Krauthammer, New York: Academic
Press (1976), S. 481-502.
10
Das Experiment (mit Vivaldi-Konzerten) wurde beschrieben von Doreen
Kimura: Functional Asymmetry of the Brain in Dichotic Listening, Cortex 3 /
1967, S. 163-178. Es gibt allerdings Anzeichen dafür, daß das festgestellte
Ergebnis nicht für Musiker gilt, deren Ausbildung dazu geführt hat, daß die
Musik bei ihnen bilateral repräsentiert ist. Darauf hat in einem Vortrag über
»Handedness and the Nature of Dominance« (gehalten im Educational
- 505-
Hemisphäre neural stärker repräsentiert ist. Als spezifische
Lokalisation kommt wahrscheinlich der vordere rechte
Schläfenlappen in Frage, denn Patienten, denen er operativ
entfernt wurde, haben große Mühe, Melodien voneinander zu
unterscheiden. Umgekehrt haben Patienten, an denen die
Temporallobektomie
linksseitig
vorgenommen
wurde,
postoperativ im gleichen Test keinerlei Schwierigkeiten. 11
Nun wissen wir aus der Neurologie, daß Erregung sich von
einem Punkt der Großhirnrinde auf benachbarte Punkte
ausbreiten kann. Damit ist die Wahrscheinlichkeit gegeben, daß
Erregungsaufladung
in
den
rechtshemisphärischen
Rindensektoren im Dienst der Instrumentalmusik auf
benachbarte
Sektoren
im
Dienst
der
göttlichen
Gehörshalluzinationen übergriff – und umgekehrt. Daher also
die enge Verbindung zwischen Dichtung und Musik und beider
zusammen mit den Stimmen der Götter. Mir scheint demnach
die Hypothese gerechtfertigt, daß die Musik ursprünglich
erfunden worden ist als neurales Stimulans zur Erweckung von
Götterstimmen als eines Bewußtseinslosen Verfahrens der
Entscheidungsfindung.
Es ist mithin keine bloße Laune des historischen Zufalls, daß
die Musik ihren Namen von den heiligen Gottheiten namens
Musen herleitet: Auch sie wurzelt nämlich in der bikameralen
Psyche.
Mit einigem Fug und Recht dürfen wir also vermuten, daß der
Gebrauch der Leier bei den Dichtern des Altertums den Zweck
verfolgte, den Rindenbereich, in dem die Göttersprache
Testing Service, Princeton, September 1969) – erstmals R. C. Oldfield
hingewiesen. Vgl. auch Thomas G. Bever u. R. J. Chiarello, Cerebral
Dominance in Musicians and NonMusicians, Science 185/1974, S. 137-139.
11
D. Shankweiler, Effects of Temporal-Lobe Damage an Perception of
Dichotically Presented Melodies, Journal of Comparative and Physiological
Psychology 62/1966, S. 115-119.
- 506-
lokalisiert war, nä mlich die hintere Region des rechten
Schläfenlappens, von einem unmittelbar angrenzenden Bereich
aus in Erregung zu versetzen. Die gleiche Funktion hatte auch
das Flötenspiel, das den Vortrag der Lyriker und Elegiker des
achten und siebten Jahrhunderts v. Chr. zu begleiten pflegte.
Und wenn diese musikalische Begleitung dann – wie es in
Griechenland später der Fall ist – eingestellt wird, so geschieht
dies meines Erachtens, weil Dichtung fortan nicht mehr als
Gesang (aus der rechten Hirnhemisphäre heraus, wo
unterstützende Erregungsausbreitung durch Instrumentalmusik
allenfalls würde stattfinden können) vorgetragen wird: Statt in
echter prophetischer Verzückung jedesmal neu erschaffen zu
werden, wird die Dichtung jetzt nur noch aus dem
linkshemisphärischen Gedächtnis heraus reproduziert und
rezitiert.
Dieser Wandel in puncto musikalische Begleitung findet
seinen Niederschlag auch in der sprachlichen Ausdrucksweise,
deren man sich in bezug auf die Dichtung bedient, wenngleich
sich aufgrund zahlreicher historischer Überschneidungen in
diesem Bereich ein weniger klares Bild ergibt. Auf jeden Fall
wird von älterer Dichtung als Gesang gesprochen (zum Beispiel
in der »Ilias« und in Hesiods »Theogonie«), während die
jüngere im Sprachgebrauch häufig als Sprech- oder Erzähltext
apostrophiert ist. Der Übergang mag im großen und ganzen der
Ablösung der aoidoi mit ihren Leiern durch die rhapsodoi mit
ihren rhapes (Ruten, die möglicherweise zum Taktschlagen
dienten) entsprechen, die im achten oder siebten Jahrhundert v.
Chr. erfolgt sein dürfte. Was sich in diesen Detailveränderungen
verbirgt, ist der tiefergreifende psychische Wandel vom
bikameralen
Neuundimmerneu-Dichten
zum
bewußten
Rezitieren und von oraler zu schriftlicher Mnemotechnik. Auf
einer sehr viel späteren Etappe der Dichtungsgeschichte kehren
dann freilich der Dichter als Sänger und sein Gedicht als Lied
als bewußt archaisierende Metaphern wieder, um in dieser Form
- 507-
den inzwischen zum Bewußtsein gekommenen Poeten mit einer
Autorisierung eigener Art auszustatten. 12
Dichtkunst und Besessenheit
Eine dritte Perspektive auf diese Wandlung der Dichtkunst im
Zusammenhang mit der Heraufkunft und Ausbreitung des
Bewußtseins eröffnet sich uns, wenn wir den Dichter selbst und
seine Mentalität betrachten. Insbesondere interessiert uns hier,
ob die Beziehung der Dichter zu den Musen die gleiche war wie
die der Orakel zu den Hochgöttern.
Für Platon jedenfalls bestand in dieser Hinsicht kein Zweifel.
Das Dichten war ein göttlich inspirierter Wahnsinn – katokoche:
ein Besessensein von den Musen:
Denn alle rechten Dichter alter Sagen sprechen nicht durch
Kunst, sondern als Begeisterte und Besessene alle diese schönen
Gedichte, und ebenso die rechten Liederdichter... Denn ein
leichtes Wesen ist ein Dichter und geflügelt und heilig, und
nicht eher vermögend zu dichten, bis er begeistert worden ist
und bewußtlos und die Vernunft nicht länger in ihm wohnt.
(»Ion«, 533 E-534A)
Demnach konnte man um 400 v. Chr. die Dichter ihrer
Mentalität nach mit den zeitgenössischen Orakeln vergleichen;
bei ihren Auftritten ging mit jenen die gleiche psychische
Verwandlung vor wie mit diesen.
Nun könnte man versucht sein, sich Platons Meinung
anzuschließen, daß diese Besessenheit als Abzeichen des
»rechten Dichters« bis weit zurück in die Tradition der
Ependichtung datiert. Eine derartige Schlußfolgerung ist jedoch
12
Dazu vgl. T. B. L. Webster, a. a. O., S. 271 f.
- 508-
durch die Tatsachen nicht gedeckt. Vielmehr lassen sich gerade
aus der »Ilias« einer Quelle, die um viele Jahrhunderte älter ist
als die früheste Erwähnung oder uns bekannte Beobachtung des
Phänomens der katokoche die besten Argumente dafür
gewinnen, daß die ursprünglichen aoidoi keineswegs so von
Sinnen und der Vernunft beraubt waren wie die Dichter in
platonischer Zeit. An mehreren Stellen des Gedichts nämlich
kommt es vor, daß der Fluß der Darstellung unterbrochen wird,
weil der Dichter steckengeblieben ist und nun die Musen
anrufen muß, damit sie ihm weiterhelfen (2, 483; 11, 218; 14,
508; 16, 112).
Mit nachdrücklicher Betonung sei hier im Vorübergehen
angemerkt, daß es sich bei den Musen nicht um
»Phantasiegeschöpfe« handelte. Ich möchte den Leser bitten,
sich die ersten Seiten von Hesiods »Theogonie« genau
anzusehen und sich dabei klarzumachen, daß alles, was da
berichtet wird, in Halluzination gesehen und gehört wurde, so
wie das heute noch bei Schizophrenen oder unter der
Einwirkung bestimmter Drogen vorkommt. Die bikameralen
Menschen phantasierten nicht: sie erlebten. Die wunderschönen
Musen mit den gleichgestimmten »liliengleichen« Stimmen, aus
dichten Abendnebeln hervortanzend und auf zarten und
bebenden Füßen um den einsamen, verzückten Schäfer
herumhüpfend – diese Ausbände an Anmut waren für den
bikameralen Menschen, der nicht in einem Bezugsrahmen von
vergangenem Geschehen lebte, ja überhaupt keine »Lebenszeit«
in unserem Sinn kannte und nicht reminiszieren konnte, weil er
kein Bewußtsein hatte, die halluzinatorische Quelle seines
Gedächtnisses. In der Tat ist es genau dieser Sachverhalt, den
ihr auserwähltes Medium, der Schafhirt vom Helikon
persönlich, dann in Mythologie übersetzt: die Musen, die, wie er
uns erzählt, mit immer gleichgestimmten phrenes13
13
Der griechische Ausdruck für die Gleichgestimmtheit lautet homophronas
(Hesiod, Theogonie, Vers 60). Mir ist aus jüngerer Zeit kein Fall von
- 509-
»unermüdlich fließenden« Gesang hervorbringen, diese
göttliche Spezialeinheit, die, statt den Menschen zu sagen, was
sie tun sollen, bestimmten Menschen Kunde davon bringt, was
früher einmal getan worden ist die Musen sind die Töchter der
Titanin Mnemosyne, deren Name später die Bedeutung
»Gedächtnis« annahm und der allererste Ausdruck mit dieser
Bedeutung überhaupt war.
Die Anrufung der Musen ist also funktional das gleiche wie
wenn wir uns heute bemühen, unser Gedächtnis anzustrengen,
etwa in dem Ringen um eine Erinnerung, die uns »auf der Zunge
liegt«. Die Rede der Musen ist nicht die eines bewußtlosen,
seiner Sinne nicht mehr mächtigen Menschen. An einer Stelle
der »Ilias« beispiels weise gerät der Dichter ins Stocken und ruft
daher die Musen an:
Kündet mir jetzt, ihr Musen, Bewohner des hohen Olympos, –
Seid ihr doch Götter, seid immer gewärtig und kundig in allem,
Wir aber wissen nur wenig und hören nur dunkele Sagen, Wen
denn nun nannte man da von der Danaer Führer und Helden?
(2,483-487)
um anschließend von sich selber zu bekennen, daß er, der
Dichter, »hätte ich Zungen auch zehn und zehnfach redende
Stimme«, nicht imstande wäre, die Namen aufzuzählen, würden
sie ihm nicht von den Musen zugesungen. Durch Kursivsatz
hervorgehoben ist in dem Zitat der Teil, der angibt, warum die
Musen für den Dichter so besonders interessant sind.
Ebensowenig scheint Hesiod besessen gewesen zu sein, als er
beim Schafehüten auf den heiligen Hängen des Helikon zum
erstenmal den Musen begegnete. Nach seiner Schilderung
Halluzination bekannt, in dem Stimmen aufgetreten wären, die sich wie
menschlicher Chorgesang anhörten. Wieso die Musen überhaupt in der
Mehrzahl auftreten, ist eine hochinteressante Frage. Vgl. hierzu Fußnote auf
Seite 278.
- 510-
hauchten sie mir göttliche Stimme ein, Dinge zu rühmen, die
sein werden und die vor alters waren, und hießen mich singen
das Geschlecht der ewigen seligen Götter, doch zuerst und über
alles stets zu künden von ihnen selbst. 14
Denn mit Sicherheit hält sich dieses Werk, das ich dem Perses
zugeschrieben habe, nicht an das Versprechen, zuerst und über
alles stets nur von den Göttern zu singen:
Auch das, denke ich, ist buchstäblich zu verstehen als das
Erleben eines Menschen in exakt dem gleichen Sinn, wie wir an
die Erlebnisqualität von Hesiods Zeitgenossen Amos’
Begegnung mit Jahwe auf dem Felde bei Thekoa glauben,
geschehen, während auch er gerade seine Herde hütete. 15 Und es
sieht durchaus nicht nach Besessenheit aus, wenn die Theogonie
der Musen plötzlich abbricht (V. 104) und Hesiod, jetzt wieder
für sich selber sprechend, sie erneut beschwört und anfleht, mit
dem Gedicht fortzufahren: »Das berichtet mir alles von Anfang
an, ihr Musen!«, und mit dieser Aufforderung eine lange Liste
von Themen beschließt, die er, der Dichter, in dem Gedicht gern
behandelt sehen möchte (V. 114).
Und auch die ehrwürdige, liebevoll geschilderte Erscheinung
des Demodokos in der »Odyssee« läßt nicht den Schluß zu, daß
dieser Dichter von Besessenheit ergriffen wurde. Die Umstände
sprechen dafür, daß Demodokos – wenn wir ihn uns denn als
eine reale Person zu denken haben wohl irgendein Gehirntrauma
erlitten hatte, dessen Folge Blindheit war, aber auch die Gabe,
den Gesang der Musen zu vernehmen, einen Liedgesang, der so
bezaubernd war, daß er Odysseus dazu brachte, sein Haupt zu
verhüllen und jammernd Tränen zu vergießen (8, 63-92). Und
14
Die Schlußwendung des Zitats liefert ein weiteres Argument für die im
Fünften Kapitel des Zweiten Buches vorgetragene Annahme, daß dieser
Hesiod nicht der Verfasser der »Werke und Tage« sein kann.
15
Auch Amos war nicht besessen, da er ja Zwiesprache mit seinem Gott
hielt. Vgl. Amos 7, 5-8; 8, 1 f. An einigen Stellen habe ich in der Wortwahl
an Lukas 2, 8-14 zu erinnern versucht.
- 511-
Odysseus selbst weiß sehr wohl, daß dieser Demodokos mit den
blinden Augen, mit denen er niemals Zeuge des Geschehens
hätte werden können, vom Trojanischen Krieg in seinem Lied
nur deshalb zu künden vermochte, weil ihn die Muse oder
Apollon in höchsteigener Person darüber belehrten. Sein Gesang
war hormotheis theu: immerfort von der Gottheit selbst
eingegeben (8, 499).
Die Fakten sprechen also dafür, daß der Dichter bis ins achte
und möglicherweise sogar bis ins siebte Jahrhundert v. Chr.
hinein nicht wie es dann zur Zeit Platons der Fall war- »von
Sinnen« geriet, wenn er produzierte. Vie lmehr dürfte sein
Produktionspotential dem nahegestanden haben, was wir hier als
Bikameralität bezeichnen. Mit dieser Hypothese stimmt auch
der Umstand überein, daß es sich bei jenen Poeten um »elende,
ruhmlose Wichte, bloße Bäuche« (wie die Musen ihr
ehrfurchtsvolles
menschliches
Medium
verächtlich
apostrophieren; vgl. »Theogonie«, V. 26) handelt: um
ungebildete Naturburschen aus den unentwickeltesten,
ungeselligsten Schichten der Sozialpyramide, zum Beispiel
Schafhirten. Für die »bloßen Bäuche« draußen auf den Weiden
bestand weniger Aussicht, in den Sog der neuen Mentalität
hineingerissen zu werden. Und die Einsamkeit ist ein Zustand,
der zu Halluzinationen führen kann.
Aber im sechsten Jahrhundert dann, zur Zeit Solons, ist etwas
anderes im Gang. Dem Dic hter ist die Gabe des Dichtens nicht
mehr einfach nur geschenkt: Er muß jetzt »geübt sein in der
Gabe der Musen« (Fr. 13, 51). Und im fünften Jahrhundert
hören wir zum erstenmal andeutungsweise von der
eigentümlichen dichterischen Ekstase. Welch ein Gegensatz zur
ruhigen und würdigen Manier der älteren aoidoi, des
Demodokos beispielsweise! Demokritos aus Abdera versichert,
daß keiner ein Poet sein könne ohne Verzückung und einen
göttlichen Anhauch von Wahnsinn (Fr. 17, Fr. 18). Und im
- 512-
vierten Jahrhundert tritt dann bei Platon der in Raserei und
Besessenheit »von Sinnen« geratene Dichter auf, den wir bereits
kennengelernt haben. Wie auf dem Feld des Orakulierens der
Prophet, der seine halluzinierten Stimmen hörte, abgelöst
worden war vom verzückten Besessenen, so auch auf dem Feld
der Poesie.
Ist dieser dramatische Wandel dadurch bedingt, daß der
kollektive kognitive Imperativ den Musen Glaubwürdigkeit
entzog, bis sie hinter den Dingen der realen Außenwelt
zurückstehen mußten? Oder etwa dadurch, daß die mit der
Entwicklung des Bewußtseins einhergehende Neuorganisation
der
neurologischen
Verbindungswege
zwischen
den
Hirnhemisphären der »göttlichen Eingebung« im Weg stand, so
daß erst dieses Hindernis »Bewußtsein« beiseite geräumt
werden mußte, bevor es zur Selbstinszenierung der Dichtung
kommen konnte? Oder war es vielleicht so, daß das
rechtshemisphärische Gegenstück zum Wernicke-Zentrum in
einer Art Kurzschlußverfahren, wie man sagen könnte, das heißt
unter Umgehung des normalen Bewußtseins, die Regie über das
Broca-Zentrum in der linken Hemisphäre an sich riß? Oder
meinen vielleicht alle drei Hypothesen im Grunde nur ein und
dasselbe (was derzeit selbstverständlich meine eigene
Überzeugung ist)?
Woran auch immer es gelegen haben mag – der Niedergang
schreitet in den folgenden Jahrhunderten unaufhaltsam weiter
fort. Wie die Orakel in den Spätphasen ihres Bestehens nur mehr
Gebrabbel
von
sich
gaben,
bis
schließlich
der
Besessenheitszustand sich allenfalls noch in unvorhersehbaren
Intervallen und mit verminderter Intensität einstellte, so erlebten
nach meiner Vermutung auch die Dichter einen Wandel ihres
Verhältnisses zu den Musen, bei dem Raserei und Verzückung
an Intensität einbüßten und im Auftreten immer erratischer
wurden. Bis schließlich die Musen ganz verstummen und zu
Mythen versteinern. Die Nymphen und Schafhirten tanzen nicht
- 513-
mehr. Das Bewußtsein ist eine Hexe, unter deren Verzauberung
die reine Eingebung zur Erfindung verkümmert. Aus dem
mündlichen Vortrag wird die eigenhändige Niederschrift,
ausgeführt, wie nicht vergessen werden sollte, mit der rechten,
von der linken Hirnhemisphäre gelenkten Hand des Dichters.
Die Musen sind zu Phantasiegestalten geworden, und wenn
diese ins Schweigen Verfallenen noch angerufen werden, so
drückt dies lediglich das Heimweh der Menschen nach der
bikameralen Psyche aus.
Alles in allem bildet also die Dichtungstheorie, die ich mit
diesem improvisierten Arrangement von Zitaten zu umreißen
versuchte, eine Parallele zu meiner Theorie der Orakel. Die
Anfänge der Poesie liegen in der Göttersprache der bikameralen
Psyche. Später dann, beim Zusammenbruch der bikameralen
Psyche, bleiben noch Propheten übrig. Zum Teil erhalten diese
institutionellen Rang als Orakel, die Zukunftsentscheidungen
liefern. Andere wiederum spezialisieren sich zu Dichtern, die
von den Göttern die Kunde vergangener Dinge überbringen.
