Mutprobe in der Jobkrise - Peiniger Personalberatung GmbH

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Mutprobe in der Jobkrise - Peiniger Personalberatung GmbH
DEUTSCHLAND
Mutprobe in
der Jobkrise
Millionen Deutsche bangen um ihre Existenz. Keiner weiß,
wie schlimm es in den nächsten Monaten noch wird.
Doch die Lage auf dem Arbeitsmarkt bietet auch Chancen.
Experten verraten Strategien gegen die Angst
3,55 Mio.
Arbeitslose
Im Februar Hunderttausende
Kurzarbeiter
200 780
Die Krise trifft sie alle. Die sechs größten Unternehmen Deutschlands
versuchen dennoch, ihre Mitarbeiter mit Hilfe des Staates zu halten.
4600
Kurzarbeiter
Bis April plant der Konzern 7400.
61 000
Volkswagen
Kurzarbeiter
Die Kurzarbeit war auf fünf Tage im Februar beschränkt.
50 000
Kurzarbeiter
17 000
Quellen: Bundesagentur für Arbeit, FOCUS-Recherche
Die aktuelle Regelung läuft bis Ende März.
Kurzarbeiter
Das sind im Februar 2000 mehr als im Januar.
etwa
20 000
Kurzarbeiter
Ob die geplante Zahl erreicht wird, ist noch offen.
7000
Kurzarbeiter
24 939
1/08
Beschäftigte
in Kurzarbeit
2/08
3/08
4/08
5/08
6/08
7/08
8/08
9/08
10/08
11/08
12/08
EXPLOSION Von Januar auf Februar 2009 hat sich die Zahl der angemeldeten Kurzarbeiter auf
etwa 600 000 verdoppelt. Diese Zahl drückt nicht aus, wie viele tatsächlich kurzarbeiten
20
lötzlich war er da. Dieser Brief,
der alles verändert. Die paar Zeilen, die Angst machen und das
Gefühl auslösen, nicht mehr gebraucht
zu werden. Carsten Spratte fand seine
Kündigung in der Post, ausgerechnet zu
Weihnachten. Als Erstes war da die Enttäuschung, vom Arbeitgeber mal eben
aussortiert zu werden, sagt er. Der Düsseldorfer Vertriebs- und Marketingexperte hatte immer viel gearbeitet. Nun
ging es der Firma schlechter. „Aber sie
stand nicht kurz vor dem Bankrott. Die
ehrgeizigen Gewinnziele waren nur
schwerer zu erreichen.“
Nach der Enttäuschung kam die Sorge
um die Zukunft. Spratte las jeden Tag
in den Zeitungen, welche Unternehmen
Beschäftigte entlassen wollen und dass
die Lage auf dem Arbeitsmarkt immer
kritischer wird: „Bei all dem Krisengerede hatte ich die Extremvision im Kopf,
dass gar nichts kommt.“ Und das mit
39 Jahren.
Nur zwei Monate nach dem Kündigungsschock sitzt Spratte erstaunlich
entspannt in seiner Düsseldorfer Wohnung. Er hat noch keinen neuen Job,
aber die Angst ist weitgehend weg.
Selbstbewusst und auch ein bisschen
stolz erzählt er, wie er mit der Krise umgegangen ist. Einen „Generalangriff“
nennt er das. Er hat zum Beispiel eine
Annonce in der Zeitung geschaltet: „Die
Resonanz war groß.“ Plötzlich war sein
Ehrgeiz wieder da. Bewusst stellte er
sich der neuen Situation: „Ich war gespannt, was kommt.“ Jetzt hat er eine
neue Stelle in Aussicht. Sein Zugeständnis in der Krise: geringeres Festgehalt,
höherer Anteil von Provisionen.
Der Mann mit den Stoppelhaaren ist
ein Gesicht der Krise. Millionen Deutsche müssen wieder um ihre Jobs zittern, Hunderttausende werden ihn noch
dieses Jahr verlieren. Knapp ein Drittel
aller Unternehmen will Personal abbauen. Opel, Schaeffler, Schiesser, Märklin:
Namhafte Traditionsfirmen taumeln
oder brechen gerade zusammen.
Für die schlechten Nachrichten ist
wieder Frank-Jürgen Weise zuständig,
Chef der Bundesagentur für Arbeit. Als
es in den vergangenen Jahren auf dem
Arbeitsmarkt besser lief, riet ihm seine
Frau noch: Er solle doch auch mal lächeln, wenn er die Zahlen verkündet.
Dazu besteht derzeit kein Anlass. Am
vorigen Donnerstag meldete Weise:
3,55 Millionen Arbeitslose im Februar,
63 000 mehr in einem Monat. Keiner
FFOCUS
OCUS 10/2009
10/2009
Foto: O. Schmauch/FOCUS-Magazin
P
REZESSION
Der Neustarter
Carsten Spratte, 39,
Marketingexperte
D
en Schock der Kündigung
bekämpfte der Düsseldorfer
nach einem ersten Durchhänger in
der Weihnachtszeit mit Adrenalin.
Er schaltete eine Zeitungsannonce und wandte sich an Personalberater. Spratte glaubt fest: „Wenn
man sich reinhängt, kann man
selbst in diesen Zeiten etwas finden. Natürlich spielen auch Aus-
bildung und Berufserfahrung eine
Rolle.“ Er hat über die Jahre aber
auch beobachtet, dass das Berufsleben rauer geworden ist. Einer
seiner früheren Arbeitgeber habe
sich „von einer klassischen sozial
orientierten deutschen Firma zu
einem Unternehmen gewandelt,
das sich mittlerweile knallhart am
Aktienkurs orientiert“.
ZU NEUEN UFERN
Trotz Kündigung schaut
Carsten Spratte optimistisch in die Zukunft:
Eine neue Arbeitsstelle
hat er schon anvisiert
21
Die Durchhalterin
Melanie Nitz, 25, Zeitarbeiterin
in Kurzarbeit
M
anchmal hilft Sitzenbleiben.
Wie Melanie Nitz 2007 bei einer
Info-Veranstaltung der Zeitarbeitsfirma
Adecco in Köln. Als alle anderen gingen, blieb sie. Bis heute. „Ich war
es satt, nach Hause geschickt zu
werden.“ Ohne Job, verkündete die
weiß, wie es weitergeht. Selbst Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD) traut
keiner Prognose mehr und kann die
Gefühlslage vieler Arbeitnehmer verstehen: „Die Daten der Weltwirtschaft
müssen alle besorgt machen“ (siehe
Seite 36).
Jochen Wagner* hat Angst. „Im
März kann es schon wieder vorbei
sein.“ Seit einem Jahr arbeitet der Berliner bei einem Medienunternehmen.
Bei Vertragsabschluss war noch von
Expansion die Rede. Nun stürzen die
Werbeeinnahmen ab, kursieren Gerüchte über einen Verkauf der Firma. Der
Multimedia-Fachmann rechnet schon
durch, wie es nach einer Kündigung mit
ihm, seiner Frau und den beiden Kindern weitergeht: „Wir müssten uns als
Erstes wohl eine billigere Wohnung suchen.“ Sein momentanes Lebensgefühl:
„Ich fühle mich wie auf einem Schleudersitz.“
Mit dem Job gerät für viele das Fundament ins Wanken. Wer seinen Lebensinhalt, seine Identität stark an Karriere
und Einkommen gekoppelt hat, schlittert möglicherweise zusätzlich in eine
22
*Schutzname
persönliche Krise. „Wenn jetzt die Familie nicht mitspielt und auch noch Druck
aus dem Privatleben kommt, kann die
Angst schon existenzbedrohend sein“,
sagt Gerald Hüther, Hirnforscher an der
Universität Göttingen. Der Wissenschaftler ergründet seit Jahren die Mechanismen von Stress und Angst. Allerdings
schützen Persönlichkeitsmerkmale wie
Souveränität und Unabhängigkeit davor, diese Angst überhaupt zu spüren.
