Zwei_Jagdnovellen

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Zwei_Jagdnovellen
Neumanns Geheimnis
Wilderernovelle
Namen, Handlung und Personen sind frei erfunden. Eine
Namensgleichheit mit lebenden oder toten Personen wäre
rein zufällig. Die Erzählung beruht jedoch auf Tatsachen, die
sich vor dem Weltkrieg in Ostpreußen ereignet haben.
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Ein orangeroter Sonnenuntergang verabschiedete im
Westen den schönen Herbsttag, langsam senkte sich die
Dämmerung über das flache Land. Mit dem zaghaften
Aufleuchten des Abendsternes begann die Uhlenflucht, jene
kurze Dämmerungszeit, bis die dunkle Nacht endgültig ihre
Herrschaft antrat.
Von der Silhouette des dunklen Kiefernwaldes löste sich
lautlos ein Schatten. Ein alter Steinkauz startete zu seiner
nächtlichen Futtersuche. Im Fluge erspähte er einen
ungewohnten Lichtschein, der aus dem Dienstzimmer der
alten Rentei in die Finsternis drang. Neugierig flog er auf den
Lichtschein zu und blockte in der alten Linde vor der Rentei
auf. Von der Helligkeit geblendet, starrte er mit verengten
Pupillen verwundert durch das offene Fenster.
Im Büro saß zu diesem späten Zeitpunkt der Forstverwalter
Fritz Neumann an seinem Schreibtisch.
Vor ihm lag ein Brief seines Arbeitgebers und Freundes
Baron von Stenglin. Mehrmals hatte Neumann das Schreiben
durchgelesen, wobei er dicke Qualmwolken aus seiner
halblangen Jägerpfeife hervorstieß. Verärgert faltete er das
Schreiben zusammen und verschloss es im Schreibtisch.
Sinnend glitten seine Augen über die zahlreichen Gehörne
und Geweihe an den Wänden seines Dienstzimmers. Mit den
Jahren hatten die ehemals weißen Schädel der Trophäen
durch langen Tabakgenuss Patina angesetzt. Doch Neumanns
Sinn stand nicht nach Sinnieren über alte Jagdfreuden. Was
sein Brotherr ihm geschrieben hatte, war eine Zumutung
Baron von Stenglin teilte ihm mit, dass seine Nichte, die
Baronesse von Wrede in Kürze zur Jagd auf einen
Abschusshirsch käme. Da der Baron in den nächsten Wochen
geschäftlich im Ausland zu tun habe, solle er die junge Frau
führen.
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Mit dem Freiherrn war er seit seiner Jugend freundschaftlich
verbunden. Obwohl er nach seinem Studium in seinen Dienst
getreten war und die Bewirtschaftung und Betreuung des über
1000 ha. großen Reviers übernommen hatte, war das
Verhältnis zu seinem “Dienstherrn” von kameradschaftlichem
Vertrauen geprägt. Der Baron wusste aber auch, dass
Neumann etwas gegen jagende Frauen hatte.
Obwohl er eingefleischter Junggeselle war, hegte er keine
grundsätzliche Antipathie gegen das weibliche Geschlecht.
Vor Jahren war er mit einer hübschen Kaufmannstochter
verlobt gewesen. Kurz von der geplanten Hochzeit
verunglückte seine Braut mit ihrem Sportwagen tödlich. Aus
Kummer und Gram hatte er sich jahrelang von allen
gesellschaftlichen Veranstaltungen fern gehalten und ein sehr
zurückgezogenes Leben geführt. Als die Wunden des
Verlustes mit der Zeit vernarbten, nahm er wieder an Bällen
und anderen gesellschaftlichen Veranstaltungen teil. Er war
ein guter Tänzer und charmanter Gesellschafter, der mal hier,
mal dorrt flirtete. Manche Dame der Gesellschaft hätte ihn
gerne als Schwiegersohn gehabt. Doch Neumann blieb bei
seinem Entschluss Junggeselle zu bleiben.
Trotz seiner Verehrung des weiblichen Geschlechtes, trotz
seiner Aufgeschlossenheit für Gleichberechtigung und
Emanzipation, war und blieb Neumann in einem Punkt stur:
Er hasste jagende Weiber.
Nach seiner Auffassung war die Frau von Gott dazu
geschaffen, um Leben zu gebären. Und nicht, um Leben zu
vernichten.