Abermals später, als die bikamerale Psyche sich mehr und mehr
von ihrer Impulsivität distanziert – und die rechte Hemisphäre
bis zu einem gewissen Grad sozusagen zur Stummheit verurteilt
wird –, müssen Dichter, um sich in jenen Zustand versetzen zu
können, erst einmal lernen, wie man das macht. Im selben Zug,
wie die damit verbundenen Schwierigkeiten zunehmen, gerät
nicht – anders, als es auch bei den Orakeln der Fall war – der
Zustand zu Raserei und späterhin zu ekstatischer Besessenheit.
Und wiederum: als gegen Ende des ersten Jahrtausends v. Chr.
Die Orakel in Prosa zu sprechen beginnen und ihre Rede auf
dem Weg bewußter Überarbeitung versifiziert werden muß,
vollzieht sich das gleiche auch in der Dichtkunst. Vorbei ist die
Zeit, wo das Dichterwort im gleichstimmigen Musengesang
unmittelbar gegeben wurde. In mühseliger Nachahmung der
alten göttlichen Redeweise werden Dichtungen jetzt von
- 514-
Menschen mit Bewußtsein aufgeschrieben und redigiert und
korrigiert und neu geschrieben...
Aber wenn denn schon die Götter sich jetzt noch tiefer in ihre
schweigsamen Himmelsräume zurückzogen, oder – um dasselbe
mit anderen Worten zu sagen – wenn die Entwicklung schon
dahin ging, daß auditives Halluzinieren sich dem Zugriff der
linkshemisphärischen Mithöreinrichtungen entzog: warum starb
dann das Idiom der Götter nicht einfach sang- und klanglos aus?
Warum ließen die Poeten nicht einfach ab von ihren
Verzückungen, so wie es die Priester und Priesterinnen der
großen Orakel gemacht hatten? Die Antwort liegt auf der Hand.
Die Fortdauer der Dichtung, ihr Wandel vom Göttergeschenk
zur menschlichen Kunst sind Teil jenes bereits erwähnten
Heimwehs nach dem Absoluten. Das Streben nach erneuertem
Bezug zur verlorengegangenen Andersheit der göttlichen
Direktive sorgte dafür, daß die Poesie nicht unterging. Und eben
darum werden in Gedichten selbst heute noch so oft chimärische
Wesenheiten und luftige Phantasiegestalten angerufen. Und
eben darum auch habe ich dem ersten Absatz dieses Buches die
Form gegeben, die er hat. Die Formen nämlich sind immer noch
da und verfügbar für das »Ich« qua-Analogon des bewußten
Poeten. Dessen Aufgabe besteht jetzt in der Nachahmung
(»Mimesis« 16 ) des früheren Typs der poetischen Rede und der
Realität, deren Ausdruck sie war. Von der Mimesis im
bikameralen Sinn des sklavischen Nach-Machens dessen, was
man halluzinativ gehört hatte, über die platonische Mimesis als
Wiedergabe der Wirklichkeit schritt die Entwicklung fort zur
Mimesis als Nachahmung mit der Erfindungsgabe als lustloser
Handlangerin.
Bei einigen neuzeitlichen Dichtern findet man sehr konkrete
Hinweise auf richtiggehende Gehörshalluzinationen. Milton
16
Zur Geschichte dieses Wortes vgl. Eric A. Havelock, Preface to Plato. New
York: Grosset&Dunlap 1967, S. 57, Anm, 22, sowie Kap, 2 insgesamt.
- 515-
spricht von seiner »Himmlische[n] Patronin, die [...] ohn’ daß
ich lang sie bitten darf [...] mir meine Stegreifverse zuspricht«17
– genau wie er, der Blinde, die seinen Töchtern »zusprach«, das
heißt diktierte. Bekannt ist ferner, daß die Quellen für Blakes
Bilder und Gedichte in ausgefallenen Visionen und
Gehörshalluzinationen lagen, die nicht selten tagelang anhielten,
und zwar mitunter gegen des Dichters eigenen Willen. Und von
Rilke ist überliefert, er habe eine ganze Folge von Sonetten, die
er in einer Halluzination vernahm, wie im Fieber aufs Papier
übertragen.
Die meisten von uns sind freilich aus gewöhnlicherem Holz
geschnitzt, sind viel mehr Kinder und Genossen ihrer Zeit.
Wenn wir Gedichte machen, beziehen wir sie nicht mehr fix und
fertig aus der Halluzination. Sondern für unser Gefühl stellt sich
die Sache so dar, daß da etwas zunächst empfangen und sodann
gehegt und gepflegt und zur Lebensfähigkeit aufgebaut wird;
daß das Gedicht seinem Urheber ebensosehr »widerfährt«, wie
es von ihm »gemacht« wird. Nach einem Glas Bier nebst
anschließendem Spaziergang pflegten in A. E. Housman »mit
jäher, unerklärlicher Empfindung« Fetzen von Gedichtzeilen«
emporzusteigen »die dann vom Kopf aufgegriffen und
vervollständigt werden mußten« 18 . Goethe sagte von seinen
Gedichten: »Ich machte sie nicht, sondern sie machten mich.« –
»Nicht ich denke: meine Ideen denken für mich«, meinte
Lamartine. Und der gute Shelley drückte es unverblümt so aus:
Ein Mensch kann sich nicht vornehmen: »Ich will dichten.«
Selbst der größte Dichter kann das nicht; denn der schaffende
Geist ist eine glimmende Kohle, die durch irgendeine
unsichtbare Einwirkung wie durch einen unbeständigen Luftzug
zu rasch vergänglicher Leuchtkraft erweckt wird [...] und die
17
Paradise Lost 9, 21-24.
Percy Bysshe Shelley, A Defense of Poetry, The Portable Romantic
Reader, hg. v. H. E. Hugo, New York: Viking Press 1957, S. 536.
18
- 516-
bewußten Teile unserer Natur sind gleichermaßen unfähig,
deren Kommen wie deren Gehen vorauszuahnen.
Ist die glimmende Kohle vielleicht die linke und der
unbeständige Luftzug die rechte Hirnhemisphäre und die ganze
Metapher ein rudimentäres Abbild des uralten Verhältnisses
zwischen Menschen und Göttern?
Selbstverständlich gilt in dieser Hinsicht keine universelle
Regel. Die Nervensysteme von Dichtern ähneln ihren Schuhen
wenigstens insoweit, als sie in allen Größen und Formen
vorkommen, obzwar die Topologie innerhalb gewisser Grenzen
für alle unabänderlich die gleiche ist. Daß das Verhältnis
zwischen den beiden Hirnhemisphären von Individuum zu
Individuum anders ausfallen kann, ist eine nachgewiesene
Tatsache. Ja, Poesie läßt sich sogar ganz ohne Nervensystem
verfertigen: Man braucht nur eine Wörterliste und ein paar
Syntax-, Wortbildungs- und Flexionsregeln in einen Computer
einzuspeisen, und schon ist das Gerät in der Lage, vielleicht ein
wenig surrealistisch anmutende, aber durchaus beachtliche
»lyrische« Produktionen auszugeben. Doch ist das lediglich die
Simulation dessen, was wir mit unseren zwei Hirnhemisphären
und unserem Nervensystem selber schon tun. Computer und
Menschen können in der Tat ohne irgendwelche Eingebungen
residualbikameraler Art Gedichte schreiben. Aber wenn sie das
tun, ahmen sie damit zwangsläufig jene ältere und echtere Redeund Dichtweise aus längst vergangenen historischen Zeiten
nach. Ist die Dichtkunst erst einmal auf Menschheitsebene
installiert, braucht sie nicht allzeit im ursprünglichen
Produktionsmodus zu verharren, um weiterbestehen zu können.
Ihre Anfänge liegen in der Göttersprache der bikameralen
Psyche. Und noch heute wirkt große Dichtung – sie mag
zustande gekommen sein, wie sie will, und auf x-ter Position in
einer unüberschaubaren Kette der Nachahmung von
Nachahmungen stehen- auf ihr Publikum mit jener Qualität des
ganz Anderen, jener Ausdrucksweise und Botschaft, jener
- 517-
Tröstlichkeit und Begeisterung, durch die sich einstmals unser
Verhältnis zu den Göttern definierte.
Homilie über Thamyris
Ich möchte diese einigermaßen notdürftigen Gedanken zur
Biologie der Dichtkunst beschließen mit einigen homiletischen
Betrachtungen über die wahre Tragödie des Thamyris. Das ist
jener Dichter in der »Ilias« (2, 594-600), der sich brüstete, mit
seinem Gesang selbst die Musen übertreffen und in den Schatten
stellen zu können. Zum Aussterben verurteilte Götter in der
Übergangsperiode zum Bewußtsein sind, wie schon früher
erwähnt, eifernde Götter. Und die Heiligen Neun bildeten davon
keine Ausnahme. Sie schäumten angesichts von Thamyris’
schönem Ehrgeiz. So machten sie ihn zum Krüppel
(wahrsche inlich durch Paralysierung der linken Körperhälfte)
und beraubten ihn für immer sowohl der Gabe des dichterischen
Ausdrucks als auch der Kunst des Saitenspiels.
Wohl wahr – wir wissen nicht, ob es einen Thamyris je
gegeben hat, noch exakt, welche historischen Realitäten sich
hinter dieser Geschichte verbergen. Doch würde ich meinen, daß
sie mit zu den späteren Hinzufügungen zur »Ilias« gehört und
daß ihre Einschaltung in den Urtext ein Indiz ist für die mit dem
Zusammenbruch der bikameralen Psyche auftretende
Problematik im Zusammenwirken der Hirnhemisphären bei der
dichterischen Produktion. Die Parabel von Thamyris ist
vielleicht eine Narrativierung des Sachverhalts, der sich für
unser Empfinden als Schwinden des Bewußtseins in der
Inspiration mit anschließendem Schwinden der Inspiration im
Bewußtsein jenes Bewußtseinsschwunds darstellt. Das
Bewußtsein ahmt die Götter nach und ist ein eiferndes
Bewußtsein; das keine fremden Handlungsentscheidungsträger
neben und über sich duldet.
Ich kann mich entsinnen, daß mir in jüngeren Jahren,
- 518-
jedenfalls während der gesamten Spanne zwischen zwanzig und
dreißig, auf Wald- oder Strandspaziergängen oder
Bergwanderungen und überhaupt fast allen Rückzügen in die
Einsamkeit nicht selten plötzlich zu Bewußtsein kam, daß ich im
Kopf Symphonien von unverkennbarer Schönheit hörte. Doch
im selben Moment, da ich mir dieses Umstands bewußt wurde –
mit auch nicht einem einzigen Taktschlag Verzögerung –
verschwand die Musik auch schon. Ich strengte mich an, sie
wieder zurückzuholen. Aber da war nichts mehr. Nur tiefe und
immer tiefere Stille. Da die Musik fraglos in meiner rechten
Hemisphäre komponiert und dann auf irgendeine Weise
semihalluzinativ gehört wurde, und da mein »Ich« quaAnalogon
mit seinen Verbalisierungen (zur fraglichen Zeit jedenfalls)
wahrscheinlich auf überwiegend linkshemisphärischer Funktion
beruhte, glaube ich, daß eine in allergröbsten Zügen ähnliche
Erfahrung einer solchen Gegensatzspannung auch hinter der
Geschichte des Thamyris steckt. Mein »Ich« qua-Analogon
strengte sich allzusehr an. Mir blieb eine linksseitige Lähmung
erspart. Aber ich kann meine Musik nicht mehr hören. Ich
glaube auch nicht, daß ich sie jemals wieder hören werde.
Der neuzeitliche Dichter befindet sich in einer ähnlichen
Zwangslage. Einstmals stellten sich ihm literarische Stile und
archaische Redeweisen in all der Andersheit und Grandiosität,
von der zu künden die Aufgabe der wahren Dichtung ist,
gewissermaßen aus dem eigenen Schwung heraus zur
Verfügung. Aber die kreisenden Gezeiten eines irreversiblen
Naturalismus haben die Musen noch weiter hinausgespült in die
Nacht der rechten Hemisphäre. Dennoch – selbst auf unsrer
unstillbaren Suche nach Autorität bleiben wir »die Hierophanten
einer unbegriffenen Inspiration«. Und die Inspiration
verflüchtigt sich, versucht man sie zu begreifen. Wir glauben
nicht genug. Der kognitive Imperativ löst sich auf. Die
Geschichte verschließt mit ihrem Finger sorgsam die Lippen der
Musen. Die bikamerale Psychestumm. Und da
- 519-
Der Gott, wenn man ihm naht, löst er in Luft sich auf ...
So bilde dir durch Wunder mit mir ein
(Denn Göttergabe kann nur doppeldeutig sein)
Ein Etwas, das unmöglich möglich wäre,
Auf daß Verzweiflung eine Form dich lehre.
- 520-
VIERTES KAPITEL
Die Hypnose
Würde ich sie auffordern, einem Glas Essig den Geschmack
von Champagner abzugewinnen oder es als angenehm zu
empfinden, wenn ich Ihnen eine Nadel in den Arm steche, oder
ins Dunkel zu blicken und dabei die Pupillen zu verengen, als ob
Ihnen ein starkes Licht in die Augen schiene, oder irgend etwas
– egal, was – für wahr zu halten, was Sie normalerweise absolut
nicht glauben: dann würden Ihnen diese Aufgaben schwer, wenn
nicht sogar unlösbar vorkommen. Hätte ich Sie jedoch zuvor
den Induktionsprozeduren der Hypnose unterzogen, würden Sie
das alles auf mein erstes Wort hin ohne die geringste Mühe
schaffen.
Wie das? Wie ist es bloß möglich, ein derart übers
Normalmaß hinausschießendes Fähigkeitspotential aufzurufen?
Es scheint, daß wir in eine ganz andere Welt eintreten, wenn
wir jetzt die vertraute Atmosphäre der Poesie verlassen und uns
in den fremdartigen Dunstkreis der Hypnose begeben. Denn in
der vielköpfigen Familie von Problemen, die das Arbeitsfeld der
Psychologie ausmachen, ist die Hypnose das schwarze Schaf.
Wie eine unerwünschte Monstrosität wandert sie hin und her
zwischen Laboratorien und Jahrmärkten, Kliniken und
Varietetheatern. Nie scheint sie genügend Seriosität aufbringen
zu können, um sich der disziplinierteren Gangart
wissenschaftlicher Theorie anzubequemen. Ja, schon die bloße
Möglichkeit ihrer Existenz scheint all unseren »natürlichen«
Vorstellungen von bewußter Selbstkontrolle auf der einen und
allen wissenschaftlichen Persönlichkeitsbildern auf der anderen
Seite zu widerstreiten. Nichtsdestoweniger sollte außer Zweifel
stehen, daß jede Theorie über das Bewußtsein und sein
Zustandekommen, will sie sich nicht aus der Verantwortung
drücken, sich der mit diesem abweichenden Typ der
- 521-
Verhaltenskontrolle gegebenen Problematik stellen muß.
Meine Antwort auf die zu Beginn dieses Kapitels gestellte
Frage dürfte wohl kaum noch überraschen: Die Hypnose vermag
dieses zusätzliche Befähigungspotential aufzurufen, weil sie das
allgemeine bikamerale Paradigma anspricht, das eine
absolutere Verhaltenskontrolle gestattet, als sie mit dem
Bewußtsein möglich ist.
Ich gehe sogar so weit zu behaupten, daß keine andere
Theorie außer der in diesem Buch vorgetragenen in der Lage ist,
das hier zur Geltung kommende Grundproblem überhaupt
sinnvoll darzustellen. Denn wäre die derzeitige Mentalität des
Menschen, wie meistenteils angenommen wird, ein
unwandelbares Merkmal, genetisch bedingt und zu irgendeiner
Zeit weit zurück in der Evolution der Säuger oder noch früher
entstanden – wie ließe sie sich dann so abändern, wie das in der
Hypnose geschieht? Abändern noch dazu allein mit ein bißchen
eher komisch wirkendem Hokuspokus von Seiten einer anderen
Person? Nur wenn wir die genetische Hypothese verwerfen und
das Bewußtsein als erlernte kulturelle Fähigkeit betrachten,
deren Substrat die Residuen eines älteren, autoritäreren Typs der
Verhaltenskontrolle sind – erst dann sehen wir uns in der Lage,
derartige Veränderungen im Seelenzustand in einen
einleuchtenden systematischen Zusammenhang zu bringen.
Tragendes Gerüst des vorliegenden Kapitels ist demnach der
Aufweis, daß und in welchem Annäherungsgrad die Hypnose
die vier Aspekte des bikameralen Paradigmas in sich faßt. Bevor
ich mich allerdings an diese Aufgabe mache, möchte ich so klar
wie möglich einen entscheidend wichtigen Zug an der
Ursprungsgeschichte der Hypnose herausstellen. Es handelt sich
dabei um etwas, wovon bereits im Zweiten Kapitel des Ersten
Buches (Seite 65 ff) und im Fünften Kapitel des Zweiten Buches
(Seite 317 f) die Rede war, nämlich um die generative Kraft der
Metapher, die sich in der Erzeugung neuer Mentalitätsstufen
äußert.
- 522-
Die Paraphoranden der Newtonschen Kräfte
Wie das Bewußtsein erwächst die Hypnose an einem
bestimmten Punkt der Geschichte aus den Paraphoranden
einiger neuer Metaphern. Die erste dieser Metaphern bildete sich
im Anschluß an Sir Isaac Newtons Entdeckung des Prinzips der
universellen Gravitation und dessen Anwendung zur Erklärung
der Gezeiten des Meeres aus der Anziehungskraft des Mondes.
Die
rätselhaften
Anziehungs-,
Beeinflussungsund
Dominanzverhältnisse unter Menschen wurden daraufhin mit
den Newtonschen Gravitationskräften verglichen. Der Vergleich
führte zu der neuen (und aberwitzigen) Hypothese, derzufolge
zwischen allen Körpern, ob lebend oder tote Materie, zu- und
abnehmende Fluten der Anziehung vorherrschen: eine
»animalische Gravitation«, von der die Newtonsche Gravitation
lediglich einen speziellen Fall darstelle. 1
Mit Händen zu greifen ist das alles in den
romantischverworrenen
Schriften
eines
grenzenlosen
Bewunderers von Newton namens Anton Mesmer, der in diesem
Fall den Stein ins Rollen brachte. Und dann gesellte sich dazu
eine weitere Metapher oder, besser gesagt, zwei. Die
Schwerkraft ähnelt der Magnetkraft. Infolgedessen nämlich da
(wenigstens für Mesmers oberflächliche Denkweise) zwei
Dinge, die einem dritten ähnlich sind, auch einander ähnlich
sind – ist die animalische Gravitation das gleiche wie die
magnetische Anziehungskraft und kann daher als »animalischer
Magnetismus bezeichnet werden.
