Europäische Romantik, WS 2010/11

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Europäische Romantik, WS 2010/11
Europäische Romantik
Zitate zur Vorlesung im WS 2010/11
W. Eckel
Inhalt
Die Reflexion der Kunstautonomie im Zeitalter der Romantik
3
Die Trennung des Schönen vom Wahren und Guten in der Romantik
4
Die Ausdifferenzierung der Kunst im Spiegel der im 18. Jahrhundert entstehenden Ästhetik 5
Das romantische Bewusstsein von der Partikularität der Kunst:
Der Künstler als Außenseiter und Verrückter
6
Das romantische Bewusstsein von der Partikularität der Kunst:
Der Polyperspektivismus der Kreisleriana (1814)
7
Der romantische Totalitarismus des Ästhetischen:
Die Vorstellung der entzauberten Welt oder der Welt als seelenlose Maschine
8
Der romantische Totalitarismus des Ästhetischen:
Die Idee der Weltverwandlung und Welterlösung durch Kunst
9
Die Diagnose der entgötterten Welt bei Schiller
10
Die Idee der neuen Mythologie I
11
Die Idee der neuen Mythologie II: Motive der neuen Mythologie
12
Die Idee der neuen Mythologie III: Motive der neuen Mythologie
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Percy Bysshe Shelley (1792-1822)
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Percy Bysshe Shelley, Prometheus Unbound (1819) I
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Percy Bysshe Shelley, Prometheus Unbound (1819) II
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Percy Bysshe Shelley, Prometheus Unbound (1819) III:
Sprache zwischen Mimesis und Poiesis, Repräsentation und Produktion
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Percy Bysshe Shelley, Prometheus Unbound (1819) IV:
Instrumentelles und po(i)etisches Sprechen
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Totalitarismus und Partikularismus des Ästhetischen bei P.B. Shelley
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Zur Begriffsgeschichte von „romantisch“, „Romantik“, „Romantiker“ (I)
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Zur Begriffsgeschichte von „romantisch“, „Romantik“, „Romantiker“ (II)
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Zur Begriffsgeschichte von „romantisch“, „Romantik“, „Romantiker“ (III)
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Zur Begriffsgeschichte von „romantisch“, „Romantik“, „Romantiker“ (IV)
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Zur Begriffsgeschichte von „romantisch“, „Romantik“, „Romantiker“ (V)
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Zur Begriffsgeschichte von „romantisch“, „Romantik“, „Romantiker“ (VI)
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Zur Begriffsgeschichte von „romantisch“, „Romantik“, „Romantiker“ (VII)
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Novalis, Heinrich von Ofterdingen (1799/1800) (I)
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Novalis, Heinrich von Ofterdingen (1799/1800) (II)
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Novalis, Heinrich von Ofterdingen (1799/1800) (III)
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Die Romantisierung der Welt
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Die Romantisierung der Welt
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Die Romantisierung der Welt
32
Von Novalis zu E.T.A. Hoffmann
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Magische Augengläser und Spiegel. Optische Instrumente bei E.T.A. Hoffmann
34
E.T.A. Hoffmann, Der goldene Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit (1814)
35
E.T.A. Hoffmann, Der goldene Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit (1814)
36
E.T.A. Hoffmann, Der goldene Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit (1814)
E.T.A. Hoffmann, Der goldene Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit (1814)
E.T.A. Hoffmann, Der goldene Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit (1814)
Samuel Taylor Coleridge (1772-1834)
Samuel Coleridge, The Rime of the Ancient Mariner (1798)
Samuel Coleridge, The Rime of the Ancient Mariner (1798)
Samuel Coleridge, The Rime of the Ancient Mariner (1798)
Samuel Coleridge, The Rime of the Ancient Mariner (1798)
Samuel Coleridge, The Rime of the Ancient Mariner (1798)
Samuel Coleridge, The Rime of the Ancient Mariner (1798)
Samuel Coleridge, The Rime of the Ancient Mariner (1798)
Samuel Coleridge, The Rime of the Ancient Mariner (1798)
Gérard de Nerval (1808-1855)
Gérard de Nerval, Aurélia ou Le Rêve et la Vie (1855) I
Gérard de Nerval, Aurélia ou Le Rêve et la Vie (1855) II
Gérard de Nerval, Aurélia ou Le Rêve et la Vie (1855) III
Gérard de Nerval, Aurélia ou Le Rêve et la Vie (1855) IV
Gérard de Nerval, Aurélia ou Le Rêve et la Vie (1855) V
Gérard de Nerval, Aurélia ou Le Rêve et la Vie (1855) VI
Friedrich Schlegel (1772-1829)
Friedrich Schlegel, Poetik I
Friedrich Schlegel, Poetik II
Friedrich Schlegel, Poetik III
Friedrich Schlegel, Poetik IV
Friedrich Schlegel, Poetik V
Friedrich Schlegel, Poetik VI
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Europäische Romantik
Die Reflexion der Kunstautonomie im Zeitalter der Romantik
Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (1790):
„Geschmack ist das Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein
Wohlgefallen, oder Mißfallen, ohne alles Interesse. Der Gegenstand eines solchen Wohlgefallens
heißt schön.“ (§ 5, Ende) „Schönheit ist Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie,
ohne Vorstellung eines Zwecks, an ihm wahrgenommen wird.“ (§ 17, Ende)
Friedrich Schlegel, Fragmente (1797/98):
„Eine Philosophie der Poesie überhaupt aber würde mit der Selbständigkeit des Schönen beginnen,
mit dem Satz, daß es vom Wahren und Sittlichen getrennt sei und getrennt sein solle, und daß es mit
diesem gleiche Rechte habe […].“ (Ath. 252)
„Die romantische Poesie […] allein ist unendlich, wie sie allein frei ist und das als ihr oberstes Gesetz
anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide.“ (Ath. 116)
„Die Poesie ist eine republikanische Rede; eine Rede, die ihr eignes Gesetz und ihr eigner Zweck
ist, wo alle Teile freie Bürger sind, und mitstimmen dürfen.“ (Lyc. 65)
„Poesie kann nur durch Poesie kritisiert werden. Ein Kunsturteil, welches nicht selbst ein Kunstwerk ist, entweder im Stoff, als Darstellung des notwendigen Eindrucks in seinem Werden, oder durch
eine schöne Form, und einen im Geist der alten römischen Satire liberalen Ton, hat gar kein Bürgerrecht im Reiche der Kunst.“ (Lyc. 117)
Friedrich Schlegel, Gespräch über die Poesie (1800):
„Es ist nicht nötig, daß irgend jemand sich bestrebe, etwa durch vernünftige Reden und Lehren die
Poesie zu erhalten und fortzupflanzen, oder gar sie erst hervorzubringen, zu erfinden, aufzustellen und
ihr strafende Gesetze zu geben, wie es die Theorie der Dichtkunst so gern möchte. Wie der Kern der
Erde sich von selbst mit Gebilden und Gewächsen bekleidete, wie das Leben von selbst aus der Tiefe
hervorsprang, und alles voll ward von Wesen die sich fröhlich vermehrten; so blüht auch Poesie von
selbst aus der unsichtbaren Urkraft der Menschheit hervor, wenn der erwärmende Strahl der göttlichen
Sonne sie trifft und befruchtet. Nur Gestalt und Farbe können es nachbildend ausdrücken, wie der
Mensch gebildet ist; und so läßt sich auch eigentlich nicht reden von der Poesie als nur in Poesie.“
3
Europäische Romantik
Die Trennung des Schönen vom Wahren und Guten in der Romantik
Friedrich Schlegel, Fragmente (1797/98):
„Eine Philosophie der Poesie überhaupt aber würde mit der Selbständigkeit des Schönen beginnen, mit dem Satz, daß es vom Wahren und Sittlichen getrennt sei und getrennt sein solle, und
daß es mit diesem gleiche Rechte habe […].“ (Ath. 252)
Zur Vorgeschichte:
System der artes liberales im Mittelalter
Trivium: Grammatik, Rhetorik, Dialektik; Quadrivium: Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie
Charles Batteux, Les beaux arts réduits à un même principe (1746):
„Das Wahre ist der Gegenstand der Wissenschaften. Der Gegenstand der Künste ist das Gute und das Schöne. Zwei Kunstwörter, welche, wenn man sie in der Nähe prüfet, beynahe auf
einerley Bedeutung hinauslaufen.“ (zit. nach der dt. Übersetzung Einschränkung der Schönen
Künste auf einen einzigen Grundsatz, Leipzig 3. Aufl. 1770)
Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste (1772):
„Sie [die Natur] ist die erste Künstlerin […] Sie wendet Schönheit und Häßlichkeit an, um
uns das Gute und Böse kennbar zu machen; jenem giebt sie einen höhern Reiz, damit wir es
lieben; diesem eine widrige Kraft, daß wir es verabscheuen.“ (Art. „Künste; Schöne Künste“)
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Europäische Romantik
Die Ausdifferenzierung der Kunst im Spiegel der im 18. Jahrhundert entstehenden
Ästhetik
Jean Baptiste Dubos, Réflexions critiques sur la poésie et la peinture, 1719 (Komplettierung des Titels
um den Begriff musique in der Ausgabe von 1748)
Hildebrand Jacob, Of the Sister Arts, 1734
James Harris, Three treatises, the first concerning art, the second concerning music, painting and
poetry, the third concerning happiness, 1744 (deutsche Übersetzung von Johann Georg Müchler,
Danzig 1756)
Charles Batteux, Les beaux arts réduits à un même principe, 1746
Alexander Gottlieb Baumgarten, Aesthetica, 1750/58
Moses Mendelssohn, Über die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften, 1757
James Beattie, An Essay on Poetry and Music as they affect the mind, 1762
John Brown, A Dissertation on the Rise, Union, and Power, the Progressions, Separations, and Corruptions of Poetry and Musick, London 1763 (ins Deutsche übersetzt von Eschenburg 1769)
Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, 1766
Johann Gottfried Herder, Kritische Wälder, 1769
Daniel Webb, Observations on the Correspondence between Poetry and Music, 1769 (die Übersetzung
von Eschenburg 1771 wird von Herder rezensiert)
Sir William Jones, Essay on the Arts Commonly Called Imitative, 1772
Johann George Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste, 1771/74
Thomas Robertson, An Inquiry into the Fine Arts, London 1784
Anselm Bayly, The Alliance of Musick, Poetry, and Oratory, London 1789
Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, 1790
Adam Smith, Of the Imitative Arts, in: Essays on Philosophical Subjects, London 1795
Adam Smith, Of the Affinity between Music, Dancing, and Poetry, ebd., London 1795
F.W.J. Schelling, Philosophie der Kunst, 1800/02
G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, 1820er Jahre
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Europäische Romantik
Das romantische Bewusstsein von der Partikularität der Kunst: Der Künstler als Außenseiter und Verrückter
E.T.A. Hoffmann, Kreisleriana (1814):
„Viele behaupteten, Spuren des Wahnsinns an ihm [Kreisler] bemerkt zu haben, und wirklich hatte
man ihn mit zwei übereinander gestülpten Hüten und zwei Rastralen wie Dolche in den roten
Leibgürtel gesteckt, lustig singend zum Tore hinaus hüpfen gesehen, wiewohl seine näheren
Freunde nichts besonderes bemerkt, da ihm gewaltsame Ausbrüche von irgend einem innern Gram
erzeugt, auch sonst schon eigen gewesen.“ (Vorbemerkung zum ersten Teil)
„Schon lange galt der arme Johannes allgemein für wahnsinnig, und in der Tat stach auch sein
ganzes Tun und Treiben, vorzüglich sein Leben in der Kunst, so grell gegen alles ab, was vernünftig und schicklich heißt, daß an der innern Zerrüttung seines Geistes kaum zu zweifeln war. Immer
exzentrischer, immer verwirrter wurde sein Ideengang […].“ (Vorbemerkung zum zweiten Teil)
„Die Freunde behaupteten, die Natur habe bei seiner Organisation ein neues Rezept versucht und
der Versuch sei mißlungen, indem seinem überreizbaren Gemüte, seiner bis zur zerstörenden
Flamme aufglühenden Phantasie zu wenig Phlegma beigemischt und so das Gleichgewicht zerstört
worden, das dem Künstler durchaus nötig sei, um mit der Welt zu leben und ihr Werke zu dichten,
wie sie dieselben, selbst im höhern Sinn, eigentlich brauche. Dem sei, wie ihm wolle – genug, Johannes wurde von seinen innern Erscheinungen und Träumen, wie auf einem ewig wogenden
Meer dahin – dorthin getrieben, und er schien vergebens den Port zu suchen, der ihm endlich die
Ruhe und Heiterkeit geben sollte, ohne welche der Künstler nichts zu schaffen vermag. So kam es
denn auch, daß die Freunde es nicht dahin bringen konnten, daß er eine Komposition aufschrieb
oder, wirklich aufgeschrieben, unvernichtet ließ. Zuweilen komponierte er zur Nachtzeit in der
aufgeregtesten Stimmung; – er weckte den Freund, der neben ihm wohnte, um ihm alles in der
höchsten Begeisterung vorzuspielen, was er in unglaublicher Schnelle aufgeschrieben – er vergoß
Tränen der Freude über das gelungene Werk – er pries sich selbst als den glücklichsten Menschen,
aber den andern Tag – lag die herrliche Komposition im Feuer.“ (Vorbemerkung zum ersten Teil)
„Aus der richtig angegebenen Tendenz der Kunst fließt auch von selbst, daß die Künstler, d.h. diejenigen Personen, welche (freilich töricht genug!) ihr ganzes Leben einem, nur zur Erholung und
Zerstreuung dienenden Geschäfte widmen, als ganz untergeordnete Subjekte zu betrachten und nur
darum zu dulden sind, weil sie das miscere utili dulce [Vermischen des Nützlichen mit dem Angenehmen, vgl. Horaz, Ars poetica, V. 343] in Ausübung bringen. Kein Mensch von gesundem Verstande und gereiften Einsichten wird den besten Künstler so hoch schätzen, als den wackern
Kanzelisten, ja den Handwerksmann, der das Polster stopfte, worauf der Rat in der Schoßstube
oder der Kaufmann im Comptoir sitzt, da hier das Notwendige, dort nur das Angenehme beabsichtigt wird. Wenn man daher mit dem Künstler höflich und freundlich umgeht, so ist das nur eine
Folge unserer Kultur und unserer Bonhommie, die uns ja auch mit Kindern und andern Personen,
die Spaß machen, schön tun und tändeln läßt. Manche von diesen unglücklichen Schwärmern sind
zu spät aus ihrem Irrtum erwacht und darüber wirklich in einigen Wahnsinn verfallen, welches
man aus ihren Äußerungen über die Kunst sehr leicht abnehmen kann. Sie meinen nämlich, die
Kunst ließe dem Menschen sein höheres Prinzip ahnen und führe ihn aus dem törichten Tun und
Treiben des gemeinen Lebens in den Isistempel, wo die Natur in heiligen, nie gehörten und doch
verständlichen Lauten mit ihm spräche. Von der Musik hegen diese Wahnsinnigen nun vollends
die wunderlichsten Meinungen; sie nennen sie die romantischste aller Künste, da ihr Vorwurf nur
das Unendliche sei; die geheimnisvolle, in Tönen ausgesprochene Sanskritta der Natur, die die
Brust des Menschen mit unendlicher Sehnsucht erfülle, und nur in ihr verstehe er das hohe Lied
der – Bäume, der Blumen, der Tiere, der Steine, der Gewässer!“ (Abschnitt 3: Gedanken über den
hohen Wert der Musik)
6
Europäische Romantik
Das romantische Bewusstsein von der Partikularität der Kunst: Der Polyperspektivismus der Kreisleriana (1814)
E.T.A. Hoffmann, Kreisleriana, Abschnitt 2: „Ombra adorata!“:
„Wie ist doch die Musik so etwas höchst Wunderbares, wie wenig vermag doch der Mensch ihre
tiefen Geheimnisse zu ergründen! – Aber wohnt sie nicht in der Brust des Menschen selbst und erfüllt sein Inneres so mit ihren holdseligen Erscheinungen, daß sein ganzer Sinn sich ihnen zuwendet und ein neues verklärtes Leben ihn schon hienieden dem Drange, der niederdrückenden Qual
des Irdischen entreißt? – Ja, eine göttliche Kraft durchdringt ihn, und mit kindlichem frommen
Gemüte sich dem hingebend, was der Geist in ihm erregt, vermag er die Sprache jenes unbekannten, romantischen Geisterreichs zu reden, und er ruft, unbewußt, wie der Lehrling, der in des Meisters Zauberbuch mit lauter Stimme gelesen, alle die herrlichen Erscheinungen aus seinem Innern
hervor, daß sie in strahlenden Reihentänzen das Leben durchfliegen und jeden, der sie zu schauen
vermag, mit unendlicher, unnennbarer Sehnsucht erfüllen.“
Kreisleriana, Abschnitt 3: „Gedanken über den hohen Wert der Musik“:
„Der Zweck der Kunst überhaupt ist doch kein anderer, als dem Menschen eine angenehme Unterhaltung zu verschaffen und ihn so von den ernstern oder vielmehr den einzigen ihm anständigen
Geschäften, nämlich solchen, die ihm Brot und Ehre im Staat erwerben, auf eine angenehme Art
zu zerstreuen, so daß er nachher mit gedoppelter Aufmerksamkeit und Anstrengung zu dem eigentlichen Zweck seines Daseins zurückkehren, d.h. ein tüchtiges Kammrad in der Walkmühle des
Staats sein und (ich bleibe in der Metapher) haspeln und sich trillen lassen kann.“
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Europäische Romantik
Der romantische Totalitarismus des Ästhetischen: Die Vorstellung der entzauberten
Welt oder der Welt als seelenlose Maschine
Novalis, Die Christenheit oder Europa (1799):
„der Religions-Haß, dehnte sich sehr natürlich und folgerecht auf alle Gegenstände des Enthusiasmus aus, verketzerte Fantasie und Gefühl, Sittlichkeit und Kunstliebe, Zukunft und Vorzeit,
setzte den Menschen in der Reihe der Naturwesen mit Noth oben an, und machte die unendliche
schöpferische Musik des Weltalls zum einförmigen Klappern einer ungeheuren Mühle, die
vom Strom des Zufalls getrieben und auf ihm schwimmend, eine Mühle an sich, ohne Baumeister
und Müller und eigentlich ein ächtes Perpetuum mobile, eine sich selbst mahlende Mühle sey.“
Percy B. Shelley, A philosophical view of reform (1820):
„Modern society is thus an engine assumed to be for useful purposes, whose force is by a system
of subtle mechanism augmented to the highest pitch, but which, instead of grinding corn or raising
water, acts against itself and is perpetually wearing away or breaking to pieces the wheels of
which it is composed.“
Vgl. Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung (1795):
„Bei uns [im Unterschied zu den Griechen] […] äußern sich die Gemütskräfte auch in der Erfahrung so getrennt, wie der Psychologe sie in der Vorstellung scheidet, und wir sehen nicht bloß einzelne Subjekte, sondern ganze Klassen von Menschen nur einen Teil ihrer Anlagen entfalten,
während die übrigen, wie bei verkrüppelten Gewächsen, kaum mit matter Spur angedeutet sind.“
(582f.) „Jene Polypennatur der griechischen Staaten, wo jedes Individuum eines unabhängigen
Lebens genoß und, wenn es not tat, zum Ganzen werden konnte, machte jetzt einem kunstreichen
Uhrwerke Platz, wo aus der Zusammenstückelung unendlich vieler, aber lebloser Teile ein mechanisches Leben im Ganzen sich bildet. Auseinandergerissen wurden jetzt der Staat und die Kirche, die Gesetze und die Sitten; der Genuß wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und
anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft. Aber selbst der karge fragmentarische Anteil, der die einzelnen Glieder noch an das Ganzes knüpft, hängt nicht von Formen ab, die sie sich selbsttätig geben (denn wie
dürfte man ihrer Freiheit ein so künstliches und lichtscheues Uhrwerk vertrauen?), sondern wird
ihnen mit skrupulöser Strenge durch ein Formular vorgeschrieben, in welchem man ihre freie Einsicht gebunden hält.“ (584)
Vgl. Max Weber, Wissenschaft als Beruf (1917):
„Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende
allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas
anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit
erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die
da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen
könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt.“
8
Europäische Romantik
Der romantische Totalitarismus des Ästhetischen: Die Idee der Weltverwandlung und
Welterlösung durch Kunst
Novalis:
„Wir sind auf einer Mißion: zur Bildung der Erde sind wir berufen“ (Blüthenstaub-Fragmente, II,
241); „Die Welt muß romantisirt werden. […] Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem
Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem
Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es“ (Vorarbeiten 1798, II, 334);
„Romantisiren“ heißt „In Geheimniß Stand erheben“ (II, 379).
Friedrich Schlegel:
Die progressive Universalpoesie will „die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die
Gesellschaft poetisch machen“ (116. Ath.-Frag.). Vgl. Novalis: „Die Poësie mit lebendigen Kräften, mit Menschen, und sonst gefällt mir immer mehr. Man muß eine poëtische Welt um sich
her bilden und in der Poësie leben.“ (An Karoline Schlegel, 20. Januar 1799)
Joseph von Eichendorff:
„Schläft ein Lied in allen Dingen, / Die da träumen fort und fort, / Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort.“ (Wünschelrute)
Samuel Taylor Coleridge:
Über die Lyrical Ballads von Coleridge/Wordsworth: „Mr. Wordsworth […] was to propose to
himself as his object, to give the charm of novelty to things of every day, and to excite a feeling
analogous to the supernatural, by awakening the mind’s attention from the lethargy of custom,
and directing it to the loveliness and the wonders of the world before us; an inexhaustible treasure,
but for which in consequence of the film of familiarity and selfish solicitude we have eyes, yet see
not, ears that hear not, and hearts that neither feel nor understand.“ (Biographia litteraria, 1817,
Chapter XIV)
Percy B. Shelley:
„Language is a perpetual Orphic song, / Which rules with Dædal harmony a throng / Of
thoughts and forms, which else senseless and shapeless were.“ „our singing shall build / In the
void’s loose field / A world for the Spirit of Wisdom to wield“ (Prometheus Unbound, 1819)
„Poetry turns all things to loveliness […]. It makes us the inhabitants of a world to which the
familiar world is a chaos. […] It creates anew the universe.“ (Defence of Poetry, 1821)
Stéphane Mallarmé
„L’explication orphique de la Terre […] est le seul devoir du poëte et le jeu littéraire par excellence.“ (An Verlaine, 16. November 1885)
9
Europäische Romantik
Die Diagnose der entgötterten Welt bei Schiller
Schiller, Die Götter Griechenlandes (1788):
[Str. 1]
Da ihr noch die schöne Welt regiertet,
An der Freude leichtem Gängelband
Glücklichere Menschenalter führtet,
Schöne Wesen aus dem Fabelland!
Ach! da euer Wonnedienst noch glänzte,
Wie ganz anders, anders war es da!
Da man deine Tempel noch bekränzte,
Venus Amathusia!
[Str. 20]
Alle jenen Blüten sind gefallen
Von des Nordes winterlichem Wehn.
Einen zu bereichern, unter allen,
Mußte diese Götterwelt vergehn.
Traurig such ich an dem Sternenbogen,
Dich, Selene, find ich dort nicht mehr;
Durch die Wälder ruf ich, durch die Wogen,
Ach! Sie widerhallen leer!
[Str.2]
Da der Dichtkunst malerische Hülle
Sich noch lieblich um die Wahrheit wand!
Durch die Schöpfung floß da Lebensfülle
Und, was nie empfinden wird, empfand.
An der Liebe Busen sie zu drücken,
Gab man höhern Adel der Natur.
Alles wies den eingeweihten Blicken,
Alles eines Gottes Spur.
[Str. 21]
[…]
Gleich dem toten Schlag der Pendeluhr,
Dient sie knechtisch dem Gesetz der Schwere,
Die entgötterte Natur!“
[Str. 3]
Wo jetzt nur, wie unsre Weisen sagen,
Seelenlos ein Feuerball sich dreht,
Lenkte damals seinen goldnen Wagen
Helios in stiller Majestät.
Diese Höhen füllten Oreaden,
Eine Dryas starb mit jedem Baum,
Aus den Urnen lieblicher Najaden
Sprang der Ströme Silberschaum.
[…]
[Str. 19]
Schöne Welt, wo bist du? – Kehre wieder,
Holdes Blütenalter der Natur!
Ach! Nur in dem Feenland der Lieder
Lebt noch deine goldne Spur.
Ausgestorben trauert das Gefilde,
Keine Gottheit zeigt sich meinem Blick
Ach! Von jenem lebenwarmen Bilde
Blieb nur das Gerippe mir zurück.
[Str. 22]
Morgen wieder neu sich zu entbinden,
Wühlt sie heute sich ihr eignes Grab,
Und an ewig gleicher Spindel winden
Sich von selbst die Monde auf und ab.
Müßig kehrten zu dem Dichterlande
Heim die Götter, unnütz einer Welt,
Die, entwachsen ihrem Gängelbande,
Sich durch eignes Schweben hält.
[Str. 23]
Freundlos, ohne Bruder, ohne Gleichen,
Keiner Göttin, keiner Irdschen Sohn,
Herrscht ein andrer in des Äthers Reichen
Auf Saturnus’ umgestürztem Thron.
Selig, eh sich Wesen um ihn freuten,
Selig im entvölkerten Gefild,
Sieht er in dem langen Strom der Zeiten
Ewig nur – sein eignes Bild.
[…]
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Europäische Romantik
Die Idee der neuen Mythologie I
Theoretische Schlüsseltexte:
Ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus, 1796 oder 1797
Friedrich Schlegel, Rede über die Mythologie, in: Gespräch über die Poesie, 1800
Schelling, System des transzendentalen Idealismus, 1800, Ende
Wichtige mythopoetische Texte:
Friedrich Hölderlin, Brod und Wein (1800), Die Friedensfeier (1801) u.a.
Novalis, Klingsohr-Märchen, aus: Heinrich von Ofterdingen
William Blake, Prophetic Books: The Marriage of Heaven and Hell (1790-93); America (1793); Europe (1794); The Book of Thel (1789/91); The Book of Urizen (1794); The Book of Ahania (1795);
The Book of Los (1795)
P.B. Shelley, Prometheus Unbound (1819)
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Europäische Romantik
Die Idee der neuen Mythologie II: Motive der neuen Mythologie
Das ästhetische Motiv:
„Ihr habt selbst gedichtet, und ihr müßt es oft im Dichten gefühlt haben, daß es euch an einem festen
Halt für euer Wirken gebracht, an einem mütterlichen Boden, einem Himmel, einer lebendigen Luft. /
Aus dem Innern herausarbeiten das alles muß der moderne Dichter, und viele haben es herrlich getan,
aber bis jetzt nur jeder allein, jedes Werk wie eine neue Schöpfung von vorn an aus Nichts. / Es fehlt,
behaupte ich, unsrer Poesie an einem Mittelpunkt, wie es die Mythologie für die der Alten war, und
alles Wesentliche, worin die moderne Dichtkunst der antiken nachsteht, läßt sich in die Worte
zusammenfassen: Wir haben keine Mythologie. […] Die neue Mythologie muß im Gegenteil aus der
tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden; es muß das künstlichste aller Kunstwerke sein, denn
es soll alle andern umfassen, ein neues Bette und Gefäß für den alten ewigen Urquell der Poesie
und selbst das unendliche Gedicht, welches die Keime aller andern Gedichte verhüllt.“ (Rede über
die Mythologie)
Das naturphilosophische Motiv:
„was ist jede schöne Mythologie andres als ein hieroglyphischer Ausdruck der umgebenden Natur in
dieser Verklärung von Phantasie und Liebe?“ (Rede über die Mythologie)
„Sucht ihr also eine universelle Mythologie, so bemächtigt euch der symbolischen Ansicht der Natur, lasset die Götter wieder Besitz von ihr ergreifen und sie erfüllen.“ (Schelling, Philosophie und
Religion, 1804)
Das politisch-soziale Motiv:
„Zuerst werde ich hier von einer Idee sprechen, die, soviel ich weiß, noch in keines Menschen Sinn
gekommen ist – wir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste
der Ideen stehen, sie muß eine Mythologie der Vernunft werden. / Ehe wir die Ideen ästhetisch, d.h.
mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse; und umgekehrt, ehe die Mythologie vernünftig ist, muß sich der Philosoph ihrer schämen. So müssen endlich Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muß philosophisch werden und das Volk vernünftig,
und die Philosophie muß mythologisch werden, um die Philosophie sinnlich zu machen. Dann herrscht
ewige Einheit unter uns. Nimmer der verachtende Blick, nimmer das blinde Zittern des Volks vor
seinen Weisen und Priestern. Dann erst erwartet uns gleiche Ausbildung aller Kräfte, des Einzelnen
sowohl als aller Individuen. Keine Kraft wird mehr unterdrückt werden. Dann herrscht allgemeine
Freiheit und Gleichheit der Geister!“ (Ältestes Systemprogramm)
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Europäische Romantik
Die Idee der neuen Mythologie III: Motive der neuen Mythologie
Das religiöse Motiv:
„Soll das höchste Heilige immer namenlos und formlos bleiben, im Dunkel dem Zufall überlassen? Ist
die Liebe wirklich unüberwindlich, und gibt es wohl eine Kunst, die den Namen verdiente, wenn diese
nicht die Gewalt hat, den Geist der Liebe durch ihr Zauberwort zu fesseln, daß er ihr folge und auf ihr
Geheiß und nach ihrer notwendigen Willkür die schönen Bildungen beseelen muß?“ „Einen großen
Vorzug hat die Mythologie. Was sonst das Bewußtsein ewig flieht, ist hier dennoch sinnlich geistig zu
schauen und festgehalten, wie die Seele in dem umgebenden Leibe, durch den sie in unser Auge
schimmert, zu unserm Ohre spricht. […] In ihrem Gewebe ist das Höchste wirklich gebildet“ (Rede
über die Mythologie)
„Zu gleicher Zeit hören wir so oft, der große Haufen müsse eine sinnliche Religion haben. Nicht nur
der große Haufen, auch der Philosoph bedarf ihrer. Monotheismus der Vernunft und des Herzens,
Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst, dies ist’s, was wir bedürfen. […] Ein höherer
Geist, vom Himmel gesandt, muß diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das letzte größte
Werk der Menschheit sein.“ (Ältestes Systemprogramm)
Das diskurstheoretische Motiv:
„Zuletzt die Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit, das Wort in höherem platonischen Sinne
genommen. Ich bin nun überzeugt, daß der höchste Akt der Vernunft, der, in dem sie alle Ideen umfaßt, ein ästhetischer Akt ist und daß Wahrheit und Güte nur in der Schönheit verschwistert sind. […]
Die Poesie bekommt dadurch eine höhere Würde, sie wird am Ende wieder, was sie am Anfang war –
Lehrerin der Menschheit; denn es gibt keine Philosophie, keine Geschichte mehr, die Dichtkunst
allein wird alle übrigen Wissenschaften und Künste überleben.“ (Ältestes Systemprogramm)
„Wenn es nun aber die Kunst allein ist, welcher das, was der Philosoph nur subjektiv darzustellen
vermag, mit allgemeiner Gültigkeit objektiv zu machen gelingen kann, so ist, um noch diesen Schluß
daraus zu ziehen, zu erwarten, daß die Philosophie, so wie sie in der Kindheit der Wissenschaft von
der Poesie geboren und genährt worden ist, und mit ihr alle diejenigen Wissenschaften, welche durch
sie der Vollkommenheit entgegengeführt werden, nach ihrer Vollendung als ebenso viel einzelne
Ströme in den allgemeinen Ocean der Poesie zurückfließen, von welchem sie ausgegangen waren.