Wer fest verankert ist in einer Partnerschaft, Familie oder in Freundschaften,
dem können die Bedrohungen wenig
anhaben (siehe Interview Seite 30).
Bloß keine Panik. Hinter den täglichen Schreckensnachrichten verbergen sich durchaus Chancen. Immer
noch sind hierzulande etwa eine Million Stellen unbesetzt. Zahlreiche Branchen suchen weiterhin Fachkräfte. Und
es gibt etliche Strategien in der Krise:
Wie sichere ich meinen Job, oder wie
qualifiziere ich mich am besten für eine
neue Tätigkeit?
Die richtige Einstellung zur Anstellung
ist jetzt wichtiger denn je. Arbeits- und
Wirtschaftspsychologe Christian Dor-
mann von der Uni Mainz hat herausgefunden, dass Jobangst zunächst einmal
Kräfte freisetzt. „Jeder will bei seinem
Chef Eindruck schinden, verdoppelt
oder verdreifacht sein Arbeitspensum“,
so das Ergebnis seiner Befragungen.
Hyperaktivität schadet allerdings
nicht nur der Gesundheit, sondern auch
der Glaubwürdigkeit. Arnd Schumacher, Chef einer Berliner Zeitarbeitsfirma, wird misstrauisch, wenn sich
Dauerdynamiker plötzlich andienen:
„Wenn jemand überdreht, ist das immer
verdächtig. Sagt mir einer: ‚Ich mache
alles‘, dann ist das schon der Weg zum
Scheitern.“ Viel lieber sind Schumacher Leute mit genau definierten Zielen. „Es gibt welche, die erzählen ausführlich, was sie schon alles gemacht
haben. Denen sage ich immer: ,Erzählen Sie mir lieber, was Sie in der Zukunft tun wollen.‘“
Die beste Strategie, da sind sich die
Experten einig, heißt: Ohne mich geht es
nicht. Wer sich neue Kompetenzen und
Aufgaben sucht, macht sich unentbehrlich. Solche Mitarbeiter erkennt Volkmar Wenzel, Personalchef der MedienFOCUS 10/2009
Fotos: O.Schmauch, M. Priske/beide FOCUS-Magazin, dpa
zierliche Blondine, rühre sie sich
nicht vom Fleck. Hauptschule ohne
Abschluss, Aushilfe in Discos und Boutiquen, zu Hause eine kleine Tochter –
so ging es nicht weiter. Nitz’ Motivation beeindruckte Niederlassungsleiter
Stefan Umari. Er setzte sie erst in den
Ford-Werken ein, danach im AdeccoBüro. Für Nitz ging’s aufwärts. Dann
kam die Krise. Umari hatte für 600
Ford-Zeitkräfte keine Arbeit mehr, auch
nicht für Nitz. Jetzt ist sie eine von 250
Adecco-Kurzarbeitern und nutzt die Zeit
für eine Computerschulung. „Ich will
und kann mich nicht hängenlassen.“
Scheich der Job-Nomaden
Arndt Rubart, 41,
Interimsmanager
Unterschiedliche Gemütslage
Û<a]Oajlk[`Y^lkcjak]& & &
Aussagen in Prozent
E
in Zeitarbeiter de luxe auf eigene Rechnung ist Arndt Rubart.
Er selbst nennt sich „Interimsmanager“, und seinen Job beschreibt er
so: „In erster Linie sorge ich dafür,
.. . dauert lŠngerÒ
82
keine Angaben 2
.. . wird in diesem
Jahr ŸberwundenÒ
dass ich mich selbst anbiete und
verkaufe.“ Und zwar für das Anpa-
cken von Problemen in Unternehmen: sinkende Produktivität etwa
oder hoher Krankenstand. Nach
14 Jahren in festen Stellen hatte der
frühere Berufsschullehrer das Angestelltendasein satt und wurde zum
selbstständigen Job-Hopper. Seit
Januar hat er nichts. Aber die Krise macht ihm keine Angst: „Ich bin
Pausen zwischen meinen Projekten
gewöhnt. Dann knüpfe ich Kontakte.
Wenn Sie durch die Weltgeschichte laufen und an sich zweifeln, dann
strahlen Sie das auch aus. Damit
beeindrucken Sie keinen.“
16
OPTIMISTEN IN UNTERZAHL Viele Deutsche
sind verunsichert und stellen sich mental auf
eine Dauerkrise ein
Bauwirtschaft
Dienstleistungssektor
Angestellte šffentl.
Dienst
Quellen: Politbarometer, Allensbacher Umfrage
ÛKh—j]fKa]afA`j]eMfl]jf]`e]fZ]j]alk
9mkoajcmf_]f\]jCjak]7Ê
Automobilher76 %
steller, -zulieferer
Maschinenbau
59 %
30 %
25 %
9%
GETEILTES LAND Je nach Branche fühlen
sich Deutsche unterschiedlich betroffen,
am wenigsten im öffentlichen Dienst
anstalt Berlin-Brandenburg, daran, wie
sie mit Konflikten umgehen. „Sie müssen gelernt haben, auch in negativen
Dingen das Positive zu sehen, sich selber zu überwinden.“ Auch die meisten
Künstler hätten, so Wenzel, „ihre größten
Werke in einer Krise geschaffen“.
Gute Mitarbeiter werden selbst in
schlechten Zeiten gefördert. Wen ein
Unternehmen unbedingt halten will,
den bringt es jetzt mit einem Coaching
in noch bessere Form. Im letzten Quartal 2008 stiegen solche Anfragen bei
der Düsseldorfer Personalberatung von
Rundstedt HR Partners um 116 Prozent.
BOTE SCHLECHTER
NACHRICHTEN
Der Chef der Bundesagentur für Arbeit, FrankJürgen Weise muss nach
dem Spitzenjahr 2008
wieder steigende Arbeitslosenzahlen melden
Häufiger Wunsch: Wie motiviert ein Abteilungsleiter sein völlig verunsichertes
Team? „Man muss vor allem den Leistungsträgern zeigen, dass sie geschätzt
werden“, empfiehlt die geschäftsführende Gesellschafterin Sophia von Rundstedt. Wenn Gehaltserhöhungen nicht
drin sind, gilt es Lob oder Verantwortung
zu verteilen. Die Agentur berät ebenso
Manager mit Existenzängsten.
Denn auch Leistungsträger sind
nicht vor Hysterie gefeit. „Hochqualifizierte Leute, die beste Chancen haben, schnell wieder eine Stelle zu finden, haben seltsamerweise die größte
Angst – selbst wenn ihr Job gar nicht
konkret bedroht ist“, beobachtet Gabriele Arntz, Personalcoach in München.
Ihre Erklärung: Wer bisher nur den Weg
nach oben kannte, dem erscheint ein
Karriereknick viel bedrohlicher als jenem, der nach einem Sturz schon mal
aufstehen musste.
Wen es erwischt hat, dem können die
Personalberater von Rundstedt ebenfalls helfen. Ihre Experten justieren für
hochqualifizierte Arbeitnehmer den
Jobkompass neu. Die Kosten der Beratung von Abteilungsleitern und Bankern übernimmt im Normalfall der ehemalige Arbeitgeber.
