Generation Erasmus

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Generation Erasmus
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Von Oktober 2005 bis März 2006
ERASMUS-Stipendiatin in Istanbul
ERASMUS
LEONIE NEUMANN
Generation
Deutsch-Sein war vorher ein
vager Begriff gewesen. Fast hätte
ich bestritten, dass an mir überhaupt etwas spezifisch deutsch
sei. Seit ich weiß, wieviel mir
Bildung, Sozialsystem, Rechtsstaat und die Kultur der offenen
Sachdiskussion bedeuten, ist
er mir klarer.
Generation
ERASMUS
Auf dem Weg nach Europa
ERASMUS-Studierende über ihre Erfahrungen
an Hochschulen in Europa
Ein Lesebuch
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Der DAAD ist eine gemeinsame Einrichtung der
deutschen Hochschulen und fördert deren internationale Beziehungen mit dem Ausland.
Der DAAD nimmt seit 1987 im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF)
die Aufgaben einer Nationalen Agentur für
ERASMUS wahr (http://eu.daad.de).
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ERASMUS
Auf dem Weg nach Europa
ERASMUS-Studierende über ihre Erfahrungen
an Hochschulen in Europa
Ein Lesebuch
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INHALT
9 Vorwort
12 Stefan Bufler (Großbritannien)
»Hey, Stef, come along!«
20 Anna Lehr (Großbritannien)
Zwischen den Kulturen – Ein Jahr
in Birmingham und seine Folgen
32 Nicole Lichtschlag (Niederlande)
Amsterdam
40 Janina Victor (Niederlande)
Auf nach Den Haag – so weit weg?
46 Sabine Brambach (Finnland)
Erfahrungen aus dem Hohen Norden
56 Birgit Kraus (Finnland)
Einmal Norden – immer Norden? Aber ja!
66 Jutta Singer (Finnland)
Von Nordlichtern und multikulturellen Saunagängen
74 Mario Zetzsche (Litauen)
Was fremd ist, danach hat man Gelüst
84 Dennis Gerstenberger (Portugal)
Ein deutsch-portugiesischer Spagat
92 Gudrun Chazotte (Spanien)
No me digas! Mit ERASMUS in Salamanca
100 Franziska Fleischer (Spanien)
›Generation ERASMUS‹ – Europa wächst zusammen
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110 Bianca Köndgen (Spanien)
Land, mir so fremd wie keines
120 Felicitas Kusters (Spanien)
Zuhause in Europa
128 Carola Ossenkopp (Spanien)
Vom International Summer Village zur
International Summer University
136 Christoph Thalhammer (Ungarn)
Ungarn: Eine ›andere‹ Erfahrung
142 Sonja Miekley (Bulgarien)
Ein Semester in Bulgarien – oder wie man Dinge
des alltäglichen Lebens zu schätzen lernt
150 Szymon Kowalski (Deutschland)
Internationale Freundschaften bauen die Zukunft
158 Leonie Neumann (Türkei)
Erfahrungen eines langen türkischen Winters
172 Katja Kordels (Italien)
Tourismusmanagement in Rimini
180 Fabian Kracht (Italien)
Ein Jahr Mailand – gemischte Erfahrungen,
positives Resümee
190 Daniel Eisenmenger (Belgien)
Mehr als Bier und Fritten
198 Mirco Heller (Frankreich)
Von Straßburg über Berlin nach Mexiko
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INHALT
210 Daniel Mietchen (Frankreich)
ERASMUS als Entscheidungshilfe: Arzt in Entwicklungsländern oder biophysikalische Forschung?
220 Marina Neumaier (Frankreich)
»Erstens kommt alles, wie es will,
und zweitens immer anders.«
226 Thomas Terbeck (Frankreich)
Völkerverständigung, Bildung und persönliche Chance
240 Jessica Wilzek (Frankreich)
Asterix erobert Rom und ich Frankreich
248 Peter Wollny (Frankreich)
Paris – eine Erfahrung fürs Leben – dank ERASMUS
254 Eva Zils (Frankreich)
… da, wo die Lyoner herkommt
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VO RW O RT
»Europa entsteht in den
Köpfen und Herzen.«
50 Jahre nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge ist dieser
programmatische Satz im Zeichen gescheiterter Referenden und einer
deutlichen Euroskepsis in verschiedenen Ländern der Europäischen
Union aktueller denn je. Es gibt aber auch unbestrittene Erfolgsgeschichten der EU. Das ERASMUS-Programm, das in diesem Jahr
seinen zwanzigsten Geburtstag feiert, zählt dazu. Über 1,7 Millionen
Studierende konnten bisher mit ERASMUS einen Teil ihres Studiums
im europäischen Ausland absolvieren, darunter rund 270.000 deutsche
Studenten und Studentinnen. Bis 2012 sollen mit dem Programm
3 Millionen Studierende in Europa unterwegs gewesen sein.
Die Generation ERASMUS ist inzwischen zu einem Synonym für
europäische Erfahrung und das Zusammenwachsen Europas geworden.
Um einer breiteren Öffentlichkeit einen Einblick in die spannenden
persönlichen Erlebnisse und europäischen Erfahrungen von deutschen ERASMUS-Studierenden zu geben, hat der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD), der seit Beginn des Programms im
Jahre 1987 im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung die Aufgaben einer Nationalen Agentur wahrnimmt, anlässlich des Jubiläums von ERASMUS das vorliegende Lesebuch erstellt.
Die Idee, ehemalige Teilnehmerinnen und Teilnehmer an diesem Programm um eine Darstellung ihrer Erfahrungen zu bitten, entstand im
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Zusammenhang mit einer Tagung, die der DAAD gemeinsam mit
dem Pädagogischen Austauschdienst (PAD) durchgeführt hat. Unter
der Überschrift »Einmal Ausland – immer Ausland?« wurde die Frage
erörtert, ob sich Auslandsaufenthalte in der Schulzeit positiv auf die
Mobilitätsbereitschaft im Studium auswirken. Einige Autorinnen
und Autoren bestätigen diese Vermutung, und bei anderen ist zu
sehen, welche entscheidende Bedeutung Auslandserfahrungen in
Kindheit und Jugend für den späteren Entschluss, im Ausland zu studieren, gewinnen kann. Die Beiträge belegen aber noch wesentlich
mehr. Denn der ERASMUS-Aufenthalt an einer ausländischen Hochschule, die Begegnung dort mit Kommilitonen aus vielen anderen
Ländern und die Internationalität des gemeinsamen Studierens und
Lebens hat das Interesse an weiteren Auslandsaufenthalten geweckt
und dazu geführt, nach dem Abschluss des Studiums an der deutschen Heimathochschule wieder ins Ausland zu gehen, nicht selten
um dort bessere berufliche Chancen zu nutzen.
Die Begegnung mit der Vielfalt unterschiedlicher Lebensformen hat
bei den ERASMUS-Studierenden häufig die Einstellung zu ausländischen Kommilitonen verändert bis hin zum persönlichen Engagement für die ausländischen Gaststudierenden an den deutschen
Hochschulen. Oft setzt der Auslandsaufenthalt auch ein Nachdenken
über die eigene – deutsche Identität in Gang: »Mir ist im Ausland
bewusst geworden, wer ich bin und woher ich komme. Erst im Unterschied zu anderen erkennt man die eigene Kultur«. Diese Erfahrung
von Katja Kordels kommt auch in anderen Beiträgen zum Ausdruck.
Das Bewusstwerden der eigenen Wurzeln ist somit auch ein Ergebnis
des ERASMUS-Aufenthalts – und gleichzeitig bildet dies eine positive
Grundlage für nachfolgende Stationen im Ausland.
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VO RW O RT
Die Essays sind sehr persönlich gehalten und deshalb umso einleuchtender in ihrer Wirkung. Alle Autorinnen und Autoren betonen die
deutliche Veränderung, die sie an sich selbst beobachten, wenn die
Neugier, die Aufgeschlossenheit und die Weltoffenheit ergänzt werden
um das Selbstbewusstsein, das aus der Bewältigung der Schwierigkeiten erwächst, die ein Auslandsaufenthalt auch mit sich bringt. Die
Entwicklung einer Art europäischen Lebensgefühls, so schwer dieses
im Einzelnen zu beschreiben ist, verbindet sich mit einer deutlich
wahrgenommenen Prägung der Persönlichkeit.
Auf dem Weg nach Europa – das ist zunächst der Aufbruch von
Zuhause, aus den vertrauten Lebensverhältnissen. Viele Beiträge
zeigen aber, dass ihre Verfasser schon in Europa angekommen sind.
Für sie steht das Resümee von Bianca Köndgen: »ERASMUS hat mich
zu dem gemacht, was ich bin: weltoffen, ständig unterwegs in Europa, flexibel in meinen Denkweisen, zuhause in verschiedenen Sprachen und Gedankenwelten.«
Ich wünsche dem Buch viele Leserinnen und Leser aus allen Generationen.
Abschließend danke ich allen, die an der Entstehung dieses Lesebuchs
mitgewirkt haben. Mein besonderer Dank gilt dem Bundesministerium für Bildung und Forschung und der Europäischen Kommission,
deren finanzielle Unterstützung, diese Publikation erst ermöglicht hat.
Dr. Siegbert Wuttig
Leiter der Nationalen Agentur
für EU-H ochschulzusammenarbeit
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GROSSBRITANNIEN
»Hey, Stef, come along!«
Ein kühler Oktobertag im Norden Englands. Im Gegenlicht der letzten Sonnenstrahlen treten die Backsteingiebel der in langen Reihen
angeordneten »terraced houses« immer deutlicher hervor. Ich suche
nach Nummer 53. Irgendwo hier muss es sein.
Mit einem »Hey, Stef, come along« wurde ich zu einer Party in das
von meinen englischen Kommilitonen bewohnte Haus eingeladen.
Nachdem auch die obligatorische Zusatzbemerkung »Bring some
booze« nicht gefehlt hatte, bewege ich mich nun mit einem »sixpack« in der Hand auf ein nicht gerade respektierlich aussehendes
Wohngebäude zu, aus dem schon von Weitem das dumpfe, rhythmische Stampfen einer Stereoanlage zu vernehmen ist. Das muss es
sein. Ich öffne die Türe, trete in einen dunklen Gang und bahne mir
meinen Weg an einigen mir unbekannten Personen vorbei durch
Alkoholdämpfe und Zigarettendunst zum ›living room‹ des Gebäudes. Der Raum ist abgedunkelt und fast leer. In der Mitte befindet sich
eine Industriepalette mit diversen Getränkedosen sowie Wein- und
Ciderflaschen. Eine kleine Tischlampe auf dem Boden spendet ausreichend Licht, um meinen Beitrag zum Getränkelager an der richtigen Stelle abzuladen und mir selbst eine Dose Bier zu genehmigen.
Die laute Musik aus dem Nebenzimmer macht auch hier eine Unterhaltung fast unmöglich. Dennoch bemühe ich mich um Kontakt mit
den anderen Partygästen. Schließlich bin ich erst vor wenigen Tagen
nach einer abenteuerlichen Zug- und Schiffsreise hier in Preston
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angekommen, um einen einjährigen Auslandsaufenthalt als ERASMUS-Student an der Lancashire Polytechnic (heute: University of
Central Lancashire) zu beginnen. Ich setze mich auf den Teppichboden zu einer Gruppe dunkler Gestalten, muss aber bald feststellen,
dass die Voraussetzungen für eine anregende Konversation aus den
nahe liegenden Gründen denkbar ungünstig sind. So bleibt es vorerst
bei dem Bier und einem ersten, aber glücklicherweise nicht dem letzten Eindruck, den ich von meinem Gastland und seinen Bewohnern
gewinnen sollte.
Das hier beschriebene Erlebnis liegt nun siebzehn Jahre zurück
und, um den Befürchtungen des Stipendiengebers gleich vorzugreifen
sowie meine englischen Kommilitonen nicht in ein schlechtes Licht
zu rücken, sei an dieser Stelle erwähnt, dass unser Studienalltag nicht
nur aus derlei ›Belustigungen‹ bestand. Dennoch bleiben von einem
Studienjahr im Ausland nicht nur die dort erworbenen akademischen
Weihen, sondern eben auch viele Erinnerungen an recht ›profane‹
Erlebnisse und Erfahrungen, die, wie ich meine, ganz entscheidend
zur Persönlichkeitsentwicklung eines Studierenden beitragen.
Im Ausland ist vieles anders als gewohnt und anders als erwartet:
»Warum gibt es bei Boots eigentlich keine Schuhe?« Im Ausland
leben ist sperrig und manchmal auch etwas ungemütlich: »Wie dichte ich mein bay window ab?« Fern der Heimat muss man ständig
improvisieren: »Wie benütze ich mein Handwaschbecken ohne entweder zu erfrieren oder mich zu verbrühen?« Die neue Sprache
ermöglicht neue Gedanken: »What is the secret of English humour?«
Und die eigene Position wird in Frage gestellt: »Wenn die den Humor
gepachtet haben, besitze ich dann überhaupt keinen?« Kurz gesagt:
Wer im Ausland studiert, wird zunächst völlig verunsichert und muss
sich neu erfinden. Das ist nicht nur gesund, es tut auch gut und
macht Spaß!
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Als ich 1989 nach Beendigung meines Grundstudiums im Studiengang Kommunikationsdesign an der Fachhochschule Augsburg den
Entschluss fasste, für ein Jahr nach England zu gehen, war mir mit
Sicherheit die Tragweite dieser Entscheidung für meinen weiteren
Lebensweg nicht bewusst.
Wohin hat dieser Weg geführt?
Heute lebe ich wieder in Augsburg, wo ich seit vier Jahren als Professor für Kommunikationsdesign und Corporate Branding an derselben Hochschule tätig bin, von der aus ich damals mein ERASMUSAbenteuer begann. Soweit noch nicht ungewöhnlich.
Ich schreibe diese Zeilen in meinem Arbeitszimmer, in dem sich
mindestens so viele englische Bücher befinden wie deutsche. Auch
noch nicht sehr außergewöhnlich.
Mit meiner irischen Frau habe ich gerade auf Englisch die Einkaufsliste durchgesprochen und unsere Tochter wurde heute Mittag
zweisprachig begrüßt, als sie von der Schule heimkam. Auf unserem
Frühstückstisch steht ein Glas Marmite neben einer Packung Weetabix und jeden Sonntag gibt es Ei mit »soldiers« (in Streifen geschnittener Toast mit Butter). Damit, denke ich, unterscheiden wir uns nun
doch vom deutschen Durchschnittshaushalt.
Die Frage, ob es besser ist, wenn Santa Claus die Geschenke am
Morgen des 25. Dezember abliefert oder das Christkind an Heiligabend vorbeischaut, ist übrigens noch nicht abschließend geklärt.
Und das alles wegen eines Auslandsjahres in Nordengland?
Nicht ganz! Preston war für mich eine Art britische Initialzündung, die mir insgesamt elf ereignisreiche Jahre auf der Insel bescherte. In Nordengland wurde aus dem aufgeweckten, aber doch recht
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deutlich von der Kindheit und Jugend in einer Allgäuer Kleinstadt
geprägten jungen Mann eine Person, die auf dem ›internationalen
Parkett‹ neue Entfaltungsspielräume entdeckte und das Selbstbewusstsein entwickelte, diese zu nutzen.
Hinzu kam, dass das Kommunikationsdesign in Großbritannien
weltweit Maßstäbe setzt und ich somit die Gelegenheit bekam, den
»Meistern« auf die Finger zu schauen, um das Erfolgsgeheimnis dieser Nation zu ergründen. Mein heutiges Verständnis von dem, was
gutes Design ausmacht, wurde in England nachhaltig geprägt und als
Hochschullehrer versuche ich deshalb, mein ›Publikum‹ für eine
Mischung aus deutschen Tugenden und britischer Exzentrik zu begeistern.
Kein Wunder also, dass sich noch während meines Studienaufenthaltes in Preston der Wunsch regte, den begonnenen Weg nach meinem Studienabschluss in Augsburg fortzusetzen. Und so kam es
auch.
Im Herbst 1992 begann ich ein zweijähriges Postgraduate Studium in Graphic Design am Royal College of Art in London, das ich
mit dem Master of Arts abschloss.
Ich bin mir heute ziemlich sicher, dass ich ohne die Erfahrungen,
die ich als ERASMUS-Student machen durfte, nicht die Chance
bekommen hätte, an dieser renommierten Hochschule zu studieren
und somit auch meine berufliche Laufbahn anders verlaufen wäre.
Dazu gehören auch die acht arbeitsintensiven Jahre, die ich im
Anschluss an mein Studium in der englischen Hauptstadt verbrachte.
Ich war als Designer, Design-Tutor am London College of Printing &
Distributive Trades, Creative Director und Geschäftsführer einer
Agentur für Corporate Branding und Unternehmenskommunikation
für Auftraggeber aus den verschiedensten Branchen und Ländern
tätig. Alles schien möglich, vieles war möglich und so manches ergab
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sich einfach – wie beispielsweise das kurze Gespräch mit Prince Charles oder die Chance, bei der Fußball-Europameisterschaft 1996 in
Wembley dabei zu sein, als die deutsche Mannschaft England im Elfmeterschießen aus dem Turnier warf.
In dieser Zeit lernte ich auch meine heutige Frau Noeleen kennen
und im Jahr 2000 wurde unsere Tochter Hanna in London/Paddington geboren. Beide haben inzwischen den durch unseren Umzug
nach Augburg im Jahre 2002 bedingten Kulturschock gut überstanden und fühlen sich in ihrer neuen Heimat recht wohl. Vielleicht auch
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deshalb, weil wir die alte Heimat mit nach Augsburg gebracht haben
und täglich zwischen den Kulturen pendeln.
Diesen interkulturellen Unruhezustand habe ich stets als eine
Bereicherung für mein Leben und eine Inspirationsquelle für meine
Arbeit empfunden.
Und weil Unruhe auch Berührungen und Kontakte zur Folge hat,
fühlen wir uns heute mit vielen Menschen in den verschiedensten
Ländern freundschaftlich verbunden. Ich kann also heute feststellen,
dass es mir scheinbar gelungen ist,
effektivere Strategien zur Kontaktaufnahme als die eingangs geschilderten zu entwickeln.
Keine Frage – mein ERASMUSStudienaufenthalt hat mein Leben
nachhaltig und vor allem positiv
geprägt. Darauf sollte ich jetzt
eigentlich mit jemandem anstoßen.
Irgendwo im Haus befinden sich
doch noch ein paar Pint-Gläser.
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Wer im Ausland studiert,
wird zunächst völlig
verunsichert und muss sich
neu erfinden. Das ist nicht
nur gesund, es tut auch
gut und macht Spaß!
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Zwischen den Kulturen –
Ein Jahr in Birmingham
und seine Folgen
Mein Aufenthalt in Birmingham, England, von September 2003
bis August 2004 hat alle meine Erwartungen übertroffen, in jeder
Hinsicht. Nie geplant, war es wohl der »Erwarte nichts, dann wird es
besser, als du denkst, und du wirst nicht enttäuscht werden«-Effekt.
Anfang 2003 sah ich mich gefangen in einem Studium, das für
mich eine Notlösung war, da meine anderweitigen Ambitionen auf
eine Bühnenkarriere an den Aufnahmeprüfungen unzähliger Schauspielschulen gescheitert waren. Da ich sonst nicht so recht wusste,
was ich machen sollte, schleppte ich mich seit dem Wintersemester
2000 lustlos durch mein Magister-Studium der Kunstgeschichte und
Anglistik, und obwohl einiges wirklich Spaß machte und ich nie
schlechte Ergebnisse erzielte, sah ich keine Zukunft für mich und die
Kunstgeschichte. Eine Freundin bemerkte allerdings eines Tages
wenig feinfühlig, dass mein Anglistik-Studium ohne einen Auslandsaufenthalt herzlich wenig wert sei, und drängte mich, eine Bewerbung an ERASMUS zu senden. Klischee oder nicht, das angeforderte
(handschriftliche) Motivationsschreiben wurde innerhalb einer
Nacht verfasst und zusammen mit den anderen Unterlagen einen Tag
vor Bewerbungsschluss abgegeben.
Ich hatte die ganze Angelegenheit schon fast vergessen, als mir
eine Kommilitonin ganz aufgeregt berichtete, dass »ich dabei sei«,
sich mein Name unter den Auserwählten befand. Ich war schon
immer ein sehr großer England-Fan gewesen und war positiv über-
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rascht, dass ich tatsächlich für meine Erstwahl Birmingham nominiert worden war – meine Entscheidung für diese Stadt war in erster
Linie durch die Dauer des Aufenthalts bestimmt. Fünf Monate für die
anderen englischen Städte erschienen mir lächerlich und die veranschlagten neun Monate für Birmingham versprachen eine angemessene Herausforderung und Hoffnung auf eine Lösung für meine
unbefriedigende Situation.
Durch diese eher zufällige Entscheidung hatte es mich dann nach
Birmingham verschlagen. Aus neun Monaten wurde ein Jahr, und
danach stand der Entschluss fest: ich will mein Studium erfolgreich
in Deutschland beenden und dann nach Birmingham zurückkehren.
Denn ich hatte Gefallen gefunden: an meinem Studium, an der Stadt
und vor allem an meinem jetzigen Partner, einem waschechten
»Brummie«. Wir nahmen eine über zwei Jahre währende anstrengende Fernbeziehung auf uns mit dem Ziel, nach Abschluss meines
Studiums in Birmingham zusammen zu ziehen. Ich wusste anfangs
rein gar nichts über Birmingham, außer dass alle, die ich fragte,
diesen Ort als unglaublich hässliche Industriestadt beschrieben. Aber
die Metropole hatte mich in ihren Bann gezogen. Eine Reihe von Faktoren ließen mein ERASMUS-Jahr so unvergesslich werden, und
rückblickend kann ich sagen, dass ich erwachsener geworden bin,
offener und abenteuerlustiger.
Zum einen hatte ich ungemeines Glück, mit Hausgenossinnen zusammen zu ziehen, die teilweise heute noch zu meinen besten Freundinnen gehören. Zum anderen hatten mich die Seminare, die ich an der
University of Birmingham belegte, und meine Professoren »aufgeweckt«. Zuvor kunstgeschichtlich gezwungenermaßen im Mittelalter
gefangen, konnte ich nun Seminare und Vorlesungen zur modernen
und zeitgenössischen Kunst belegen – und hatte Blut geleckt. Für
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Eine Reihe von Faktoren
ließen mein ERASMUS-Jahr
so unvergesslich werden,
und rückblickend kann ich
sagen, dass ich erwachsener
geworden bin, offener und
abenteuerlustiger.
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mich stand jetzt fest, dass ich hinauswollte in die große aufregende
Kunstwelt. Noch während meines Englandaufenthalts arbeitete ich
als freiwillige Mitarbeiterin im Barber Institute of Fine Arts, das sich
unter einem Dach mit der kunstgeschichtlichen Fakultät auf dem
Campus in Birmingham befindet. Dabei konnte ich erste Erfahrungen im museumspädagogischen Bereich sammeln. Im Anschluss
bewarb ich mich für diverse Praktika und konnte auch direkt eine
Woche nach meiner Rückkehr nach Deutschland ein zweimonatiges
Praktikum im Frankfurter Städel antreten, das zu weiteren studentischen Aushilfsjobs im selben Haus führte. Langsam, aber sicher
kristallisierte sich der Bereich heraus, in dem ich heute beschäftigt bin.
Denn seit Ende August arbeite ich nun in Birminghams erstem interaktiven Wissenschaftsmuseum, dem ›Thinktank‹. Die Jobbeschreibung traf genau auf das zu, was ich mir nach meinem Studium vorstellte: kein öder Schreibtischjob, sondern ständiger Kontakt mit
Menschen, in einem Museum, das Gegenwart, Vergangenheit und
Zukunft unter einem Dach vereint. Meine Jobbezeichnung lautet
›Gallery Enabler‹, und das ist auch genau das, was ich größtenteils
tue. Ich ermögliche (›to enable‹) den Besuchern, die Galerien zu
verstehen.
Das Museum besteht aus vier Etagen, die jeweils in verschiedene
Galerien unterteilt sind. Die beiden Untergeschosse befassen sich mit
der Vergangenheit und zeigen in der Galerie zur Stadtgeschichte
Birminghams (1066 bis heute) historische Gebrauchsgegenstände.
Die zweite Galerie befasst sich mit Technik, Manufaktur und Transport der vergangenen Zeiten und zeigt unter anderem einen original
Spitfire-Kampfbomber und eine der ältesten noch funktionierenden
Dampfmaschinen, die Smethwick Engine von ca. 1750. Die beiden
oberen Geschosse setzen sich thematisch mit der Gegenwart und
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Zukunft auseinander und weisen unter anderem eine naturhistorische Abteilung und ein Planetarium auf. Da ein großer Teil der Ausstellungsstücke die Interaktion der Besucher erfordert, um den jeweiligen Sachverhalt vollends verstehen zu können, erkläre ich den Besuchern die jeweiligen Funktionen, biete Hintergrundwissen an und
gehe auf Fragen ein. Des Weiteren führe ich Schulgruppen, erarbeite
Informationsblätter zu einzelnen Exponaten, assistiere in Workshops
und lerne ständig etwas Neues, zum Beispiel eine Einführung in die
britische Zeichensprache, um mit tauben Besuchern kommunizieren
zu können.
Was mir sicherlich geholfen hat, in Birmingham Fuß zu fassen, war
die Tatsache, dass ich während meines Auslandssemesters von
Anfang an nicht im Glashaus der internationalen Studenten gefangen
war. Ich hatte auf eigene Faust Seminare belegt, die mir keinen
Schein garantierten und an welchen ich als einzige internationale
Studierende teilnahm. Der Vorteil hiervon war, dass ich das unkomplizierte, respektvolle und fruchtbare
Verhältnis
zwischen Studierenden und Lehrenden noch
unmittelbarer miterleben konnte.
In Seminaren mit in der Regel um die 15
Teilnehmern kann der Stoff
ganz anders diskutiert
werden als in den anonymen Veranstaltungen in
Deutschland.
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Davon abgesehen genoss ich zwar die unzähligen Partys und teilte
das relativ unkomplizierte Leben der internationalen ERASMUS-Teilnehmer, war aber immer darauf bedacht, noch etwas vom »richtigen«
Leben in »Brum« mitzubekommen, das sich außerhalb der Seifenblase des (von Eltern, Uni und ERASMUS finanzierten) Studentenlebens abspielte. Und das konnte ich hervorragend in Birminghams
berühmt-berüchtigtem Nachtclub »The Works« tun, in dem ich 2–3
mal in der Woche als Barfrau arbeitete, um mich mitzufinanzieren.
Die harten, langen Nächte machten irre viel Spaß, vor allem weil die
Schicht mit dem ca. 40-köpfigen Multikulti-Team nie langweilig
wurde. Vom afrikanischen Auswanderer bis zur chinesischen Studentin, von einem iranischen Doktoranden bis zu einem jamaikanischstämmigen ehemaligen Mitglied der Royal Air Force und einer Französin mit algerischen Wurzeln war dieser Arbeitsplatz ein Mikrokosmos der ganzen Stadt, deren Vielschichtigkeit auch heute noch
eine sagenhafte Faszination auf mich ausübt. Was Birmingham eben
so besonders macht, ist die Vielfalt der Kulturen und das Aufeinandertreffen so vieler verschiedener Anschauungen und Hautfarben.
Birmingham wird 2012 die erste europäische Stadt sein, deren Anteil
der nicht-weißen Bevölkerung bei über 50 % liegt. Zum größten Teil
ist dieses Zusammenleben der verschiedenen Kulturen schwierig,
anstrengend, ja sogar frustrierend, aber wenn es dann einmal klappt,
ist es einzigartig. Ich kann mich glücklich schätzen, in so einer Umgebung zu leben und zu arbeiten, denn ich kann mir hier vor Ort
unmittelbar ein Bild machen von den Themen, die die Welt bewegen:
die von dem Labour-Politiker Jack Straw ausgelöste »Schleier-Debatte« – er warf muslimischen Frauen, die einen Vollschleier tragen, vor,
sich absichtlich von der Gesellschaft auszugrenzen – , nimmt ganz
andere Ausmaße an, wenn man tatsächlich alltäglich Kontakt mit
vollständig verschleierten Lehrerinnen hat, die jedes Mal, wenn sie
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mit den Schülern sprechen, ihren Schleier lüften und ihn dann blitzschnell wieder fallenlassen, wenn sie mit einem unserer männlichen
Kollegen sprechen.
Auch unmittelbar in meinem Privatleben ist das »Kulturenproblem« immer präsent. Da mein Freund afro-karibischer Herkunft ist
und ich die einzige weiße Person in seiner ganzen (sehr großen) Familie bin, kam es schon öfters zu unausgesprochenen Konflikten von
Seiten seiner ferneren Verwandtschaft, die traumatische Erfahrungen
in den 1960ern mit weißen Engländern machen musste.
Ein ganz anderes Problem ist es auch noch, in England als Deutsche
zu leben. Im Großen und Ganzen überwiegen hier die positiven
Erfahrungen, besonders auch mit älteren Briten, wobei manche zwar
den Krieg miterlebt haben, mir aber dennoch in einer respektvollen,
freundlichen Art begegnen. Doch wirklich schockierend ist es teilweise, wenn ich Schülergruppen durch das Museum führe und ihnen
in unserer historischen Abteilung die britischen Kampfflugzeuge
erkläre. Argwöhnisch nach der Herkunft meines Akzents befragt, der
immer noch, wenn auch nur sehr leicht, wahrzunehmen ist, verziehen sich die 10-jährigen Gesichter zu Herablassung und Ekel, und es
kommt immer wieder das gleiche Statement: »You bombed and killed us«. Wenn ich dann sachte darauf eingehe, dass nicht wirklich ich
das war und der Krieg allgemein schrecklich war, stoße ich auf taube
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ANNA LEHR
Ohren. In solchen Momenten fällt meine positive Weltanschauung in
punkto Völkerverständigung in sich zusammen wie ein Kartenhaus.
So schwer es hier in »Brum« ist, sich der ganzen Problematik
völlig zu entziehen (jeden Tag Diskussionsrunden im Fernsehen über
das Zusammenleben verschiedener Kulturen, erbitterter Schlagabtausch verschiedener Meinungen in den Leserbriefen der Tageszeitungen, »no go areas« für Leute anderer Hautfarben in Gebieten,
die ausschließlich von einer einzigen ethnischen Gruppe bewohnt
werden, Schlägereien und Messerstechereien zwischen »verschiedenfarbigen« Gangs), so grandios ist es, wenn man all dies hinter sich
lässt und bereit ist, die positiven Seiten dieses Zusammenlebens zu
erforschen. Es sind die Begegnungen mit Menschen wie meinen
Kollegen hier im Thinktank, die das Leben so faszinierend machen:
meine Kollegin aus dem Jemen zum Beispiel, die Kopftuch trägt, von
uns allen am lebhaftesten über gut aussehende Männer diskutiert,
den Ramadan einhält, ihren Doktor in Biologie hat und meine Vorstellung von der völlig unterdrückten moslemischen Frau gründlich
widerlegt. Ich habe mich immer als vorurteilsfreien Menschen gesehen, der, von einem liberalen Elternhaus geprägt, offen allen neuen
Dingen entgegentritt. Aber ich bin immer wieder überrascht, wie ich
hier tagtäglich viele meiner Überzeugungen hinterfrage und meine
Gedanken und Einstellungen neu ordnen muss.
Birmingham ist tough and rough, eine ständige Herausforderung.
Alles ist hier anstrengend, aber dafür auch doppelt so aufregend. Und
ich glaube, das ist es auch, was die Stadt ausmacht. Birminghams
offensichtlichster Charakterzug ist nun mal ohne Zweifel seine ethnische Vielfalt, und das äußert sich in den verschiedensten Bereichen.
Zunächst ist Birmingham natürlich berühmt für seine einzigartige
südasiatische Küche: das so genannte Balti wurde hier von Einwan-
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GROSSBRITANNIEN
derern aus Kaschmir ›erfunden‹ und besteht im Grunde aus allen
möglichen Zutaten, die in einem glühend heißen eisernen Topf (Balti)
serviert werden. In Tanzstudios werden Kurse zum BollywoodDancing angeboten; The Drum ist ein Theater, das sich ausschließlich
aus Produktionen mit afrikanischen und afro-karibischen Ensembles
und Künstlern zusammensetzt, und in nächster Nähe zur Stadtmitte
befindet sich Chinatown.
Es ist auf jeden Fall anstrengend, hier zu leben. Sowohl im privaten
als auch im gesellschaftlichen und beruflichen Bereich. Als Geisteswissenschaftlerin in einem Museum wie dem Thinktank zu arbeiten,
das neben historischen Exponaten vor allem naturwissenschaftlichen
und technischen Fragen nachgeht, ist natürlich eine besondere
Herausforderung. In der Schule habe ich Physik so schnell wie möglich abgewählt, weil ständig nur irgendwelche elektronische Schaltkreise zusammengebaut wurden und sich mir die dahinter verborgene Logik niemals erschloss. Hier arbeite ich mit enthusiastischen
Astrophysikern und Biochemikern zusammen und beginne zu verstehen, dass Naturwissenschaft nicht immer langweilig sein muss.
Trotzdem – obwohl die Arbeit hier sehr abwechslungsreich ist und
das Arbeitsklima nicht besser sein könnte – möchte ich nur etwa ein
Jahr im Thinktank bleiben und danach vorzugsweise in einem ähnlichen Umfeld arbeiten, das sich aber mit bildender Kunst befasst.
Birmingham werde ich aber wohl erst einmal treu bleiben und die
nächsten Jahre hier verbringen. Ich möchte irgendwann wieder nach
Deutschland zurück, aber für den Moment bleibe ich hier und versuche, mit dieser ganz besonderen Stadt, die mein Leben verändert
hat, Schritt zu halten.
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NIEDERLANDE
Amsterdam
Von September 2002 bis März 2003 studierte ich zwei Trimester lang
Jura an der Vrije Universiteit in Amsterdam.
Ich war schon immer neugierig auf andere Länder. So nahm ich
während meiner Schulzeit freiwillig an drei Schüleraustauschen teil
und hätte auch noch an einem vierten teilgenommen, wenn sie sich
nicht zeitlich total überschnitten hätten. So war ich in Toulouse und
in Cavaillon. Ich wollte an einem vierteljährigen Austausch mit Kanada teilnehmen. Leider hat dies nicht geklappt, und so boten sich ›nur‹
sieben Wochen Australien (Brisbane) an. Also wollte ich natürlich
auch während meines Studiums ins Ausland, um dort zu studieren.
Amsterdam habe ich mir ausgesucht, weil es dort englischsprachige
Studiengänge gab, es nicht so weit entfernt von Heidelberg war, ich
dort auch nur zwei von drei Trimestern (sieben Monate) studieren
konnte und die Lebenshaltungskosten nicht so hoch wie in Großbritannien sind. Großbritannien wäre viel zu teuer gewesen, und man
hätte dort mit ERASMUS mindestens ein Jahr studieren müssen.
Nach Frankreich wollte ich nicht gehen, da mein Französisch zu
schlecht ist. Alternativ wäre ich auch nach Schweden gegangen,
aber Amsterdam als Hauptstadt klang dann doch interessanter als
Göteborg. So konnte mich mein Freund in Amsterdam mehrmals
besuchen kommen. Ich war zuvor noch nie in Amsterdam gewesen,
deshalb war ich sehr gespannt.
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Prägend war für mich die Erfahrung, eine Ausländerin zu sein. Zwar
bin ich äußerlich nicht so aufgefallen, aber ich konnte die Menschen
auf der Straße nicht verstehen, da ich nicht so gut Holländisch spreche. Es war sehr schwer, zu Einheimischen Kontakt zu bekommen,
aber ich war immer auf der Suche nach ›Opfern‹, an denen ich mein
schlechtes Holländisch ausprobieren konnte. So lernte ich in dem
Schwesternwohnheim, in dem ich ein Zimmer bewohnte, ein holländisches Trio kennen, dessen Mitglieder am Ende meines Aufenthaltes
ganz überrascht waren, dass ich nun auf Niederländisch ganze Sätze
sprechen konnte. Ansonsten habe ich sehr viel über China, Vietnam,
Südafrika usw. gelernt. In Amsterdam
studierten die Austauschstudenten zusammen mit den Studenten aus dem
Masterstudiengang, der zur Hälfte aus
Chinesen bestand. Jetzt kann ich mit
Stäbchen essen und kenne die chinesische, vietnamesische und die italienische Küche sehr gut, da wir oft zusammen gegessen haben. Ansonsten habe
ich meine freie Zeit damit verbracht,
die Niederlande zu erkunden. Im Alltag
redete ich sehr viel Englisch, so dass ich
dann auch auf Englisch träumte und
dachte. Ich hätte allerdings nicht gedacht, dass es so viele kulturelle Missverständnisse geben kann. So wussten
meine chinesischen Freunde beispielsweise nicht, dass man unter
einen Schlafsack normalerweise eine Luftmatratze legt, da Camping
in China total unüblich ist. Auf diese Idee bin ich gar nicht gekommen; so haben wir geschickt aneinander vorbei geredet, weil sie dach-
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Der Auslandsaufenthalt
hat mein Selbstverständnis
nicht verändert. Vielleicht
habe ich aber mehr
Verständnis entwickelt für
Ausländer und ihre Probleme,
sich hier zu integrieren.
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ten, dass meine Luftmatratze für eine weitere Person bestimmt sei.
Und schließlich stand ich in Groningen mit meinem Schlafsack ohne
Luftmatratze – aber zum Glück hat mich eine Weißrussin in ihr
großes Doppelbett aufgenommen.
Mein Aufenthalt in Amsterdam entsprach insofern meinen Erwartungen, als sich mein Englisch verbesserte. Mit solch einer asiatischen
›Dominanz‹ hatte ich jedoch nicht gerechnet. Auch hätte ich eine
bessere Organisation des Aufenthaltes erwartet. So bekam ich irgendwann einen Brief, dass ich mich doch bitte selber um ein Zimmer
kümmern möge, obwohl die ERASMUS-Studenten normalerweise
Zimmer in den Studentenwohnheimen bekommen. Jeglicher Versuch
einer Kontaktaufnahme scheiterte an wochenlangen Sommerferien
des Internationalen Büros der Universität, die mir natürlich nicht
mitgeteilt wurden. Hinzu kommt, dass in Amsterdam Wohnungsnot
herrscht, so dass Wohnraum sehr teuer und schwer zu bekommen ist.
So konnte ich schlecht schlafen und war schon drauf und dran, früher
nach Amsterdam zu fahren, um mir ein Zimmer zu suchen. Dies
kollidierte allerdings mit meinem Urlaub in Spanien. Nach dem
Urlaub telefonierte ich stundenlang mit der Universität, um meine
Chancen auf einen Platz im Wohnheim zu erfragen. Schließlich
bekam ich eine Woche vor meinem Studienbeginn die Mitteilung,
dass ich nun doch ein Zimmer für 275 Euro in einem Schwesternwohnheim bekommen hätte.
Meine Berufswahl hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon getroffen: ich
wollte Jura studieren und studierte es nun auch. Der Auslandsaufenthalt hat meine Berufswahl insofern beeinflusst, als ich mir vorstellen
könnte, auch auf dem Gebiet des internationalem Rechts zu arbeiten.
Zur Zeit mache ich mein Referendariat, das mit dem zweiten Staatsexamen abschließt, in Heidelberg. Erst dann beginnt für mich das
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richtige Berufsleben. Der Auslandsaufenthalt hat mein Selbstverständnis nicht verändert. Vielleicht habe ich aber mehr Verständnis
entwickelt für Ausländer und ihre Probleme, sich hier zu integrieren.
So setze ich mich als Integrationsbegleiterin für Migranten ein; beispielsweise versuche ich, einem jungen Iraker zu helfen.
Manches läuft in den Niederlanden besser als hier. Dort fahren viel
mehr Menschen Fahrrad und schützen so die Umwelt. Deshalb gibt es
dort auch bessere Radwege, und ich als Radfahrerin habe mich nicht
so als Verkehrshindernis gefühlt. Es gibt auch gezielte Förderung der
Schulen mit hohem Ausländeranteil, damit die Migranten besser
integriert werden. Auch gibt es in den Niederlanden eine Jahreskarte
für Museen, die es auch ärmeren Menschen ermöglicht, sämtliche
staatlichen Museen im Land zu besuchen.
Ansonsten bleibt festzuhalten, dass die Universität dort viel besser
mit Computern (selbstverständlich mit Internetzugang) für die
Studenten ausgerüstet war. Auch mussten wir viel mehr in Gruppen
oder allein Referate vorbereiten und auch mündliche Prüfungen ablegen. In Deutschland schreibt man immer nur Klausuren und muss
sich vor dem Staatexamen nicht mündlich am Unterricht beteiligen,
Referate halten oder gar in Gruppen zusammenarbeiten. Im Vergleich zu dem deutschen Jurastudium wird man also viel besser auf
den späteren Berufsalltag vorbereitet, da man dann auch mit anderen
zusammenarbeiten und auch frei reden können muss. Als Fazit bleibt
festzuhalten, dass in Deutschland einige Verbesserungen notwendig
sind.
Am wichtigsten ist für mich die Erkenntnis, dass andere Länder und
ihre Bewohner anders ›ticken‹ als die Deutschen zuhause. So können
sehr viele kulturelle Missverständnisse auftreten, die zu den sprach-
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NIEDERLANDE
lichen Unzulänglichkeiten hinzukommen. Ich finde es zum Beispiel
sehr wichtig, anderes Essen erst einmal auszuprobieren, bevor man
es als unappetitlich ablehnt. Nach einem Selbstversuch habe ich festgestellt, dass man die Ohren eines Schweins tatsächlich essen kann
und es auch nicht so schlecht schmeckt. Oder was hätten Sie gemacht,
wenn ihre chinesischen Freunde damit ankommen, Sie mit erwartungsvollen braunen Augen angucken und stolz fragen, ob Sie diese
leckere Spezialität probieren wollen? Andere chinesische Spezialitäten wie z.B. Sauerkraut waren mir dann schon vertrauter.
Dank meines Aufenthaltes kann ich jetzt viel besser Englisch
reden und schreiben und sogar ein bisschen Holländisch. Ich bin
auch froh, dass ich Amsterdam kennen gelernt habe. Ich habe in
Amsterdam viele ausländische Freunde gefunden und mit einigen
immer noch per Email Kontakt. So können wir uns dann hoffentlich
irgendwann einmal gegenseitig besuchen. Mein persönliches Fazit:
Die Welt kann nur zusammenwachsen, wenn es ihre Bewohner
auch tun.
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JANINA VICTOR
Janina Victor, geb. 1975 in
Reinbek. Magister in Europäis
che
Studien an der Universität
Osnabrück. ERASMUS-Aufentha
lt: September
1996-April 1997 an der Univ
ersiteit van Maastricht, Nied
erlande.
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NIEDERLANDE
Auf nach Den Haag –
so weit weg?