Welches aber das Mittelglied der Rückkehr der Wissenschaft zur Poesie seyn werde, ist im Allgemeinen nicht schwer zu sagen, da ein solches Mittelglied in der Mythologie existiert hat, ehe diese, wie
es jetzt scheint, unauflösliche Trennung geschehen ist.“ (Schelling, System des transzendentalen Idealismus, 1800
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Europäische Romantik
Percy Bysshe Shelley (1792-1822)
Aquarell eines unbekannten Künstlers
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Europäische Romantik
Percy Bysshe Shelley, Prometheus Unbound (1819) I
Vorwort:
„I was averse from a catastrophe so feeble as that of reconciling the Champion with the Oppressor
of mankind. The moral interest of the fable, which is so powerfully sustained by the sufferings and
endurance of Prometheus, would be annihilated if we could conceive of him as unsaying his high
language and quailing before his successful and perfidious adversary.“ (264)
Die Rücknahme des Fluchs. Prometheus:
„I hate no more
As then, ere misery made me wise. The curse
Once breathed on thee I would recall.“ (I, 57ff.)
„It doth repent me: words are quick and vain;
Grief for awhile is blind, and so was mine.
I wish no living thing to suffer pain.“ (I, 303ff.)
Der anhaltende Widerstand. Prometheus zu Merkur:
„Submission, thou dost know, I cannot try:
For what submission but that fatal word,
The death-seal of mankind’s captivity –“ (I, 395ff.)
Demogorgon zu Jupiter:
„Descend, and follow me down the abyss.
I am thy child, as thou wert Saturn’s child,
Mightier than thee; and we must dwell together
Henceforth in darkness. Lift thy lightnings not.
The tyranny of Heaven none may retain,
Or reassume, or hold, succeeding thee“ (III, 1, 53ff)
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Europäische Romantik
Percy Bysshe Shelley, Prometheus Unbound (1819) II
Die Veränderungen auf der Erde nach dem Sturz Jupiters:
„Thrones, altars, judgement-seats, and prisons – wherein,
And beside which, by wretched men were borne
Sceptres, tiaras, swords, and chains, and tomes
Of reasoned wrong, glozed on by ignorance –
Were like those monstrous and barbaric shapes,
The ghosts of a no more remembered fame,
Which, from their unworn obelisks, look forth
In triumph o’er the palaces and tombs
Of those who were their conquerors, mouldering round.
These imaged to the pride of kings and priests
A dark yet mighty faith, a power as wide
As is the world it wasted, and are now
But an astonishment; even so the tools
And emblems of its last captivity
Amid the dwellings of the peopled earth,
Stand, not o’erthrown, but unregarded now.“ (III, 4, 164ff.)
Akt IV: Chorus of Spirits:
„And our singing shall build
In the void’s loose field
A world for the Spirit of Wisdom to wield;
We will take our plan
From the new world of man,
And our work shall be called the Promethean.“ (IV, 153ff.)
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Europäische Romantik
Percy Bysshe Shelley, Prometheus Unbound (1819) III: Sprache zwischen Mimesis und
Poiesis, Repräsentation und Produktion
Merkur zu Prometheus:
„there is a secret […]
Clothe it in words“ (I, 371ff.)
Asia über Prometheus:
„He gave man speech, and speech created thought,
Which is the measure of the universe“ (II, 4, 72f.)
Gesang der Erde:
„Language is a perpetual Orphic song,
Ruling with dædal harmony a throng
Of thoughts and forms, which else senseless and shapeless were“ (IV, 415ff.)
Chor der Geister:
„And our singing shall build
In the void’s loose field
A world for the Spirit of Wisdom to wield;
We will take our plan
From the new world of man,
And our work shall be called the Promethean.“ (IV, 153ff.)
Shelley, Queen Mab (1813), Anmerkungen:
„It is probable that the word God was originally only an expression denoting the unknown cause of
the known events which men perceive in the universe. By the vulgar mistake of a metaphor for a
real being, of a word for a thing, it became a man, endowed with human qualities and governing
the universe as an earthly monarch governs his kingdom.“
17
Europäische Romantik
Percy Bysshe Shelley, Prometheus Unbound (1819) IV: Instrumentelles und po(i)etisches
Sprechen
Ideologisches Sprechen (vom Gedanken her). Spirit of the Hour am Ende von Akt III:
„The painted veil, by those who were, called life,
Which mimicked, as with colours idly spread,
All men believed or hoped, is torn aside;
The loathsome mask has fallen, the man remains
Sceptreless, free, uncircumscribed – but man:
Equal, unclassed, tribeless and nationless;
Exempt from awe, worship, degree; the king
Over himself“ (III, 4, 190ff.)
Po(i)etisches Sprechen (von der Sprache her). Asia am Ende von Akt II:
„My soul is an enchanted boat,
Which, like a sleeping swan, doth float
Upon the silver waves of thy sweet singing;
And thine doth like an angel sit
Beside a helm conducting it,
Whilst all the winds with melody are ringing.
It seems to float ever, for ever,
Upon that many-winding river,
Between mountains, woods, abysses,
A paradise of wildernesses!
Till, like one in slumber bound,
Borne to the ocean, I float down, around,
Into a sea profound of ever-spreading sound“ (II, 5, 72ff.)
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Europäische Romantik
Totalitarismus und Partikularismus des Ästhetischen bei P.B. Shelley
Hoffnungen auf die weltverändernde Macht der Poesie:
„The most unfailing herald, companion, and follower of the awakening of a great people to work a
beneficial change in opinion or institution, is Poetry.“ (Defence of Poetry, 1821)
„Poetry turns all things to loveliness […]. It makes us the inhabitants of a world to which the familiar world is a chaos. […] It creates anew the universe.“ (Ebd.)
Zweifel:
An Thomas Love Peacock, 23.-24. Januar 1819: „I consider Poetry very subordinate to moral &
political science, & if I were well, certainly I should aspire to the latter; for I can conceive a great
work, embodying the discoveries of all ages, & harmonising the contending creeds by which mankind have been ruled. Far from me is such attempt & I shall be content by exercising my fancy to
amuse myself & perhaps some others […].“
An Leigh Hunt, [Pisa], 26. Mai 1820: „Have you read my Prometheus yet? but that will not sell –
it is written only for the elect. I confess I am vain enough to like it.“ An John Gisborne, Pisa, 26.
Januar 1822: „Prometheus was never intended for more than 5 or 6 persons.“
„Poets are the unacknowledged legislators of the world“ (Defence of Poetry, 1821).
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Europäische Romantik
Zur Begriffsgeschichte von „romantisch“, „Romantik“, „Romantiker“ (I)
Zur etymologischen Verwandtschaft der Begriffe ,romanisch‘, ,Roman‘ und ,romantisch‘:
afrz. ,romanz‘, ital. ,romanzo‘, span. ,romance‘ = die Volkssprache im Unterschied zum Latein,
d.h. die Gesamtheit aller romanischen Sprachen.
,enromancier‘, ,romanzare‘, ,romançar‘ = Bücher in die Volkssprache übersetzen oder in dieser
verfassen.
,romanz‘, ,romant‘, ,roman‘, ,romance‘, ,romanzo‘ = ein Buch in der Volkssprache
Ernst Robert Curtius: „Im Altfranzösischen bedeutet romant, roman den ,höfischen Versroman‘,
dem Sinne nach: Volksbuch. In lateinischer Rückübersetzung konnte ein solches Buch romanticus
(ergänze liber) genannt werden.“ (41)
Alvaro Pelayo, Speculum regum, geschrieben 1344:
„Et ideo praecepit Dominus […] sanctas scripturas […] legere vel audire et non romanticos in
quibus fabule et mendacia et carnis delectabilia continentur.“ (Zit. bei Curtius, 41)
„Und deshalb schreibt der Herr vor, die heiligen Schriften zu lesen oder zu hören und nicht Romane (oder romantische Bücher, romanticos libros), in denen Fantastereien und Lügengeschichten
und Erotisches enthalten ist.“
Gotthard Heidegger: Mythoscopia Romantica oder Discours von den so benannten Romans,
Zürich 1698, Polemik gegen die „eitelen Romantischen Belustigungen“ der fantastischen
Ritter- und Abenteuerromane mit ihren Lügen und Unwahrscheinlichkeiten
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Europäische Romantik
Zur Begriffsgeschichte von „romantisch“, „Romantik“, „Romantiker“ (II)
Friedrich Schlegel, „Brief über den Roman“, aus: Gespräch über die Poesie (1800):
„Ein Roman ist ein romantisches Buch“ (Rasch, 515)
„Ich habe ein bestimmtes Merkmal des Gegensatzes zwischen dem Antiken [das den Anschluss an
die Mythologie sucht] und dem Romantischen [das ganz auf historischem Grund ruht] aufgestellt.
Indessen bitte ich Sie doch, nun nicht sogleich anzunehmen, daß mir das Romantische und das
Moderne völlig gleich gelte. Ich denke, es ist etwa ebenso verschieden, wie die Gemälde des Raffael und Correggio von den Kupferstichen, die jetzt Mode sind. Wollen Sie sich den Unterschied
völlig klarmachen, so lesen Sie gefälligst etwa die Emilia Galotti, die so unaussprechlich modern und doch im geringsten nicht romantisch ist, und erinnern sich dann an Shakespeare, in
den ich das eigentliche Zentrum, den Kern der romantischen Phantasie setzen möchte. Da suche
und finde ich das Romantische, bei den älteren Modernen, bei Shakespeare, Cervantes, in der
italiänischen Poesie, in jenem Zeitalter der Ritter, der Liebe und der Märchen, aus welchem
die Sache und das Wort selbst herstammt. Dieses ist bis jetzt das einzige, was einen Gegensatz zu
den klassischen Dichtungen des Altertums abgeben kann […].“ (Rasch, 514) „Denn nach meiner
Ansicht und nach meinem Sprachgebrauch ist eben das romantisch, was uns einen sentimentalen
Stoff in einer phantastischen Form darstellt.“ (Ebd., 512)
„Das bunte Allerlei von kränklichem Witz gebe ich zu, aber ich nehme es in Schutz und behaupte
dreist, daß solche Grotesken und Bekenntnisse [wie die Romane Jean Pauls] noch die einzigen
romantischen Erzeugnisse unsers unromantischen Zeitalters sind.“ (Ebd., 50)
Friedrich Schlegel an seinen Bruder August Wilhelm:
Über Ludwig Tieck, Franz Sternbalds Wanderungen (1798): „Ließ nun ja den Sternbald […] Es
ist der erste Roman seit Cervantes der romantisch ist, und darüber weit über Meister. – Dessen
[Tiecks] Styl halte ich auch für romantisch, aber nur im Sternbald, vorher hatte er noch gar keinen
Styl.“ (Walzel, 414)
Über Goethe, Hermann und Dorothea (1797): „Man könnte es ein romantisirtes epos nennen.
Aber freylich in ganz anderem Sinne, als das Romanzo der Italiäner. – Auch wo es am antiksten
und naivsten ist, und am homerischsten scheint, läßt sich doch ein Bewußtseyn, eine Selbstbeschränkung wahrnehmen, die höchst unhomerisch oder vielmehr überhomerisch sind.“ (Ebd., 293)
Friedrich Schlegel, „Brief über den Roman“, aus: Gespräch über die Poesie (1800):
„[…], daß das Romantische nicht sowohl eine Gattung ist als ein Element der Poesie, das mehr
oder minder herrschen und zurücktreten, aber nie ganz fehlen darf. Es muß Ihnen nach meiner Ansicht einleuchtend sein, daß und warum ich fordre, alle Poesie solle romantisch sein, den Roman
aber, insofern er eine besondere Gattung sein will, verabscheue.“ (515)
Friedrich Schlegel, 116. Athenäums-Fragment:
„Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. […] Sie ist der höchsten und der
allseitigsten Bildung fähig; nicht bloß von innen heraus, sondern auch von außen hinein; indem sie
jedem, was ein Ganzes in ihren Produkten sein soll, alle Teile ähnlich organisiert, wodurch ihr die
Aussicht auf eine grenzenlos wachsende Klassizität eröffnet wird.“
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Europäische Romantik
Zur Begriffsgeschichte von „romantisch“, „Romantik“, „Romantiker“ (III)
Novalis, Verstreute Notizen:
„Romantik. Alle Romane, wo wahre Liebe vorkommt, sind Mährchen – magische Begebenheiten.“ (II, 487)
„Romantik. Sollte nicht der Roman alle Gattungen des Styls in einer durch den gemeinsamen
Geist verschiedentlich gebundenen Folge begreifen?“ (II, 504)
„Romant[ik] etc. Märchen. Nessir und Zulima. Romantisirung der Aline. Novellen. Tausend und
Eine Nacht. Dschinnistan. La Belle et la Bète. Musaeus Volksmärchen. Romantischer Geist der
neuern Romane. Meister. Werther.“ (II, 514)
„Der Romantiker studirt das Leben, wie der Mahler, Musiker und Mechaniker Farbe, Ton und
Kraft. Sorgfältiges Studium des Lebens macht den Romantiker, wie sorgfältiges Studium von Farbe, Gestaltung, Ton, und Kraft den Mahler, Musiker und Mechaniker.“ (II, 708)
„Die Welt muß romantisirt werden. So findet man den urspr[ünglichen] Sinn wieder.
Romantisiren ist nichts, als eine qualit[ative] Potenzirung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern selbst in dieser Operation identificirt. So wie wir selbst eine solche qualit[ative] Potenzenreihe sind. Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn,
dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten,
dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es – Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche – dies wird durch diese Verknüpfung
logarythmisirt – Es bekommt einen geläufigen Ausdruck. romantische Philosophie. Lingua romana. Wechselerhöhung und Erniedrigung.“ (Vorarbeiten 1798, II, 334)
22
Europäische Romantik
Zur Begriffsgeschichte von „romantisch“, „Romantik“, „Romantiker“ (IV)
Bedeutungen von „romantisch“ um 1800 (in Bezug auf Sprache und Literatur):
1. Verwendung i. S. von „romanisch“ als Bezeichnung für die Tochtersprachen des Lateinischen
und die in diesen Sprachen geschriebenen Werke, bes. die von Dante bis Tasso
2. Verwendung i.S. von „abenteuerlich“, „fantastisch“, „unglaublich“, da die in den Volkssprachen verfassten Romane (z.B. der Ritterroman) mit Vorliebe entsprechende Inhalte gestalteten.
3. Verwendung i.S. von „nicht-klassisch“, „nicht-klassizistisch“, da die in den romanischen Volksprachen verfassten Werke sich nichtklassischer Versmaße (Dante benutzt die Terzine; Ariost und
Tasso verwenden die Stanze) oder gar der Prosa (Cervantes verzichtet in seinem Ritterroman ganz
auf den Vers) bedienten.