1
Eine vollständige Darstellung der Geschichte der Hypnose steht noch
aus. Vgl. jedoch vorläufig: R A. Partie, Brief History of Hypnotism,
Handbook of Clinical and Experimental Hypnosis, hg. von J. E. Gordon,
New York: Macmillan 1967.
Vgl. ferner den historiographischen Beitrag von einem der bedeutendsten
Experimentatoren auf dem Feld der Hypnose: Theodore Sarbin, Attempts to
Understand Hypnotic Phenomena, Psychology in the Making, hg. von Leo
Posturan, New York: Knopf 1964, S.745-784.
- 523-
Und damit war die Theorie endlich wissenschaftlich
überprüfbar geworden. Um die Existenz dieser alle Lebewesen
durchflutenden, der Gravitation der Himmelskörper ähnelnden
magnetischen Schwingungskräfte zu beweisen, legte Mesmer
Magnete an eine Reihe hysterischer Patientinnen an, denen er
zuvor sogar Gaben eisenhaltiger Medikamente verabreicht hatte,
damit der Magnetismus bessere Wirkung zeitigte. Und wie er
zeitigte! Und was er zeitigte, waren unanfechtbare Resultate
nach dem Kenntnisstand damaliger Zeit. Die Magnete lösten
konvulsivische Zuckungen aus, wobei, so Mesmer, »im Körper
eine künstliche Ebbe und Flut« geschaffen und mittels
magnetischer Anziehung »ungleichmäßige Verteilung und
verworrener Fluß des Nervenfluidums« korrigiert wurden, was
wiederum »Nervenharmonie« zur Folge hatte. Er hatte
»bewiesen«, daß von Mensch zu Mensch Kraftströme fließen, so
mächtig wie die Kräfte, die die Planeten auf ihren
Umlaufbahnen halten.
Natürlich hatte er nicht das mindeste über Magnetismus oder
dergleichen bewiesen. Sondern er hatte etwas entdeckt, was
späterhin von Sir James Braid unter Zuhilfenahme des
Metaphorators »Schlaf« auf den Namen Hypnose getauft
werden sollte. Mesmers Kuren schlugen an, weil er seine
exotische Theorie seinen Patienten mit mitreißender
Überzeugungskraft nahezubringen wußte. Die heftigen
Zuckungen und eigenartig ziehenden Körperempfindungen beim
Anlegen der Magnete verdankten sich samt und sonders einem
kognitiven Imperativ des Inhalts, daß eben diese Dinge eintreten
würden, was sie dann auch taten – und damit war eine Art
selbsttätiger, selbstverstärkender Regelkreis installiert, der als
»Beweis« dafür gält, daß die Magnete funktionierten und eine
Heilung zu bewirken vermochten. Wir sollten uns in diesem
Zusammenhang daran erinnern, daß man im alten Assyrien
keinen Begriff vom Zufall hatte und daß deswegen der Ausgang
des Losewerfens von den Göttern gelenkt sein »mußte«: Ganz
- 524-
genauso kannte man im achtzehnten Jahrhundert den Begriff der
Suggestion noch nicht, und deshalb mußte alles, was sich da tat,
von den Magneten bewirkt sein.
Als man dann dahinterkam, daß nicht nur Magnete selbst,
sondern auch Trinkgefäße, hölzerne Sachen, Menschen oder
Tiere, die man zuvor mit einem Magneten in Berührung
gebracht hatte, diese Wirkungen zeitigten (ein Aberglaube heckt
den anderen!), rückte die ganze Sache in einen neuen
(mittlerweile den vierten) Metaphernbereich hinüber, nämlich
auf das Feld der statischen Elektrizität, die zu damaliger Zeit –
man denke etwa an Benjamin Franklins Drachen – eifrig
erforscht wurde. Mesmer gelangte zu der Überzeugung, es
existiere eine »materia magnetica«, die genau wie die statische
Elektrizität übertragbar sei auf eine endlose Vielfalt von
Gegenständen. Vor allen Dingen Menschen – und ganz
besonders Mesmer selbst – vermochten den Magnetismus
aufzunehmen und zu speichern. Wird ein Kohlestab mit einem
Stück Fell bestrichen, lädt er sich elektrisch auf: Also mußte
Mesmer seine Patienten bestreichen, als ob sie Kohlestäbe
wären. Auf reguläre Magnete konnte er jetzt verzichten und auf
seinen eigenen animalischen Magnetismus zurückgreifen. Indem
er die Körper seiner Patienten bestrich, als seien sie Kohlestäbe,
oder andeutungsweise mit den Händen über sie hinfuhr, erzielte
er die gleichen Ergebnisse wie zuvor: Zuckungen, eigenartige,
spiralig ziehende Empfindungen und die Heilung von Leiden,
die späterhin den Namen »Hysterien« erhalten sollten.
Hier kommt es nun ganz entscheidend darauf an, sich Klarheit
über den Paraphorandenwandel (wie man ihn nennen könnte) zu
verschaffen, der aufgrund jener Metaphern in den beteiligten
Personen vor sich ging. Wir entsinnen uns: ein Paraphorand sind
die in den Metaphoranden projizierten Assoziationen
(Paraphoratoren) eines Metaphorators. Metaphorand sind im
vorliegenden Fall die Einflüsse, die Menschen aufeinander
ausüben. Metaphoratoren dasjenige, womit diese Einflüsse
- 525-
verglichen werden- sind die unerbittlichen Kräfte der
Gravitation, des Magnetismus und der Elektrizität. Und ihre
Paraphoratoren: absoluter Zwang im Verhältnis zwischen
Himmelskörpern, unaufhaltsame Ströme aus Massen von
Leidener Flaschen und unwiderstehliche magnetische
Flutwellen, das alles wanderte auf dem Weg der Projektion in
den Metaphoranden »zwischenmenschliche Beziehungen« mit
ein und bewirkte dort einen handgreiflichen Wandel als Wandel
im psychischen Wesen der beteiligten Personen, indem es diese
in ein Meer unkontrollierbarer Kontrolle eintauchte, die von
dem »magnetischen Fluidum« im Körper des Therapeuten –
oder in Gegenständen, die das Fluidum von ihm »angenommen«
hatten – ausging.
Es ist zumindest denkbar, daß es eine andersartige Mentalität
war, was Mesmer zu entdecken im Begriff stand, eine
Mentalität, die unter gewissen Bedingungen – wenn man ihr den
geeigneten Lebensraum, ein eigenes Erziehungswesen, den
Rahmen eines eigenen Glaubenssystems und Isolation vom Rest
der Menschheit zugestanden hätte – vielleicht durchaus in der
Lage gewesen wäre, sich am Leben zu erhalten in einer nicht auf
dem gewöhnlichen Bewußtsein gegründeten Gesellschaftsform,
in der Metaphern von Energie und unwiderstehlicher Kontrolle
einen Teil der Bewußtseinsfunktionen übernommen hätten.
Wie ist so etwas auch nur denkbar? Ich deutete bereits an, daß
Mesmer meiner Ansicht nach erste, stolpernde Schritte in
Richtung einer neuen Methode des Aufrufs jenes neurologischen
Organisationsmusters machte, das ich als allgemeines
bikamerales Paradigma bezeichnet und an dem ich vier Aspekte
dingfest gemacht habe: den kollektiven kognitiven Imperativ,
die Induktion, die Trance und die archaische Autorität. Im
folgenden werde ich diese Aspekte der Reihe nach durchgehen.
- 526-
Die Wandlung im Wesen des hypnotischen Menschen
Daß das Phänomen der Hypnose von einem kollektiven
kognitiven Imperativ beziehungsweise einem Gruppenglauben
gesteuert wird, erweist sich deutlich an dem stetigen Wandel,
dem es im Lauf der Geschichte unterliegt. Im gle ichen Maß, wie
sich die Ansichten und Meinungen über die Hypnose änderten,
änderte sich auch deren eigenstes Wesen. Einige Jahrzehnte
nach Mesmer wanden sich die Behandelten nicht mehr in
seltsamen Empfindungen und Konvulsionen, sondern gingen
statt dessen dazu über, in der Trance unaufgefordert zu sprechen
oder auf Fragen, die man an sie richtete, zu antworten. Zuvor
war nie etwas dergleichen vorgekommen. Um die Wende zum
neunzehnten Jahrhundert begannen die Behandelten dann von
selbst zu vergessen, was in der Trance vorgefallen war, 2 etwas,
worüber aus der Zeit davor nie etwas verlautete. Um 1825
begannen Personen in Hypnose aus unerfindlichen Gründen,
sich selbst spontan Krankheitsdiagnosen zu stellen. Um die
Jahrhundertmitte hatte die Phrenologie – jene abwegige
»Wissenschaft«, die sich anheischig machte, aus den Buckeln
des menschlichen Schädels die Geisteskapazität des Besitzers
herauszulesen es zu solcher Beliebtheit gebracht, daß es ihr
gelang, die Hypnose faktisch ganz für ihre eigenen Zwecke in
Beschlag zu nehmen. Wurde der Schädel einer hypnotisierten
Versuchsperson über einem bestimmten phrenologischen
Zentrum gedrückt, so veranlaßte dies eine Demonstration der in
diesem Zentrum angesiedelten geistigen Fähigkeit (doch, so ist
es wirklich gewesen!), ein Phänomen, das weder zuvor noch
seither jemals wieder zu beobachten war. Druck auf den Schädel
nächst der Gehirnregion, in der vermeintlich das Gefühl der
»Andacht« residierte, veranlaßte die Versuchsperson, betend auf
2
Dies geht hervor aus den hochbedeutsamen Schriften von A.-M.-J.
Chastenet, Marquis de Puységur, Mémoires pour servir à 1’histoire et à
1’establissement du magnétisme animal, Paris² 1809.
- 527-
die Knie zu sinken! 3 Das war so, weil man glaubte, daß es so
wäre.
Nicht lange danach demonstrierte Charcot, der größte
»Nervenarzt« seiner Zeit, seinem zahlreichen Publikum von
Studenten und Fachgenossen in der Salpetriere, daß die Hypnose
doch noch etwas ganz anderes sei als bisher angenommen. Sie
zerfiel jetzt in drei aufeinanderfolgende Stadien: das
kataleptische, das lethargische und das somnambule. Diese
»Körperzustände« ließen sich durch die Manipulation von
Muskeln; Druck auf verschiedene Körperstellen oder Reibung
des Schädeldachs ineinander überführen. Schon das Reiben der
Kopfhaut über dem Broca-Zentrum genügte, um eine Aphasie
hervorzurufen. Als dann Binet in der Salpetriere eintraf, um sich
durch eigenen Augenschein von Charcots Entdeckungen zu
überzeugen, machte er prompt die ganze Sache noch
verwickelter, indem er zu Mesmers Magneten zurückkehrte und
noch bizarrere Verhaltensformen als Resultate der Hypnose
entdeckte. 4 Durch Anlegen von Magneten auf der einen oder
anderen Körperseite seiner Versuchspersonen konnte er
Wahrnehmungen, hysterische Lähmungen, vermeintliche
Halluzinationen und motorische Phänomene wie per Flip-FlopTechnik mal da-, mal dorthin dirigieren, als habe er es mit
3
Derartige Vorführungen unter Leitung von Sir James Braid, der im übrigen
als erster methodologisch ernst zu nehmende Untersuchungen in diesem
Bereich anstellte, wurden von ihrem Veranstalter später als Peinlichkeit
empfunden. Über die dabei aufgetretenen Befunde hat er nach 1845 nie
wieder gesprochenund sie vermutlich auch nie begreifen können. Eine
ausführliche Darstellung von Braids Kardinalposition in der Geschichte der
Hypnose gibt J. M. Bramwell, Hypnotism: Its History, Practice, and Theory,
London 1903, Neudivck Ne w York: Julian Press 1956
4
Vgl. Alfred Binet und C. Fere, Le magnetisme animal, Paris: Alcan 1897.
Diese auf Selbsttäuschung beruhende Arbeit führte zu einer Kontroverse mit
Delboeuf und der Schule von Nancy, die eine korrektere Verfahrensweise
verfochten; Binet hat dann später seinen törichten Irrtum eingestanden. Zu
dieser ganzen Angelegenheit vgl. die ausgezeichnete Biographie von Theta
Wolf, Alfred Binet, Chicago: University of Chicago Press 1973, S. 40-78
- 528-
Eisenspänen zu tun. Und wiederum handelte es sich um
Resultate, die man weder jemals zuvor noch seither wieder
beobachten konnte.
Die Sache verhält sich nicht etwa so, daß der Hypnotiseur
Mesmer oder Charcot, oder wie immer er heißen mochte –
einem gefügigen Hypnosesubjekt suggeriert hätte, worin seiner,
des Hypnotiseurs, Privatmeinung zufolge die Hypnose zu
bestehen habe. Vielmehr hatte sich innerhalb der Bezugsgruppe,
auf die er mit seiner Arbeit zielte, ein kognitiver Imperativ des
Inhalts
herausgebildet,
worin
das
Phänomen
»anerkanntermaßen« bestehe. Solche historischen Wandlungen
beweisen klar, daß die Hypnose keine starre Reaktion auf
eindeutig definierte Reize ist, sondern daß sie sich mit den
Erwartungen und Voreinstellungen der Epoche ändert.
Was dergestalt am Geschichtsverlauf in die Augen springt,
läßt sich auch auf eine den Bedingungen des kontrollierten
Experiments näherkommende Weise zeigen. Bis dato
beispiellose Manifestationen der Hypnose kann man schlicht
und einfach dadurch erhalten, daß man den Versuchspersonen
insinuiert, genau dies seien die Manifestationen, mit denen
normalerweise zu rechnen sei, das heißt daß sie Bestandteil des
die Hypnose betreffenden kollektiven kognitiven Imperativs
seien. So wurden die Teilnehmer eines psychologischen
Proseminars beiläufig instruiert, daß es der Versuchsperson in
Hypnose unmöglich sei, die dominante Hand zu bewegen. Zu
keiner Zeit jedoch war das jemals beobachtet worden. Es war
eine glatte Lüge. Trotzdem – als Teilnehmer dieses Seminars zu
einem späteren Zeitpunkt hypnotisiert wurden, und zwar ohne
weitere diesbezüglichen Instruktionen und Suggestionen, konnte
die Mehrzahl von ihnen in der Trance die dominante Hand nicht
bewegen. Aus derartigen Untersuchungsergebnissen wurde das
Konzept des »Forderungscharakters« der hypnotischen Situation
abgeleitet, der es mit sich bringe, daß die hypnotisie rte Person
die Phänomene kundgibt, mit denen der Hypnotiseur ihrer
- 529-
Ansicht nach rechnet. 5 Doch das heißt die Sache allzu
persönlichkeitsbezogen verstehen. Eine Rolle spielt vielmehr,
was es nach Meinung der Versuchsperson mit der Hypnose auf
sich hat. So verstanden, ist der »Forderungscharakter« seiner
Natur nach nichts anderes, als was in meiner Terminologie der
»kollektive kognitive Imperativ« heißt.
Auf andere Art verdeutlicht man sich die Kraft des
kollektiven Imperativs, wenn man auf seine Verstärkung in der
Masse achtet. Wie das religiöse Empfinden und der Glaube in
einer gutbesuchten Kirche zunehmen und ehedem auch die
Orakelgläubigkeit zunahm, je mehr Menschen ins Heiligtum
drängten, ebenso steigert sich die Wirksamkeit der Hypnose bei
der Vorführung im Theater. Es ist eine sattsam bekannte
Tatsache, daß ein Variete-Hypnotiseur, der seine Kunst vor
brechend vollgepackten Sitzreihen zur Schau stellt – wo der
kollektive Imperativ oder die Erwartungen bezüglich der
Hypnose mächtigen Auftrieb erfahren –, weitaus exotischere
hypnotische Phänomene hervorzurufen vermag, als man sie in
der Abgeschiedenheit von Labor oder Klinik antrifft.
Die Induktion
Zum zweiten ist die Position der Induktionsprozedur in der
Hypnose nicht zu übersehen. 6 Und bedarf wohl keiner langen
5
In der Geschichte der Hypnoseforschung zählt dieser Gedanke zu den
wichtigeren. Vgl. dazu die Veröffentlichungen von Martin Orne,
insbesondere: The Nature of Hypnosis: Artifact and Essence, Journal of
Abnormal and Social Psychology 58 / 1959, S. 277-299. Interessant ist in
diesem Zusammenhang auch David Rosenhans bedeutsamer und
ernüchternder Aufsatz: On the Social Psychology of Hypnosis Research, in:
J. E. Gordon (Hg.), a. a. O. (vgl. Fußnote auf Seite 463).
6
Die beste Darstellung der hypnotischen Induktionsprozeduren gibt Perry
London, The Induction of Hypnosis, in: J.E. Gordon (Hg.), a. a. O. (vgl.
Fußnote auf Seite 463), S.44-79. Von den Darstellungen der Hypnose im
allgemeinen fand ich die Aufsätze von Ronald Shor besonders hilfreich,
zumal Hypnosis and the Concept of the Generalized Reality-Orientation,
- 530-
Erläuterung. Eine enorme Vielfalt von Techniken befindet sich
derzeit im Schwang; ihnen allen gemeinsam ist jedoch eine
Bewußtseinsverengung, ähnlich den Induktionsprozeduren für
die Orakel, sowie die pelestike/katochos-Relation, die wir
bereits in anderem Zusammenhang kennengelernt haben (Seite
418). Das Hypnosesubjekt kann stehen, sitzen oder liegen; in
manchen Fällen wird es mit den Händen bestrichen, in anderen
nicht; in einigen Fällen findet eine enge Blickverschränkung
zwischen Hypnotiseur und Hypnosesubjekt statt, in anderen
nicht; manchmal wird das Hypnosesubjekt gebeten, den Blick
fest auf eine Kerzenflamme oder einen kleinen Edelstein oder
eine Reißzwecke an der Wand oder vielleicht sogar auf den
eigenen Daumennagel über den verschränkten Fingern zu
richten – und manchmal auch nichts dergleichen: Es existieren
Hunderte von Varianten. Aber stets ist der Hypnotiseur bemüht,
den Aufmerksamkeitsradius des Hypnosesubjekts auf seine, des
Hypnotiseurs, eigene Stimme einzuengen. »Sie hören jetzt nur
noch meine Stimme und fühlen sich immer schläfriger und
schläfriger ...« – das ist ein gängiges Sprechmuster, das so lange
wiederholt wird, bis das Subjekt bei gelungener Hypnose
beispielsweise nicht mehr imstande ist, die verschränkten Finger
voneinander zu lösen, sofern der Hypnotiseur es entsprechend
angewiesen hat, oder auf Geheiß des Hypnotiseurs den schlaff
herabhängenden Arm nicht mehr bewegen kann oder sich auf
entsprechendes Geheiß nicht mehr an den eigenen Namen zu
erinnern vermag. Derart simple Aufträge werden meist dazu
verwendet, während des Anlaufstadiums der Hypnose deren
Wirksamkeit zu kontrollieren.
Schafft die Versuchsperson es nicht, ihr Bewußtsein in der
erforderlichen Weise zu verengen; kann sie die Globalsituation
nicht vergessen; verharrt sie in einem Bewußtseinszustand von
American Journal of Psychotherapy 13 / 1959, S. 582-602, und Three
Dimensions of Hypnotic Depth, International Journal of Clinical and
Experimental Hypnosis 10/ 1962, S. 23-38.