Aufgeregt saßen wir alle in der Informationsveranstaltung über das
nahende Auslandssemester. Die Zeit der Entscheidung war angebrochen. Poitiers, Maastricht, Leeds? Allesamt gingen wir weg, und
wir wollten es auch: das Pflicht-Auslandssemester in unserem
Studiengang mit dem wohlklingenden Titel »Europäische Studien«
war immerhin ein wichtiger Grund gewesen, dieses Studium überhaupt auszusuchen. Poitiers, Maastricht, Leeds … Maastricht fand ich
damals mit Abstand am spannendsten. Wer spricht schon Niederländisch? Eine kleine Herausforderung war immer gut, es sollte ja
schließlich nicht langweilig werden. Also ein Lehrbuch Niederländisch gekauft, und auf ins Abenteuer.
In Maastricht angekommen, gab es eine kleine Überraschung: die
angekündigten englischsprachigen Module, mit denen ich hätte
beginnen sollen, waren irgendwie ein Missverständnis. Alléén Nederlandse cursussen in september! Nach einigen Wochen unter Wasser
in der neuen Sprache entspannten sich meine verkrampften Fäuste
langsam, trockneten die Frustrationstränen und konnte ich dem
Unterricht langsam folgen, ohne meine Hörsaalnachbarn abzulenken
durch ständiges Blättern im Wörterbuch. Ich habe noch ein starkes
Gefühl von persönlichem Triumph in Erinnerung an mein erstes auf
Niederländisch gehaltenes Referat.
Das Land war mir einfach sympathisch. Die Sprache brachte mich
in den ersten Wochen beinahe ständig zum Lächeln. Qualität schrieb
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JANINA VICTOR
man auf Niederländisch mit Kw am Anfang! Die Züge waren fröhlich
kanariengelb, die Ampeln lustig schwarz-weiss gestreift, was schön
kontrastierte mit den knallroten Briefkästen. Die meisten Menschen
waren freundlich und unkompliziert. Ein Problem bekamen die
Niederlande und ich erst an dem Tag, an dem ich nach dem Unterricht mein Fahrrad losschließen wollte und entdeckte, dass das
riesengroße Kettenschloss zerschnitten am Boden lag. Das Fahrrad
stand noch da. Offensichtlich war ich schneller vom Unterricht
zurück, als der Dieb hatte schneiden können. Meine niederländischen
Kommilitonen lachten, sagten »willkommen in den Niederlanden«
und klopften mir gratulierend auf die Schulter, da mein Fahrrad ja
immerhin noch da war. Ich dagegen stand stocksteif da und starrte
nicht-begreifend auf das zerschnittene Schloss in meinen unbeweglichen Händen. Ich befand mich in einem Land von brutalen SchlossZerschneidern und Fahrraddieben.
Der Unterricht – man muss es einfach sagen – war besser als
zuhause. Ans »problemorientierte Lernen« in der »Studienlandschaft« der Bibliothek musste ich mich zwar erst gewöhnen, aber ich
erinnere mich durchaus noch an den Stoff, was ich nicht behaupten
kann vom Stoff meiner zahllosen Referate an meiner Heimatuni. Die
Professoren waren interessiert und ansprechbar. Auch der Empfang
beim Auslandskoordinator war herzlicher, als ich es kannte von den
Mitarbeitern des Auslandsamtes meiner Heimatuni. Deren Verhalten
hatte ich immer interpretiert als Test: es sollten eben nur die durchsetzungsfähigsten Studenten ins Ausland gelangen. Das machte ja
schließlich auch Sinn.
Kurzum, mein ERASMUS-Aufenthalt in den Niederlanden war eine
gute Zeit. Das stand mir noch scharf vor Augen, als es zwei Jahre später, nach der Magisterarbeit, Zeit wurde, auf Jobsuche zu gehen.
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Inzwischen hatte ich bei einem Aufenthalt von sechs Monaten in
Brüssel ein Kontrastprogramm genossen: Brüssel hatte zwar viel
mehr Charme und Grandeur als Maastricht, aber es war auch dreckig,
die Fahrkartenautomaten funkionierten nicht, jedes dritte Haus stand
kurz vor dem Einsturz, und die vier Bevölkerungsgruppen (Wallonen
– Flamen – Immigranten aus Afrika – Europäische Bürokraten)
lebten komplett nebeneinander her. Das war nichts für mich.
Tja, was macht eine Geisteswissenschaftlerin, die einen Job sucht?
1999 kaufte sie sich Zeitungen. ZEIT, FAZ, vielleicht noch die Süddeutsche. Und dann begann sie, sich Sorgen zu machen. Wie bekam
man denn in Deutschland einen Job? Es standen ja fast keine geeigneten Annoncen in den Zeitungen! Ja, in den Niederlanden, da war
das anders. Da standen die Zeitungen voll; auch Ministerien und
andere Staatsdienste rekrutierten ihr Personal einfach über die Tageszeitung.
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Also gut. Wenn Deutschland mich nicht braucht, dann eben nicht. Es
muss ja nicht Deutschland sein. Ich hatte schließlich schon vier Mal
in verschiedenen Ländern studiert. Wie schwierig kann es sein, dort
auch zu arbeiten? Einen Neustart musste ich ja ohnehin machen.
Meine Auslandserfahrung bot mir in dem Moment ganz deutlich eine
Chance, die ich anders nicht gesehen und ergriffen hätte.
Gesagt, getan. Die Volkskrant, die ich am Osnabrücker Hauptbahnhof kaufte, hatte diese Woche eine besonders interessante Anzeige vom Stadtrat von Amsterdam. Drei Wochen später hatte ich den
Job. Ich war frischgebackener Office Manager eines neuen Büros, das
dem Internet zum Durchbruch verhelften sollte bei den Diensten der
Gemeinde. Einen Raum und einige Kollegen gab es schon. Computerbeschaffung und Arbeitsplan waren mir überlassen. Die ersten Monate meines ersten Jobs waren die bisher schwersten meines Lebens.
Ein Neuanfang im Ausland, Eintritt ins Berufsleben, ein Arbeitsplatz,
der erst noch aufgebaut werden musste, ein Telefon, das klingelte und
auf Niederländisch beantwortet werden wollte.
Und der neue Wohnort natürlich. Ich hatte nicht gerechnet mit
der Amsterdamer Wohnungsnot. In Deutschland ist es schwer, einen
Job zu bekommen. Wer eine Wohnung sucht, schnippt dagegen einfach mit den Fingern. In den Niederlanden ist es genau umgekehrt,
und darauf hatte mich mein ERASMUS-Aufenthalt nicht vorbereitet.
Nachdem ich mich wochenlang herumgeschlagen hatte mit Niederlassungserlaubnissen, Wartelisten für Mietwohnungen (Durchschnittswartezeit Amsterdam: acht Jahre) und kurz vorm Verzweifeln
war, fand ich eine Wohnung in Almere. Auch das war pures Glück:
eine Praktikantin der Wohnungsbaugenossenschaft hatte sich am
Telefon verplappert, dass gerade eine Wohnung frei geworden war,
und ich hatte sofort zugeschlagen. Als ich kam, um den Vertrag zu
unterschreiben, hatte die Praktikantin schon Telefonverbot.
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NIEDERLANDE
Wer zu einem Niederländer »Almere« sagt, bekommt unweigerlich
skeptische Blicke zurück. »Hast Du denn gar nichts anderes finden
können?« lautet die Gegenfrage. Almere ist eine künstliche Stadt auf
künstlichem Land. Die wassergewandten Niederländer haben einfach
einen Deich quer durchs IJsselmeer gebaut und dann alles Wasser
von der einen Seite auf die andere gepumpt. Trara! Neuland! Platz für
eine neue Stadt!
Nach zwei Jahren fühlte ich mich zwar in den Niederlanden
zuhause, aber Job und Stadt waren doch nicht das Wahre. Mein alter
Wegweiser in die Zukunft, die Volkskrant, brachte zum Glück erneut
Abhilfe. Nuffic, da wollte ich gern arbeiten. Stimulieren von akademischer Mobilität? Ich fand, dass ich darüber durchaus mitreden konnte. Nuffic suchte gerade einen Spezialisten für Mobilitätshemmnisse,
das heisst: Visa, Aufenthaltsgenehmigungen, Arbeitserlaubnisse. Darüber wusste ich zwar nichts, aber wenn ich in ein neues Land ziehen
und mir die Sprache aneignen kann, kann ich auch ein neues Fachgebiet erlernen und von Almere nach Den Haag ziehen, fand ich. Nuffic
fand das zum Glück auch. Meine Amsterdamer Kollegen machten
große Augen – Den Haag? So weit weg? Ich musste laut lachen.
Inzwischen arbeite ich schon fünf Jahre bei der Nuffic. Mit Studenten habe ich wenig direkten Kontakt, dafür aber umso mehr mit
den Mitarbeitern der Unis, die im Umfeld der Auslandsämter arbeiten. Da ich akzentfrei Niederländisch spreche, wissen meine Arbeitskontakte zumeist nichts über meinen Hintergrund. Alle paar Monate
gibt mir das irgendwo auf einem Kongress die schöne Gelegenheit, zu
erzählen, dass ich selbst auch als ERASMUS-Studentin in die Niederlande gekommen und jetzt immer noch da bin; so kann es gehen, und
das alles dank des unermüdlichen Einsatzes von Leuten, wie sie sich
hier auf dem Kongress treffen. Es ist immer wieder schön, dann die
überraschten und stolzen Gesichter der Teilnehmer zu beobachten.
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SABINE BRA
M B A C H , GEB
.
1981 IN LANDS
BERG AM LECH
.
DIPL. IN KOM
MUNIKATIONS
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ER FACHHOCH
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ERASMUSA U F E N T H A LT
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AUG-DEZ 200
3 AN DER UN
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FINNLAND
Erfahrungen aus dem
Hohen Norden
Während ich für mein Abitur im Jahre 2000 gelernt habe, träumte
ich bereits davon ins Ausland zu gehen. Ein Jahr »Au Pair« wäre eine
günstige Gelegenheit gewesen. Allerdings hat mir, denke ich, derzeit
noch der Mut gefehlt, den Sprung ins kalte Wasser zu wagen; doch
drei Jahre später war die Neugierde groß genug. Zu diesem Zeitpunkt
studierte ich Kommunikationsdesign an der Fachhochschule München. Eine Kommilitonin fragte mich, ob ich mit ihr für ein Auslandssemester nach Finnland kommen wolle. Was zunächst mit einer
spaßeshalber mit »ja« beantworteten Frage begonnen hatte, wurde
etwa 3 Monate später zur Wirklichkeit. Doch selbst im Flugzeug auf
dem Weg nach Joensuu, einer Stadt im Osten Finnlands, in der wir
unseren Aufenthalt mit einem Finnisch-Sprachkurs begannen, konnte ich es noch nicht glauben. Mein Traum war Wirklichkeit geworden!
Endlich hatte ich den Mut gefunden, aus meinem 3000-EinwohnerDorf zu entfliehen; Freunde und Familie hinter mir zu lassen und
über den gewohnten Tellerrand hinauszublicken.
Durch die Verbindung meines Aufenthaltes mit einem Auslandsstudium war zumindest gewährleistet, dass sich mein Studium nicht
weiter hinauszögern würde. »Warum ausgerechnet Finnland?« war
eine der mir am häufigsten gestellten Fragen. Ehrlich gesagt, war der
Grund recht einfach: Ich hatte nicht besonders viel Auswahl. Der
Fachbereich meiner Universität hatte lediglich ein Austauschabkommen mit einer Universität, die sich in Imatra, Finnland, befand. Finn-
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SABINE BRAMBACH
land ist bekannt für gutes Design und Architektur. Nokia und Alvar
Aalto schießen mir da sofort durch den Kopf. Ein weiterer, ausschlaggebender Punkt war, dass ich zur Zeit meiner Entscheidung mit meinem Studium in München recht unzufrieden war. Ich hoffte, es gäbe
einen Platz, an dem ich mehr lernen würde. Ich wollte mehr lernen,
andere Dinge sehen und neue Erfahrungen sammeln.
Zunächst muss ich zugeben, dass meine Erwartungen und der
erste Eindruck von der Universität sich sehr voneinander unterschieden. In Deutschland studierte ich Kommunikationsdesign, eine
Mischung aus Fotografie, Grafikdesign, Neuen Medien, Malerei und
Film. Je nach Interessensgebiet konnte man sich mit Projekten spezialisieren.
Der erste große Unterschied zur finnischen Universität bestand
darin, dass das Kurssystem wochenweise aufgebaut war. Somit belegte man ein Fach als einen Block über eine Periode von ein bis drei
Wochen und wechselte anschließend zum nächsten Fach. Es gab
somit keine über das ganze Semester andauernde Vorlesung. Der
zweite große Unterschied war, dass die Kurse auf traditionelle Kunst
und ihre unterschiedlichen Techniken ausgerichtet waren. AquarellMalerei, Portrait-Malerei, Fotografie, Aktzeichnen usw., um nur einige
Fächer zu nennen. Somit fiel es mir schwer, Fächer zu finden, die sich
mit meinem Stundenplan in Deutschland vereinbaren ließen.
Allerdings ließ meine Wahl viel Freiraum für Experimente und im
Laufe des Semesters kam ich mit künstlerischen Disziplinen in Kontakt, die ich sonst nie ausprobiert hätte.
In meinem Landschaftsmalerei-Kurs beispielsweise entstanden
Werke, die ich mit Sicherheit hätte verkaufen können. Meine Performance Art-Klasse zeigte mir, dass das eine Richtung ist, die ich mit
Sicherheit nie einschlagen werde, auch wenn ich dabei lernte, meine
Schüchternheit zu überwinden. Ich liebte alle Fotografie-Klassen und
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FINNLAND
Zu meiner ursprünglichen
Neugierde kamen
Aufgeschlossenheit und
Eigenständigkeit hinzu und
die Überzeugung, dass man
ein Ziel, das man sich
gesetzt hat, auch in der
Realität erreichen kann.
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SABINE BRAMBACH
besonders die Tatsache, dass das gesamte Material von der Universität bezahlt wurde. Somit waren der Experimentierfreude keine
Grenzen gesetzt.
Trotz der Tatsache, dass sich das Programm der Universität in Imatra
sehr stark von dem meiner deutschen Uni unterschied, denke ich,
dass mir dieses Semester in beruflicher Hinsicht weitergeholfen hat.
Ich entwickelte meine Fähigkeiten im Bezug auf Fotografie weiter
und fand heraus, dass das ein Feld ist, auf das ich mich später
konzentrieren möchte. Darüber hinaus kam ich mit einigen künstlerischen Disziplinen in Kontakt, die ich sonst nie kennen gelernt
hätte – und das Wichtigste an dieser Tatsache für meinen weiteren
Weg ist, dass ich herausfand, dass keine dieser Disziplinen mein
zukünftiges Arbeitsfeld sein wird.
In dieser Zeit wurde mir klar, dass Grafikdesign die Richtung ist,
in die ich mich weiter entwickeln möchte. Die verschiedenen künstlerischen Techniken werden auch in Zukunft immer wieder in meinen
Arbeiten auftauchen, ein handwerkliches Können, das sehr hilfreich
sein kann. Möchte man allerdings in beruflicher Hinsicht mehr aus
seinem Auslandsaufenthalt machen, sollte man sich genau nach dem
Kursprogramm erkundigen, bevor man sich für eine Uni entscheidet
– falls es eine Wahl gibt.
Doch sind nicht nur die Erkenntnisse in Bezug auf mein Studium
Gold wert. Viel größere Bedeutung haben für mich die persönlichen
Erfahrungen. Und die sammelt man von der ersten Sekunde an. Die
Tatsache, dass ich das Abenteuer mit einer Freundin angetreten habe,
machte einiges einfacher, doch manchmal auch schwieriger. Ein
Punkt war, dass meine Freundin die Angewohnheit hatte, bei jeder
Gelegenheit Deutsch zu reden. Unter uns beiden sah ich kein Problem
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darin, aber wenn man sich inmitten eines Kreises von internationalen Freunden befindet, ist es den anderen gegenüber sehr unhöflich, da man sie von vornherein aus dem Gespräch ausschließt. Die
Tatsache, dass die Uni so klein war, machte es einfach, Leute kennen
zu lernen. So lernte ich auch viele Suomis, wie die Finnen sich selbst
nennen, kennen. Meiner Erfahrung nach sind Finnen von sich aus
sehr schüchtern und zurückhaltend. Aber wenn man den ersten
Schritt gemacht hat, trifft man auf die nettesten und hilfsbereitesten
Menschen, die man sich nur vorstellen kann.
Ein Auslandsaufenthalt bedeutet immer, den ersten Schritt zu
machen. Es fängt mit der Entscheidung für ein Studium im Ausland
an, und diese Entscheidung muß umgesetzt werden; das bedeutet,
den Papierkram zu erledigen, bevor man sich dann wirklich auf das
Abenteuer einlassen kann. Zunächst fiel mir das ein wenig schwer.
Von Natur aus neugierig, aber auch zurückhaltend und schüchtern,
stand ich täglich vor neuen Herausforderungen. Doch genau dies und
die Tatsache, dass ich bereit war, die Probleme zu überwinden, ließen
mich wachsen und stärkten meine Persönlichkeit ungemein. Ich
überwand nicht nur meine Schüchternheit und lernte, auf wildfremde Leute zuzugehen, die noch dazu nicht meine Sprache sprachen,
sondern ich entwickelte zunehmend ein gutes Gefühl, Menschen einzuschätzen, und lernte darüber hinaus, mit Konfliktsituationen
umzugehen. Ich traf auf viele sehr unterschiedliche Menschen,
sowohl im Studium als auch im Volleyballverein und in der Freizeit.
Diese Erfahrung lässt mich immer noch lachen. Die Englischkenntnisse meiner Mitspieler hielten sich in Grenzen, aber wir fanden
trotzdem immer einen Weg, uns zu verständigen. Die Tatsache, dass
ich in einer sehr kleinen Stadt gelandet war, machte es einfach, Einheimische kennen zu lernen. Dadurch erfuhr ich viel über ihr Leben
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und ihre Kultur. Eine Rundreise, die wir teilweise mit einer finnischen Freundin und ihrem Freund absolvierten, gab uns noch weitere Einblicke.
Aus heutiger Sicht kann ich sagen, dass der Auslandsaufenthalt in
Finnland mein Leben grundlegend verändert und in andere Bahnen
geleitet hat. Hätte ich mich damals anders entschieden und nicht den
Mut gefunden, dann würde ich in diesem Moment, in dem ich dies
schreibe (an und für sich hätte ich gar keine Gelegenheit, diesen Text
zu verfassen), in einem kleinen verträumten bayerischen Dorf sitzen.
Nicht, dass ich das als schlecht bewerten würde, doch sitze ich im
Augenblick in San Francisco.
Nach meiner Rückkehr nach Deutschland beschloss ich nämlich
recht bald, dass ich, wenn sich die Gelegenheit ergeben würde, gerne
wieder ins Ausland gehen würde. Deshalb bewarb ich mich für ein
Fulbright-Stipendium. Zu meinem Erstaunen gehörte ich zu den Auserwählten, und mir wurde ein weiteres Studienjahr hier in San Francisco ermöglicht. Dieses Jahr verlängere ich momentan mit einem
Praktikum in einem Grafikdesign-Studio, bevor ich Mitte März 2007
wieder deutschen Boden betreten werde.
Mein Aufenthalt in Finnland , der durch das Erasmus-Stipendium
unterstützt wurde, hat mir bei meiner Bewerbung für das Stipendium
weitergeholfen. Nicht nur hat er bewiesen, dass ich wirkliches Interesse daran habe, ins Ausland zu gehen, vielmehr erwiesen sich in dem
von der Kommission geführten Interview meine Englischkenntnisse
und meine Erfahrungen anscheinend als sehr überzeugend. Meine
Englischkenntnisse sind selbstverständlich in meinem weiteren
Leben von besonderer Bedeutung. Darüber hinaus denke ich, dass der
Aufenthalt mich in meiner Persönlichkeit und Lebenseinstellung
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geprägt hat. Zu meiner ursprünglichen Neugierde kamen Aufgeschlossenheit und Eigenständigkeit hinzu und die Überzeugung,
dass man ein Ziel, das man sich gesetzt hat, auch in der Realität erreichen kann.
Ein weiterer interessanter Faktor ist die Veränderung des Begriffs
›Heimat‹. Durch einen längeren Aufenthalt in einem fremden Land –
und nicht nur einen kurzen Besuch – lernt man dessen Kultur, Bräuche, Menschen und Eigenarten kennen. Damit wird einem auch der
Unterschied zum eigenen Land bewusst. Man beginnt, die Dinge aus
einer anderen Perspektive zu sehen, Gewohntes in Frage zu stellen, zu
vergleichen und gleichzeitig sein eigenes Herkunftsland besser
kennen zu lernen. Obwohl uns in Deutschland seit dem Zweiten
Weltkrieg der Patriotismus »ab«-erzogen wurde, bin ich inzwischen
doch ein wenig stolz darauf, Deutsche zu sein. Denn der Vergleich
machte mir bewusst, wie viele gute Seiten Deutschland eigentlich hat.
An dieser Stelle sei nicht nur das gute Essen erwähnt. In Finnland
war mein Heißhunger auf Brezen sogar so groß, dass ich selbst Brezen
gebacken habe. Vor allem aber halte ich fortschrittliches Denken, Vorausplanung und das Entwickeln neuer Energieressourcen für Gebiete,
auf denen Deutschland weltweit die Nase vorne hat.
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FINNLAND
Einmal Norden – immer
Norden? Aber ja!
Auch in der heutigen globalisierten Welt sind Auslandsaufenthalte
noch immer etwas Besonderes. Sie erweitern unseren Horizont und
zeigen uns eine andere Welt, in der wir nicht nur neue Menschen
kennen lernen. Bei der Rückkehr in die Heimat haben wir uns verändert, sehen nicht nur uns selbst, sondern auch unser Land mit anderen Augen.
Möglichkeiten, zumindest einige Monate im Ausland zu verbringen, gibt es viele, auch für unterschiedliche Lebensphasen. Ob als
Austauschschüler, als Fremdsprachenassistent oder als ERASMUSStudent – die Palette ist weitgefächert und wird nahezu jedem
Bedürfnis gerecht. Es ist alles eine Frage der Organisation und der
Kenntnis der vorhandenen Angebote.
Im Folgenden möchte ich von meinen Erfahrungen in Finnland
berichten. Kein anderes Land hat mich und meinen Weg mehr
geprägt, obwohl ich auch in den USA und Frankreich längere Zeit
gelebt bzw. gearbeitet habe. Ich werde erzählen, wie ich in den
Norden gekommen und vom Norden geprägt worden bin, wobei ich
vor allem auf meinen ERASMUS-Aufenthalt in Helsinki im Frühjahr
1999 eingehen werde.
1992 bin ich zum ersten Mal eher zufällig nach Finnland gereist, und
zwar als Sommer-Au pair. Mein ursprüngliches Ziel war Frankreich
gewesen, aber da gab es keine entsprechenden Angebote nur für den
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Sommer. Zu diesem Zeitpunkt war mein Wissen über Land und
Leute sehr eingeschränkt. Ich hatte eine vage Vorstellung von einem
weitläufigen Land im Norden, wo die Sommer kurz und die Winter
lang sind und wo die Menschen eine seltsame Sprache sprechen, die
sehr schwer zu lernen sei. Außerdem hatte ich wegen eines Aufenthalts als Austauschschülerin in den USA losen Kontakt zu einer
gleichaltrigen Finnin und war entsprechend neugierig. Die Folgen
waren mir zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst, aber sie waren gravierend. Der herrliche Sommer im Norden und die aufgeschlossenen
Menschen, denen ich begegnete, haben in mir den Wunsch nach
mehr Wissen über Land und Leute geweckt. In den folgenden Jahren
bin ich deshalb immer wieder in den Norden gefahren. Ich habe dort
nicht nur Urlaub gemacht, sondern auch an der Sommeruniversität
in Helsinki Sprachkurse besucht.
Die Wahl meiner Studienfächer sowie meines Studienorts Greifswald war ebenfalls vom Norden beeinflusst. Aus historischen Gründen verfügen Universität und Stadt über enge Kontakte zu den nordischen Ländern, sodass ich verschiedene Interessen miteinander
vereinen konnte. So war ich für mein erstes Schulpraktikum 1995
wieder in Helsinki, kam 1997 nochmals als Sommer-Au pair nach
Finnland und besuchte mit Unterstützung des DAAD einen weiteren
Sommersprachkurs.
Zum Ende meines Studiums konnte ich mir im Rahmen der
ERASMUS-Partnerschaft zwischen dem 7. und 8. Semester (Januar
bis April 1999) auch den lang gehegten Traum erfüllen, in Helsinki zu
studieren. Mit meinen Dozenten in Greifswald hatte ich abgesprochen, dass ich sowohl im Winter- als auch im Sommersemester über
das erlaubte Maß hinaus fehlen durfte.
Wieso eigentlich Helsinki? Und warum ausgerechnet im Winter?
Dafür gab es sowohl studientechnische als auch private Gründe. Das
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FINNLAND
Nordische Institut der Universität Greifswald verfügte über einen
ERASMUS-Platz in Helsinki. Dieser Studienplatz befand sich zwar
nicht an der Universität selbst, sondern an der Schwedischen Handelshochschule Hanken; dazu später mehr.
Helsinki ist eine wunderschöne Stadt mit einer ausgezeichneten
Infrastruktur. Die Stadt hat zwar nur ca. 500.000 Einwohner, bietet
aber alle kulturellen Annehmlichkeiten einer jeden Hauptstadt. Neugierig war ich auch auf den Winter, denn zuvor hatte ich das Land nur
im Sommer bereist. Bei Freunden war außerdem just in der Zeit in
der WG ein Zimmer frei, sodass ich nicht im Studentenwohnheim
wohnen musste.
Mein Ziel war es, mit einem längeren Auslandsaufenthalt zum
einen meine Sprachkenntnisse nachhaltig zu verbessern, zum anderen das Thema meiner Hausarbeit für die Erste Staatsprüfung festzulegen und Material zu sammeln. Dafür bot sich Helsinki mit den
schon erwähnten Institutionen an. Außerdem wollte ich mehr über
das finnische Universitätssystem erfahren.
Wie bei jedem Auslandsaufenthalt gab es auch hier Höhen und Tiefen, was bei mir allerdings nicht mit irgendwelchen Kulturschocks
zusammenhing, denn ich kannte Finnland schon vorher gut genug,
um zu wissen, worauf ich mich einließ.
Schlichtweg fantastisch waren und sind die Bibliotheken der Stadt
mit ihrer reichhaltigen Ausstattung. Ich konnte sehr viel Literatur
einsehen und später verwerten und im Laufe der Zeit mein Hausarbeitsthema weiter eingrenzen. In sprachlicher Hinsicht gab es für
mich einen gewaltigen Schub, was nicht zuletzt mit der Geduld und
Korrekturfreudigkeit meiner Freunde, aber auch mit den von mir
besuchten Lehrveranstaltungen zusammenhing. Dazu gehörten
finnisch-französische Übersetzungskurse, ein Finnischkurs für Fort-
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geschrittene sowie Vorlesungen und Seminare zur Übersetzungswissenschaft an der Universität Helsinki. Darüber hinaus nahm ich
an einem Schwedischkurs der Schwedischen Handelshochschule
Hanken teil. Bei meiner Rückkehr wurden mir alle meine Veranstaltungen, wenn auch teilweise unter Auflagen, anerkannt.
Besonders beeindruckend war für mich der finnische Winter, der zu
Beginn des Jahres 1999 mit Rekordtemperaturen, auch im Süden, aufwartete. Wochenlang verharrte das Thermometer weit unter –10°C,
der Spitzenwert lag bei –27°C. Rund um die Uhr wurden Schneemassen mit Lastwagen aus der Stadt transportiert, auf dem Eis konnte man Ski laufen und an den meist sonnigen Tagen einfach das
Dasein draußen genießen, natürlich vermummt in einem wahren
Kleiderberg.
Etwas überrascht war ich von meiner Studiensituation. Ich hatte
die Funktion des ERASMUS-Platzes nämlich so verstanden, dass ich
zwar offiziell an der Schwedischen Handelshochschule Hanken in
Helsinki eingeschrieben würde, aber an der Universität Helsinki
Finnisch studieren könnte. Es stellte sich nach meiner Ankunft
jedoch schnell heraus, dass dem nicht so war. Das International
Office von Hanken war von meinen persönlichen Plänen nicht begeistert, denn man ging davon aus, dass ich an dortigen wirtschaftswissenschaftlichen Lehrveranstaltungen teilnehmen würde. Persönliche Vorsprachen bei den zuständigen Dozentinnen und Dozenten
der Universität Helsinki ermöglichten mir dann aber die Teilnahme
an den dortigen Lehrveranstaltungen. So konnte ich doch noch die
für mich sinnvollen Vorlesungen und Seminare besuchen. Bedauerlicherweise erhielt ich bei diesen Verhandlungen seitens der Schwedischen Handelshochschule Hanken keinerlei flankierende Unterstützung.
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Doch konnte ich dem Aufenthalt in Hanken auch eine positive Seite
abgewinnen: So kam ich aus meiner »Lehrerwelt« heraus. Es war
interessant, im Rahmen der ERASMUS-Freizeitaktivitäten mit Studierenden aus verschiedenen europäischen Ländern zusammenzutreffen, die zudem als Wirtschaftswissenschaftler aus einem für mich
eher unbekannten Fachbereich kamen.
Im Winter 1999 und auch später sind mir diverse Dinge ins Auge
gefallen, die mit meinem ERASMUS-Studium an sich nichts zu tun
hatten, die ich aber trotzdem für erwähnenswert halte:
Zunächst einmal nehmen die Finnen die Beherrschung der Landessprache durch Ausländer sehr positiv auf. In manchen europäischen
Ländern wird es dagegen als (zu) normal angesehen, dass der aus-
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ländische Besucher die jeweilige Sprache gut beherrscht. Die Sprache
ist ein entscheidender Schlüssel zur finnischen Kultur und den Menschen. Man kann sich zwar problemlos mit Englisch verständigen,
aber ohne Finnischkenntnisse ist eine wirkliche Integration nicht
möglich. Dieses Phänomen konnte ich sehr gut am Beispiel der ERASMUS-Studenten der Schwedischen Handelshochschule Hanken beobachten, von denen meines Wissens nach niemand vernünftig
Finnisch oder Schwedisch gelernt hat. Die meisten besuchten immerhin mit mir den fakultativen Schwedischkurs, in dem soviel Schwedisch vermittelt wurde, dass sie nicht ganz verloren im Alltag waren.
Verschiedene ausländische Studenten beklagten sich dennoch, dass
es schwer sei, mit Einheimischen in Kontakt zu kommen und dass sie
daher zwangsläufig unter sich blieben. Leider gab es die Unart, alle
Ausländer getrennt von den Finnen unterzubringen, sodass für mich
der Eindruck einer Isolierung entstand.
Selbstverständlich ist in Finnland die Berufstätigkeit der Frau.
Wegen der Betreuungsmöglichkeiten ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sehr viel besser gewährleistet als in Deutschland. Deswegen werden Frauen ermutigt, Kinder zu bekommen. Gleichberechtigung hat in Finnland eine lange Tradition; schließlich haben die
finnischen Frauen schon 1905 – und damit als erste in Europa (!) –
das Wahlrecht erhalten.
Des Weiteren möchte ich die Bescheidenheit der Finnen erwähnen.
Man nimmt sich dort selbst nicht zu wichtig. Vielmehr geht es
darum, wie man ist, und nicht, wie man zu sein scheint. Dieses Verhaltensmuster konnte ich zwei Jahre später im Dezember 2001 im
Rahmen eines neuerlichen Studienaufenthalts beobachten, als die
Ergebnisse der PISA-Studie veröffentlicht wurden. Die guten Resultate der finnischen Schüler wurden nicht stolz herumposaunt,
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Die Sprache ist ein
entscheidender Schlüssel
zur finnischen Kultur und
den Menschen. Man kann
sich zwar problemlos mit
Englisch verständigen, aber
ohne Finnischkenntnisse
ist eine wirkliche Integration
nicht möglich.
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sondern man fragte sich erstaunt, ob die finnischen Schüler wirklich
so gut waren.
Generell ist Studieren in Finnland sehr empfehlenswert, wobei ich
oben schon die Wichtigkeit der Sprachbeherrschung hervorgehoben
habe. Finnland ist ein aufgeschlossenes modernes Land, das über ein
hohes Ausbildungsniveau verfügt und auch im Blick auf die Lebensqualität äußerst attraktiv ist.
Der ERASMUS-Aufenthalt in Helsinki sollte entscheidend für meinen späteren beruflichen Werdegang sein. Im Lauf der vier Monate
in Helsinki habe ich mit dem Gedanken gespielt, mein Lehramtsstudium in Deutschland abzubrechen und in Finnland mit anderen
Schwerpunkten weiterzustudieren. Da ich nur noch ein knappes Jahr
bis zur Ersten Staatsprüfung hatte, habe ich mich dennoch anders
entschieden, zumal es dann Probleme mit dem BAföG-Amt gegeben
hätte. Den Traum eines weiteren Finnlandaufenthaltes nach Ende des
Studiums erfüllte mir der DAAD mit einem Stipendium für das
Studienjahr 2001/2002 an der Universität Vaasa.
Mit dem ERASMUS-Aufenthalt an der Universität Helsinki lernte
ich eine neue Fachwelt kennen. Ich hatte schon früher Übersetzungskurse besucht, jedoch ohne theoretisches Handwerkszeug. Dieses
erhielt ich im Frühjahr 1999 und konnte beim Schreiben der Hausarbeit für die Erste Staatsprüfung ungemein von diesem Hintergrundwissen profitieren. Für mich ist die Übertragung von Bedeutungen
aus einer Sprache in eine andere immer noch faszinierend; einen vollständigen Wechsel in die Übersetzungswissenschaft habe ich nicht
vollzogen.
Beruflich kamen mir meine Auslandsaufenthalte als DAAD-Lektorin in Straßburg (2004 bis 2006) zugute. Für eine effiziente Studienberatung sind eigene Erfahrungen unerlässlich. Will man andere
Menschen motivieren, ins Ausland zu gehen, so sollte man wissen,
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FINNLAND
wovon man spricht. In dieser Hinsicht halte ich die Vorbildfunktion von
Lehrerinnen und Lehrern in der Schule für ausgesprochen wichtig.
Mein jetziger Arbeitsplatz liegt wieder im Inland, hat aber immer
noch mit meinen Auslandsaufenthalten zu tun. Im Zentrum für Lehrerbildung der TU Darmstadt bin ich für die Evaluation der neuen
modularisierten Lehramtsstudiengänge verantwortlich. Des Weiteren
berate ich auch Lehramtsstudierende über Möglichkeiten, ins Ausland zu gehen. Auf Grund meiner Ausbildung und meiner Aufenthalte innerhalb und außerhalb Europas verfüge ich über eine differenzierte Sicht auf Bildungssysteme, die mir hilft, den Bologna-Prozess
und seine Hintergründe besser zu verstehen.
Wohin mich mein Weg als nächstes führt, weiß ich nicht. Vielleicht gehe ich noch einmal in ein ganz neues Land, vielleicht kehre
ich auch in den Norden zurück. Vielleicht bleibe ich auch in Deutschland, ich warte einfach ab. Fakt ist jedenfalls, dass der erste längere
Aufenthalt im Ausland nicht unbedingt der letzte sein muss, wie
meine persönliche Erfahrung zeigt. Ist man einmal in eine fremde
Kultur und deren Sprache eingetaucht, sinkt die Hemmschwelle, sich
auf weitere Länder und deren Sprachen einzulassen. Des Weiteren
möchte ich erwähnen, dass die Chancen, in Auslandsprogramme
– etwa beim DAAD – aufgenommen zu werden, steigen, wenn die
Bewerberin oder der Bewerber schon einige Zeit im Ausland verbracht hat, also über interkulturelle Kompetenz verfügt. Ähnliches
gilt auch für spätere Berufstätigkeiten. Ein Arbeitgeber wird niemanden ins Ausland schicken, der weder über Sprachkenntnisse noch
über Auslandserfahrungen verfügt.
In einem vereinten Europa ist es jedenfalls wichtig, sich nicht nur
auf (s)einen Kulturkreis zu beschränken. Ich wünsche mir, dass in
Zukunft noch mehr Kommilitonen einen ähnlichen Weg wählen, wie
ich ihn gegangen bin.
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JUTTA SINGER
Jutta Singer, geb. 1979 in Berlin.
Diplom in Informatik an der
FH Furtwangen. ERASMUS-Aufenthalt: August-Dezember 2003
an der Hochschule Oulou Polytechnic, Oulou, Finnland.
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FINNLAND
Von Nordlichtern und
multikulturellen Saunagängen
Ende August 2003 war es endlich soweit. Ich landete mit einem kleinen Flugzeug auf dem Flughafen von Oulu und konnte es noch nicht
richtig glauben, dass ich nun in Finnland angekommen war – einem
Land, das in Europa selten beim Namen genannt wird und auf das ich
deswegen umso neugieriger war. Mein erster Eindruck von Finnland
und seinen Menschen war sehr positiv und er ist es bis heute geblieben. Es war noch viel wärmer, als ich dachte, aber der Herbst war
schon im vollem Gange. Die Straßenzüge vom Flughafen zum
Studentenwohnheim in Oulu waren mit gelbgefärbten Birkenbäumen gesäumt, ummalt von einem wahnsinnig blauen Himmel.
Ich kam in Pullover und langen Hosen an, der finnische Student, der
mich vom Flughafen abholte kam in Badelatschen und Shorts daher.
Sein Auto war zu zwei Drittel mit leeren Bierflaschen gefüllt – übrigens das einzige Klischee, das sich erfüllte –, so dass mein Gepäck
und ich gerade noch Platz darin finden konnten. Er brachte mich zum
Studentenwohnheim, in dem ich eine Vierer-WG mit zwei polnischen
Austauschstudentinnen und einer Ungarin bezog. Wir waren ein
bunter, aufgeregter Haufen, und jede Stunde kamen mehr neue Studenten aus Frankreich, Polen, Spanien, Ungarn, Großbritannien und
Rumänien, Italien usw. an. Schon da wusste ich, dass es eine der
besten Entscheidungen war, die ich je getroffen habe.
Seit Ende meines Grundstudiums der Medieninformatik stand für
mich fest, unbedingt die Gelegenheit zu einem längeren Studienauf-
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enthalt zu nutzen, um ein anderes Land und dessen Menschen besser
kennen zu lernen, als es in Urlauben möglich ist. Wegen ERASMUS
fiel meine Wahl auf ein europäisches Land, da es eine große Erleichterung bei der Organisation war, besonders finanzielle Fragen betreffend.
Dass ich mich schließlich für Finnland entschied, hatte mehrere
Gründe: Das finnische Bildungssystem hat einen hervorragenden Ruf
und die Auswahl an englischsprachigen Studienmöglichkeiten ist
groß. Auch im Alltag in Finnland ist die Berührung mit Englisch
allgegenwärtig, da ausländische Fernsehbeiträge und Kinofilme nicht
synchronisiert werden. Die Mehrheit der Bevölkerung spricht sehr
gut Englisch. Für mich als angehende Medieninformatikerin war
auch ausschlaggebend, dass ich auch viel über mein Fach und die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten erfahren konnte. In Finnland
sind das Internet und dessen Nutzung wegen der geringen räumlichen Besiedlung in weiten Teilen des Landes viel präsenter und
selbstverständlicher, als es in Deutschland vor drei Jahren war bzw.
immer noch ist. So war es z. B. keine große Sache, dass Vorlesungen
via Videokonferenz über das Internet gehalten wurden, damit auch
Studenten in einem entfernteren Ort von der Oulu Polytechnic (entspricht einer Fachhochschule in Finnland) daran teilnehmen konnten. Sehr viel Einfluss auf meine Entscheidung für Finnland hatten
auch geografische Gesichtspunkte. Ich wählte mit Oulu einen Ort, in
dem es in den Wintermonaten nur wenig Tageslicht, dafür umso
höhere Minusgrade gibt. Die Vorstellung, in der Nähe vom nördlichen
Polarkreis in den Wintermonaten zu leben, fand ich äußerst reizvoll,
und das war es auch. Ich habe Nordlichter und Rentiere gesehen,
hatte angefrorene Wimpern vom Fahrradfahren bei minus 18 Grad
und die obligatorischen Eisfüße. Aber dafür gibt es in meiner Erinnerung auch wunderbare Eindrücke von riesigen Eisschollen am Strand
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FINNLAND
und unvergesslichen Sonnenuntergängen um zwei Uhr mittags. Ich
habe auch erlebt, dass selbst im Dezember in Finnland der Schnee bis
auf einen zusammengeschobenen Restschneehaufen schmelzen
kann. Wenn es mir zu kalt wurde, konnte ich mich jederzeit in der
hauseigenen Sauna des Studentenwohnheimes aufwärmen. So wurden gemeinsame Saunaabende mit meinen Mitbewohnern eine feste
Größe in meinem Alltag. Hier kamen wir zusammen und redeten am
Anfang über unsere ersten Erlebnisse und später über anstehende
Projekte und Prüfungen.
Wir haben auch viel gemeinsam unternommen. Es gab Ausflüge
zum Weihnachtsmann-Dorf in Rovaniemi, zu Vogelbeobachtungen
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JUTTA SINGER
an der Küste und in die größeren Städte Südfinnlands, z. B. Helsinki,
Turku oder Tampere. Von meinen Mitbewohnern habe ich viel darüber erfahren, wie sie Deutschland sehen. Sie hatten viele Fragen zur
Einheit und »wie das nun war mit Berlin und der Mauer«. Dass der
westliche Teil von Berlin wirklich wie eine Insel in einem anderen
Staat gelegen hatte, konnten sie sich nur schwer vorstellen. Sehr einprägsam war für mich, zu erleben, dass sie sich viele Gedanken über
ihre Zukunft in ihren Heimatländern machten. Ich hatte bis zu
diesem Zeitpunkt noch nicht so viel über Chancen und mögliche
Probleme, eine Arbeit zu finden, nachgedacht. Seitdem blieb der
Eindruck aber in mir hängen, dass es trotz aller Schwierigkeiten, die
es in Deutschland gibt, in anderen Ländern bedeutend mehr Probleme im Alltag zu überwinden gilt. Die Tatsache, dass viele Osteuropäer
meines Jahrgangs als erste Fremdsprache Deutsch lernen, überraschte mich sehr.