In übertragener (nicht primär auf Sprache und Literatur bezogener) Bedeutung:
4. in Bezug auf Landschaften, zuerst seit den 1660er Jahren in England belegt
5. in Bezug auf Menschen, Dinge, Vorstellungen, Stimmungen, Zeiten, Zustände
ad 4:
Horace Walpole an Richard West, 1739, während einer Alpenreise:
„From a hamlet among the mountains of Savoy […] Precipices, mountains, torrents, wolves, rumblings, Salvator Rosa [1615-1673] […] Here we are, the lonely lords of glorious desolate prospects […] Yesterday I was a shepherd of Dauphiné, today an Alpine savage; tomorrow a Carthusian monk […] We rode three leagues to see the Grande Chartreuse […] The building […] has
nothing remarkable but its primitive simplicity […] But the road, West, the road! winding round a
prodigious mountain, and surrounded with others, all shagged with hanging woods, obscured with
pines, or lost in clouds! Below, a torrent breaking through cliffs, and tumbling through fragments
of rocks! Sheets of cascades forcing their silver speed down channelled precipices, and hasting
into the roughened river at the bottom! Now and then an old foot-bridge, with a broken rail, a leaning cross, a cottage, or the ruin of an hermitage! This sounds too bombast and too romantic to one
that has not seen it, too cold for one that has. If I could send you my letter post between two lovely
tempests that echoed each other’s wrath, you might have some idea of this noble roaring scene, as
you were reading it. Almost on the summit, upon a fine verdure, but without any prospect, stands
the Chartreuse. We staid there two hours, rode back through this charming picture, wished for a
painter, wished to be poets! Need I tell you we wished for you? Good night!“
Goethe, Maximen und Reflexionen, 1823:
„Das sogenannte Romantische einer Gegend ist ein stilles Gefühl des Erhabenen unter der
Form der Vergangenheit oder, was gleich lautet, der Einsamkeit, Abwesenheit, Abgeschiedenheit.“ (1823; XII, 488)
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Europäische Romantik
Zur Begriffsgeschichte von „romantisch“, „Romantik“, „Romantiker“ (V)
Horace Walpole an Richard West, 1739, während einer Alpenreise:
„From a hamlet among the mountains of Savoy […] Precipices, mountains, torrents, wolves, rumblings, Salvator Rosa [1615-1673] […] Here we are, the lonely lords of glorious desolate prospects […] Yesterday I was a shepherd of Dauphiné, today an Alpine savage; tomorrow a Carthusian monk […] We rode three leagues to see the Grande Chartreuse […] The building […] has
nothing remarkable but its primitive simplicity […] But the road, West, the road! winding round a
prodigious mountain, and surrounded with others, all shagged with hanging woods, obscured with
pines, or lost in clouds! Below, a torrent breaking through cliffs, and tumbling through fragments
of rocks! Sheets of cascades forcing their silver speed down channelled precipices, and hasting
into the roughened river at the bottom! Now and then an old foot-bridge, with a broken rail, a leaning cross, a cottage, or the ruin of an hermitage! This sounds too bombast and too romantic to one
that has not seen it, too cold for one that has. If I could send you my letter post between two lovely
tempests that echoed each other’s wrath, you might have some idea of this noble roaring scene, as
you were reading it. Almost on the summit, upon a fine verdure, but without any prospect, stands
the Chartreuse. We staid there two hours, rode back through this charming picture, wished for a
painter, wished to be poets! Need I tell you we wished for you? Good night!“
Salvator Rosa (1615-1673), River Landscape with Apollo and the Cumean Sibyl
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Europäische Romantik
Zur Begriffsgeschichte von „romantisch“, „Romantik“, „Romantiker“ (VI)
Friedrich Schlegel, Lucinde, „Charakteristik der kleinen Wilhelmine“:
„Die Blüten aller Dinge jeglicher Art flicht Poesie in einen leichten Kranz und so nennt und reimt
auch Wilhelmine Gegenden, Zeiten, Begebenheiten, Personen, Spielwerke und Speisen, alles
durcheinander in romantischer Verwirrung, so viel Worte so viel Bilder; und das ohne alle Nebenbestimmungen und künstlichen Übergänge, die am Ende doch nur dem Verstande frommen
und jeden kühneren Schwung der Fantasie hemmen.“
Clemens Brentano, Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter. Ein verwilderter Roman
(1801/02), Zweiter Teil, Achtes Kapitel:
„Alles, was zwischen unserm Auge und einem entfernten zu Sehenden als Mittler steht, uns den
entfernten Gegenstand nähert, ihm aber zugleich etwas von dem Seinigen mitgiebt, ist romantisch.“ (258) „Das Romantische ist also ein Perspectiv oder vielmehr die Farbe des Glases und
die Bestimmung des Gegenstandes durch die Form des Glases.“ (258f.) Das romantische
Kunstwerk ist eines, das „seinen Gegenstand nicht allein bezeichnet, sondern seiner Bezeichnung
selbst noch ein Kolorit giebt“ (260). „Das Romantische selbst ist eine Übersetzung“ (262).
ad. 5: „romantisch“ in Bezug auf Menschen, Dinge, Vorstellungen, Stimmungen, Zeiten,
Zustände:
Novalis, Brief an den Vater, 9.2. 1793:
„Mir wird die Subordination, die Ordnung, die Einförmigkeit, die Geistlosigkeit des Militairs sehr
dienlich seyn. Hier wird meine Fantasie das Kindische, Jugendliche verlieren, was ihr anhängt und
gezwungen seyn sich nach den festen Regeln eines Systems zu richten. Der Romantische
Schwung wird in dem alltäglichen, sehr unromantischen Gange meines Lebens viel von seinem schädlichen Einfluß auf meine Handlungen verlieren, und nichts wird mir übrigbleiben,
als ein dauerhafter, schlichter bonsens, der für unsre modernen Zeiten den angemessensten, natürlichsten Gesichtspunkts darbietet.“ (I, 526)
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Europäische Romantik
Zur Begriffsgeschichte von „romantisch“, „Romantik“, „Romantiker“ (VII)
Konsolidierung des Begriffs als Epochenbegriff und Begriff für eine literarisch-künstlerische
Schule durch Fremdzuschreibungen:
Johann Heinrich Voß, Karfunkel oder Klingklingelalmanach. Ein Taschenbuch für vollendete Romantiker und angehende Mystiker. Im Jahre des Heils 1819
Heinrich Heine, Die romantische Schule, 1836: „Was war aber die romantische Schule in Deutschland? / Sie war nichts anders als die Wiedererweckung der Poesie des Mittelalters, wie sie sich in
dessen Liedern, Bild- und Bauwerken, in Kunst und Leben manifestiert hatte. Diese Poesie aber
war aus dem Christentume hervorgegangen, sie war eine Passionsblume, die dem Blute Christi
entsprossen.“
26
Europäische Romantik
Novalis, Heinrich von Ofterdingen (1799/1800) (I)
Zum Fragmentstatus des Textes. Nur äußere oder auch innere Gründe? Aus dem Dichtergespräch des 8. Kapitels zwischen Heinrich und Klingsohr:
„Kann ein Gegenstand zu überschwänglich für die Poesie seyn?
Allerdings. Nur kann man im Grunde nicht sagen, für die Poesie, sondern nur für unsere irdischen
Mittel und Werkzeuge. Wenn es schon für einen einzelnen Dichter nur ein eigenthümliches Gebiet
giebt, innerhalb dessen er bleiben muß, um nicht alle Haltung und den Athem zu verlieren: so
giebt es auch für die ganze Summe menschlicher Kräfte eine bestimmte Grenze der Darstellbarkeit, über welche hinaus die Darstellung die nöthige Dichtigkeit und Gestaltung nicht behalten
kann, und in ein leeres täuschendes Unding sich verliert.“ (I, 333)
Zum Sinn des Unternehmens:
An Ludwig Tieck in Jena, 23. Februar 1800: „Mein Roman ist in vollem Gange. […] Es werden 2
Bände werden – der Erste ist in 3 Wochen hoffentlich fertig. Er enthält die Andeutungen und das
Fußgestell des 2ten Theils. Das Ganze soll eine Apotheose der Poësie seyn. Heinrich von Afterdingen wird im 1sten Theile zum Dichter reif – und im Zweyten, als Dichter verklärt. er wird
mancherley Aehnlichkeiten mit dem Sternbald haben – nur nicht die Leichtigkeit.“ (I, 732)
Aus den Notizen zum 2. Teil: „Hinten wunderbare Mythologie.“ (I, 396) „Hinten die
Poëtisirung der Welt – Herstellung der Märchenwelt. Aussöhnung der kristlichen Relig[ion]
mit der heydnischen. […] Das ganze Menschengeschlecht wird am Ende poëtisch. Neue goldne
Zeit.“ (I, 397)
Zur Gattungsmischung:
An Friedrich Schlegel über den Ofterdingen, 5. April 1800: „Es sollte mir lieb seyn, wenn ihr Roman und Märchen in einer glücklichen Mischung zu bemerken glaubtet, und der erste Theil
euch eine noch innigere Mischung im 2ten Theile profezeyhte. Der Roman soll allmählich in
Märchen übergehn.“ (I, 740)
Zum Roman überhaupt im Allgemeinen Brouillon, 1798/99: „Romantik. Sollte nicht der Roman
alle Gattungen des Styls in einer durch den gemeinsamen Geist verschiedentlich gebundenen
Folge begreifen?“ (II, 504) Vgl. Friedrich Schlegel: „Ja, ich kann mir einen Roman kaum anders
denken, als gemischt aus Erzählung, Gesang und anderen Formen“ (Gespräch über die Poesie,
1800)
27
Europäische Romantik
Novalis, Heinrich von Ofterdingen (1799/1800) (II)
Zur Technik des Romans:
Klingsohr im 8. Kap.: „Die Poesie will vorzüglich […] als strenge Kunst getrieben werden.“ (I,
330) „Begeisterung ohne Verstand ist unnütz und gefährlich, und der Dichter wird wenig
Wunder thun können, wenn er selbst über Wunder erstaunt. […] Der junge Dichter kann
nicht kühl, nicht besonnen genug seyn.“ (I, 329) „Ich will euch mit Freuden in dem Handwerksmäßigen unserer Kunst unterrichten“ (I, 330)
In den Berliner Papieren zum Ofterdingen-Projekt: „Die entferntesten und verschiedenartigsten
Sagen und Begebenheiten verknüpft. Dies ist eine Erfindung von mir.“ (I, 396) Notizen
1799/1800: „Die Schreibart des Romans muß kein Continuum – es muß ein in jeden Perioden gegliederter Bau seyn. Jedes kleine Stück muß etwas abgeschnittnes – begränztes – ein eignes
Ganzes seyn.“ (II, 758)
Das Verknüpfen zugleich ein Auseinanderlegen, die „Vertheilung Einer Individualitaet auf
mehrere Personen“ (I, 396). „Darstellung eines Gegenstandes in Reihen – (Variationsreihen –
Abänderungen etc.). So z.B. die Personendarstellung in Meister, die schöne Seele und Nathalie“
(II, 419). „Alle Menschen sind Variationen Eines vollständigen Individuums, d.h. einer Ehe.
Ein Variationen Accord ist eine Familie – wozu jede innig verbundene Gesellschaft zu rechnen ist.
Wenn eine so einfache Variation, wie Nathalie und die schöne Seele, schon ein so tiefes Wohlgefühl erregt, wie unendlich muß das Wohlgefühl dessen seyn der das Ganze in seiner mächtigen
Symphonie vernimmt?“ (II, 354)
Vgl. etwa die „Variationsreihe“: die blaue Blume in den Erzählungen des Fremden (240) – die
blaue Blume im Traum Heinrichs (242) – die Blume im Traum des Vaters (247) – Mathilde, das
Gesicht im Kelch (325) – ein Gesicht im Buch des Einsiedlers (325) – der sichtbare Geist des Gesanges (325) – Prinzessin von Atlantis, die sichtbare Seele jener herrlichen Kunst (260) – Edda,
die eigentliche blaue Blume (399)
Poetik der Analogie:
Der Einsiedler im 5. Kapitel: „Der eigentliche Sinn für die Geschichten der Menschen entwickelt
sich erst spät, und mehr unter den stillen Einflüssen der Erinnerung, als unter den gewaltsameren
Eindrücken der Gegenwart. Die nächsten Ereignisse scheinen nur locker verknüpft, aber sie
sympathisiren desto wunderbarer mit entfernteren; und nur dann, wenn man im Stande ist, eine lange Reihe zu übersehn und weder alles buchstäblich zu nehmen, noch auch mit muthwilligen
Träumen die eigentliche Ordnung zu verwirren, bemerkt man die geheime Verkettung des Ehemaligen und Künftigen, und lernt die Geschichte aus Hoffnung und Erinnerung zusammensetzen.“ (I, 304f.) „Wenn ich alles recht bedenke, so scheint mir, als wenn ein Geschichtschreiber
nothwendig auch ein Dichter seyn müßte, denn nur die Dichter mögen sich auf jene Kunst, Begebenheiten schicklich zu verknüpfen, verstehn. In ihren Erzählungen und Fabeln habe ich mir
großem Vergnügen ihr zartes Gefühl für den geheimnisvollen Geist des Lebens bemerkt. Es ist
mehr Wahrheit in ihren Mährchen, als in gelehrten Chroniken.“ (I, 306)
28
Europäische Romantik
Novalis, Heinrich von Ofterdingen (1799/1800) (III)
Das Buch im Buch: Die Spiegelung der Literatur in der Wirklichkeit. Heinrich in der Höhle
des Einsiedlers im 5. Kapitel:
„Endlich fiel ihm ein Buch in die Hände, das in einer fremden Sprache geschrieben war, die ihm
einige Ähnlichkeit mit der Lateinischen und Italienischen zu haben schien. Er hätte sehnlichst gewünscht, die Sprache zu kennen, denn das Buch gefiel ihm vorzüglich ohne daß er eine Sylbe davon verstand. Es hatte keinen Titel, doch fand er noch beym Suchen einige Bilder. Sie dünkten
ihm ganz wunderbar bekannt, und wie er recht zusah entdeckte er seine eigene Gestalt ziemlich
kenntlich unter den Figuren. Er erschrack und glaubte zu träumen, aber beym wiederhohlten
Ansehn konnte er nicht mehr an der vollkommenen Ähnlichkeit zweifeln. Er traute kaum seinen
Sinnen, als er bald auf einem Bilde die Höhle, den Einsiedler und den Alten neben sich entdeckte.
Allmählich fand er auf den andern Bildern die Morgenländerinn, seine Eltern, den Landgrafen und
die Landgräfinn von Thüringen, seinen Freund den Hofkaplan, und manche Andere seiner Bekannten; doch waren ihre Kleidungen verändert und schienen aus einer andern Zeit zu seyn. Eine
große Menge Figuren wußte er nicht zu nennen, doch däuchten sie ihm bekannt. Er sah sein Ebenbild in verschiedenen Lagen. Gegen das Ende kam er sich größer und edler vor. Die Guitarre ruhte
in seinen Armen, und die Landgräfinn reichte ihm einen Kranz. Er sah sich am kayserlichen Hofe,
zu Schiffe, in tauter Umarmung mit einem schlanken lieblichen Mädchen, in einem Kampfe mit
wildaussehenden Männern, und in freundlichen Gesprächen mit Sarazenen und Mohren. Ein Mann
von ernstem Ansehn kam häufig in seiner Gesellschaft vor. Er fühlte tiefe Ehrfurcht vor dieser hohen Gestalt, und war froh sich Arm in Arm mit ihm zu sehn. Die letzten Bilder waren dunkel und
unverständlich; doch überraschten ihn einige Gestalten seines Traumes mit dem innigsten Entzükken; der Schluß des Buches schien zu fehlen. Heinrich war sehr bekümmert, und wünschte nichts
sehnlicher, als das Buch lesen zu können, und vollständig zu besitzen. Er betrachtete die Bilder zu
wiederholten Malen und war bestürzt, wie er die Gesellschaft zurückkommen hörte. Eine wunderliche Schaam befiel ihn. Er getraute sich nicht, seine Entdeckung merken zu lassen, machte das
Buch zu, und fragte den Einsiedler nur obenhin nach dem Titel und der Sprache desselben, wo er
denn erfuhr, daß es in provenzalischer Sprache geschrieben sey. Es ist lange, daß ich es gelesen
habe, sagte der Einsiedler. Ich kann mich nicht genau mehr des Inhalts entsinnen. Soviel ich weiß,
ist es ein Roman von den wunderbaren Schicksalen eines Dichters, worinn die Dichtkunst in
ihren mannichfachen Verhältnissen dargestellt und gepriesen wird. Der Schuß fehlt an dieser
Handschrift, die ich aus Jerusalem mitgebracht habe, wo ich sie in der Verlassenschaft eines
Freundes fand, und zu seinem Andenken aufhob.“ (I, 312f.)