„Outplacement“ heißen solche
Dienstleistungen, und sie nehmen rapide zu. „In den letzten drei Monaten
2008 hatten wir 18 Prozent mehr Aufträge für Führungskräfte, die sich neu
orientieren mussten“, bestätigt von
Rundstedt. „Bei Fachkräften waren es
sogar 45 Prozent mehr.“ Rundstedt und
ihre Mitarbeiter analysieren auch die
Arbeitsmarktchancen von Einkäufern
und Buchhaltern und versuchen, sie
zu verbessern: Wer etwa jahrelang
23
Land- und
Forstwirtschaft
Dienstleistungen haben mehr Zukunft
Anteile der Erwerbstätigen in den
Sektoren
1,3
0,6
2,3
1,0
15,5
21,7 %
warenproduzierendes
Gewerbe 26,2 %
19,6
5,6
5,6
14,1
¥ Landwirtschaft und Jagd
¥ Forstwirtschaft
¥ Fischerei und Fischzucht
Bergbau und Gewinnung
von Steinen und Erden (Auswahl)
¥ Kohlenbergbau, Torfgewinnung
¥ Gewinnung von Erdšl und Erdgas
¥ Erzbergbau
verarbeitendes Gewerbe (Auswahl)
¥ ErnŠhrungsgewerbe
¥ Holzgewerbe (ohne Herstellung von Mšbeln)
¥ Verlagsgewerbe, Druckgewerbe, VervielfŠltigung von DatentrŠgern
¥ Kokerei, Mineralšlverarbeitung, Herstellung und Verarbeitung von Spaltund Brutstoffen
¥ Herstellung von chemischen Erzeugnissen
¥ Herstellung von Gummi- und Kunststoffwaren
¥ Metallerzeugung und -bearbeitung
¥ Herstellung von Metallerzeugnissen
¥ Maschinenbau
¥ Herstellung von Kraftwagen und Kraftwagenteilen
¥ sonstiger Fahrzeugbau
¥ Energieversorgung
¥ Wasserversorgung
Die Top Ten der Stellenangebote
Bei insgesamt 506 000* offenen Stellen wurden
im Februar vor allem folgende Fachkräfte gesucht
VerkŠufer, Warenkaufleute
Altenpfleger, Sozialarbeiter, Erzieherinnen
22 000
20 000
Elektriker
19 000
Krankenschwestern, Sprechstundenhilfen, Masseure
BŸrofachkrŠfte
Werbe- u. a. Dienstleistungskaufleute
Kellner, Gastwirte
Datenverarbeitungsfachleute
18 000
17 000
15 000
13 000
11 000
Ingenieure
10 000
Installateure
10 000
DER VORTEIL
Mitten in der Krise
suchen Firmen
weiter Beschäftigte.
Der Nachteil: Viele
der unbesetzten
Jobs liegen im
Niedriglohnsektor
Quelle: Bundesagentur für Arbeit
* Die Zahl bezieht sich auf die bei der Bundesagentur
gemeldeten Stellen. Sie erfasst nicht alle Jobs.
Baugewerbe
15,3
5,7
5,7
4,6
5,6
2,4
Gastgewerbe
Verkehr und NachrichtenŸbermittlung
¥ Landverkehr, Transport in Rohrfernleitungen
¥ Schifffahrt
¥ Luftfahrt
¥ Hilfs- und NebentŠtigkeiten fŸr den Verkehr,
Verkehrsvermittlung
¥ NachrichtenŸbermittlung
INGENIEURMANGEL
Auch in Zeiten von
Kurzarbeit,
Zwangsurlaub und
Stellenabbau
fehlen in manchen
Branchen weiter
Fachkräfte
Kredit- und Versicherungsgewerbe
3,1
unternehmensbezogene Dienstleistungen
¥ GrundstŸcks- und Wohnungswesen
¥ Vermietung beweglicher Sachen ohne
Bedienungspersonal
¥ Datenverarbeitung und Datenbanken
¥ Forschung und Entwicklung
¥ wirtschaftliche Dienstleistungen
13,0
77,0 %
Dienstleistungen 71,5 %
19,2
Handel u.a.
¥ Kraftfahrzeughandel, Instandhaltung und
Reparatur von Kraftfahrzeugen, Tankstellen
¥ Handelsvermittlung und Gro§handel (ohne
Handel mit Kraftfahrzeugen)
¥ Einzelhandel, Reparatur von GebrauchsgŸtern
Deutschland und seine Rezessionen
1175
Rezessionszeitraum
6,8
4,0
5,1
616
šffentliche Verwaltung, Verteidigung,
Sozialversicherung
Erziehung und Unterricht
470
5,9
Abweichungen zu 100Prozent sind rundungsbedingt.
870
12,3
Gesundheits-, VeterinŠr- und Sozialwesen
6,5
sonst. Dienstleistungen (Auswahl)
¥ Abwasser- und Abfallbeseitigung und
sonstige Entsorgung
¥ Interessenvertretungen sowie kirchliche
und sonstige Vereinigungen
¥ Kultur, Sport und Unterhaltung
1,7
1,8
private Haushalte mit Hauspersonal
2005
2025
Stellenabbau
in Tsd.
230
10,3
5,3
1973 76
80
83
92 93 95 97
02 04
UNSCHÖNE ERINNERUNG Den massivsten Stellenabbau
erlebten die Deutschen zwischen Ende 1973 und Anfang 1976.
1 175 000 Beschäftigte verloren damals ihren Job
Quelle: Deloitte
SCHLECHTE PROGNOSE für das verarbeitende Gewerbe. Gute Aussichten bestehen im Gesundheits- und Sozialwesen
Quelle: IAB
20-Prozent-Lobbyist
Michael Huss, 49, Verwaltungsangestellter in Kurzarbeit
M
ichael Huss arbeitet nur noch vier
statt fünf Tage die Woche in der
Verwaltung der Schaeffler-Gruppe am
Stammsitz Herzogenaurach. Seine Arbeitszeit ist um 20 Prozent reduziert,
sein Einkommen um zehn. Der Ingenieur nutzt die neue Freizeit für Lobbyismus. „Ich mache jetzt Öffentlichkeits-
arbeit, damit es weitergeht.“ Erst gab
es beim Autozulieferer etliche, die stolz
waren, dass ihre Firma den Mumm hatte, einen Dax-Giganten wie Continental zu stemmen. Jetzt, mitten in der Krise, kann Schaeffler kaum den eigenen
Betrieb aufrechterhalten. Sollte es weitergehen mit der Kurzarbeit, will Huss
seine Kenntnisse mit einer Schulung
aufpolieren. Sein Vertrauen in die Chefin ist unerschütterlich: „Frau Schaeffler
hat ihre ganzen Gewinne reinvestiert.
Die Firmenleitung hat immer zum Wohle
der Firmengruppe entschieden.“
nur mit einer speziellen Firmen-Software gearbeitet hat, muss zügig die aktuellen Programme erlernen. Darüber
hinaus loten die Berater aus, ob jemand
genug Unternehmergeist hat, um sich
selbstständig zu machen.
Den Sprung ins kalte Wasser mit Hilfe
einer „Outplacement“-Agentur wagte
der 46-jährige Robert Fischer*, bisher
Pressereferent der Filiale eines internationalen Druckkonzerns. Als im Oktober Kuverts mit Abfindungsangeboten
in den Postfächern lagen, griff er zu. Die
Chemie mit dem neuen Chef stimmte ohnehin nicht. Der goldene Handschlag „sollte für ein Jahr reichen“,
schätzt er.