Im Anschluss an meinen Auslandsaufenthalt konnte ich feststellen, dass ich nicht nur sehr viel über Finnland und die finnische
Kultur erfahren habe, sondern dass sich gleichzeitig auch meine Eindrücke von der europäischen Vielfalt Europas durch das Zusammenleben mit den anderen Austauschstudenten vervielfältigt haben. Ich
finde es wunderbar, in einem internationalen Umfeld sowohl beruflich als auch privat zu leben. Neben meinen Freundschaften und
Bekanntschaften mit anderen ERASMUS-Studenten habe ich auch
einige nette Finnen kennen gelernt. Die schönste Begegnung war auf
einem Ausflug zu einer nahe gelegenen Insel, als die Zugvögel auf
ihrer Reise nach dem Süden dort haltmachten. Mit einer Freundin
aus Japan nahm ich daran teil. Wir fielen natürlich sofort als NichtEinheimische auf und verbrachten einen schönen Tag mit finnischen
Naturfreunden und der Vogelbeobachtung per Fernglas und selbst
geräuchertem Fisch zum Lunch. Abends trafen wir uns dann noch zu
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Dinge auf den Punkt zu
bringen und Probleme klar
zu strukturieren, ist eine
Stärke der Deutschen.
Dafür sind wir teilweise
vielleicht doch zu sehr auf
die Sache konzentriert und
vernachlässigen die Bedeutung
des Zwischenmenschlichen
im Berufsleben.
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JUTTA SINGER
einem Salmiakki (finnischer Lakritzschnaps). Vielleicht lag es an der
selteneren Gelegenheit im Norden von Finnland, Menschen von
außerhalb zu treffen, aber wann immer die jungen Leute darauf aufmerksam wurden, dass ich nicht aus Finnland kam, waren sie sehr
herzlich, aufgeschlossen und interessiert, mich und meine Freunde
näher kennen zu lernen.
Für die Person, die ich heute bin, war mein kurzes Leben in Finnland
wichtig und formend. Zwar habe ich auch während meines Studiums
in Deutschland selbständig, von meinem Elternhaus abgenabelt
gelebt, aber das in einem fremden Land zu tun mit einer Landessprache, die man nicht spricht, ein paar Kilometer weiter von Zuhause
weg, ist noch einmal etwas anderes. Mein Auslandssemester hat mich
gestärkt und mir gezeigt, dass ich fähig bin, mich auf viele unterschiedliche Menschen und Situationen einzustellen. Sich mit 23 Jahren ein Zimmer mit einem völlig fremden Menschen zu teilen oder
im Supermarkt plötzlich vor dem Regal zu stehen und keine Ahnung
zu haben, welches von den Tetrapacks nun die Milch ist, hat mir
gezeigt, dass ich mit Humor und Aufgeschlossenheit das Beste aus
jeder Situation herausholen kann. So kann ich heute sagen, dass ich
mich gerne unbekannten Situationen stelle und die damit verbundenen Herausforderungen gerne annehme. Ich denke, das liegt daran,
dass ich mit meinem Abenteuer Finnland so viele schöne Erinnerungen verbinde. In meinem Berufsleben, im Vertrieb eines mittelständischen Unternehmens im Onlinemarketing, habe ich fast täglich mit
ganz unterschiedlichen Menschen zu tun, die individuell beraten werden wollen. Morgens ist noch nicht abzusehen, welche Ereignisse der
Tag bereit hält und oft leitet mich meine Intuition. Beim Small Talk
sowie für tiefer greifende Gespräche ist es für mich sehr hilfreich,
dass ich trotz meines jungen Alters situationsbedingt reagieren kann
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und mich sicher im Umgang mit Menschen fühle. Vor allem bei
Geschäftsgesprächen, die nicht in Deutsch geführt werden, profitiere
ich von der seit Finnland mir vertrauten Fähigkeit, mich in Englisch
auszudrücken. Mein Auslandsaufenthalt in Finnland hat mir gezeigt,
dass es der beste Weg ist, auf Leute einfach zuzugehen und authentisch zu sein. Gesprächsthemen und die sehr wichtige Sympathie im
Geschäftsleben ergeben sich dann meist von ganz allein.
Durch Niederlassungen der Firma im europäischen Ausland sowie
den USA und China stehe ich auch mit Kollegen anderer Kulturen
und Nationen in Kontakt und arbeite mit ihnen an kleinen Projekten.
Es ist oft deutlich, dass wir ganz unterschiedliche Ansätze haben, eine
Aufgabe anzugehen, und dass wir in der Kommunikation miteinander andere Schwerpunkte setzen. Ich möchte jetzt keine altbekannten
Klischees aufzählen, nur soviel: Dinge auf den Punkt zu bringen und
Probleme klar zu strukturieren, ist eine Stärke der Deutschen. Dafür
sind wir teilweise vielleicht doch zu sehr auf die Sache konzentriert
und vernachlässigen die Bedeutung des Zwischenmenschlichen im
Berufsleben. Ich bin mir dieser Tatsache bewusst und versuche
immer, etwas gegen zu steuern.
Wieder einmal für eine längere Zeit im Ausland zu leben, reizt mich
heute noch genauso wie damals. Dass ich nun in einem Unternehmen
arbeite, das international agiert und Zusammenarbeit mit Kollegen
anderer Nationalitäten bietet sowie ein Austauschprogramm für die
Mitarbeiter bereit hält, ist vorerst ein schöner Kompromiss. Oulu war
eine sehr schöne Zeit in meinem Leben und einen Teil davon werde
ich mir immer bewahren.
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MARIO ZETZSCHE
MARIO ZETSCHE, GEB. 1980 IN POTSDAM. BACHELOR IN WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFTEN
(KULTUR UND MANAGEMENT ) AN DER FH ZITTAU/GÖRLITZ. ERASMUS-AUFENTHALT:
OKTOBER 2002 BIS MÄRZ 2003 VILNIUS ACADEMY OF FINE ARTS, VILNIUS, LITAUEN.
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LITAUEN
Was fremd ist, danach
hat man Gelüst
Studienwahl des Auslandssemesters
Integraler Bestandteil meines absolvierten Bakkalaureusstudiums
»Kultur und Management« an der Hochschule Zittau/Görlitz (FH)
ist ein akademischer Auslandsaufenthalt im dritten Semester von
Oktober 2002 bis März 2003.
Die Lage von Görlitz als Studienort ist ein Aufruf, weiter nach
Osten zu blicken. Görlitz ist nicht nur die östlichste Stadt Deutschlands mit liebevoll restaurierter Altstadt, gleich über den Grenzfluss
Neisse hinweg liegt das lebendige polnische Gegenstück Zgorcelec.
Dieser Stadtbereich zeugt von Geschäftigkeit und Aufbruch. Der
Studiengang hat früh erkannt, welches Potential ein Blick über die
Grenze und weiter in die neuen EU-Ostmitgliedsstaaten in sich birgt.
Die verschiedenen Matrikel des Studienganges zeugen daher von polnischen, tschechischen oder beispielsweise lettischen Kommilitonen.
Nach den ersten zwei intensiven Semestern mit Projekten, Workshops, Vorlesungen und studentischem Leben, durch die Görlitz
vertraut geworden ist und aus Fremden Freunde geworden sind, wird
es Zeit, neue Sicht- und Lebensweisen kennen zu lernen. In diese
Phase passt hervorragend ein Auslandssemester! Während der überwiegende Teil meiner Kommilitonen den Süden Europas, Neapel,
Italien, oder Salamanca, Spanien, als Ort für das Auslandssemester
bevorzugte, zog es letztlich nur die wenigsten Interessenten nach Ost-
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MARIO ZETZSCHE
europa. Tschechien, Polen, Rumänien und Litauen wurden schließlich als Ziel nur von Wenigen gewählt, die als ›sonderbar‹ galten.
Aber ist der Wunsch, diese Länder zu wählen, so eigenartig?
Mein Ziel war es, ein Land zu erkunden, das zu den jungen aufstrebenden EU-Mitgliedsländern gezählt wird, immense Umbrüche
erfahren hat, von dem aber oft hinreichende Kenntnisse fehlen. Was
könnte also mehr locken, als ein Land für das Auslandssemester zu
wählen, das sich im Übergang zu unterschiedlichen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Formen befindet? Mittlerweile ist es
kaum mehr möglich, die Nachrichten über Osteuropa zu verdrängen.
Innovative Reformbestrebungen, wirtschaftlicher Aufschwung mit
atemberaubenden Quoten, Investitionseifer deutscher Unternehmen,
aber auch soziale Missstände, Korruption und politische Querelen
sind nicht mehr aus der Medienlandschaft zu verbannen. Aber wie
sind die Bedingungen vor Ort und welche Hürden sind zu überwinden bzw. welche Richtung nimmt die Veränderung? Eine Mischung,
die sicher keine Sommerstrand-Atmosphäre verspricht, dafür aber
viel Energie, Aufbruchstimmung und Eigeninitiative verlangt.
Italien oder Spanien schienen mir daher keine wirkliche Alternative
zu sein. Mein Entscheidung fiel damit auf die litauische Hauptstadt
Vilnius und die Vilnius Academy of Fine Arts.
Weiterhin lockte mich als Bachelorstudent das Angebot, in einem
Masterstudiengang zu studieren und damit eine akademische Steigerung zu erfahren. Ein Argument war auch, dass der Studiengang
UNESCO Chair for Culture Management and Culture Policy durch die
UNESCO gefördert und damit durch eine hoch renommierte Kulturinstitution unterstützt wird. Die Vilnius Academy of Fine Arts war
ebenso eine akademische Perle. Was kann es Besseres geben, als als
Kulturmanager an einer Kunstakademie zu studieren, wenn das
Interesse der bildenen Kunst gilt?
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Es gehört auch zum Studienprogramm in Görlitz, eine slawische
Sprache zu lernen. Da ich Russisch gewählt hatte, war es meine Hoffnung, mit dem Aufenthalt auch diese Sprachkenntnisse auszubauen.
Unterstützung
Die finanzielle Seite eines Auslandsaufenthalt ist nicht unerheblich
und soll daher auch Erwähnung finden. Da der Aufenthalt integraler
Bestandteil des Studiums war, wurde schon langfristig das Hochschulamt für Auslandsangelegenheiten eingespannt. Informationen
zu den Ländern, den Hochschulen und den Finanzierungshilfen wurden vermittelt. So wurden wir mit dem ERASMUS-Programm
bekannt, mit dessen Unterstützung ich das Wintersemester 2002/
2003 in Vilnius, der Hauptstadt Litauens, verbringen konnte.
Erfahrungen
Für viele Bekannte und Freunde in der Heimat gehörte es zu den
Standardfragen, ob ich denn nun Russisch sprechen könnte. Interessant, dass dies einer meiner eigenen Gründe war, das Land zu wählen.
Während des einmonatigen Sprachkursaufenthaltes in Kaunas im
Sommer 2002 wurde mir allerdings sehr schnell bewusst, dass Litauen nicht geeignet ist, um Russisch zu lernen. Von dieser Vorstellung
habe ich mich also schnell gelöst. In Litauen spricht man Litauisch –
eine so simple wie folgenreiche Erfahrung. Auch wenn der Sprachkurs in jeglicher Hinsicht ein Erfolg war – hier lernte ich Freunde
kennen, zu denen ich immer noch engen Kontakt pflege –, ist doch
klar zu unterstreichen, dass es die Sprache in sich hat. Erleichtert
wird aber jeder, der sich auch nur marginal damit beschäftigt, feststellen, dass es immer wieder ein Türöffner ist, wichtige Redewen-
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dungen und Alltagsbegriffe zu beherrschen. Es wird leichter, den
Einheimischen ein Lächeln zu entlocken und Alltagshürden erfolgreich zu meistern. Auf der anderen Seite sprechen viele Litauer sehr
gut Englisch und nicht wenige Deutsch. Betrachtet man allerdings die
Größe Litauens mit seinen knapp 3,5 Mio. Einwohnern, kann die
Kenntnis auch als Wissensnische verstanden werden, die, ergänzt um
Russischkenntnisse, sicher für internationale Unternehmen attraktiv
ist. Beeindruckend empfand ich das Verhältnis der litauischen
Studenten zum Studium. In Litauen ist es üblich, eine Studiengebühr
zu zahlen mit, verglichen mit deutschen Verhältnissen, hohen Gebühren. Im Falle meines Kurses betrug die Semestergebühr 2000 USD.
Ein Betrag, der unter den Lebensverhältnissen vor Ort eine erhebliche
Hürde darstellt. Meine Kommilitonen teilten sich damit in Studenten
aus wohlhabenden Verhältnissen und Studenten, die sich das Studium
selbst finanzieren mussten. Eine staatliche Förderung – wie in
meinem Fall – fällt sehr bescheiden aus. Dies hatte zur Folge, dass das
Studium zwangsweise eher nebenher, neben der Arbeit und der
Familie absolviert wird. Erstaunlich war auch, dass sehr oft nicht nur
einer Arbeitstätigkeit, sondern bis zu drei Erwerbsarbeiten nachgegangen wurde und trotzdem studentische Projekte möglich waren.
Ein bleibender Eindruck, der mich nach meinen eigenen Leistungen
fragen läßt. Mir wurde damit vor Augen geführt, welche Möglichkeiten hingegen deutsche Studenten haben, einen Studienplatz zu
belegen und sich auf das Studium zu konzentrieren. Meine eigene
Motivation, mich außerhalb des Studiums zu engagieren und beruflich tätig zu werden, wurde hier erst richtig gefördert. Eine der sicher
wertvollsten Erkenntnisse für meine berufliche Laufbahn.
Die geforderte Flexibilität, die hier abverlangt wird, ist in einigen
Punkten als absolutes Plus zu verbuchen. Die häufig berufliche Tätigkeit der Dozenten fördert ein Maximum an beruflicher Nähe, zeigt
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LITAUEN
aber dennoch schnell die Grenzen auf. Es ist immer noch Praxis, dass
das akademische Personal so schlecht bezahlt wird, dass es üblich ist,
Tür an Tür mit den Lehrkräften im Studentenhostel zu wohnen oder
dass die Studenten sehr oft dem Studium fern bleiben, um nicht den
Arbeitsplatz zu verlieren.
Da ich das Studium an der Kunstakademie in Vilnius wegen der Nähe
zu den jungen Künstlern gewählt hatte und ich sehr an zeitgenössischer Kunst interessiert bin, war es einfach, hier Kontakte zu knüpfen. Die enge Verbindung des Studiengangs zu Kunst- und Kulturinstitutionen hat es dann ermöglicht, dass ich meinen Wunsch wahr
machen konnte, am Contemporary Art Centre in Vilnius drei Monate
ein Praktikum zu absolvieren. Dieser Einblick hat mir geholfen, interessante Kontakte zu knüpfen, die ich bis heute aufrecht erhalten
konnte und die ich nun durch meine Tätigkeit in Riga für die Planung
des Museums für Zeitgenössische Kunst Lettlands nutzen konnte. Ich
denke, dass diese zusätzliche Erfahrung ein großer Gewinn war, der
mich näher an den Lebensalltag der Litauer gebracht und mir einige
Erfahrungen im Fundraising ermöglicht hat. Diese zusätzliche Erfahrung kann ich nur empfehlen. Nicht nur die Sichtweise eines
lockeren Auslandsaufenthaltes wird spätestens hier gebrochen, auch
unterschiedliche Arbeitsweisen können erfahren werden.
Der Lebensalltag außerhalb des Studiums und des Praktikums war
auch sehr erlebnis- und erkenntnisreich. Ich lernte hier einheimische,
aber auch finnische, deutsche, lettische oder japanische Freunde
kennen, mit denen ich nach wie vor engen Kontakt pflege und die ich
auch in beruflichen Fragen konsultieren kann. Eine sehr gute Freundschaft hat sich zu einer litauischen Mitstudentin entwickelt, die dann
ein Auslandssemester an meiner Hochschule in Görlitz absolviert hat
und nun dauerhaft im Kultursektor in Deutschland tätig ist. Sie hat
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durch ihren Auslandsaufenthalt ein so starkes Interesse für Deutschland entwickelt, wie ich es durch mein Semester in Vilnius für die
baltischen Länder entwickelt habe.
Während des litauischen Sprach- und Kulturkurses haben wir Exkursionen zu wichtigen litauischen Kulturstätten unternommen und
so die bewegte Geschichte des Landes kennen gelernt. Dabei sticht
besonders der Stolz der Litauer auf ihren Großfürsten Mindaugas im
13. Jahrhundert hervor, der als einziger König in die litauische Geschichte einging und durch die Einigung der fünf Fürstentümer
Litauens berühmt wurde. Weiterhin sind die Kurische Nehrung mit
ihrem feinen Sandstrand und die Besichtigung des Thomas MannHauses, der Berg der Kreuze, aber auch die UNESCO-geschützte
Altstadt von Vilnius erwähnenswert. Die Jazzkneipen, das Künstlerviertel Uzupis, die Schriftstellerbar und das CAC sind dabei ein Muss.
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LITAUEN
Berufswahl
Das Praktikum im Contemporary Art Centre (CAC) von Januar bis
Februar 2003 in Vilnius war ein Türöffner, um weitere Projekte
und Tätigkeiten mit praktischen Erfahrungen und Kontakten zu
verbinden. Deshalb konnte ich in Deutschland zur Erstellung eines
Wirtschafts- und Marktingkonzeptes des Sächsischen Industriemuseums beratend meine Erfahrungen einbringen und stieß auf
Interesse bei der »documenta und Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH«, bei der ich dann ein Praktikum absolvierte. Das
Auslandssemesters an der Vilnius Academy of Fine Arts und das
Praktikum im CAC hilft mir momentan als Türöffner, um leichter
mit Künstlern und Kulturorganisatoren aus Litauen in Kontakt zu
kommen.
Da sowohl die Akademie als auch das CAC einen exellenten Ruf auch
über die Grenzen genießen, ist es nicht schwer, mit diesen Auslandserfahrungen auf Interesse zu stoßen.
Mein Interesse hat mich nun wieder in die baltischen Länder
geführt, anfänglich wegen des Aufbaustudiums im internationalen
Masterstudiengang »Medien- und Kulturmanagement« an der lettischen Kulturakademie. Während dieser Zeit hat sich eine Stelle bei
der State Agency »The New Three Brothers« bei dem Museum für
zeitgenössische Kunst im Sammlungsaufbau als Sammlungsmanager
ergeben. Die Stelle wird von der Alfred Toepfer Stiftung F.V.S. durch
ein Fellowship für Innovation in der Kultur gefördert. Damit kann ich
nun auf meine baltische Spezialisierung verweisen, da ich nicht nur
hier arbeite, sondern der Sammlungsfokus auf den gesamten Ostseeraum ausgedehnt ist. Wie üblich, bin auch ich neben dieser Tätigkeit
an weiteren Projekten beteiligt, um immer wieder ein Standbein zu
gewinnen. Die berufliche Perspektive, die sich mir hier bietet, hätte
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ich in Deutschland sicher nur schwer erhalten, wenn ich die aktuellen
Diskussionen um die Generation »Praktikum« verfolge. Dies zeigt
allein die Tatsache, dass hier der Begriff des Praktikanten nicht
bekannt ist. Es gibt nach wie vor Bedarf an qualifizierten Mitarbeitern, um Wachstumsperspektiven der einheimischen und internationalen Unternehmen zu erfüllen. Dabei ist auch die Akzeptanz
für junge Mitarbeiter in Führungspositionen hoch. Diese Kombination macht es möglich, dass ich nun ehemalige litauische, aber
auch meine aktuellen lettischen Kommilitonen in beachtlichen Positionen antreffe.
Litauen, ein Land für diejenigen, die in Görlitz als Sonderlinge
angesehen wurden? Sicher nicht, betrachtet man die aufgeführten
Chancen. Flexible Studienmöglichkeiten, wertvolle Lebenserfahrungen und exellente Berufsaussichten sind hier möglich und werden
sicher jeden in den Bann ziehen, der ein wenig Eingeninitiative zeigt
und experimentierfreudig ist.
Daher möchte ich dem DAAD sehr herzlich für die Unterstützung
dieses ›Abenteuers‹ danken.
Das Bisherige versperrt
dem Kommenden den Weg.
Die Gegenwart ist die Zukunft.
Die Ziele sind am ehesten auffindbar,
wenn man gar nicht an sie denkt.
Robert Walser
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LITAUEN
Die berufliche Perspektive,
die sich mir hier bietet,
hätte ich in Deutschland
sicher nur schwer erhalten,
wenn ich die aktuellen
Diskussionen um die
Generation »Praktikum«
verfolge.
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PORTUGAL
Ein deutschportugiesischer Spagat
Meine erste große Fahrt, die mich als Anderthalbjährigen nach Brasilien brachte, ist mir nicht in Erinnerung geblieben. Fotos zeugen
davon, wie ich als Kind mit meinem Bruder unter Aufsicht unserer
Mutter auf dem Ozeandampfer spiele. An viele Ereignisse meines
ersten knapp siebenjährigen Auslandsaufenthalts im Süden Brasiliens kann ich mich jedoch noch sehr gut erinnern. Eingeschult
wurde ich in São Leopoldo, dort ging ich anderthalb Jahre auf eine
brasilianische Schule, ehe meine Familie zurück nach Deutschland
zog und ich erneut ein Fremder war, selbst in meinem Geburtsland,
das aber im Laufe der Zeit meine erste Heimat wurde. Als vorteilhaft
erwies sich, dass unsere Eltern seit jeher nur deutsch mit uns gesprochen hatten, so konnte ich meine Muttersprache besser lernen und
beherrschte sie bald. Seit diesem ersten Aufenthalt in Südamerika ist
unsere Familie in beiden Kontinenten beheimatet.
Ein zweiter Aufenthalt in Brasilien, diesmal nur für sechs Monate,
zwang mich als Zwölfjährigen erneut, die Umwelt mit den Augen
eines Fremden zu sehen. Auch der Besuch der Schule war ein neues
Abenteuer, auf das ich mich einlassen musste. Die Zeit in Brasilien
hat mich so entscheidend geprägt, dass ich mich viele Jahre später,
nach Abschluss meines Studiums in Essen, entschloss, zu meiner
damaligen Freundin nach Rio de Janeiro zu ziehen. Inzwischen sind
wir verheiratet und haben einen kleinen Sohn, der beide Staatsangehörigkeiten besitzt und beide Sprachen lernt – sowohl die deutsche
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als auch die brasilianische. Ich arbeite als Assistent in der Bibliothek
des Goethe-Instituts, wo ich Auskunft über die deutsche Kultur gebe.
Ohne meine Brasilien-Erfahrungen als Kind wäre ich nicht gelandet, wo ich jetzt bin. Ohne mein Auslandsjahr als ERASMUS-Student
in Coimbra, Portugal, sicherlich auch nicht. Warum ich gerade Coimbra ausgesucht habe? Eigentlich ein Zufall. Ich hatte während des
Studiums schon länger den Wunsch verspürt, mal wieder in ein anderes Land zu gehen. Eine Bewerbung beim DAAD um ein Stipendium
nach Australien blieb leider erfolglos. Glück hatte ich jedoch, dass ich
einen Tag vor Bewerbungsschluss den Aushang sah, der zu einem
Auslandsjahr mit dem ERASMUS-Programm in Europa einlud. Angeboten wurde auch, nach Portugal zu gehen, was sich aufgrund meines Lebenslaufs geradezu anbot. Ein kurzes Gespräch mit Herrn
Krauss, dem damaligen ERASMUS-Beauftragten der Uni Essen, das
Einreichen der erforderlichen Bewerbungsunterlagen am folgenden
Tag, und schon war mein nächster Auslandsaufenthalt gebucht, da
nicht genügend Studenten den Absprung wagen und viele ERASMUS-Partneruniversitäten weniger Bewerber als Stellen haben, da
die meisten Interessenten entweder nach England oder Irland wollen.
Außerdem war ich nicht liiert, was sich ebenfalls als Glücksfall herausstellte, weil ich mich womöglich sonst nicht losgeeist hätte.
Während der Schul-, Zivildienst- und Studienzeit war ich immer
wieder verreist, war in fast allen Ländern Europas gewesen, war in
Asien, Nord- und Südamerika unterwegs, hatte mehr als 40 Länder
bereist. Trotzdem bekam die Zeit als Austauschstudent in Portugal
ein ganz besonderes Gewicht, und das aus vielerlei Gründen. Zunächst
war da meine nicht ganz gewöhnliche Anreise mit dem Fahrrad:
3600 km radelte ich bis zu meiner neuen Uni, ein unglaubliches
Erlebnis, das mir Selbstvertrauen gab, auch schwierige Aufgaben zu
bewältigen, mir zudem die Grenzen meiner physischen Belastbarkeit
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und ein Gefühl für die europäische Weite bescherte. Noch wichtiger
war die Zeit als Student in einem anderen Land; sie lehrte mich,
Deutschland und Europa aus einem anderen Blickwinkel (gewissermaßen von unten her) zu betrachten. Zwar sitzt Portugal gleichermaßen wie Deutschland im europäischen Boot, ist aber wirtschaftlich
gesehen eher am anderen Ende anzusiedeln. Und dennoch spürte
man eine Euphorie, da der wirtschaftliche Aufschwung nach der Militärdiktatur langsam eingesetzt hatte und sich das Land seit den 80er
Jahren allmählich befreit und moderner wird. Als Student lebt man
an einem Ort, hat viel mehr Zeit, sich an die Verhältnisse zu gewöhnen, bekommt ein intensives Gefühl für eine Stadt und das Land, das
man als Reisender nicht erhält, da man als solcher von einer ständigen Aufbruchstimmung getrieben wird. Bleibt man jedoch an einem
Ort, lernt man die Bewohner des Landes kennen, hat selber eine feste
Adresse, die zu einem richtigen Zuhause wird, freundet sich mit Studenten an, lernt ihre Sitten kennen und gewinnt dadurch z.B. einen
Einblick in eine ganz andere Lebensweise, die den deutschen Studenten doch sehr fremd ist. Feste Klassengefüge, gemeinsame Feiern,
gemeinsames Sparen über die gesamte Studienzeit auf das große
Abschiedsfest hin, gemeinsames Lernen der Kommilitonen, Treffen
in Restaurants, traditionsreiche Kleiderordnungen, Fado-Musik und
andere Rituale gehören zu den studentischen Aktivitäten, die den
meisten deutschen Studenten fremd sein dürften.
Die zehn Monate in Coimbra werde ich nie vergessen, sie waren
unwahrscheinlich schön. Noch heute fallen mir viele spannende
Geschichten ein, es war ein lehrreiches und ergiebiges Jahr. Beispielsweise wurde ich während der Karnevalszeit überfallen, mitten in der
Nacht. Ich ging sofort zur Polizei, die den Täter kurze Zeit später
schon dingfest gemacht hatte und mir meine Wertsachen zurückgab.
Auch suchten die Polizisten um 4 Uhr morgens mit mir nach dem
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PORTUGAL
Erinnerungsfoto meiner Freundin, das ich immer bei mir trug, das
aber während des Überfalls aus meinem Portemonnaie gefallen war.
Eigentlich kein schönes Erlebnis, aber interessant war doch, dass die
Vorladung zur Polizei im Briefkopf mit einer Adresse versehen war,
die seit zwei Jahren nicht mehr stimmte. Diese Art von Informationsschwierigkeiten begegnen mir auch hier in Brasilien ständig; ich habe
in Portugal gewissermaßen meine Lehrjahre absolviert. Auch andere
unkonventionelle Verhaltensweisen begegneten mir: so hatten wir
über die gesamte Zeit keinen Mietvertrag, er war nur mündlich, per
Handschlag und bei einigen Gläsern Wein besiegelt worden. Die Abschiedsfeste der ERASMUS-Studenten, die im Laufe der Zeit zu einer
großen Familie zusammengewachsen waren, erwiesen sich ebenfalls
als außerordentlich lustig. »Kommst du auch zur Party heute Abend?«
»Klar, ich bin ja selber der Gastgeber!«, so hieß es in der letzten
Woche vor der Abreise. Schließlich meldeten sich statt der geplanten
40 Leute etwa 150 an, so dass wir die Party kurzerhand auf die Straße
verlegen mussten. Ohne Genehmigung und ohne Elektrizität, aber
dafür mit Calimocho und bester Laune, bis die Polizei unsere friedliche Versammlung auflöste, als die alkoholischen Getränke gerade
alle waren.
Und schließlich konnte ich während meines Auslandsstudienjahres meine Portugiesischkenntnisse aufbessern, da ich während der
vielen Jahre in Deutschland doch einiges vergessen hatte und auch
feststellen musste, dass meine Grammatik zu wünschen ließ. Neben
der portugiesischen Perspektive erfährt man auch noch einiges über
andere Kulturen, da gerade diese von mir ausgesuchte Stadt Scharen
von ERASMUS-Studenten aus fast allen europäischen Ländern
anzieht. Nicht nur das: auch Japaner, Angolaner und – Sie werden es
erraten – Brasilianer trifft man dort, es ist ein kultureller Meltingpot,
in dem ich mich unglaublich wohl gefühlt habe.
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DENNIS GERSTENBERGER
Den Heimweg nahm ich erneut radelnd in Angriff, gab aber aus zeitlichen Gründen auf halbem Weg auf, denn meine heutige Frau, die
ich Jahre zuvor bei einer Reise kennen gelernt hatte, erwartete mich
in Brasilien. Aus der fünfeinhalbjährigen platonischen Brieffreundschaft entwickelte sich mehr, wir waren ein Paar und zunächst doch
getrennt, da ich mein Studium noch nicht beendet hatte. Drei Jahre
lang sahen wir uns wenig, da sie in Brasilien und ich in Deutschland
lebte. Im Endspurt meines Studiums in Essen hatte ich auch dem
Angebot von Herrn Krauss, ERASMUS-Beauftragter zu werden, nicht
widerstehen können. Von 2001 an bis zu meinem Studienabschluss
betreute ich ERASMUS-Gaststudenten in Essen, gab ihnen praktische
Hilfe bei der Ankunft und bot zudem ein Landeskundeseminar an,
um unseren Gästen die Kultur des Ruhrgebiets näher zu bringen.
Ohne die Erfahrungen, die ich als Gaststudent in Coimbra gemacht
hatte, hätte ich den Job nicht annehmen können, denn ich konnte
mich gut in die Situation der ERASMUS-Studenten hineinversetzen
und wusste einigermaßen, was sie brauchen und wie ihr Leben als
Fremde ablaufen würde.
Glück hatte ich auch, dass ich bei einem meiner Kurzurlaube in
Brasilien das Goethe-Institut in Rio de Janeiro aufsuchte und mich
dort um einen Praktikumsplatz bewarb. Meine Kenntnis beider
Kulturen, die relativ guten Portugiesischkenntnisse, die Aufgeschlossenheit auch schwierigen Situationen gegenüber und der Wille,
Deutschland auch für ein Gehalt als Ortskraft zu verlassen, gaben mir
die Möglichkeit, zunächst ein Praktikum, dann eine feste Stelle im
Institut anzunehmen. Wer hätte gedacht, dass ich einst als Bibliothekar arbeiten würde? Dabei stand schon in den Blättern zur Berufskunde des Berufsinformationszentrums, die ich vor vielen Jahren
während der Schulzeit erhielt, dass die meisten Philosophen nach
Abschluss des Studiums als Lehrer tätig werden. Gleich gefolgt von
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PORTUGAL
der Gruppe der Bibliothekare. Konkrete Vorstellungen hatte ich zugegebenermaßen nicht, als ich mich für das Studium der Philosophie
immatrikulierte. Heute aber zehre ich von meinem Studium genauso
wie von den vielen Auslandsaufenthalten, die mir das Leben in einem
fremden Land vereinfacht haben.
Der Wunsch, weitere Länder kennen zu lernen, lebt in mir weiter.
Bestimmt werde ich einst aus Brasilien fort gehen, ich würde gerne
zurück nach Europa, eventuell nach Portugal. Spanien wäre ebenfalls
schön, auch wenn ich da anfangs Verständigungsschwierigkeiten
hätte. Portanhol spreche ich aber schon, dank meines Jahres in Coimbra, da ich mit zwei Spaniern in einer WG wohnte und durch sie die
spanische ERASMUS-Fraktion kennen lernte. Ich bin selber gespannt, wohin mich mein Leben noch führen wird. Eine endgültige
Entscheidung, wo es mir am besten gefällt, habe ich nicht getroffen
und werde dies wahrscheinlich auch nie tun.
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Gudrun Chaz
otte,
geb. 1968 in
Münster.
Magister in
Geschichte,
Politikwisse
nschaft
und Spanisch
an der
Universität
zu Köln.
ERASMUS-Aufe
nthalt:
WS 1992/ 93
an der
Universität
Salamanca,
Spanien.
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SPANIEN
No me digas! Mit ERASMUS
in Salamanca
In Spanien studieren? Immer, jederzeit, aber wie?
Als Magisterstudentin mit Spanisch im Nebenfach wollte ich das
viel zitierte Land für eine längere Zeit hautnah erleben. Welche Möglichkeiten gab es?
Ganz auf eigene Faust? Stipendium beantragen?
Ich habe mich für ERASMUS entschieden, den Weg so zwischendrin.
Ein ERASMUS-Stipendium verlangt Mühe, akzeptable Leistungen,
ausgefüllte Formulare und ein Vorstellungsgespräch beim Akademischen Auslandsamt. Der Aufwand schien mir, wie so vielen anderen
Studierenden auch, vertretbar. Partnerstadt der Universität Köln im
ERASMUS-Programm war Salamanca, eine mittelgroße Stadt in Zentralspanien. Die Hochschule hat einen guten Ruf und eine ruhmreiche Geschichte. Zudem wird in der Region das »reine« Spanisch
gesprochen, kein Dialekt. Eine gute Wahl für meinen Auslandsaufenthalt. Entsprechend freute mich der Bewilligungsbescheid sehr,
ebnete er mir doch den Weg ins »gelobte Land«.
Wegbereiter ERASMUS
Woran erkennen Sie ERASMUS-Stipendiaten zu Semesterbeginn in
Salamanca? Sie gehen lässig an den Warteschlangen zur Einschreibung vorbei, denn die Formalitäten sind bereits geregelt. Das ist der
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ganz große Vorteil dieses Stipendiums. Die finanzielle Unterstützung
ist gering, enthält aber doch Bonbons wie einen Intensivsprachkurs
zu Beginn des Aufenthalts. Dicht gedrängt mit vielen anderen ausländischen Studierenden bereiteten wir uns auf die sechsmonatige
Studienzeit vor.
Salamanca ist international. Ich habe dort problemlos Menschen
aus zahlreichen Ländern kennen gelernt. Es existiert eine große
multinationale Gemeinschaft, die genug Kontakte für das soziale
Wohlbefinden bietet. Spanier finden sich in dieser Gruppe allerdings
selten. Immerhin galt Spanisch als gemeinsame Sprache, meistens
jedenfalls.
Ein Leben vor ECTS
Das Studium in Spanien gleicht in vielen Aspekten eher dem Schulunterricht als dem Vorlesungsbetrieb in Deutschland. Die Inhalte
waren teils sehr interessant, der Unterricht auf Spanisch in jedem Fall
ein fachlicher Gewinn.
Studientechnisch war dieser Auslandsaufenthalt allerdings ohne
großen Nutzen. Anders als im System von Bachelor- und Masterstudiengängen ist im Magisterstudiengang die Abschlussprüfung beim
Professor an der deutschen Hochschule maßgeblich. Es wurde mir
dringend angeraten, wenigstens ein Hauptseminar bei diesem Prüfer
an der Universität Köln abzulegen. Ich brauchte nur einen Schein im
Nebenfach Spanisch, warum also viel Zeit und Mühe darauf verwenden, eine zusätzliche Prüfung in Salamanca abzulegen? Mir ging es
darum, Land und Leute kennen zu lernen. Im normalen Hochschulbetrieb war das eher schwierig, auch weil die spanischen Studierenden meiner Kurse vielfach deutlich jünger waren. Andere Wege
waren gefragt.
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Ich rege mich nicht mehr so
leicht über Menschen auf,
die sich »anders« verhalten.
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GUDRUN CHAZOTTE
Singen und Wohnen, Wege zum Ziel
Der Universitätschor von Salamanca und die Camerata Vocal wurden
mir zur zweiten Heimat bei meinem Aufenthalt. Wir probten und
gingen danach gemeinsam in unsere Bar. Ich habe Freunde gefunden,
mit denen ich auch die Wochenenden verbringen konnte. Stets in
Erinnerung bleiben sicher durchfeierte Nächte in diversen Salsa-Bars.
Über diese Kontakte kam ich auch zu einer Wohngemeinschaft(WG),
in der immerhin zwei Spanier lebten. Kochrezepte lernte ich kennen,
spanische Umgangsformen und insbesondere bekam ich Einblicke in
die spanische Mentalität. So lernte ich wichtige kleine Unterschiede
im Verhalten zu deuten und zu verstehen. Wirklich integriert in die
spanische Gesellschaft war ich aber nie. Ich wurde herzlich aufgenommen und habe durch Chor und WG viel persönliche Zuwendungen erhalten, blieb aber immer Gast im Land.
Auslandsaufenthalte prägen.
Manchmal mehr, manchmal weniger
Ich spreche fließend Spanisch, das ist ein messbarer Erfolg meines
Auslandsaufenthaltes. Ebenso wichtig ist aber aus meiner Sicht, dass
ich interkulturelles Verstehen gelernt habe. Ich rege mich nicht mehr
so leicht über Menschen auf, die sich »anders« verhalten. Jede Person
ist in ihrem Umfeld zu sehen. Spanier z.B. leben vielfach in dominanten Familienstrukturen. Sie sind geduldiger als wir und improvisieren viel öfter. Sechs Monate lang konnte ich diese Mentalität teils
beobachten, teils miterleben. Das hat mich verändert. Wirklich
geprägt hingegen hat mich ein einjähriger Arbeitsaufenthalt in
Frankreich. Als Sprachassistentin an einem Gymnasium in einer französischen Kleinstadt hatte ich keine internationale Gemeinschaft, in
die ich mich flüchten konnte. Ich musste im Lehrerkollegium Fuß fas-
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sen und vor den Schülern bestehen. Der Kontakt zum Gastland war
viel intensiver und dadurch prägender.
»Europa macht Schule« – eine gute Idee
ERASMUS-Studierende brauchen Gelegenheiten zum unmittelbaren
Kontakt. Ausländische Studierende in Deutschland erhalten diese
Möglichkeit ab 2007 durch ein Projekt, das von ehemaligen ERASMUS-Stipendiaten initiiert wurde. Unter dem Titel »Europa macht
Schule« werden europäische Studenten an deutsche Schulen
vermittelt, um ihr Heimatland vorzustellen. Auf Grund meiner Erfahrung eine gute Idee. Hier wird ausländischen Studierenden der direkte Kontakt in deutsches Leben gegeben. Sie werden aus der rein internationalen Gesellschaft an der Hochschule herausgeholt. Schulkontakte können weite Kreise ziehen. Durch ein ähnliches Projekt an
einer Kölner Grundschule ist eine chinesische DAAD-Stipendiatin
mittlerweile an sämtlichen Klassenfesten beteiligt und wird auch
über den Schulrahmen hinaus in Familien eingeladen.
Ich würde mir diese Begegnungsinitiative europaweit, also auch
für deutsche Studierende im Ausland, wünschen.
Internationales Studium, internationaler Arbeitgeber?
Ich arbeite beim Deutschen Akademischen Austausch Dienst(DAAD).
Ich hoffte zu Recht, hier meine Auslandserfahrungen und Sprachen
nutzen zu können. Derzeit organisiere ich Großprojekte für Experten
aus Entwicklungsländern. Mein Bewusstsein für verschiedene
Mentalitäten hilft bei dieser Arbeit ebenso wie meine Sprachkenntnisse. Ich versuche stets, die Verschiedenheit der Menschen bei den
Planungen im Blick zu halten. Im Projekt selbst, wenn die auslän-
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dischen Gäste für eine Woche durch den DAAD in Deutschland
betreut werden, ermöglichen mir die Sprachkenntnisse einen guten
persönlichen Zugang zu den Experten. Es fällt ihnen in ihrer Muttersprache leichter, mich anzusprechen. Wichtige Details erfahre ich
manchmal nur dadurch.
Es ist ein internationales Umfeld, in dem ich mich bewege. Die
Kernaufgabe des DAAD ist der internationale Austausch. Viele meiner Kollegen waren im Studium oder während der Berufstätigkeit im
Ausland. Mit zwei Auslandsaufenthalten bin ich keine Exotin, ganz
im Gegenteil. Eine eigentlich verblüffende Frage wurde mir sowohl
von Kollegen wie auch von Experten aus Entwicklungsländern
gestellt: »Waren Sie denn nur in Europa?«
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SPANIEN
›Generation ERASMUS‹ –
Europa wächst zusammen
Die Motivation, ein Auslandssemester in Spanien zu absolvieren,
resultierte aus meinem dreijährigen Aufenthalt in Barcelona mit meiner Familie. Als Achtjährige war ich mit meiner Familie an die Costa
Brava gezogen, wo mein Vater an der Deutschen Schule unterrichtete
und ich Spanisch lernte. Nach drei Jahren ging es zurück nach
Deutschland. Am Gymnasium gab es allerdings keine Möglichkeit,
Spanisch zu wählen. Nach dem Abitur wollte ich gerne mein Spanisch verbessern. Zum Glück hatte ich noch Freunde in Spanien, und
zusammen mit den Erinnerungen an die Schulzeit in Barcelona
wuchs mein Fernweh. Ich wollte herausfinden, ob meine Erinnerungen an das Land mit der Realität übereinstimmten; ich wollte einen
Teil meines Studiums im spanischsprachigen Ausland absolvieren.
Die Frage nach einem Auslandsaufenthalt hat darum grundsätzlich auch die Wahl meiner Hochschule beeinflusst. Erzählungen von
Studenten von vor allem großen Universitäten schreckten mich bei
der Hochschulwahl ab: Urlaubssemester beantragen, langwierige
bürokratische Hürden überwinden, um vielleicht für ein Auslandssemester zugelassen zu werden und dabei wahrscheinlich wenig
Hilfestellung von Seiten der Heimathochschule zu bekommen.
In einem »Schnupperstudium« an der Fachhochschule Hof erfuhr
ich, dass im dortigen Studiengang Internationales Management ein
Auslandsjahr integriert ist. Die Kontakte zu den Partnerhochschulen
im Ausland seien nicht anonym, sondern fänden auf einer persön-
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FRANZISKA FLEISCHER
FRANZISKA FLEISCHER
Und so kam es schon
mal vor, dass man sich
auf Spanisch mit einem
Schweden bei irischem
Guinness über deutsche
Autos austauschte.
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lichen Ebene statt, da es einen regelmäßigen Austausch von Studenten gebe. Da das Auslandssemester obligatorisch ist, konnte ich mir
sicher sein, dass es klappt. Am Ende des Grundstudiums musste ich
mich auf eine Partner-Hochschule festlegen, d.h. bis dahin konnte ich
mir die Wahl noch gut überlegen. Dazu kamen die Gewissheit, mit
dem ERASMUS-Programm keine Studiengebühren an der Auslandshochschule bezahlen zu müssen, einen Mobilitätszuschuss zu bekommen, und die Sicherheit auf Anerkennung der im Ausland erbrachten
Studienleistungen an der FH Hof.