29
Europäische Romantik
Die Romantisierung der Welt
Horace Walpole an Richard West, 1739, während einer Alpenreise:
„From a hamlet among the mountains of Savoy […] Precipices, mountains, torrents, wolves, rumblings, Salvator Rosa [1615-1673] […] Here we are, the lonely lords of glorious desolate prospects […] Yesterday I was a shepherd of Dauphiné, today an Alpine savage; tomorrow a Carthusian monk […] We rode three leagues to see the Grande Chartreuse […] The building […] has
nothing remarkable but its primitive simplicity […] But the road, West, the road! winding round a
prodigious mountain, and surrounded with others, all shagged with hanging woods, obscured with
pines, or lost in clouds! Below, a torrent breaking through cliffs, and tumbling through fragments
of rocks! Sheets of cascades forcing their silver speed down channelled precipices, and hasting
into the roughened river at the bottom! Now and then an old foot-bridge, with a broken rail, a leaning cross, a cottage, or the ruin of an hermitage! This sounds too bombast and too romantic to one
that has not seen it, too cold for one that has. If I could send you my letter post between two lovely
tempests that echoed each other’s wrath, you might have some idea of this noble roaring scene, as
you were reading it. Almost on the summit, upon a fine verdure, but without any prospect, stands
the Chartreuse. We staid there two hours, rode back through this charming picture, wished for a
painter, wished to be poets! Need I tell you we wished for you? Good night!“
Vgl. Logan P. Smith, Four Romantic Words (in: ders., Words and Idioms, 1925, 66-134), 82:
„Just as romantic means Nature seen through a literary medium, so picturesque was used to
describe scenes that were like pictures, and were seen through the medium of […] painting.“
Vgl. die im 18. Jahrhundert beliebten „Claude-Glasses“
Clemens Brentano, Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter. Ein verwilderter Roman
(1801/02), Zweiter Teil, Achtes Kapitel:
„Alles, was zwischen unserm Auge und einem entfernten zu Sehenden als Mittler steht, uns den
entfernten Gegenstand nähert, ihm aber zugleich etwas von dem Seinigen mitgiebt, ist romantisch.“ (258) „Das Romantische ist also ein Perspectiv oder vielmehr die Farbe des Glases und
die Bestimmung des Gegenstandes durch die Form des Glases.“ (258f.) Das romantische
Kunstwerk ist eines, das „seinen Gegenstand nicht allein bezeichnet, sondern seiner Bezeichnung
selbst noch ein Kolorit giebt“ (260). „Das Romantische selbst ist eine Übersetzung“ (262).
Novalis, Notizen 1798:
„Die Welt muß romantisirt werden. So findet man den urspr[ünglichen] Sinn wieder.
Romantisiren ist nichts, als eine qualit[ative] Potenzirung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern selbst in dieser Operation identificirt. So wie wir selbst eine solche qualit[ative] Potenzenreihe sind. Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn,
dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten,
dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es – Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche – dies wird durch diese Verknüpfung
logarythmisirt – Es bekommt einen geläufigen Ausdruck. romantische Philosophie. Lingua romana. Wechselerhöhung und Erniedrigung.“ (II, 334)
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Europäische Romantik
Die Romantisierung der Welt
William Wordsworth, Preface to Lyrical Ballads, 1800:
„The principal object, then, proposed in these Poems was to choose incidents and situations from
common life, and to relate or describe them, throughout, as far as was possible in a selection of language really used by men, and, at the same time, to throw over them a certain colouring of imagination, whereby ordinary things should be presented to the mind in an unusual aspect; and, further,
and above all, to make these incidents and situations interesting by tracing in them, truly though not
ostentatiously, the primary laws of our nature: chiefly, as far as regards the manner in which we associate ideas in a state of excitement.“
Claude Glass, Manufactured in England, 18th century
Claude Lorrain (1600-1682), Hirte, Öl auf Leinwand
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Europäische Romantik
Die Romantisierung der Welt
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Europäische Romantik
Von Novalis zu E.T.A. Hoffmann
Heinrich Heine, Die romantische Schule
(1836): Zur Gegenüberstellung von Hoffmann und Novalis:
„Was war aber die romantische Schule in
Deutschland? / Sie war nichts anders als
die Wiedererweckung der Poesie des Mittelalters, wie sie sich in dessen Liedern,
Bild- und Bauwerken, in Kunst und Leben
manifestiert hatte. Diese Poesie aber war
aus dem Christentume hervorgegangen, sie
war eine Passionsblume, die dem Blute
Christi entsprossen.“ (Erstes Buch, Anfang)
Novalis (1772-1801), Stahlstich von F.E. Eichens (1845)
„Hoffmann gehört nicht zu der romantischen Schule. Er stand in keiner Berührung
mit den Schlegeln und noch viel weniger
mit ihren Tendenzen. Ich erwähnte seiner
hier nur im Gegensatz zu Novalis, der ganz
eigentlich ein Poet aus jener Schule ist.
[…] Die eigentlichen Geistreichen und die
poetischen Naturen wollten nichts von ihm
wissen. Diesen war der Novalis viel lieber.
Aber, ehrlich gestanden, Hoffmann war als
Dichter viel bedeutender als Novalis. Denn
letzterer, mit seinen idealischen Gebilden,
schwebt immer in der blauen Luft, während Hoffmann, mit allen seinen bizarren
Fratzen, sich doch immer an der irdischen
Realität festklammert. Wie aber der Riese
Antäus unbezwingbar stark blieb, wenn er
mit dem Fuße die Mutter Erde berührte,
und seine Kraft verlor, sobald ihn Herkules
in die Höhe hob, so ist auch der Dichter
stark und gewaltig, solange er den Boden
der Wirklichkeit nicht verläßt, und er wird
ohnmächtig, sobald er schwärmerisch in
der blauen Luft umherschwebt.“ (Zweites
Buch, Kap. IV)
E.T.A. Hoffmann (1776-1822), Undatiertes Selbstbildnis
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Europäische Romantik
Magische Augengläser und Spiegel. Optische Instrumente bei E.T.A. Hoffmann
Celionati in Die Prinzessin Brambilla (1820):
„Aber vermögt ihr den assyrischen Prinzen, Cornelio Chiapperi, zu entdecken, wenn er euch vor
der Nase steht? – Ja! – vermöget ihr die durchlauchtigste Prinzessin zu erschauen, wenn sie dicht
vor euch wandelt? – Nein, das vermöget ihr nicht, wenn ihr euch nicht der Brillen bedient, die
der weise indische Magier Ruffiamonte selbst geschliffen“ (III, 526)
Nathanaels bewehrter Blick in Der Sandmann (1816):
„Da trat aber Coppola vollends in die Stube und sprach mit heiserem Ton, indem sich das weite
Maul zum häßlichen Lachen verzog und die kleinen Augen unter den grauen langen Wimpern stechend hervorfunkelten: »Ei, nix Wetterglas, nix Wetterglas! – hab auch sköne Oke – sköne Oke!«
– Entsetzt rief Nathanael: »Toller Mensch, wie kannst du Augen haben? – Augen – Augen? –«
Aber in dem Augenblick hatte Coppola seine Wettergläser beiseite gesetzt, griff in die weiten
Rocktaschen und holte Lorgnetten und Brillen heraus, die er auf den Tisch legte. – »Nu – Nu –
Brill' – Brill' auf der Nas' zu setze, das sein meine Oke – sköne Oke!« – Und damit holte er immer
mehr und mehr Brillen heraus, so daß es auf dem ganzen Tisch seltsam zu flimmern und zu funkeln begann. […] Er [Nathanael] ergriff ein kleines, sehr sauber gearbeitetes Taschenperspektiv
und sah, um es zu prüfen, durch das Fenster. Noch im Leben war ihm kein Glas vorgekommen,
das die Gegenstände so rein, scharf und deutlich dicht vor die Augen rückte. Unwillkürlich sah er
hinein in Spalanzanis Zimmer; Olimpia saß, wie gewöhnlich, vor dem kleinen Tisch, die Arme
darauf gelegt, die Hände gefaltet. – Nun erschaute Nathanael erst Olimpias wunderschön geformtes Gesicht. Nur die Augen schienen ihm gar seltsam starr und tot. Doch wie er immer schärfer
und schärfer durch das Glas hinschaute, war es, als gingen in Olimpias Augen feuchte Mondesstrahlen auf. Es schien, als wenn nun erst die Sehkraft entzündet würde; immer lebendiger und
lebendiger flammten die Blicke. […] Ach! – da wurde er gewahr, wie sie voll Sehnsucht nach ihm
herübersah, wie jeder Ton erst deutlich aufging in dem Liebesblick, der zündend sein Inneres
durchdrang.“
Der smaragdene Spiegel des Archivarius Lindhorst im Goldenen Topf (1814)
„der Archivarius ließ ihn nicht zu Worte kommen, sondern zog schnell den Handschuh von der
linken Hand herunter, und indem er den in wunderbaren Funken und Flammen blitzenden Stein eines Ringes dem Studenten vor die Augen hielt, sprach er: »Schauen Sie her, werter Herr
Anselmus, Sie können darüber, was Sie erblicken, eine Freude haben.« Der Student Anselmus
schaute hin, und, o Wunder! der Stein warf wie aus einem brennenden Fokus Strahlen ringsumher,
und die Strahlen verspannen sich zum hellen leuchtenden Kristallspiegel, in dem in mancherlei
Windungen, bald einander fliehend, bald sich ineinander schlingend, die drei goldgrünen
Schlänglein tanzten und hüpften.“
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Europäische Romantik
E.T.A. Hoffmann, Der goldene Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit (1814)
Die Unglückfälle des Studenten Anselmus
„Erste Vigilie
Die Unglücksfälle des Studenten Anselmus. – Des Konrektors Paulmann Sanitätsknaster und die
goldgrünen Schlangen.
Am Himmelfahrtstage, nachmittags um drei Uhr, rannte ein junger Mensch in Dresden durchs
Schwarze Tor und geradezu in einen Korb mit Äpfeln und Kuchen hinein, die ein altes häßliches
Weib feilbot, so daß alles, was der Quetschung glücklich entgangen, hinausgeschleudert wurde,
und die Straßenjungen sich lustig in die Beute teilten, die ihnen der hastige Herr zugeworfen. Auf
das Zetergeschrei, das die Alte erhob, verließen die Gevatterinnen ihre Kuchen- und Branntweintische, umringten den jungen Menschen und schimpften mit pöbelhaftem Ungestüm auf ihn hinein,
so daß er, vor Ärger und Scham verstummend, nur seinen kleinen, nicht eben besonders gefüllten
Geldbeutel hinhielt, den die Alte begierig ergriff und schnell einsteckte. Nun öffnete sich der festgeschlossene Kreis, aber indem der junge Mensch hinausschoß, rief ihm die Alte nach: »Ja renne –
renne nur zu, Satanskind – ins Kristall bald dein Fall – ins Kristall!« – Die geltende, krächzende
Stimme des Weibes hatte etwas Entsetzliches, so daß die Spaziergänger verwundert stillstanden,
und das Lachen, das sich erst verbreitet, mit einemmal verstummte. – Der Student Anselmus (niemand anders war der junge Mensch) fühlte sich, unerachtet er des Weibes sonderbare Worte
durchaus nicht verstand, von einem unwillkürlichen Grausen ergriffen, und er beflügelte noch
mehr seine Schritte, um sich den auf ihn gerichteten Blicken der neugierigen Menge zu entziehen.
[…].“
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Europäische Romantik
E.T.A. Hoffmann, Der goldene Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit (1814)
Anselmus unter dem Holunderbaum. Der Einbruch des Wunderbaren: Einbildung oder
Realität? Inspiration oder Verführung?
„Erste Vigilie
[…] Hier wurde der Student Anselmus in seinem Selbstgespräche durch ein sonderbares Rieseln
und Rascheln unterbrochen, das sich dicht neben ihm im Grase erhob, bald aber in die Zweige und
Blätter des Holunderbaums hinaufglitt, der sich über seinem Haupte wölbte. Bald war es, als
schüttle der Abendwind die Blätter, bald, als kos'ten Vögelein in den Zweigen, die kleinen Fittiche
im mutwilligen Hin- und Herflattern rührend. – Da fing es an zu flüstern und zu lispeln, und es
war, als ertönten die Blüten wie aufgegangene Kristallglöckchen. Anselmus horchte und horchte.
Da wurde, er wußte selbst nicht wie, das Gelispel und Geflüster und Geklingel zu leisen halbverwehten Worten:
»Zwischendurch – zwischenein – zwischen Zweigen, zwischen schwellenden Bluten, schwingen,
schlängeln, schlingen wir uns – Schwesterlein – Schwesterlein, schwinge dich im Schimmer –
schnell, schnell herauf – herab – Abendsonne schießt Strahlen, zischelt der Abendwind – raschelt
der Tau – Blüten singen – rühren wir Zünglein, singen wir mit Blüten und – weigen – Sterne bald
glänzen – müssen herab – zwischendurch, zwischenein schlängeln, schlingen, schwingen wir uns
Schwesterlein.« –
So ging es fort in Sinne verwirrender Rede. Der Student Anselmus dachte: »Das ist denn doch
nur der Abendwind, der heute mit ordentlich verständlichen Worten flüstert.« – Aber in dem
Augenblick ertönte es über seinem Haupte wie ein Dreiklang heller Kristallglocken; er schaute
hinauf und erblickte drei in grünem Gold erglänzende Schlänglein, die sich um die Zweige gewikkelt hatten und die Köpfchen der Abendsonne entgegenstreckten. Da flüsterte und lispelte es von
neuem in jenen Worten, und die Schlänglein schlüpften und kos'ten auf und nieder durch die Blätter und Zweige, und wie sie sich so schnell rührten, da war es, als streue der Holunderbusch tausend funkelnde Smaragde durch seine dunklen Blätter. »Das ist die Abendsonne, die so in dem
Holunderbusch spielt«, dachte der Student Anselmus, aber da ertönten die Glocken wieder, und
Anselmus sah, wie eine Schlange ihr Köpfchen nach ihm herabstreckte. Durch alle Glieder fuhr es
ihm wie ein elektrischer Schlag, er erbebte im Innersten – er starrte hinauf, und ein paar herrliche
dunkelblaue Augen blickten ihn an mit unaussprechlicher Sehnsucht, so daß ein nie gekanntes Gefühl der höchsten Seligkeit und des tiefsten Schmerzes seine Brust zersprengen wollte. Und wie er
voll heißen Verlangens immer in die holdseligen Augen schaute, da ertönten stärker in lieblichen
Akkorden die Kristallglocken, und die funkelnden Smaragde fielen auf ihn herab und umspannen
ihn, in tausend Flämmchen um ihn herflackernd und spielend mit schimmernden Goldfaden. Der
Holunderbusch rührte sich und sprach: »Du lagst in meinem Schatten, mein Duft umfloß dich,
aber du verstandest mich nicht. Der Duft ist meine Sprache, wenn ihn die Liebe entzündet.« Der
Abendwind strich vorüber und sprach: »Ich umspielte deine Schläfe, aber du verstandest mich
nicht, der Hauch ist meine Sprache, wenn ihn die Liebe entzündet.« Die Sonnenstrahlen brachen
durch das Gewölk, und der Schein brannte wie in Worten: »Ich umgoß dich mit glühendem Gold,
aber du verstandest mich nicht; Glut ist meine Sprache, wenn sie die Liebe entzündet.«“
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Europäische Romantik
E.T.A. Hoffmann, Der goldene Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit (1814)
Perspektivwechsel
Achte Vigilie: „[…] Der Student Anselmus erstaunte aufs neue über die wunderbare Herrlichkeit
des Gartens, aber er sah nun deutlich, daß manche seltsame Blüten, die an den dunkeln Büschen
hingen, eigentlich in glänzenden Farben prunkende Insekten waren, die mit den Flüglein auf und
nieder schlugen und, durcheinander tanzend und wirbelnd, sich mit ihren Saugrüsseln zu liebkosen
schienen. Dagegen waren wieder die rosenfarbnen und himmelblauen Vögel duftende Blumen,
und der Geruch, den sie verbreiteten, stieg aus ihren Kelchen empor in leisen lieblichen Tönen, die
sich mit dem Geplätscher der fernen Brunnen, mit dem Säuseln der hohen Stauden und Bäume zu
geheimnisvollen Akkorden einer tiefklagenden Sehnsucht vermischten.“
Neunte Vigilie: „Als er nun mittags durch den Garten des Archivarius Lindhorst ging, konnte er
sich nicht genug wundern, wie ihm das alles sonst so seltsam und wundervoll habe vorkommen
können. Er sah nichts als gewöhnliche Scherbenpflanzen, allerlei Geranien, Myrtenstöcke u. dergl.