- 531-
anderweitiger Gerichtetheit, etwa auf den umgebenden Raum
oder die Beziehung zum Hypnotiseur; narrativiert sie noch mit
ihrem »Ich« qua-Analogon oder »sieht« sie ihr »Ich« quaMetapher hypnotisiert werden: dann schlägt die Hypnose fehl.
Doch führen dann wiederholte Versuche mit denselben Personen
oftmals zum Erfolg, woraus hervorgeht, daß die »Verengung«
des Bewußtseins in der hypnotischen Induktion teilweise in
einer erlernten Fähigkeit beruht – erlernt, so ist hinzuzufügen,
auf der Basis der aptischen Struktur, die zuvor als allgemeines
bikamerales Paradigma bezeichnet wurde. Wir haben bereits
festgestellt, daß die Mühelosigkeit, mit der ein katochos eine
halluzinatorische Trance erreicht, mit der Übung zunimmt; nicht
anders verhält es sich mit der Hypnose: noch für die am
leichtesten zugänglichen Hypnosesubjekte lassen sich Dauer
und Inhalt der Induktion bei wiederholten Sitzungen radikal
herabsetzen.
Trance und paralogische Willfährigkeit
Zum dritten heißt die hypnotische Trance bereits allgemein
Trance. Gewiß, sie unterscheidet sich gewöhnlich von der Art
Trance, wie sie bei anderen Relikten der bikameralen Psyche
vorkommt. Es treten in ihr keine echten Gehörshalluzinationen
auf wie in der Trance von Orakeln und Medien. Diese Position
des Paradigmas hält bei der Hypnose der Hypnotiseur besetzt.
Doch kommt es ;zur gleichen Minderung und im weiteren zum
völligen Schwund des Normal-Bewußtseins. Die Narrativierung
ist stark eingeschränkt. Das »Ich« qua-Analogon ist me hr oder
minder ausgelöscht. Der Hypnotisierte lebt nicht in einer
subjektiven Welt. Er introspiziert nicht wie andere Menschen,
weiß nicht, daß er unter Hypnose steht, und überwacht sich nicht
ständig, wie er es im nichthypnotisierten Zustand tun würde.
In neuerer Zeit wird zur Kennzeichnung des Trancezustands
fast regelmäßig die Metapher des Untergetauchtseins in einem
Gewässer bemüht. So ist etwa von »Versinken« und
- 532-
»Versunkenheit«, von »tiefer« oder »flacher«, »oberflächlicher«
Trance die Rede. Häufig sagt der Hypnotiseur dem
Hypnosesubjekt, es werde auf »tiefere und immer tiefere«
Stadien »sinken«. Es ist in der Tat sehr wohl denkbar, daß die
gesamte Phänomenologie der Hypnose – zumal was die
posthypnotische Amnesie anbelangt – ohne den Metaphorator
»Versenkung« anders aussehen würde. Die Paraphoratoren von
oberhalb und unterhalb eines Wasserspiegels mit ihrem je
eigenen visuellen und taktilen Feld kreieren möglicherweise
zwei Erlebniswelten, die so etwas wie ein zustandsabhängiges
Gedächtnis zur Folge haben. Und der Grund für das plötzliche
Auftreten der spontanen posthypnotischen Amnesie zu Beginn
des neunzehnten Jahrhunderts liegt vielleicht in diesem Wechsel
von der Metaphorik der Gravitation zur Metaphorik der
Versenkung. Anders gesagt: die spontane posthypnotische
Amnesie war zunächst vielleicht nichts anderes als ein
Paraphorand
der
Versenkungsmetapher.
(In
diesem
Zusammenhang ist es interessant zu beobachten, daß die
posthypnotische Amnesie derzeit offenbar im Begriff steht, sich
aus der Gruppe der hypnotischen Phänomene zu verabschieden.
Das mag daran liegen, daß die Hypnose inzwischen zu einer
allgemein
vertrauten
Sache
und
damit
zu
einer
»eigenständigen«, einer Sache »an und für sich selbst«
geworden ist, während im selben Zug ihre metaphorische
Grundlage im Gebrauch abgeschliffen wurde, wodurch die
Macht ihrer Paraphoranden schwand.)
Die interessantesten hypnotischen Phänomene lassen sich
ohne Zweifel auf den »tieferen« Stadien der Trance hervorrufen.
Sie bilden einen extrem wichtigen Probierstein für jede Theorie
der menschlichen Psyche. Ohne anderslautende Anweisung
bleibt der Hypnotisierte »taub« für alles außer der Stimme des
Hypnotiseurs; was andere Menschen von sich geben, »hört« er
nicht: Schmerzen können einerseits »abgeblockt«, andererseits
ins Überdimensionale gesteigert werden. Die Affektivität ist
- 533-
restlos durch Suggestion strukturierbar: instruiert man ihn, er
werde jetzt gleich einen tollen Witz zu hören bekommen,
schüttet der Hypnotisierte sich aus vor Lachen über die
Bemerkung »Das Gras ist grün«. Aus irgendwelchen Gründen
vermag eine Person in Hypnose auf Anweisung des
Hypnotiseurs bestimmte automatische Reaktionen besser zu
kontrollieren als im Normalzustand. Ihr Identitätsgefühl läßt
sich so radikal umkrempeln, daß sie sich, je nachdem, als Tier,
als Greis oder als Kleinkind – oder was sonst noch beliebt –
aufführt.
Doch es handelt sich um ein Als ob mit einem unterdrückten
So ist es nicht dahinter. Von einigen Extremisten in Sachen
Hypnose hört man bisweilen die Auffassung vertreten, daß die
Person in Trance, der man sagt, sie sei jetzt fünf, sechs Jahre alt,
faktisch auf dieses Kindheitsstadium regrediere. Das ist
nachweislich falsch. Es mag genügen, wenn ich dazu ein
einziges Beispiel anführe. Der Proband, um den es geht, war in
Deutschland geboren und im Alter von etwa acht Jahren mit
seiner Familie in ein englischsprachiges Land emigriert; er hatte
sich daraufhin in die englische Sprache eingelebt und sein
Deutsch so gut wie ganz vergessen. Als der Hypnotiseur ihm in
»Tiefenhypnose« erklärte, er sei jetzt sechs Jahre alt; benahm er
sich auf jede erdenkliche Weise als Kind – was sogar so weit
ging, daß er, zum Schreiben aufgefordert, in kindlicher
Krakelschrift Druckbuchstaben auf die Tafel malte. Auf
englisch gefragt, ob er Englisch verstehe, erklärte er in
kindlichem Englisch, er verstehe und spreche kein Englisch,
sondern nur Deutsch. Ja, er krakelte sogar auf englisch an die
Tafel, daß er kein einziges Wort Englisch verstehe! 7 Das Ganze
gleicht also mehr einer schauspielerischen Simulation als echter
Regression. Es ist eine kritik- und gedankenlose »Hörigkeit«
gegenüber dem Hypnotiseur und seinen Erwartungen, die der
7
Ich verdanke dieses Beispiel Martin Orne.
- 534-
Hörigkeit des bikameralen Menschen gegenüber seinem Gott
ähnelt.
Ein zweiter weitverbreiteter – und selbst in erstrangigen
Lehrbüchern anzutreffender! – Irrtum in Sachen Hypnose ist die
Annahme, der Hypnotiseur könne echte Halluzinationen
hervorrufen. Meine eigenen (noch unveröffentlichten)
Beobachtungen beweisen das Gegenteil. Nachdem der Proband
in Tiefenhypnose versetzt war, überreichte ich ihm (mit der
entsprechenden Gestik) eine (nichtvorhandene) Vase mit der
Bitte, (nichtvorhandene) Blumen (deren jeweilige Farbe ich ihm
laut zurief) vom Tisch zu nehmen und in die Vase zu tun. Das
klappte mühelos. Es war eine Sache des schauspielerischen
Simulierens. Ganz anders dagegen lag der Fall, wenn ich dem
Probanden ein nichtexistentes Buch überreichte und ihn bat, die
erste Textseite aufzuschlagen und den Anfang laut vorzulesen.
Simulieren läßt sich dergleichen allenfalls unter Aufbietung
eines größeren Maßes an Kreativität, als den meisten von uns
zuteil geworden ist. Versuchspersonen in der beschriebenen
Lage lieferten zwar alle prompt die Gesten, als hielten sie ein
Buch und blätterten darin; in Einzelfällen waren sie wohl auch
in der Lage, eine klischeehafte Anfangswendung, ja unter
Umständen sogar einen ganzen Satz aufzusagen – doch dann
klagten sie regelmäßig, das Druckbild sei verwischt oder die
Type zu klein zum Lesen, oder brachten irgendeine andere
Rationalisierung vor. Oder: forderte man einen Probanden auf,
das (nichtexistente) Bild auf einem (leeren) Blatt Papier zu
beschreiben, so erhielt man bestenfalls einsilbige Auskünfte
darüber, was er sah, und auch diese erst auf bohrendes
Nachfragen hin und stockend vorgetragen. Wäre eine echte
Halluzination im Spiel gewesen, dann wären seine Blicke kreuz
und quer über das Papier gewandert, und eine ausgiebige
Bildbeschreibung wäre ein Kinderspiel gewesen – wie das der
Fall ist, wenn Schizophrene ihre Gesichtshalluzinationen
schildern. Ganz naturgemäß zeigten sich bei dem Experiment
- 535-
starke individuelle Unterschiede, doch alles in allem entspricht
das beobachtete Verhalten mehr einer stockend simulierten
Rolle als der für. das Erleben echter Halluzinationen
charakteristischen zwanglosselbstverständlichen Beziehung auf
etwas wie von sich aus Gegebenes.
Noch deutlicher erweist sich dieser Punkt bei einem anderen
Experiment. Gibt man einer hypnotisierten Person den Auftrag,
quer durchs Zimmer zu gehen, und hat man ihr zuvor einen
Stuhl in den Weg gestellt, ihr aber gesagt, da sei kein Hindernis,
dann halluziniert sie den Stuhl nicht ins Nichtsein. Sie macht
schlicht und einfach einen Bogen um ihn. Die Versuchsperson
verhält sich so, als nähme sie den Stuhl nicht wahr – was sie
natürlich doch tut, sonst würde sie keinen Bogen um ihn
machen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß
nichthypnotisierte Versuchspersonen, die man auffordert, so zu
tun, als seien sie hypnotisiert, in der geschilderten Situation
prompt gegen den Stuhl krachen, 8 da sie sich bemühen, sich
getreu der irrigen Auffassung zu verhalten, daß die Hypnose
eine tatsächliche Wahrnehmungsveränderung bewirke.
Aus derlei Beobachtungen erwuchs das wichtige Konzept der
»Trancelogik«, das eigens zu dem Zweck aufgestellt wurde,
dieser Ungleichheit zwischen Hypnose und Halluzination
Rechnung zu tragen. 9 Trancelogik bedeutet nichts weiter als die
höfliche Art, auf absurde logische Widersprüche zu reagieren.
Freilich handelt es sich ebensowenig um eine Logik im
eigentlichen Sinn wie um ein simples Trancephänomen.
Vielmehr hat man es hier mit etwas zu tun, was meines
Erachtens zutreffender als paralogische Willfährigkeit
8
Die grundlegenden Studien zum Vergleich Hypnotisierter mit
nichthypnotisierten Kontrollpersonen wurden von Martin Orne
vorgenommen. Auch das geschilderte genial einfache Beispiel geht auf ihn
zurück.
9
Vgl. Martin Orne, The Nature of Hypnosis: Artifäct and Essenre, a. a. O.
(vgl. Fußnote auf Seite 469).
- 536-
gegenüber der sprachlichen Realitätsvermittlung zu verstehen
ist. »Paralogisch« deshalb, weil die Regeln der Logik (die –
daran sollten wir uns erinnern – einen der Außenwelt
zugehörigen Maßstab für wahr und falsch darstellen und
keineswegs die Funktionsweise des Geistes abbilden) beiseite
geschoben werden, damit Realitätsaussagen willfahrt werden
kann, denen kein konkreter Sachverhalt entspricht. Dies ist ein
Verhaltenstyp, der gleichsam zum Grundrepertoire der Spezies
Mensch gehört und allenthalben anzutreffen ist; angefangen bei
den zeitgenössischen religiösen Litaneien bis hin zu den
diversen Formen des Abergla ubens in Stammesgesellschaften.
In besonders ausgeprägter Form und geradezu konstitutiver
Rolle ist er jedoch im hypnotischen Geisteszustand virulent.
Es ist paralogische Willfährigkeit, wenn eine Versuchsperson
um einen Stuhl, von dem man ihr versichert hat, er sei nicht da,
einen Bogen macht, statt (in logischer Willfährigkeit) gegen ihn
zu krachen, und gleichzeitig keinerlei logisches Defizit in ihrer
Handlungsweise zu entdecken vermag. Es ist paralogische
Willfährigkeit, wenn ein Proband auf englisch versichert, er
könne kein Englisch, und nicht das geringste dabei findet. Hätte
unser deutschbärtiger Proband den Hypnosezustand nur
simuliert, so hätte er sich fraglos logischwillfährig gezeigt,
indem er gerade soviel Deutsch geradebrecht hätte, wie er aus
seinem Gedächtnis noch hätte herauskramen können, oder aber
er hätte einfach den Mund gehalten.
Es ist paralogische Willfährigkeit, wenn es jemandem nichts
ausmacht, sich mit der Vorstellung zu arrangieren, daß ein und
dieselbe Person sich an zwei Orten gleichzeitig aufzuhalten
vermag. Erzählt man einem Hypnotisierten, daß die Person X
die Person Y sei, wird er sich in seinem Verhalten darauf
einstellen. Wenn dann die wirkliche Person Y den Raum betritt,
macht es ihm überhaupt nichts aus, sich damit abzufinden, daß
beide Personen die Person Y sind. Hier zeigt sich eine gewisse
Ähnlichkeit mit einer Form von paralogischer Willfährigkeit,
- 537-
wie sie bei einem anderen Relikt der bikameralen Psyche, der
Schizophrenie, auftritt. Es kann vorkommen, daß von den
Patienten auf einer Station zwei sich für die gleiche bedeutende
oder göttliche Persönlichkeit halten, ohne daß einer von den
beiden etwas Unlogisches an dieser Situation zu entdecken
vermag. 10 Meiner Meinung nach bekundete sich eine ähnliche
paralogische Willfährigkeit auch in der bikameralen Epoche
selbst, etwa wenn reglose Idole als lebendig und essend oder ein
und dieselbe Gottheit als gleichzeitig an mehreren Orten
weilend behandelt wurden, oder auch in der Menge
juwelenäugiger Standbilder von ein und demselb en Gottkönig,
die eins neben dem andern aufgereiht in den Pyramiden
gefunden wurden. Wie der bikamerale Mensch bemerkt der
Hypnotisierte in seinem Verhalten nichts Absonderliches,
keinerlei Ungereimtheit. Er »sieht« keine Widersprüche, weil er
der vollkommen bewußten Introspektion nicht mächtig ist.
Das Zeitempfinden ist während der Dauer einer Trance
ebenfalls gemindert (wie dies nach unserer früheren Feststellung
ja auch bei der bikameralen Psyche der Fall war). Das zeigt sich
besonders deutlich in der posthypnotischen Amnesie. In unserer
normalen Verfassung dient uns die spatialisierte Reihung der
Zeit im Bewußtsein als Substrat für Erinnerungsreihen. Fragt
uns jemand, was wir seit dem Frühstück getan haben,
narrativieren wir gewöhnlich eine Ereignisreihe entlang der
»Zeitachse«, auf der jedem Einzelereignis sein spezifischer
»Stellenwert« zukommt. Doch ein Mensch in hypnotischer
Trance verfügt ebensowenig wie der Schizophrene oder der
bikamerale Mensch über einen solchen Zeitschematismus, der es
ihm ermöglichen würde, den Ereignissen einen Stellenwert
zuzuweisen.
Die
Davor-danach-Dimensionalität
der
spatialisierten Zeit geht ihm ab. Was ein Hypnotisierter an
Vorkommnissen
während
der
Trance
aus
seiner
10
Die ausführliche Schilderung eines solchen Falls findet sich in: Milton
Rokeach, The Three Christs of Ypsilanti, New York: Knopf 1960.
- 538-
posthypnotischen Amnesie heraus überhaupt noch zu erinnern
vermag, sind nicht die Zeit-Räume des normalen Erinnerns,
sondern unklare, isolierte Bruchstücke vom Hinweis-Reiz- Typ.
Unter dem Einfluß der Amnesie vermögen Probanden allenfalls
Dinge wiederzugeben wie: »Ich hatte die Hände gefaltet, ich saß
in einem Sessel«, ohne Einzelheiten und Zusammenhang, was
mich in seiner Art an Hammurabi oder Achilleus erinnert.11
Freilich gibt es da einen bezeichnenden Unterschied zwischen
dem bikameralen Menschen und unseren hypnotisierten
Zeitgenossen: letztere sind oftmals in der Lage, auf Geheiß des
Hypnotiseurs den narrativierten Folgezusammenhang der
Erinnerung zu reproduzieren – woraus hervorgeht, daß neben
und außerhalb der Trance gleichzeitig eine parallele
Verarbeitung durch das Bewußtsein stattgefunden hat.
Solche Befunde machen die hypnotische Trance zu einem
Phänomen von faszinierender Komplexität. Parallelverarbeitung
...! Während eine Person dies oder jenes tut und sagt, verarbeitet
ihr Gehirn die Situation in mindestens zwei unterschiedlichen
Modi, deren einer im Verhältnis zum anderen der umfassendere
ist. Für diese Schlußfolgerung spricht mit noch verblüffenderer
Anschaulichkeit eine unlängst gemachte Entdeckung, die auf
den Namen »der versteckte Beobachter« (the hidden observer)
getauft wurde. Eine hypnotisierte Person, die instruiert wurde,
daß sie nichts dabei verspüren werde, wenn sie die Hand eine
Minute lang in einen Eimer mit eiskaltem Wasser eintauche
(eine wirklich schmerzhafte, wenngleich gesundheitsfördernde
Erfahrung), wird vielleicht kein Anzeichen von Unbehagen zu
erkennen geben und auf entsprechende Fragen antworten, sie
spüre nichts; wurde ihr jedoch zuvor gesagt, wenn – und nur
11
Ich danke John Kihlstrom von der Harvard University für klärende
Gespräche über diese Fragen. Was den unverkennbaren Gegensatz zwischen
der Sprache der Amnesie und der Sprache des Erinnerungsvermögens angeht,
beziehe ich mich auf seine Untersuchung: Models of posthypnotic amnesia,
Annals of the New York Academy of Sciences, 1977, 296, S. 284-301.