Die Agentur hilft Fischer, sich auf
Glanzlichter aus 18 Berufsjahren zu besinnen und sie entsprechend zu präsentieren. Bisher stellte der Kommunikationsprofi nur die Stärken seiner Firma
dar, bei den eigenen tut er sich schwer:
„Meine Leistungen waren mir gar nicht
so bewusst.“ Trotz bisher erfolgloser Bewerbungen bereut Fischer seine „Flucht
nach vorn“ nicht. Man müsse sich Veränderungen aktiv stellen, „sonst wird die
FOCUS 10/2009
*Schutzname
SCHAEFFLERS STÜTZE Trotz Kurzarbeit setzt sich Michael
Huss für seine Arbeitgeberin ein: „Wir wollen unsere
Chefin unterstützen, damit sie eine Bürgschaft bekommt“
Situation immer verfahrener“. Der Mainzer Psychologe Dormann stellt klar: „Wer
wartet und denkt, mich wird es schon
nicht erwischen, dreht sich im Kreis und
kann seine Angst nicht bekämpfen.“
Gut dran sind während der Flaute alle,
die offen für Veränderungen und bereit
zum Lernen sind. Wie Lena Fritsch*,
Personal- und Organisationsentwicklerin eines Automobilzulieferers in Nordrhein-Westfalen. Seit Oktober schult sie
Beschäftigte in Gruppenarbeit. Mitdenken und eigenständiges Handeln fallen da so manchem schwer, musste sie
erfahren. Die 38-jährige Fritsch ist das
Gegenmodell. Ihr Vertrag läuft Ende
des Jahres aus. Das schreckt sie nicht,
sie kennt und will es nicht anders: „Ich
arbeite projektbezogen, das ist ganz
normal.“
Die Krise sollte ein Startschuss sein,
sich selbst neu zu fordern und auch den
berühmten Plan B zu überdenken. Zu
einer Art inneren Inventur rät dabei
Anke Peiniger, Vorstandsvorsitzende
des Bundesverbands Personalvermittlung (BPV), und benennt die zentralen Fragen: „Was habe ich gelernt? Wo
Fotos: K. Heim/FOCUS-Magazin, dpa
fühle ich mich stark? Wo kann ich noch
zulegen? Und welche Kontakte habe
ich?“ Bei der Suche nach Alternativen
warnt sie jedoch vor wilder Panik: „Erzählen Sie den Leuten nicht: O Gott,
o Gott, jetzt werde ich arbeitslos, wer
kann mich retten? Aber fragen Sie ruhig auch im persönlichen Bekanntenkreis: Sag mal, was traust du mir eigentlich zu?“
Mit einem Plan B müssen sich vor
allem diejenigen beschäftigen, die derzeit in Kurzarbeit sind. Und das werden immer mehr. Die Zahl der Anträge
von Firmen bei der Bundesagentur für
Arbeit wächst seit Oktober lawinenartig und nähert sich einer Dreiviertelmillion. „Qualifizieren statt entlassen“
verlangt Arbeitsminister Scholz nicht
nur von den Bossen, sondern auch von
den Kurzarbeitern – die von Millionen
Beitragszahlern finanziell unterstützt
werden.
Doch für den 45-jährigen Peter Ruschel, Lackierer beim Chemieriesen
BASF, steht eher der Freizeitaspekt im
Vordergrund: „Ich habe dadurch ein
längeres Wochenende.“ Er erhält
25
Die Stehauf-Frau
Viktoria Masri, 36, Herstellungsleiterin von Printmagazinen
S
eit ihr Sohn eineinhalb Jahre alt
ist, hat Masri in Teilzeit gearbeitet. Im September 2006 stieg sie zur
Herstellungsleiterin am Münchner
Standort einer internationalen Verlagsgruppe auf. Im April vorigen Jahres zog das Unternehmen in neue
Räume um, für die ein 5-Jahres-Mietvertrag bestand, und noch im Sommer versicherte die Verlagsleitung,
der Standort bleibe erhalten. Im November allerdings gab es eine zehnminütige Betriebsversammlung. Die
Zeit reichte aus, um den 35 Mitarbeitern mitzuteilen: Die Produktion
verschiedener Magazine werde eingestellt, der Standort München ge-
schlossen. „Wir waren alle sprachlos“, erzählt Masri, „das war für uns
absolut nicht absehbar.“ Sie unterstützt jetzt ihren Mann bei der Eröffnung eines Kindergeschäfts.
Führungskräftebefragung
ÛOa]oaj\\]jH]jkgfYdYZZYm
cgeemfara]jl7Ê Mehrfachnennungen mšglich
persšnl. GesprŠche
Betriebsratsversammlung
Intranet
E-Mail an
die Mitarbeiter
Pressemeldung
Unternehmensblog
75 %
43 %
18 %
13 %
13 %
4%
Quelle: Kienbaum
SCHWACHER
TROST
Die Kündigung
wird meist
persönlich
ausgesprochen
Verteilung des Mitarbeiterabbaus auf die
verschiedenen Hierarchieebenen in Prozent
Produktion
Hilfsarbeiter
Spezialisten
25
24
14
8
FŸhrungskrŠfte
29
Sachbearbeiter
VERZICHT Ein Drittel der Kündigungen trifft
Sachbearbeiter, knapp die Hälfte Hilfsarbeiter und Beschäftigte in der Produktion
dafür bis zu 90 Prozent des normalen
Nettogehalts. Auch Thorsten Zangerle,
freigestellter Opel-Betriebsrat in Kaiserslautern und gerade mal 35 Jahre
alt, hat mit dem Entwurf einer neuen
Berufsperspektive so seine Probleme:
„Wenn ich mich wieder bewerben
müsste, hätte ich keine Chance.“ Wer
nehme schon einen aktiven Gewerkschafter, der seit seiner Lehre als Industriemechaniker nicht mehr in seinem
Beruf gearbeitet habe, klagt er.
Wer willens und fähig ist, umzusatteln oder überhaupt erst vor der Berufsentscheidung steht, kann immer noch
Branchen finden, in denen es brummt.
Elektriker, Schlosser und Ingenieure
sind weiter rar. Lehrer in naturwissenschaftlichen Fächern sind so knapp,
dass Bundesbildungsministerin Annette
Schavan (CDU) Spitzenkräfte der Wirtschaft in Schulen schicken will.
Josef Kraus, Präsident des Deutschen
Lehrerverbands, sieht an berufsbildenden Schulen Einsatzchancen für diejenigen, die sich aus jetzigen Krisenbranchen umorientieren müssen: Sie
könnten etwa Metall- und Elektro-
technik unterrichten. Allerdings brauche ein Quereinsteiger noch eine pädagogische Ausbildung von 18 Monaten.
Und das Anfangsgehalt betrage nur 900
Euro im Monat: „Hier müsste man sich
was ausdenken und einen Zuschlag
einführen, vielleicht mit Hilfe der Bundesagentur für Arbeit“, fordert Kraus.
Trotz Krise registriert mehr als die
Hälfte der privaten Personalvermittler
noch einen anziehenden oder gleich
bleibenden Bedarf an Kräften mit einfacher und gehobener Qualifikation.
Gefragt sind zum Beispiel Mitarbeiter für das Gesundheitswesen. In dieser Wachstumsbranche der alternden
Wohlstandsgesellschaft arbeitet schon
jeder zehnte deutsche Beschäftigte:
4,4 Millionen Menschen. Die Zeitarbeitsfirma Randstad etwa, die auch Medizin- und Pflegekräfte vermittelt, kann
den Bedarf kaum decken.
In diesem Bereich lassen sich allerdings oft keine Reichtümer anhäufen.
Daniel Huckauf, Vermittler der Arbeitsagentur Potsdam, gibt zu bedenken:
„Die Einkommensverhältnisse bei Arztund Zahnarzthelfern schmerzen schon,
wenn man sieht, dass da Alleinerziehende 800 bis 900 Euro brutto im Monat verdienen.“
Eine positive Überraschung hält ausgerechnet der Finanzsektor bereit. Bei
den Banken können Personalvermittler längst nicht alle Stellen für Kundenund Vertriebsberater besetzen – weder mit Zeitarbeitnehmern noch durch
direkte Vermittlung, berichtet Bankpower-Chefin Melanie Reitz. „Gerade
in der Krise“, so Reitz, gebe es eine hohe
Nachfrage nach guten Beratern: „Nur
wer von den Geldinstituten die besten
und meisten Kunden hat, wird siegen.“
So unterschiedlich wie die Krise in
den Branchen einschlägt, so ungleich
überzieht sie das Land. Der Osten hat
bessere Chancen für einen Neustart,
der erfolgsverwöhnte Süden der Republik kämpft mit Auto-Flaute und Exporteinbruch.