Statt der glänzenden bunten Vögel, die ihn sonst geneckt, flatterten nur einige Sperlinge hin und
her, die ein unverständliches unangenehmes Geschrei erhoben, als sie den Anselmus gewahr wurden. Das blaue Zimmer kam ihm auch ganz anders vor, und er begriff nicht, wie ihm das grelle
Blau und die unnatürlichen goldnen Stämme der Palmbäume mit den unförmlichen blinkenden
Blättern nur einen Augenblick hatten gefallen können.“
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Europäische Romantik
E.T.A. Hoffmann, Der goldene Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit (1814)
Der Märchenschluss: Anselmus’ Versetzung ins Zauberreich Atlantis
Zwölfte Vigilie: „Rühren sich nicht in sanftem Säuseln und Rauschen die smaragdenen Blätter der
Palmbäume, wie vom Hauch des Morgenwindes geliebkost? – Erwacht aus dem Schlafe, heben
und regen sie sich und flüstern geheimnisvoll von den Wundern, die wie aus weiter Ferne holdselige Harfentöne verkünden! – Das Azur löst sich von den Wänden und wallt wie duftiger Nebel
auf und nieder, aber blendende Strahlen schießen durch den Duft, der sich wie in jauchzender kindischer Lust wirbelt und dreht und aufsteigt bis zur unermeßlichen Höhe, die sich über den Palmbäumen wölbt. – Aber immer blendender häuft sich Strahl auf Strahl, bis in hellem Sonnenglanze
sich der unabsehbare Hain aufschließt, in dem ich den Anselmus erlicke. – […] sehnsuchtsvoll
schaut Anselmus nach dem herrlichen Tempel, der sich in weiter Ferne erhebt. Die künstlichen
Säulen scheinen Bäume und die Kapitäler und Gesimse Akanthusblätter, die in wundervollen Gewinden und Figuren herrliche Verzierungen bilden. Anselmus schreitet dem Tempel zu, er betrachtet mit innerer Wonne den bunten Marmor, die wunderbar bemoosten Stufen. »Ach nein,«
ruft er wie im Übermaß des Entzückens, »sie ist nicht mehr fern!« Da tritt in hoher Schönheit und
Anmut Serpentina aus dem Innern des Tempels, sie trägt den goldnen Topf, aus dem eine herrliche Lilie entsprossen. Die namenlose Wonne der unendlichen Sehnsucht glüht in den holdseligen
Augen, so blickt sie den Anselmus an, sprechend: »Ach, Geliebter! die Lilie hat ihren Kelch erschlossen – das Höchste ist erfüllt, gibt es denn eine Seligkeit, die der unsrigen gleicht?«
Anselmus umschlingt sie mit der Inbrunst des glühendsten Verlangens – die Lilie brennt in flammenden Strahlen über seinem Haupte. Und lauter regen sich die Bäume und die Büsche, und heller
und freudiger jauchzen die Quellen – die Vögel – allerlei bunte Insekten tanzen in den Luftwirbeln
– ein frohes, freudiges, jubelndes Getümmel in der Luft – in den Wässern – auf der Erde feiert das
Fest der Liebe!“
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Europäische Romantik
E.T.A. Hoffmann, Der goldene Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit (1814)
Der tragische Schluss
Neunte Vigilie, Schluss: „»Wahnsinniger! erleide nun die Strafe dafür, was du im frechen Frevel
tatest!« – So rief die fürchterliche Stimme des gekrönten Salamanders, der über den Schlangen wie
ein blendender Strahl in den Flammen erschien, und nun sprühten ihre aufgesperrten Rachen
Feuer-Katarakte auf den Anselmus, und es war, als verdichteten sich die Feuerströme um seinen
Körper und würden zur festen eiskalten Masse. Aber indem des Anselmus Glieder, enger und enger sich zusammenziehend, erstarrten, vergingen ihm die Gedanken. Als er wieder zu sich selbst
kam, konnte er sich nicht regen und bewegen, er war wie von einem glänzenden Schein umgeben,
an dem er sich, wollte er nur die Hand erheben oder sonst sich rühren, stieß. – Ach! er saß in einer
wohlverstopften Kristallflasche auf einem Repositorium im Bibliothekzimmer des Archivarius
Lindhorst.“
Zehnte Vigilie: „Der Student Anselmus wurde gewahr, daß neben ihm auf demselben Repositorium noch fünf Flaschen standen, in welchen er drei Kreuzschüler und zwei Praktikanten erblickte.
– »Ach, meine Herren und Gefährten im Unglück«, rief er aus, »wie ist es Ihnen denn möglich, so
gelassen, ja so vergnügt zu sein, wie ich es an Ihren heitern Mienen bemerke? – Sie sitzen ja doch
ebenso gut eingesperrt in gläsernen Flaschen als ich und können sich nicht regen und bewegen, ja
nicht einmal was Vernünftiges denken, ohne daß ein Mordlärm entsteht mit Klingen und Schallen,
und ohne daß es Ihnen im Kopfe ganz schrecklich saust und braust. Aber Sie glauben gewiß nicht
an den Salamander und an die grüne Schlange.« »Sie faseln wohl, mein Herr Studiosus,« erwiderte
ein Kreuzschüler, »nie haben wir uns besser befunden als jetzt, denn die Speziestaler, welche wir
von dem tollen Archivarius erhalten für allerlei konfuse Abschriften, tun uns wohl; wir dürfen jetzt
keine italienische Chöre mehr auswendig lernen, wir gehen jetzt alle Tage zu Josephs oder sonst in
andere Kneipen, lassen uns das Doppelbier wohlschmecken, sehen auch wohl einem hübschen
Mädchen in die Augen, singen wie wirkliche Studenten ›gaudeamus igitur‹ und sind seelenvergnügt.« – »Die Herren haben ganz recht,« fiel ein Praktikant ein, »auch ich bin mit Speziestalern
reichlich versehen, wie hier mein teurer Kollege nebenan, und spaziere fleißig auf den Weinberg,
statt bei der leidigen Aktenschreiberei zwischen vier Wänden zu sitzen.« »Aber meine besten, wertesten Herren!« sagte der Student Anselmus, »spüren Sie es denn nicht, daß Sie alle samt und sonders in gläsernen Flaschen sitzen und sich nicht regen und bewegen, viel weniger umherspazieren
können?« – Da schlugen die Kreuzschüler und die Praktikanten eine helle Lache auf und schrieen:
»Der Studiosus ist toll, er bildet sich ein, in einer gläsernen Flasche zu sitzen, und steht auf der
Elbbrücke und sieht gerade hinein ins Wasser. Gehen wir nur weiter!«“
„»Anselmus,« sprach der Geisterfürst, »nicht du, sondern nur ein feindliches Prinzip, das zerstörend in dein Inneres zu dringen und dich mit dir selbst zu entzweien trachtete, war schuld an deinem Unglauben. – Du hast deine Treue bewährt, sei frei und glücklich.« Ein Blitz zuckte durch das
Innere des Anselmus, der herrliche Dreiklang der Kristallglocken ertönte stärker und mächtiger,
als er ihn je vernommen – seine Fibern und Nerven erbeben – aber immer mehr anschwellend,
dröhnte der Akkord durch das Zimmer, das Glas, welches den Anselmus umschlossen, zersprang, und er stürzte in die Arme der holden, lieblichen Serpentina.“
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Europäische Romantik
Samuel Taylor Coleridge (1772-1834)
S. T. Coleridge, ca. 1795, Maler unbekannt
BIOGRAPHIA LITERARIA (1817), Chapter XIV
„Occasion of the Lyrical Ballads, and the objects originally proposed--Preface to the second edition-The ensuing controversy, its causes and acrimony--Philosophic definitions of a poem and poetry with
scholia.
During the first year that Mr. Wordsworth and I were neighbours, our conversations turned frequently
on the two cardinal points of poetry, the power of exciting the sympathy of the reader by a faithful
adherence to the truth of nature, and the power of giving the interest of novelty by the modifying
colours of imagination. The sudden charm, which accidents of light and shade, which moon-light or
sun-set diffused over a known and familiar landscape, appeared to represent the practicability of combining both. These are the poetry of nature. The thought suggested itself (to which of us I do not
recollect) that a series of poems might be composed of two sorts. In the one, the incidents and agents
were to be, in part at least, supernatural; and the excellence aimed at was to consist in the interesting
of the affections by the dramatic truth of such emotions as would naturally accompany such situations,
supposing them real. And real in this sense they have been to every human being who, from whatever
source of delusion, has at any time believed himself under supernatural agency. For the second class,
subjects were to be chosen from ordinary life; the characters and incidents were to be such, as will be
found in every village and its vicinity, where there is a meditative and feeling mind to seek after them,
or to notice them, when they present themselves.
In this idea originated the plan of the 'Lyrical Ballads'; in which it was agreed, that my endeavours
should be directed to persons and characters supernatural, or at least romantic, yet so as to transfer from our inward nature a human interest and a semblance of truth sufficient to procure for these
shadows of imagination that willing suspension of disbelief for the moment, which constitutes poetic
faith. Mr. Wordsworth on the other hand was to propose to himself as his object, to give the
charm of novelty to things of every day, and to excite a feeling analogous to the supernatural, by
awakening the mind's attention from the lethargy of custom, and directing it to the loveliness and the
wonders of the world before us; an inexhaustible treasure, but for which in consequence of the film of
familiarity and selfish solicitude we have eyes, yet see not, ears that hear not, and hearts that neither
feel nor understand.“
Vgl. Novalis’ Idee vom Wechselspiel zwischen romantisierend-verfremdender Potenzierung des Bekannten und vertrautmachender Logarithmisierung des Unbekannten.
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Europäische Romantik
Samuel Coleridge, The Rime of the Ancient Mariner (1798)
Die Rahmengeschichte:
Part I
„It is an ancient Mariner,
And he stoppeth one of three.
`By thy long beard and glittering eye,
Now wherefore stopp'st thou me?
The Bridegroom's doors are opened wide,
And I am next of kin;
The guests are met, the feast is set:
May'st hear the merry din.'
He holds him with his skinny hand,
`There was a ship,' quoth he.
`Hold off! unhand me, grey-beard loon!'
Eftsoons his hand dropt he.
He holds him with his glittering eye-The Wedding-Guest stood still,
And listens like a three years' child:
The Mariner hath his will.
The Wedding-Guest sat on a stone :
He cannot choose but hear;
And thus spake on that ancient man,
The bright-eyed Mariner.
[…]“
Abbildungen von Gustave Doré
Part VII
„[…]
The Mariner, whose eye is bright,
Whose beard with age is hoar,
Is gone: and now the Wedding-Guest
Turned from the bridegroom's door.
He went like one that hath been stunned,
And is of sense forlorn:
A sadder and a wiser man,
He rose the morrow morn.“
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Europäische Romantik
Samuel Coleridge, The Rime of the Ancient Mariner (1798)
Die Binnengeschichte: die Erzählung des alten Seemanns
Part I
„[…]
And now the STORM-BLAST came, and he
Was tyrannous and strong:
He struck with his o'ertaking wings,
And chased us south along.
With sloping masts and dipping prow,
As who pursued with yell and blow
Still treads the shadow of his foe,
And forward bends his head,
The ship drove fast, loud roared the blast,
The southward aye we fled.
And now there came both mist and snow,
And it grew wondrous cold:
And ice, mast-high, came floating by,
As green as emerald.
And through the drifts the snowy clifts
Did send a dismal sheen:
Nor shapes of men nor beasts we ken-The ice was all between.
The ice was here, the ice was there,
The ice was all around:
It cracked and growled, and roared and howled,
Like noises in a swound!
[…]“
Abbildungen von Gustave Doré
Europäische Romantik
Samuel Coleridge, The Rime of the Ancient Mariner (1798)
Der Albatros
Part I
„[…]
At length did cross an Albatross,
Thorough the fog it came;
As if it had been a Christian soul,
We hailed it in God's name.
It ate the food it ne'er had eat,
And round and round it flew.
The ice did split with a thunder-fit;
The helmsman steered us through!
And a good south wind sprung up behind;
The Albatross did follow,
And every day, for food or play,
Came to the mariner's hollo!
In mist or cloud, on mast or shroud,
It perched for vespers nine;
Whiles all the night, through fog-smoke white,
Glimmered the white Moon-shine.'
`God save thee, ancient Mariner!
From the fiends, that plague thee thus!-Why look'st thou so?'--With my cross-bow
I shot the ALBATROSS.“
Abbildungen von Gustave Doré
Europäische Romantik
Samuel Coleridge, The Rime of the Ancient Mariner (1798)
Der Seemann im Urteil seiner Kameraden
Part II
„[…]
And I had done an hellish thing,
And it would work 'em woe:
For all averred, I had killed the bird
That made the breeze to blow.
Ah wretch! said they, the bird to slay,
That made the breeze to blow!
Nor dim nor red, like God's own head,
The glorious Sun uprist:
Then all averred, I had killed the bird
That brought the fog and mist.
'Twas right, said they, such birds to slay,
That bring the fog and mist.
[…]“
Abbildung von Gustave Doré
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Europäische Romantik
Samuel Coleridge, The Rime of the Ancient Mariner (1798)
Die Begegnung mit dem Todesschiff
Part III
„[…]
The western wave was all a-flame.
The day was well nigh done!
Almost upon the western wave
Rested the broad bright Sun;
When that strange shape drove suddenly
Betwixt us and the Sun.
And straight the Sun was flecked with bars,
(Heaven's Mother send us grace!)
As if through a dungeon-grate he peered
With broad and burning face.
Alas! (thought I, and my heart beat loud)
How fast she nears and nears!
Are those her sails that glance in the Sun,
Like restless gossameres?
And those her ribs through which the Sun
Did peer, as through a grate?
And is that Woman all her crew?
Is that a DEATH? and are there two?
Is DEATH that woman's mate?
Her lips were red, her looks were free,
Her locks were yellow as gold:
Her skin was as white as leprosy,
The Night-mare LIFE-IN-DEATH was she,
Who thicks man's blood with cold.
The naked hulk alongside came,
And the twain were casting dice;
`The game is done! I've won! I've won!'
Quoth she, and whistles thrice.
[…]“
Abbildungen von Gustave Doré
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Europäische Romantik
Samuel Coleridge, The Rime of the Ancient Mariner (1798)
Der Tod der Kameraden
Part III
„[…]
One after one, by the star-dogged Moon,
Too quick for groan or sigh,
Each turned his face with a ghastly pang,
And cursed me with his eye.
Four times fifty living men,
(And I heard nor sigh nor groan)
With heavy thump, a lifeless lump,
They dropped down one by one.
The souls did from their bodies fly,-They fled to bliss or woe!
And every soul, it passed me by,
Like the whizz of my cross-bow!“
Abbildung von Gustave Doré
Europäische Romantik
Samuel Coleridge, The Rime of the Ancient Mariner (1798)
Die Entdeckung der Schönheit der Natur
Part IV
„[…]
The moving Moon went up the sky,
And no where did abide:
Softly she was going up,
And a star or two beside-[…]
Beyond the shadow of the ship,
I watched the water-snakes :
They moved in tracks of shining white,
And when they reared, the elfish light
Fell off in hoary flakes.
Within the shadow of the ship
I watched their rich attire:
Blue, glossy green, and velvet black,
They coiled and swam; and every track
Was a flash of golden fire.