Aus Erfahrungsberichten älterer Studenten entnahm ich, dass die
Universität in Alicante bekannt war für ihre gute Organisation des
Aufenthalts von Gaststudenten. Auch das überzeugte mich, und so
ging es nach dem Grundstudium los nach Spanien.
Die Wohngemeinschaft, die ich über die Vermittlung erhielt, teilte ich
mit einem Flamen und einer Wallonin. Unsere Muttersprachen
waren Niederländisch, Französisch und Deutsch, und so wurden wir
uns schnell einig, dass Spanisch ›unsere‹ Sprache sein sollte.
Mein erster Weg an der Universidad de Alicante führte mich zum
Torre de Control. Dort ist die Sociedad de Relaciones Internacionales
(das Auslandsamt) untergebracht, die sich um das Wohl der Gaststudenten kümmert: Organisation der Einführungswoche, Vermittlung von Wohnungen, Ausflüge nach Andalusien, Begegnungstreffs
und Einteilung in die Spanischkurse gehören zu dessen Aufgaben.
Die Einschreibung verlief zu meiner Überraschung reibungslos
und schnell. Mein Name stand bereits im System, im Nu waren die
nötigen Dokumente ausgedruckt. Mein Studentenausweis (den ich
dann erst nach acht Wochen erhielt) diente auch zum Einloggen in
den Rechnerräumen und als Bankkarte.
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FRANZISKA FLEISCHER
Der Campus der Universität Alicante ist eine kleine Stadt für sich: Die
vielen Grünflächen, Brunnen und Palmen und die sehr moderne
Architektur tragen neben der Aufgeschlossenheit der spanischen
Studenten und dem tollen Service der Verwaltung dazu bei, dass ein
Tag an der Uni sehr angenehm und schnell vorbei geht: Vor der Vorlesung konnte ich auf der campuseigenen Post meine Karten aufgeben, nach der Vorlesung bei der Bank Geld abheben und mich im
Club Social (der Mensa) mit meinen Mitstudenten aus dem Kurs Economía de la Globalización treffen. Danach ging es mit den italienischen Freunden zum Flamencokurs in der großen Sportanlage.
Die Vorlesungen waren je nach Professor unterschiedlich in
Niveau und Intensität. Grundsätzlich war das Verhältnis zwischen
Professor und Studenten informeller als in Deutschland, man duzt
sich fast immer. Die Professoren hatten ein offenes Ohr für Gaststudenten und passten teilweise sogar ihren Vorlesungsstil den
Bedürfnissen der Ausländer (der ERASMUS-Studenten) an.
Meine spanischen Mitstudenten waren sehr hilfsbereit. Sie liehen
mir ihre Mitschriften, halfen bei der Zusammenstellung des Stundenplans und boten sogar ihre Telefonnummer an. Spanier sehen
Sprachschwierigkeiten oder Schwierigkeiten mit der Verständigung
nicht als unüberwindliche Probleme, sondern als gegeben an und
stellen die Person in den Mittelpunkt. Nicht die Herkunft ist entscheidend, sondern die persönliche Beziehung.
Das Nachtleben, La Marcha, beginnt ab 22 Uhr: Meistens trafen wir
uns in einer der zahlreichen Tapas Bars, bis sich die Gassen im Barrio
mit Menschen füllten, wo es dann in einer Disco weiterging. Und so
kam es schon mal vor, dass man sich auf Spanisch mit einem Schweden
bei irischem Guinness über deutsche Autos austauschte. »Eres ERASMUS?« (Bist Du »ERASMUS« [-Student]? ) – war eine Frage, die man
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SPANIEN
bei Vorstellungsrunden
öfter zu hören bekam.
Diese Frage bedeutet letztlich nichts anderes, als
dass das Austauschprogramm in Spanien nicht
nur zum Programm,
sondern zu einer Lebenseinstellung
geworden ist. Beantwortet man diese
Frage mit »ja«, weiß der Gesprächspartner nicht nur, dass man für ein
oder zwei Semester von seinem Heimatland ins Ausland zum Studium
gekommen ist und eine kleine
finanzielle Unterstützung bekommt.
Man weiß auch, welche Schwierigkeiten sein Gegenüber durchlebt hat:
Abschied von den Liebsten, für viele die
erste längere Zeit weg vom Elternhaus,
Sprachschwierigkeiten bei der Wohnungssuche, die Herausforderung, den Vorlesungen folgen zu können, Wohnen in einer WG,
Feiern mit Menschen unterschiedlicher Kulturen und Mentalitäten
aus der ganzen Welt, Besuche von daheim – ERASMUS verbindet!
»Hoy hay una fiesta ERASMUS!« bedeutete eine bunte Mischung
aus Studenten verschiedener Länder und viel Spaß. Auch in dieser
Hinsicht hat mein Aufenthalt in Spanien meine Erwartungen sogar
übertroffen.
Die positiven Erfahrungen in Spanien haben mich später motiviert,
ein Praktikum im spanischsprachigen Ausland zu absolvieren. Ich
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FRANZISKA FLEISCHER
bewarb mich bei Bayer in Mexico City und konnte dort in der Finanzabteilung ein sechsmonatiges Praktikum machen. Meine mittlerweile
sicheren Spanischkenntnisse halfen mir sowohl im Privaten wie auch
bei der Arbeit in der Abteilung sehr. Hier stellte ich fest, dass Mexiko
und Spanien zwar die gleiche Sprache haben, die Geschichte und Kultur, das soziale Umfeld, die Politik, der Alltag, das Essen und Mentalität und vieles mehr jedoch sehr verschieden sind.
Der Auslandsaufenthalt in Spanien zusammen mit dem Praktikum in Mexiko haben mich erkennen lassen, dass ich in jedem
europäischen Land mehr zuhause bin als auf dem amerikanischen
Kontinent.
Europas Länder verbindet die gleiche Geschichte und ein dichtes
Neben- und Ineinander von Kulturen und Sprachen, das fasziniert.
Die Verknüpfung der Länder untereinander wächst: Eine gut funktionierende, vernetzte Infrastruktur ermöglicht ein schnelles Reisen
zwischen den Ländern, die Niederlassungsfreiheit in der EU schafft
die Freiheit und Flexibilität, um unkompliziert im Ausland leben und
arbeiten zu können; geschäftliche und private Beziehungen gehen meist
über die eigene Landesgrenze hinaus, in vielen Ländern bezahlt man
mit derselben Währung, Flüge werden günstiger, Wege werden kürzer.
Ohne Zweifel hat sich der Aufenthalt in Spanien auf meine Berufswahl ausgewirkt, denn so wurde mir zur Gewissheit, dass ich in einer
internationalen Umgebung leben und arbeiten kann und will. Eine
internationale Umgebung lebt durch die Vielfalt und den Ideenreichtum der Menschen in ihr. ERASMUS hat den Blick auf Europa gelenkt,
nicht auf ein Land, aber auf Europa als Kontinent.
Mit diesem Wissen im Hintergrund – und nach etlichen Absagebriefen von deutschen Großkonzernen – fiel es mir nicht schwer,
meinen Lebenslauf in andere Länder zu schicken. Besonders leicht
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SPANIEN
geht das Bewerben in England und den Niederlanden: ein Anschreiben und der Lebenslauf auf Englisch per Email sind ausreichend.
Innerhalb von zwei Wochen hatte ich drei Interviews und meine
jetzige Stelle bei einer Softwarefirma in Rotterdam.
Seit April 2005 lebe und arbeite ich in Rotterdam. In meinem heutigen Beruf bin ich für den Vertrieb und das Marketing von Softwareprodukten in Deutschland zuständig. Ich betreue Kunden und
plane Messeauftritte. Unser Büro ist der europäische Hauptsitz. Das
Vertriebsteam arbeitet mit IT-Händlern und Resellern aus fast allen
europäischen Ländern zusammen. Unsere Partner arbeiten in
Spanien, Frankreich, Polen, England, Kanada usw.
Meine internationale Erfahrung kommt mir beinahe täglich zu
Gute. Während Deutsche z.B. eine gewisse persönliche Distanz in der
Geschäftsbeziehung schätzen, sind Niederländer schnell beim »Du«,
in Spanien und Italien muss mehr Zeit darein investiert werden, Vertrauen in eine persönliche Verbindung aufzubauen. Die im Ausland
erworbenen Kenntnisse sind förderlich für meinen Beruf: Nicht
zuletzt wegen meiner Sprachkenntnisse bin ich seit diesem Jahr für
das Channel Management, die Betreuung der Geschäftspartner in
Spanien verantwortlich.
Es ist auch interessant, Deutschland aus dem Ausland zu sehen.
Ich habe es sehr zu schätzen gelernt, dass man sich in Deutschland
auf das Wort eines Geschäftspartners verlassen kann, denn das ist
nicht überall so. Deutsche stehen neuen Produkten zwar oft etwas
zögerlicher und skeptischer gegenüber als Kunden aus anderen Ländern. Das macht jedoch ein Verkaufsgespräch gerade interessant.
Zu meinem Arbeitsplatz fahre ich – ganz niederländisch – mit dem
Fahrrad. Und doch: Je länger ich im Ausland bin, desto stärker werde
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FRANZISKA FLEISCHER
ich zur Lokalpatriotin: Keine andalusischen Tapas oder holländischen
Poffertjes gehen über »a Paar Nürnberger Bratwürscht«!
Im Sommer 2006 bin ich im Urlaub nach vier Jahren nach Alicante zurückgekehrt. Mein ehemaliger flämischer Mitbewohner aus der
WG hat eine kolumbianische Freundin geheiratet und lebt in
Alicante. In London habe ich meine wallonische Freundin wieder
getroffen, die dort ein Masterstudium absolviert. Eine andere
Kommilitonin hat einen Spanier geheiratet und verkauft Immobilien
an englische Touristen. Eine spanische Freundin wiederum hat mich
dieses Jahr in Rotterdam besucht: Unsere Generation lebt und arbeitet in Europa. Generation ERASMUS!
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BIANCA KÖNDGEN
Bianca Köndgen, geb. 1967 in Ibbenbüren.
Magister in Anglistik und Romanistik
an der Universität Trier.
ERASMUS-Aufenthalt: Okt ’89 - März ’90
an der Universidad de Oviedo, Spanien.
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SPANIEN
Land, mir so fremd wie keines
Anfang Oktober 1989. Sonntagmorgen, Halbschlaf. Seltsame Töne
dringen an mein Ohr. Dudelsackmusik? Wo bin ich? Langsam wird es
mir bewusst, ach ja, in Oviedo, Nordspanien. Aber Dudelsackmusik in
Spanien? Kommt aus der Kneipe gegenüber.
Spanien, unbekanntes Territorium. In England hatte ich Sprachkurse absolviert und ein Semester in Lancaster studiert, in Irland bin
ich Au-pair-Mädchen gewesen, Praktika und premier grand amour in
Frankreich. Nach zwei Jahren Romanistikstudium habe ich mich
entschlossen, den Sprung ins kalte Wasser zu wagen, trotz kaum
vorhandener Sprachkenntnisse. Die zu erwerben, war in drei
Spanischgrundkursen, jeder mit rund 50 Teilnehmern und je vier
Stunden pro Woche, kaum möglich. Genau aus diesem Grund war ein
Spanienaufenthalt bitter nötig.
Der Kulturschock der ersten Wochen ist groß. Nichts ist, wie ich es
erwartet hatte. Beim Stichwort ›Spanien‹ denken die meisten an
glühende Sonne, kilometerlange Sandstrände, Gitarren und Stierkampf, Flamenco und Rotwein. Nichts dergleichen. Deutschland ist
ja auch nicht ausschließlich von leder-behosten, jodelnden Maßkrugschwenkern besiedelt, die Kuckucksuhren verkaufen. Und der
Norden Spaniens heißt: grüne Wälder, felsige Küsten, Buchten mit
Sandstränden, die Bergkette Picos de Europa – und vor allem: keltische Kultur. Also Dudelsackmusik und sidra, Apfelwein. Diesen
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BIANCA KÖNDGEN
korrekt zweifingerhoch in besondere Gläser einzugießen, wobei man
die Flasche in einer Hand über den Kopf hält und das Glas in Hüfthöhe in der anderen Hand, ist eine Kunst für sich.
ERASMUS war kein Türöffner. Niemand in Relaciones Internacionales an der Universidad de Oviedo wußte, dass ich komme, niemand
wusste, dass ich existiere, obwohl das Akademische Auslandsamt der
Uni Trier meine Unterlagen geschickt hatte. Mit mir kamen zwei
andere ERASMUS-Studentinnen aus Bochum nach über 24 Stunden
Anreise fürs erste in einem Nonnenkloster unter, wenigstens ein
Dach über dem Kopf. Die erste Woche in einem fremden Land war
ganz und gar der Wohnungssuche gewidmet. Unzureichende Sprachkenntnisse bedeuteten: die Wohnungsanbieter legten am Telefon einfach wieder auf, weil sie nicht verstanden, was ich überhaupt von
ihnen wollte. Die Konsequenz war, mit meinen neuen Freundinnen
aus Cambridge und Münster immer nur Spanisch zu sprechen, koste
es, was es wolle. Meine Vermieterin, eine herzensgute, leicht buckelige Schneiderin, wusch nicht nur meine Wäsche und zeigte mir, wie
man tortilla de patatas macht, sondern brachte mir Spanisch bei.
Auch wenn sie es selbst kaum richtig schreiben konnte.
Die Wochenenden werden dazu genutzt, in den Bergen zu wandern, Küstendörfer zu erkunden, dem Rätsel Asturien, dem »anderen« Spanien auf die Spur zukommen. Ja, ich habe viel gesehen:
Gijón, Santiago de Compostela, Léon, Madrid, Salamanca, Toledo,
Avila. Aber den Menschen bin ich nicht näher gekommen. Meine
überzogenen Erwartungen bezüglich der Warmherzigkeit ›der Spanier‹ wurden schnell enttäuscht: Ich habe gelernt, dass Spanier zwar
auf Menschen zugehen und man leicht ins Gespräch kommt, dass
aber der nächste Schritt genauso schwer ist wie in Deutschland:
Freundschaften zu schließen und zu jemandem nach Hause eingeladen zu werden. Kontaktfreudigkeit ist nicht gleich Offenheit.
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SPANIEN
Ich habe gelernt, dass
Spanier zwar auf Menschen
zugehen und man leicht ins
Gespräch kommt, dass aber
der nächste Schritt genauso
schwer ist wie in Deutschland:
Freundschaften zu schließen
und zu jemandem nach Hause
eingeladen zu werden.
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BIANCA KÖNDGEN
Zurück in Trier, ging ich schnurstracks zum Akademischen Auslandsamt und bot an, spanischen Studenten zu helfen, damit sie sich nicht
so fremd fühlen sollten wie ich in ihrem Land. Dies war wohl die
weitreichendste Entscheidung, die ich für meinen weiteren Lebensweg getroffen habe. Aus zunächst zwei Spaniern wurden mehr. Ich
wurde Tutorin und gründete mit zwei Kommilitonen das »Internationale Zentrum an der Universität Trier(IZ)«. Ein Café, das jeden Tag
geöffnet ist und in dem den internationalen Studenten immer Tutoren mit Rat und Tat zur Seite stehen. Tutorin im Auslandsamt und
Leiterin des »IZ«, das umfasste auch die Organisation von Einführungskursen und die Planung und Abwicklung des kulturellen
Semesterrahmenprogramms. Er hieß aber auch: 200 ERASMUSStudenten pro Jahr kennen mich. Viele Bekannte bedeutet nicht
zwangsläufig, viele Freunde zu haben. Diesem Trugschluss verfallen
viele Studenten in der Begeisterung des ERASMUS-Fiebers, werden
aber wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, wenn die
meisten Kontakte nach der Rückkehr ins Heimatland wieder einschlafen und ach so gute Freunde plötzlich wieder verschwinden.
Die Lebenswege einiger Menschen, die ich im Studium betreut
habe und die zu wirklichen guten Freunden geworden sind, und
derer, die mit mir im IZ zusammengearbeitet haben, haben sie in
multinationale Unternehmen oder deutsche Ministerien geführt oder
Jobs in verschiedenen Abteilungen der EU-Kommission in Brüssel
finden lassen. Ich machte noch einen kleinen Umweg bis zu meiner
»Bestimmung«, der mich wieder nach Spanien führte.
Sommer 1993, Studium beendet. Was nun? Ein Anschlag am schwarzen Brett der Anglistik: die Universität Murcia in Spanien sucht eine
Lektorin für ›Deutsch als Fremdsprache‹. Schnelle Bewerbung,
schnelle Antwort, und schon ist das Flugticket gekauft. Die Univer-
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sität stellt den fünf Fremdsprachenlektoren (Englisch, Italienisch,
Französisch, Deutsch und Arabisch) Unterkunft und Verpflegung in
einem Colegio Major. Eine internatsähnliche Welt für sich mit eigenen Regeln. Wir erleben spanisches Studentenleben hautnah, von
novatadas (Einführungsriten, in denen die Erstsemester reichlich
gequält werden) über fiestas universitarias (wobei jede Fakultät ihren
eigenen Heiligen und somit einen eigenen Feiertag hat) bis hin zu
Examenszeiten, zu denen die Bibliothek überfüllt ist und alle mit rauchenden Köpfen über den Aufzeichnungen sitzen. »Poner los codos«
nennt sich das, wörtlich übersetzt »die Ellenbogen aufstützen«, auf
Deutsch »büffeln«. Ich lerne das spanische Universitätssystem auch
von der anderen Seite kennen, als Lehrende, die den Alleinunterhalter gibt und sich bemüht, ihre Studierenden, die wiederum nur
Frontalunterricht gewohnt sind, mit kommunikativen Übungen zum
Reden zu bringen. Oft rede ich gegen Wände.
In Murcia habe ich spanische religiöse Traditionen kennen gelernt, an
Osterprozessionen der Semana Santa teilgenommen und mit meinen
Freunden im Dörfchen Hellín in der Provinz Albacete die ganze
Nacht von Gründonnerstag zu Karfreitag durch mir die Finger blutig
getrommelt. Ich habe die Inbrunst der Menschen gespürt, das Leuchten in ihren Augen gesehen, wenn sie die Schönheit der Heiligenfiguren lobten, die sich mir niemals wirklich erschlossen hat. Die
Essenz von Murcia (sowohl Stadt als auch Región Autónoma): Barocke Prachtbauten, Reisfelder und Weinberge im Norden, Sierras und
trockene Mondlandschaften, riesige Agrarflächen der Huerta, auf
denen das Gemüse, das wir hier im Supermarkt kaufen, unter
Cellophanfolien angebaut wird, die Lagune des Mar Menor mit ihren
Badewannenwassertemperaturen und die Küsten und Strände der
Costa Cálida, Bergdörfer und Wallfahrtsort Caravaca de la Cruz im
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Landesinneren. Und wieder die Erkenntnis: Spanien ist vielfältig.
»Todo bajo el sol – alles unter der Sonne« (Slogan der spanischen
Fremdenverkehrswerbung) und eben nicht reduzierbar auf Sangria
und Bettenburgen.
Ich habe Freundschaften fürs Leben geschlossen, auf Hochzeiten
bis zum Morgengrauen getanzt und einen Einblick in ›die spanische
Seele‹ bekommen, wenn es denn so etwas gibt.
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Aus einem Jahr Lektorat wurden zwei. Dann wurde es Zeit, nach
Deutschland zurückzukehren, denn ohne ›enchufe‹ (Vitamin-B)
findet man schwer eine Arbeitsstelle. Meinen Traumberuf hatte ich
schon während meines Studiums gefunden: Mitarbeiterin in einem
Akademischen Auslandsamt. Nach einigen Monaten Zeitarbeit in
Luxemburg und etwa 80 Initiativblindbewerbungen klappte es dann
auch zum Januar 1996 mit der Stelle: Georg-Simon-Ohm-Fachhochschule Nürnberg. Eigenständige Abwicklung des SOKRATES-ERASMUS-Programms und der anderen Austauschsprogramme der Hochschule. Im Oktober 2001 Wechsel an die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Auch hier gehört das SOKRATES-ERASMUS-Programm zu meinem Aufgabenbereich, ist aber eine Aufgabe
unter vielen vielen anderen. Mir aber mit die liebste. Für meine Tätigkeit an beiden Hochschulen gilt: Es erfüllt mich, jungen Menschen
ein Gefühl des Willkommens geben zu können, ihnen die Angst zu
nehmen, wegen meiner Kenntnis ihrer Kulturen und Universitätssysteme zu wissen, was ihnen »spanisch« bzw. wohl eher deutsch und
fremd vorkommen wird. ERASMUS heißt für mich auch, täglich im
Beruf zwischen Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch und
Polnisch hin und her zu wechseln. Denn es fällt doch leichter, sein
Herz in der Muttersprache ausschütten zu können. Das schönste
Geschenk aber ist die Wehmut der Schützlinge beim Abschied nach
einem Jahr in Erlangen oder Nürnberg, das ihnen dann zu einer zweiten Heimat geworden ist.
Anfang 2006 gab ich den Teilarbeitsbereich Ausländerbetreuung
ab und kümmere mich seitdem um die deutschen Studierenden, die
ins Ausland geben, darunter 350 ERASMUS-Studierende. Ich sehe,
dass sich manche Dinge zum Positiven verändert haben, einige aber
immer noch im Argen liegen. Verbessert haben sich die Dienst-
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leistungen und die Beratungsangebote vieler International Offices
der europäischen Universitäten.
ERASMUS hieß für mich 1990: keinerlei Anrechung meiner
Prüfungen aus Oviedo, zumindest nicht der Sprachpraxis. Unerfindlicherweise musste ich alle Hauptstudiumsübungen, die Phonetik,
Landeskunde, Grammatik und Übersetzung betrafen, in Trier nochmals absolvieren. Anscheinend wurde in Spanien wohl nicht die
›richtige‹ Hispanistik unterrichtet, die eine Anerkennung erlaubt
hätte. Mein eigenes Studium hat sich unnötigerweise um zwei
Semester verlängert.
Diese Erfahrung müssen auch heute noch ERASMUS-Studierende
immer wieder machen. Hoffentlich kann der Bologna-Prozess diese
Missstände beseitigen und gewährleisten, daß ein Auslandsstudium
jetzt und in Zukunft keinen Nachteil mit sich bringt.
Denn ein zügiges und zielgerichtetes Studium sollte im Vordergrund stehen, auch wenn die positiven Auswirkungen des ERASMUS-Aufenthaltes auf die Teilnehmer wie die Überprüfung eigener
Denk- und Verhaltensmuster, das Bewusstwerden der eigenen Kultur
und der fremden und nicht zuletzt die gelebte Alltagserfahrung
unumstritten sind.
Die Erfahrungsberichte meiner »Outgoer« enden fast alle mit dem
Satz: »Es hat sich gelohnt«. Deshalb kann ich festhalten: Was sich in
zwanzig Jahren ERASMUS-Programm nicht geändert hat, ist die
Begeisterung der Rückkehrer über den Auslandsaufenthalt, über das
multikulturelle ERASMUS-Feeling, über die bewegenden persönlichen Erfahrungen. Sie genauso wie ich gehören zur ›Generation
ERASMUS‹.
ERASMUS (in Spanien und daheim) hat mich zu dem gemacht,
was ich bin: weltoffen, ständig unterwegs in Europa, flexibel in
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LÄNDERNAME
meinen Denkweisen, zuhause in verschiedenen Sprachen und Gedankenwelten. ERASMUS hat meinen Lebensentwurf entscheidend
beeinflusst. Und was ist mit Spanien? Es ist mir schon lange nicht
mehr »fremd wie keines«, sondern ein nicht unerheblicher Teil meines Wesens. Ein bunter Teil eines ständig erweiterbaren Mosaiks,
dem in den letzten Jahren Polen hinzugefügt wurde.
P. S.: ERASMUS zeigt sich für mich konkret in den daraus entstandenen gemischtnationalen Ehen in meinem engsten Freundeskreis.
Eine Anregung: Unter den ganzen statistischen Daten, die die EU
erfasst (und über deren Sinn wir als ausführende Verwaltungskräfte
manchmal grübeln), fehlen genau diese: die der geschlossenen Ehen
und der ERASMUS-Babies! Sind nicht sie Fleisch gewordene Manifestation des europäischen Gedankens?
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FELICITAS KUSTERS
Felicitas Kusters, geb
Diplom in Architektur an der . 1979 in Hannover.
ERASMUS-Aufenthalt: Win Universität Kassel.
an der Universidad Politecntersemester 2002/03
ica de Valencia, Spanien
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SPANIEN
Zuhause in Europa
Seit kurzer Zeit blicke ich aus meinem Büro auf das Tate Modern, die
Themse und St. Pauls Cathedral. Seit zwei Monaten lebe ich auf der
Insel, seit einem Monat arbeite ich in der Hauptstadt Englands als
Architektin. Die ersten Eindrücke sind noch ganz frisch, dennoch
fühle ich mich hier schon heimisch. Das geht schneller, wenn man
Übung hat. London ist meine sechste Heimatstadt, England mein
viertes Heimatland. Das Reisen liegt mir im Blut. Mein Vater war Seemann, ebenso sein Vater. Dessen Vater wiederum war Schmuggler, so
wird es erzählt. Die mütterliche Seite ist bodenständiger. Hier finden
wir Generationen von Gärtnern mit Haus und Hof. Ich stelle mir
gerne vor, dass diese Gene später noch durchschlagen werden, wenn
ich älter und gesetzter bin. Bisher genieße ich aber noch meine Freiheit, Europa als ein großes Land zu betrachten, in dem mein Wohnsitz durch meine eigene Entscheidung bestimmt wird. Das Recht
dazu hat ja jeder EU-Bürger, alleine das Umsetzen ist nicht jedermanns Sache.
Für mich war mein ERASMUS-Aufenthalt in Spanien eine Schlüsselerfahrung für diese Sehweise auf Europa. Meine Aufnahme in das
Programm erfolgte nach dem Ausfüllen eines Antrages, in dem ich
meine Daten, Sprachkenntnisse und meine Motivation für das Auslandsstudium angab. Der Umfang: ein Blatt Papier – das nenne ich
minimalen bürokratischen Aufwand. Einen Monat später erfuhr ich
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FELICITAS KUSTERS
überglücklich, dass ich den Studienplatz meiner Erstwahl an der Universidad Politécnica de Valencia erhalten hatte. Von einigen Alumni
erhielt ich die Empfehlung, die Anerkennung meiner Studienleistungen in Valencia vor der Abreise mit meinen Professoren abzusprechen. Zwar war das ECTS-System an der Universität Kassel noch
nicht eingeführt, das Lehrpersonal erklärte sich jedoch auf dem
informellen Weg bereit, die spanischen Leistungen anzuerkennen
oder mich während meiner Abwesenheit sogar selbst zu betreuen.
Wie ich später heraus fand, war dies möglich, wenn ich ein Urlaubssemester für mein Auslandsstudium beantragte. Unter dem Strich
also ein Semester Gewinn für mein Studienkonto.
Einen kleinen Gewinn konnte ich auch bei der Sparkasse verbuchen. Ein Aufenthalt im Ausland muss demnach keine finanzielle
Belastung darstellen. Nach kurzer Suche meldete sich ein sympathischer Herr, der meine Wohnung in der Zeit meiner Abwesenheit
belegen und bezahlen wollte. Vor dem Hintergrund, dass die Mieten
in Valencia noch geringer sind als in Kassel und die sonstigen Lebenshaltungskosten ungefähr gleich, machte ich hier also ein leichtes Plus.
Hinzu kam das Taschengeld von ERASMUS und, in meinem Fall, ein
volles Hölderlin-Stipendium, mit dem meine Ausgaben gedeckt
waren.
Und ausgeben kann man viel im Ausland. Es gibt so viel Neues zu
entdecken: Tapas Bars, Bodegas, Spiele des Valencias CF, die Dörfer
der Umgebung Xátiva, Val d'Uixá, Sagunto, weiter entfernt gelegene
Städte wie Barcelona, Madrid, Zaragoza und schließlich Regionen wie
Andalusien mit den wunderbaren maurischen Gärten und Palästen.
Die meisten dieser Reisen wurden durch eine ausgeprägte Vorliebe
der Valencianos für »puentes«, Brückentage, ermöglicht. In meinem
Jahr fielen scheinbar rein zufällig alle der zahlreichen Feiertage auf
einen Donnerstag oder Dienstag. Zunächst versuchte ich, in deutscher
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Gründlichkeit, an entsprechenden Freitagen oder Montagen den Vorlesungen beizuwohnen, nur um rasch heraus zu finden, dass ich
ziemlich die einzige war, die auf so eine seltsame Idee kam. Dass der
Motivationsverlust an Brückentagen die Dozenten einschloss, lernte
ich dazu und passte mich ohne weiteren Widerstand an die spanischen Sitten an.
Die längeren Reisen gaben mir einen ausschnittsweisen Einblick in
die Kultur Spaniens – Gaudí, Picasso, La Virgen del Pilar, Flamenco,
Tapas gratis zum Getränk, der starke Einfluss der maurischen Herrschaft. Die kurzen Ausflüge förderten das Verständnis der Comunidad Valencia und meine Identifizierung mit meiner neuen Heimatstadt – mittelalterliche Burgen, römische Amphitheater, das Bauernfest mit Köstlichkeiten der Region, ein unterirdischer Fluss.
Aber das Schönste waren doch die Menschen, die ich kennen lernte. Im Ausland ist es ja oft schwierig, in die bestehenden Freundeskreise des Gastlandes aufgenommen zu werden. Wesentlich leichter
ist es, die anderen Austauschstudenten kennen zu lernen, die in der
gleichen Situation sind. Ich hatte Glück, dass ich über zwei Gruppenarbeiten in Kontakt mit einigen Spaniern kam. Sie brachten mir viel
über Spanien bei, auch im Kontrast zu meinen deutschen Sichtweisen und Gewohnheiten. Um so überraschter war ich, als uns ein brasilianischer Freund über einen Kamm schor: Er beendete ein interkulturelles Zwiegespräch mit dem frustrierten Ausruf »Ihr seid
komisch!«. »Komisch? Mag sein, aber wer ist denn ›Ihr‹«? –»Ihr Europäer!«
Dies war das erste Mal, dass ich mit Spaniern, Franzosen, Polen
und sogar Holländern in einen Topf geworfen wurde. Entsprechend
überrascht reagierte ich auf diese Sichtweise des ›Externen‹, eines
Südamerikaners. Aber dann dachte ich an die Zeit, in der ich in Vene-
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FELICITAS KUSTERS
FELICITAS KUSTERS
›Hier‹ ist also
offensichtlich
nicht Spanien,
sondern Europa.
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zuela gelebt hatte, und an die Mentalität, in die ich mich damals eingefunden hatte. Beim Vergleich zwischen Latinos und Südländern
musste ich zugeben, dass mir die Spanier doch irgendwie vertrauter
waren – ich nenne es mal ›europäischer‹: Zuverlässiger, aktiver, weniger chauvinistisch (auch wenn ich mich hier aus dem Fenster lehne).
Nach diesem befriedigenden Vergleich fielen mir noch die Weihnachtsferien ein, in denen die Chilenen und Mexikaner unbedingt
nach Paris, Rom und Norwegen reisen mussten, von Valencia aus. Die
Begründung: »Wenn wir schon einmal hier sind.«
›Hier‹ ist also offensichtlich nicht Spanien, sondern Europa. Ein
Europa, das im Verhältnis zu Asien oder Südamerika eine durchaus
überschaubare Landmasse bietet. Selbst für Kurzstreckengewohnte
ist das Reisen innerhalb Europas – nicht zuletzt durch die Billigflieger
– so viel günstiger und schneller geworden, dass sich ein Wochenendausflug zur anderen Seite des Kontinents durchaus lohnt. Auch
dies ist eine Einstellung, die ich mit über den Kanal genommen habe.
Bei der Anreise zu Familienfesten macht es weder preislich noch zeitlich einen Unterschied, ob ich in London oder München wohne (was
allerdings auch an der Deutschen Bahn liegt). Trotzdem wäre ein
Besuch bei Verwandten und Freunden innerhalb Norddeutschlands
natürlich einfacher. Derzeit genieße ich die Metropole, meine interessante Arbeit, die englische Sprache, den britischen Humor und sogar
das Essen (schließlich gibt es hier phantastische indische Lokale),
aber vielleicht setzen sich die Erbanlagen meiner Mutter doch noch
irgendwann durch.
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CAROLA OSSENKOPP
Carola Ossenkopp, geb. 1972 in Lüneburg.
Magister in Romanistik und Amerikanistik an
der Universität Rostock. ERASMUS-Aufenthalt:
Wintersemester 1997/98 und Sommersemester
1998 an der Universidad de Granada, Spanien.
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SPANIEN
Vom International Summer
Village zur International
Summer University
Alles begann vor etwa 20 Jahren. Meine Eltern hatten aus der Zeitung
erfahren, dass es ein internationales Kindercamp in meinem Wohnort geben sollte. Dafür wurden noch Gastfamilien für einige Tage
gesucht. Und ehe ich michs versah, hatte ich – damals allein – noch
zwei gleichaltrige Geschwister aus Costa Rica auf Zeit dazubekommen. Die beiden Mädchen sprachen schon ganz toll Englisch – ich
hingegen hatte ja erst in der Schule mit Englisch angefangen. Das
wollte ich auch. Ab diesem Sommer im Jahr 1983 wuchs der Wunsch
in mir, die Welt zu erkunden und internationale Freundschaften aufzubauen.
Die schöne Zeit mit den Mädchen aus Costa Rica noch im Gedächtnis, meldeten mich meine Eltern in dem Verein Children’s International Summer Village (CISV) an, und nachdem ich einen Sommer in
einer schwedischen Gastfamilie gewohnt hatte und Anna aus Schweden mit zu mir nach Hause brachte, nahm ich jedes darauffolgende
Jahr an Jugendaustauschen mit den USA und Kanada teil.
Diese positiven Erfahrungen ermutigten mich, meinen Traum zu
verfolgen, nach dem Abitur ein Jahr lang als Au-Pair in den USA zu
arbeiten. Mein Jahr dort war eine wunderbare Erfahrung und ich
merkte zum ersten Mal, wie wichtig ein Aufenthalt im Ausland zur
Förderung der eigenen Persönlichkeit ist. Immer eine eher schüchterne Person, die Angst hatte, unbekannten Menschen zu begegnen, war
ich nach diesem Aufenthalt viel offener und selbständiger geworden.
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CAROLA OSSENKOPP
Aus den USA zurückgekehrt, stand mein Studienwunsch fest: Sprachen und Literatur. Ich wollte mehr von fremden Kulturen erfahren
und gleichzeitig meine Sprachkenntnisse vervollkommnen. So kam
ich zur Universität Rostock und studierte Amerikanistik/ Anglistik
und Romanistik mit Schwerpunkt Spanisch.
Nun ja, einmal Ausland – immer Ausland. Für mich stand fest, dass
ich nach meinem Grundstudium auf jeden Fall wieder in die USA
musste. Ich wollte dort ein Austauschjahr als Studentin verbringen.
So ging ich 1996 für ein Jahr an die East Tennessee State University.
Ein anderes Studiensystem, ein Kennenlernen der Südstaatenkultur
der USA, der Sprache: Es war ein sehr wertvolles Jahr für mich. Ich
habe das amerikanische Studiensystem kennen gelernt und regen
Austausch mit amerikanischen Studenten gehabt. So lernte ich viel
über die amerikanische Kultur kennen, aber reflektierte auch meine
eigene – deutsche – Kultur.
Dann ging ich für ein Jahr als ERASMUS-Studentin nach Granada
in Spanien. Wie es dazu kam? Nun, aus den USA zurückgekehrt,
besuchte ich meinen Professor, um zu fragen, welche Kurse im nächsten Semester angeboten würden. Er schlug mir vor, doch meine Koffer gepackt zu lassen und einen ERASMUS-Aufenthalt einzulegen.
Ich war baff. Natürlich wollte ich gerne nach Spanien gehen, aber so
plötzlich? So nahm die Erfahrung »Einmal Ausland – immer Ausland« ihren Fortgang.
Die amerikanische Kultur hatte ich ja nun zwei Jahre lang kennen
gelernt und meine Englischkenntnisse perfektioniert. Aber Spanien
macht mir schon ein bisschen Angst. Als ich in die USA ging, hatte
ich wenigstens mehrere Jahre Englisch aufzuweisen. Spanisch hatte
ich erst im Studium angefangen. Aber mein Professor hatte recht:
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SPANIEN
CAROLA OSSENKOPP
Wenn man längere Zeit in
einem anderen Land und in
einer anderen Kultur gelebt hat,
blickt man zunächst wie ein
Fremder auf sein Heimatland.
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Warum jetzt wieder eine Wohnung in Rostock suchen, wenn ich doch
während der Semesterferien alles Nötige für meinen ERASMUS-Aufenthalt organisieren konnte. Auf Anraten meines Spanischprofessors
ging ich an die Universidad de Granada in Andalusien.
Bei den Amerikanern war Alles sehr gut organisiert gewesen.
Schon eine Faxantwort auf meine Frage, wann denn das Semester
beginnen würde, ließ mich ahnen, was mich in Spanien erwartete:
Das International Office der Universität von Granada teilte mir
Anfang September mit, dass es noch nicht fest stünde, wann genau
die Vorlesungen anfangen würden und ich solle mich doch etwa
Anfang Oktober in Granada einfinden.
In Granada angekommen, merkte ich rasch, dass ich einiges in diesem Jahr lernen würde: ich wurde im Auslandsamt mit den Worten
begrüßt, »Ah, du bist die aus Rostock. Hier, such dir eine Wohnung«.
So machte ich mich mit der Liste von Wohnungsangeboten auf den
Weg zur nächsten Telefonzelle. Das war auf der einen Seite eine der
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schlimmsten Erfahrungen für mich. Mein Spanisch ließ ja wirklich
zu wünschen übrig, und sich dann über Telefon zu verständigen, ist
der Horror aller Fremdsprachenanfänger. Doch es gab noch mehr
Studenten in meiner Lage, und so lernte ich meine zukünftige italienische Freundin Chiara kennen, mit der ich mir eine Wohnung suchte und das Jahr verbrachte. Wir wohnten in einem großen Haus im
Zentrum von Granada. Unsere Vermieterin, eine ältere Dame, vermietete die 10 Zimmer an spanische und internationale Studenten
und wohnte mit uns unter einem Dach. Wir lebten in einfachen Verhältnissen, aber es war eine tolle Atmosphäre. Das zeigte sich
besonders, als der Winter kam. Es gab keine Heizung in dem Haus,
und Winter in Granada können schon recht kalt werden. Die einzige
Möglichkeit, die man abends in dem Haus hatte, war, ins Bett zu
gehen oder sich an den Wohnzimmertisch zu setzen, denn unter dem
Tisch befand sich der »Brasero«, eine Gasheizung. So verbrachten wir
Abend für Abend die kalten Wintermonate – mit dem tollen Gefühl,
wahre Gemeinschaft zu erleben.
Im Nachhinein denke ich, dass ich dadurch, dass ich allein von meiner Universität nach Granada gegangen bin, so viel gelernt habe. Ich
musste sofort Spanisch sprechen, um mich verständlich zu machen,
und hatte so die Chance, schnell in die Sprache hineinzukommen. Ich
lebte mit Spaniern und wurde so mit dem wirklichen spanischen
Leben vertraut. Das ERASMUS-Jahr in Granada kann ich als das
schönste Jahr in meinem Leben bezeichnen. Das wirkliche spanische
Leben kennen zu lernen und das spanische Studiensystem zu erleben,
hat mich akademisch und persönlich weitergebracht, und es ist unnötig zu erwähnen, dass ich meine Spanischkenntnisse vervollkommnen
konnte. Ein weiteres Highlight für mich war, dass ich in der spanischen Literaturwissenschaft teilweise von berühmten spanischen
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CAROLA OSSENKOPP
Autoren unterrichtet wurde. Zusätzlich war es eine enorme Herausforderung für mich, Hausarbeiten und Klausuren in spanischer Sprache zu verfassen.
Nach Rostock zurückgekommen, ging ich als erstes zum Akademischen Auslandsamt, um mich für den Aufenthalt zu bedanken. Dort
wurde ich dann gefragt, ob ich mich nicht um ausländische Studenten in Rostock kümmern wolle. So wurde ich Mitglied der Lokalen
ERASMUS-Initiative (LEI), bekam ein Zimmer im internationalen
Studentenwohnheim und betreute meine 15 ausländischen Mitbewohner. Zusätzlich arbeitete ich als studentische Hilfskraft im
Bereich des Ausländerstudiums im Akademischen Auslandsamt der
Universität Rostock.
Meine Auslandsaufenthalte haben mich geprägt und haben meinen Berufswunsch bestimmt. Ich wollte im internationalen Kontext
in Deutschland tätig sein. Meine Stelle im Auslandsamt hat mir
gezeigt, wie es geht. Und so fing ich nach dem Abschluss meines Studiums als stellvertretende Leiterin des International Office der Hochschule Fulda an. Eine Stelle, die ich nur wegen meiner Auslandserfahrung und meiner Tätigkeit als studentische Hilfskraft in Rostock
bekam.
Und jetzt? Jetzt koordiniere ich die Hessische Internationale Sommeruniversität an der Hochschule Fulda. Meine Erfahrungen im Ausland waren von enormer Bedeutung für meinen jetzigen Beruf. Ich
weiß ja, wie man sich fühlt, wenn man als Student ins Ausland geht.
Ich weiß ja, welche Wünsche man hat und wo Hilfe benötigt wird.
Und das ist genau das, was ich als Ziel in meiner Arbeit sehe: Den Studienstandort Deutschland und den Austausch der Kulturen zu fördern, Studenten das wirkliche deutsche Leben und Studiensystem
näher zu bringen und dazu beizutragen, dass sich der Aufenthalt so
erfolgreich wie möglich gestaltet, sowohl fachlich und sprachlich als
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SPANIEN
auch in sozialer und integrativer Sicht. Die Herzlichkeit, die ich als
Austauschstudentin erlebt habe, möchte ich nun selbst weitergeben.
Ich kann wirklich nur jedem dazu raten, einen Auslandsaufenthalt
während des Studiums zu absolvieren. Man lernt so Vieles dazu, von
dem man ein Leben lang profitieren wird. Neben den Sprachkenntnissen und den akademischen Bereicherungen ist auch das persönliche Wachsen ein ganz entscheidendes Ergebnis eines Auslandsaufenthalts. Man muss sich oft durchbeißen, muss auch mal negative
Erfahrungen machen und viel Arbeit auf sich nehmen. Was aber zählt
und worauf man ein Leben lang zurück blicken kann, ist, stolz zu
sein, dass man so etwas geschafft hat. Man hat tolle Erinnerungen
gesammelt, Freunde fürs Leben kennen gelernt und die großartige
Chance bekommen, in eine andere Kultur einzutauchen. Und das
wird man nie vergessen. Die negativen Erfahrungen kann man sehr
gut unter dem Stichwort ›schlauer geworden‹ verbuchen. So etwas
kann keiner einem nehmen.