Am Rand des Schwarzwalds sind Spatenstiche für Christof Florus lieb gewonnene Routine. Der Oberbürgermeister
von Gaggenau ist Vollbeschäftigung gewohnt. Allein Daimler garantiert 5000
Jobs in der 30 000-Seelen-Gemeinde.
Florus ist mit seinem Dienst-Mercedes
im Gewerbegebiet vorgefahren. Ein
neues Garten- und Baumarkt-Center
entsteht. Doch der 53-Jährige tut sich
beim Schau-Schaufeln im steinhart
Quelle: Kienbaum
26
Foto: W. Heider-Sawall/FOCUS-Magazin
FOCUS 10/2009
Der Wandelbare
INVESTITION VERTAGT
Weil seine Berliner
Druck- und Werbefirma
floriert, hat Peter Rost
gerade seinen zehnten
Mitarbeiter eingestellt.
Mit dem Kauf einer
teuren Druckmaschine
wartet er lieber
FOCUS 10/2009
Michael Lohmann, 39, Fotograf
G
estern noch gut bezahlter
Investmentbanker, heute auf
dem harten Markt der freien
Fotografie – Michael Lohmann aus
Oberursel erlebte diesen Wandel.
Bis Anfang 2009 beriet er für die
Frankfurter Wertpapierbank Equinet Firmenkunden bei ihren Aktienanlagen. Als die Krise heraufzog,
wappnete sich Lohmann mental:
„Ich war auf den Arbeitsplatzverlust vorbereitet und bin nicht in
die große Depression gefallen.“
Eine Alternative hatte er auch: Der
leidenschaftliche Hobbyfotograf
berät nun kleine Unternehmen und
Selbstständige bei der optischen
Gestaltung von Internet-Auftritten
und Geschäftsberichten oder hält
Firmenveranstaltungen mit der Kamera fest. Trotzdem strebt Lohmann
wieder eine feste Anstellung an.
Der Restrukturierungsexperte der Beratungsfirma PricewaterhouseCoopers
erinnert daran, dass in den neuen Ländern viel in moderne Betriebe investiert worden ist. „Hat ein Unternehmer
die Wahl, wird er das neue Werk behalten und eher das alte schließen – und
das liegt eben meist im Westen.“ Zwei
weitere Standortvorteile in Krisenzeiten
nennt Hartmut Bunsen, Sprecher der
ostdeutschen Unternehmerverbände:
„Der kleine Mittelstand hier ist weniger
exportabhängig. Und er finanziert sich
kaum über Großbanken, sondern eher
über Sparkassen und Volksbanken.“
20 Jahre nach dem Fall der Mauer
kündigt sich offenbar wieder eine Wende an. Und eine Frau aus dem brandenburgischen Templin ist Bundeskanzlerin. Angela Merkel (CDU) will es
bleiben. Die Sparguthaben aller Deutschen hat sie garantiert, ihre Jobs nicht.
Die Krise wird auch über den der Kanzlerin entscheiden. Im zweiten Halbjahr, also mitten im Bundestagswahlkampf, werden die Arbeitslosenzahlen
noch deutlicher steigen, da sind sich
die Experten einig. Die Jahresprognosen liegen zwischen 250 000 und
700 000 Stellen, die die Krise frisst. Der
nordrhein-westfälische Arbeitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) mahnt:
Schon „in ein paar Monaten werden
wir eine ganz andere politische Lage
als heute haben“.
Dann entscheidet der Wähler. Der ist
in der Demokratie ein unerbittlicher Arbeitgeber. Er kann Politiker alle vier
Jahre fristlos feuern.
■
H.-J. MORITZ/C. ELFLEIN/B. JOHANN/
N. MATTHES/K. V. RANDENBORGH/F. SCHWAB/
C. TUTT/H. WEBER/O. WILKE/S. ZISTL
29
Fotos: T. Wegner, M. Priske/beide FOCUS-Magazin
gefrorenen Boden schwer und hofft,
dass „die jetzige Schwächephase nicht
so lange andauert“.
Bei den versammelten Gemeinderäten ist noch keine Krisenstimmung angekommen. „Es geht runter, es geht
auch wieder rauf“, ist ihr einhelliger
Tenor. Otmar Zwiebelhofer, Chef der
benachbarten Firma König Metall, erschüttert die Gelassenheit: „Die Automobilbranche ist abgestürzt“, konfrontiert er sie mit der Realität. Und bei
seinem jüngsten Besuch in der Chefetage von Daimler konnte ihm keiner
sagen, ob es „in diesem Jahr bereits
wieder besser wird“.
700 Kilometer Richtung Nordosten ist
die Stimmungslage etwas besser. Peter
Rost, Chef einer Firma für Druck- und
Werbetechnik sowie Messebau in Berlin-Adlershof, freut sich über volle Auftragsbücher. Gerade erst stellte er einen
dringend gebrauchten zehnten Mann
ein. Von Euphorie ist er aber weit entfernt. Den Kauf einer Digitaldruckmaschine für 250 000 Euro hat sich der 52Jährige abgeschminkt. „Ich warte erst
mal ab, was noch passiert.“
In der Hauptstadt sind die Krisensymptome weniger ausgeprägt als im Süden.
Die Abhängigkeit Berlins von Industrie und Außenhandel ist gering, 83 Prozent der Beschäftigten leben von Dienstleistungen. „Was bisher den massiven
Aufschwung behindert hat, hilft im Abschwung durchaus“, bemerkt die Chefin der örtlichen Arbeitsagentur, Margit Haupt-Koopmann. Mit Regionen
wie Hamburg könne sich die Hartz-IVMetropole aber nicht messen. Auch der
scheidende Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) warnt vor verfrühtem
Jubel: „Das Tourismusgewerbe und andere Dienstleistungsbereiche in der
Hauptstadt werden nur etwas später vom
Abschwung erfasst als die Industrie.“
Als Krisenprofiteur sieht hingegen
Derik Evertz den gesamten Osten.
DEUTSCHLAND
Gerald Hüther
Der 58-jährige Hirnforscher arbeitet an der
Uni Göttingen.
Gefühle und Gehirn
Der Professor der Uniklinik
für Psychiatrie erforscht
die Entstehung von Stress
und Angst.
Buchautor
„Biologie der Angst“, neu
ab März: Hüther/Michels:
„Gehirnforschung für Kinder – Felix und Feline entdecken das Gehirn“, mit
Erklärungen für Eltern
(Kösel, 12,95 Euro)
NICHT ÜBERROLLEN LASSEN
Hüther vermittelt, wie man die Angst stoppen kann
INTERVIEW
„Schimanski hatte nie Jobangst“
FOCUS: Herr Hüther, haben Sie als
Angstforscher schon einmal richtig
Angst gehabt?
Hüther: Ja, als ich Ende der 70er-Jahre mit einem selbst gefälschten Visastempel aus Thüringen über mehrere
Blockstaaten nach Jugoslawien und von
dort aus in die BRD floh. Wenn heute
im Zusammenhang mit der Krise von
Existenzangst gesprochen wird, handelt es sich in Wahrheit um Furcht, Verunsicherung oder Sorge.
FOCUS: Wann genau entsteht dann
Existenzangst?