O happy living things! no tongue
Their beauty might declare:
A spring of love gushed from my heart,
And I blessed them unaware:
Sure my kind saint took pity on me,
And I blessed them unaware.
The self-same moment I could pray;
And from my neck so free
The Albatross fell off, and sank
Like lead into the sea.“
Abbildungen von Gustave Doré
47
Europäische Romantik
Samuel Coleridge, The Rime of the Ancient Mariner (1798)
Part VII
„[…]
The boat came closer to the ship,
But I nor spake nor stirred;
The boat came close beneath the ship,
And straight a sound was heard.
Under the water it rumbled on,
Still louder and more dread:
It reached the ship, it split the bay;
The ship went down like lead.
Stunned by that loud and dreadful sound,
Which sky and ocean smote,
Like one that hath been seven days drowned
My body lay afloat;
But swift as dreams, myself I found
Within the Pilot's boat.
Upon the whirl, where sank the ship,
The boat spun round and round;
And all was still, save that the hill
Was telling of the sound.
I moved my lips--the Pilot shrieked
And fell down in a fit;
The holy Hermit raised his eyes,
And prayed where he did sit.
I took the oars: the Pilot's boy,
Who now doth crazy go,
Laughed loud and long, and all the while
His eyes went to and fro.
`Ha! ha!' quoth he, `full plain I see,
The Devil knows how to row.'
Abbildung von Gustave Doré
[…]“
48
Europäische Romantik
Gérard de Nerval (1808-1855)
Gérard de Nerval, Aufnahme von Nadar
49
Europäische Romantik
Gérard de Nerval, Aurélia ou Le Rêve et la Vie (1855) I
Première partie, Abschnitt I, Anfang:
„Le Rêve est une seconde vie. Je n’ai pu percer sans frémir ces portes d’ivoire ou de corne qui
nous séparent du monde invisible.* Les premiers instants du sommeil sont l’image de la mort; un
engourdissement nébuleux saisit notre pensée, et nous ne pouvons déterminer l’instant précis où le
moi, sous une autre forme continue l’œuvre de l’existence. C’est un souterrain vague qui
s’éclaire peu à peu et où se dégagent de l’ombre et de la nuit les pâles figures gravement immobiles qui habitent le séjour des limbes. Puis le tableau se forme, une clarté nouvelle illumine et fait
jouer ces apparitions bizarres; – le monde des Esprits s’ouvre pour nous.“ (123)
Seconde partie, Abschnitt VI, Ende:
„"Pourquoi, lui dis-je, ne veux-tu pas manger et boire comme les autres? – C’est que je suis mort,
dit-il; j’ai été enterré dans tel cimetière, à telle place...– Et maintenant, où crois-tu être? – En purgatoire, j’accomplis mon expiation." / Telles sont les idées bizarres que donnent ces sortes de maladies; je reconnus en moi-même que je n’avais pas été loin d’une si étrange persuasion. Les soins
que j’avais reçus m’avaient déjà rendu à l’affection de ma famille et de mes amis, et je pouvais juger plus sainement le monde d’illusions où j’avais quelque temps vécu. Toutefois, je me sens
heureux des convictions que j’ai acquises, et je compare cette série d’épreuves que j’ai traversées à
ce qui pour les anciens, représentait l’idée d’une descente aux enfers.“ (191f.)
*Vgl. Homer, Odyssee, 19, 560ff.: „Es gibt doch dunkle, unerklärbare Träume, / Denn es sind, wie
man sagt, zwo Pforten der nichtigen Träume; / Eine von Elfenbein, die andere von Horne gebauet.
/ Welche nun aus der Pforte von Elfenbeine herausgehn, / Diese täuschen den Geist durch lügenhafte Verkündung; / Andere, die aus der Pforte von glattem Horne hervorgehn, / Deuten
Wirklichkeit an, wenn sie dem Menschen erscheinen.“
50
Europäische Romantik
Gérard de Nerval, Aurélia ou Le Rêve et la Vie (1855) II
Das Motiv der Suche
Die Suche nach der Geliebten, nach Verzeihung, nach Gott:
I/1: „Une dame que j’avais aimée longtemps et que j’appellerai du nom d’Aurélia, était perdue
pour moi. Peu importe les circonstances de cet événement qui devait avoir une si grande influence sur ma vie. Chacun peut chercher dans ses souvenirs l’émotion la plus navrante, le coup le
plus terrible frappé sur l’âme par le destin; il faut alors se résoudre à mourir ou à vivre: – je dirai
plus tard pourquoi je n’ai pas choisi la mort. Condamné par celle que j’aimais, coupable d’une
faute dont je n’espérais plus le pardon, il ne me restait qu’à me jeter dans les enivrements vulgaires […].“ (124)
I/2: „J’y crus voir le pardon du passé; l’accent divin de la pitié donnait aux simples paroles
qu’elle m’adressa une valeur inexprimable, comme si quelque chose de la religion se mêlait aux
douceurs d’un amour jusque-là profane, et lui imprimait le caractère de l’éternité.“ (126)
II/2: „il me sembla reconnaître A***. […] et je me dis: Est-ce possible? reviendrait-elle à moi?
,M’avez-vous pardonné? demandais-je avec larmes.‘ Mais tout avait disparu. […] Une certaine
heure sonna... Je me dis: Il est trop tard! Des voix me répondirent: Elle est perdue! […] Elle est
perdue! m’écriai-je, et pourquoi?... Je comprends, – elle a fait un dernier effort pour me sauver; –
j’ai manqué le moment suprême où le pardon était possible encore.“ (163)
II/4: „Désespéré, je me dirigeai en pleurant vers Notre-Dame de Lorette, où j’allai me jeter au pied
de l’autel de la Vierge, demandant pardon pour mes fautes. Quelque chose en moi me disait: La
Vierge est morte et tes prières sont inutiles.“ (170)
II/5: „J’ai fait une faute, et je ne pouvais découvrir laquelle en consultant ma mémoire […].“
(174f.)
II/6: „J’inscris ici, sous le titre de Mémorables, les impressions de plusieurs rêves […] Oh! que ma
grande amie [Aurélia] est belle! Elle est si grande qu’elle pardonne au monde, – et si bonne qu’elle
m’a pardonné. […] Je sors d’un rêve bien doux: j’ai revu celle que j’avais aimée transfigurée et
radieuse. Le ciel s’est ouvert dans toute sa gloire, et j’y ai lu le mot pardon signé du sang de
Jésus-Christ.“ (186f.)
51
Europäische Romantik
Gérard de Nerval, Aurélia ou Le Rêve et la Vie (1855) III
Der Analogismus
Aurélia – die frühverstorbene Mutter des Erzählers – die Gottesmutter Maria – die Göttin Isis
– ein Stern – eine Blume („myosotis“, Vergißmeinnicht) – der eigene Tod
I/2: „,Où vas-tu? me dit-il. – Vers l’Orient!‘ Et pendant qu’il m’accompagnait, je me mis à chercher dans le ciel une Etoile, que je croyais connaître, comme si elle avait quelque influence sur ma
destinée. L’ayant trouvée, je continuai ma marche en suivant les rues dans la direction desquelles
elle était visible, marchant pour ainsi dire au-devant de mon destin, et voulant apercevoir l’étoile
jusqu’au moment où la mort devait me frapper. […] Non! disais-je, je n’appartiens pas à ton ciel.
Dans cette étoile sont ceux qui m’attendent. Ils sont antérieurs à la révélation que tu as annoncée. Laisse-moi les rejoindre, car celle que j’aime leur appartient [Aurélia!], et c’est là que nous
devons nous retrouver!“ (128)
II/5: „Pendant mon sommeil, j’eus une vision merveilleuse. Il me semblait que la déesse
m’apparaissait, me disant: ,Je suis la même que Marie, la même que ta mère, la même aussi que
sous toutes les formes tu as toujours aimée. A chacune de tes épreuves j’ai quitté l’un des
masques dont je voile mes traits, et bientôt tu me verras telle que je suis.‘“ (174)
II/6: „Cette nuit-là j’eus un rêve délicieux […] une des étoiles que je voyais au ciel se mit à grandir, et la divinité de mes rêves m’apparut souriante, dans un costume indien, telle que je l’avais
vue autrefois.“ (184f.)
II/6: „Le langage de mes compagnons avait des tours mystérieux dont je comprenais le sens, les
objets sans forme et sans vie se prêtaient eux-mêmes aux calculs de mon esprit; – des combinaisons de cailloux, des figures d’angles, de fentes ou d’ouvertures, des découpures de feuilles, des
couleurs, des odeurs et des sons je voyais ressortir des harmonies jusqu’alors inconnues. "Comment, me disais-je, ai-je pu exister si longtemps hors de la nature et sans m’identifier à elle? Tout
vit, tout agit, tout se correspond; les rayons magnétiques émanés de moi-même ou des autres
traversent sans obstacle la chaîne infinie des choses créées; c’est un réseau transparent qui couvre
le monde, et dont les fils déliés se communiquent de proche en proche aux planètes et aux étoiles.
Captif en ce moment sur la terre, je m’entretiens avec le chœur des astres, qui prend part à mes
joies et à mes douleurs!"“ (178f.)
52
Europäische Romantik
Gérard de Nerval, Aurélia ou Le Rêve et la Vie (1855) IV
Der Perspektivismus I
I/1: „Le Rêve est une seconde vie. Je n’ai pu percer sans frémir ces portes d’ivoire ou de corne
qui nous séparent du monde invisible. Les premiers instants du sommeil sont l’image de la mort;
un engourdissement nébuleux saisit notre pensée, et nous ne pouvons déterminer l’instant précis
où le moi, sous une autre forme continue l’œuvre de l’existence. C’est un souterrain vague qui
s’éclaire peu à peu et où se dégagent de l’ombre et de la nuit les pâles figures gravement immobiles qui habitent le séjour des limbes. Puis le tableau se forme, une clarté nouvelle illumine et fait
jouer ces apparitions bizarres; – le monde des Esprits s’ouvre pour nous.“ (123)
I/3: „Ici a commencé pour moi ce que j’appellerai l’épanchement du songe dans la vie réelle. A
dater de ce moment, tout prenait parfois un aspect double, – et cela, sans que le raisonnement
manquât jamais de logique, sans que la mémoire perdit les plus légers détails de ce qui m’arrivait.
Seulement mes actions, insensées en apparence, étaient soumises à ce que l’on appelle illusion, selon la raison humaine...[…] / Si je ne pensais que la mission d’un écrivain est d’analyser sincèrement ce qu’il éprouve dans les graves circonstances de la vie, et si je ne me proposais un but que je
crois utile, je m’arrêterais ici, et je n’essayerais pas de décrire ce que j’éprouvai ensuite dans une
série de visions insensées peut-être, ou vulgairement maladives... Etendu sur un lit de camp, je
crus voir le ciel se dévoiler et s’ouvrir en mille aspects de magnificences inouïes. Le destin de
l’Ame délivrée semblait se révéler à moi comme pour me donner le regret d’avoir voulu reprendre
pied de toutes les forces de mon esprit sur la terre que j’allais quitter... D’immenses cercles se traçaient dans l’infini, comme les orbes que forme l’eau troublée par la chute d’un corps. Chaque région peuplée de figures radieuses, se colorait, se mouvait et se fondait tour à tour, et une divinité,
toujours la même, rejetait en souriant les masques furtifs de ses diverses incarnations, et se réfugiait enfin, insaisissable, dans les mystiques splendeurs du ciel d’Asie. / Cette vision céleste, par
un de ces phénomènes que tout le monde a pu éprouver dans certains rêves, ne me laissait pas
étranger à ce qui se passait autour de moi. Couché sur un lit de camp, j’entendais que les soldats
s’entretenaient d’un inconnu arrêté comme moi et dont la voix avait retenti dans la même salle. Par
un singulier effet de vibration, il me semblait que cette voix résonnait dans ma poitrine et que mon
âme se dédoublait pour ainsi dire, – distinctement partagée entre la vision et la réalité. Un instant j’eus l’idée de me retourner avec effort vers celui dont il était question, puis je frémis en me
rappelant une tradition bien connue en Allemagne, qui dit que chaque homme a un double, et que
lorsqu’il le voit, la mort est proche. – Je fermai les yeux et j’entrai dans un état d’esprit confus où
les figures fantasques ou réelles qui m’entouraient se brisaient en mille apparences fugitives. Un
instant je vis près de moi deux de mes amis qui me réclamaient, les soldats me désignèrent; puis la
porte s’ouvrit, et quelqu’un de ma taille, dont je ne voyais pas la figure, sortit avec mes amis que je
rappelais en vain. "Mais on se trompe! m’écriais-je; c’est moi qu’ils sont venus chercher et c’est
un autre qui sort!" Je fis tant de bruit, que l’on me mit au cachot. / J’y restai plusieurs heures dans
une sorte d’abrutissement; enfin, les deux amis que j’avais cru voir déjà vinrent me chercher avec
une voiture. Je leur racontai tout ce qui s’était passé, mais ils nièrent être venus dans la nuit. […]
Je fus transporté dans une maison de santé.“
53
Europäische Romantik
Gérard de Nerval, Aurélia ou Le Rêve et la Vie (1855) V
Der Perspektivismus II
I/4, Anfang: „Un soir, je crus avec certitude être transporté sur les bords du Rhin. En face de moi
se trouvaient des rocs sinistres dont la perspective s’ébauchait dans l’ombre. J’entrai dans une maison riante, dont un rayon du soleil couchant traversait gaiement les contrevents verts que festonnait
la vigne. Il me semblait que je rentrais dans une demeure connue, celle d’un oncle maternel,
peintre flamand, mort depuis plus d’un siècle. Les tableaux ébauchés étaient suspendus çà et là;
l’un d’eux représentait la fée célèbre de ce rivage. Une vieille servante, que j’appelai Marguerite et
qu’il me semblait connaître depuis l’enfance, me dit: "N’allez-vous pas vous mettre sur le lit? car
vous venez de loin, et votre oncle rentrera tard; on vous réveillera pour souper." Je m’étendis sur
un lit à colonnes drapé de perse à grandes fleurs rouges. Il y avait en face de moi une horloge rustique accrochée au mur, et sur cette horloge un oiseau qui se mit à parler comme une personne. Et
j’avais l’idée que l’âme de mon aïeul était dans cet oiseau; mais je ne m’étonnais pas plus de son
langage et de sa forme que de me voir transporté comme d’un siècle en arrière. L’oiseau me parlait
de personnes de ma famille vivantes ou mortes en divers temps, comme si elles existaient simultanément […].“ (131f.)
I/4, Ende: „comme si les murs de la salle se fussent ouverts sur des perspectives infinies, il me
semblait voir une chaîne non interrompue d’hommes et de femmes en qui j’étais et qui étaient
moi-même; les costumes de tous les peuples, les images de tous les pays apparaissaient distinctement à la fois, comme si mes facultés d’attention s’étaient multipliées sans se confondre, par un
phénomène d’espace analogue à celui du temps qui concentre un siècle d’action dans une minute
de rêve. Mon étonnement s’accrut en voyant que cette immense énumération se composait seulement des personnes qui se trouvaient dans la salle et dont j’avais vu les images se diviser et se
combiner en mille aspects fugitifs. / - Nous sommes sept, dis-je à mon oncle. / - C’est en effet, ditil, le nombre typique de chaque famille humaine, et, par extension, sept fois sept, et davantage* /
Je ne puis espérer de faire comprendre cette réponse, qui pour moi-même est restée très obscure.“
(134f.)