Auch seine eigene Kultur sieht man plötzlich mit ganz anderen
Augen. Wenn man längere Zeit in einem anderen Land und in einer
anderen Kultur gelebt hat, blickt man zunächst wie ein Fremder auf
sein Heimatland. Dies ist eine unglaublich spannende, aber auch
wichtige Erfahrung. Man setzt sich durch einen Auslandsaufenthalt
ganz intensiv mit seiner eigenen Kultur auseinander und lernt Eigenschaften seines Landes zu schätzen, aber auch kritisch zu sein.
Es ist schön, wenn im Sommer die Studenten der Sommeruniversität nach Fulda kommen. Für mich ist es etwas Internationales in
Deutschland und ein Gefühl, wieder mitten drin im Auslandsstudium
zu sein. Aber dieses Mal stehe ich auf der anderen Seite. Ich bin jetzt
diejenige, die den Studenten helfen kann, sich so schnell wie möglich
zurecht zu finden und den Auslandsaufenthalt als unvergessliches
Erlebnis zu erfahren.
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CHRISTOPH THALHAMMER
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UNGARN
Ungarn: Eine ›andere‹ Erfahrung
Schon während der ersten Semester an der Fachhochschule München
wurde ich auf das ERASMUS-Programm und seine Möglichkeit, ein
Semester im Ausland zu verbringen, aufmerksam. Bei der Vorstellung der neuen Partneruniversität in Ungarn während der ERASMUSEinführungsveranstaltung habe ich mich dann entschieden, als erster
Student der FH-München an dem Programm in Osteuropa teilzunehmen.
Durch die Wahl der Universität in Veszprém in Ungarn wurde mir
die Möglichkeit geboten, Kurse in Tourismus, Volkswirtschaftslehre
und Management zu belegen sowie meine Diplomarbeit in Verbindung mit einem Praxisprojekt dort zu verfassen.
Rückblickend habe ich diese Entscheidung nicht bereut. Dafür sprechen mehrere Gründe. Einerseits sind die Ungarn sehr gastfreundlich, hilfsbereit und an der westeuropäischen Kultur interessiert, und
andererseits ist die schöne Umgebung Veszpréms mit dem Plattensee
als naturnahem und touristisch gut erschlossenem Reiseziel vor
allem im Sommer empfehlenswert. Das Umland von Veszprém und
die Gegend um den Plattensee laden zu schönen Fahrradtouren ein.
Nach Budapest sind es ca. 120 km, mit stündlichen Busverbindungen
ab Veszprém. Zudem ist die Finanzierung des Lebensunterhaltes für
einen deutschen Studenten in Ungarn im Vergleich zu Westeuropa
einfacher.
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CHRISTOPH THALHAMMER
Nun zum Studentenleben in Ungarn und an der Universität. Der
Kontakt zu den Professoren in Ungarn und zu meinem Ansprechpartner für die Organisation dort war schnell, problemlos und verbindlich hergestellt. Für mich persönlich eine wichtige Basis. Die Universität Veszprém – mit ca. 7.000 Studenten – hat in Ungarn einen
exzellenten Ruf und zieht vor allem Studenten der Fachrichtungen
Chemie und Tourismus aus dem ganzen Land an. Die Studiengänge
sind sehr gut strukturiert und Zulassungsbeschränkungen meist mit
einer Aufnahmeprüfung und einem Interview verbunden. Auch gibt
es für ungarische Studenten viele Möglichkeiten, Auslandssemester
in der ganzen Welt mit Stipendium (vor allem USA) zu absolvieren.
Die Qualität des Studiums dort kann also mit der deutschen ohne
weiteres gleichgesetzt werden.
Jeder ERASMUS-Student, der sich für ein Auslandssemester in
Ungarn entscheidet, bekommt einen Mentor der Universität zugewiesen, der sich in den ersten Wochen um fast alles kümmert. Die
Studentenorganisation organisiert Ausflüge (z.B. Budapest), lädt zu
Sportveranstaltungen und den typischen Studentenpartys ein. Meine
Wohnung befand sich ungefähr 10 Minuten von der Universität entfernt in einer renovierten Zwei-Zimmer Wohnung neben dem Sportstadion. Von dort waren es nur fünf Minuten zu der beliebten
Studentendisco »DC« (»Diak Center«).
An der Universität gibt es viele Sportmöglichkeiten (z.B. Tennis,
Schwimmen, Rudern/Segeln auf dem Plattensee) und ein FitnessCenter, das sich direkt in der Universität befindet. Von der Universität werden verschiedene Veranstaltungen für alle Studenten organisiert, deren Teilnahme sich lohnt (Dia-Vorträge, Ausflüge nach Budapest oder die Ruderregatta).
Der Ort Veszprém – auch bekannt durch seine erfolgreiche Handballmannschaft – gliedert sich in eine Altstadt mit mehreren Ein-
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UNGARN
kaufsmöglichkeiten und verschiedenen Wohnvierteln mit alten
Häusern aus der Zeit des Sozialismus und immer mehr neuen Wohnanlagen. Vor allem das Viertel um die Universität ist durch ältere Bauten, die teilweise renoviert sind, geprägt und erinnert an Wohnviertel
in der DDR. Am Stadtrand findet man jedoch viele neu gebaute und
schöne Einfamilienhäuser.
Für größere gesundheitliche Probleme gibt es ein Krankenhaus im
Ort. Zudem ist die Infrastruktur des Ortes mit mehreren Ärzten,
Banken, Hotels, Restaurants und einem großen Einkaufscenter,
»Tesco«, als sehr gut zu bezeichnen. Mir fällt nichts ein, was man
vermissen könnte.
Nun ein paar Details zum Studium: Ich war in den von mir gewählten
Studienfächern und in dem für mich in Frage kommenden Studiensemester der einzige Student aus dem Ausland und hatte deswegen
mit den Professoren einen »one-to-one«-Unterricht. Im Fachbereich
Tourismus wählte ich die Kurse »Market Research in Tourism« und
»Tourism and Hospitality Marketing«.
Meine anderen beiden Kurse waren »Unternehmensführung« und
»International Economics and Antitrust« im Fachbereich Betriebswirtschaft und Volkswirtschaftslehre. Zudem besuchte ich die Gastvorlesung von Prof. Zwerenz von der FH München zum Thema
»SPSS in der Praxis«. Für einen qualifizierten Schein musste entweder ein Essay geschrieben oder eine mündliche Prüfung abgelegt
werden. Freiwillig nahm ich sporadisch an Kursen des Fachbereichs
English-Teaching – über amerikanische und englische Geschichte –
teil, da mich dies privat auch interessierte.
Bezogen auf mein Studium habe ich die belegten Kurse erfolgreich
abgeschlossen und konnte durch eine Verlängerung des Studiensemesters mit meiner Diplomarbeit über »Projektmanagement in der
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CHRISTOPH THALHAMMER
CHRISTOPH THALHAMMER
Ich bin mir sicher,
dass diese – wohl etwas
außergewöhnliche – Wahl
bei vielen Gesprächspartnern
und Personalverantwortlichen
im Gedächtnis geblieben ist
und unter anderem ein
ausschlaggebender Grund für
meine jetzige Anstellung war.
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UNGARN
Marktforschung anhand eines praxisorientierten Beispiels« beginnen. Dabei befragte ich mit anderen Studenten aus drei verschiedenen Universitäten rund um den Balaton insgesamt 2500 Touristen in
6 verschiedenen Sprachen, um das Tourismusverhalten am Plattensee zu erforschen. Die Befragung wurde von einem Marktforschungsinstitut in Balatonfüred, das für den staatlichen Entwicklungsrat
arbeitet, gefördert.
Das Semester in Ungarn hat mir sehr gut gefallen, da ich viele interessante Leute kennen gelernt habe und mich die einfache, aber dennoch glückliche Lebensweise der Ungarn persönlich bereichert hat.
Leider sind die Abschluss- und Anrechnungsmöglichkeiten bei ERASMUS-Auslandssemestern in Osteuropa sehr begrenzt.
Als ich mich nach Beendigung des Studiums um einen Arbeitsplatz beworben habe, bin ich in Vorstellungsgesprächen immer wieder gefragt worden, wieso ich mich für einen Auslandsaufenthalt in
Ungarn entschieden habe. Ich bin mir sicher, dass diese – wohl etwas
außergewöhnliche – Wahl bei vielen Gesprächspartnern und Personalverantwortlichen im Gedächtnis geblieben ist und unter anderem
ein ausschlaggebender Grund für meine jetzige Anstellung war.
Bei meinem ersten Arbeitgeber nach dem Studium betreute ich als
Länderreferent mehrere Beteiligungsgesellschaften in Osteuropa und
habe unsere dortigen Kollegen bei der Neukunden-Akquise und dem
Umsatzaufbau in den neuen osteuropäischen Märkten – speziell nach
Öffnung der europäischen Grenzen – unterstützt. Auch absolviere ich
momentan – neben meiner beruflichen Tätigkeit als Vertriebsmitarbeiter eines der weltweiten Marktführer im internationalen Lampengeschäft – in Teilzeit ein Executive MBA-Programm mit einem
Auslandsmodul in Asien. Den Reiz, etwas Neues anzugehen, werde
ich hoffentlich nie verlieren. Bereut habe ich es bislang nicht.
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SONJA MIEKLEY
SONJA FRIEDERIKE MIEKLEY, GEB. 1983 IN STUTTGART-BAD CANNSTATT.
BACHELOR IN EUROPEAN STUDIES AN DER UNIVERSITÄT MAGDEBURG.
ERASMUS-AUFENTHALT: FEB–AUG 2003 AN DER
ST. KLIMENT OHRIDSKI UNIVERSITÄT SOFIA, BULGARIEN.
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BULGARIEN
Ein Semester in Bulgarien – oder
wie man Dinge des alltäglichen
Lebens zu schätzen lernt
Nachdem ich bereits in der zehnten Klasse ein Jahr im Ausland verbrachte, war der Gedanke, im Studium für ein Semester ins Ausland
zu gehen, naheliegend. Wegen meines Studienschwerpunktes fiel die
Wahl auf Bulgarien. Die Uni Magdeburg hatte zwar schon sehr lange
ERASMUS-Verträge mit der Uni Sofia, jedoch wurden diese nur
einseitig von bulgarischer Seite genutzt. So ging ich als erste Deutsche der Uni Magdeburg für ein Semester nach Sofia.
In Sofia sieht der Studiengang European-Studies kein Auslandssemester vor. So traf ich dort auf Mitarbeiter im ERASMUS-Büro, die
sich wunderten, dass eine Deutsche zum Studieren nach Sofia
kommt. Das ERASMUS-Büro war generell eher auf Bulgaren, die ins
Ausland wollten, spezialisiert und war deshalb mit Fragen zur Aufenthaltsgenehmigung in Bulgarien genauso überfragt wie ich selbst.
Des Weiteren traf ich auf einen Wohnheim-Direktor, der nur DialektBulgarisch sprach und sich keine Mühe gab, daran etwas zu ändern.
Und auf viele Bulgaren, die sich wunderten, dass ich als Deutsche aus
dem Land, das einer der Träume aller Bulgaren ist, aus einem der
Traumländer also, nach Bulgarien zum Studieren und nicht zum
Urlaub ans Schwarze Meer komme.
Dass die Organisation eines Semesters in Bulgarien so schwer sein
könnte, hatte ich mir nicht vorstellen wollen. Die Probleme begannen
schon bei den ersten Emails, die ich an die Professoren dort schrieb,
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SONJA MIEKLEY
denn mein Computer konnte die kyrillischen Schriftzeichen nicht
direkt entschlüsseln, und so war dies schon eine erste Herausforderung. Mein Bulgarisch steckte nach drei Semestern noch in den
Kinderschuhen. Nachdem ich das Problem der Entzifferung der kyrillischen Buchstaben gelöst hatte, kam das Problem, die jeweiligen
Wörter im Wörterbuch zu suchen und zu verstehen, was in der Email
steht.
Die Beantragung des Visums machte einen persönlichen Besuch in
der Botschaft in Berlin nötig. Die Erteilung des Visums war ein
Geduldsspiel, und die bulgarische Botschaft (die ja eine Behörde ist)
brachte mich schier zur Verzweiflung bei Nachfragen am Telefon.
Drei Tage vor Abflug hatte ich dann auch meinen Pass mit dem dazugehörigen Visum. Die Verlängerung des Visums bei den bulgarischen
Behörden glich einem zweimonatigen Marathon, den ich niemandem
wünsche. Denn bulgarische Behörden-Formulare sind selbst für
jemanden, der die Sprache etwas besser beherrscht, eine große Herausforderung, da man die amtlichen Abkürzungen für Grenzkontrollpunkt etc. nicht im normalen Sprachkurs lernt. Den Tag, an dem ich
endlich meine Aufenthaltsgenehmigungs-Karte in der Hand hielt,
werde ich nicht vergessen. Heute, nach dem EU Beitritt Bulgariens,
sollten diese Geschichten der Vergangenheit angehören, auch wenn
die Behörden nicht sehr viel moderner sind als vor vier Jahren.
Nachdem diese und einige weitere Probleme mit Hilfe meiner Bulgarischlehrerin in Magdeburg gelöst wurden, machte ich mich im
Februar 2003 auf den Weg nach Bulgarien. Dort angekommen, habe
ich erst mal feststellen müssen, dass ich fast nichts verstand und dass
es sehr kalt war. Dies war unter anderem auch deshalb der Fall, weil
in Bulgarien die Heizkosten verhältnismäßig hoch sind und deshalb
daran sehr gespart wird. Die Heizung im Studentenwohnheim funk-
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Der Wohnstandard und
auch die sanitären Standards
sind dort zwar weit unter
unserem westlichen Niveau,
aber ich habe dies gemacht,
um das bulgarische Studentenleben kennen zu lernen.
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tioniert auch nur vom 1. November bis 15. März, egal wie warm oder
kalt das Wetter ist. Da lernt man Wollsocken, Wollpullover etc. zu
schätzen.
Das Sprachproblem löste sich mit der Zeit und der Teilnahme am
Sprachkurs Bulgarisch für Ausländer (jeden Tag vier Stunden). Im
Anschluss an diesen Kurs hatte ich noch meine ›normalen‹ UniVeranstaltungen, in denen ich schnell Anschluss an Bulgaren fand.
Sehr gewöhnungsbedürftig war für mich der weniger geordnete
Ablauf der Lehrveranstaltungen; so kamen und gingen meine Kommilitonen, wann sie wollten. Auch wenn ich anfangs sehr viele
Probleme beim Verstehen und natürlich beim Notizen-Machen hatte
(da meine Vorlesungen komplett auf bulgarisch waren), habe ich
doch sehr viel gelernt in diesem Semester. Den Großteil dessen habe
ich zwar aus den von den jeweiligen Professoren zu diesem Thema
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herausgegebenen Büchern gelernt, doch setzte bei einigen Abschnitten ein gewisser ›Wiedererkennungseffekt‹ des in den Vorlesungen
Gehörten ein. Bei den Prüfungen am Ende des Semesters habe ich
nicht von meiner Option, auf Englisch geprüft zu werden, Gebrauch
gemacht, da ich die Fachbegriffe wie Rechtspersönlichkeit etc. eher
auf bulgarisch als auf englisch wusste. Für mich sehr komisch war
allerdings, dass die Prüfungen unter anderem auch sonntags stattfanden. Des Weiteren wird zu Beginn des Semesters ein Aufgabenblatt mit Fragen ausgeteilt. Dies sind die möglichen Prüfungsfragen,
die in der Prüfung gestellt werden können. (Gut, wenn man weiß,
dass genau dieses Blatt wichtig ist!)
Entgegen meinem ursprünglichen Wunsch wurde ich in einer bulgarischen Familie untergebracht. Um mehr mit anderen Studenten in
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SONJA MIEKLEY
Kontakt zu kommen, bin ich dort im Stadtzentrum ausgezogen und
in die Studentenstadt Studentskigrad am Stadtrand gezogen. Hier
befindet sich ein Großteil der Studentenwohnheime aller sofioter
Universitäten und Hochschulen. Der Wohnstandard und auch die
sanitären Standards sind dort zwar weit unter unserem westlichen
Niveau, aber ich habe dies gemacht, um das bulgarische Studentenleben kennen zu lernen. So teilten wir uns zu dritt eine Zwei-Zimmer
Wohnung mit einer eingebauten Spüle (aber ohne Kühlschrank und
Herd!), wurden aber mit einer unverbauten Sicht auf das VitoschaGebirge und die klare Luft am Gebirgsfuß entschädigt. Die Wohnung
war spartanisch eingerichtet; es gab für jeden ein Bett, Tisch und
Stuhl, und ich war froh, meinen eigenen dicken Schlafssack mitgebracht zu haben. Im Sommer während der alljährlichen Wartungsarbeiten gab es für sechs Wochen nur kaltes Wasser. Dies macht erfinderisch und trägt zur Kommunikation bei; denn wie bekommt man
täglich warmes Wasser zum Duschen? Die Bulgaren, die schon länger
in Studentskigrad wohnten, hatten so einige Tipps und Tricks auf
Lager. Die Dichte der Läden, die rund um die Uhr geöffnet sind, Internetcafés, Kneipen und Restaurants, ist in diesem Stadtteil allerdings
so hoch wie nirgendwo sonst in Sofia. Dank der vielen »99-PfennigLäden« hatte ich mir schnell einen Haushalt eingerichtet, der den mir
folgenden Magdeburger ERASMUS-Studenten zur Verfügung stand.
Mein Umzug nach Studentskigrad wurde mir durch die häufig
verkehrenden billigen öffentlichen Verkehrsmittel sehr erleichtert.
Mit dem städtischen Nahverkehr gelangt man von dort aus in 15
Minuten an die Talstation der Seilbahn in die Ski- und Gipfelregion
des Vitoscha-Gebirges.
In der Freizeit kann man in Bulgarien viel unternehmen; so bin
ich mit einigen anderen ERASMUS-Studenten an den Wochenenden
quer durchs Land gereist und habe sehr viele historische Stätten, das
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BULGARIEN
Rosenfestival (ein großes Fest zu Beginn der Rosenernte für die bulgarische Rosenölherstellung) und das Schwarze Meer erlebt, aber
auch ab und zu einen Blick über Bulgariens Grenzen hinweg geworfen. Leider waren wir bei diesen Ausflügen meist nur Ausländer, da
sich die Bulgaren trotz der für Westeuropäer günstigen Preise solche
Ausflüge finanziell nicht oft leisten können. So habe ich viele Teile
Bulgariens gesehen, die die meisten Bulgaren nur aus Geschichtsbüchern etc. kennen. Bei unseren vielen abendlichen Unternehmungen, seien es Opern-, Theater- oder Diskothekenbesuche, wurden wir
jedoch meist von unseren bulgarischen Freunden begleitet.
Ohne meine Erfahrungen während des Studiums hätte ich mir wahrscheinlich ein Praktikum in Sofia nicht vorstellen können, welches zu
meiner ersten Anstellung führte. Ich möchte die schöne Zeit nicht
missen, in der ich sehr viele neue Kontakte geknüpft habe, viel durch
das Land gereist bin, viel gesehen habe, wodurch mir Bulgarien und
die Mentalität der Leute vertraut und einige Eigenarten bekannt
geworden sind.
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DEUTSCHLAND
Internationale Freundschaften
bauen die Zukunft
Am 5. Dezember 2003 hat die Geschichte angefangen. Ich kann mich
noch heute genau an das Datum erinnern. Ich saß damals mit meinen
Freunden im Korridor der Universität in Krakau. Es war schon sehr
spät und wir warteten auf die mündliche Prüfung. Alle waren schon
sehr müde und verzweifelt. Draußen herrschte Winter, es war sehr
kalt und schon lange Zeit dunkel. Auf dem Korridor konnte man
meist nur Gespräche über Prüfungen und zukünftige Karrieren
hören. Auf einmal haben wir gemeinsam mit meinen Freunden festgestellt, dass wir noch zu jung sind und noch etwas erleben wollen,
bevor wir uns Sorgen um Familie und Arbeit machen. So ist die Idee,
ins Ausland zu fahren und dort zu studieren, entstanden. Wir waren
vier, und jeder von uns wollte in anderes Land fahren. Wir haben uns
erkundigt, was es für Möglichkeiten gibt, um im Ausland zu studieren. So sind wir auf das ERASMUS-Programm gekommen.
Ich habe mich für Deutschland entschieden. Es war kein Zufall, dass
ich dieses Land gewählt habe. Als siebenjähriges Kind war ich zwei
Jahre in München, wohin mein Vater zu Forschungszwecken mit
seiner Familie, also auch mit mir übergesiedelt war. Dort habe ich
die deutsche Grundschule besucht und habe den ersten Kontakt zu
Deutschland, deutscher Kultur und den Menschen gehabt. Nach so
vielen Jahren wollte ich als erwachsener, voll bewusster Mensch wieder nach Deutschland fahren.
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So ist die Idee entstanden, dort als ERASMUS-Student zu studieren.
Im Mai 2004 war schon klar, dass ich in Deutschland als ERASMUSStudent studieren werde. Es sollte die Hochschule (FH) in Mittweida
in Sachsen sein. Der Ort war mir überhaupt nicht bekannt, aber
voller Optimismus und mit ein bisschen Angst, was auf mich dort
wartet, bin ich im September nach Mittweida gefahren. Über
Deutschland und deutsche Kultur wusste ich schon damals ziemlich
viel. Ein bisschen aus der Zeit, als ich als kleiner Junge in Deutschland
lebte. Ziemlich viel habe ich auch im Goethe-Institut in Krakau
gelernt. Aber alle Informationen über Deutschland waren entweder
aus der Zeit, als ich klein war, oder es waren Informationen aus den
Büchern oder von anderen Menschen. Deswegen sollte meine Reise
für mich ein großes Ereignis und eine Herausforderung sein.
Anfang September war ich schon in Mittweida, wo ich an einem
Sommersprachkurs teilgenommen habe. Mittweida ist eine Studentenstadt; denn als ich dort Anfang September angekommen bin, war
fast kein Mensch zu sehen. Die deutschen Studenten waren noch
zuhause und sollten erst im Oktober kommen. Die ersten Leute, die
ich auf dem Weg ins Wohnheim getroffen habe, waren sehr offen
und hilfsbereit. Schnell habe ich mit Hilfe von Leuten aus Mittweida
das Wohnheim, wo ich wohnen sollte, gefunden. Also das erste
Problem wurde sehr schnell gelöst. »Jetzt beginnt mein großes Abenteuer« – , so waren meine ersten Gedanken, nachdem ich meine
Sachen ausgepackt habe. »Aller Anfang ist schwer« – lautet ein deutsches Sprichwort. Es ist auch wahr. Es ist alles am Anfang neu, die
Leute, die Umgebung, die Sprache. Man weiß nicht, womit man
anfangen soll. Wenn man so viel Glück wie ich hat und schnell Leute
trifft, die den Menschen helfen, dann ist es nicht so schwer.
Schon in den ersten Tagen habe ich viele andere ausländische
Studenten kennen gelernt. Von Anfang an haben wir uns richtig gut
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verstanden. Obwohl manche von uns nicht so gut deutsch sprechen
konnten, haben wir immer eine gemeinsame Sprache gefunden, um
uns zu verstehen. Nach weniger als zwei Wochen waren wir schon
eine richtige große ›Mittweida-Familie‹. Wir waren fast 24 Stunden
pro Tag zusammen. Wir haben gemeinsam gekocht, gelernt, gefeiert.
Jeder war ein Teil der Familie. Es waren Leute aus Polen, Spanien,
Rumänien, Deutschland, Frankreich und Tschechien, und jeder fühlte
sich fast wie zuhause. Dadurch dass wir eine große ›internationale
Familie‹ waren, konnten wir viel über Länder und Kultur der anderen
lernen. Jeder von uns war anders, hatte andere Erfahrungen, eine
andere Kultur, eine andere Religion, andere Probleme, sprach eine
andere Sprache; aber wir waren eine große Gruppe, für die Deutschland die zweite Heimat war. Hier haben wir uns getroffen, hier wohnten wir und hier haben wir gemeinsam das Leben geführt. Es waren
keine Grenzen zwischen uns.
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Von großer Bedeutung dafür, dass wir so gut uns verstanden
haben, war vor allem die Hochschule in Mittweida und insbesondere
Frau Marion Dienerowitz. Sie hat uns gezeigt, dass es keine Grenzen
zwischen Ländern gibt, dass man gemeinsam viel Gutes machen
kann, dass man einfach tolle Freunde auf der ganzen Welt finden
kann. Der Kontakt mit den deutschen Studenten war auch intensiv.
Aus Erzählungen von meinem Freunden, die früher in Deutschland
studiert haben, habe ich gehört, dass man viel Zeit braucht, um in
eine deutsche Gruppe reinzukommen. In Wirklichkeit war es nicht so
schwer. Natürlich musste man am Anfang das Klischee von Polen
besiegen. Leider haben überall auf der Welt die Medien eine große
Macht und zeigen meistens die schlechten, negativen Sachen über
bestimmte Länder und Leute. Zum Glück konnten wir durch die Möglichkeit, im Ausland zu studieren, die negativen Vorstellungen ändern
und die anderen Länder von anderer Seite, als die Medien sie bieten,
zeigen. So sind auch große Freundschaften zwischen uns und den
deutschen Studenten entstanden.
Aber ich bin als ERASMUS-Student nicht nur nach Deutschland
gefahren, um dort Freunde zu suchen und die internationale Kultur
kennen zu lernen. sondern auch oder vor allem, um dort zu studieren.
Von dem Studium in Deutschland hatte ich überhaupt keine Ahnung.
Jetzt kann ich sagen, dass das Studium in Deutschland wesentlich
anders als in Polen aussieht. In polnischen Universitäten oder Hochschulen legt man großen Wert auf das theoretische Wissen. Im Unterschied dazu lernt man an den deutschen Hochschulen mehr praktische
Sachen und man bereitet die Studenten auf die Arbeit in der Industrie
vor. Viele deutsche Firmen arbeiten zusammen mit den Studenten.
Man realisiert gemeinsam verschiedene Projekte. So eine Art von
Lernen ist in Polen leider immer noch sehr selten. Im Unterschied zu
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den deutschen Universitäten ist die Teilnahme an der Vorlesung in
Polen Pflicht.
Einen sehr großen Einfluss auf mein zukünftiges Leben und mein
Verhalten hatte der Rhetorikkurs, den ich während des Studiums in
Deutschland besucht habe. Der Rhetorikkurs war vor allem an der
Praxis orientiert. Es wurden verschiedene Techniken vermittelt und
eingeübt, die für das öffentliche Sprechen hilfreich sind. Besonders
freies Sprechen, die Bewältigung von Redeangst, die Mimik und
Gestik waren die Schwerpunkte, die mir später bei Vorstellungsgesprächen viel geholfen haben. Durch die Teilnahme habe ich auch die
Angst, vor vielen Leuten zu sprechen, verloren.
Schon heute kann ich als Mitarbeiter einer deutschen Firma den
Einfluss des Aufenthalts auf mein Berufsleben gut beurteilen. Als
ERASMUS-Student hatte ich nicht nur die Möglichkeit, in Deutschland zu studieren, sondern ich habe auch gelernt, die Leute besser zu
verstehen. Die internationale Gruppe, die verschiedenen Kulturen
haben mir geholfen, breiter auf die Welt zu schauen. Alle diese Erfahrungen haben mir auch Mut gegeben, die Welt besser zu erkennen
und besser zu verstehen. Jeden Tag habe ich jetzt Kontakt zu den
deutschen Arbeitskollegen. Wir verstehen uns sehr gut. Mit vielen
sind auch Freundschaften entstanden. Ich bin sicher, dass mein Aufenthalt in Deutschland als ERASMUS-Student großen Einfluss darauf
hatte. Ich habe auch gelernt, dass man vor Klischees, die über ein
Land existieren, keine Angst haben soll. Man soll durch positives Verhalten Freundschaften mit den Leuten aufbauen.
Meine Freunde sagen auch, dass ich jetzt (endlich) selbstsicherer
geworden bin. Es ist bei mir also etwas Positives zu erkennen. Früher
wurde ich als kleiner, verlorener Junge gesehen. Jetzt weiß ich genau,
was ich vom Leben will. Das habe ich auch dem ERASMUS-Programm zu verdanken.
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Die Zeit als ERASMUS-Student hat mir geholfen, die Welt positiv zu
sehen, obwohl es manchmal schwer ist. Dieses positive Denken ist
mir jetzt bei der Arbeit und auch im privaten Leben sehr behilflich.
Viele Probleme kann man durch Offenheit gegenüber der Welt und
den Menschen lösen. Diese Eigenschaft in mir hat der Aufenthalt in
Deutschland als ERASMUS-Student gefördert. Jetzt weiß, ich dass
man die Probleme nicht unbedingt allein lösen soll, sondern daß man
Freundschaften pflegen muß, dann kommt die Hilfe bei Problemen
von alleine.
Das Abenteuer in Deutschland hat meine Persönlichkeit gebildet.
Wenn jemand ein unwiederholbares Abenteuer erleben will, wo er
richtige Freunde treffen kann und wo seine Persönlichkeit entdeckt
und gebildet wird, dann kann ich das ERASMUS-Programm mit voller Verantwortung empfehlen.
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Leonie Neumann,
geb. 1982 in Nürnberg.
Diplom in Textildesign
an Burg Giebichenstein,
Hochschule für Kunst
und Design Halle,
Halle (Saale).
ERASMUS-Aufenthalt:
Oktober 2005–April 2006
an der Mimar Sinan Fine
Arts University, Istanbul,
Türkei.
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Erfahrungen eines langen
türkischen Winters
Wo Orient und Okzident zusammenkommen, Ost und West, Islam
und Christentum, da muss alles ganz besonders sein – das ist das hartnäckigste Vorurteil über Istanbul. Der Wirklichkeit begegnete ich
dort in sieben Monaten: Der Winter ist lang, der Alltag hart und jeder
macht sein Ding. Den Reiz dieser chaotischen 20-Millionen-Stadt,
muss man suchen. Er liegt in ihren Dreckecken und in ihrem Kitsch,
in ihrer Depression und ihrer Unvollkommenheit. Was man auf der
Suche findet, verwirrt und fasziniert im gleichen Moment: Politiker,
die trotzig wider sichtbare Tatsachen die moderne Türkei verkünden,
während eine Lebenskultur dominiert, die in den Traditionen des
Islam wurzelt. Dazu kommt unreflektierter Nationalismus, und die
Lebensrealität der vielen einzelnen schließlich mäandert auf verschlungenen Bahnen zwischen all dem hin und her. Mein siebenmonatiger ERASMUS-Aufenthalt in Istanbul war eine genauso spannende und inspirierende wie anstrengende Zeit. Die Orientierung in
einer visuell ganz andersartigen Umgebung voller interessanter
Materialkontraste und ungewohnter Architektur war für mich als
Textildesign-Studentin sehr reizvoll.
Auf der Suche nach Spuren textiler Kultur und Geschichte im Mutterland von Samt und Seide stieß ich in Museen, kunsthandwerklichen
Sammlungen und Antiquitätenbasaren auf meisterhafte Zeugnisse.
Verwundert nahm ich daher die uneingeschränkte Gläubigkeit in die
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Zukunft billiger Massenproduktion an meiner Gasthochschule zur
Kenntnis. Einen Kulturraum kennen zu lernen, in dem Textilien traditionell eine hohe Wertschätzung entgegengebracht wird, war der fachliche Beweggrund für ein Auslandssemester in der Türkei gewesen.
Wie sehr Farben und Muster die kulturelle Bindung von Menschen
auszudrücken vermögen, wurde in Istanbul besonders deutlich für
mich erkennbar: Eine große Mehrheit der Bevölkerung lebt seit weniger
als einer Generationen erst in der Stadt. Fast jeder ist Zugezogener;
vielen Neu-Istanbulern gilt es, die kulturelle Identität der kleinasiatischen Provinzen im Großstadt-Alltag zu bewahren, auch über die
Dinge des täglichen Gebrauchs. Vom Mitteleuropäer sofort als gnadenloser Kitsch Empfundenes macht aus türkischer Sicht ein Heim oft
erst wohnlich. Teppich, Tischtuch und Teekanne sind immer gemustert
und bilden einen farbenfrohen Anblick. Der ungezwungene Umgang
mit tausend und einem Muster, die völlig sorglose Kombination von
allem und jedem miteinander prägt die Schaufenster und Märkte, die
Wohnzimmer, die ganze Stadt.
In diesem Umfeld entdeckte ich für mich darstellende Muster:
Während meines bisherigen Studiums waren mir diese fremd gewesen, für den Gebrauch in Deutschland erschienen sie mir als ungeeignet und austauschbar. Dass gemusterte Stoffe Menschen mehr bedeuten können als ein bisschen modischen Chic, die Erinnerung an eine
vergangene Heimat zum Beispiel oder den Traum von etwas Grün
zwischen sieben Hügeln aus Beton, lernte ich in Istanbul. Ich belegte
also Kurse im Musterentwurf, hantierte mit Hellblau, Ocker und Grün
gleichzeitig und setzte schließlich einen Entwurf als sechsfarbigen
Siebdruck um. Bemerkenswert ist das vor allem, weil den Werkstattkapazitäten an der Mimar Sinan Universität mit der Umschreibung
als ›begrenzt‹ bereits geschmeichelt wäre: im Fachbereich Textildesign gab es für die vielen Studenten – dreißig neue pro Semester
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im Vergleich zu den sechs, die an meiner deutschen Hochschule pro
Jahr zugelassen werden – einen einzigen Tisch zum Drucken. Umso
glücklicher war ich, trotz der beengten Verhältnisse und ohne Computer meinen Entwurf umsetzen zu können.
Der autoritäre Umgangston an der Uni, der es gebot, selbst unsinnige Aufgabenstellungen nicht zu hinterfragen, und die kurzen
Öffnungszeiten der Uni, die auf eine politische Kontrolle über studentische Aktivitäten abzielte, stellten für effektives Arbeiten eine große
Einschränkung dar. Also beschränkte ich meinen Aufenthalt dort
auf ein sinnvolles Maß und zog viel mit der Kamera herum. Fasziniert von den Extremen der überfüllten Stadt, stieß ich auf meinen
Erkundungswegen immer wieder auf unglaubliche Ansichten. Die
verstopften Strassen mit ihren hunderte Meter langen Pfützen, die
schwarzen Abgaswolken, die aus den Schornsteinen der BosporusFähren quellen und die im nasskalten Winter verrottenden Holzhäuser sind typische Eindrücke meines Alltags in Istanbul. Alternde
Infrastruktur, die noch ältere überwuchert, schafft eine einzigartige
Patina, in der Neues schon fast frivol wirkt. Menschen, die allabendlich mit müden Gesichtern in überfüllten Bussen wie moderne Karawanen durch die Stadt schaukeln, die blondierten Schönen, die im
Gucci-Viertel mit Kreditkarten aus den Taschen ihrer LeopardenMäntel hantieren, während in der Parallelstraße in einer illegal erbauten Siedlung aus schiefen Hüttchen, die von nasser Wäsche und
Familienmitgliedern überquellen, der Rauch von Holzkohlen steigt;
das waren Themen, die mich zu vielen Fotografien inspirierten.
Auf dem täglichen Heimweg durch ein Markt-Viertel sammelte ich
die Seitenwände zerlegter Obst- und Gemüsekisten. Im Hochschulkurs »Textilkunst« verbaute ich diese zu einer Installation. Etwas, das
für die Händler nur Müll ist, wurde durch Rekombination und Hängung zu etwas Neuem. Das gebrauchte, teilweise verschmutzte Holz
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mit den farbenfrohen Aufdrucken spiegelte in seiner Neuordnung im
Flächenzusammenhang die eigentümliche Schönheit türkischer
Marktkultur wider. Die Kommilitonen waren von meiner Idee überrascht, von dem fertigen Objekt aber doch angetan. Zum »AbfallSammeln« war ich mehr inspiriert als zur Anfertigung romantischer
Zeichnungen – Istanbul ist ja auch nur in raren oder konstruierten
Momenten im idyllischen Sinne ›schön‹.
Im Fachbereich »Traditionelles Kunsthandwerk« wählte ich Kurse
im »Klassischen Marmorieren«: Hier lernte ich viel über die unendliche Vielzahl osmanischer Ornamente und filigraner Muster, die sich
als Folge des Bilderverbots ausgeformt hatten. Außerdem studierte
ich verschiedene Techniken des Teppich-Knüpfens – jedem Türkeiklischee entsprechend. Seltsamerweise fand ich den passenden Kurs
im Fachbereich Kunst, das Textildesign fühlte sich für sämtliche Aufgaben außerhalb der Gestaltung von Mode-Stoffen nicht zuständig.
In der Kunst wiederum war man auf bildhafte Tapisserien-Weberei
eingestellt, so dass es mich Überredungskunst kostete, kostbare Wolle
dafür verwenden zu dürfen, banale Noppen-, Lücken- und Wellenstrukturen auszutesten, anstatt etwa ein monumentales Angela-MerkelPorträt zu weben. Die Erforschung traditioneller Techniken zur Erzeugung neuer Ausdrucksweisen, also der analytischen Auffassung
des Bauhauses und meiner deutschen Ausbildungsstätte zu folgen,
half mir sehr, mich in den zwiegespaltenen ideologischen Auffassungen über alt und neu und Tradition und Moderne zu bewegen, die
Kunst und Design in der Türkei zur Zeit vereinnahmen.
Im Kurs für »Modestoff-Weberei« im Fachbereich Textildesign
dagegen war Wolle kein Thema. Oberflächen-Experimente am TastenWebstuhl sollten auf jeden Fall unter Einbeziehung bunter »EffektFäden« stattfinden, etwas, das ich vermutlich nie von allein angefasst
hätte. Schon der Ausflug mit den türkischen Kommilitonen zum
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Einkauf auf dem »Faden-Basar« war es aber wert: Dort saßen Menschen in den Galerien und im Innenhof plaudernd vor Ständen voller
bunter Garnknäueln beisammen und wickelten von Hand Fäden von
großen auf kleine Spulen. Gerade hatten sie erkannt, dass der aktuelle
Stromausfall einer von den längeren zu sein schien und dass die Spulmaschinen noch ein Stündchen still stehen würden. Zwischen Gejammer über die Politik und Klatsch über die Nachbarn wurde Tee gereicht,
die Pop-Songs aus den Radios schwiegen, und ein paar Sonnenstrahlen verliehen dieser mitten am Tag plötzlich entstandenen Ruhepause etwas von einer Oase. Die Weberei-Aufgabe macht mir am
Ende viel Spaß, besonders wegen der Gesellschaft meiner neugierigen und lieben türkischen Kommilitonen. Diese versuchten nicht nur,
mir den Webstuhl vor meiner Nase und das Phänomen Istanbul zu
erklären, sondern auch die komplizierten Machtverhältnisse an türkischen Hochschulen.
Die Erfahrung, herzliche Freundschaften über kulturelle Unterschiede hinweg zu schließen, bedeutet mir viel und entschädigt für
viele Unannehmlichkeiten, mit denen ich als Austauschstudentin in
der Türkei konfrontiert war. Korruption und Unberechenbarkeit der
Hochschulbürokratie machten es etwa unmöglich, einen Studentenausweis und die damit verbundenen finanziellen Vorteile zu erhalten.
Die Ausstellung einer simplen Studienbescheinigung, deren Fehlen
vom deutschen Auslands-Bafög-Amt mit Nichtauszahlung der monatlichen Rate sanktioniert wurde, erforderte einen wochenlangen, kraftraubenden Kampf. In zahllosen Diskussionen mit einer völlig resignierten türkischen Auslands-Sekretärin, die in allen Angelegenheiten
nur müde eine Stufe nach oben verwies, erweiterte ich nicht nur mein
Vokabelfeld »Beschweren«, sondern lernte fürs Leben, wie allumfassend Hierarchien lähmen, die längst zum Selbstzweck geworden
sind. Negativ war außerdem das kommentarlose Ausbleiben jeder
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Hilfe bei der Suche nach einer Unterkunft auf dem verstopften Mietmarkt Istanbuls. Die wenigen ERASMUS-Studenten der Uni sind
allein jedoch der hemmungslosen Abzocke ausgeliefert, die Ausländern gegenüber am Bosporus grassiert. Fantasie-Mietpreise und etliche
Begegnungen der dritten Art während der Suche nach bezahlbarem
Wohnraum in zweifelhaften Stadtteilen waren die Folge, der gesamte
Aufenthalt wurde verkompliziert. Umso stolzer war ich, selbst ein
Zimmer gefunden und mir in sieben Monaten einen Weg durch das
kulturelle und moralische Dickicht Istanbuls gebahnt zu haben. Ich
bewundere den Balanceakt, den junge Leute dort täglich zwischen
den Ansprüchen nach Bildung einerseits und einem traditionellen
und sehr wenig auf den einzelnen als Individuum bezogenen Familiengefüge andererseits vollführen müssen, stets hin und her gerissen
zwischen Weltoffenheit und nationalistischem Reflex.
Als Ausländerin zu leben, ist anders, lernte ich. So sehr ich die Gastfreundschaft meiner Freunde genoss, die mich sogar zu Familienfesten
wie dem Zuckerfest zum Ende der Fastenzeit einluden, so verhasst
waren mir die ständige männliche Anmache und die dummen Vorurteile, die viele Türken über unsere Kultur haben. Den Wert von Bildung
für den fairen Umgang miteinander im Alltag, ihren zivilisatorischen
Effekt auf den einzelnen, lernte ich vor allem dadurch kennen, dass
sich in Gesichtern voller Gier und Abscheu vor »westlicher Morallosigkeit« keine Spur davon fand. Die Fähigkeit zu differenzieren und
sachlich zu argumentieren, selbst dann noch, wenn es um Politik oder
Geschichte geht, sehe ich nach meinem Auslandssemester nicht mehr
als selbstverständlich an. Sprachkenntnisse, erfuhr ich, öffnen einem
die Türen zu den Herzen anderer Menschen: Der Gemüseladenbesitzer, die alte Dame auf dem Nachbarplatz im Bus, jeder war verblüfft
über mein bisschen Türkisch. Viele interessante und persönliche
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Gespräche begannen aus dieser Situation heraus. Wer der türkischen
Sprache Aufmerksamkeit entgegenbringt, so erklärte man mir, tut das
auch den Türken gegenüber. Tatsächlich wurde ich viel besser respektiert als ›sprachlose‹ Ausländer. Ein Wirt im überteuerten TouristenViertel fasste nach der Schrecksekunde darüber, dass ein dunkelblondes
Mädchen seine Sprache konnte, den Sachverhalt so zusammen: »Du
kannst türkisch? Dann kriegst Du natürlich Rabatt!«.