- 539-
solange – der Hypnotiseur mit der Hand ihre Schulter berühre,
werde sie mit veränderter Stimme exakt angeben, was sie
wirklich spüre, dann passiert folgendes: bei der Berührung
macht die Versuchsperson ihrem Mißbehagen vielleicht
ungehindert Luft – häufig mit tiefer, gutturaler Stimme –, um
dann jedoch auf der Stelle in die gewöhnliche Stimmlage und
den Betäubungszustand zurückzufallen, sobald der Hypnotiseur
seine Hand von ihrer Schulter nimmt. 12
Derartige Befunde verweisen uns zurück an eine längst für
widerlegt gehaltene Auffassung von der Hypnose als
Persönlichkeitsdissoziation, die um die Jahrhundertwende aus
Untersuchungen der multiplen Persönlichkeit erwachsen war.13
Deren Grundidee besagt, daß die Ganzheit der Psyche oder
Reaktivität in der Hypnose in ein Nebeneinander von
Einzelsträngen
zerfällt,
die
unabhängig
voneinander
funktionieren können. Was das für die hier im Ersten Buch
entwickelte Theorie vom Bewußtsein und seinem Ursprung
bedeutet, leuchtet nicht so ohne weiteres ein. Gleich auf den
ersten Blick zu sehen sind aber jedenfalls die Entsprechungen
zur eigentlichen bikameralen Organisation der Psyche sowie zu
dem im Ersten Kapitel des Ersten Buches (Seite 49)
geschilderten nichtbewußten Problemlöseverhalten.
Der in der Forschung vielleicht am wenigsten beachtete
Aspekt der Hypnose sind die Unterschiede im Wesen der
12
Ernest Hilgard, A Neodissociation Interpretation of Pain Reduction in
Hypnosis, Psychological Review 80/1973, S. 396-411. Ich möchte Ernest
Hilgard an dieser Stelle Dank sagen für seine kritische Durchsicht der
vorausgegangenen Kapitel. Seine ermutigenden Änderungsvorschläge waren
mir von größtem Nutzen.
13
Die Klassiker auf diesem Gebiet sind Pierre Janet, L’état mental des
hystériques, Paris 1892 u. 1894, und Morton Prince, The Unconscious, New
York: Macmillan 1914. Eine hervorragende Darstellung der
Dissoziationstheorie gibt Ernest Hilgard, Dissociation Revisited, in:
Historical Concepts of Psychology, hg. von M. Henle, J. Jaynes u. J. J.
Sullivan, New York: Springer 1973.
- 540-
Trance, wie sie bei Personen auftreten, die von Hypnose zuvor
weder viel gesehen noch gehört haben. In aller Regel ist die
Trance heutigentags ein Zustand von Passivität und
Suggestibilität. Aber manche Versuchspersonen schlafen in der
Hypnose wirklich ein. Andere wiederum sind jederzeit noch
halb bei Bewußtsein, zugleich aber auch verstärkt suggestibel,
und wer wußte in so einem Fall verbindlich zu sagen, wo die
Schauspielerei aufhört und die Wirklichkeit anfängt? Wieder
andere Versuchspersonen verfallen in ein so heftiges Zittern,
daß sie aus der Trance »aufgeweckt« werden müssen. Und so
weiter und so fort.
Daß solche individuellen Unterschiede auf individuell
verschiedene Überzeugungen oder kollektive kognitive
Imperative zurückgehen, erhellt aus einer kürzlich
durchgeführten Untersuchung. Die Probanden wurden
aufgefordert, schriftlich darzulegen, was in der Hypnose
passiert. Zu einem späteren Zeitpunkt wurden sie dann
hypnotisiert und die Resultate mit ihren Antizipationen
verglichen. Eine Probandin »erwachte« jedesmal aus der Trance,
sobald sie eine Aufgabe erhielt, zu deren Ausführung sie ihr
Augenlicht benötigte. Bei der Kontrolle ihres Berichts zeigte
sich dann, daß sie geschrieben hatte: »Für eine wirksame
hypnotische Trance müssen die Augen der Versuchsperson
geschlossen sein.« Ein Proband konnte erst im zweiten Anlauf
in Trance versetzt werden. Er hatte geschrieben: »Bei den
meisten Menschen gelingt die Hypnose nicht gleich beim ersten
Mal.« Und eine andere Probandin vermochte keine der ihr
aufgetragenen Aufgaben auszuführen, solange sie dabei zum
Stehen genötigt war. Sie hatte geschrieben: »Bei der Hypnose
muß die Versuchsperson entweder liegen oder sitzen.« 14 Doch je
öfter und ausgiebiger über die Hypnose gesprochen wird – wie
justament auch auf diesen Seiten – desto standardisierter wird
14
T.R. Sarbin, Contribution to Role-Taking Theory: Hypnotic Behavior,
PsychologyReview 57/1943, S. 255-270.
- 541-
der kognitive Imperativ und infolgedessen auch die Trance.
Der Hypnotiseur als Autoritätsinstanz
Und damit kommen wir – viertens – zu einem Fall von
archaischer Autoritätsinstanz ganz eigener Art, der ebenfalls
mitverantwortlich ist für die verschiedenen Formen der
hypnotischen Trance. Denn als Autoritätsinstanz tritt hier nicht
ein halluzinierter oder begeisternder Gott in Erscheinung,
sondern der Hypnotiseur selber. Für den Probanden ist er eine
ausgesprochene Respektsperson. Und wo dies nicht der Fall ist,
wird sich der Hypnotisierungsvorgang in aller Regel schwieriger
gestalten, oder es ist eine längere Induktion beziehungsweise auf
seiten des Probanden von vornherein ein größerer Glaube an die
Sache als solche (mit anderen Worten: ein stärkerer kognitiver
Imperativ) erforderlich.
Tatsächlich muß sich nach Meinung der meisten
wissenschaftlichen Experten auf diesem Gebiet zwischen
Hypnosesubjekt
und
Hypnotiseur
ein
besonderes
15
Vertrauensverhältnis herausgebildet haben.
Eine allgemein
gebräuchliche Methode, die Ansprechbarkeit eines Menschen
für die Hypnose zu testen; besteht darin, daß man sich hinter
seinem Rücken postiert und ihn auffordert, sich bedenken- und
rückhaltlos nach hinten fallen zu lassen, damit er spüren könne,
was es heißt »loszulassen«. Tritt der Be treffende mit einem Fuß
zurück, um seinen Fall zu bremsen, weil er zuinnerst nicht
restlos davon überzeugt ist, daß er letztlich aufgefangen werden
wird, stellt sich hinterher mit praktisch absoluter
Regelmäßigkeit heraus, daß er für diesen speziellen Hypnotiseur
15
Selbst ein Erz-Behaviorist wie Clark Hull, der als erster auf dem Feld der
Hypnose kontrollierte Experimente durchführte, die wirklich diesen Namen
verdienen, und introspektiv gewonnene Daten verabscheuteselbst ein Clark
Hull sah sich genötigt, von der Hypnose als »Prestigesuggestion« zu
sprechen, u. U. mit »einer quantitativen Verschiebung in Aufwärtsrichtung,
die möglicherweise aus dem Hypnoseverfahren resultiert«.
- 542-
nicht ansprechbar ist. 16
Dieses Vertrauensverhältnis liefert auch die Erklärung für die
unterschiedlichen Hypnoseergebnisse in der Klinik einerseits
und
im
Laboratorium
andererseits.
Im
medizinischpsychiatrischen Ambiente werden gemeinhin
tieferreichende Hypnosewirkungen erzielt, und das hat, wie ich
meine, seinen Grund darin, daß die Figur des Therapeuten im
Verhältnis zum Patienten mehr Gottähnlichkeit aufweist als die
des Versuchsleiters im Verhältnis zur Versuchsperson. Auf
ähnliche Weise läßt sich auch erklären, weshalb die Hypnose in
einem bestimmten Lebensalter am leichtesten zur Wirkung
kommt. Die Ansprechbarkeit für Hypnose ist im Alter von acht
bis zehn Jahren am größten. 17 Kinder blicken dann noch mit
dem Glauben an deren unermeßliche Allmacht und
Allwissenheit zu den Erwachsenen auf: Das schlägt für den
Hypnotiseur zu Buche und erleichtert es ihm, die Funktion des
vierten Moments im allgemeinen bikameralen Paradigma
wahrzunehmen. Je gottähnlicher die Position des Hypnotiseurs
im Verhältnis zu seinem Hypnosesubjekt, desto müheloser läßt
16
Vgl. Ernest Hilgard, Hypnotic Susceptibility, New York: Harcourt, Brace
& World 1965, S. 101. Forscher, die sich mit dem Phänomen der Glossolalie
beschäftigten (vgl, hier Drittes Buch, Zweites Kapitel), verzeichneten als
Voraussetzung für die Gabe des »Zungenredens« ein ganz ähnlich geartetes
Vertrauen in den charismatischen Führer. Im gleichen Maß, wie dieser
Führerglaube schwindet, bildet sich auch das gesamte Phänomen zurück. Es
dürfte keine Schwierigkeiten bereiten, unter Verwendung von
Tonbandkassetten für die Induktionsprozedur die Variable »Prestige«
kontrolliert einzusetzen und so den konkreten Beweis für die Bedeutung
dieses Faktors in der Hypnose zu erbringen.
17
Gemäß den Befunden von Theodore X. Bartier und John D.S. Calverley in:
Hypnotic-Like Suggestibility in Children and Adults, Journal of Abnormal
and Social Psychology 66 / 1963, S. 589-597. In einem geplanten Buch will
ich näher auf die Entwicklung des Bewußtseins in der Kindheit eingehen und
dabei die These ausführen, daß diese Phase höchster hypnotischer
Empfänglichkeit sich unmittelbar anschließt an die Kulmination der
Bewußtseinsentwicklung.
- 543-
sich das bikamerale Paradigma aktivieren.
Beweise für die Bikameraltheorie der Hypnose
Trifft es zu, daß wir es bei der Beziehung des
Hypnosesubjekts zum Hypnotiseur mit einem Relikt der
historisch älteren Beziehung zur bikameralen Stimme zu tun
haben, so ergibt sich daraus eine Reihe von interessanten
Fragen. Wenn das im Fünften Kapitel des Ersten Buches (Seite
128 ff) skizzierte neurologische Modell auch nur ansatzweise
richtig ist, dann dürfen wir im Zusammenhang mit der Hypnose
irgendwelche
Lateralitätsphänomene
erwarten.
Eine
Konsequenz unserer Theorie ist die Prognose, daß im EEG
Hypnotisierter die rechtshemisphärische Hirnaktivität im
Verhältnis zur linkshemisphärischen deutlich verstärkt in
Erscheinung treten müßte – wenngleich die Zusammenhänge in
diesem Fall kompliziert werden durch den Umstand, daß die
Anweisungen des Hypnotiseurs von der linken Hemisphäre
aufgenommen und dort in gewissem Umfang verarbeitet werden
müssen. Aber wie dem auch sei – in jedem Fall wäre aufgrund
unserer Theorie ein proportionales Übergewicht der
rechtshemisphärischen Komponente im Vergleich zur
gewöhnlichen Bewußtseinslage zu erwarten.
Allerdings sind die von einzelnen Forschern auf diesem
Gebiet bisher erbrachten Befunde ins gesamt gesehen so
widersprüchlich, daß wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt weit
davon entfernt sind, ein klares Bild auch nur vom regulären
EEG eines Menschen in Hypnose zu besitzen. Aber es stehen
noch andere Beweiswege – wenngleich leider mehr vermittelter
und indirekter Artoffen. Im einzelnen stellen sie sich
folgendermaßen dar:
Menschen lassen sich auch nach dem Merkmal kategorisieren,
ob sie die rechte oder die linke Hirnhemisphäre relativ stärker in
Anspruch nehmen als andere. Eine einfache Methode, sich
- 544-
dieses Merkmals zu versichern, besteht darin, einem Menschen
Fragen zu stellen, während man ihm voll ins Gesicht sieht, und
zu beobachten, nach welcher Seite er bei der Suche nach den
Antworten den Blick wendet. (Wie im Ersten Buch, Fünftes
Kapitel, Seite 128 bezieht sich das Gesagte auch hier wieder auf
den Standardfall des Rechtshänders.) Geht der Blick (vom
Betreffenden selbst aus gesehen) nach rechts, beansprucht er
verhältnismäßig intensiver die linke und im umgekehrten Fall
mehr die rechte Hemisphäre – was darauf zurückzuführen ist,
daß die Aktivierung der vorderen Sehzentren sei’s der rechten,
sei’s der linken Hemisphäre mit einer Stellungsänderung der
Augen in kontralateraler Richtung einhergeht. Erst kürzlich
wurde berichtet, daß Menschen, die beim Beantworten von in
sogenannter »facetoface«-Kommunikation gestellten Fragen den
Blick nach links wenden – die mithin ihre rechte Hemisphäre
ausgiebiger benutzen als andere-, auch ausgesprochen leicht zu
hypnotisieren sind. 18 Das läßt sich als Indiz dafür interpretieren,
daß zwischen rechtshemisphärischer Gehirnaktivität und
Hypnose ein ganz besonderer Zusammenhang besteht und daß
diejenigen Menschen am leichtesten zu hypnotisieren sind, die
sich am besten darauf verstehen, auf die rechte Hemisphäre zu
»horchen« und zu »vertrauen«. Im Fünften Kapitel des Ersten
Buches (Seite 148 ff) haben wir erfahren, daß der rechten
Hirnhemisphäre, die unserer Mutmaßung zufolge in früheren
Jahrtausenden die Quelle göttlicher Halluzinationen gewesen ist,
heute die Hauptverantwortung für Kreativität, Raumorientierung
und eine lebhafte Einbildungskraft zugewiesen wird. Mehrere
neuere Untersuchungen stellen übereinstimmend fest, daß
Menschen, denen die erwähnten Eigenschaften in höherem Maß
18
R. C. Gur und R. E. Gur, Handedness, Sex, and Eyedness as Moderating
Vatiables in the Relation between Hypnotic Susceptibility and Functional
Brain Asymmetry, Journal of Abnormal Psychology 83 /1974, S. 635-643.
- 545-
als anderen eignen, auch um so leichter zu hypnotisieren sind.19
Diese und ähnliche Befunde decken sich mit der Hypothese,
wonach
das
Hypnotisiertwerden
bedeutet,
sich
rechtshemisphärischen Funktionskategorien anzuvertrauen –
nicht anders als der bikamerale Mensch sich der göttlichen
Führung anvertraute.
Ist es korrekt, die Hypnose als Relikt der bikameralen Psyche
zu bezeichnen, dann wäre auch zu erwarten, daß je leichter ein
Mensch zu hypnotisieren, desto empfänglicher, offener, leichter
zugänglich er auch für andere Konkretionen des allgemeinen
bikameralen Paradigmas ist. In bezug auf Religiosität scheint
das in der Tat zuzutreffen. Menschen, die von Kindesbeinen an
regelmäßig die Kirche besuchen, lassen sich verhältnismäßig
leicht hypnotisieren, schwerer hingegen Menschen von eher
laxer Religiosität. Mehr als einer der Hypnoseforscher, die ich
kenne, sucht sich als Versuchspersonen bevorzugt
Theologiestudenten aus, weil er die Erfahrung gemacht hat, daß
sie vergleichsweise einfach zu hypnotisieren sind.
Das Phänomen der imaginären Gesellen in der Kindheit ist ein
Thema, zu dem ich mich in einer zukünftigen Arbeit
ausführlicher äußern werde. Vorweggenommen aber sei an
dieser Stelle schon: es handelt sich hierbei um ein weiteres
Relikt der bikameralen Psyche. Mindestens die Hälfte aller von
an mir in diesem Zusammenhang befragten Personen vermochte
sich deutlich daran zu erinnern, daß die Stimme des jeweiligen
Gesellen mit der gleichen Erlebnisqualität zu hören gewesen
war wie meine, des Befragers, Stimme, während ich meine
Fragen stellte. Eine echte Halluzination! Das Auftreten
imaginärer Gesellen ereignet sich zumeist in der Altersspanne
von drei bis sieben Jahren und geht damit der Phase, die nach
19
19 Josephine R. Hilgard, Personality and Hypnosis, Chicago: University of
Chicago Ptess 1970, Kap. 7. Die Fakten, auf die ich mich in den folgenden
drei Absätzen stütze, sind ebenfalls dieser hochbedeutsamen Studie
entnommen (Kap. 5 bzw. 8 bzw. 14).
- 546-
meiner Meinung den Kulminationspunkt der kindlichen
Bewußtseinsentwicklung bezeichnet, unmittelbar voraus. Für
mich stellt sich die Sache so dar, daß hier – aufgrund einer sei’s
angeborenen, sei’s umweltbedingten Disposition für imaginäre
Gesellen – die neurologische Struktur des allgemeinen
bikameralen Paradigmas eingeübt wird (um es metaphorisch
auszudrücken). Wenn die in diesem Kapitel vorgelegte
Hypothese stimmt, müßten wir damit rechnen, daß der fragliche
Personenkreis dann im späteren Leben auch auf andere
Aktivierungsformen des Paradigmas bereitwilliger anspricht –
beispielsweise auf die Hypnose. Und so ist es in der Tat.
Menschen, die in der Kindheit einen imaginären Gesellen
hatten, sind leichter zu hypnotisieren als solche, die diese
Erfahrung nicht kennengelernt haben. Auch hier haben wir also
wieder den Fall, daß der Faktor Hypnotisierbarkeit mit einem
anderen Relikt der bikameralen Psyche korreliert.
Wenn es richtig ist, in der Züchtigung von Kindern eine
Methode zur Eintrichterung verstärkter Autoritätshörigkeit –
und mithin ein Training von Teilen jener neurologischen
Verhalte, die ehedem die bikamerale Psyche ausmachten – zu
erblicken, dann dürfen wir auch hier wieder damit einhergehend
eine verstärkte Ansprechbarkeit für die Hypnose erwarten. Und
diese ist in der Tat gegeben. Aufgrund sorgfältiger Erhebungen
steht fest, daß Menschen, die in der Kindheit einem strengen,
mit harten Züchtigungen verbundenen innerfamiliären Regiment
unterworfen waren, als verhältnismäßig leicht hypnotisierbar
einzustufen sind, wenn man sie mit anderen vergleicht, die als
Kinder selten oder nie gezüchtigt wurden.
Diese Laborbefunde sind lediglich Indizien und lassen sich im
übrigen auf recht unterschiedliche Weise interpretieren (wer
Genaueres darüber zu erfahren wünscht, sei auf die
Originalberichte verwiesen). Zusammengenommen ergänzen sie
einander jedoch zu einem Bild, das die Hypothese stützt, daß es
- 547-
sich bei der Hypnose zum Teil um das Relikt einer vorbewußten
Mentalität handelt. Stellt man die hypnotischen Phänomene
dergestalt vor das Panorama der Menschheitsgeschichte,
offenbaren sich in ihrer Physiognomie ganz neue und anders gar
nicht wahrnehmbare Züge. Für eine bedingungslos
biologistische Auffassung vom Bewußtsein, die seinen Ursprung
auf irgendeinen theoretisch angenommenen Punkt in der
Evolution des Nervensystems der Säuger verlegt, muß das
Phänomen der Hypnose, wenn ich das richtig sehe, etwas
schlechthin Unfaßliches bleiben: Sie begreift davon aber auch
nicht ein Haar. Sind wir uns aber erst einmal restlos im klaren
darüber, was es bedeutet, daß Bewußtsein ein kulturell erlernter
Vorgang ist, eine prekärgleichgewichtige Konstruktion über den
unterdrückten Relikten einer älteren Mentalität, dann ist auch
ohne weiteres einzusehen, daß Bewußtsein auf kulturellem
Wege zum Teil wieder entlernt oder zum Aussetzen gebracht
werden kann. Erlernte Merkmale, wie etwa das »Ich« quaAnalogon, können unter Einfluß des geeigneten kulturellen
Imperativs in andersartigen Formen der Handlungseinleitung
aufgehen – ein Beispiel dafür ist die Hypnose. Der Grund,
warum diese andersartige Form von Initiative ausschließlich in
Verbindung
mit
den
anderen
Faktoren
der
Bewußtseinsminderung, nämlich Induktion und Trance,
funktioniert, liegt darin, daß hier auf irgendeine Weise das
Paradigma einer Mentalität aufgerufen wird, die älteren
Ursprungs ist als das subjektive Bewußtsein.