Er meinte, eine gefühlsbetonte Frau würde unter Jagdfieber
leiden. Oft werden aber erst nach dem Schuss an den Jäger
schwere körperliche Anstrengungen gestellt. Er fragte sich:
’Kann eine Frau einen Brunfthirsch aufbrechen? Oder einem
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klagenden Kitz den Fangschuss geben, einen todkranken
Hasen durch Genickschlag erlösen und kilometerweit mit
dem Schweißhund einer Wundfährte folgen?’
Es soll einige Frauen geben, die diesen Anforderungen
gerecht werden gestand sich Neumann, doch haben diese
Frauen so viel vom weiblichen Charme verloren, dass sie als
“FRAU” indiskutabel waren.
Um seine Ansicht zu bekräftigen, hatte er in seinem Büro
unter den zahlreichen Trophäen folgenden Spruch
aufgehängt:
Ich finde soll'n sie sich empören,
dass Frauen auf der Jagd nur stören.
Ist eine hübsch und ohne Gatten,
wird man auf sie wohl meistens blatten.
Und verpasst beim Griff um den Rock,
bestimmt den kapitalen Bock!
Doch was half alles Grübeln? Es gehörte zu seinen
Aufgaben, Jagdgäste zu führen, also musste er sich dem
Wunsch seines Dienstherrn beugen.
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Acht Tage später wurde Neumann telefonisch vom
Ankunftstermin der Baronesse unterrichtet. Als am folgenden
Tag der Gärtner im Park einen Strauß Dahlien pflückte, hörte
er in der Ferne das Geräusch eines näher kommenden
Fahrzeuges. Wenige Minuten später schoss ein roter, offener
Sportwagen um die Ecke, nahm quietschend die letzte Kurve
und hielt mit einem starken Ruck, eine Staubwolke
aufwirbelnd, direkt vor dem Eingang des Gutshauses.
Während der Gärtner auf das Auto zueilte, hatte die Fahrerin
elastisch und leichtfüßig den Wagen verlassen. Der Gärtner
begrüßte den ihm bekannten Gast herzlich und trug dann das
Gepäck ins Haus. Durch das freudige Hundegebell war
Neumann auf den Besucher aufmerksam geworden und eilte
zum Empfang nach draußen.
Ein junges, frisches Mädchen mit langen, blonden Haaren
kam auf ihn zu. Das bunte Dirndlkleid und die flachhackigen
Sportschuhe standen ihr vorzüglich und unterstrichen ihre gut
gewachsene Figur. Lediglich die rot gefärbten Fingernägel
bildeten einen Kontrast, der städtische Herkunft verriet.
“Weidmannsheil, Baronesse”, begrüßte der Revierverwalter
den Gast,: “Mein Name ist Neumann. Da Herr von Stenglin
auf Geschäftsreise ist, soll ich Sie auf einen Abschusshirsch
führen.”
“Weidmannsheil, Herr Neumann. Von meinem Vater erfuhr
ich, dass mein Onkel auf Reisen ist Ich habe schon so viel von
Ihren jagdtlichen Erfolgen gehört, so das ich mich gerne Ihrer
Führung anvertraue.”
“Einige Hirsche habe ich bestätigt, so dass ich bestimmt
glaube, dass Sie zu Schuss kommen werden. Nun möchte ich
Ihnen Ihr Zimmer zeigen. Der Gärtner wird schon Ihr Gepäck
hinauf gebracht haben.”
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Gemeinsam schritten sie die breite Freitreppe hinauf und
betraten die sehr geräumige Diele. Über dem
geschmackvollen, offenen Kamin, an der Stirnseite des
Raumes, hingen die Trophäen starker Hirsche. Alte
Ridingerstiche, die sich um Rehgehörne gruppierten,
schmückten die Seitenwände. Eine bequeme Polstergarnitur
vor dem Kamin vervollständigte die behagliche Einrichtung.
Bewundernd hing der Blick der Baronesse an den starken
Trophäen. Zögernd folgte sie Neumann auf der schweren
Eichentreppe in das obere Stockwerk. Der Revierverwalter
führte sie in ein geräumiges Zimmer, das als Wohn
Schlafzimmer behaglich und geschmackvoll eingerichtet war.
Neumann fragte: “Soll ich die Köchin herauf schicken,
damit sie Ihnen beim Auspacken behilflich ist?”
“Nein,. Danke. Ich komme allein zurecht.”
“Um zwölf Uhr ist das Essen fertig, wenn es recht ist.
Lassen Sie bitte Lisa nicht warten.”
“Ich werde pünktlich sein. Ich will nur schnell auspacken
und mich frisch machen”, erwiderte die Baronesse.
“Um vier Uhr werde ich Sie dann zum Ansitz abholen”,
sagte Neumann und verließ das Zimmer.