In Istanbul leben Arme, Reiche, Religiöse und Atheisten in verschiedenen Stadtvierteln. Jeder versucht, so wenig wie möglich mit
den anderen zu tun zu haben. Misstrauen prägt das Klima. Sobald es
aber gelingt, zum einzelnen Menschen vorzudringen, ist die Neugier
groß. Spricht man dann noch wider Erwarten türkisch, haben die
Fragen kein Ende mehr: Was man als Ausländerin hier mache, an welcher Uni, warum, und überhaupt: »Wo ist eigentlich Deine Familie?«
Ich lernte offene Neugier zu schätzen. Der reservierten Deutschen in
mir wurde sie zwar manchmal zu viel, im anonymen Großstadtalltag
brachte sie mich aber mit vielen Leuten und ihrer Sicht auf das Leben
in Kontakt. Heute gehe ich selbst direkter mit Ausländern um. Die
meisten freuen sich, ins Gespräch zu kommen und erzählen gern von
ihrer Heimat, wie ich nun weiß. Mein Aufenthalt in der Türkei bot
mir einen neuen Blickwinkel auf Europa – den von außen. Für die
Türkei ist der schwierig: politisch sitzt sie zwischen allen Stühlen,
verkeilt zwischen den Forderungen der EU und den religiösen Ideologien der Nachbarn Syrien und Iran. Junge Türken und Türkinnen
leiden darunter, dass die von Europäern als selbstverständlich angesehene Freizügigkeit des Reisens für sie nicht gilt und sie sich mit
überteuerten Visa und arroganten Konsulaten herumplagen müssen.
Insgesamt hat mich mein Auslandssemester in der Türkei sehr bereichert, auch wenn es mich gelegentlich überforderte. Die autoritäre
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Ein Wirt fasste nach der
üblichen Schrecksekunde
darüber, dass ein dunkelblondes
Mädchen seine Sprache konnte,
den Sachverhalt so zusammen:
»Du kannst türkisch? Dann
kriegst Du natürlich Rabatt!«.
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Struktur der türkischen Gesellschaft, die verschachtelte Kommunikation und die ständige nationale Selbstbeweihräucherung machten
mir Probleme. Ich wurde zur aufmerksamen Beobachterin, auch meiner
eigenen – deutschen – Identität. Deutsch-Sein war vorher ein vager
Begriff gewesen. Fast hätte ich bestritten, dass an mir überhaupt
etwas spezifisch deutsch sei. Seit ich weiß, wie viel mir kostenlose
Bildung, Sozialsystem und Rechtsstaat und die Kultur der offenen
Sachdiskussion bedeuten, ist er mir klarer. Inzwischen blicke ich mit
liebevollen Augen auf mein Heimatland, die endlosen Selbstanalysen
seiner Bewohner und seine schönen Bibliotheken, auf das also, was
ich vermisst habe. Die Freiräume und die Förderung an meiner Hochschule weiß ich jetzt viel mehr zu schätzen, vor allem den Luxus von
guter Ausstattung und von auf Augenhöhe mit dem Professor geführten Diskussionen. Die Zeit in der Türkei hat mich selbstbewusster
und durchsetzungsfähiger gemacht und meinen Horizont für andere
Kulturen erweitert. In der Zukunft wäre ich weiteren Auslandsaufenthalten nicht abgeneigt, langfristig sehe ich mein Leben aber im
Land meiner Sprache und meiner Familie.
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Katja Kordels, geb. 1977 in Teheran/Iran.
Dipl. Betriebswirtin (FH) an der Fachhochschule
München. ERASMUS-Aufenthalt: Wintersemester 1999/00
an der Università di Bologna, Italien.
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Tourismusmanagement
in Rimini
ERASMUS-Programm – ein Studiensemester an einer europäischen
Austauschhochschule verbringen –, das passte genau zu mir, wie die
Faust aufs Auge. Meine Entscheidung hatte wenig mit der Tatsache zu
tun, dass potentielle Arbeitgeber Wert auf Auslandserfahrung legen
könnten. Auch dass die Chancen auf ein Vorstellungsgespräch steigen
könnten, weil es im Lebenslauf gut aussieht, wenn man mal im Ausland war, war nicht von besonderer Bedeutung. Nein, für mich war
es der Auslandsaufenthalt an sich, die Konfrontation mit einem
fremden Land, der Umgang mit neuen Menschen, ihrer Kultur und
Sprache. Eine weitere Möglichkeit, die Lebenssituation an einem
anderen Ort kennenzulernen, überzeugte mich davon, unbedingt am
ERASMUS-Programm teilzunehmen.
Der Wunsch, für einige Zeit ins Ausland zu gehen, wurde mir im
wahrsten Sinne des Wortes bereits in die Wiege gelegt. Meine Eltern
hielten sich zum Zeitpunkt meiner Geburt für drei Jahre im Auftrag
einer großen deutschen Firma in Teheran auf. Von klein auf hatten
wir Kontakt zu Familien und Personen, die ähnliche Erfahrungen
gemacht hatten und für einige Zeit im Ausland waren. Schnell war
mir klar, daß es sich es um einen besonderen Menschenschlag
handelt. Der Versuch, sich im Ausland zu integrieren und festzustellen, dass man trotz aller Bemühungen doch immer anders bleiben
wird, prägt auf eine ganz besondere Weise. Man lernt Weltoffenheit,
Toleranz und auch, die eigene Kultur zu hinterfragen, Selbstverständ-
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lichkeiten nicht mehr als solche hinzunehmen und viele Dinge mehr,
die wohl allgemein als Horizonterweiterung beschrieben werden. Ich
nehme an, dass potentielle Arbeitgeber eben diese Werte unter ihren
Bewerbern suchen und dass sich deshalb ein Auslandsaufenthalt im
Lebenslauf immer gut macht.
Beim Tourismusmanagement-Studium lag es nahe, jede Möglichkeit zum Auslandsaufenthalt zu nutzen. Ein großer Teil aller Studenten entschied sich für eine spanische Hochschule. Spanisch sprach
ich aber bereits fließend (nach einem neunmonatigem Aufenthalt in
Buenos Aires direkt nach dem Abitur), also bot es sich an, die zwei
theoretischen Jahre Italienisch als AW-Fach einem ersten Praxistest
zu unterziehen, und ich entschied mich für die Universität von Bologna. Schnell merkte ich, dass sich die Kenntnisse unserer Professoren
über die Partneruniversität in Grenzen hielten und niemand vor mir
von unserer Hochschule nach Bologna gegangen war. Also war ich
völlig auf mich alleine gestellt, um den Informationsbedarf und die
Organisation abzudecken. Aber es ist Teil der Erfahrung, sich in
bestimmten Situationen alleine zurecht zu finden und nach Lösungen zu suchen, anstatt auf die Hilfe anderer zu warten. Durch Zufall
erfuhr ich während meiner Vorbereitungen, dass sich die Fakultät für
Tourismusmanagement der UNIBO gar nicht in Bologna, sondern in
Rimini befand; das ergab ja auch einen gewissen Sinn beim Studienfach Tourismus.
Ich kann mir schwer ein besseres Gastland als Italien für das ERASMUS-Programm vorstellen. Die Menschen gehen vom ersten Augenblick auf einen zu (besonders die männlichen Exemplare) und man
knüpft sofort Kontakt zu anderen Studenten und Studentinnen. Die
Kenntnisse im Hinblick auf organisatorische Details waren auch
bei den Zuständigen in Rimini sehr elementar, aber die italienischen
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KATJA KORDELS
Kollegen überspielten die fehlende Kenntnis locker mit ihrem Charme und mit ihrer Gabe zur Improvisation.
Meine Italienischkenntnisse waren zu Beginn noch nicht besonders gut, und am ersten Tag begleitete ich einige Kommilitonen,
die ich soeben kennengelernt hatte, in eine Vorlesung, bei der ich
nicht einmal das Thema verstand. Ich war froh darüber, dass ich beim
Zusammenstellen meines Studienplans auf diese Vorlesung verzichten konnte. Einer der grundsätzlichen Unterschiede zwischen meiner
Heimat- und der Gasthochschule war der Umfang der Kurse. So
belegte ich normalerweise pro Semester bis zu zehn Fächer, in Italien
lag ich mit drei Kursen im Durchschnitt, und die Woche war bereits
gut ausgelastet. Ich war beeindruckt von der Qualität der Vorlesungen, von der ich mir auf Grund von Erfahrungen aus anderen
Ländern in meinem Studienfach nicht allzu viel erwartet hatte. Das
halte ich für einen weiteren Grund, Italien als besonders gut geeignetes ERASMUS-Gastland zu empfehlen. Ein weiterer Unterschied
waren die mündlichen Prüfungen, es gab kaum schriftliche. Die Verbesserung meiner Sprachkenntnisse in wenigen Monaten kam mir
ebenso zu Gute wie das Verständnis der Professoren für meine Situation, und somit konnte ich das Semester mit drei akzeptablen Noten
abschliessen. Ich hatte mich inhaltlich mit sehr interessanten und
wertvollen Dingen der Fachrichtung Tourismus beschäftigt. Während
unsere Kurse in München die Themen eher breit angelegt behandelten, als in die Tiefe zu gehen, war es an dieser Hochschule umgekehrt.
Somit entsprach der ERASMUS-Aufenthalt voll meinen Vorstellungen oder übertraf diese sogar. Fachlich hatte ich genauso dazugelernt
wie auch die Möglichkeit genutzt, dasselbe Studienfach in einem
anderen Umfeld zu betrachten. Trotz der kleinen Unterschiede
erstaunte mich auch, wie ähnlich der Studienplan war. Das stärkte
mein Vertrauen zum Studienfach, denn wenn sich die Studienpläne
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in zwei unterschiedlichen Ländern derart ähneln, dann werden wir
sicherlich mit diesem Studienplan bestmöglich auf das Berufsleben
in der Branche vorbereitet.
Das ERASMUS-Programm in Italien beeinflusste meine Berufswahl nicht direkt, aber die Erfahrung hilft mir bei der Arbeit in einem
internationalen Umfeld in vielerlei Hinsicht. Seit dem Abschluss meines Studiums bewege ich mich auf internationalem Terrain: Teneriffa, Mexiko, Brasilien, Argentinien und seit Oktober 2006 Palma de
Mallorca. Der Geschmack am Ausland ist geblieben, wozu auch die
wirtschaftliche Situation in Deutschland ihren Beitrag geleistet hat.
Dabei werde ich mit Aufgaben konfrontiert, bei denen mir die langjährige Auslandserfahrung sehr zu Gute kommt. Ich führe ein neunköpfiges spanisches Mitarbeiterteam; da ist es sehr wichtig, sich in
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KATJA KORDELS
die Situation und Kultur jedes einzelnen einfühlen zu können. Dabei hilft es sehr, sich
in verschiedenen Umfeldern zurechtgefunden zu haben.
Die Fähigkeit zur
Selbstreflexion und zur
kulturellen Empathie ist ein Baustein der guten Zusammenarbeit.
Mir ist im Ausland bewusst geworden, wer ich bin und woher ich
komme. Erst im Unterschied zu anderen erkennt man die eigene
Kultur, deren Vor- und Nachteile, ihre Schwächen und Stärken. Nur
wenn man sich seiner Herkunft bewusst ist und den Ursprung für
Verhaltensweisen kennt, kann man seine Stärken ausbauen und an
den Schwächen arbeiten. Besonders in Zeiten globaler Entwicklung
und in einem vereinten Europa sind diese Erkenntnisse wichtig, um
Kernkompetenzen zu entwickeln. Diese haben wenig mit dem Fachwissen zu tun, sind aber ausschlaggebend für jede Tätigkeit, die mit
Menschen zu tun hat.
Die Gefahr besteht darin, auf seiner Kultur zu beharren und nicht
an deren Entwicklung teilzunehmen. Am Klischee »Deutsche sind im
Ausland deutscher als in Deutschland« ist meiner Meinung nach viel
Wahres dran, und es ist vor allem auf Sitten und Gebräuche der Ausgewanderten übertragbar. So pflegen zum Beispiel Mitglieder der
deutschen Kolonien in Brasilien und Argentinien, die während des
zweiten Weltkriegs ausgewandert sind, deutsche Traditionen, die in
Deutschland schon längst nicht mehr praktiziert werden. Genauso
verhält es sich mit den nach USA ausgewanderten Mexikanern.
Wegen des fehlenden Kontaktes und der Nicht-Teilhabe an der
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Weiterentwicklung der Ursprungskultur bei gleichzeitigem Bedürfnis, die eigene Kultur am Leben zu erhalten, entsteht ein Vakuum, in
dem sich die mitgebrachte Kultur konserviert.
Jeder verändert sich während der und durch die Zeit im Ausland.
Man lernt überdurchschnittlich dazu; die Umstände fordern dazu
auf, sich anzupassen und darüber nachzudenken, warum bisher angewandte Regeln und Werte hier nicht gelten. Es beginnt der Zweifel,
ob man selbst oder das Umfeld auf dem richtigen Weg ist, und schon
befindet man sich in einem umfangreichen Prozess der Selbstreflexion, die dazu führt, dass man sich selber besser kennen lernt und
hinterfragt. Unter den wichtigsten Erträgen des ERASMUS-Programms befindet sich auf jeden Fall die verbesserte Sprachkenntnis,
aber auch die soziale Kompetenz, die so schwer in klaren Worten zu
umschreiben ist.
Einmal Ausland, immer Ausland – das trifft insbesondere auf mich
zu. Ich suche die Herausforderung, immer wieder neue Kulturen
kennen zu lernen, kann bisher nicht genug bekommen von dem
Gefühl, das Umfeld und mich selbst zu hinterfragen, um es zu verstehen und um in ihm zu bestehen. Auslandsaufenthalte lassen sich
durch keine andere Erfahrung ersetzen und sind außerdem
besonders gut mit dem Studium zu kombinieren. Für mich war das
ERASMUS-Programm eine Chance, die ich nicht auslassen konnte,
und ich würde jedem raten, die Möglichkeit zu nutzen und daran teilzunehmen, um ähnliche Erfahrungen zu machen.
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FABIAN KRACHT
Fabian Kracht, geboren 1979 in Tübingen.
Diplom-Kaufmann an der Universität Mannheim.
ERASMUS-Aufenhalt: Wintersemester 2001/02
und Sommersemester 2002 an der Università
Commerciale Luigi Bocconi, Mailand.
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ITALIEN
Ein Jahr Mailand – gemischte
Erfahrungen, positives Resümee
Warum Italien?
Für einen Student der Wirtschaftswissenschaften bietet sich ein Studium in den USA an, dem Land, das den Begriff ›Business School‹
geprägt hat und bis heute die Maßstäbe in der Ausbildung zukünftiger Führungskräfte setzt. Seit einem neunwöchigen USA-Austausch
während meiner Schulzeit war mir jedoch klar, dass die USA trotz
aller Vorzüge und guten Erfahrungen, die ich als Fünfzehnjähriger
gemacht habe, für mich keine Option für das Auslandsstudium war.
Zu gewöhnungsbedürftig erscheinen mir einige Besonderheiten des
›American way of life‹.
Mein familiärer Hintergrund mit dem großelterlichen Ferienhaus
am Lago Maggiore und zwei Onkeln, die nach Italien ausgewandert
sind, haben mich vielmehr dazu bewogen, ein ERASMUS-Jahr in Italien anzustreben. Ich wollte gerne einmal »richtig« leben in dem
Land, das ich aus mehreren Reisen zu kennen glaubte.
Vorbereitung
Bereits früh im Grundstudium stand die Entscheidung fest, mich um
ein ERASMUS-Stipendium für die Mailänder Università Commerciale Luigi Bocconi zu bewerben. Meine Mannheimer Alma Mater bietet
zwar Austauschprogramme mit mehreren italienischen Partneruni-
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ITALIEN
versitäten an, ich wollte aber gerne in die norditalienische Metropole
und an der dortigen Renommee-Universität studieren. Da für einen
der ERASMUS-geförderten Studienplätze Grundkenntnisse in der
Landessprache obligatorisch waren, begann ich ab dem zweiten
Semester mit Studium-Generale-Sprachkursen, um mir eine Grundlage im Italienischen zu schaffen. Vor der eigentlichen Bewerbung
um den Studienplatz ging ich zusätzlich für vier Wochen nach
Perugia an die dortige Università per stranieri und belegte einen
Intensivkurs in Italienisch.
Das Ganze hatte ich mir auch als »Generalprobe« für ein Jahr
Mailand vorgestellt. Im Nachhinein würde ich dies wegen des kurzen
Zeitraums und der sehr unterschiedlichen Lebensweisen in den
beiden Städten jedoch nicht mehr so sehen. Unabhängig davon war
der Kurs in Perugia sehr sinnvoll, da ich mein Italienisch auf ein
Niveau brachte, mit dem ich mir zutraute, mich in Mailand durchschlagen zu können. Entsprechend glücklich war ich, als ich Anfang
2001 die Zusage für einen ERASMUS-geförderten Studienplatz an
meiner Wunschuniversität Bocconi in den Händen hielt.
Gemischte Gefühle in der Lombardischen Hauptstadt
Schon kurz nach der Ankunft wird klar, dass Mailand keine »typische« italienische Stadt ist. Tagsüber prägen die Angestellten der
vielen Konzerne, großen und kleinen Unternehmen und Banken das
Stadtbild in den Straßen und der Metro, den Straßenbahnen und den
Bussen. Meiner Meinung nach ist Mailand deswegen tagsüber
vergleichbar mit anderen Geschäftsmetropolen Europas wie London
oder Frankfurt. Abends finden sich viele der Angestellten in den Bars
der Stadt zum Aperitivo ein, einem besonderen Phänomen Mailands:
Zwischen circa 18 und 21 Uhr bieten hunderte von Bars eine happy
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FABIAN KRACHT
hour mit Getränken zu reduzierten Preisen an, zu der ein GratisBuffet von Salaten und warmen sowie kalten Gerichten aufgefahren
wird. Mit diesem Angebot locken die Gastronomen Gäste während
der eigentlich ›toten‹ Zeit zwischen Feierabend und Abendessen in
ihre Bars.
Inzwischen gibt es diese Art des Aperitivo auch in anderen Regionen Italiens, erdacht und perfektioniert wurde das Konzept allerdings
in Mailand. Nach Ende der happy hour gehen die Milanesen Abendessen, entweder zuhause oder in einem Restaurant. Anschließend
beginnt das Mailänder Nachtleben, das mit dem Londons, New Yorks
oder Barcelonas vergleichbar ist.
Dies alles entspricht nicht dem eher gemütlichen Lebensstil »typischer« italienischer Städte wie Bologna, Florenz, Perugia, Neapel und
– zumindest teilweise – auch Rom. Wer dies erwartet, kann trotz der
vielen Vorzüge Mailands einer gewissen Enttäuschung nicht entgehen. Und so ging es auch mir in den ersten Wochen meines Aufenthalts. Zwar genoss ich den morgendlichen Capuccino mit Brioche
an der Bar in der Nachbarschaft, die schöne Sprache und die vielen
Möglichkeiten einer Großstadt. Die erwartete Liebe zu Mailand stellte
sich jedoch nicht ein. Alles war viel hektischer, dreckiger und stressiger, als ich es mir vorgestellt und aus Italienreisen zu kennen
geglaubt hatte.
Hinzu kam, dass mir der Anschluss an italienische Studenten nur
sehr langsam gelang. Einerseits existieren natürlich bereits feste
Freundeskreise, in die sich zu integrieren nicht einfach ist. Andererseits waren wir insgesamt über 150 Austauschstudenten, für die viele
Feste und Aktivitäten an den meisten Tagen der Woche veranstaltet
werden. Das förderte das Wir-Gefühl der scambisti und half auch
sehr, sich in der Stadt einzuleben. Es verleitete aber auch dazu, das
eigene Umfeld auf diese Gruppe zu beschränken.
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ITALIEN
Zusätzlich machte ich
folgende Erfahrung: Mein
Italienisch wurde besser,
und spätestens ab dem
Zeitpunkt, an dem ich das
italienische Fernsehen und
die Alltagskonversationen
in der Straßenbahn und
auf der Straße verstand,
löste sich meine (im Nachhinein zugegebenermaßen
naive) Vorstellung auf, dass Italien nur aus der Hochkultur von Dante,
da Vinci und Verdi bestehe. In früheren Urlauben hatte ich Italienisch immer als sehr schöne und melodische Sprache empfunden.
Das war sie auch jetzt noch. Aber aus irgendeinem Grund desillusionierte es mich, die italienische Version von »Big Brother« im Fernsehen zu sehen, Flüche im Bus zu verstehen und Artikel über Cellulitis von Fernsehstars in der Gratis-Metrozeitung zu lesen. In Deutschland war es mir selbstverständlich, dass wir uns in der Sprache
Goethes und Schillers über seichte und wenig weltbewegende
Themen auseinandersetzen, in Italien enttäuschte mich dasselbe
Phänomen aus irgendeinem Grund. So war ich bei meiner Heimreise
nach dem Sommersemester, das kurz vor Weihnachten mit den
Klausuren endet, nicht unglücklich, eine gewisse Zeit wieder auf
bekanntem Terrain verbringen zu können.
Bei meiner Rückkehr nach Mailand Mitte Januar hatte sich meine
Wahrnehmung allerdings deutlich geändert. Bereits mit Einfahrt in
die Stazione Centrale, den Mailänder Hauptbahnhof, stellte sich ein
Gefühl der Rückkehr-in-die-Heimat ein. Obwohl sich an den Rahmen-
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FABIAN KRACHT
FABIAN KRACHT
Jeder (…) kennt die Mailänder
Business School und ihren Ruf.
Und von diesem Augenblick
an gilt man als erfolgreicher
Geschäftsmann – auch wenn
man unrasiert in einem winzigen
Fiat Cinquecento mit Zweimannzelt unterwegs ist.
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ITALIEN
bedingungen nichts geändert hatte (außer den vier Weisheitszähnen,
die mir in der Winterpause gezogen worden waren), erlebte ich mein
zweites Semester vollkommen anders. Vielleicht hatte ich die Eindrücke der ersten Monate über Weihnachten verdaut und mein Bild
von Italien bzw. Mailand entsprechend korrigiert; auf jeden Fall freute ich mich, wieder da zu sein. Alles, was mich vorher gestört hatte,
hatte ich wohl inzwischen innerlich akzeptiert und konnte deshalb
die vielen guten Seiten Mailands im Frühjahr und folgenden Sommer
nun voll genießen.
Und für die Tage, an denen ich doch einmal genug von Mailand
hatte und mal wieder etwas anderes sehen wollte, gab es viele
lohnende Reiseziele: Bologna, die alte Universitätsstadt, Florenz als
Zentrum der italienischen Renaissance, Pisa mit dem wieder begehbaren Turm, Lucca, auf dessen mittelalterlicher Stadtmauer sich eine
Rundfahrt mit einem vor Ort gemieteten Fahrrad empfiehlt, die oberitalienischen Seen, die Schweizer Alpen, Genua, dessen Ruf viel
schlechter ist, als die Stadt mit dem schönen, von Renzo Piano umgebauten Hafen es nahe legt, und viele mehr. Mein absolutes Lieblingsreiseziel jedoch ist die Ligurische Küste südlich von Genua. Dort
war ich während meines Austauschjahres auch dreimal.
Nachwirkungen meines ERASMUS-Jahres
International genießt die Bocconi einen sehr guten Ruf. Dieser Ruf
kommt mir im Beruf hin und wieder zu Gute. Außerhalb der
Geschäftswelt gelten normalerweise jedoch eher Mailand als Stadt
und Italienisch als Sprache als die außergewöhnlichen und interessanten Aspekte meines ERASMUS-Jahres.
Werde ich allerdings in Italien gefragt, warum ich Italienisch spreche, und auf meine Antwort, dass ich ein Jahr in Italien studiert habe,
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FABIAN KRACHT
weiter gefragt, an welcher Universität das denn gewesen sei, erlebt
man einen bemerkenswerten, manchmal fast schon unangenehmen
Wandel in der Wahrnehmung des Gegenübers. Jeder, vom Campingplatzaufseher bis hin zum Lederjackenverkäufer auf dem Wochenmarkt, kennt die Mailänder Business School und ihren Ruf. Und von
diesem Augenblick an gilt man als erfolgreicher Geschäftsmann –
auch wenn man unrasiert in einem winzigen Fiat Cinquecento mit
Zweimannzelt unterwegs ist.
Abgesehen von dieser auf Italien begrenzten Nachwirkung meines
Auslandsstudiums kommen mir im Berufsleben maßgeblich zwei
Erfahrungen des Auslandsaufenthalts zu Gute: Eine Sensibilisierung
für die kleinen und großen Unterschiede unterschiedlicher Lebensweisen sowie das Wissen um meinen erlebten Wandel in der Wahrnehmung Mailands.
Ich arbeite in der internen Unternehmensberatung eines internationalen Bauzulieferers. Meine Abteilung betreut Tochtergründungen im Ausland, Optimierungsprojekte in bestehenden Tochtergesellschaften sowie komplette Restrukturierungen von Tochtergesellschaften. Zu meinen bisherigen Projekten gehört beispielsweise der
Aufbau einer Tochtergesellschaft in Kasachstan, was die Erstellung
eines Business Plans, die formale Gründung, die Personalsuche vor
Ort, aber auch den tatsächlichen Bau eines Büros und zugehöriger
Lagerflächen beinhaltet. In einem anderen Projekt beschäftige ich
mich mit der Optimierung von Logistikprozessen in den sechs
Niederlassungen unserer Tochtergesellschaft in den USA. Dazu
gehören eine Ist-Analyse der bestehenden Prozesse vor Ort, die
Festlegung notwendiger Veränderungen und deren anschließende
Implementierung in den sechs Regionen. Diese Projekte bringen
viel Kommunikation und Zusammenarbeit mit Menschen anderer
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ITALIEN
Kulturkreise mit sich. Ich glaube, dass mir insbesondere auch die
Erfahrungen aus Italien dabei helfen, mein jeweiliges Gegenüber
besser zu verstehen bzw. dieses zumindest zu versuchen. Auch wenn
Italien auf den ersten Blick nicht sehr verschieden von Deutschland
zu sein scheint (Europa, christlich-geprägt etc.), bestehen im täglichen
Leben feine, aber teilweise wichtige Unterschiede, die ich nur durch
den längeren Aufenthalt im Land zu erkennen begonnen habe. Und
die Einsicht, dass diese Unterschiede fast immer und überall bestehen und dass man versuchen sollte, sie zu erkennen, um dann
bewusst damit umgehen zu können, hilft mir heute sehr.
Die zweite für mich wichtige Erfahrung meines Auslandsjahres
besteht darin, dass ich die anfängliche Phase der Enttäuschung letztlich überwunden habe. Ich glaube, dass mich diese Erkenntnis
gestärkt hat und dass ich dadurch zwar nicht vor ähnlichen Phasen
gefeit bin, damit aber vielleicht etwas besser umgehen kann. Ich versuche heute, mir keine zu festen Vorstellungen von einer bevorstehenden Situation zu machen oder zumindest offen mit Abweichungen von meinen Erwartungen umzugehen.
Resümee
Auch wenn ich mein Erasmus-Jahr nicht als mein glücklichstes und
fröhlichstes Jahr bezeichnen würde, möchte ich meine Zeit in
Mailand nicht missen. Ich habe nicht nur viel über Italien gelernt,
sondern auch viel über mich selbst erfahren. Insofern kann ich einen
längeren Auslandsaufenthalt während des Studiums oder in der
Schulzeit nur empfehlen.
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DANIEL EISENMENGER
Daniel Eise
nmenger,
geb. 1975 in
Siegburg.
1. Staatsex
amen in
Französisch,
Geschichte
und Spanisch
an der
Universität
Münster.
2. Staatsex
amen am
Studiensemin
ar Trier.
ERASMUS-Aufe
nthalt:
WS 1997/98
und SS 1998
an der Univ
ersité Libr
e
de Bruxelle
s, Belgien.
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BELGIEN
Mehr als Bier und Fritten
Als Französischstudent und angehender Lehrer war es für mich
selbstverständlich, dass ich einen Teil meines Studium im Ausland
absolvieren wollte. Verbesserung der Sprach- und Landeskundekenntnisse waren das Ziel. Da man mir damals immer wieder versicherte, dass ich mit meiner Fächerkombination keine Stelle in der
Schule bekommen würde, habe ich mich frühzeitig anders orientiert,
habe Zusatzqualifikationen gesammelt und wollte deshalb auch nicht
wie viele andere Lehramtsstudenten als Sprachassistent ins Ausland
gehen, sondern dort studieren. Dafür bot sich das ERASMUS-Jahr an,
um eine enorme Erleichterung bei den Formalitäten und zudem
einen finanziellen Zuschuss zu erhalten, ohne den solch ein Jahr –
zumindest für mich – gar nicht denkbar war. Das Romanische Seminar in Bonn bot damals Aufenthalte in verschiedenen französischen
Städten und eben auch in Brüssel an.
Einen Großteil der Urlaube mit meinen Eltern in der Kindheit
hatte ich an der belgischen Küste verbracht, die keineswegs schön,
aber mir sehr vertraut war. Auf den Autofahrten dorthin waren wir
immer an Brüssel vorbeigefahren, das ich nur allzu gerne besichtigt
hätte. Meine Eltern wollten sich jedoch nie mit dem Auto in den Brüsseler Straßendschungel wagen – Befürchtungen, die ich heute sehr
gut verstehen kann. Sie vertrösteten mich darauf, dass ich das später
einmal selber machen könnte, und stattdessen besichtigten wir zum
wiederholten Male das idyllische Brügge. Kurzum: Mit der Bonner
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DANIEL EISENMENGER
ERASMUS-Ausschreibung sah ich meine Chance gekommen. Auch
wenn man als Französisch-Student mit dem Ziel Belgien eher belächelt wird: Im Grundstudium hatte ich auch schon ein Referat über
das belgische Französisch gehalten, und darüber hinaus war Brüssel
die einzige wirkliche Großstadt im Angebot. Die Möglichkeit, für ein
Jahr in einer Millionenstadt zu leben, erschien mir als willkommene
Erweiterung meines Horizonts.
Der Start in Brüssel war ein Sprachkurs, den die Uni in die letzten
Wochen des Sommers vor Semesterbeginn gelegt hatte. Das stellte
sich als gut gedacht, aber im Endeffekt als wenig sinnvoll im Blick auf
Kontakte zu belgischen Kommilitonen heraus. Denn naheliegenderweise waren Ende des Sommers nur ausländische Studierende an der
Uni und vornehmlich eben ERASMUS-Studierende. Das führte dazu,
dass man schnell Freundschaften schloss, viel unternahm und zu
Semesterbeginn schon viele Freunde aus ganz Europa hatte, bevor
überhaupt gleichaltrige Belgier in Sicht kamen. Insofern ging es mir
wie vielen anderen ERASMUS-Studierenden: Ich habe eine gute Zeit
gehabt, viele Leute aus ganz Europa kennen gelernt, aber leider fast
keine Belgier.
Unterstützt wurde die ERASMUS-›Ghettoisierung‹ durch die
belgische Wohnheimsverwaltung. Nach dem Sprachkurs zu Beginn
des Semesters wurden wir ins frisch renovierte Wohnheim umgesiedelt. Eigentlich hatte ich mich bewusst für einen Wohnheimplatz
entschieden, weil ich es aus Deutschland so kannte, dass dort ausländische Studierenden über den gemeinsamen Aufenthaltsraum und
die gemeinsame Küche immer zumindest ein wenig Kontakt zu den
einheimischen Studis bekamen. In Belgien wies man uns »ERASMEN« aber leider einen eigenen Gebäudetrakt zu, der vom belgischen
Teil durch ein Treppenhaus getrennt war und sowohl eigene Sanitär-
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BELGIEN
einrichtungen als auch eine eigene Küche umfasste. Die Abschottung
war perfekt. Als wir später erfuhren, dass die Zimmer der Belgier
nicht nur größer, sondern auch günstiger waren, störte uns das nur
noch geringfügig.
Das Studium war durch das Akademische Auslandsamt gut organisiert. Obwohl die Belgier in der Regel nur ein Fach studieren, konnte ich in beiden Lehramtsfächern Kurse belegen und dort auch Scheine machen. Darüber hinaus wurden für die ERASMUS-Studenten
eigene Kurse – auf Englisch! – in Aufbau und Funktionsweise der EU
angeboten. Obwohl ich fleißig Scheine machte in dem einen Jahr,
konnte ich diese trotz des Abkommens in Deutschland nicht in mein
Studium einbringen. Insofern ein zusätzliches Jahr, zwei Semester
mehr, sicher alles andere als verlorene Zeit, aber auch nicht das, was
ich mir von dem Jahr versprochen hatte.
Am Ende meines Brüsseler Jahres hatte ich mir überlegt, wegen
meiner fachlichen Schwerpunktsetzung in Deutschland an eine andere Universität zu wechseln. Meine Wahl fiel auf Münster. Dort bestätigte man mir auch, dass man mir formal die in Brüssel erworbenen
Hauptseminarscheine anerkennen müsse, legte mir jedoch nachdrücklich ans Herz, die entsprechenden Veranstaltungen vor Ort
noch einmal zu besuchen, um ein gegenseitiges Kennenlernen mit
dem dortigen Lehrpersonal zu ermöglichen, ohne das es im Examen
schwierig würde.
Ich denke jedoch, daß mir das Auslandsjahr neben den ohne Zweifel großen sprachlichen Fortschritten, den neuen fachlichen Horizonten und intensiven landeskundlichen Erfahrungen weitere Dinge mit
auf den Weg gegeben hat, die für meine weitere persönliche und
berufliche Entwicklung wichtig wurden. Im letzten Semester vor
meiner Abreise hatte ich einen Niederländisch-Kurs an meiner
Heimatuniversität belegt, um in diesem dreisprachigen Land alle dort
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DANIEL EISENMENGER
zusammentreffenden Kulturen kennen lernen zu können. Meine
Niederländisch-Kenntnisse haben sich in dem Jahr so weit verbessert,
dass ich gut in der Sprache zurecht komme und mir die kulturelle
Vielfalt Belgiens in beiden Sprachen seitdem offen steht. Bislang hat
es nie wieder eine Zeit gegeben, in der ich so intensiv ein so reiches
Kulturleben wie in Brüssel mit seinen Theatern, Kinos und Museen
habe genießen können wie in Belgien mit seiner kleinen und in jeder
Hinsicht dichten Städtelandschaft.
Um das Auslandsstudium finanzieren zu können, musste ich mir vor
Ort auch eine Arbeit suchen. Glücklicherweise fand ich einen Job als
studentische Hilfskraft im Auslandsstudio von RTL. Eine Tätigkeit,
die es mir später erleichterte, weitere Erfahrungen im Bereich des
Journalismus zu sammeln, den ich als Alternative zur Schule ins Auge
gefasst hatte.
Am Ende des Jahres fiel es schwer, von Brüssel wieder Abschied zu
nehmen – trotz einiger Kilo, die ich dort zugenommen hatte – eine
negative Folge des Versuchs, möglichst viele Bier-, Schokoladensorten
und Frittensaucen innerhalb weniger Monate zu probieren. Viele der
Bekanntschaften haben sich schnell gelöst. Im kleineren Kreis gab es
noch einige Nostalgietreffen im geliebten Brüssel, und zum Glück hat
sich der ein oder andere Kontakt bis heute erhalten.
Über die Friedrich-Ebert-Stiftung hatte ich direkt im Anschluss die
Möglichkeit, an einem zehntägigen Seminar über den belgischen
Föderalismus teilzunehmen und so
meine landeskundlichen Kenntnisse zu vertiefen. An der Uni
konnte ich innerhalb einiger
Seminare sowohl in Literaturwissenschaft als auch in Geschichte
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BELGIEN
Obwohl ich fleißig Scheine
machte in dem einen Jahr,
konnte ich diese trotz des
Abkommens in Deutschland
nicht in mein Studium
einbringen.
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belgische oder niederländische Themenschwerpunkte setzen. Höhepunkt des Hauptstudiums war sicherlich ein Oberseminar mit Exkursion nach Brügge und Gent zum flämischen Städteraum im Mittelalter. Auch die Liste meiner Prüfungsthemen im ersten Staatsexamen
zeugt von der andauernden Beschäftigung mit dem Benelux-Raum in
beiden Fächern (u.a. französischsprachige Literatur Belgiens im 19.
Jahrhundert, die Haltung der belgischen und der niederländischen
Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg, Geschichte der burgundischen
Niederlande).
Ausgehend von dem ERASMUS-Jahr in Brüssel, entstand in mir
der Wunsch, nochmals ins Ausland zu gehen, dort zu leben und zu
arbeiten. Nach dem 1. Staatsexamen erhielt ich die Gelegenheit zu
einem dreimonatigen Praktikum an einem Gymnasium in Estland.
Aus diesem ergaben sich verschiedene Kontakte nach Litauen und
Polen, und so spielte in den ersten Jahren meiner Berufstätigkeit als
Referendar und anschließend als Lehrer vor allem das Engagement
für den Austausch mit Mitteleuropa eine entscheidende Rolle. An der
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BELGIEN
Schule in Bitburg ergab es sich dann aber, dass eine der Partnerstädte
Bitburgs in Belgien liegt, und ich sah meine Chance, meine etwas eingerostete und in die Jahre gekommene Leidenschaft für dieses Land
wieder aufzufrischen. Schulischerseits gab es seit Jahren keine Kontakte in das nur 80 km entfernte Arlon. Mittlerweile haben wir neben
Exkursionen mit Schülern auch ein Internetprojekt mit einem dortigen Gymnasium durchgeführt. Ziel des Internetprojekts war das Kennenlernen der Partnerstadt, die trotz der kurzen Distanz keinem der
Schüler bekannt war.
Im vergangenen Jahr schließlich entschloss sich unsere Schule,
sich auf europäischer Ebene für ein Comenius-Projekt zu interessieren. Auf einem Kontaktseminar in Warschau im November 2005
ergab sich schnell Kontakt zu den Vertretern der belgischen Schulen,
mit denen wir nun seit Beginn des Schuljahres 2006/7 zusammen mit
Kollegen aus Polen und Spanien ein Projekt zur Geschichte und
Gegenwart der europäischen Union mit dem Titel »E(u)-motions –
Mind the gap!« durchführen. Besonders erfreulich für mich war die
Tatsache, dass es mir bei dem vorangehenden Kontaktseminar gelungen war, über sprachliche und inhaltliche Vermittlung sowohl eine
flämische als auch eine wallonische Schule – sozusagen als »Mittler
zwischen den Kulturen« – in diesem Projekt zusammenzubringen.
Das erste Koordinationstreffen in Flandern hat im Herbst 2006 den
Startschuss zum Projekt gegeben. Das letzte Treffen des Projekts in
zwei Jahren wird wiederum in Belgien, im Herzen Europas, diesmal
in Wallonien stattfinden.
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MIRCO HELLER
Mirco Heller, geb. 1979 in Bad Schwalbach. Diplôme in
Etudes européennes am Institut d’Etudes Politiques,
Université Robert Schuman, Strasbourg, Frankreich.
Dort zunächst ERASMUS-Aufenthalt: September
2003 bis Juni 2004.
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FRANKREICH
Von Straßburg über
Berlin nach Mexiko
Da gibt es jene, die, sobald sie im Ausland leben, feststellen, dass sie
sich in ihrer Heimat am wohlsten fühlen, und froh sind, wenn die
Zeit in der Fremde wieder vorbei ist. Und dann gibt es diejenigen, die
die Fremde für einige Zeit zu ihrer Heimat machen können und sich
durch die Begegnung mit anderen Kulturen ihrer eigenen Kultur und
Herkunft bewusster werden und vielleicht eine ganz neue, internationale Kultur annehmen.
Wenn ich heute darüber nachdenke, wie es zu meinem bisher
unsteten, ins Ausland strebendem Leben kam, welches mich nach
Straßburg über Berlin schließlich nach Mexiko führte, fing alles 1994
während eines Schulaustauschs zwischen meiner Gesamtschule im
hessischen Taunusstein und dem College Ribeyre in der Kleinstadt
Cournon im französischen Zentralmassiv an.
Dieser Schulaustausch legte wohl den Grundstock für meine
Frankophilie und kulturelle Neugierde, derentwegen ich mich später
während meines Studiums entschied, als ERASMUS-Student nach
Straßburg zu gehen. Und warum ich dann nach Berlin zog und
schließlich nach Mexiko kam, wird noch zu erzählen sein.
Da mir die französische Sprache nicht sonderlich schwer fiel und
ich begeistert war von der Möglichkeit, in dieser so fremden Sprache,
Menschen kennen zu lernen, Freundschaften zu schließen und aufrecht zu erhalten, verbrachte ich im Anschluss an den besagten Schulaustausch nahezu jedes Jahr ein paar Wochen in Frankreich bei
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MIRCO HELLER
meiner Austauschfamilie, zu der ich noch heute herzlichen Kontakt
pflege. Ebenso verbesserte sich natürlich durch diese regelmäßige
kulturelle und sprachliche Immersion auch mein Französisch erheblich.
Jahre später sagte mir mal ein älterer Herr in einem Straßencafe
im israelischen Haifa, dass die Fähigkeit, die Sprache eines anderen
Landes zu sprechen, der Schlüssel zu seiner Kultur sei. Seitdem kann
ich nicht anders, als zu versuchen, meinen Schlüsselbund zu pflegen
und zu erweitern.
Während meiner Oberstufenzeit eröffnete sich mir die Gelegenheit, an einem Israelaustausch teilzunehmen, und dank meiner guten
Erfahrungen mit Frankreich und einer immer stärker werdenden
Neugierde auf andere Länder nahm ich natürlich daran teil. Dieser
Austausch mit der Galili-Highschool in Kfar Saba brachte mir ebenso
herzliche Freundschaften, insbesondere zu meinem israelischen Austauschpartner Shulem, sowie viele neue, ganz andere kulturelle
Erfahrungen ein.
Etwa zur gleichen Zeit erfuhr ich von der Möglichkeit, den Zivildienst
auch im Ausland ableisten zu können, und nach den frischen positiven Erlebnissen in Israel bewarb ich mich bei einer kleinen Organisation in Schwäbisch-Gmünd, die Kontakte zu einem BehindertenDorf in Kishor nahe der libanesischen Grenze in Nordisrael unterhielt.
Leider würden Ausführungen über das wundervolle Jahr, welches
ich in Kishor verbrachte, den Rahmen dieses Essays sprengen und
darüber das Hauptthema verfehlen, aber wenn ich zuvor bereits
gerne im Ausland war, so führte das Jahr in Israel definitiv dazu, dass
ich es zu lieben lernte, mich in einer anderen Kultur und in einer
fremden Sprache für längere Zeit zu bewegen.
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FRANKREICH
Zurück in Deutschland und nach einer sechsmonatigen Eingewöhnungsphase – denn der eigenen, ursprüngliche Kultur kann man sich
nach längerer Zeit im Ausland auch manchmal entfremden – begann
ich, an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz Politikwissenschaft und Romanistik zu studieren, weil mich Politik schon immer
interessierte und ich eben bereits sehr gut Französisch sprach; ein
Studiengang, den ich nach dem zweiten Semester um Öffentliches
Recht erweiterte.