Hüther: Eine lebensbedrohliche Situation, Krieg, Folter oder eine sehr schwere Krankheit können Existenzängste
auslösen. Aus der Forschung wissen wir,
dass es nicht das objektive Ereignis ist,
30
das bei allen Menschen in der gleichen
Situation Angst auslöst. Vielmehr entscheidet die subjektive Bewertung, ob
uns etwas Angst macht oder nicht.
FOCUS: Das heißt, der eine Opel-Mitarbeiter gerät durch seinen möglichen
Jobverlust in eine persönliche Krise, der
andere nicht?
Hüther: Es kommt maßgeblich darauf
an, wie sehr jemand seine gesamte
Existenz, seine Identität und seinen Lebensinhalt an seinen Job und sein Einkommen gekoppelt hat. Wenn das so
ist, hat er ein Problem.
FOCUS: Wie können wir uns vor einer
solchen Situation schützen?
Hüther: Es gibt Menschen, die neben ihrem Einkommen und ihrer Beschäftigung in einem Betrieb auch noch
anderen Dingen im Leben eine große
Bedeutung beimessen. So zum Beispiel dem Interesse an der Arbeit an
sich. Wenn jemand Schlosser ist und
entlassen wird, kann er trotzdem seine Arbeit lieben und zu Hause etwa
Fahrräder reparieren. Eine lebendige
Partnerschaft, Familie, Kinder, Freundschaften sowie die enge Anbindung an
eine Gemeinschaft sind für diese Menschen wesentliche Teile des Lebens.
Sie fühlen sich gebraucht und dazugehörig. So entstehen Unabhängigkeit
und Stärke.
FOCUS: Sind diese Menschen vor Jobangst gefeit?
Hüther: Es betrifft sie nicht so stark.
FOCUS: Wie erklären Sie als Hirnforscher die Immunität einiger MenFOCUS 10/2009
Fotos: S. Kröger/FOCUS-Magazin
Der Hirnforscher Gerald Hüther erklärt, wie Existenzängste entstehen können und wie neue
Erfahrungen, Vertrauen in sich selbst und in seine Freunde die Angst vertreiben
schen gegen Stress und Angst? Sind
das besondere Persönlichkeiten?
Hüther: Sie sind souverän und authentisch. Sie lassen sich von außen nicht
durch Katastrophenmeldungen verunsichern. Sie sind stressresistent. Stellen Sie sich eine gestandene Persönlichkeit wie zum Beispiel Götz George
alias Schimanski vor. Glauben Sie, der
hatte je Jobangst?
FOCUS: Einige Menschen identifizieren sich aber mit dem Arbeitgeber.
Hüther: Richtig. Ein VW-Arbeiter fühlt
sicher eine große Zugehörigkeit, auch
Mitarbeiter von Familienunternehmen
mit einem starken Zusammengehörigkeitsgefühl. Mit dem Jobverlust bricht
ein Teil ihrer Identität weg.
FOCUS: Was ist, wenn von meinem
Einkommen eine ganze Familie abhängt?
Hüther: Hier gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder der Partner sagt, es ist
nicht so schlimm, wir kämpfen uns da
durch. Das Glück hängt nicht am Haus.
Dann trägt dieses Gefühl. Oder aber
die Familie gerät in Panik, wenn etwa
auf dem Lebenskonzept mit einem bestimmten Lebensstil beharrt wird. Dann
kann die Angst sehr groß werden. Ob
der Verlust von Haus und Hof als existenziell erlebt wird, liegt nicht an der
Arbeitslosigkeit. Vielmehr daran, wie
viel Wert ich subjektiv dem Besitz beigemessen habe.
FOCUS: Wie entstehen solche Denkstrukturen im Gehirn?
Hüther: Jedes Gehirn ist individuell
verschaltet. Erfahrungen, die wir schon
als Kinder und später im Leben machen,
werden in Form bestimmter Nervenzell32
verknüpfungen im Gehirn verankert.
Damit brennt sich unser Verständnis
von der Welt und von uns selbst ein. Es
gibt Erfahrungen, die Menschen starkmachen: Wenn wir zum Beispiel erleben, dass wir etwas bewirken können,
wenn wir in einer Gemeinschaft heranwachsen, in die wir eingebettet sind und
in der wir als wertvolle Menschen erachtet werden. Oder wenn wir erfahren, dass das Leben in bestimmten Momenten zwar schwierig sein kann, dass
es aber immer wieder weitergeht. Hindernisse und Herausforderungen, die wir
gut bewältigt haben, machen uns stark.
FOCUS: Wie entstehen denn nun
Stress und Angst?
Hüther: Stellen Sie sich das Gehirn
als eine Zwiebel mit mehreren Schichten vor, die nacheinander erregt werden
können. Es geht meistens damit los, dass
die Realität nicht unseren Erwartungen
entspricht. Diese Diskrepanz löst Verunsicherung aus. Wird sie zu groß, entsteht eine Übererregung in der äußersten Zwiebelschicht unseres Denkorgans,
dem Frontalhirn, das für komplexe Aufgabenlösungen zuständig ist. Die zu
starke Erregung in diesem Bereich hat
zur Folge, dass wir keine komplizierten
Aufgaben mehr lösen können. Jetzt geht
es mit dem Fahrstuhl der Angst nach unten, Schicht für Schicht.
FOCUS: Und die nächste Stufe der
Angst?
Hüther: Unser Verhalten wird dann
von einer tieferliegenden Schicht gesteuert, die in der Kindheit geformt
wurde, das sind die älteren Bereiche der
Hirnrinde. Entsprechend dieser Kindheitsmuster schreien wir, stampfen mit
Gerald Hüther
den Füßen auf, verlieren die Kontrolle, rasten aus wie ein Vierjähriger. Je
mehr tieferliegende Hirnschichten erregt werden, desto mehr Chaos entsteht, bis wir schließlich auf Stammhirnniveau angekommen sind. Dort
übernimmt dann das archaische Notfallprogramm die Kontrolle. Das funktioniert immer. Erstens Angriff, zweitens
Flucht, drittens Erstarrung.
FOCUS: Wie kommt jemand aus diesem Angstzustand wieder heraus?
Hüther: Er muss Vertrauen zurückgewinnen. Zum einen in die eigenen
Fähigkeiten. Er müsste die Erfahrung
machen, dass er doch etwas bewirken
kann, auch dass ihm andere bei den
Problemen helfen, die er nicht allein
lösen kann. Und als Letztes müsste er
auch darauf vertrauen können, dass
es trotzdem immer wieder weitergeht,
dass das Leben einen Sinn hat.
FOCUS: Wie soll denn jemand, der in
die Kurzarbeit geschickt wird, Vertrauen fassen?
Hüther: Ich habe mit Männern gesprochen, die auf Grund ihrer Kurzarbeit
jetzt wieder mehr mit ihren Kindern und
ihrem Partner unternommen haben und
plötzlich wieder ein engeres Verhältnis
zu ihnen aufbauen konnten. Sie erleben
sich als liebevollen Vater, der gebraucht
wird und etwas Sinnvolles tut. Das mobilisiert enorme Kräfte. Ihr Leben erfährt
– wenn auch erzwungenermaßen – eine
neue Perspektive. Die Menschen stellen
fest: Der Job ist nicht alles. Das macht
sie angstfreier, gelassener – und dann
■
auch zufriedener im Leben.
INTERVIEW: ULRIKE BARTHOLOMÄUS
FOCUS 10/2009
Fotos: S. Kröger/FOCUS-Magazin
„Souveräne und authentische Menschen lassen sich nicht von Katastrophenmeldungen verunsichern“
Die netten Jahre sind vorbei: Jobs vor Gericht
Arbeitsrechtsexperten erwarten in der Krise eine zunehmende Zahl von Klagen gegen Entlassungen.