Die junge Frau trat an das Fenster und sah in den gepflegten
Park. Hinter dem Park lag ein Wiesenthal, dass von einem
Bach durchzogen wurde. Am oberen Wiesenrand erstreckte
sich, bis an den Horizont ein großer Kiefernforst, aus dem
sich einige leuchtende Laubholzinseln hervorhoben. Lange
betrachtete sie das herrliche Bild Sie liebte diese Landschaft
der Altmark. Dann packte sie ihren Koffer aus. Sie hatte
gerade ihre Toilette beendet, als ein Gong erklang.
Leichtfüßig ging sie die Treppe hinunter. In der Diele
erwartete sie eine mittelalte Frau im dunklen Kleid mit einer
weißen Schürze.
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Die Frau ging auf den Gast zu und sagte: “Guten Tag
Baronesse. Ich bin Lisa, die Köchin, und habe den Auftrag,
für Ihr leibliches Wohl und Ihre Bequemlichkeit zu sorgen.”
“Guten Tag Lisa", erwiderte die Baronesse und gab ihr die
Hand.
“Darf ich auftragen?”, fragte die Köchin. Bevor sie
antworten konnte, öffnete die Köchin die Tür und sagte:
”Bitte schön. Hier ist das Esszimmer.”
Frau von Wrede betrat das Zimmer. Der Raum war mit
schweren Eichenmöbeln im rustikalen Stil ausgestattet. Dicke
Perserteppiche dämpften die Schritte. Auf dem Tisch, in der
Mitte des Raums war für eine Person gedeckt. Das
Porzellangeschirr mit Jagdmotiven verriet den Geschmack
des Hausherrn. Lisa servierte lautlos. Mit großem Appetit aß
Frau von Wrede. Die lange Fahrt und die frische Luft hatten
sie hungrig gemacht.
Die Köchin legte vor und räumte ab mit einer Behändigkeit,
die man der korpulenten Frau gar nicht zugetraut hätte. Als
die Baronesse beim hinausgehen das gute Essen lobte,
strahlte ihr Gesicht vor Freude.
Frau von Wrede hatte sich gerade zur Jagd umgezogen, als
sie durch das geöffnete Fenster das Geräusch eines näher
kommenden Fahrzeuges hörte. Interessiert blickte sie aus
dem Fenster und sah den Jagdverwalter in einem Kübelwagen
an der Auffahrt halten. Sie sah auf ihre Armbanduhr, und
stellte fest, dass es fünf Minuten vor vier war. Schnell setzte
sie den feschen Jagdhut auf ihr blondes Haar, warf einen
prüfenden Blick in den Spiegel, nahm das Gewehr aus dem
Schrank und verließ das Zimmer.
Der Jäger wartete schon an der Auffahrt auf sie. Als er aus
stieg, lag sein Blick prüfend, und ein wenig überrascht auf
den näher kommenden Gast. Herrgott, was hat sich das Mädel
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verändert. Sie trug ein maßgeschneidertes Jagdkostüm aus
feinstem Gabardine. Ihre wohlgeformten Beine steckten in
grünen
Trachtenstrümpfen
und
leichten,
braunen
Halbschuhen. Ein teures Nachtglas und eine schwere
Doppelbüchse, ein Meisterwerk der Büchsenmacher,
vervollständigten die Ausrüstung.
Frisch importiert vom Laufsteg einer extravaganten
Modenschau, dachte der Jäger, und warf einen verstohlenen
Blick auf seine speckige Lederhose und seine verschossene
Jacke aus derben Loden. Die Baronesse schient aber die
Gedanken des Jägers nicht zu erraten, sondern blickte
suchend auf den Vorplatz.
“Ihren Wagen habe ich heute Mittag in die Garage fahren
lassen”, erklärte Neumann. “Wir nehmen für das Revier
besser den allradgetriebenen Geländewagen, denn die Wege
sind oft nass und steinig.”
“Schönen Dank, Neumann”, antwortete die Baronesse und
nahm auf dem Beifahrersitz Platz, während Neumann die
Waffe des Gastes in der Halterung befestigte.
Langsam rollte der Wagen den Parkweg hinab, und als sie
die Landstraße erreichten, schaltete Neumann in einen
höheren Gang. Auf beiden Seiten der Straße erhoben sich
bewaldete Hügel. Immer seltener begegneten ihnen
Fahrzeuge. Schließlich waren sie allein auf der schmalen
Waldstraße.
“Ich habe noch nie so dichte und unberührte Wälder
gesehen”, stellte die Baronesse fest.