Es erstaunt vermutlich nicht, dass für mich klar war, auch während meines Studiums für einige Zeit ins Ausland zu gehen, und
glücklicherweise gibt es den DAAD mit seinem ERASMUSProgramm, die dies ermöglichen. Wegen meiner Studienfächer und
meiner Vergangenheit wollte ich unbedingt nach Frankreich oder
zumindest in ein französischsprachiges Land. Nun hat das Institut
für Politikwissenschaft in Mainz aber nur eine Austauschuniversität
in Frankreich und zwei weitere im französischsprachigen Teil der
Schweiz, und so bewarb ich mich vorrangig für einen von zwei
Plätzen am Institut d'Etudes Politiques (IEP) in Straßburg. Ich muss
gestehen, dass mir Straßburg zur damaligen Zeit nicht als erste Wahl
erschien, weil ich dachte, dass es durch seine grenznahe Lage und
Geschichte bestimmt nicht so französisch ist, wie ich das von meiner
Austauschfamilie en France profonde kannte. Meine Vorurteile sollten sich jedoch nicht bestätigen, als ich schließlich ausgewählt wurde
und im September 2003 nach Straßburg zog, um dort vorerst ein Jahr
als ERASMUS-Student zu verbringen. Waren meine bisherigen Auslandsaufenthalte eher binationaler Natur – d.h. ich als Deutscher
begegne einem anderen Land mit seiner Kultur –, so war Straßburg
die internationalste Erfahrung, die ich in meinem bisherigen Leben
gemacht habe und vielleicht je machen werde. Austauschstudenten
aus nahezu jedem europäischen Land (geographisch) samt Nord-,
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MIRCO HELLER
MitteI- und Südamerika, Japan, Russland und Afrika machten mein
ERASMUS-Jahr, und ich bin überzeugt, jedes ERASMUS-Jahr, zu
einem einmaligen Erlebnis, an das ich noch heute nostalgisch zurückdenke.
Nun hatte ich zwar schon einige Auslandserfahrung, aber noch nie
zuvor lernte ich so viele neue Menschen unterschiedlichster Kulturkreise und Muttersprachen kennen, und das Erstaunlichste war die
Erkenntnis, dass wir uns alle ähnlich waren: weltoffen, mehrsprachig
sowie neugierig auf den anderen und seine Kultur. Darüber hinaus
saßen wir alle im gleichen Boot, d.h. wir sollten nun ein Jahr im
französischen Universitätssystem mit seinen Eigenheiten studieren.
War ich vorher überzeugt davon, Frankreich und seine Kultur zu
kennen, so öffnete mir die Zeit in Straßburg die Augen. Nie hätte ich
gedacht, dass mir Frankreich fremd vorkommen könnte, aber die
verkrusteten französischen Universitätsstrukturen mit ihrem für uns
Deutsche ungewöhnlich hierarchischen Lehrenden-StudierendenVerhältnis belehrten mich eines Besseren. Und dennoch entschied ich
mich dafür, ein weiteres Jahr in Straßburg zu studieren, worauf ich
noch zu sprechen komme.
Straßburg stellt, außer dass es eine malerische, nicht zu große Stadt
französisch-deutscher Prägung ist, als eine der Hauptstädte der europäischen Union wohl die ideale Umgebung für den europäischen Studentenaustausch dar. Am Institut d'Etudes Politiques de Strasbourg
waren wir ungefähr hundertzwanzig Austauschstudenten, die in
nahezu allen Kursen etwa ein Drittel der Studenten ausmachten. Die
durch das Bureau des Relations Internationales de I’IEP organisierten
Aktivitäten machten es leicht, die anderen, noch so fremden Studierenden kennen zu lernen, und man schloss bereits zu Beginn auf
diese Weise neue Freundschaften, die sich während des restlichen
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Jahres vertiefen konnten und
mitunter bis heute aufrecht erhalten werden.
Ich persönlich bin mit allen besseren Freunden meines
ERASMUS-Jahres in regelmäßigem Kontakt, zumal wir uns nun nach
abgeschlossenem Studium wiederum in der gleichen Situation befinden, dem schwierigen Einstieg ins Berufsleben.
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Aber damals in Straßburg dachten wir nicht daran, sondern genossen
die Zeit, die wir zusammen verleben konnten, und dies bedeutete
natürlich auch feiern, auch wenn viele von uns daneben ernsthaft
studierten. Ich kann den oft zu hörenden Vorwürfen, dass das ERASMUS-Jahr nur aus Party und Freizeit bestehe, aus eigenen Erfahrungen widersprechen. Denn ich selbst nutzte die Möglichkeit, durch
gute Noten während meines ERASMUS-Jahres, ins Abschlussjahr des
IEP aufgenommen zu werden, um dort ein Diplôme de I’IEP zu
erwerben, welches einer Maîtrise gleichgestellt ist und nach der
Bologna-Reform einem Bachelor-Abschluss mit erstem Masterjahr
gleichkommt.
Ohne das wunderbare erste Jahr in Straßburg hätte ich mich zusammen mit fünf weiteren, nun ehemaligen ERASMUS-Studenten
bestimmt nicht für ein weiteres Jahr dort entschieden, und die
meisten unserer Freunde beneideten uns, weil sie glaubten, dass wir
ein weiteres ERASMUS-Jahr dort verbringen würden. Dem war
jedoch nicht so, und glücklicherweise besuchten uns während des
zweiten Jahres viele ERASMUS-Freunde, um die »guten alten Zeiten«
zumindest für kurze Zeit wieder lebendig werden zu lassen. Das
Abschlussjahr am IEP war geprägt von deutlich höheren Anforderungen und ›bosser‹, was soviel wie ›Büffeln‹ bedeutet; denn wir waren
nun keine Austauschstudenten mehr, bei denen man ein Auge
zudrückte, sondern wurden wie französische Studenten behandelt.
Dies hatte jedoch den Vorteil, dass wir nun noch besser Französisch
lernten und hauptsächlich zu französischen Kommilitonen Kontakt
hatten, was als ERASMUS-Student deutlich schwieriger war.
Na ja, und dann hielt ich nach einem entbehrungsreichen Jahr
meinen französischen Universitätsabschluss mit Auszeichnung in
den Händen.
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Schon während meines Studiums in Deutschland interessierte ich
mich vor allem für Internationale Beziehungen, d.h. im Prinzip für
alles, was in der großen weiten Welt politisch und wirtschaftlich
zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren so passiert.
Dieses Interesse wurde durch mein Studium der Etudes européennes
in Straßburg, welches vorher Relations Internationales hieß und
lediglich den Namen, nicht jedoch den Inhalt wechselte, noch vertieft.
Die Tatsache, dass alle unsere französischen Kommilitonen, sich
entweder für einen anschließenden Masterstudiengang oder um
Praktika bewarben, um in die Berufswelt einzusteigen, hatte einen
starken Einfluss auf mich, und ich begann mich zu fragen, ob ich
überhaupt noch mein deutsches Studium abschließen und nicht doch
vielleicht lieber früher als zu spät ins Berufsleben einsteigen sollte.
Denn eines lernt man als deutscher und insbesondere männlicher
ERASMUS-Student im Ausland sehr schnell: durch die längere Schulzeit als in vielen anderen europäischen Ländern (13 statt 12 Jahre)
und den obligatorischen Wehr- oder in meinem Fall Zivildienst ist
man als Deutscher älter als seine europäischen Mitbewerber auf
Arbeitsplätze.
Letztlich entschied ich mich für einen Mittelweg. Ich bewarb mich
für ein Praktikum beim German Marshall Fund of the United States
(GMF) in Berlin und wechselte an die Freie Universität dieser Stadt
mit dem Vorsatz, sowohl berufliche Erfahrungen zu sammeln als
auch mein deutsches Studium abzuschließen. Doch die Umsetzung
dieses Vorhabens gestaltete sich schwieriger als gedacht, weil das
spannende Praktikum als persönlicher Assistent von Dr. Ulrike
Guerot, ihrerseits Europaexpertin beim GMF, eine Vollzeitstelle war.
Dem doppelten Druck nicht gewachsen und auch des Studierens mittlerweile müde, schmiss ich das Studium in Berlin und konzentrierte
mich voll und ganz auf meine Arbeit in dieser Organisation, die sich
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als überparteiliche Stiftung und Think Tank für transatlantische
Zusammenarbeit und den Gedankenaustausch dies- und jenseits des
Atlantiks einsetzt.
Bedauerlicherweise gab es zu meiner Zeit jedoch keine Aussicht
auf eine Stelle beim GMF, und nach monatelanger, unbezahlter Arbeit
begann ich zunehmend, mich nach anderen Einstiegsmöglichkeiten
in den Arbeitsmarkt umzusehen. Allerdings erschien mir die vage
Aussicht, durch ein weiteres Praktikum eventuell in einen Job zu
kommen, zu unsicher und außerdem wollte ich mit 26 Jahren endlich
für meine Arbeit bezahlt werden, zumal es sich nur sehr schlecht
ohne Geld leben lässt. Dabei hatte ich es, frisch aus der Uni kommend, noch gut, wenn ich mir andere Praktikanten beim GMF ansah,
die bereits seit über zwei Jahren von einem Praktikum zum anderen
wechselten, stets von der Hoffnung getrieben, endlich angestellt zu
werden. Es ist anscheinend ein europäisches Phänomen, dass junge
Absolventen gerne als un- oder gering bezahlte Praktikanten angestellt werden. Es gibt ja auch so viele gut ausgebildete, hoch motivierte junge Menschen, die angesichts der Lage bereit sind, ohne Gehalt
zu arbeiten, um eventuell eingestellt zu werden oder zumindest Kontakte zu knüpfen, die ihnen in der nahen Zukunft zu einer Stelle
verhelfen.
Aber durch Jammern bekommt man auch keine Arbeit und
schließlich entdeckte ich nach unzähligen Stunden im Internet auf
einer Homepage für deutsch-französische Jobs die Anzeige einer kleinen Sprachschule in Tampico, Mexiko, die einen Französisch- und
Deutschlehrer suchte, was mein Interesse sofort weckte. Ich hatte
zwar schon vorher in Mainz und später in Straßburg Spanisch-Unterricht gehabt, die Praxis fiel mir jedoch allzu schwer, und ich wollte
schon länger in einem spanischsprachigen Land leben, um diese
Sprache bzw. diesen Schlüssel zu einem weiteren Kulturkreis zu ver-
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Es ist anscheinend ein
europäisches Phänomen,
dass junge Absolventen
gerne als un- oder gering
bezahlte Praktikanten
angestellt werden.
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bessern. Und nun bot sich die Gelegenheit dazu: ich hätte einen
bezahlten Job, würde nebenbei mein Spanisch verbessern können
und ein mir bisher völlig unbekanntes Land kennen lernen.
Dennoch wollte ich auch nicht einfach so ins Blaue nach Mexiko
aufbrechen und kontaktierte direkt Antonio, einen mexikanischen
Freund aus meinem ERASMUS-Jahr in Straßburg, um seine Meinung
über den genannten Job zu erfahren. Als er dann schließlich das
Angebot für »ziemlich gut« erachtete und mir darüber hinaus seine
Unterstützung in Mexiko anbot, kaufte ich ohne weitere Überlegungen mein Flugticket.
Und nun lebe ich hier in Mexiko. Die letzten sechs Monate arbeitete
ich in Tampico, einer Industriestadt am Golf von Mexiko, als Deutsch-,
Französisch- und Englischlehrer in einer kleinen Sprachschule.
Meine Arbeit mit unterschiedlichen Alters- und Niveaustufen
war eine kulturell und menschlich sehr wertvolle Erfahrung. Wir alle
hatten ja einmal Lehrer, und es ist schon komisch, wenn man sich
selbst in dieser Rolle wiederfindet und seine Lehrer von damals
verstehen kann, den Frust erlebt, wenn Schüler nicht zuhause lernen
und man alles dreimal erklären muss, nur um dann festzustellen,
dass beim vierten Mal mancher Schüler es immer noch nicht behalten hat.
Nach sechs Monaten in Tampico und wegen der zwischenzeitlich
viel flüssiger gewordenen spanischen Sprachkenntnisse, entschied
ich mich jedoch, nach Mexiko-Stadt zu ziehen. Obwohl mir die Arbeit
als Sprachlehrer sehr viel Spaß gemacht hat, möchte ich nun meinen
Berufswunsch, in einem internationalen politischen oder wirtschaftlichen Kontext zu arbeiten, weiterverfolgen, getrieben von der Hoffnung, dass europäische Absolventen es hier vielleicht leichter haben
als auf der eigenen Seite des Atlantiks.
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Im Rückblick wäre ich ohne mein ERASMUS-Jahr in Straßburg vermutlich nicht in Berlin und letztlich auch nicht hier in Mexiko gelandet. Und ich weiß, dass es vielen meiner ERASMUS-Freunde, die es in
den Libanon, nach Kenia oder Mali verschlagen hat, genauso erging.
Und wir sind alle nicht unglücklich deswegen, im Gegenteil: »Einmal Ausland, immer Ausland« scheint unser selbst gewählter Lebensstil geworden zu sein.
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ERASMUS als Entscheidungshilfe:
Arzt in Entwicklungsländern oder
biophysikalische Forschung?
Als ich anfing, meine erste Fremdsprache zu lernen, war ich neun
Jahre alt und kannte niemanden persönlich, mit dem ich mich nicht
auf Deutsch hätte unterhalten können, was sich direkt in einer recht
geringen Motivation niederschlug, mich mit anderen Sprachen zu
befassen. Das änderte sich erst, als mir knapp fünf Jahre später die
Hausaufgabe gestellt wurde, einen Vortrag über eine Puschkinsche
Erzählungssammlung zu halten, welche mir nur im Original zugänglich war. Nie zuvor hatte ich ein Buch in einer Fremdsprache gelesen,
doch da mir meine Lehrerin dies offensichtlich zutraute, wagte ich
das Abenteuer und wurde nach einigen Dutzend eher durchgearbeiteten als gelesenen Seiten durch eine sich allmählich einstellende
neue Art von Lesevergnügen belohnt, welche hauptsächlich auf dem
Erkennen sprachlicher Strukturen und daraus resultierender Stilmittel
beruhte, die es im Deutschen nicht gibt. Dieses Erlebnis hat mich fasziniert und wesentlich dazu beigetragen, dass sich meine Interessen auf
Fremdsprachen auszudehnen begannen, ehe ich zum 1. September
1989 schließlich an eine Spezialschule mit dem neusprachlichen
Schwerpunkt Tschechisch/Französisch wechselte. Aus diesem Anlass
hatte ich die Möglichkeit eines späteren Auslandsaufenthaltes erstmalig
ernsthaft durchdacht und mich mit dem Gedanken angefreundet,
einige Zeit in der Sowjetunion oder der Tschechoslowakei zu studieren.
Die dramatischen politischen Umwälzungen jenes Herbstes wirkten
sich auf praktisch alle Lebensbereiche aus und wurden für mich vor
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allem durch Veränderungen im Schulalltag konkret erfahrbar, beispielsweise durch die Verlängerung der Schulzeit auf 13 Jahre, die
Ersetzung von Tschechisch durch Latein und den Wegfall der bisher
im Rahmen von Schülergesellschaften oder Bezirksklubs an den Universitäten angebotenen Lehrveranstaltungen für Schüler. Die Hochschullandschaft wurde ebenso grundlegend umstrukturiert, und in
diesem Zusammenhang blieb lange unklar, unter welchen Bedingungen die Aufnahme eines Studiums möglich sein würde und ob mein
damals nur an der Berliner Humboldt-Universität (HU) angebotenes
Wunschfach Biophysik bestehen bleiben würde oder nicht.
Mit Beginn des Biopysik-Studiums an der Humboldt-Universität im
Herbst 1994 häuften sich Kontakte zu Kommilitonen, die bereits eine
Zeit lang im Ausland gewesen oder von dort gekommen waren, um
hier in Berlin zu studieren. Dabei tauchten immer wieder der DAAD
und das ERASMUS-Programm der Europäischen Union als institutionelle Förderer studentischer Mobilität auf, was mich anregte, mich
über beide zu informieren. Im direkten Vergleich erschien mir dabei
der Bewerbungsprozess für das ERASMUS-Programm als wesentlich
über- und durchschaubarer, weshalb ich ihm anfänglich mehr Aufmerksamkeit widmete.
Dem Institut für Physik der Berliner Humboldt-Universität standen
einige für mich thematisch interessante ERASMUS-Austauschplätze
zur Verfügung, doch gehörte ich formal dem Institut für Biologie an.
Dessen damals fünf ERASMUS-Austauschplätze waren mit meinen
Sprachkenntnissen kompatibel und erschienen mir sämtlich als kulturell sehr attraktiv, wiesen jedoch keine klaren Bezüge zur Biophysik
auf. Allerdings sah die Studienordnung im Hauptstudium eine sogenannte Studienjahresarbeit vor, und so bot es sich an, den Auslandsaufenthalt für diese erste eigene Forschungsarbeit zu nutzen. Als Thema
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… dabei brachte mir
jede Rückkehr
Paris ein weiteres
Stück näher.
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hatte ich dafür »intrazelluläre Transportprozesse entlang von Mikrotubuli« ins Auge gefasst, da dies eine geeignete Fortsetzung meiner
bisherigen Labortätigkeit am Berliner Max-Delbrück-Centrum für
Molekulare Medizin darstellte. Nach intensiver Recherche fand ich
eine Arbeitsgruppe, die sich mit genau diesem Thema an einem der
in Frage kommenden Orte beschäftigte, und zwar im Herzen von
Paris, wo ich mir gut vorstellen konnte zu leben.
Zwischen dem Erhalt der Nachricht, dass meine Bewerbung um den
Austauschplatz an der UFR (Unité de Formation et de Recherche) de
Biochimie an der Université de Paris VII – Denis Diderot erfolgreich
war, und dem dortigen Studienbeginn lag dann mein erster längerer
studienbezogener Auslandsaufenthalt. Dabei handelte es sich um das
im Rahmen meines Medizinstudiums vorgeschriebene Pflegepraktikum, das ich am Azal-Krankenhaus in der jemenitischen Hauptstadt
Sana'a absolvieren wollte, um meine persönliche Eignung für die einzige ernsthaft erwogene berufliche Alternative zur biophysikalischen
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Forschung zu testen – eine ärztliche Tätigkeit in Entwicklungsländern. Die Internationalität beider Optionen war mir dabei sehr willkommen.
In Sana'a wohnte ich in einer WG mit einem jemenitischen und
zwei saudischen Ärzten, arbeitete in der Neurochirurgie, auf der
Intensivstation und in der Notaufnahme in arabisch-, englisch- und
russischsprachigen Teams, erkannte die stets komplett verschleierten
Krankenschwestern nach einigen Wochen auch, wenn sie mir auf der
Straße begegneten, und erlebte meine ersten Operationen, Geburten,
Reanimationen und Todesfälle sowie die Reaktion des medizinischen
Personals und der Angehörigen darauf.
An meinem letzten Tag in Sana'a erhielt ich einen Brief aus Paris,
worin mir recht bürokratisch mitgeteilt wurde, dass ich nicht der
gewünschten Mikrotubuli-Arbeitsgruppe zugewiesen worden war,
sondern einer, die sich am gleichen Institut mit der Reaktionskinetik
von Hammerkopf- Ribozymen (einer bestimmten Form katalytischer
RNA) beschäftigte – einem Thema, worüber ich wenig wusste und
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welches bei mir wenig Begeisterung auslöste. Jedoch lag ein aktueller
Review dabei, geschrieben von meinen künftigen Kollegen.
Nach kurzem Zwischenaufenthalt in Berlin stand ich eine Woche später,
Anfang Februar 1998, meinem neuen Arbeitsgruppenleiter am Institut Jacques Monod gegenüber, welcher mich mit einem ausgedehnten
Monolog in die mit einem Nobelpreis bedachte Thematik der katalytischen RNA einführte und mir zu guter Letzt für das herannahende
Wochenende zwei Doktorarbeiten zu lesen mitgab. Mein Französisch
war als zu umfassend eingestuft worden, um in einen der für ERASMUS-Studenten vorgesehenen Sprachkurse zu gelangen, doch damit
chemische Forschungsarbeiten zu lesen war eine echte Herausforderung. Noch mehr allerdings beschäftigte mich die Frage, ob ich nicht
doch lieber nach Berlin zurückkehren und an einer mir mehr liegenden
Problematik arbeiten sollte. Diese innere Spannung wurde noch verstärkt durch den abrupt erfahrenen Wechsel aus der sehr gruppenorientierten jemenitischen Gesellschaft ins anfänglich sehr anonyme Paris.
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Hauptgrund für meine Entscheidung zu bleiben war schließlich die
Internationalität der Arbeitsgruppe, zu welcher Franzosen, Russen
und Bulgaren sowie ein algerischer Laborassistent gehörten, welche
sich untereinander auf Englisch, mit mir aber zumeist in ihrer Muttersprache verständigen konnten und mich trotz teilweise bestehender
Vorurteile gegenüber Deutschen sehr herzlich aufnahmen. Im übrigen machten sie mich mit allen Deutschen bekannt, die zwischenzeitlich am Institut weilten – eine Aktivität, auf die weder ich noch
die anderen Betroffenen besonderen Wert legten, was wiederum die
Initiatoren der Begegnungen verwunderte. Aus einer davon hat sich
allerdings eine wissenschaftliche Kooperation entwickelt, die bis
heute andauert.
Mit Semesterbeginn lernte ich andere Studenten kennen, von
denen einige ebenfalls via ERASMUS-Programm hergekommen
waren und teilweise sehr unterschiedliche Perspektiven auf grundlegende Parameter des Zusammenlebens wie Verkehrsregeln oder Tagesablauf mitbrachten. Mit ihnen gemeinsam die französische Hauptstadt samt ihrer Universitäts-, Forschungs-, Kultur-, Tourismus- und
Bürokratielandschaft und nicht zuletzt ihrer Bewohner, zu denen nun
auch wir zählten, im sich saisonal verändernden Alltag wahrzunehmen und näher kennen zu lernen, entwickelte sich zu einem Erlebnis
ganz besonderer Natur.
Neben der Laborarbeit besuchte ich noch einige Kurse, wofür ich
die Zustimmung sowohl meines Arbeitsgruppenleiters als auch des
Studienbüros benötigte, welche ich nicht in allen Fällen erhielt. Insbesondere wurden mir biophysikalische Lehrveranstaltungen verwehrt, die auf dem gleichen Campus (Jussieu, bekannt als der wohl
größte zusammenhängende Astbestbau der Welt), nur formal an der
Université de Paris VI – Pierre et Marie Curie, stattfanden, aber ebenso
z.B. die Teilnahme an einem Trommelkurs. Letzteren besuchte ich
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trotzdem und lernte dabei auch Franzosen kennen, die an anderen
Fakultäten studierten. Durch sie entdeckte ich die Comic-Kultur für
mich neu und erhielt interessante Einblicke in das Leben in den
Rand- und Vorstädten.
Nach einigen Wochen hatte ich mich so weit in die Kinetik der
Hammerkopf-Ribozyme eingearbeitet, dass ich begann, Spaß daran
zu haben und eigene Experimente zu planen. Auch hatte ich inzwischen aus Berlin die Rückmeldung erhalten, dass mein neues Thema
für die Studienjahresarbeit akzeptabel war, und so begann für mich
eine sehr angenehme Zeit in Paris, nur unterbrochen durch gelegentliche Ausflüge mit dem Eurostar nach London, eine Radtour rund
um Korsika, eine Exkursion nach Gdańsk sowie ein marokkanischfranzösisches Workcamp in Fès, welche nicht nur jeweils für sich
schöne Erlebnisse bedeuteten, sondern mir auch mit jeder Rückkehr
Paris ein weiteres Stück näher brachten.
Die meisten meiner ERASMUS-Kommilitonen, von denen einige
durch viele gemeinsame Aktivitäten – vor allem Kochen und Diskussionen sowie deren Kombination – über die Monate zu Freunden
geworden waren, mit denen ich teilweise noch heute in Kontakt
stehe, kehrten eher zurück als ich, doch Ende August reichte ich
meine Studienjahresarbeit ein, verließ Paris und begab mich nach
Berlin, um bald darauf die erste Diplomprüfung abzulegen.
Bisher hatte ich Biophysik und Medizin parallel studiert und
damit die unvermeidliche berufliche Spezialisierung hinausgeschoben. Der direkte Vergleich zwischen aufeinanderfolgendem Krankenhaus- und Forschungspraktikum sollte mir bei dieser schwierigen
Entscheidung helfen, was er auch tat, wenngleich nicht nur bewusst:
Ich hatte im Jemen erfahren, dass genügsame Menschen bei geeigneten Umweltbedingungen recht gut ohne Bildung in unserem Sinne
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leben können, aber auch zu verstehen begonnen, dass Entwicklungshilfe, wenn sie sich auf Medizin konzentriert, langfristig nur Symptome behandeln, jedoch keine Ursachen beheben kann. Wissenschaft
wiederum fasziniert in sich und kann Ursache-Folge-Beziehungen
mit teilweise beeindruckender Detailgenauigkeit abbilden, ist allerdings – gerade in den experimentellen Disziplinen – auf dem Wege
dahin von vielerlei Parametern abhängig, die allzu oft mit politischen
Grenzen korrelieren und somit die notwendige globale Perspektive
auf die dringendsten wissenschaftlichen Fragestellungen verbauen.
Ich habe mich letztendlich für die Biophysik entschieden, bin dabei
der medizinischen Forschung allerdings stets verbunden geblieben.
Nach der Rückkehr aus Frankreich führten mich Forschungsaufenthalte noch mehrfach ins Ausland. Zunächst verbrachte ich ein
knappes Jahr in Japan, während dessen ich mir in Vorbereitung auf
meine Diplomarbeit mehrere biophysikalische Themengebiete
genauer ansah und außerhalb des Labors einerseits das Fremdsein
noch deutlicher erlebte, als dies im Jemen oder in Frankreich der Fall
gewesen war, andererseits durch meine Taiko-Trommelgruppe auch
sehr intensiven privaten Kontakt zu Nicht-Studenten und NichtPatienten erhielt, von denen wiederum kaum jemand Japan je verlassen
hatte. Meine methodische Dissertation fertigte ich am FraunhoferInstitut für Biomedizinische Technik im saarländischen St. Ingbert
an, wobei ich einige der Experimente dafür mit Förderung durch den
DAAD in Südkorea durchführte und einen Teil der Resultate an meinem ehemaligen ERASMUS-Institut in Paris präsentierte. Während
jener Jahre setzte ich meine Beschäftigung mit Sprache und Musik fort,
und deren biologische Evolution bildet mittlerweile meinen thematischen Arbeitsschwerpunkt.
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Marina Neumaier, geb. 1984 in Dachau. Diplom in Betriebswirtschaft
an der FH München. ERASMUS-Aufenthalt: September 2004-Februar 2005
an der Ecole Supérieure de Commerce Chambéry, Frankreich.
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»Erstens kommt alles,
wie es will, und zweitens
immer anders.«
Im Wintersemester 2004/2005 habe ich als Gaststudentin ein
Semester an der »ESC – Ecole Supérieure de Commerce Chambéry,
Savoie«, einer Privatuniversität im Südosten Frankreichs, verbracht.
Eigentlich hatte ich zuvor noch nie mit dem Gedanken gespielt, einmal ins Ausland zu gehen, aber es kommt für gewöhnlich »erstens
alles, wie es will, und zweitens immer anders«.
Ich sehe mich noch heute mit meiner Schwester Ramona und
einer Freundin/ Kommilitonin im Kino sitzen: L'Auberge Espagnol.
Damals hatten wir bereits an einer Infoveranstaltung des ERASMUSBüros der FH München teilgenommen. Ich war zu der Veranstaltung
eigentlich nur mitgegangen, weil meine Freundin für ein Semester
nach Ungarn gehen wollte, und hatte dann dort wie alle interessierten
StudentInnen einen Bogen ausgefüllt und mich für das ERASMUSAuslandssemester beworben. Spätestens nach dem Kinobesuch
jedoch stand mein Entschluss fest.
Auch meine Schwester, die zu dieser Zeit ihre Ausbildung beendete,
habe ich damit angesteckt, und so kam es dass sie, während der
selben Zeit, die ich in Chambéry verbrachte, für ein Jahr als AuPair
nach Mailand gegangen ist.
Welches Land für mich in Frage kommen würde, war klar: Frankreich
– was denn sonst! Bereits in der Schule habe ich Französisch geliebt
und Englisch gehasst. Auch an der FH habe ich von Beginn an Fran-
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MARINA NEUMAIER
zösisch anstatt Englisch gewählt, da ich damals noch immer gedacht
habe, dass ich um Englisch herumkommen und es später einmal
nicht brauchen würde. Tja. Zu dem Zeitpunkt hätte ich auch nicht
gedacht, dass ich meine Diplomarbeit einmal auf Englisch schreiben
werde. Französisch ist zwar meine dritte Fremdsprache nach Latein
und Englisch, aber diese Sprache hat mich von Beginn an fasziniert.
Mein erster Wunsch-Ort, den ich auch zugesagt bekam, war Chambéry – nahe an den Bergen, das war wichtig für mich als aktive AlpinSportlerin.
Mit meinen 2-jährigen Französisch Kenntnissen fuhr ich dann im
September 2004 nach Frankreich und merkte sehr schnell, dass es ein
Sprung ins kalte Wasser war. Aber ich liebe Herausforderungen und
wachse gerne mit ihnen. Ich war die einzige deutsche Studentin in
dem Semester, in das ich eingestuft wurde, und mit meinen 20 Jahren
(mit Abstand) die jüngste unter den ERASMUS-Studenten.
Mein ERASMUS-Semester war bisher »the best time of my life«
und auch die Zeit, die mich am meisten geprägt hat. Ich habe nicht
nur meine sprachlichen Kenntnisse verbessert, vielmehr habe ich
mich persönlich weiterentwickelt. Zum Beispiel lernte ich schnell,
mich in einem fremden Land zurechtzufinden, die sprachlichen
Barrieren zu überwinden sowie sich ohne Eltern und Familie durchzuboxen. Ich konnte so viele neue Eindrücke und Erlebnisse gewinnen, dass ich nicht einmal Heimweh bekommen habe, ganz im
Gegenteil, ich hätte die Zeit am liebsten angehalten.
Wohl eines der Schlüsselerlebnisse für mich war das »Weekend
d'intégration«: Zu Beginn des Semesters ist die ganze Hochschule in
den Süden Frankreichs ans Meer gefahren, um dort die neuen
Studenten in »ihre Gemeinschaft aufzunehmen« und einige gemeinsame Tage zu verbringen, um sich gegenseitig kennen zu lernen.
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Wow, so etwas habe ich noch nie gesehen, das muss man auf jeden
Fall erlebt haben!
Meine Erwartungen wurden bei meinem ERASMUS-Aufenthalt
weit übertroffen, was zum einen die gute Betreuung vor Ort ausmachte (es wurden Veranstaltungen und Ausflüge für die ERASMUSStudenten organisiert und es war immer ein Ansprechpartner da)
und zum anderen die Studenten der ESC. Ich war überwältigt, wie gut
ich integriert und akzeptiert wurde, und das als Ausländerin. Außerdem habe ich in Frankreich sehr gute Freundinnen gefunden (Asma,
Céline und Carla), zu denen ich noch heute in engem Kontakt stehe.
Mein Auslandssemester an der ESC hat seitdem mein Leben verändert. Ich wollte nicht länger nur in Deutschland bleiben, sondern
mehr von der Welt sehen und neue Kulturen kennen lernen. So war
ich bereits während meines Auslandsaufenthaltes in Frankreich wieder auf der Suche nach Möglichkeiten, »abroad« zu gehen. Durch
mein anschließendes Praktikum bei PwC München verdeutlichte sich
mir immer mehr, dass es mindestens genauso wichtig war, Englisch
gut zu beherrschen, und mir wurde bewusst, dass ich einiges zu tun
hatte, um mein Englisch auf Vordermann zu bringen. Im Anschluss
daran absolvierte ich dann ein 2-monatiges Praktikum in den Sommersemesterferien in Vancouver, Kanada. Mit dem Englisch hat es
nach einer Weile recht gut geklappt, und ich fing an, auch an dieser
Sprache Gefallen zu haben. Die Zeit verging wie schon bei meinem
ERASMUS-Semester viel zu schnell und irgendwie konnte ich nun
nicht mehr genug kriegen von der Auslandsluft.
Durch meine bisherige Auslandserfahrung bekam ich die für mich
einmalige Chance, meine Diplomarbeit in Kanada zu schreiben, was
meine derzeitige Tätigkeit ist.
Im August 2006 bin ich dann zusammen mit meinem Freund
Daniel nach Kanada und wir haben vor, ca. ein Jahr hier zu bleiben,
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MARINA NEUMAIER
bevor der nächste Lebensabschnitt für uns beginnt. Vor der Abreise
nach Vancouver hatte ich bereits nach einem Job in Deutschland
gesucht für die Zeit nach unserem Kanada-Jahr. So ergab sich, dass
ich bereits für nächsten Herbst ein gutes Angebot »für meinen
Traumjob« erhielt und noch vor unserem Abflug den Arbeitsvertrag
unterzeichnen konnte.
Durch meinen Aufenthalt in Frankreich hat sich einiges verändert,
vor allem dadurch, dass man sich persönlich weiterentwickelt und
viel dazulernt. Ich habe z.B. die Einstellung, die ich bisher gegenüber
ausländischen Studenten an unserer Hochschule eingenommen
habe, überdacht und fortan immer versucht, ein Ansprechpartner
und Helfer für ausländische Kommilitonen zu sein. Man bekommt
auch einen anderen Bezug zur eigenen Heimat, zur Familie und zu
den Freunden, und man lernt Dinge, die man bisher als selbstverständlich angesehen hat, zu schätzen.
Die wichtigsten Erträge durch meinen ERASMUS-Aufenthalt:
• Die Faszination und das Abenteuer, ›Ausland‹ zu entdecken.
• Land und Leute und das Leben in einem fremden
Land kennen zu lernen.
• Freunde ›around the globe‹ zu finden, mit denen man
in einer anderen Sprache kommunizieren kann.
• Auf eigenen Beinen zu stehen, sich durchzuschlagen und
die Erkenntnis, dass man es wieder mal geschafft hat.
And finally, I can only say »GO ERASMUS« and I hope everybody
will enjoy their stay abroad as much as I did! Cheers!
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Mein ERASMUS-Semester
war bisher »the best time
of my life« und auch die
Zeit, die mich am meisten
geprägt hat.
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Völkerverständigung, Bildung
und persönliche Chance
Tours, im geschichtsträchtigen Tal der Loire, an einem sonnigen
Freitag im September 2006: Adrian, der argentinische Besitzer unseres ehemaligen Wohnzimmers »Au temps du Roi«, der Bar auf dem
malerischen Place Plumereau im Herzen des mittelalterlichen Stadtkerns, traut seinen Augen nicht. Aber wir sind es wirklich! Nach und
nach füllt sich unser Tisch, und wir alle werden mit einem großen
»Salut!« und diversen Freigetränken begrüßt: der Historiker und
Stipendienspezialist José Luis aus Zaragossa, der Psychologe und
Weltenbummler Albert aus Barcelona, der in den letzten Jahren nicht
nur Indien als Backpacker ausgiebig bereiste, sondern den es »off the
beaten track« auch nach Syrien, Iran, Afghanistan und zuletzt
Georgien zog; der Quebecois Hilal, Rechtsanwalt mit libanesischen
Wurzeln, mein Namensvetter Thomas aus dem schönen Ruhrgebiet,
seines Zeichens Lehrer aus Passion, Frankreichkenner und vor allem
(nicht nur) mein Mann für alle Fälle bei Wortfindungsschwierigkeiten; die Biologin Mayte aus Malaga, mein Konterpart hinsichtlich der
von mir so geliebten Konzertbesuche, die trotz (bzw. vielleicht auch
gerade wegen) einer vor fünf Jahren erlittenen, halbseitigen Teillähmung glücklicherweise so viel spricht wie nie zuvor, und ich.
Etwas verspätet trudeln noch der in der Nähe von Tours auf dem
Schloss seiner Eltern aufgewachsene spanische Franzose Santi sowie
Jésus aus Valencia ein, der zu unserem Erstaunen trotz seines ihn
charakterisierenden, überdurchschnittlich ausgeprägten Schlaf-
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bedürfnisses mittlerweile durch die halbe Welt jettet, um Medizintechnik zu verkaufen. Auch Yannick, Leiter einer der örtlichen
Sprachschulen, schaut kurz vorbei.
Obwohl wir uns zum Teil seit mehreren Jahren nicht gesehen
haben, verschwenden wir nur sehr wenig Zeit auf das – für die Kohorte Ü30 anscheinend international übliche – Frage-und-Antwort-Spiel
zu den Themen ›beruflicher Erfolg‹, ›Kinder‹ und ›Immobilien‹.
Stattdessen widmen wir uns schnell dem Wesentlichen: dem einzigartigen Moment, dem guten Essen und den Getränken, unserer
gemeinsamen Vergangenheit in Tours, aber vor allem unserer aller
Lieblingsbeschäftigung, dem sinnfreien Palaver. Wir müssen uns
nicht erklären, wir kennen uns, haben uns intensiv kennen gelernt in
Seminaren, bei Adrian, auf Partys, aber nicht zuletzt in der Résidence
de Grandmont, einem auf den ersten bis dritten Blick eher gewöhnungsbedürftigen Studentenwohnheim, fünf Kilometer nördlich des
Stadtzentrums gelegen.
Nach einer langen Nacht beginnen wir den zweiten Tag unseres
zehnjährigen ERASMUS-Geburtstagstreffens am frühen Nachmittag
mit einem Nostalgie-Tripp in den Parc de Grandmont. Ist schon
komisch, wieder das Gebäude zu betreten, welches man neun Monate
lang sein Zuhause genannt hat. Insbesondere, weil sich anscheinend
nichts verändert hat: wie zuvor teilen sich auf jeder der vier Etagen
der insgesamt acht Gebäude jeweils 36 Studierende einen Kühlschrank, zwei Kochplatten, vier Duschen und vier Toiletten, wobei für
die nicht vorhandenen Toilettenbrillen und die Reinigung an Wochenenden offensichtlich noch immer das Geld fehlt. Obwohl das
Semester noch nicht begonnen hat, brennt Licht in D 206, meinem
(ehemaligen) Domizil. Der derzeitige, höchstens 18jährige Bewohner
weiß nicht so genau, ob er mir Einlass gewähren soll, entschließt sich
dann aber doch dazu, dem alten Mann einen Blick zu gönnen: Es ist
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der totale Wahnsinn! Selbst die 30 Millimeter dicke Spanplatte, die
ich mir aus gesundheitlichen Gründen für wenige Francs anfertigen
ließ, um dem Hängemattenkomfort des völlig durchgelegenen
Maschendraht-Lattenrosts und der damit verbundenen Umarmung
durch die Matratze aus den späten 70er Jahren zu entgehen, ist noch
existent. Keine Zeitmaschine dieser oder einer anderen Welt könnte
bessere Arbeit leisten. Anhand der Heftzweckenlöcher in den Wänden wäre es sogar ein Leichtes, meine Fotos und Poster wieder originalgetreu zu arrangieren. Nur meine Gefühlswelt ist grundverschieden: Während der Anblick von D 206 und die damit verbundenen
Erinnerungen in mir nunmehr ein wohliges Kribbeln, ja Begeisterung hervorrufen, lief mir beim ersten Betreten dieses Zimmers ein
kalter Schauer über den Rücken.
Tours, 200 Kilometer westlich von Paris, an einem regnerischen
Montagnachmittag, Mitte September 1996: nach zehnstündiger Reise
und viel zu langen Diskussionen mit diversen, tendenziell unfreundlichen, vor allem aber sehr schnell sprechenden Mitarbeiterinnen des
örtlichen Studentenwerks, die zu meinem Erschrecken nicht nur über
keinerlei Fremdsprachenkenntnisse verfügen, sondern mich überdies
erst in drei Wochen erwarteten und daher mehrere Stunden mit dem
Gedanken spielen, mir nun keinen Wohnheimplatz zuzuweisen,
scheine ich endlich am Ziel angekommen: Résidence de Grandmont,
Bâtiment D, Chambre 206. Als auch die intensive Gesichtskontrolle
und ›Einweisung‹ durch eine grimmige Concierge überstanden ist,
lasse ich mich völlig erschöpft auf mein ›neues‹, viel zu kurzes Bett
fallen. »Das soll es nun sein?«, frage ich mich. »Leben wie Gott in
Frankreich?«
Savoir vivre habe ich mir anders vorgestellt. Ganz anders! Mein
erster Gedanke: »Aus diesem maximal acht Quadratmeter kleinen
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würde, war mir bereits vor
meiner Immatrikulation klar.
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Loch musst du so schnell wie möglich wieder heraus!« Mein zweiter
Gedanke: »Ruhig Brauner! Erst einmal schlafen, und dann sieht die
Welt vielleicht schon anders aus.«
»It’s not right, it’s not wrong, it’s just different!« sage ich mir dann
auch ganz diplomatisch am nächsten Morgen, als ich mich trotz eines
gewissen Notstandes spontan entscheide, doch zunächst einmal die
Toiletten im Stadtzentrum zu erkunden. Dieser weise – wenngleich
nicht immer wahre – Spruch hatte mir schon während meines HighSchool-Aufenthalts in den USA das eine oder andere Mal weitergeholfen. Warum sollte das nicht wieder klappen? Ist doch schließlich alles nur Einstellungssache! Und ich bin ja freiwillig hier. Also:
positiv denken! Vier extrem lange, weil sehr einsame Tage später
helfen mir auch diese schlauen Sprüche nicht mehr weiter. Ich hänge
bereits in einem Loch, einem sehr tiefen Loch. Das Semester beginnt
erst in drei Wochen, und meine quasi nicht vorhandenen Französischkenntnisse machen die Kontaktaufnahme zu meinen durchschnittlich fünf Jahre jüngeren, vor allem aber sehr reservierten
Zellengenossen nicht gerade leichter. Natürlich hatte ich mit Anpassungsschwierigkeiten und Kulturschock gerechnet, aber nicht in dem
Maße bzw. zu einem so frühen Zeitpunkt. Ich war mir sicher, durch
mein keineswegs reibungslos verlaufenes Schüleraustauschprogramm und meine langen Rucksackreisen durch viele Länder dieser
Welt bestens für mein Abenteuer in Frankreich gerüstet zu sein. Aber
nun habe ich bereits nach wenigen Tagen das beklemmende Gefühl,
in Isolationshaft zu sein – und alles falsch gemacht zu haben. Dabei
hatte man mich gewarnt.
Dass ich während meines Studiums einen längeren Auslandsaufenthalt machen würde, war mir bereits vor meiner Immatrikulation klar.