Einwurf. Gibt es die Hypnose, oder gibt es sie nicht?
Zum Schluß möchte ich kurz auf alternative Interpretationen
der Befunde hinweisen. Vorläufig haben wir es dabei jedoch
nicht so sehr mit Theorien der Hypnose als vielmehr mit
einzelnen Gesichtspunkten zu tun, von denen jeder in
begrenztem Rahmen durchaus richtig ist. So werden in einer
einschlägigen Studie als besonders wichtig die Vorstellungskraft
- 548-
des Hypnosesubjekts und seine Konzentration auf die
Suggestionen des Hypnotiseurs hervorgehoben und dazu die
Tendenz derartiger Vorstellungsbilder, konformes Handeln nach
sich zu ziehen. 20 Richtig und wichtig in der Tat. In einer anderen
Studie wird die »Monomotivation« als der entscheidende
Umstand namhaft gemacht. 21 Auch gut – nur daß dies ersichtlich
keine explikative, sondern eine deskriptive Kategorie ist. Eine
dritte stellt fest, das Grundlegende an der Sache sei schlicht und
einfach die menschliche Fähigkeit zum Rollenspiel, der
»Alsob«-Charakter der meisten Darbietungen in Hypnose.22
Auch das ist keineswegs falsch. Eine vierte betont sehr richtig
die Dissoziation. 23 Eine fünfte meint, die Hypnose sei eine
Regression auf das Stadium der kindlichen Abhängigkeit von
den Eltern. 24 Und in der Tat: jedes Relikt der bikameralen
Psyche erweckt diesen Anschein, da sie ja auf solch
zöglinghafter Erlebnisweise beruht.
Doch die wichtigste theoretische Meinungsverschiedenheit
eine
unabgeschlossene,
für
unseren
Zusammenhang
hochbedeutsame Kontroverse – betrifft die Frage, ob denn in der
Hypnose wirklich etwas grundlegend anderes vorgeht als bei
normaler, alltäglicher Bewußtseinsverfassung. Wäre der
20
Magda Arnold, On the Mechanism of Suggestion and Hypnosis, Journal of
Abnormal and Social Psychology 41/ 1946, S. 107 – 128.
21
Robert White, A Preface to the Theory of Hypnotism, Journal of Abnormal
and Social Psychology 16/1941, S.477-505.
22
T. R. Sarbin, a. a.O. (vgl. Fußnote auf Seite 479). Vgl. jedoch auch den
neueren Beitrag dieses Autors (in Zusammenarbeit mit Milton Anderson):
Role -Theoretical Analysis of Hypnotic Behavior, in: J. E. Gordon (Hg.), a. a.
O. (vgl. Fußnote auf Seite 463).
23
Ernest Hilgard, A Neodissociation Interpretation (vgl. Fußnote auf Seite
478).
24
Die eine von insgesamt zwei bisher vorgelegten psychoanalytischen
Deutungen der Hypnose. Vgl. z. B. Merton M. Gill u. Margaret Brenman,
Hypnosis and Itelated States, New York: International Universities Press
1959. Die zweite nämlich, daß die Hypnose eine Liebesbeziehung zwischen
Hypnotiseur und Hypnosesubjekt sei – nimmt heute niemand mehr ernst.
- 549-
zweiflerische Standpunkt das letzte Wort zu dieser Frage, dann
könnte nichts falscher sein als meine in diesem Kapitel
vorgetragene Interpretation der Hypnose als einer anders
gelagerten Mentalität. Denn die Hypnose kann schlechterdings
kein Relikt von was auch immer sein, solange es sie gar nicht
gibt. Sämtliche Manifestationen des Hypnosezustands, so lautet
der zweiflerische Standpunkt, lassen sich als simple
Übersteigerungen an sich normaler Phänomene erweisen. Wir
können sie der Reihe nach abhaken:
Was den »Kadavergehorsam« gegenüber dem Hypnotiseur
angeht, so beugen wir uns alle im Grunde gleichermaßen
gedanken- und kritiklos einem fremden Willen, wenn und soweit
die Situation es erfordert, beispielsweise den Kommandos eines
Lehrers, eines Verkehrspolizisten oder den Kommandos eines
Tanzmeisters.
Was eine Erscheinung wie das Ertauben auf Befehl und
ähnliches betrifft, so hat gewiß ein jeder schon erlebt, daß er
jemandem aufmerksam »lauschte« und trotzdem kein Wort von
dem vernahm, was gesagt wurde. Ob es sich also um die Mutter
handelt, die das tosende Gewitter verschläft, aber beim leisesten
Wimmern ihres Kindes aufwacht, oder um den Hypnotisierten,
der nur noch die Stimme des Hypnotiseurs vernimmt und allem
anderen gegenüber »schläft« – in beiden Fällen haben wir es mit
wesensmäßig ein und demselben psychischen Mechanismus zu
tun.
In bezug auf die induzierte Amnesie, über die sich
uneingeweihte Beobachter so sehr verwundern, ist lediglich zu
bemerken: Wer von uns kann sich erinnern, woran er fünf
Minuten zuvor gedacht hat? Dazu müßte man sich selber zur
fraglichen Zeit die Bereitschaft zum Erinnern vermittelt haben.
Und ebendies können die Hypnotiseure heute tun (oder lassen)
was der Auslöschung (oder Bekräftigung) des Paraphoranden
vom Untertauchen gleichkommt und das Hypnosesubjekt zum
Erinnern (oder Nichterinnern) veranlaßt.
- 550-
Was die in der Hypnose auf Befehl eintretenden
Lähmungserscheinungen angeht: Wem ist es auf einem
Spaziergang mit einem Freund noch nicht passiert, daß man sich
beiderseits mehr und mehr in die Unterhaltung vertiefte und
dabei langsamer und langsamer wurde, bis man schließlich
stehenblieb? Aufmerksamkeitskonzentration und Einschränkung
der Motorik liegen in solchen Fällen auf derselben Skala.
In betreff der hypnotischen Analgesie, jenes meistbestaunten
aller hypnotischen Phänomene, ist zu bedenken: Wer hat noch
nicht beobachtet, wie ein Kind, das sich weh getan hatte, sich
durch irgendein Spielzeug ablenken ließ, bis die Tränen
versiegten und der Schmerz vergessen war? Oder nicht von
Unfallopfern gehört, die Blut verloren aus Wunden, von denen
sie nicht das geringste spürten? Und möglicherweise gehört
auch die Akupunktur zu den Dingen, die man in diesem
Zusammenhang zu berücksichtigen hat.
Und was den »versteckten Beobachter« betrifft: diese Art von
Parallelverarbeitung ist immerzu in Gang. Bei jedem
Alltagsgespräch legen wir uns unterm Zuhören eine Antwort
zurecht. Schauspieler sind unentwegt damit befaßt: Sie betätigen
sich jederzeit als ihre eigenen versteckten Beobachter;
Stanislawski zum Trotz sind sie jederzeit in der Lage, ihre
eigene Leistung kritisch zu bewerten. Als weitere Beispiele
könnte man hier einen großen Teil der im Ersten Kapitel des
Ersten Buches (Seite 33 ff) erwähnten Fälle von nichtbewußtem
Denken anführen oder auch die Ausführungen über die
Konversation beim Chauffieren zu Beginn des Vierten Kapitels
im gleichen Buch (Seite 110).
Und was die verblüffende Wirksamkeit der posthypnotischen
Suggestion angeht: jeder von uns nimmt sich zuweilen vor, eine
Handlung bei nächster Gelegenheit auf diese oder jene
bestimmte Weise auszuführen, und tut dies auch, wenn es soweit
ist, selbst wenn er seinen früher gefaßten Vorsatz dann schon
längst vergessen hat. Im Grunde besteht hier kein Unterschied
- 551-
zur »prähypnotischen Suggestion«, wie wir sie einige Seiten
weiter vorn in dem Beispiel von der vermeintlich gelähmten
Hand und ähnlichen Fällen kennengelernt haben. Es handelt sich
dabei um eine Neustrukturierung des kollektiven kognitiven
Imperativs, die unser Reaktionsvermögen in sehr ausgeprägter
Form zu beeinflussen vermag.
Und ... und ... und ... Die Liste ließe sich verlängern, das
Argumentationsschema
bliebe
immer
das
gleiche:
Ausnahmeleistungen im Zustand der Hypnose sind in jedem Fall
bloß Übersteigerungen von Phänomenen, die auch im
Normalzustand vorkommen. Die Hypnose, so läuft das
Argument weiter, erscheint lediglich – und lediglich dem
Uneingeweihten – als etwas Besonderes. Das Tranceverhalten
ist nichts weiter als äußerste Konzentration, wie im
sprichwörtlichen Fall des »zerstreuten Professors«. Geradezu
eine Unmenge von Experimenten aus jüngerer Zeit zielt auf den
Nachweis, daß sämtliche hypnotischen Phänomene durch bloße
Suggestion mit Probanden im Wachzustand gedoubelt werden
können. 25
Darauf erwidere ich – und nicht nur ich allein –, daß dies
keine Erklärung, sondern eine Eskamotierung der Hypnose ist.
Selbst wenn es zuträfe (was ich nicht glaube), daß alle
hypnotischen Phänomene im Alltagszustand gedoubelt werden
können, bleibt dennoch die Eigenart der Hypnose bestehen, die
sich definiert durch unverwechselbare Prozeduren, die
unverwechselbare Empfänglichkeit des Hypnosesubjekts (mit
Entsprechungen ebensogut in anderen Erfahrungsbereichen wie
25
Der bekannteste und unermüdlichste Experimentator in dieser Richtung ist
Theodore X. Bartier. Für Bartier ist »Hypnose« als vom Wachleben
unterschiedener Zustand einfach nichtexistent, und daher sollte der Ausdruck,
wenn es nach ihm ginge, nur mit Anführungszeichen verwendet werden. Von
seinen zahlreichen Aufsätzen vgl. insbes.: Experimental Analysis of
»Hypnotic« Behavior: Review of Recent Empirical Findings, Journal of
Abnormal Psychology 70/ 1965, S. 132-154.
- 552-
in anderen Relikten der bikameralen Psyche) sowie durch den
enorm höheren Leichtigkeitsgrad, mit dem die hypnotischen
Phänomene, sei’s mit, sei’s ohne Induktionsprozedur, ausgeführt
werden. Für jedes Theoretisieren über die Frage, wie für die
Zukunft möglicherweise zu erwartende Wandlungen der
menschlichen Mentalität aussehen könnten, ist die zuletzt
genannte Eigenart von extrem wichtiger Bedeutung. Das ist
auch der Grund, warum ich dieses Kapitel so angefangen habe,
wie ich es angefangen habe. Fordert man uns auf, ein Tier oder
ein Fünfjähriger zu sein, keinen Schmerz zu empfinden, wenn
wir gestochen werden, farbenblind zu sein, in kataleptische
Starre zu verfallen, mit Nystagmus auf ein vorgestelltes Wirbeln
des Gesichtsfelds zu reagieren26 oder Essig den Geschmack von
Champagner abzugewinnen – so ist das im normalen
Bewußtseinszustand alles unendlich viel schwerer zu leisten, als
wenn das Normal- Bewußtsein durch Hypnose zum
Verschwinden gebracht ist. Derart exzeptionelle Leistungen
ohne Rapport zu einem Hypnotiseur zu vollbringen stellt
gigantische Anforderungen an Selbstüberredungsgabe und
Konzentrationsfähigkeit. Voll- Bewußtsein im Wachzustand
erscheint an und für sich wie ein riesiger Wildwuchs von
zudringlichen Abhaltungen, die abzuschütteln und hinter sich zu
lassen, um in eine derart unmittelbare Globalkontrolle
einzurasten, alles andere als einfach ist. Werfen Sie einen Blick
aus dem Fenster und reden Sie sich dabei ein, Sie seien
farbenblind, bis die Farben Rot und Grün für Sie wirklich nur
noch wie Grauschattierungen aussehen. 27 Das läßt sich bis zu
26
J. P. Brady und E. Levitt, Nystagmus as a Criterion of Hypnotically
Induced Visual Hallucinations, Science 146/ 1964, S. 85 f. Der Ansicht der
Autoren, wo nach dies das Vorkommen echter Halluzinationen in der
Hypnose beweist, kann ich mich allerdings nicht anschließen.
27
Versuchspersonen mit unbeeinträchtigter visueller Wahrnehmung, die man
im Ishihara-Test der Farbtüchtigkeit bittet, sich Mühe zu geben, die Farbe
Rot und, späterhin, die Farbe Grün nicht zu sehen, interpretieren einen Teil
der IshiharaTafeln in der als charakteristisch für Personen mit Rot- bzw.
- 553-
einem gewissen Grad tatsächlich bewerkstelligen, gelingt jedoch
viel leichter in Hypnose. Oder erheben Sie sich von Ihrem Platz,
und benehmen Sie sich während der nächsten Viertelstunde als
Vogel: Flattern Sie mit den Armen, als wären es Flügel, und
stoßen Sie dabei seltsame Schreie aus: In der Hypnose macht
das überhaupt keine Mühe. Aber nicht ein einziger von den
Lesern des letzten Satzes bringt das zustande – sofern er allein
ist. Was immer es mit diesen schweißtreibenden Empfindungen
des Närrischen und Albernen auf sich haben mag, mit diesen
innerlichen Einwürfen: »Wozu das Ganze?« und »Das ist doch
Blödsinn!« – sie fallen wie penible Despoten über Sie her,
eifersüchtig wie Götter auf ein solches Beginnen; Sie brauchen
sowohl die Bewilligung von seifen einer Gruppe, die
Autorisierung durch einen kollektiven kognitiven Imperativ, als
auch das Kommando eines Operationsleiters – eines
Hypnotiseurs oder eines Gottes –, um derartigen Gehorsam
zustande zu bringen. Oder legen Sie Ihre Hände vor sich auf die
Tischplatte, und lassen Sie jetzt eine von beiden merklich röter
als die andere werden: Kann sein, daß Sie es schaffen, aber in
Hypnose geht es sehr viel leichter. Oder halten Sie beide Hände
fünfzehn Minuten lang in Schulterhöhe, ohne das geringste
Unbehagen zu verspüren: in Hypnose ein Kinderspiel, ohne
Hypnose eine beschwerliche Angelegenheit.
Die Hypnose steuert also irgend etwas Spezifisches hinzu, das
diese außerordentliche Leistungsfähigkeit bedingt und uns in
den Zustand setzt, Dinge zu tun, die wir normalerweise nicht
oder nur mit größter Mühe auszuführen vermögen. Was ist das?
Grün-Blindheitfestgestellten Weise. Den Nachweis führten erstmals
Theodore X. Bartier und D. C. Deeley in: Experimental Evidence for a
Theory of Hypnotic Behavior 1: ›Hypnotic Color Blindness‹ without
›Hypnosis‹, International Journal of Clinical and Experimental Hypnosis
9/1969, S. 79-86. Aber leichter erzielen lässt sich diese PseudoFarbenblindheit mittels Hypnose; vgl. dazu: Milton Erickson, The Induction
of Color Blindness by a Technique of Hypnotic Suggestion, Journal of
General Psychology, 20/1939, S. 61-89.
- 554-
Und sind überhaupt »wir« es, die diese Dinge tun? Tatsächlich
ist es so, als ob in der Hypnose jemand anderer durch uns
handle. Aber warum ist das so? Und warum geht das alles soviel
leichter? Kann man sagen, daß wir erst unseres bewußten Selbst
verlustig gehen müssen, bevor wir solcher Macht teilhaftig
werden, deren Ausübung demnach nicht unsere Sache ist?
Auf anderer Ebene stellt sich die Frage, woran es liegt, daß
wir im alltäglichen Leben nicht so weit über uns
hinauszuwachsen vermögen, daß wir in der Lage wären, uns
selbst zu ermächtigen, die Person zu sein, die wir wirklich gern
wären. Wenn sich unsere Identität und unsere Handlungsweise
im Zustand der Hypnose auswechseln lassen, wieso ist es uns
dann nicht möglich, dasselbe selber an und mit uns selbst zu
machen, auf daß unser Verhalten mit, derselben absoluten
Konsequenz aus unseren Entschlüssen fließt und auf daß, was
immer in uns es sein mag, das wir als Willen bezeichnen, unser
Handeln ebenso souverän regiert wie der Hypnotiseur sein
Hypnosesubjekt?
Die Antwort darauf ist zum Teil in der prinzipiellen
Begrenztheit unseres erlernten Bewußtseins in diesem
gegenwärtigen Jahrtausend zu suchen. Wo wir sie durchbrechen
wollen, sind wir auf die Hilfe irgendeines Relikts der
bikameralen Psyche, unserer ehemaligen Methode der
Verhaltenskontrolle, angewiesen. Mit dem Bewußtseinserwerb
haben wir jene einfachere, bedingungslosere Methode der
Verhaltenskontrolle, wie sie für die bikamerale Psyche
charakteristisch war, aufgegeben. Wir leben mitten in einem
summenden Schwarm von Warums und Wozus, von
Begründungen
und
Zwecksetzungen
aus
unseren
Narrativierungen, im Knotenpunkt der abenteuerliche n
Ausfahrten unseres »Ich« qua-Analogon nach allen
Himmelsrichtungen. Und dieses unablässige Ausspinnen von
Denkbarem und Möglichem ist die unerläßliche Bedingung
dafür, daß wir vor allzu impulsiven Verhaltensweisen bewahrt
- 555-
bleiben. »Ich« qua-Analogon und »Ich« qua-Metapher sind stets
am Zusammenfluß zahlreicher kollektiver kognitiver Imrative
gelagert. Wir wissen zuviel, als daß wir uns selbst noch sehr
weitreichende Kommandos zu geben wüßten.
Wer dank dem, was Theologen das »Geschenk des Glaubens«
nennen, in der Lage ist, seinem Leben in einem religiösen
Glauben Mittelpunkt und Begrenzung zu geben, der hat nun
wirklich einen anderen kollektiven kognitiven Imperativ. Der
vermag nun wirklich durchs Gebet und die damit verbundenen
Antizipationen sein Selbst zu verändern – aufgrund eines
Wirkungszusammenhangs,
ganz
ähnlich
dem
der
posthypnotischen Suggestion. Es ist eine Tatsache, daß der
Glaube – sei’s ein politischer, sei’s ein religiöser, oder sei’s
auch einfach nur, als Frucht irgendeines älteren kognitiven
Imperativs, der Glaube an sich selbst – Wunder wirkt. Jeder, der
einmal das Martyrium der Gefängnis- oder Lagerhaft am
eigenen Leib erfahren hat, weiß, wie oft psychisches und
physisches Überleben allein in solch ungreifbarer fürsorglicher
Hand steht.