“Ja, bei uns ist es schön. Gottlob wissen das die wenigsten.
Wenn erst mal der Tourismus diese schöne Gegend erobert
hat, ist es aus mit der Ruhe, und das Rotwild wird sich in die
Dickungen zurückziehen”, antwortete der Jäger.
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Neumann bog von der Straße ab. Der Weg wurde eng, und
Zweige schlugen gegen die Windschutzscheibe. Rumpelnd
arbeitete sich der Geländewagen durch die tiefen Fahrspuren
des ausgefahrenen Weges. Nach weiteren zehn Minuten hielt
Neumann auf einer kleinen Lichtung.
“So, da wären wir!”, sagte er.
Er hatte bereits den Wagen verlassen und holte
Lodenmäntel, Gläser und die beiden Gewehre aus dem
Fahrzeug, während dessen die Baronesse im Rückspiegel des
Wagens ihre, durch den Fahrwind ramponierte, Frisur
korrigierte und ihr Makeup kritisch in Augenschein nahm.
Als sie endlich mit ihrer Toilette fertig war, reichte ihr der
Jäger Glas und Gewehr, warf sich die beiden Lodenmäntel
über die Schulter und sagte: “Wollen wir mal unser Glück
versuchen.”
Sie überquerten eine Lichtung, gelangten dann auf einen
Pirschweg, der durch einen alten Kiefernbestand führte. Mit
elastisch, federnden Schritt bewegte sich der Forstverwalter
zügig vorwärts. Die Baronesse, die das lautlose Pirschen
nicht gewohnt war, hatte Mühe, ihm zu folgen. Obwohl sie
sich bemühte, lautlos zu gehen, stieß sie bald an einen Stein
an, dann zertrat sie knisternd einen kleinen Zweig, so dass ein
Eichelhäher mit erschrockenem Gezetere die ganze Gegend
alarmierte.
Der Jäger verhielt. Während er sich zu seinem Gast
umdrehte, stand eine kaum merkliche Unmutsfalte zwischen
seinen buschigen Augenbrauen. Gemächlich stopfte er seine
halblange Pfeife, steckte sie in Brand und prüfte lange und
eingehend den Wind. Ein kurzes Kopfnicken sollte wohl
andeuten, dass die Windrichtung in seinen Plan passte. Dann
pirschte er langsam weiter, sich ab und zu nach seinem Gast
umschauend.
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Am Waldrand erreichten sie einen offenen Hochsitz, den sie
beide bestiegen. Vor ihnen lag ein, etwa zwei Hektar großer,
Kahlschlag, der rechts von einem Kiefernstangenholz, an den
übrigen Seiten von Buchendickungen umgeben war. Ein
rotbrauner Fleck in der üppigen Krautflora ließ Neumann
zum Glas greifen. Nach einem kurzen Blick durch das
Fernglas sagte er: “Sehen Sie, dort rechts neben dem Ginster
steht eine Ricke mit ihrem Kitz.”
Nach einigem Suchen mit dem Glas hatte die Baronesse das
Wild entdeckt und brach mit einer hohen, hellen
Mädchenstimme in den Freudenruf aus: “Ach, wie niedlich!”
Neumann war über diesen unpassenden und lauten
Freudesausbruch ebenso erstaunt, wie die Ricke, die
misstrauisch aufgeworfen hatte.
Noch bevor Neumann den Gast zur Ruhe ermahnen konnte,
ertönte aus der Dickung ein gedämpftes Knören. Beide
suchen mit den Gläsern den Waldrand ab.
Nichts rührte sich! Keine Bewegung, kein Schrei. Die rote
Scheibe der Sonne verschwand langsam, aber stetig hinter
dem bewaldeten Horizont. Die Ricke zog mit ihrem Kitz
langsam, hier und da ein besonders leckeres Kraut äsend,
über den Kahlschlag, und verschwand in der Dickung.
Plötzlich zeterte von den Buchen her eine Drossel. Der Jäger
griff zum Glas und leuchtete den gegenüberliegenden
Waldrand ab. Lautlos erschien dort das vorsichtig sichernde
Haupt eines Alttieres. Mit einem Fingerzeig machte
Neumann den Gast darauf aufmerksam. Nach kurzem winden
zog das Leittier auf die Fläche. Es folgten Kalb und
Schmaltier. Dann folgte noch mal ein Alttier mit seinem
Kalb.
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In aller Ruhe begann das Kahlwild an zu äsen und zog dabei
langsam immer weiter auf die Kahlfläche. Lauscher wehrten
spielend die Fliegen ab.