Wann, wohin und mit welchem Programm, stand in den ersten
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Semestern jedoch noch völlig in den Sternen. Spätestens seit meinem
High-School-Aufenthalt südlich von Seattle war ich infiziert von dem
Fernwehvirus. Und meine Rucksacktouren durch Südamerika, Südostasien, Australien, Neuseeland und weite Teile Europas taten ihr
übriges. Als es dann mit großen Schritten auf die Zwischenprüfung
zuging, mussten Entscheidungen getroffen werden: Da bei mehrmonatigen Auslandsaufenthalten für mich das Kennenlernen und
Erleben einer mir fremden Kultur absolute Priorität genießt, fielen
alle Länder, in denen ich schon ausgiebig Erfahrungen sammeln durfte, von vornherein unter den Tisch. Darüber hinaus sollte es auch
sprachlich zu neuen Ufern gehen, weswegen das englischsprachige
Ausland aus dem Rennen war. Weil meine Spanischkenntnisse zu
diesem Zeitpunkt zwar stark verbesserungswürdig, jedoch für eine
Alltagskommunikation völlig ausreichend waren, drängte sich Frankreich nun förmlich auf. Schließlich hatte ich während meiner Schulzeit nur zwei kurze Jahre Französischunterricht genossen, und an
eine Konversation in dieser für mich so schwierigen Sprache war bisher nicht zu denken. »Jetzt oder nie« hieß folglich meine Devise, und
außerdem passte Frankreich auch bezüglich meines Studienschwerpunktes ›Neueste Geschichte‹ sehr gut ins Konzept. Es konnte
schließlich nicht schaden, auch mal den 1. und 2. Weltkrieg sowie die
Nachkriegszeit aus der Perspektive eines unserer direkten Nachbarn
vermittelt zu bekommen.
Nun musste eine Möglichkeit gefunden werden, diesen Auslandsaufenthalt möglichst kostenneutral zu gestalten. Die erste Adresse
dafür: der DAAD. Schnell war ein passendes Programm gefunden,
und alles schien gut zu laufen, bis mir im Sprachtest ›Französisch‹
zwar ein einigermaßen passabler Grundwortschatz ›Spanisch‹
bescheinigt wurde, mir aber vor dem Hintergrund des ›Schwarzen
Lochs‹ in der französischen Sprache meine Kommunikations- und
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Studierfähigkeit für Frankreich abgesprochen wurde. Schade war das
schon, aber völlig unerwartet traf mich dieses – durchaus nachvollziehbare – Urteil natürlich nicht. Jetzt griff Plan B: Da an unserer
Fakultät die Frankophilie anscheinend nicht sehr ausgeprägt war,
gab es in der Regel stets mehr ERASMUS-Plätze als Bewerber. Und da
mich die Sorbonne zwar reizte, die Lebenshaltungskosten in Paris
aber meinen finanziellen Rahmen gesprengt hätten, durfte ich mich
über einen Platz in Tours freuen.
Und da saß ich nun, in meiner Zelle, und hatte endlos Zeit, darüber zu philosophieren, ob ich das Ergebnis des Sprachtests nicht hätte
anders bewerten sollen und ob ich nicht doch in Spanien, England
oder im dänischen Roskilde, wo meine Freundin zur selben Zeit ihr
ERASMUS-Jahr verbrachte, besser aufgehoben gewesen wäre. Mein
Selbstwertgefühl tendierte innerhalb weniger Tage gegen Null, und
erste depressive Züge wären für einen Spezialisten bestimmt auszumachen gewesen. Doch dann kippte mein Befinden innerhalb von
wenigen Wochen glücklicherweise wieder in die richtige Richtung:
um die Zeit bis Semesterbeginn zu überbrücken, belegte ich einen
Sprachkurs. Und abgesehen davon, dass ich dadurch endlich unter
Leute kam, schaffte es Yannick erstaunlich schnell, mich zum Reden
zu bringen. Parallel dazu kamen immer mehr ERASMUS-Studenten
aus ganz Europa im Wohnheim an, und man hatte sofort das Gefühl,
nicht mehr allein im Boot zu sitzen.
Relativ schnell zeigte sich auch, dass der grenzwertige Wohnkomfort in unseren Zimmern auch einen entscheidenden Vorteil hatte:
alle Welt hielt sich im Treppenhaus auf oder versammelte sich um die
zwei Kochplatten. So lernte ich dort respektive in den Ende Oktober
startenden Sprach- und Kulturkursen für ERASMUS-Studierende in
den nächsten Wochen José Luis, Mayte, Sergio und all die anderen
kennen. Da sich ihre Französischkenntnisse zu Beginn des Aufent-
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halts nicht grundsätzlich von meinen unterschieden, kamen mir nun
meine Spanischkenntnisse nicht ungelegen, und wir schufen unsere
›langue ERASMUS‹, die vor allem die Franzosen zum Teil vor größere Probleme stellte.
Und sonst? Nein, ich habe durch das ERASMUS-Programm nicht nur
Freunde fürs Leben gefunden, deren ›harten Kern‹ ich durchschnittlich alle zwei Jahre sehe, in der Regel immer dort, wo José Luis gerade
wieder ein Forschungsstipendium aufgetan hat. Ich habe eine für
mich sehr schwierige Sprache sprechen gelernt und im Wohnheim,
an der Universität sowie in den Bars und Restaurants ein Stück französische Kultur erlebt. Zum Teil bin ich in meinen oft gar nicht so
negativen Vorurteilen bestätigt worden, aber nicht selten wurden mir
völlig neue Perspektiven eröffnet. Gerne hätte ich mehr französische
Kommilitonen kennen gelernt, aber die waren in der Regel während
der Woche mit dem Studium beschäftigt und am Wochenende bei
ihren Eltern. Selbst akademisch war das ERASMUS-Programm ein
voller Erfolg: Nein, ich habe keinen einzigen Schein mit nach Hause
gebracht, aber das war auch nicht mein Ziel. Stattdessen habe ich
erlebt, wie an der Université François Rabelais Geschichte und Soziologie gelehrt und gelernt wird. Und immer dann, wenn mir zu viel
Wahrheit von der Kanzel verkündet wurde und die kontroverse
Diskussion aus meiner Sicht viel zu kurz kam, diskutierten José Luis
und ich uns die Köpfe heiß. Darüber hinaus hatte ich viel Zeit, mich
jenseits von Pflichten und Konventionen mit Dingen zu beschäftigen,
die mir vorher eher fremd waren: Schlösser, Jazz, Wein, Käse, Mittelalter. Hätte ich ohne meinen ERASMUS-Aufenthalt sonst je erfahren,
dass der Mann hoch zu Ross, dem ich als Kind in jedem November
mit meiner Laterne hinterher gelaufen bin, tatsächlich gelebt hat und
Bischof in Tours war?
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Nicht zuletzt habe ich meine bewusst nicht zu knapp bemessene freie
Zeit in Frankreich dazu genutzt, mir ein paar Gedanken zu machen.
Dabei kam mir die Idee, das Handbuch ›Fernweh‹ zu verfassen, mit
dem ich – eher unbewusst – den Grundstein für meinen jetzigen
Beruf legte: Als Autor des umfangreichsten Ratgebers zum Schüleraustausch, den ich noch während meiner Studienzeit fertig stellte
und selbst verlegte, war von einem Tag auf den anderen mein Rat bei
der Organisation von mehrmonatigen Auslandsaufenthalten gefragt.
Seit nunmehr acht Jahren gehe ich der mich sehr erfüllenden, überaus dankbaren Aufgabe nach, als unabhängiger Bildungsberater,
Verleger, Referent und Veranstalter der bundesweit stattfindenden
Jugendbildungsmessen JUBI meine Erfahrungen an fernwehinfizierte Schüler und Studierende weiterzugeben – und ich kann damit
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sogar meinen Lebensunterhalt bestreiten. Mein ERASMUS-Aufenthalt mit all seinen Facetten hat somit – wie auch alle anderen meiner
Auslandsaufenthalte – auf seine Art nicht unerheblich dazu beigetragen, dass ich ein Leben führen darf, wie ich es mir vorstelle. Mehr
kann man von einem Programm nun wirklich nicht erwarten.
Adrian meint übrigens, die ERASMUS-Studenten hätten sich in
den letzten zehn Jahren stark verändert. Es würde weniger gefeiert,
mehr gelernt. Wenn er Recht hat, wird diese neue Generation sicherlich viele Scheine mit nach Hause bringen. Aber bleibt dafür nicht
auch einiges auf der Strecke?
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JESSICA WILZEK
JESSICA WILZEK, GEB.
1980 IN HOLZMINDEN.
DIPLOM IN
WIRTSCHAFTSROMANISTIK AN DER UNI GIEßEN.
ERASMUS-AUFENTHALT: SEPT.’02
BIS MÄRZ’03 AN DER UNIVERSITÉ
DE BOURGOGNE, DIJON, FRANKREICH.
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Asterix erobert Rom
und ich Frankreich
Was mache ich hier eigentlich? Warum bin ich hier? Diese Fragen
stellte ich mir, während ich auf einem unbequemen Designerstuhl in
einer kleinen Bankfiliale nicht weit von meinem Wohnheim und dem
Campus der Uni Dijon hin und her rutschte. Ich hatte nicht so richtig
verstanden, was die etwas ungeduldige Bankangestellte von mir wollte, und fühlte mich jetzt unwohl, weil ich ungefähr hundert Seiten
Dokumente unterschrieben hatte und eigentlich nicht wusste, was da
drinnen stand. Selbst die Seiten zu unterschreiben, war nicht einfach:
erst nach der dritten Unterschrift hatte ich verstanden, dass man »lu
et approuvé« noch mal handschriftlich dazuschreiben sollte, obwohl
es schon über dem Kästchen für die Unterschrift stand.
Ich war in Frankreich. Endlich wieder. Diesmal für ein ganzes
Semester. Frankreich war das Land meiner Träume seit einem ersten
und bis zu meinem ersten Schüleraustausch einzigen Urlaub in
Frankreich. Ich war noch klein, aber ich liebte es, mit meinen Eltern
in die Bäckerei zu gehen und Baguette und Croissants zu kaufen. Zu
meinen Erinnerungen aus diesem Urlaub gehört auch ein sandiger
Platz neben unserem Hotel, auf dem Männer Boules spielen. Damals
wusste ich natürlich noch nicht, was das für ein seltsames Spiel ist, in
meinen Augen haben die einfach ohne Sinn die Kugeln in den Sand
geschmissen. Das hat mich als Kind fasziniert.
In der Schule habe ich dann Französisch gewählt, weil ich wusste,
dass es einen Austausch gab, und ich unbedingt wieder nach Frank-
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reich wollte. Später in der Oberstufe habe ich zusätzlich an einem
Pilotprojekt meiner Schule teilgenommen, das einen sechswöchigen
Austausch mit Montpellier vorsah. Von diesem Austausch habe ich
immer noch Freunde. Meine Austauschpartnerin von damals und ich
haben uns seitdem jedes Jahr getroffen, mal in Deutschland, mal in
Frankreich.
Schließlich habe ich Französisch als Studienhauptfach gewählt,
und es war klar, dass ich gern längere Zeit in Frankreich verbringen
wollte. Nach meinem Vordiplom bin ich dann in mein ERASMUSSemester an der Université de Bourgogne in Dijon aufgebrochen.
Und da saß ich nun in der Bank, völlig überfordert, sprachlich und
vielleicht auch kulturell, und fragte mich, warum ich das getan hatte.
Ich muss zugeben, dass ich mir alles einfacher vorgestellt hatte. Ich
hatte erwartet, mit der Sprache gut zurecht zu kommen und mich
auch sonst eigentlich schon auszukennen. Aber plötzlich stellten sich
Kleinigkeiten wie die Eröffnung eines Kontos, die Immatrikulation,
Beantragung von Wohngeld oder auch der Besuch eines Frisörs als
Herausforderung dar.
Zuerst das Konto: Ich wusste schon ziemlich bald nach meiner
Ankunft, dass ich ein RIB brauchen würde, ohne zu wissen, was
genau das ist und vor allem, wo man das bekommt. Bald fand ich heraus, dass RIB nicht die französische Form von R.I.P. ist, so wie ich
anfangs vermutete und was mich vollständig verwirrt hatte. Statt
Rest in Peace also Relevé d’identité bancaire. Um ein RIB zu bekommen, muss man ein Konto eröffnen, nicht etwa sterben.
Das RIB brauchte ich für die CAF (Caisse familiale de l’allocation).
Wer sich jetzt bereits in den französischen Abkürzungen verloren
fühlt, der kann ein bisschen nachempfinden, wie es mir ging. Obwohl
ich Französisch schon als Leistungskurs hatte und dieses Fach nun
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studierte. Obwohl ich schon in der Schule an zwei Austauschprogrammen mit Frankreich teilgenommen hatte. Ich hatte mich wirklich gut vorbereitet gefühlt, ich hatte schon Freunde in Frankreich,
mein Französisch war nicht schlecht … oder doch? Die Vokabeln der
französischen Bürokratie hatten mich stark ins Zweifeln gebracht.
Zur CAF geht man, wenn man Wohngeld beantragen möchte. Die
ERASMUS-Studenten der letzten Semester hatten mir geraten, dorthin so schnell wie möglich nach meiner Ankunft zu gehen, damit ich
es noch rechtzeitig für den laufenden Monat bekommen würde.
Toller Tipp, dachte ich, und bin etwas ahnungslos und nur mit
meinem Personalausweis ausgestattet zur CAF gegangen. Dort erklärte man mir geduldig, dass ich zuerst ein RIB bräuchte. Gut. Dann eine
Bestätigung meines Wohnheims; die brauchte ich, wie sich herausstellte, auch für die Kontoeröffnung. Gut. Für die Kontoeröffnung
sollte ich aber auch eine Immatrikulationsbescheinigung vorweisen.
Und um die Immatrikulationsbescheinigung zu bekommen, brauchte
ich eine Carte de séjour, eine Art Aufenthaltsgenehmigung. Oder
brauchte ich die Immatrikulationsbescheinigung, um die Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen? Mir schwirrte der Kopf. Ich fühlte
mich wie Asterix und Obelix in »Asterix erobert Rom«, als sie bei
der achten Aufgabe eine »Formalität verwaltungstechnischer Art«
erledigen sollen. Sie werden von einem Beamten zum nächsten
geschickt, ohne jemals eine Antwort zu bekommen und ohne herauszufinden, wohin sie zuerst hätten gehen sollen. Ich war kurz davor
zu verzweifeln.
Für die Carte de séjour musste man persönlich in der Préfecture
vorbeischauen, mehrere Stunden anstehen, mindestens vier Fotos
mitbringen, in schwarz-weiß und bunt, und bloß nicht vergessen, am
Eingang eine Nummer zu ziehen. Beim ersten Mal bin ich böse
beschimpft worden, weil ich mich, ohne mich darüber zu wundern,
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dass so viele Leute auf Stühlen herumsitzen und warten, hinter den
Mann am Schalter gestellt hatte. Es kann allerdings passieren, dass
die Préfecture Mittagspause macht, bevor die eigene Nummer dran
kommt, und man also noch mal wiederkommen muss. Oder es
passiert etwas Unvorhergesehenes, wie in meinem Fall: kurz bevor
meine Nummer dran war, wurde Bombenalarm ausgerufen und die
Préfecture für den restlichen Tag geschlossen.
Ich muss sagen, dass ich diese Aufgaben mit der Bank, der CAF
und der Préfecture nicht so schnell gelöst habe wie Asterix und
Obelix und mir am Anfang immer mal wieder die Frage gestellt habe,
warum ich das auf mich nahm. Dafür hatte ich meinen Freund für ein
halbes Jahr in Deutschland zurückgelassen? Dafür hatte ich Geld
gespart, mein Zimmer zwischenvermietet? Ja, ich muss sagen, am
Anfang war es schwierig.
Letztlich habe ich natürlich sowohl meine Carte de séjour als auch
mein Konto und sogar Wohngeld bekommen. Ich habe Unmengen an
Passfotos gemacht, irgendwann routiniert überall immer erstmal eine
Nummer gezogen (am Bahnhof muss man das nämlich auch) und
mich irgendwann größeren Herausforderungen wie dem Besuch
beim Frisör gestellt. (Wie will man jemandem erklären, wie er die
Haare schneiden soll, ohne die Begriffe für ›Pony‹, ›Stufenschnitt‹,
›fransig‹, ›Strähnchen‹ oder ›kinnlang‹ zu kennen? Ganz einfach: gar
nicht, man lässt einfach machen, zeigt vielleicht pantomimisch ein
bisschen was, aber vertraut sonst ganz mutig auf den Geschmack der
französischen Frisöre).
Heute frage ich mich nicht mehr, wieso ich damals nach Frankreich gegangen bin, sondern eher, was passiert wäre, hätte ich es nicht
getan. Ich wäre nicht dort, wo ich jetzt bin –, nämlich wieder in
Frankreich.
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Heute frage ich mich
nicht mehr, wieso ich damals
nach Frankreich gegangen
bin, sondern eher, was
passiert wäre, hätte ich es
nicht getan. Ich wäre nicht
dort, wo ich jetzt bin –nämlich
wieder in Frankreich.
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JESSICA WILZEK
Noch während meines Auslandssemesters habe ich mich für ein Praktikum in Frankreich beworben. Im gleichen Jahr im Herbst habe ich
dann fünf Wochen als Praktikantin beim Radiosender RCF in SaintEtienne gearbeitet. Ich habe Interviews geführt und die Verkehrsnachrichten gesprochen. Ohne mein Auslandssemester wäre das
wahrscheinlich sprachlich nicht möglich gewesen, und vor allem
hätte ich es mir nicht zugetraut.
Nach und nach hatte ich es geschafft, die Geheimnisse von CAF,
RIB und Co. zu lüften. Das hat mir Mut gemacht, mehr zu versuchen.
Es hat mir gezeigt, dass man alles irgendwie hinbekommt, wenn man
nur oft genug fragt.
Nach meinem Praktikum in Frankreich habe ich als Praktikantin bei
dem DAAD-Informationszentrum in Tiflis, Georgien, gearbeitet. Ein
derart exotisches Ziel hätte ich mir vor meinem Auslandssemester
niemals zugetraut. Die Organisation meines Aufenthalts dort, Stipendienbewerbung, Visa, Zimmersuche, Flug machte mir keine Angst
mehr. Und diesmal sprach ich nicht einmal die Landessprache.
Nach der Abgabe meiner Diplomarbeit habe ich mehrere Wochen
in den USA verbracht, bevor ich wieder nach Frankreich gegangen
bin. Jetzt arbeite ich als DeutschMobil-Lektorin für ein Jahr in Caen.
Das ERASMUS-Semester war ein erster Schritt ins Unbekannte, oder
war es vielleicht sogar schon der Schüleraustausch? Diese Erfahrungen haben mich auf den Weg gebracht hat, den ich jetzt gehe. Sie
haben mir die Angst genommen, meine Ziele, verschiedene Länder zu
erleben, Sprachen zu lernen, Menschen aus anderen Kulturen zu treffen und unter ihnen sogar Freunde zu finden, zu verwirklichen.
Wegen meiner Erfahrungen im Ausland habe ich überhaupt erst neue
Ziele entwickelt, z.B. Praktika im Ausland zu machen oder sogar im
Ausland zu arbeiten.
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Und ebenso wichtig war für mich,
dass ich durch den ganzen Papierkram, dem ich ausgesetzt war,
großes Verständnis, ja Bewunderung für meine ausländischen
Kommilitonen in Deutschland bekommen habe. Es mag sein, dass
Deutschland und Frankreich sich
in manchen Dingen unterscheiden, aber in bürokratischen Abläufen sind wir uns schon sehr ähnlich, worüber ich mir vor meinem
ERASMUS-Semester nicht ganz klar war.
Im Auslandssemester habe ich neue Freundschaften geschlossen,
viele wichtige Erfahrungen gemacht, etwa die, nicht gleich aufzugeben, wenn ich etwas auf Anhieb nicht verstehe, zu fragen, auch mal
ein Risiko einzugehen (wie beim Frisör), über den eigenen Schatten
zu springen, sich etwas zuzutrauen, weiterzugehen.
Die Bedingungen, um ein Konto zu eröffnen, sind heute immer
noch die gleichen, genauso wie die der CAF. Aber mittlerweile gibt es
schon keine Carte de séjour mehr.
Den Freund von damals habe ich übrigens immer noch, und ich
scheine ansteckend zu sein: Mittlerweile war er selbst für sechs
Monate im Ausland und plant noch mal einen Auslandsaufenthalt für
seine Diplomarbeit. Das wäre dann nach meinem Jahr in Frankreich.
Wer weiß, vielleicht gehe ich mit? Ich kenne so viele Länder noch
nicht und die Organisation eines Auslandsaufenthalts schreckt mich
nicht mehr ab.
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Paris – eine Erfahrung
fürs Leben – dank ERASMUS
Nachdem ich während meiner Schulzeit bereits drei mal die Möglichkeit hatte, nach Frankreich zu kommen, wollte ich auch während des
Studiums diese Gelegenheit nicht verpassen. Bereits lange vorher
habe ich mich informiert, welche Möglichkeiten es gibt, im Ausland
zu studieren, auch wenn es während des Medizinstudiums eher
unüblich war, ein Auslandssemester zu absolvieren. Der Begriff
›ERASMUS‹ war vielerorts zu hören, doch was ist das genau? Wer
war eigentlich dieser ERASMUS? Was muss ich dafür tun, einen der
heiß begehrten Plätze zu erhalten? In der Sprechstunde wurde mir
anfangs gesagt, dass Lille die einzige Stadt in Frankreich sei, mit der
man ein Austauschprogramm organisiere. Da mich diese Stadt nicht
so gereizt hat, habe ich den Plan wieder etwas nach hinten geschoben
und auch ernsthaft über andere Länder wie Norwegen oder Schweden nachgedacht. Aber mit Frankreich war ich doch durch meine
Erfahrungen zur Schulzeit eher verbunden und wusste auch, dass ich
hier weniger Sprachprobleme haben würde. Auf jeden Fall stand fest,
dass ich ein Semester im europäischen Ausland verbringen will, um
einfach mal über den Tellerrand hinausschauen zu können.
Es kam aber dann doch anders, als erwartet. Gleich beim nächsten
Besuch der ERASMUS-Sprechstunde wurde ich angesprochen: »Sie
waren doch derjenige, der gerne nach Frankreich möchte, oder?«. Ich
hatte tatsächlich das Glück, dass der ERASMUS-Koordinator der
Justus-Liebig-Universität Gießen, PD Dr. Snipes, am Wochenende auf
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einer Tagung in Berlin war und dort die Koordinatorin aus Paris
kennen gelernt hatte. Somit hatte ich als erster Student aus Gießen
die Möglichkeit, nach Paris zu gehen. Das war eine große Freude,
allerdings auch eine sehr große Herausforderung. Ich konnte nicht
von den Erfahrungen anderer profitieren, sondern musste mir alles
selbst organisieren. Von den Praktika über die Wohnung bis hin zur
Einschreibung an der Universität. Frau Wright von der Universität
Pierre et Marie Curie in Paris war mir zwar in vielen Punkten behilflich, aber um die meisten Dinge musste ich mich doch selbst kümmern. Es machte mir allerdings unglaublich viel Spaß, schon im
Vorfeld auf französisch alles zu organisieren, auch wenn Vieles nicht
immer einfach war und ich an wirklich kleinen Hürden manchmal
fast aufgeben wollte. Dennoch habe ich am Ende alle bürokratischen
Anforderungen erfüllt und konnte mich im April auf den Weg
machen. Selbst eine Wohnung hatte ich mir von Deutschland aus
organisiert, auch wenn mich die Mietpreise doch sehr schockierten.
Ich wurde von Anfang an in das französische Studiensystem integriert und mit einer Gruppe französischer Studenten in die Kardiologie eingeteilt. Von Anfang an wurde ich eingebunden, und jeder
war bemüht, mir bei meinen Startschwierigkeiten zu helfen. Innerhalb kürzester Zeit war ich in der Lage, meine eigenen Patienten aufzunehmen, sie zu betreuen und sie bei der Visite den Ärzten vorzustellen. Trotz aller Bedenken war mein Französisch von Anfang an
völlig ausreichend. Ich konnte auch recht schnell Anschluss finden
und selbstverständlich habe ich sofort weitere deutsche ERASMUSStudenten getroffen, über die ich dann jede Menge andere ausländische (ERASMUS-) Studenten kennen lernen konnte. Es war unglaublich toll, mit solch einer internationalen Truppe schöne Abende an
der Seine, am Canal St. Martin oder in der Cité Universitaire zu
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verbringen. Das Spannende daran war, dass häufig Französisch die
einzige gemeinsame Sprache war. Somit wurde auch unter den Deutschen sehr oft französisch gesprochen, damit jeder in der Gruppe der
Konversation folgen konnte. Dieses internationale Flair war einfach
beeindruckend und auch wirklich mein persönliches ›ERASMUSGefühl‹. Auch die Tatsache, einen französischen Vermieter zu haben,
der fast ausschließlich ausländische Studenten als Mieter hatte, war
sehr interessant. So hatte ich häufiger die Möglichkeit, mit ihm,
seiner Familie und auch anderen Studenten über Land und Leute zu
diskutieren. Anders hätte man sicher nur schwer einen Einblick in
das Land bekommen können, da man ja doch die meiste Zeit mit
Landsleuten oder anderen Ausländern verbringt. Alles in allem war
dieses Semester definitiv das Schönste und Interessanteste in meiner
Studienzeit und ich bin überzeugt, dass ich in diesen sechs Monaten
mehr fürs Leben gelernt habe als in allen anderen Semestern zusammen.
Wegen dieser positiven Erfahrung musste ich unbedingt noch einmal nach Frankreich zurück. Mir kam vor dem Praktischen Jahr (PJ)
die Idee, eines der Départements d’outre mer (DOM) kennen zu
lernen. Ich habe mich dort für ein viermonatiges Praktikum beworben und wurde mit offenen Armen empfangen. Das war natürlich ein
ganz anderes Frankreich, als ich es bisher kennen lernen durfte, aber
dennoch durchaus interessant zu sehen, wie Europa auch sein kann.
Hier konnte ich meine Französisch-Kenntnisse noch mal deutlich verbessern und habe auch von dieser Zeit sehr profitiert.
Als mein Studium dann im November 2005 zu Ende war, habe ich
eine Stelle in Deutschland gesucht. Mir war eigentlich klar, dass ich in
Frankreich keine Stelle als Assistenzarzt bekommen konnte, da die
Studiensysteme sich doch gravierend unterscheiden. Der Gedanke,
als Facharzt nach Frankreich auszuwandern, blieb allerdings immer
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im Hinterkopf. Zufällig entdeckte ich dann aber im Dezember 2005
eine Stellenanzeige mit dem Text »Notärzte für den grenzüberschreitenden Notarztdienst in Frankreich gesucht«. Das klang vielversprechend. Da die Notfallmedizin sowieso mein persönliches Steckenpferd ist, musste ich mich hier einfach bewerben. Der Gedanke, in
beiden Ländern zu arbeiten, war wirklich spannend. Ich wurde zum
Vorstellungsgespräch eingeladen und bekam letztlich die Stelle
wegen meiner Erfahrungen, die ich in Frankreich schon gemacht
hatte. Ursprünglich wurde jemand mit Erfahrung gesucht, die ich
leider nicht bieten konnte, aber dank ERASMUS hat man mich dann
eingestellt. Meine Sprachkenntnisse waren natürlich auch von
Vorteil. In dieser Grenzregion ist es sehr wichtig, dass man beide
Sprachen beherrscht. So habe ich auch einen deutlichen Vorteil
gegenüber Franzosen, die ja häufig leichte Schwierigkeiten mit der
deutschen Sprache haben.
Es gibt seit einigen Jahren schon ein Abkommen, dass nachts
sowohl das deutsche Gebiet nahe der Grenze als auch der französische Sektor vom Notarzt in Frankreich abgedeckt wird. Ein bisher
einmaliges Projekt, denn im Bereich der Notfallrettung gibt es leider
immer noch Grenzen. Dies wird sich allerdings 2007 deutlich ändern.
Das Krankenhaus befindet sich direkt hinter der Grenze in Wissembourg im Elsaß, was für mich den Vorteil brachte, dass ich in Deutschland wohnen kann und zur Arbeit jeden Tag nach Frankreich fahre.
Wegen der geographischen Nähe zu Deutschland hat das Krankenhaus sogar eine sogenannte Weiterbildungsermächtigung für
Deutschland, was mir den Weg zum Facharzt deutlich erleichtert. So
spare ich mir endlos lange Wege bei der Anerkennung der im Ausland erbrachten Leistungen und Zeiten.
Dennoch war der Beginn meiner Tätigkeit auch mit einigen Problemen verbunden, die ich so nicht erwartet hätte. Es war lange
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unklar, wo ich meine Steuern bezahlen muss, und auch die Einschreibung in die Ärztekammer in Frankreich brachte einige Probleme mit
sich. Letztlich habe ich zwar alles Erforderliche erreicht, doch erst
nach langer Zeit und viel Papierkrieg. Man muss allerdings auch dazu
sagen, dass der Grenzgänger Deutschland-Frankreich doch eher der
seltenere Fall ist. Umgekehrt gibt es weitaus mehr Menschen, die in
Frankreich wohnen und in Deutschland arbeiten. Für mich persönlich war sowohl der ERASMUS-Aufenthalt als auch die bisherige Zeit
im Elsaß eine absolute Bereicherung für mein Leben. Ich bin deutlich
weltoffener geworden, habe viele Dinge gelernt und gesehen und bin
viel flexibler geworden. Ich muss zwar definitiv einen Großteil meiner
Facharztausbildung in Deutschland absolvieren, aber ich kann mir
sehr gut vorstellen, nach Frankreich zurückzukehren. Das hängt aber
zum Großteil auch an den Arbeitsbedingungen und an der Bezahlung, die in unserem Nachbarland doch deutlich besser sind. Man
kann also wirklich sagen, dass mein ERASMUS-Aufenthalt mein
Leben geprägt hat und ich ohne diese Zeit niemals diesen Weg eingeschlagen hätte.
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… da, wo die Lyoner herkommt
Eines Nachts hatte ich einen Traum: Ich träumte, ich würde mit
ERASMUS nach Frankreich gehen. Zu jener Zeit waren an der Trierer
Universität Wintersemesterferien, ich hatte einen Ferienjob in
München angenommen, und die Anmeldefristen für das ERASMUSProgramm waren schon längst vorbei. Also verwarf ich den Gedanken. Doch ließ mich der Traum nicht los, sodass ich nach einigen
Tagen dennoch mit dem Trierer Akademischen Auslandsamt und
dem zuständigen ERASMUS-Beauftragten aus der Romanistik
Kontakt aufnahm. Ich befand mich beinahe am Ende meines Englisch- und Französischstudiums und ein Auffrischen meiner praktischen französischen Sprachkenntnisse war meiner Ansicht nach für
mich dringend notwendig, denn Teile der Prüfungen sollten in der
jeweiligen Fremdsprache abgehalten werden. Meine englischen
Sprachfertigkeiten hatte ich bereits während eines vorherigen ERASMUS-Aufenthalts in England aufgebessert.
Mit tatkräftiger Unterstützung des Auslandsamts konnte ich meine
Bewerbung um einen Programmplatz in Frankreich noch einreichen
und entschied mich für einen sechsmonatigen Aufenthalt in der
Universitätsstadt Lyon an der Fakultät Jean Moulin Lyon III. Meine
Bewerbung wurde angenommen, und so trat ich Anfang September
2002 mit einer Freundin in einem vollbepackten Auto den Weg nach
Lyon an.
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Um einen Wohnheimplatz hatte ich mich schon frühzeitig per Internet gekümmert und konnte auf diese Art die Anreise in aller Ruhe
angehen. Nach einigen unnötigen Runden durch Lyons Vielfalt an
Einbahnstraßen kamen wir tatsächlich am Zielort an. Das mir zugedachte Appartement war ungefähr dreimal so groß wie meine
Wohnung in Trier, war voll eingerichtet und hatte sogar Töpfe,
Besteck und andere nützliche Küchenutensilien.
Eine Art ALDI gab es nur zwei Straßen weiter (Leader Price), und
das große Einkaufszentrum am Bahnhof La Part Dieu lag in vertretbarer Fußgänger-Entfernung. Nach einem ersten Gewaltmarsch
durch die gesamte Lyoner Alt- und Innenstadt sowie auf den Hügel,
auf dem die Marienbasilika Fourvière errichtet worden ist, hatte ich
einen ersten positiven Eindruck von der Stadt gewonnen und freute
mich auf das, was mich an der Universität Lyon III erwartete.
In der Einführungswoche für internationale Studenten lernte ich
bereits viele Menschen kennen und traf auch weitere Studenten von
der Trierer Universität. Wir alle wunderten uns sehr, in welch ernster
Weise wir vom Dekan der linguistischen Fakultät begrüßt wurden:
Dieser erklärte uns die französische Methode des Studiums und versicherte uns, dass sie sich mit Sicherheit von der uns bekannten
Methode abheben würde. Wie wahr!
Den ersten Vorgeschmack der »französischen Lehrmethode« bekamen wir noch am selben Tag, da wir einen Sprachkurs belegen
mussten, an dessen Ende eine Prüfung stand, die jeden Studenten
seinem Sprachniveau entsprechend einem Förderkurs zuteilte.
Kurz vor dem eigentlichen Semesterbeginn stand mein Geburtstag
an, und ich nutzte die Gelegenheit, alle Mitbewohner meines Wohnheimflurs einzuladen, um diese besser kennen zu lernen. Anschei-
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nend hatte sich jedoch diese Neuigkeit im gesamten Wohnheim
herumgesprochen, sodass meine ziemlich große Wohnung und der
Wohnheimflur mit Feiernden gefüllt waren. Gegen Mitternacht
verlegten wir die Party in eine Kneipe in der Stadt, und noch heute
denke ich gerne an diesen Moment zurück, der eine Reihe von den
ERASMUS-typischen Feten einläutete.
Die Lehrveranstaltungen hatte ich mir in Hinblick auf meine
bevorstehenden mündlichen Prüfungen ausgewählt. Ich war erstaunt, mit welch atemberaubender Geschwindigkeit der Lehrstoff
vorgetragen wurde, und hatte Mühe, Notizen zu machen und dabei
noch etwas vom Gesagten mitzubekommen. Meine französischen
Kommilitonen waren das schon gewöhnt (schließlich wird diese Art
von Mitschreiben bereits in der Schule erlernt) und schrieben nicht
nur fleißig mit, sondern gliederten die verschiedenen Punkte auf logische Art und Weise, hatten verschiedenfarbige Textmarker und unterstrichen einige Passagen fein säuberlich mit einem Lineal. Wirklich
bemerkenswert.
Von der Universitätsbibliothek war ich enttäuscht, denn es gab
nicht viel Sekundärliteratur, und die wenigen Arbeitsplätze in dem
überheizten Glasgebäude waren rund um die Öffnungszeiten belegt.
Also schnappte ich mir ein paar Bücher und suchte mir andere Leseplätze. Hierbei stieß ich per Zufall auf einen Raum, in dem sich
Studenten aus Fachbereichen der (Fremd-)Sprach- und Literaturwissenschaften in ihrer freien Zeit trafen. Dort war ebenfalls ein deutscher Student, der sein gesamtes Studium in Frankreich absolvierte.
Er ermunterte mich, wieder vorbeizuschauen, und so verbrachte ich
ab und an meine freie Uni-Zeit bei dieser Studentenvereinigung, in
der vor allem französisch gesprochen wurde. Dies half mir, meine
Sprachfertigkeiten zu erweitern, und ich lernte ebenfalls einiges aus
dem alltäglichen Sprachgebrauch.
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Da die meisten französischen Studenten sehr stark mit ihrem Studium beschäftigt waren, traf man sie hauptsächlich innerhalb der
Universitätsmauern. Daher machte ich mich auch außerhalb auf die
Suche nach Kontakten zu Muttersprachlern. So schloss ich mich
einem kleinen Verein in der Stadt an und freute mich, dass ich die
bald neu gewonnenen Freunde aus Universität, Wohnheim und Verein zusammenbringen konnte.
Gemeinsam gab es vor allem vor Weihnachten eine Menge zu
erleben: Zum Fest Mariä Empfängnis am 8. Dezember (an dem Maria
gedankt wird, dass sie Lyon vor der Pest bewahrt hat) wurde die Stadt
anlässlich der Fête des Lumières in ein Lichtermeer getaucht: An verschiedenen Schauplätzen, vor allem bei der Opéra, dem Hôtel de
Ville, der Place Bellecour, der Place des Terreaux und bei der
gotischen Kirche St. Jean im Altstadtviertel waren Lichtspektakel zu
bewundern, die oft mit Musik untermalt wurden. Das Lichterfest
dauert mehrere Tage und ist zu einem wahren Touristenmagnet
geworden.
Ab Anfang Dezember fand ebenfalls der traditionelle Lyoner
Weihnachtsmarkt auf dem Vorplatz des Bahnhofs Perrache statt.
Neben den üblichen, überall bekannten Weihnachtsspezialitäten wie
Glühwein, Lebkuchen und Geschenkartikeln gab es natürlich auch
regionale Produkte wie beispielsweise die typische Lyoner Rosette de
Lyon, eine Art Salami (die von mir im Titel genannte ›Lyoner‹ ist
dagegen in Süddeutschland die Bezeichnung für eine Fleischwurst,
deren Rezeptur ursprünglich aus Lyon stammt, wo diese Wurst
jedoch Cervelat genannt wird).
Als ich über die Weihnachtsferien zurück nach Deutschland fuhr,
wurde mir bewusst, dass bereits mehr als die Hälfte meines ERASMUS-Aufenthaltes verstrichen war. Immer öfter dachte ich darüber
nach, mein Arbeitsleben nach dem Studium in Lyon zu beginnen. Als
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welch atemberaubender
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Lehrstoff vorgetragen
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Notizen zu machen und
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Gesagten mitzubekommen.
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zukünftige Magistra Artium in englischer und französischer Sprachund Literaturwissenschaft hätte ich nach Studienende eine Vielzahl
von möglichen Karrierewegen, die ich beschreiten könnte. Ein festes
Ziel hatte ich damals noch nicht vor Augen, doch ich wusste, meine
Arbeit sollte etwas mit Fremdsprachen zu tun haben, mit dem
Umgang mit anderen Menschen, mit redaktioneller Arbeit und dem
Internet. Zugegeben, das erscheint auf den ersten Blick als eine ziemlich bunte Mischung. Aber das ist genau das, was ich heute beruflich
mache, und obendrein mache ich das in Lyon.
Doch wie kam es dazu? Nach den Weihnachtsferien genoss ich die
restliche Zeit in Lyon, legte die notwendigen Prüfungen ab und kehrte schweren Herzens nach Trier zurück, um dort ebenfalls einige
Examina zu absolvieren. Lange hielt es mich jedoch nicht in Deutschland, sodass ich mich während des Schreibens meiner Magisterarbeit
um einen Praktikumsplatz in Lyon bemühte. Ich fand einen Platz in
einem kleinen französischen Unternehmen, das auf internationaler
Basis arbeitet und in dem viel Kontakt mit Deutschland gepflegt
wurde. Meinen Aufenthalt finanzierte ich zum Teil mit Hilfe des LEONARDO-Projekts des DAAD.
In dem Unternehmen kümmerte ich mich um den Inhalt der
firmeneigenen Internetseiten und erstellte die ersten Kunden-Newsletter in deutscher Sprache. Darüber hinaus führte ich Recherchen
und Berechnungen für eine Studie aus, die ich nicht nur verfassen,
sondern auch vermarkten sollte. Schließlich wurde ich in die aktive
Kundenakquise per Telefon eingearbeitet, wobei ich Telefonate nach
Deutschland, Großbritannien, den USA, den Niederlanden und anderen Ländern führte. Zum Abschluss des Praktikums stand dann noch
der Besuch der Personalmesse »Zukunft Personal« in Köln an, auf der
ich Unternehmenskunden und Lieferanten traf.
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Bei diesem Praktikum kamen mir die während meines ERASMUSAufenthalts gemachten Erfahrungen zu Gute, sodass ich mich ein
Stück weit auf die französische Mentalität, die mich im Arbeitsumfeld erwarten würde, einstellen konnte. Es fiel mir leicht, mich auf
neue Situationen und neue Menschen einzulassen, und ich fasste
schnell Fuß im Team. Meine vorab erworbenen Sprachkenntnisse
während des ERASMUS-Jahres – vor allem die umgangssprachlichen
– halfen mir ebenfalls, mich leichter zurecht zu finden, denn die
meisten Franzosen haben leider die Angewohnheit, sehr schnell zu
sprechen, auch wenn man sie höflich darum bittet, langsam zu reden.
Gegen Ende meines Praktikums wurde mir von meiner Firma eine
Festanstellung angeboten, die ich gerne annahm. Heute arbeite ich
noch immer in diesem Unternehmen und werde dort bald in mein
drittes Jahr gehen.
All diese schönen Erinnerungen und positiven Wendungen in meinem (Berufs-) Leben verdanke ich den europäischen Austauschprogrammen, für welche der DAAD die deutsche Agentur ist, vor allem
dem ERASMUS-Programm, mit dessen Unterstützung ich meinen
ersten längerfristigen Aufenthalt in Frankreich durchführen konnte.
Mit einigen ERASMUS-Studierenden und Studenten anderer internationaler Austauschprogramme aus meinem 2002-Jahrgang bin ich
noch heute in Kontakt. Für sie alle trifft der Ausspruch »Einmal Ausland, immer Ausland« in gleichem Maße zu wie für mich: Eine deutsche Freundin aus Berlin lebt und studiert nun in Irland, ein englischer Freund hat zwei Jahre in China verbracht, und ein kanadischer
Freund ist ebenfalls nach Frankreich zurückgekehrt und hat seine
Doktorarbeit in Paris vorbereitet.
Was mich während meines Aufenthalts fasziniert hat und auch
heute noch immer wieder beschäftigt, sind die kulturellen und gesell-
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schaftlichen Unterschiede, die mir auffallen, seit ich in Lyon lebe.
Einige der schönsten Episoden gebe ich seit Anfang Februar 2006 auf
meinem Blog im Internet zum Besten und rege damit Diskussionen
über deutsch-französische Mentalitätsfragen an.
Vielen Dank an ERASMUS! Ich wünsche dem europäischen Austauschprogramm weiterhin viele erfolgreiche Studienplatzvermittlungen im immer größer werdenden Europa!
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IMPRESSUM
Herausgeber:
DAAD
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Redaktion:
Dr. Siegbert Wuttig, Dr. Bettina Morhard
Gestaltung und Satz:
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Druck:
In Puncto Druck + Medien GmbH, Bonn
1. Auflage 2/07 – 3.000
2. Auflage 8/08 – 1.000
© DAAD
Illustrationen und Composings:
Christian Padberg
Diese Publikation wurde aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF)
und der Europäischen Kommission finanziert. Sie gibt nur die Meinung der Autoren wieder.
Weder die Europäische Kommission noch das BMBF sind für eine mögliche weitere Verwendung
der enthaltenen Informationen verantwortlich.
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