Dabei kann wenigstens eine Abfindung herausspringen. Doch es fallen auch Kosten an
ie Kündigung muss lange nicht das
letzte Wort sein. Der Leipziger Arbeitsrechtsanwalt Roland Gross rät jedem, der
sich zu Unrecht entlassen fühlt: „Kämpfen Sie. Sie haben eh nichts mehr zu verlieren.“ Er rechnet damit, dass die Zahl
der Prozesse schon bald „schlagartig steigen“ wird.
D
ı Kündigungsschutz:
Wenn eine Firma mit zehn oder mehr Beschäftigten Arbeitsplätze abbaut, muss sie
die sogenannte Sozialauswahl beachten.
Diese schützt umso stärker, je älter ein
Mitarbeiter ist, je länger er zum Betrieb
gehört und je mehr Familienmitglieder
von seinem Einkommen abhängen. Ausnahme: Der Arbeitgeber kann engagierte
Singles im besten Alter wegen besonderer
Kenntnisse oder Leistungen zu unverzichtbaren Beschäftigten erklären.
ı Eiserne Regel:
Nichts ohne Rat eines Anwalts unterschreiben. Das gilt ganz besonders für „verhaltensbedingte“ Kündigungen, die Auftreten, Motivation und Leistung betreffen.
Die Entscheidung für den Gang vor Gericht
muss in den ersten drei Wochen nach der
Entlassung fallen. Eine Fülle von Gründen
kommt dafür in Frage:
Formfehler
Die Kündigung muss schriftlich vorliegen
und korrekt unterschrieben sein. Ein Namenskürzel unter dem Entlassungsschreiben reicht nicht. Außerdem ist der Betriebsrat, wenn vorhanden, anzuhören und
die Kündigungsfrist einzuhalten.
Fehlende Vorwarnung
Selbst einer fristlosen Kündigung muss in
der Regel eine Abmahnung vorangehen.
Ausnahmen sind jedoch auch hier möglich.
Das Bundesarbeitsgericht lässt zum Beispiel „ausschweifende“ private InternetNutzung mit Besuch von Pornoseiten während der Arbeitszeit als besonderen Grund
gelten. Keine Gnade fand vor den Bundesrichtern auch ein Arbeitnehmer, der krankgeschrieben in Skiurlaub ging und sich
auch noch verletzte.
Angeblicher Leistungsabfall
„Das ist eines der schwierigsten Felder“,
berichtet Gross. Ein Arbeitgeber, der
jahrelang mittelmäßige oder schlechtere
Abfindung nur für wenige
So viele Gekündigte
erhielten in
Deutschland
2007 eine
Abfindung:
Chancen, eine Abfindung zu erhalten in Prozent
bei KŸndigung
im Rahmen
eines Sozialplans
61
bei spŠterer Klage
gegen die KŸndigung
Wegen 1,30 Euro hat eine Berliner Supermarktkassiererin nach mehr als 30 Jahren
ihren Job verloren. Die 50-Jährige soll zwei
Pfandbons über 48 und 82 Cent unterschlagen haben. Sie verlor den Kündigungsschutzprozess jetzt auch in zweiter Instanz
bei keiner Klage
gegen die KŸndigung
bei KŸndigung ohne
Sozialplan und keiner
Klage dagegen
ı Kündigungsschutz hin oder her:
„Jeder Arbeitgeber kann jede Entlassung
durchsetzen“, weiß Heide Pfarr, Wissenschaftliche Direktorin bei der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. „Die
Frage ist nur, welchen Aufwand er betreiben muss.“
ı Was eine Klage bringen kann:
2,6 Milliarden Euro werden jedes Jahr für
Abfindungen fällig, pro Fall 12 000 Euro.
Arbeitsrechtsexperten erwarten, dass in
der Krise weniger rauszuholen ist. Bisher
lagen Abfindungen nach einem Prozess im
Schnitt bei 0,6 Monatsgehältern pro Jahr
der Betriebszugehörigkeit. Aufhebungsverträge sind mit durchschnittlich einem Monatsgehalt etwas lukrativer. Wer sich darauf einlässt, muss in der Regel auf drei
Monate Arbeitslosengeld verzichten.
ı Was eine Klage kosten kann:
16 Prozent
UMSTRITTENER FALL
Leistung geduldet habe, könne sie nicht
plötzlich zum Kündigungsgrund erklären:
„Wenn so jemand trotzdem schon lange
Zeit beschäftigt ist, dann ist das für seinen Anwalt exzellent. Denn sein Mandant
ist ja immer schon schlecht gewesen.“
Leistungsträger in einer Formkrise seien
stärker gefährdet: „Wenn ich den Eindruck
habe, der bisher gute Mann war im letzten
Jahr plötzlich schlecht, dann kann das ein
Grund für eine verhaltensbedingte Kündigung sein. Denn dann hat der Mitarbeiter
Leistung zurückgehalten.“
57
Die Anwaltshonorare trägt jede Prozesspartei selbst. Für Arbeitnehmer hängen
sie vom Einkommen ab. Bei einem Bruttolohn von 2000 Euro können gut 1000 Euro
zusammenkommen. Die Gerichtskosten
zahlt, wer den Prozess verliert. Oft kommt
■
es aber zu Vergleichen.
HANS-JÜRGEN MORITZ
10
7
TENDENZ NACH UNTEN Vor der Krise lagen
Abfindungen im Schnitt bei 0,6 Monatsgehältern pro Jahr der Betriebszugehörigkeit
FA K T E N A U F A B R U F
Weitere Informationen zum Arbeitsrecht finden Sie im FOCUS-Faxabruf,
siehe Seite 93.
Quelle: Hans-Böckler-Stiftung
34
Foto: ddp
FOCUS 10/2009
Der Hanseat
Olaf Scholz, 50, ist
seit November 2007
Bundesminister für
Arbeit und Soziales.
ı Anwalt für Arbeit
Der in Hamburg
aufgewachsene Sozialdemokrat ist Fachanwalt
für Arbeitsrecht.
ı Berufspolitiker
Von Mai bis Oktober 2001
war er Hamburger Innensenator, von 2002 bis
2004 SPD-Generalsekretär
und von 2005 bis 2007
Erster Parlamentarischer
Geschäftsführer der SPDBundestagsfraktion.
INTERVIEW
„Mit offenen Karten“
Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD) lobt die Arbeitgeber und
schließt Pläne der Industrie für Massenentlassungen aus
FOCUS: Herr Scholz, wie oft haben Sie
schon Ihren Job verloren, und wie sind
Sie damit umgegangen?
Scholz: Ich hatte Glück und fing
gleich nach meinem Studium in meinem
Wunschberuf als Rechtsanwalt an. Das
habe ich gemacht, bis ich in den Bun-
DÜSTERE ZUKUNFT
Tausende Beschäftigte
von Opel bangen um
ihren Arbeitsplatz. Ohne
staatliche Hilfe steht
das Unternehmen vor
der Pleite, weil der
US-Mutterkonzern GM
in Existenznot geriet
36
destag kam. Seitdem hatte ich als Politiker mal mehr, mal weniger Erfolg. Es
gehört für einen Politiker dazu, dass
man Aufgaben nur auf Zeit übertragen
bekommt.
FOCUS: Existenzängste kamen bei
Ihnen nie auf?
Scholz: Nein. Und das empfinde ich
als großes Glück, weil ich weiß, dass es
vielen Bürgern ganz anders geht.
FOCUS: Ist Ihnen klar, dass in Deutschland die Jobangst um sich greift?