Erneut suchte der Jäger den Waldrand ab. Nun hatte er den
Langersehnten im Glas. Träger und Haupt hoben sich
undeutlich von den dunklen Stämmen des Waldrandes. Der
Hirsch äugte dem Rudel nach und zog dann langsam näher.
Rasch wischte Neumann die, von seinem Atem beschlagenen
Okulare des Fernglases ab. Mit einem Blick sah er, dass die
Baronesse den Hirsch auch entdeckt hatte und ihn im Glas
beobachtete.
Vierter Kopf - und dann schon ein angedeuteter
Kronenzehner. Das wird wohl ein sehr guter Hirsch werden,
wenn auch die Stangen ein wenig kurz sinddachte Neumann
bei sich
Doch dann riss ihn ein leises metallisches Geräusch aus
seinen Betrachtungen. Schnell setzte er das Glas ab und
wandte sich zur Seite. Für einen Bruchteil einer Sekunde
erstarrte er vor Schreck. Entsetzt sah er auf die Baronesse, die
unbemerkt in Anschlag gegangen war, und mit gestochener
Büchse auf den Hirsch zielte.
Mit einem Griff riss er blitzschnell das Gewehr an den
Läufen hoch, entspannte es und stellte die gesicherte Waffe
neben sich. Vor Schecken kreideweiß, stierte die Baronesse in
das wütende Gesicht ihres Begleiters. Nur mühsam konnte
Neumann seine Wut unterdrücken. Bevor das erschrockene
Fräulein etwas sagen konnte, donnerte er los: “Sie wollen
doch nicht den besten Zukunftshirsch des Reviers abknallen?
Solange ich Sie führe, wird nur mit meiner ausdrücklichen
Genehmigung geschossen. Merken Sie sich das. Baronesse!”
“Aber der Hirsch war doch so schön. Einen besseren will ich
gar nicht”, entgegnete die Baronesse.
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Diese Antwort verschlug nun Neumann völlig die Sprache.
Durch den heftigen Disput war das Rotwild auf die
Anwesenheit von Menschen aufmerksam geworden und
flüchtete in die schützende Dickung. Die Fläche war leer.
Wortlos stand Neumann auf. entlud seine Büchse, zog den
Lodenmantel an und stieg die Leiter hinab.
Die Baronesse folgte bedrückt. Schweigend gingen sie
hintereinander durch den dunklen Wald, erreichten den
Geländewagen und fuhren zum Gut. Kurz und förmlich
verabschiedete sich Neumann im Gutshof, nachdem er einen
Termin für die Frühpirsch vereinbart hatte. Dann fuhr er
verärgert zu seiner Rentei.
In der Frühe des folgenden Tages holte Neumann seinen
Gast mit dem Geländewagen ab. Nach kurzer Fahrt folgten
sie schweigend dem dunklen Pfad eines Pirschweges und
bestiegen eine geschlossene Kanzel. Die vor ihnen liegende
Fläche lag noch in der Dämmerung. Im Süden vernahmen sie
das Schreien mehrerer Hirsche. Nebelfetzen schlichen über
die Kahlfläche. Feuchte Kälte schlich langsam, aber stetig
von unter in die Kanzel. Langsam wurde es heller, und die
aufgehende Sonne saugte die letzten Nebelreste auf.
Neumann griff zum Glas und leuchtet die Kahlfläche
gründlich ab. Nichts! Schweigen starrte beide auf die Fläche.
Da knackte etwas in der Dickung. Neumann hielt den Atem
an und lauschte angestrengt. Nun vernahm er das zarte
Geräusch von an Ästen anstreichenden Geweihstangen. Ein
wenig später trat das Leittier auf die Fläche. Dann folgte das
ganze Rudel.
“Nehmen Sie die schussbereite Büchse zu Hand”, flüsterte
Neumann. “Der Hirsch wird wahrscheinlich gleich folgen.
Aber bitte, erst schießen, wenn ich es sage.”
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Endlich betrat der Platzhirsch gebieterisch den Kahlschlag
und folgte zügig dem Rudel. Neumann sprach ihn als
ungeraden EissprossenZehner an von etwa acht Jahren.
“Wenn der Hirsch näher kommt und bereitsteht, dann
können Sie schießen”, flüsterte er.
Die Baronesse ging in Anschlag.
“Nehmen Sie sich Zeit. Erst, wenn der Hirsch das Blatt
zeigt, können Sie schießen”, ermahnte Neumann seinen
aufgeregten Gast. Langsam, sehr langsam zog das Rudel
näher. Oft war der anziehende Hirsch vom Kahlwild
verdeckt. Urplötzlich erscholl vom Süden her ein Sprengruf.