Doch wir anderen, die wir uns weiterhelfen müssen mit den
Modellen, die uns das Bewußtsein liefert, und mit einer aus
Skepsis geborenen Ethik – uns bleibt nichts übrig, als uns mit
unserer verminderten Kontrolle abzufinden. Im Selbstzweifel
studiert, sind wir nirgends so gelehrt wie gerade im eigenen
Mißerfolg und wahre Genies im Erfinden von Ausflüchten und
Aufmorgen-Vertagen von Entschlüssen. So üben wir uns mehr
und mehr im kraftlosen Vorsatz, bis die Hoffnung im
Unversuchten erstirbt und entschwindet. Wenigstens geht es
manchen von uns so. Und wollen wir uns dann über den
Klamauk unserer Kenntnisse erheben, um wirklich ein anderer
Mensch zu werden, so bedarf es dazu einer Autorität, über die
»wir« nicht verfügen.
Die Hypnose funktioniert nicht bei jedem. Das kann vielerlei
Gründe haben. Für eine bestimmte Menschengruppe läßt sich
- 556-
allerdings zuverlässig sagen, daß ihre mangelnde Eignung für
die Hypnose neurologisch und zum Teil genetisch bedingt ist.
Bei diesen Menschen ist nach meiner Auffassung die ererbte
neurologische Basis des allgemeinen bikameralen Paradigmas
geringfügig anders organisiert. Es ist, als könnten sie die von
außen kommende Autorität eines Hypnotiseurs nicht
akzeptieren, weil der zuständige Teil des bikameralen
Paradigmas bei ihnen schon besetzt ist. Tatsächlich machen sie
auf die anders gearteten Menschen in ihrer Umgebung oft den
Eindruck, als stünden sie bereits unter Hypnose, besonders wenn
sie, wie es ihnen gewöhnlich von Zeit zu Zeit widerfährt, in
einer »Heilanstalt« interniert gehalten werden. Manche
Theoretiker haben sogar die Hypothese gewagt, daß dies exakt
den Zustand definiere, in dem sie sich befinden – ein Zustand
fortgesetzter Selbsthypnose. Indes haben wir es hier nach meiner
Ansicht mit einem verheerenden Mißbrauch des Begriffs
Hypnose zu tun. Das Verhalten der Schizophrenen – wie diese
Menschen genannt werden – werden wir aus anderem
Blickwinkel betrachten müssen. Und das tun wir im folgenden
Kapitel.
- 557-
FÜNFTES KAPITEL
Die Schizophrenie
Die meisten von uns rutschen auf irgendeiner Strecke ihres
Lebens unvermittelt in etwas hinein, das der eigentlichen
bikameralen Psyche nahekommt. Manche erleben ein paar
Absencen, oder ein-, zweimal kommt es vor, daß sie Stimmen
hören, und damit hat es sich. Aber für andere unter uns –
Mensche n, die infolge ihrer Erbanlage des Enzyms ermangeln,
das den problemlosen Abbau samt Exkretion der biochemischen
Restprodukte von anhaltendem Streß ermöglicht – gestaltet sich
die Sache zu einer sehr viel peinigenderen Erfahrung (sofern
von »Erfahrung« in diesem Zusammenhang überhaupt noch die
Rede sein kann). Wir hören dann Stimmen von zwingender
Eindringlichkeit uns Vorhaltungen und Vorschriften machen.
Gleichzeitig scheinen sich die Grenzen unseres Selbst zu
verwischen. Die Zeit löst sich auf. Wir tun Dinge, ohne von
ihnen zu wissen. Unser Bewußtseinsraum beginnt sich zu
verlieren. Wir geraten in Panik, aber diese Panik tangiert uns
nicht. Da ist kein »wir« oder »uns« mehr zum Tangieren. Man
kann nicht sagen, daß wir nirgendwo mehr hätten, wohin wir
uns wenden könnten: Wir haben nirgendwo. Punktum! Und in
diesem Nirgendwo sind wir gewissermaßen mechanische
Puppen ohne Ahnung, was wir tun, auf befremdliche und
beängstigende Weise von anderen oder unseren Stimmen
manipuliert an einem Ort, den wir nach und nach als Heil- und
Pflegeanstalt identifizieren und wohin man uns aufgrund einer
Diagnose verbracht hat, die, wie man uns sagt, auf
Schizophrenie lautet. In Wirklichkeit sind wir in die bikamerale
Psyche zurückgefallen.
Wiewohl stark vereinfacht und zugespitzt, ist dies doch eine
zumindest aufreizende und griffige Präsentation der These, die
sich bereits in den vorausgegangenen Partien dieses Versuchs
- 558-
unübersehbar geltend machte. Denn es ist ziemlich offenkundig,
daß die hier vorgetragenen Ansichten auch eine neue
Auffassung der verbreitetsten und therapieresistentesten aller
Geisteskrankheiten, der Schizophrenie, bedingen. Diese
Auffassung läuft darauf hinaus, daß die Schizophrenie, nicht
anders als die in den unmittelbar vorangegangenen Kapiteln
behandelten Phänomene, zumindest in Teilen ein Relikt der
Bikameralität ist – ein partieller Rückfall in die bikamerale
Psyche. Das vorliegende Kapitel ist ein Versuch, diese
Perspektive auszuleuchten.
Das Zeugnis der Geschichte
Werfen wir zu Beginn einen Blick – einen Seitenblick bloß –
auf die früheste Geschichte dieser Krankheit. Ist unsere These
korrekt, dann folgt daraus als erstes, daß es aus der Zeit vor dem
Zusammenbruch der bikameralen Psyche keinen Beleg dafür
geben dürfte, daß einzelne Individuen als »Irre« ausgesondert
wurden. Und dies trifft zu, wenngleich es nur ein sehr indirektes
Argument
von
minimaler
Beweiskraft
abgibt.
Nichtsdestoweniger ist Tatsache, daß in der Bildhauerei, der
Literatur, auf den Wandbildern und in sonstigen Kunstwerken
der großen bikameralen Zivilisationen niemals auch nur eine
einzige Darstellung vorkommt oder eine einzige Verhaltensform
erwähnt wird, die einen Menschen mit dem Mal der Abartigkeit
gebrandmarkt hätte, wie es die Geisteskrankheit darstellt.
Schwachsinn ja, aber nicht Wahnsinn. 1 Der »Ilias« zum Beispiel
ist die Idee der Geistesgestörtheit unbekannt. 2 Ich lege
1
Auch das Wort in 1. Samuel 13, das zuweilen als frühester Beleg für
Schizophrenie zitiert wird, das hebräische halal, bedeutet eher »töricht« im
Sinne von Geistesschwäche.
2
Zwar meint E. R. Dodds, an einigen Stellen der »Odyssee« sei von
Wahnsinn die Rede, mir scheint jedoch seine Argumentation nicht
überzeugend. Und eine völlig ungedeckte Behauptung ist sein Resümee, es
habe zur Zeit Homers »und wohl schon lange davor« eine allgemein
- 559-
Nachdruck auf das Alskrank-Ausgesondertwerden von
einzelnen, da ja, unserer Theorie zufolge, vor dem zweiten
Jahrtausend v. Chr. jedermann »schizophren« war.
Zum zweiten sollten wir aufgrund der oben erwähnten These
erwarten dürfen, daß, sobald Geistesgestörtheit in der
Bewußtseinsepoche erstmals thematisiert wird, sie klar als
Bikameralität begriffen wird. Das wäre dann ein sehr viel
beweiskräftigeres Argument. Im »Phaidros« (244 A) spricht
Platon von »einem Wahnsinn, der ... durch göttliche Gunst
verliehen wird« und aus dem »uns Menschen die größten Güter
entstehen«. Die Stelle ist der Auftakt zu einer der schönsten und
beschwingtesten Passagen der gesamten platonischen Dialoge,
in der eine Typologie des Wahnsinns entworfen wird, die
insgesamt vier Spielarten unterscheidet: der von Apoll
eingegebene prophetische Wahnsinn; die von Dionysos bewirkte
rituelle Raserei; die poetische »Eingeistung und Wahnsinnigkeit
von den Musen, die eine zarte und heilig geschonte Seele
aufregend und befeuernd ergreift, und in festlichen Gesängen
und anderen Werken der Dichtkunst tausend Taten der Urväter
ausschmückend, bildet sie die Nachkommen« (245 A); und
schließlich der von Eros und Aphrodite eingegebene
Liebeswahn. Ja, nach Meinung des jungen Platon diente sogar
ursprünglich ein und dasselbe Wort – manike – zur Bezeichnung
sowohl des psychotischen Irreseins als auch der Wahrsagekunst;
letztere heißt zwar im Griechischen urantike, doch sei das, so
Platon, »nur eine täppische Einfügung der Neueren« (244 C). Es
steht also außer Zweifel – und das ist hier der springende Punkt
–, daß die Erscheinungsformen dessen, was wir heute als
Schizophrenie bezeichnen, frühzeitig mit den Phänomenen
assoziiert wurden, für die ich in diesem Buch den Terminus
»Bikameralität« eingeführt habe.
verbreitete Auffassung von Geisteskrankheit gegeben. Vgl. Dodds, a. a. O.
(Fußnote auf Seite 201).
- 560-
Dieser Zusammenhang wird nochmals augenfällig in einem
anderen altgriechischen Wort für Geistesgestörtheit: Paranoia,
Kompositum von para + nous, bedeutet wörtlich soviel wie
»neben dem eigenen Geist noch einen zweiten haben« und deckt
somit gleichermaßen den halluzinatorischen Zustand des
Schizophrenen wie der bikameralen Psyche. Das hat freilich
nicht das mindeste mit dem (im neunzehnten Jahrhundert
aufgekommenen)
modernen,
etymologisch
fehlerhaften
Gebrauch des Wortes zu tun, bei dem seine Bedeutung gleich
»Verfolgungswahn« gesetzt wird. Als antiker Sammelbegriff für
Geistesgestörtheit blieb Paranoia so lange präsent, wie es die
anderen, in früheren Kapiteln besprochenen Relikte von
Bikameralität noch gab, und gemeinsam mit diesen auch räumte
das Wort – um das zweite Jahrhundert n. Chr. herum – die
historische Bühne.
Aber schon zur Zeit Platons – einer Zeit der Kriege, Seuchen,
Hungersnöte – begannen die vier göttlichen Arten des
Wahnsinns allmählich ins Reich der Fabel einzuwandern: für
den Gebildeten in die Sphäre der Dichtung, für den gemeinen
Mann in die des Aberglaubens. Der Krankheitsaspekt der
Schizophrenie rückt in den Vordergrund. In späteren Dialogen
ist der inzwischen älter gewordene Platon in diesem Betracht
skeptischer: Was wir Schizophrenie heißen, ist ihm ein
fortwährendes Träumen, bei dem manche »Götter zu sein
glauben, [andere] aber geflügelt und sich ... als fliegend
vorkommen« (»Theaitetos« 158 B); die Familien der
solchermaßen Erkrankten sollten unter Androhung von
Geldstrafen verpflichtet werden, diese Menschen in Klausur zu
halten (»Nomoi«, 934)
Die Geisteskranken werden jetzt gesellschaftlich ausgegrenzt.
In den grellen Farcen des Aristophanes wirft man sogar mit
Steinen nach ihnen, um sie sich vom Leib zu halten.
Was wir heute als Schizophrenie bezeichnen, beginnt also
innerhalb der Menschheitsgeschichte als ein Bezug auf das
- 561-
Göttliche, und erst ungefähr um 400 v. Chr. fängt man an, es als
das denaturierende Leiden zu betrachten, als das wir es heute
sehen. Diese Entwicklung läßt sich außerhalb der Theorie des
Mentalitätswandels, wie sie Gegenstand dieses Buches ist,
schwerlich verstehen.
Eine gegenstandsspezifische Problematik
Ehe
wir
jedoch
nun
die
zeitgenössischen
Krankheitssymptome in diese Perspektive rücken, hier zunächst
einige Vorbemerkungen sehr allgemeiner Art. Wie jedermann
weiß, der sich einmal in der Literatur zu unserem aktuellen
Thema umgesehen hat, wird heute auf breiter Front – freilich
ohne daß sich bisher ein sonderlich schlüssiges Ergebnis gezeigt
hätte – ein wissenschaftlicher Disput über das Wesen der
Schizophrenie geführt: ob man es mit einer echten
nosologischen Einheit oder mit einer Gruppe schlecht definierter
Syndrome zu tun habe, oder ob es sich vielleicht um die letzte,
gemeinsame
Wegstrecke
von
Krankheitsverläufen
unterschiedlicher Ätiologie handle, und ob man zwei – von
einem Autor zum andern unterschiedlich benannte –
Grundformen unterscheiden könne: prozessurale und reaktive
oder akute und chronische oder rasch fortschreitende und
langsam
fortschreitende
Schizophrenie.
Meinungsverschiedenheiten und Unschlüssigkeit in diesem
Bereich rühren daher, daß Forschungsarbeit sich hier mit einem
gordischen Knoten methodologischer Probleme abzumühen hat,
wie man ihn anderswo nicht verzwickter findet. Wie eliminiert
man bei der Erhebung von Befunden an Schizophrenen die
Auswirkungen der Hospitalisierung, von Medikamenten, der
vorausgegangenen Therapie, kulturell bedingter Einstellungen
oder der mancherlei erlernten Reaktionen auf Bizarrerien im
Verhalten? Und wie bewältigt man das Problem, zuverlässige
Befunde über die krisenträchtigen Aspekte in der Lebenslage
von Menschen zu gewinnen, die unter dem Trauma der
- 562-
Hospitalisierung auf eine Kommunikationssituation mit Furcht
und Schrecken reagieren?
Es ist hier nicht meine Aufgabe, in irgendeiner verbindlichen
Position die Lösung dieser Schwierigkeiten dingfest zu machen.
Vielmehr beabsichtige ich, sie zu unterlaufen, indem ich in
meiner Argumentation nichts weiter als ein paar banale
Tatsachen voraussetze, über die weithin Übereinstimmung
herrscht. Sie lauten: es gibt ein Syndrom, das man
zulässigerweise als Schizophrenie bezeichnet; zumindest für das
Stadium voller Entfaltung existiert eine unzweideutige klinische
Beschreibung; und dieses Syndrom tritt weltweit in allen
zivilisierten Gesellschaften auf. 3 Überdies ist es für den
Wahrheitswert dieses Kapitels im Grunde nicht wichtig, ob hier
alle auf Schizophrenie diagnostizierbaren Fälle erfaßt sind oder
nicht. 4 4 Und ebensowenig, ob ich die Krankheit in der Form
erfaßt habe, wie sie sich ursprünglich manifestiert, oder in einer
Abwandlung im Anschluß an die Hospitalisierung. Meine These
will nicht höher hinaus als darauf, daß manche grundlegenden,
im höchsten Maß typischen und am häufigsten zu
beobachtenden Symptome der vollausgebildeten Schizophrenie,
solange sie nicht medikamentös behandelt sind, auf einzigartige
Weise mit der Beschreibung der bikameralen Psyche
3
Der von H. Osmond und A. El Miligi am Neuropsychiatrischen Institut der
Princeton University entwickelte Experiential World Inventory-Test
erbrachte füt Schizophrene unterschiedlicher Länder und Kulturen ganz
ähnliche Resultate.
4
Und ebensowenig, ob ausschließlich solche Fälle erfaßt sind. In der
Psychiatrie gibt es eine zunehmende Tendenz, diagnostische Kategorien mit
den Wirkungsfeldern spezifischer Pharmaka zu identifizieren: die
Schizophrenien mit dem Wirkungsbereich der Phenothiazine, das
manischdepressive Syndtom mit dem von Lithium. Ist diese Vorgehensweise
richtig, sind viele Kranke, die man früher als paranoide Schizophreniker
diagnostiziert hatte, in Wirklichkeit Manisch-Depressive, da sie nur auf
Lithium ansprechen. Während der manischen Phase hat fast die Hälfre dieser
Kranken Halluzinationen.
- 563-
übereinstimmen, die auf den vorausgegangenen Seiten gegeben
wurde.
Die gemeinten Symptome bestehen in erster Linie im
Auftreten von Gehörshalluzinationen (wie auf Seite 111 ff
beschrieben) sowie in der Aufweichung der (auf Seite 79 ff
beschriebenen) Bewußtseinsstruktur, namentlich in der Einbuße
des »Ich« qua-Analogon, dem Schwund des inneren Raums und
dem Verlust der Fähigkeit des Narrativierens. Sehen wir uns
jetzt diese Symptome der Reihe nach an.
Das Halluzinieren
Wieder einmal – Halluzinationen ... Und was an dieser Stelle
dazu anzumerken ist, ergänzt und präzisiert nur meine früheren
Ausführungen zum gleichen Thema.
Beschränken wir uns auf die Fälle von vollausgebildeter
Schizophrenie vor der medikamentösen Behandlung, so ist
festzustellen, daß sie nur ausnahmsweise frei von
Halluzinationen sind. In der Regel beherrschen diese das
Erscheinungsbild, indem sie sich dem Kranken massiv und
hartnäckig aufdrängen und ihn dadurch verwirrt erscheinen
lassen, zumal wenn sie sich in raschem Tempo wandeln. In ganz
akuten Fällen sind die Stimmen von Gesichtshalluzinationen
begleitet. In den gewöhnlicheren Fällen dagegen hört der
Kranke eine oder mehrere Stimmen – einen Heiligen oder einen
Teufel oder eine Männerrotte, die ihm draußen unter seinem
Fenster auflauert, um ihn zu verbrennen oder zu köpfen. Sie
stellen ihm nach, drohen, sie würden durch die Wände
eindringen, kommen heraufgeentert und halten sich unterm Bett
des Kranken oder ihm zu Häupten im Luftschacht versteckt.
Und dann sind da noch andere Stimmen, Stimmen, die den
Willen äußern, ihm zu helfen. Manchmal zeigt sich Gott als
Schützender
und
manchmal
als
Verfolger.
Die
Verfolgerstimmen können den Kranken zur Flucht, zur
- 564-
Selbstverteidigung oder zum Angriff treiben. Den hilfreichen,
trostspendenden Halluzinationen lauscht er unter Umständen mit
hingebungsvoller
Aufmerksamkeit,
in
glückseliger
Feststimmung, ja zu Tränen gerührt von solchen Himmelstönen.
Manche Kranken durchleben die ganze Palette halluzinativer
Erfahrungen im Bett, unter die Decke verkrochen, während
andere dabei herumkraxeln und sich unter allerhand
unverständlichem Gestikulieren und Gefuchtel laut oder leise
mit ihren Stimmen unterhalten. Ja, es kommt sogar vor, daß
Kranke während eines Gesprächs mit einem anderen Menschen
oder beim Lesen alle paar Sekunden in einem leisen oder
geflüsterten »Beiseite« ihren Halluzinationen antworten.