Scholz: Ja. Die Daten der Weltwirtschaft müssen alle besorgt machen. Es
gilt jetzt zu handeln. Deshalb empfehle
ich den Unternehmen zwei Strategien:
Kurzarbeit nutzen und qualifizieren.
Marschiert mit euren Mitarbeitern gemeinsam durch die Krise! Man soll später sagen können, dass Deutschland sie
für einen Aufbruch genutzt hat.
FOCUS: Hat jemand aus Ihrem Bekanntenkreis schon seine Arbeit verloren?
Scholz: Es hat sich noch keiner bei
mir gemeldet. Aber die weltweite Konjunkturkrise hat ja erst begonnen, sich
auf dem Arbeitsmarkt niederzuschlagen. Allerdings: Wir haben frühzeitig
gehandelt. Schon im vorigen Jahr, als
das ganze Ausmaß der Krise noch gar
nicht absehbar war, haben wir 18 Monate Kurzarbeit ermöglicht. Das und die
beiden Konjunkturpakete werden dafür
sorgen, dass die Arbeitslosenzahlen beherrschbar bleiben.
FOCUS: Wie schlimm wird es?
Scholz: Ich halte alle Prognosen inzwischen nicht mehr für seriös.
FOCUS: Auch die, dass es nicht wieder zu fünf Millionen Arbeitslosen und
mehr kommen wird?
Scholz: Bisher gibt es keine Voraussage, die so weit geht. Aber man muss die
Unsicherheit der Datenbasis zugeben.
Ich würde keinem Politiker, der mit sicheren Zahlen durch die Gegend läuft,
ein Stück Brot abkaufen.
FOCUS: Wie ehrlich sind die Unternehmen zu Ihnen? Können Sie ausschließen,
dass Entlassungspläne für den Sommer in den Schubladen liegen?
Scholz: Es gibt bisher keine geheimen
Schubladenpläne. Alle spielen bisher
mit offenen Karten. Wir haben sehr
vertrauensvolle Gespräche geführt.
Die Dax-30-Unternehmen – und nicht
nur die – haben versprochen, dass sie
sich bemühen wollen, Entlassungen im
großen Stil zu vermeiden. Das finde ich
sehr weit gehend, weil die ihren Prognosen genauso wenig vertrauen können wie wir. Über die Krise kann man
im Moment nur sagen, dass sie da ist
– und dass man nichts Genaues weiß.
Höchstens das: Es rechnet sich für die
Firmen, durch Kurzarbeit und Qualifizierung auf massenhafte Kündigungen
zu verzichten.
FOCUS 10/2009
Fotos: Dieter Bauer/FOCUS-Magazin, dpa
DEUTSCHLAND
BEI DER ARBEIT
Minister Scholz machte sich bei
Mercedes-Benz in Berlin, wo
Kurzarbeit angesagt war, ein Bild
von der Stimmung im Werk
„Ich empfehle den Unternehmen zwei Strategien: Kurzarbeit nutzen und
qualifizieren. Marschiert mit den Mitarbeitern durch die Krise!“ Olaf Scholz
FOCUS: Ist die Bereitschaft zur Weiterbildung unter den Mitarbeitern ausreichend vorhanden, oder nutzen sie die
Kurzarbeit eher als zusätzliche Freizeit?
Scholz: Mein Rat ist, die Zeit für Qualifizierung zu nutzen. Wir wissen über
den Arbeitsmarkt der Zukunft alles. Es
gibt zwei Szenarien für die Mitte des
nächsten Jahrzehnts: genügend Fachkräfte und kaum Arbeitslosigkeit oder
Fachkräftemangel und hohe Arbeitslosigkeit. Jetzt qualifizieren zahlt sich
also bald aus.
FOCUS: Haben die Betriebe den Ernst
der Lage denn schon begriffen?
Scholz: Es müsste mehr passieren. Bei
den Ausbildungsplätzen haben wir in
den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht. Allerdings brauchen
wir Lehrstellen für die weniger guten
Schulabgänger. Die haben auch ihre Talente. Und mancher Unternehmer sollte doch einfach an die eigene Jugend
zurückdenken. Dem einen oder anderen haben die Eltern womöglich gesagt:
Aus dir wird nichts mehr. Und dann ist
doch noch etwas aus ihm geworden. So
geht es heute vielen jungen Leuten.
38
FOCUS: Sind die Kurzarbeiter von heute die Arbeitslosen von morgen?
Scholz: Die These ist nicht plausibel. Die Voraussetzung für Kurzarbeit
ist die Annahme, dass es nach einer
Übergangsphase wieder weitergeht. Es
gibt auch eine natürliche Missbrauchskontrolle: Ein Unternehmen, das sicher
davon ausgeht, dass es später seine
Beschäftigten entlassen muss, gibt für
die Kurzarbeit dann doch zu viel Geld
aus, denn sie ist ja nicht völlig umsonst
zu haben. Gut ist: Wir können lange
durchhalten, weil die Arbeitsagentur
reichlich finanzielle Rücklagen dafür
zur Verfügung hat.
FOCUS: Wie lange?
Scholz: Das hängt von der Entwicklung ab. Sollten die Mittel um die Mitte des nächsten Jahres verbraucht sein,
springt der Bundeshaushalt ein.
FOCUS: Dient die Kurzarbeit nicht
eher dazu, die Arbeitslosenzahl für die
Bundestagswahl zu schönen?
Scholz: Nein. Wir haben bewusst einen sehr langen Zeitraum für die Kurzarbeit gewählt und können ihn – auch
wenn wir das aktuell nicht planen –
Foto: H.-C. Plambeck/laif
noch auf 24 Monate verlängern. Wenn
es schlecht läuft, kann die wirtschaftliche Krise 2009 und 2010 komplett umfassen. Und natürlich wird es in dieser
Zeit einen Anstieg der Arbeitslosigkeit geben. Wer etwas anderes erzählt,
streut den Leuten Sand in die Augen.
Aber der Anstieg wird durch unsere Maßnahmen geringer ausfallen als
ohne sie.
FOCUS: Muss der Staat sich an Unternehmen beteiligen, um Jobs zu retten?
Scholz: Beschäftigungssicherung hat
Priorität. Aber der Staat sollte nicht nach
Unternehmensbeteiligungen streben.
Und er sollte auch nicht überall, wo ihm
das jetzt angetragen wird, als Unternehmer auftreten wollen. Wir würden uns
völlig übernehmen. Und: Geschäftsmodelle, die nicht funktionieren, bekommen wir mit staatlichem Geld auch nicht
zum Laufen.
FOCUS: Gilt das auch für Opel?
Scholz: Bei Opel gehe ich davon aus,
dass wir etwas tun müssen. Aber man
muss diskutieren, was notwendig ist.
Da werden wir die Pläne genau studieren. Ziel muss sein, dass eine industrielle Struktur in Deutschland nicht
kaputtgeht bloß wegen der Schwierigkeiten der amerikanischen Muttergesellschaft.
FOCUS: Und Schaeffler?
Scholz: Es gelten die gleichen Prinzipien wie sonst. Beschäftigungssicherung ist wichtig. Aber die Sicherung des
Vermögens der Gesellschafter ist keine
öffentliche Aufgabe.
FOCUS: Wer ist zur Bekämpfung der
Arbeitslosigkeit der wichtigste Mann im
Kabinett: Arbeitsminister Scholz oder
Wirtschaftsminister zu Guttenberg?
Scholz: Am besten ist es, wenn die
Regierung zusammenarbeitet und keiner so eitel ist, Ihnen diese Frage zu
beantworten.
FOCUS: Ist die Kanzlerin eine gute
Krisenmanagerin?
Scholz: Die Regierung arbeitet gut in
■
der Krise.
INTERVIEW: HANS-JÜRGEN MORITZ/
HERBERT WEBER
FOCUS 10/2009