Der Eissprossenzehner wandte sich um, sein Blatt freigebend,
und knörrte gereizt.
“Schießen”, zischte Neumann erregt.
Die Baronesse lag im Anschlag, doch Neumann sah, dass
die Mündung wie ein Lämmerschwanz wackelte
“Ruhig atmen. Die Büchse fest einziehen”, beruhigte er
seinen Gast
Gerade, als der Hirsch sich wieder wenden wollte, um
seinem Rudel zu folgen, brach der Schuss. Der Hirsch brach
auf der Stelle zusammen, während das Kahlwild in wilder
Flucht die Dickung annahm.
Aber was war das? Der Hirsch kam wieder auf die Läufe
und versuchte mit erhobenem Haupt dem Rudel zu folgen.
Doch der hintere Teil seines massigen Körpers war leblos und
bewegungsunfähig an den Boden gefesselt. Statt des stolzen
Brunftschreis durchschnitt ein markerschütterndes Klagen
der gequälten Kreatur die morgendliche Stille.
“Rückgratschuss”, murmelte Neumann Und sagte laut:
“Nun schießen Sie noch mal und erlösen das Tier von seinen
Qualen!”
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Die Baronesse starrte mit kalkweißem Gesicht auf den mit
seinen Vorderläufen wild um sich schlagenden Hirsch, der in
kurzen Abständen schauerliche Laute ausstieß. Da die
Baronesse keine Anstalten machte, den Fangschuss
abzugeben, riss Neumann ihr das Gewehr aus der Hand,
repetierte blitzschnell, und erlöste mit einem Blattschuss den
Hirsch von seinen Qualen.
Zornesröte stand auf seinem Gesicht, als er sagte: “Erwarten
Sie nicht, dass ich Ihnen mit Weidmannsheil zu diesem
Schuss gratuliere. Den schlechten Schuss hätte ich Ihnen ja
noch verziehen. Obwohl bei der festen Auflage auf dem
Hochsitz auch das nicht passieren durfte. Aber dass Sie in
Ihrer Kopflosigkeit nicht in der Lage gewesen sind, einem
todkranken Hirsch den Fangschuss zu geben, zeigt, das Sie
unfähig sind, die Jagd auszuüben!”
Wortlos verließen sie den Hochsitz. Dann sagte der
Forstverwalter: “Ich werde den Hirsch selber versorgen, denn
ich will ihrem zart besaiteten Gemüt den Anblick des
Aufbrechens ersparen. Nehmen Sie den Wagen und fahren
allein zum Gut. Ich habe noch bei den Waldarbeitern zu tun.
Die Trophäe wird Ihnen nach dem Abkochen und Bleichen in
den nächsten Tagen zugestellt.”
Schweigend schlug die immer noch verdatterte Baronesse
den Weg zum Wagen ein, während sich Neumann an die rote
Arbeit machte.
Am nächsten Morgen hatte die Baronesse ihren Schock
überwunden. Es wurmte sie, dass ein bürgerlicher
Jagdaufseher sie schwach und hilflos gesehen hatte. Was fiel
diesem Lakaien eigentlich ein, eine Baronesse von Wrede zu
maßregeln? Sie, die Mittelpunkt auf Bällen und Parties war,
und der alle jungen Männer der Gesellschaft zu Füßen lagen?
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Nach dem Frühstück läutete das Telefon in der Rentei. Als
Neumann abnahm, sagte Frau von Wrede: “Herr Neumann,
fahren Sie um zehn Uhr meinen Wagen vor, und chauffieren
mich in die Kreisstadt Ich wünsche, dass Sie mir die
Sehenswürdigkeiten des Städtchens zeigen!”
Der Forstverwalter stutzte, holte tief Atem und sagte dann
ganz ruhig: “Baronesse, ich bin als Forstverwalter von Baron
Stenglin eingestellt. Meine Aufgabe ist es, für Wald und Wild
des Gutes zu sorgen. Den Reiseführer zu spielen, dazu habe
ich keine Lust und keine Zeit. Entschuldigen Sie mich bitte,
ich habe einen dringenden Termin beim Sägewerk. Wenn Sie
nicht allein fahren wollen, so steht Ihnen der Gärtner gewiss
gern zur Verfügung. Er ist ein zuverlässiger Fahrer. Guten
Tag, Baronesse.” Dann hängte er ein.