Zu den im Hinblick auf die Parallelität mit der bikameralen
Psyche interessantesten und bedeutsamsten Aspekten von
alledem zählt folgender Umstand: Im allgemeinen unterliegen
Gehörshalluzinationen auch nicht im allermindesten Grad der
Kontrolle des betreffenden Individuums, dafür aber sind sie aufs
äußerste empfänglich noch für die schwächste Suggestion aus
der sozialen Gesamtsituation, in die das Individuum
eingebunden ist. Mit anderen Worten: Schizophreniesymptome
als solche sind ebenso durch einen kollektiven kognitiven
Imperativ beeinflußt wie, nach unserer früheren Feststellung, die
Phänomene der Hypnose.
Dies geht unmißverständlich aus einer neueren Untersuchung
hervor. 5 45 halluzinierende männliche Kranke wurden in drei
Gruppen eingeteilt. Den Mitgliedern der einen Gruppe wurde
ein Kästchen am Gürtel befestigt, das seinem Träger auf
Hebeldruck einen elektrischen Schlag versetzte. Man instruierte
sie, sich jedesmal, wenn sie Stimmen zu hören begannen, diese
5
Arthur H. Weingaertner, Selfadministered Aversive Stimulation with
Hallucinating Hospitalized Schizophrenics, Journal of Consulting and
Clinical Psychology 36/1971, S. 422-429.
- 565-
Art Schocktherapie zu applizieren. Die zweite Gruppe wurde
mit ähnlichen Kästchen ausgerüstet und erhielt ähnliche
Instruktionen, nur daß der Hebeldruck keinen elektrischen
Schlag erzeugte. Den Mitgliedern der dritten Gruppe wurde in
gleicher Form die gleiche Lagedarstellung gegeben wie den
anderen, aber sie erhielten keine Kästchen. In den Kästchen
befand sich übrigens ein Zählwerk, das registrierte, wie oft der
Hebel niedergedrückt wurde: Die für die Dauer des Experiments
(14 Tage) im Einzelfall registrierte Gesamtzahl schwankte
zwischen 19 und 2362. Das Wesentliche bei der Sache ist
jedoch, daß den Mitgliedern aller drei Gruppen unter der Hand
insinuiert wurde, die Häufigkeit des Auftretens der Stimmen
werde womöglich zurückgehen.
Selbstverständlich wurde auf der Basis der Lerntheorie die
Voraussage getroffen, daß sich einzig in der Gruppe, in der die
elektrischen Schläge ausgeteilt wurden, eine Besserung
einstellen werde. Aber das Hören der Stimmen ging – höchst
fatal für die Lernt heorie! – in allen drei Gruppen signifikant
zurück. In einigen Fällen verschwanden die Stimmen sogar
ganz. Und in dieser Hinsicht war der Befund für alle drei
Gruppen der gleiche, keine hatte hier den beiden anderen etwas
voraus – woraus deutlich hervorgeht, welch gewaltige Rolle
Erwartung und Glaube bei dieser Form der Psychoorganisation
spielen.
Mit der vorigen verwandt ist die Beobachtung, daß die
Halluzinationen von den in der Kindheit erhaltenen Belehrungen
und den seinerzeit aufgebauten Erwartungen abhängig sind – so,
wie wir es für die bikamerale Epoche postuliert hatten. In
zeitgenössischen Kulturen, in denen unter dem Einfluß
religiöser Orthodoxie eine exzessive persönliche Beziehung zu
Gott Teil der kindlichen Erziehung ist, sind die Halluzinationen
von Schizophrenen überwiegend rein religiöser Natur.
Beispielsweise wird auf einer der Westindischen Inseln, dem
- 566-
britischen Tortola, den Kindern beigebracht, daß Gott
buchstäblich jede Einzelheit in ihrem Leben kontrolliert.
Drohungen werden mit dem Namen Gottes bekräftigt, Strafen
im Namen Gottes verhängt. Die hauptsächliche Form der
Geselligkeit ist der Kirchenbesuch. Wann immer ein
Eingeborener dieser Insel psychiatrische Hilfe in Anspruch
nimmt, bestehen die Beschwerden unweigerlich darin, daß er
Befehle von Gott und Jesus vernimmt, das Gefühl hat, in der
Hölle zu braten, oder lautstarke Chorgebete und Kirchengesänge
und mitunter auch ein Gemisch von Gebeten und Blasphemien
halluziniert. 6
Auch in Fällen, wo die Halluzinationen von Schizophrenen
keine bestimmte religiöse Grundlage haben, spielen sie dennoch
die gleiche Rolle, die sie meiner These zufolge auch für die
bikamerale
Psyche
spielten,
nämlich
die
von
Verhaltensinitiativen und direktiven. Von Fall zu Fall werden
die Stimmen sogar in der Klinik noch als Autoritäten
identifiziert. Eine Patientin hörte überwiegend wohltuende
Stimmen, von denen sie annahm, sie seien vom Gesundheitsamt
zu ihrer psychotherapeutischen Betreuung abgeordnet worden.
Wie schön wäre es doch, wenn sich die psychotherapeutische
Betreuung immer so einfach bewerkstelligen ließe! Jene
Stimmen ließen es der Patientin nie an Ratschlägen fehlen
(darunter übrigens auch der, dem behandelnden Arzt nicht zu
verraten, daß sie Stimmen höre). Sie gaben ihr Auskunft über
die Aussprache »schwieriger Wörter oder Tips fürs Nähen und
Kochen«. Oder in den Worten der Patientin: 7
Wenn ich einen Kuchen backe, verliert sie leicht die Geduld
mit mir. Ich will das alles allein hinkriegen. Ich will mir eine
6
Edwin A. Weinstein, Aspects of Hallucination, Hallucinations, hg. von L. J.
West, New York: Grune&Stratton 1962, S. 233-238.
7
A. H. Modell, Hallucinations in Schizophrenic Patients and Their Relation
to Psychic Structure, in: L. J. West (Hg.), a. a. O. (vgl. Fußnote 6), S. 166173; das Zitat auf S. 169.
- 567-
Schürze nähen, und schon ist sie da und sagt mir, was ich zu tun
habe.
Manche psychiatrischen Forscher, insbesondere solche
psychoanalytischer Ausrichtung, wollen aus den vom Patienten
vorgebrachten Gedankenassoziationen den Schluß ziehen, daß
die Stimmen »in allen Fällen ... auf Personen zurückverfo lgt
werden (können), die früher im Leben des Patienten eine
bedeutende Rolle spielten, insbesondere auf die Eltern«. 8 Man
nimmt an, daß diese Figuren, würde ihre wahre Identität
offenbar, Angst auslösen würden und daß sie deshalb vom
Kranken unbewußt entstellt und maskiert werden. Aber warum
das alles? Es ist doch rationeller anzunehmen, daß es die
Einführungen des Kranken mit seinen Eltern (oder anderen
geliebten Autoritätspersonen) sind, die den Kern abgeben, um
den herum die halluzinierte Stimme strukturiert ist – genauso,
wie es nach meiner These in der bikameralen Epoche mit den
Göttern der Fall war.
Ich möchte damit nicht behaupten, daß die Eltern in den
Halluzinationen nicht auftreten. Sie tun das sogar sehr häufig,
zumal bei jüngeren Kranken. Abgesehen davon jedoch handelt
es sich bei den Stimm-Figuren der Schizophrenen nicht um die
verkappten Eltern, sondern es sind Autoritätsfiguren, die das
Nervensystem aus den Erziehungserlebnissen des Kranken und
seinen kulturbedingten Erwartungen geschaffen hat, wobei die
Eltern natürlich einen bedeutenden Anteil in diesen
Erziehungserlebnissen ausmachen.
Eine der interessantesten Fragen, die sich im Zusammenhang
mit den Halluzinationen stellen, ist die nach ihrem Verhältnis
zum bewußten Denken. Trifft es zu, daß die Schizophrenie ein
teilweiser Rückfall in die bikamerale Psyche und diese
8
Modell, ebd., S. 168.
- 568-
wiederum (nicht unbedingt in allen Fällen) unverträglich mit
dem gewöhnlichen Bewußtsein ist, dann wäre zu erwarten, daß
Halluzinationen mit der Verdrängung der »Gedanken«
einhergehen.
Zumindest für einen Teil der Fälle beschreibt dies in der Tat
die Art und Weise, in der die Halluzinationen sich melden.
Zuweilen setzen die Stimmen als Gedanken ein, die dann in ein
kaum verständliches Flüstern übergehen, um schließlich immer
lauter und befehlender zu werden. In anderen Fällen ist den
Kranken beim Einsetzen der Stimmen zumute, »als ob sich ihr
Denken spalte«. In leichteren Fällen können die Stimmen sogar,
gleich den »Gedanken«, unter der Kontrolle der bewußten
Aufmerksamkeit stehen. Ein nicht an Wahnvorstellungen
leidender Kranker schilderte das so:
Hier im Saale bin ich nun schon 2½ Jahre und höre fast
täglich, stündlich, daß Stimmen da sind, die auch hier bald aus
den Winden, bald aus dem Gehen, bald aus dem Teller
zusammentönen, bald aus dem Rauschen der Bäume, bald aus
dem Fahren der Eisenbahnräder und anderer Wagenräder
kommen. Ich höre die Stimmen nur, wenn ich acht daraufgehe,
ich höre sie aber. Die Stimmen sind Worte und erzählen dies
und jenes, als ob sie nicht Gedanken, die man im Kopf hat,
sondern vergangene Taten besprächen, aber nur dann, wenn man
daran denkt.
Diese Stimmen sprechen die fortschreitende Gedanken- und
Herzensgeschichte jedes Tages den ganzen Tag hindurch richtig
aus. 9
Halluzinationen scheinen oft über mehr Erinnerungen und
Kenntnisse zu verfügen als der Kranke selber – genau wie die
antiken Götter. Es ist nichts Ungewöhnliches, Patienten in
9
Gustav Störring, Vorlesungen über Psychopathologie in ihrer Bedeutung für
die normale Psychologie, Leipzig: Wilhelm Engelmann, S. 43.
- 569-
bestimmten Stadien der Krankheit darüber klagen zu hören, daß
die Stimmen ihre Gedanken aussprechen, bevor sie selber Zeit
gehabt hatten; sie zu denken. Dieser Vorgang, bei dem die
eigenen Gedanken anderweitig vorweggenommen und geäußert
werden,
wird
in
der
klinischen
Literatur
als
»Gedankenlautwerden« geführt und kommt der bikameralen
Psyche sehr nahe. Manche Kranken erklären, sie bekämen zum
Selberdenken überhaupt keine Chance mehr; stets würde das
Denken ihnen abgenommen und die Gedanken ihnen gegeben.
Wollen sie etwas lesen, lesen die Stimmen es ihnen vor. Wollen
sie etwas sagen, hören sie ihre Gedanken schon im voraus
ausgesprochen. Ein Patient sagte seinem Arzt, er leide am
Denken, da er selber nicht denken könne, weil jedesmal, wenn
er zu denken anfange, alle seine Gedanken ihm sofort
vorgesprochen werden: er bemüht sich, den Gedankengang zu
ändern und wieder denke man für ihn ... Beim Stehen in der
Kirche höre er nicht selten eine singende Stimme, welche im
voraus das singt, was vom Chor gesungen wird ...Geht der
Kranke auf der Straße und sieht z. B. ein Schild, so lese ihm die
Stimme vor, was auf dem Schilde steht ... Erblickt der Patient in
der Ferne irgend einen Bekannten, so rufe die Stimme ihm
sofort, gewöhnlich schon bevor er noch an die betreffende
Person denke, zu: ›Siehe, da geht der und der.‹ Zuweilen hat der
Kranke gar nicht die Absicht, die Vorbeigehenden zu beachten,
die Stimme aber zwingt ihn, durch ihre Auslassungen über
dieselben, ihnen seine Aufmerksamkeit zu schenken. 10
Gerade die einzigartige, zentrale Position dieser
Gehörshalluzinationen im Syndrom so vieler Schizophrener gibt
wichtige Fragen auf. Warum kommt es zum Auftreten von
Halluzinationen? Und wie soll man sich die universale
Verbreitung des »Stimmenhörens« quer durch die Kulturen
erklären, wenn nicht mit der Existenz einer normalerweise
10
Ebd., S. 47 f.
- 570-
ausgeschalteten Gehirnstruktur, die unter dem Streß der
Krankheit wieder aktiviert wird?
Und warum besitzen die Halluzinationen der Schizophrenen
so häufig eine unüberbietbare Autorität zumal religiöser Art?
Ich finde, das einzige Denkmodell, das uns in diesen Fragen –
und sei’s auch bloß mit einer Arbeitshypotheseweiterzuhelfen
vermag, ist das der bikameralen Psyche, demzufolge die für die
Halluzinationen
verantwortliche
neurologische
Struktur
neurologisch verbunden ist mit den Substraten des religiösen
Empfindens, was wiederum darin begründet ist, daß die
Entstehungsbedingungen der Religion wie der Götter als solcher
in der bikameralen Psyche liegen.
Halluzinationen religiösen Inhalts treten allgemein mit
besonderer Vorliebe im sogenannten Dämmerzustand auf, einer
Art Wachtraum, in den viele Kranke versinken und der je nach
Lage der Dinge von einigen Minuten bis zu einigen Jahren
währen kann (ein Dämmerzustand von sechsmonatiger Dauer ist
durchaus kein ungewöhnliches Vorkommnis). Er zeichnet sich
in aller Regel durch religiöse Visionen und entsprechendes
Gebaren, feierliche Haltung und Andacht aus: Der Patient lebt
mit seinen Halluzinationen wie der bikamerale Mensch mit den
seinen – mit dem Unterschied, daß jener unter Umständen die
Anstaltsumgebung ausblendet und noch seine unmittelbare
Umwelt halluziniert. Mag sein, daß der Kranke dann Umgang
mit den Heiligen im Himmel pflegt. Oder er erkennt zwar die
Ärzte und Pfleger in seiner Umgebung als das, was sie sind, ist
jedoch der Ansicht, daß sie zu gegebener Zeit die Maske
ablegen und sich als Götter und Engel entpuppen werden.
Solche Kranken brechen vielleicht sogar in Freudentränen
darüber aus, daß es ihnen gestattet ist, mit den Bewohnern der
himmlischen Gefilde direkt zu sprechen, und bekreuzigen sich
ohne Unterlaß während des Wortwechsels mit den göttlichen
Stimmen oder vielleicht sogar mit den Sternen, die aus dem
- 571-
nächtlichen Dunkel nach ihnen rufen.
Häufig bahnt sich für den Paranoiker nach einer längeren
Periode der gestörten Kommunikation mit seinen Mitmenschen
der Übergang zum schizophrenen Aspekt seines Leidens mit
einem halluzinierten religiösen Erlebnis an, bei dem ein Engel,
Jesus Christus oder Gottvater im bikameralen Modus zu ihm
spricht und ihm irgendeinen neuen Weg weist. 11 Er gelangt so
zu der Überzeugung, in einem persönlichen Sonderverhältnis zu
den Mächten des Universums zu stehen, und seine pathologisch
selbstbezügliche Interpretation von allem, was sich um ihn her
ereignet, wird zu Wahnideen ausgearbeitet, denen der Kranke
unter Umständen jahrelang nachhängt, ohne sie mit anderen
erörtern zu können.
Ein besonders anschauliches Beispiel dieser Neigung zu
religiösen Halluzinationen liefert der »Fall Schreber« – die
Krankengeschichte des »tüchtigen deutschen Richters« (M.
Schatzuran) Daniel Paul Schreber (1842-1911), der mit 42
Jahren, im Herbst 1884, »verrückt« wurde, im Jahr darauf
wieder gesundete und Ende Oktober 1893 neuerlich erkrankte.12
Die Halluzinationen, die ihn im akuten Zustand seiner
Schizophrenie heimsuchten, hat der Kranke in einem von einem
Höchstmaß literarischer Bildung zeugenden Bericht selbst
beschrieben, und was er schildert, ist bemerkenswert vor allem
durch die Ähnlichkeit, die es mit dem Verhältnis der Menschen
des Altertums zu ihren Göttern aufweist. Schrebers (zweite)
Erkrankung begann mit – von schweren Angstzuständen
11
Eugen Bleuler, Dementia paecox (vgl. Fußnote auf Seite 114), S. 189.
Daniel Paul Schreber, Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, Leipzig:
Oswald Mutze 1903. Hier zitiert nach dem Neudruck Berlin: Ullstein 1973
(herausgegeben und eingeleitet von Samuel M. Weber; Ulstein Taschenbuch
Nr. 2957). [Anm. d. Übs.: Die im Text zitierte Formulierung von Morton
Schatzuran stammt aus dessen Buch Die Angst vor dem Vater.
Langzeitwirkungen einer Erziehungsmethode. Eine Analyse am Fall
Schreber, Reinbek: Rowohlt 1973, S. 9.]
12
- 572-
begleiteter – quälender Schlaflosigkeit, während deren er ein in
kürzeren oder längeren Abständen wiederkehrendes Knistern in
der Zimmerwand halluzinierte. Eines Nachts dann verwandelte
sich das Knistern in Stimmen, in denen der Kranke sogleich
göttliche Botscha ften und damit seine »besondere ... Beziehung
zu Gott« (S. 70) erkannte und »welche seitdem unaufhörlich zu
mir sprechen« (S. 102): »Bei mir ... sind Pausen des
Stimmengeredes überhaupt niemals vorhanden; seit den
Anfängen meiner Verbindung mit Gott ... also seit nunmehr
sieben Jahren habe ich – außer im Schlafe – niemals auch nur
einen einzigen Augenblick gehabt, in dem ich die Stimmen nicht
vernommen hätte.« (S. 316) Schreber sah »Strahlen ... als
langgezogene Fäden von irgendwelchen, über alle Maßen
entlegenen Orten am Horizonte nach meinem Kopfe
herüberkommen« (S. 319) und merkt zu diesem Vorgang später
an, daß die nach meinem Kopfe züngelnden, allem Anschein
nach von der Sonne oder vielleicht auch noch von zahlreichen
anderen entfernten Weltkörpern herkommenden Strahlen ...
nicht in gerader Linie, sondern in einer Art von Schleife oder
Parabel auf mich zukommen« (S.321). Diese Strahlen waren die
Trägermedien der göttlichen Stimmen und in der Lage, die
körperliche Seinsform von Göttern selbst anzunehmen.
Interessant ist vor allem die Beobachtung, daß die göttlichen
Stimmen sich mit fortschreitender Krankheit zu einer Hierarchie
von oberen und unteren Gottheiten organisieren, wie sich das
wohl ähnlich auch in bikameraler Zeit abgespielt haben dürfte.
Ferner scheinen die Stimmen Schreber »ersticken«, »erdrücken«
und seinen »Verstand zerstören« zu wollen (S. 232, 233 und
öfter). Ihr Ziel ist »Seelenmord« (S. 83 ff und öfter) an dem
Kranken und seine »Entmannung« (S. 107 ff und öfter), mit
anderen Worten: die Auslöschung seiner Eigeninitiative und
seines »Ich« qua-Analogon. In der Spätphase seiner Krankheit
narrativierte er das zu der Wahnvorstellung von körperlicher
Umwandlung in eine Frau (»die Preisgabe meines Körpers als
- 573-
weibliche Dirne«; S. 113 und öfter). In se