Damit war es endgültig zum Bruch gekommen. Neumann
verrichtet lustlos seinen Dienst. Die Baronesse fuhr ziellos
mit ihrem Sportwagen durch die Gegend. Beide wussten es so
einzurichten, dass sie sich nicht begegneten. Jedoch
erwarteten beide sehnlichst die Rückkehr des Gutsherrn, um
durch eine deftige Beschwerde ihrem Herzen Luft zu machen.
Am Wochenende traf endlich der Baron ein. Sicherlich hatte
Frau von Wrede ihrem Onkel aus ihrer Sicht über die beiden
unerfreulichen Jagdtage informiert.
Am Nachmittag ging der Baron, wie stets nach längeren
Reisen, zur Rentei, um Neumann zu begrüßen und sich über
den Stand der laufenden Arbeiten zu informieren. Die
Begrüßung war herzlich. Die Unterhaltung werde wie immer
im vertraulichen “du” geführt.
Neumann berichtete über den Holzeinschlag über den
getätigten Holzverkauf und von dem Ausfall einer. Maschine
im Sägewerk. Der Baron machte sich Notizen und meinte
dann: “Dann ist ja alles in Ordnung. Beim Holzverkauf hast
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du einen guten Preis erzielt. Danke Fritz. Was die Maschine
im Sägewerk betrifft, die werden wir erneuern. Sie hat uns ja
schon oft Schwierigkeiten bereitet.”
Der Baron stand auf und wollte sich verabschieden, als Fritz
sagte: “Bodo, da ist noch etwas, was ich berichten muss.”
Dann erzählte er ausführlich die jagdlichen Ereignisse, und
verschwieg auch nicht die Aufforderung der Baronesse sie als
Chauffeur und Reisebegleiter in die Stadt zu fahren.
Abschließend stellte er fest: “Lieber Bodo, trotz der über
Jahrzehnte andauernden Verbundenheit meiner Familie mit
dem Gut beabsichtige ich, mich bei passender Gelegenheit zu
verändern. Ich bin nicht gewillt, ein zweites Mal eine
derartige prekäre Aufgabe zu übernehmen.”
Bodo von Stenglin setzte sich wieder und antwortete nach
kurzem Schweigen: “Aber Fritz, wer wird denn gleich das
Kind mit dem Bade ausschütten? Wie du schon sagtest,
unsere Familien sind seit zwei Generationen fest und herzlich
verbunden. Dein Vater hat schon als Rentmeister meinen
Vater beraten. Du hast durch deine Tüchtigkeit und Fleiß dem
Wildererunwesen ein Ende bereitet und aus der Jagd das
gemacht, was sie heute ist. Und schließlich und das ist für
mich das Wichtigste hast du nicht nur das Gut aus den roten
Zahlen gebracht, sondern durch intensive Bewirtschaftung
dafür gesorgt, dass es heute eine gute Rendite abwirft.
Gewiss, es war ein Fehler von mir, als ich dich bat, meine
extravagante Nichte auf einen Hirsch zu führen. Ich hätte sie
eigentlich besser kennen müssen.
Zwar teile ich nicht deine Abneigung gegen jagende Frauen,
jedoch kann ich nach den unerfreulichen Ereignissen deinen
Standpunkt begreifen. Ich verspreche dir, dass ich dir nie
mehr zumuten werde, eine Jägerin zu führen. Die
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Angelegenheit mit meiner Nichte werde ich heute Abend
selber mit ihr regeln.
Ich aber rechne fest mit noch vielen Jahren harmonischer,
von gegenseitigem Vertrauen geprägter, Zusammenarbeit.” Er
stand auf und verabschiedete sich von Fritz mit festem
Händedruck. Dieser sagte dann: “Bodo, ich will die ganze
Angelegenheit vergessen und begraben.”
“Was anderes habe ich auch von dir nicht erwartet, alter
Freund”, erwiderte Bodo und verließ das Haus.
Das Abendessen nahm von Stenglin mit seiner Nichte im
kleinen Speisesaal ein. Während Lisa lautlos und gewandt
servierte, ließ der Baron sich über die im Reichstag jüngst
erlittene Abstimmungsniederlage der DeutschNationalen aus.
Er beklagte die unpatriotische Einstellung der immer stärker
werdenden Sozis. Seine Nichte hörte nur mit halbem Ohr zu.
Nachdem der Onkel seinen Redeschwall beendet hatte,
schwärmte sie etwas von einem Modellhut, den sie in der
Stadt gesehen hatte. Der Hut sei “en vogue”. Sie wollte ihn
kaufen aber leider sei das Modell schon verkauft gewesen,
und noch dazu an eine Bürgerliche.
Der Baron fand wenig Verständnis für die Sorgen seiner
Nichte. Seit dem Tode seiner Frau interessierte er sich nicht
mehr für Mode.
Nach dem Essen sagte er: “Du machst mir doch die Freude
und leistet mir noch Gesellschaft. Ich hätte mit dir etwas zu
besprechen.”
Im nahe gelegenen Herrenzimmer waren zwei alte
Kristallrömer und eine Flasche auserlesenem Rotwein
bereitgestellt. Im offenen Kamin prasselten die
Buchenscheite und strahlten anheimelnde Wärme aus.
Schmiedeeiserne Lampen erhellten die Sitzecke in dem sonst
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dunklen Raum. In unmittelbarer Nähe des Kamins hatte
Waldi, der betagte Jagddackel seinen Stammplatz bezogen.
Der Hausherr schenkte den blutroten Wein in die funkelnden
Gläser und steckte sich umständlich und bedächtig eine
Brasilzigarre an. Helle Qualmwolken zogen in Richtung des
Kamin .Dann sagte er bedächtig: “Liebe Ingeborg, während
deines Aufenthaltes habe ich festgestellt, dass du dich über
meine Mitarbeiter erhebst. Ja, du meinst, auf Grund deines
Adelstitels mehr zu sein. Die so genannten “Bürgerlichen”
sind für dich nicht gesellschaftsfähig, was du auch immer
darunter verstehst. Hast du eigentlich schon ein Mal die
Geschichte des Adels insbesondere des niedrigen Adels
erforscht? Ich meine hier nicht den “Gotha”. Ich weiß, dass
du den Adelskalender auswendig kennst. Es ist, und bleibt,
eine geschichtliche Tatsache dass viele Barone und Freiherrn
ihre Titel durch Raubzüge und zweifelhafte Geschäfte und
dergleichen erworben haben. Ja, selbst gehörnte Ehemänner
wurden als “Schweigegeld” in den Adelsstand erhoben. Auch
ist es geschichtlich belegt, dass Kammerfrauen, die als
Mätressen ihrem Landesherrn ein Kind geboren haben,
geadelt wurden, damit das nichteheliche Kind standesgemäß
erzogen wurde. So sahen oft die Ursachen des blauen Blutes
aus, auf das du so stolz bist. Ich will nicht behaupten, dass
alle Adelserhebungen so zustande kamen. Viele Frauen und
Männer wurden wegen hervorragender Leistungen in
Wissenschaft, Politik und Literatur nach damaliger Sitte vom
Landesherrn geadelt. Selbst wenn unser Ahnherr für
hervorragende Leistung geadelt wurde, warum fällt der Glanz
seiner Ehrung nach vielen Generationen noch auf uns?
Nein, meine Liebe, dem Adel anzugehören ist heute kein
Vorrecht, sondern eine Bürde. Durch viele Generationen
haben wir versucht, auch in schweren Krisenzeiten, das Gut
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über Wasser zu halten, um den vielen Dorfbewohnern, die bei
uns beschäftigt sind, ihren Arbeitsplatz und damit ihre
Existenz zu erhalten. Der Adel hat in heutiger Zeit, in der
viele alte Werte verloren gingen, durch adelige Gesinnung
treu und zuverlässig seine Pflicht zu tun. Jeder an seinem
Platz, egal ob als Kaufmann, Offizier, Angestellter oder
Gutsherr.
Wenn der “Alter Fritz” sagte: ’ich bin der erste Diener
meines Staates’, dann steht es uns nicht zu, das Erbe der
Ahnen zu verprassen und durchzubringen. Oder als Drohne
im Staat zu leben.
Auch du solltest mehr Achtung vor den Arbeitern haben,
denn schließlich erarbeitet die Belegschaft deines Vaters das
Geld, das dir ein sorgenfreies und mondänes Leben
ermöglicht”
Der Baron nahm sein Glas zur Hand und stieß mit seiner
Nichte an und sagte: “Ich hoffe, dass du über meine Worte
mal in Ruhe nachdenkst.”
Nachdenklich starrte die Baronesse in die Glut, als ihr Onkel
fortfuhr: “Du warst gestern schockiert, als du bemerktest,
dass ich Fritz Neumann duze. Du meinst, dass ein Gutsherr
nicht so vertraulich mit seinen Angestellten verkehren soll,
Ich gebe dir im Allgemeinen recht. Doch Neumann ist kein
Angestellter, sondern ein alter Freund unserer Familie Unser
Haus ist schon seit etwa fünfzig Jahren mit den Neumanns
engsten verbunden. Schon sein Vater arbeitete für meinen
Vater auf dem Gut”
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