„*Sept était le nombre de la famille de Noé, mais l’un des sept se rattachait mystérieusement aux
générations antérieures des Eloïm!... / ... L’imagination, comme un éclair, me représenta les dieux
multiples de l’Inde comme des images de la famille pour ainsi dire primitivement concentrée. Je
frémis d’aller plus loin, car dans la Trinité réside encore un mystère redoutable... Nous sommes
nés sous la loi biblique... “ (135)
II/6: „Je m’imaginai d’abord que les personnes réunies dans ce jardin avaient toutes quelque influence sur les astres, et que celui qui tournait sans cesse dans le même cercle y réglait la marche
du soleil. Un vieillard, que l’on amenait à certaines heures du jour et qui faisait des nœuds en consultant sa montre, m’apparaissait comme chargé de constater la marche des heures. Je
m’attribuai à moi-même une influence sur la marche de la lune, et je crus que cet astre avait reçu
un coup de foudre du Tout-Puissant qui avait tracé sur sa face l’empreinte du masque que j’avais
remarquée.“ (176f.)
54
Europäische Romantik
Gérard de Nerval, Aurélia ou Le Rêve et la Vie (1855) VI
Die Aufgabe der Schrift
I/1: „Swedenborg appelait ces visions Memorabilia; il les devait à la rêverie plus souvent qu’au
sommeil; L’Âne d’or d’Apulée, La Divine Comédie de Dante, sont les modèles poétiques de ces
études de l’âme humaine. Je vais essayer, à leur exemple, de transcrire les impressions d’une
longue maladie qui s’est passée tout entière dans les mystères de mon esprit“ (123)
II/6: „Je voulus avoir un signe matériel de l’apparition qui m’avait consolé, et j’écrivis sur le
mur ces mots: ,Tu m’as visité cette nuit.‘ / J’inscris ici, sous le titre de Mémorables, les impressions de plusieurs rêves“ (185).
55
Europäische Romantik
Friedrich Schlegel (1772-1829)
Friedrich Schlegel, Gemälde von Franz Gareis,
entstanden 1798 in Dresden
Wichtige Schriften der frühromantischen Phase:
Über das Studium der griechischen Poesie (1795)
Lyceums-Fragmente (1797)
Athenäums-Fragmente (1797/98)
Lucinde. Ein Roman (1799)
Gespräch über die Poesie (1800)
56
Europäische Romantik
Friedrich Schlegel, Poetik I
Die Idee der Kunstautonomie:
„Eine Philosophie der Poesie überhaupt aber würde mit der Selbständigkeit des Schönen beginnen, mit dem Satz, daß es vom Wahren und Sittlichen getrennt sei und getrennt sein solle, und
daß es mit diesem gleiche Rechte habe […].“ (Ath. 252)
„Streng genommen ist der Begriff eines wissenschaftlichen Gedichts wohl so widersinnig, wie
der einer dichterischen Wissenschaft.“ (Lyc. 61)
„Wie die Menschen lieber groß handeln mögen, als gerecht: so wollen auch die Künstler veredeln
und belehren.“ (Lyc. 58)
„Die romantische Poesie […] allein ist unendlich, wie sie allein frei ist und das als ihr oberstes
Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide.“ (Ath. 116)
„Die Poesie ist eine republikanische Rede; eine Rede, die ihr eignes Gesetz und ihr eigner
Zweck ist, wo alle Teile freie Bürger sind, und mitstimmen dürfen.“ (Lyc. 65)
Grenzverwischung zwischen Poesie und Kritik, Poesie und Poetik: ,Gespräch‘ und ,Fragment‘
als (poetische) Formen poetologischer Reflexion:
„Poesie kann nur durch Poesie kritisiert werden. Ein Kunsturteil, welches nicht selbst ein
Kunstwerk ist, entweder im Stoff, als Darstellung des notwendigen Eindrucks in seinem Werden,
oder durch eine schöne Form, und einen im Geist der alten römischen Satire liberalen Ton, hat gar
kein Bürgerrecht im Reiche der Kunst.“ (Lyc. 117)
„[…] so läßt sich auch eigentlich nicht reden von der Poesie als nur in Poesie. / Die Ansicht
eines jeden von ihr [der Poesie] ist wahr und gut, insofern sie selbst Poesie ist. Da nun aber seine
Poesie, eben weil es die seine ist, beschränkt sein muß, so kann auch seine Ansicht der Poesie
nicht anders als beschränkt sein. […] Darum geht der Mensch, sicher sich selbst immer wieder
zu finden, [im Gespräch, W.E.] immer von neuem aus sich heraus, um die Ergänzung seines
innersten Wesens in der Tiefe eines fremden zu suchen und zu finden. Das Spiel der Mitteilung
und der Annäherung ist das Geschäft und die Kraft des Lebens, absolute Vollkommenheit ist nur
im Tode.“ (Gespräch über die Poesie, Rasch, 474)
Zur Idee von Gesprächen über die Charaktere im Wilhelm Meister: „Gespräche müßten es sein,
um schon durch die Form alle Einseitigkeit zu verbannen. Denn wenn ein Einzelner nur aus
dem Standpunkt seiner Eigentümlichkeit über jede dieser Personen räsonierte und ein moralisches
Gutachten fällte, das wäre wohl die unfruchtbarste unter allen möglichen Arten, den Wilhelm Meister anzusehn; und man würde am Ende nicht mehr daraus lernen, als daß der Redner über diese
Gegenstände so, wie es nun lautete, gesinnt sei.“ (Über Goethes Meister, Rasch, 469)
„Ein Dialog ist eine Kette oder ein Kranz von Fragmenten.“ (Ath. 77)
57
Europäische Romantik
Friedrich Schlegel, Poetik II
Zur Theorie des Fragments:
„Ein Dialog ist eine Kette oder ein Kranz von Fragmenten.“ (Ath. 77)
„Ein Fragment muß gleich einem kleinen Kunstwerk von der umgebenden Welt ganz abgesondert und in sich selbst vollendet sein wie ein Igel.“ (Ath. 206)
„Der Sinn für Projekte, die man Fragmente aus der Zukunft nennen könnte, ist von dem Sinn für
Fragmente aus der Vergangenheit nur durch die Richtung verschieden, die bei ihm progressiv,
bei jenem aber regressiv ist. Das Wesentliche ist die Fähigkeit, Gegenstände unmittelbar zugleich
zu idealisieren und zu realisieren, zu ergänzen und teilweise in sich auszuführen.“ (Ath. 22)
„Viele Werke der Alten sind Fragmente geworden. Viele Werke der Neuern sind es gleich bei
der Entstehung.“ (Ath. 24)
„Viele Werke, deren schöne Verkettung man preist, haben weniger Einheit als ein bunter Haufen
von Einfällen [wie z.B. die Schlegelschen Fragmente!], die nur vom Geiste eines Geistes belebt,
nach einem Ziele zielen. Diese verbindet doch jenes freie und gleiche Beisammensein, worin
sich auch die Bürger des vollkommenen Staats, nach der Versicherung der Weisen, dereinst befinden werden; jener unbedingt gesellige Geist, welcher nach der Anmaßung der Vornehmen jetzt
nur in dem gefunden wird, was man so seltsam und beinahe kindisch große Welt zu nennen pflegt.
Manches Erzeugnis hingegen, an dessen Zusammenhang niemand zweifelt, ist, wie der Künstler
sehr wohl weiß, kein Werk, sondern nur Bruchstück, eins oder mehrere, Masse, Anlage.“ (Lyc.
103)
„Alle
[poetischen] Fragm.[ente] müssen irgendwo Theile eines Ganzen sein.“ (KA XVI, 154)
„Soll beides gleich gut gemacht werden, so ist es unstreitig viel schwerer behaupten, als beweisen.“ (Ath. 82)
Zur Rechtfertigung des Fragments: „Um über einen Gegenstand gut schreiben zu können, muß
man sich nicht mehr für ihn interessieren; der Gedanke, den man mit Besonnenheit ausdrücken
soll, muß schon gänzlich vorbei sein, einen nicht mehr eigentlich beschäftigen. Solange der Künstler erfindet und begeistert ist, befindet er sich für die Mitteilung wenigsten in einem illiberalen Zustande. Er wird dann alles sagen wollen; welches eine falsche Tendenz junger Genies, oder ein
richtiges Vorurteil alter Stümper ist. Dadurch verkennt er den Wert und die Würde der Selbstbeschränkung, die doch für den Künstler wie für den Menschen das Erste und das Letzte, das Notwendigste und das Höchste. […] Ein Schriftsteller […], der sich rein ausreden will und kann,
der nicht für sich behält und alles sagen mag, was er weiß, ist sehr zu beklagen.“ (Lyc. 37)
„Auch in der Poesie mag wohl alles Ganze halb, und alles Halbe doch eigentlich ganz sein.“
(Lyc. 14)
„Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben. Er wird sich also
wohl entschließen müssen, beides zu verbinden.“ (Ath. 53)
„Auch das größte System ist doch nur ein Fragment“ (LN 921).
58
Europäische Romantik
Friedrich Schlegel, Poetik III
Die Idee der Transzendentalpoesie:
„Es gibt eine Poesie, deren Eins und Alles das Verhältnis des Idealen und des Realen ist, und die
also nach der Analogie der philosophischen Kunstsprache Transzendentalpoesie heißen müsste.
Sie beginnt als Satire mit der absoluten Verschiedenheit des Idealen und Realen, schwebt als Elegie in der Mitte und endigt als Idylle mit der absoluten Identität beider. So wie man aber wenig
Wert auf eine Transzendentalphilosophie legen würde, die nicht kritisch wäre, nicht auch das
Produzierende mit dem Produkt darstellte, und im System der transzendentalen Gedanken zugleich eine Charakteristik des transzendentalen Denkens enthielte: so sollte wohl auch jene Poesie,
die in modernen Dichtern nicht seltnen transzendentalen Materialien und Vorübungen zu einer
poetischen Theorie des Dichtungsvermögens mit der künstlerischen Reflexion und schönen
Selbstbespiegelung, die sich im Pindar, den lyrischen Fragmenten der Griechen und der alten Elegie, unter den Neuern aber in Goethe findet, vereinigen, und in jeder ihrer Darstellungen sich
selbst mit darstellen, und überall zugleich Poesie und Poesie der Poesie sein.“ (Ath. 238)
„Nur sie [die romantische Poesie] kann gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden
Welt, ein Bild des Zeitalters werden. Und doch kann auch sie am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse, auf den Flügeln der
poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und
wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen.“ (Ath. 116)
Der Begriff der Ironie:
„Die Philosophie ist die eigentliche Heimat der Ironie, welche man logische Schönheit definieren
möchte: denn überall, wo in mündlichen oder geschriebenen Gesprächen, und nur nicht ganz
systematisch philosophiert wird, soll man Ironie leisten und fordern; und sogar die Stoiker
hielten die Urbanität für eine Tugend. Freilich gibt’s auch eine rhetorische Ironie, welche sparsam gebraucht, vortreffliche Wirkungen tut, besonders im Polemischen; doch ist sie gegen die erhabene Urbanität der Sokratischen Muse, was die Pracht der glänzendsten Kunstrede gegen eine
alte Tragödie in hohem Stil. Die Poesie allein kann sich auch von dieser Seite bis zur Höhe der
Philosophie erheben und ist nicht auf ironische Stellen begründet, wie die Rhetorik. Es gibt alte
und moderne Gedichte, die durchgängig im ganzen und überall den göttlichen Hauch der Ironie atmen. Es lebt in ihnen eine wirklich transzendentale Buffonerie. Im Innern die Stimmung,
welche alles übersieht, und sich über alles Bedingte unendlich erhebt, auch über eigne Kunst,
Tugend oder Genialität: im Äußern, in der Ausführung die mimische Manier eines gewöhnlichen
guten italienischen Buffo.“ (Lyc. 42)
„Die Sokratische Ironie ist die einzige durchaus unwillkürliche, und doch besonnene Verstellung.
Es ist gleich unmöglich sie zu erkünsteln, und sie zu verraten. […] In ihr soll alles Scherz und
Ernst sein, alles treuherzig offen, und alles tief verstellt. […] Sie enthält und erregt ein Gefühl
von dem unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und des Bedingten, der Unmöglichkeit
und Notwendigkeit einer vollständigen Mitteilung. Sie ist die freieste aller Lizenzen, denn
durch sie setzt man sich über sich selbst weg; und doch auch die gesetzlichste, denn sie ist
unbedingt notwendig. Es ist ein sehr gutes Zeichen, wenn die harmonisch Platten gar nicht wissen, wie sie diese stete Selbstparodie zu nehmen haben, immer wieder von neuem glauben und
mißglauben, bis sie schwindlicht werden, den Scherz grade für Ernst, und den Ernst für Scherz
halten.“ (Lyc. 108)
59
Europäische Romantik
Friedrich Schlegel, Poetik IV
Der Begriff der Ironie:
„Die Ironie ist eine permanente Parekbase“ (KA II, 668)
Zur Konvergenz transzendentalpoetischer Reflexion und Ironie:
„Wenn Diderot im ,Jakob‘ etwas recht Genialisches gemacht hat, so kömmt er gewöhnlich gleich
selbst hinterher, und erzählt seine Freude dran, daß es so genialisch geworden ist.“ (Lyc. 3)
Vgl. die romantische Praxis der Ironie:
E.T.A. Hoffmann spricht von der „durchgehaltenen Ironie“ im Goldenen Topf (An Kunz, 4.
März 1814)
Heinrich Heine, Gespräch auf der Paderborner Heide (in: Buch der Lieder, 1827):
Hörst du nicht die fernen Töne,
Wie von Brummbaß und von Geigen?
Dorten tanzt wohl manche Schöne
Den geflügelt leichten Reigen.
»Ei, mein Freund, das nenn ich irren,
Von den Geigen hör ich keine,
Nur die Ferklein hör ich quirren,
Grunzen nur hör ich die Schweine.«
Hörst du nicht das Waldhorn blasen?
Jäger sich des Weidwerks freuen,
Fromme Lämmer seh ich grasen,
Schäfer spielen auf Schalmeien.
»Ei, mein Freund, was du vernommen,
Ist kein Waldhorn, noch Schalmeie;
Nur den Sauhirt seh ich kommen,
Heimwärts treibt er seine Säue.«
Hörst du nicht das ferne Singen,
Wie von süßen Wettgesängen?
Englein schlagen mit den Schwingen
Lauten Beifall solchen Klängen.
»Ei, was dort so hübsch geklungen,
Ist kein Wettgesang, mein Lieber!
Singend treiben Gänsejungen
Ihre Gänselein vorüber.«
Hörst du nicht die Glocken läuten,
Wunderlieblich, wunderhelle?
Fromme Kirchengänger schreiten
Andachtsvoll zur Dorfkapelle.
»Ei, mein Freund, das sind die Schellen
Von den Ochsen, von den Kühen,
Die nach ihren dunkeln Ställen
Mit gesenktem Kopfe ziehen.«
Siehst du nicht den Schleier wehen?
Siehst du nicht das leise Nicken?
Dort seh ich die Liebste stehen,
Feuchte Wehmut in den Blicken.
»Ei, mein Freund, dort seh ich nicken
Nur das Waldweib, nur die Lise;
Blaß und hager an den Krücken
Hinkt sie weiter nach der Wiese.«
Nun, mein Freund, so magst du lachen
Über des Phantasten Frage!
Wirst du auch zur Täuschung machen,
Was ich fest im Busen trage?
60
Europäische Romantik
Friedrich Schlegel, Poetik V
Zierarabeske
Philipp Otto Runge, Der Abend (1805)
Zur Idee der Arabeske (Groteske) und schönen Verwirrung:
„[…] gewiß ist die Arabeske die älteste und ursprüngliche Form der menschlichen Fantasie“
(Rede über die Mythologie, Rasch 501)
„Die Arabesken müssen die Fantasie bedeuten“ (KA X, 504).
„Sie fühlen es selbst, daß Ihr Ergötzen an Sternes Humor rein war, und von ganz andrer Natur, als
die Spannung der Neugier, die uns oft ein durchaus schlechtes Buch, in demselben Augenblick, wo
wir es so finden, abnötigen kann. Fragen Sie sich nun selbst, ob Ihr Genuß nicht verwandt mit demjenigen war, den wir oft bei Betrachtung der witzigen Spielgemälde empfanden, die man Arabesken nennt. – Auf den Fall, daß Sie sich selbst nicht von allem Anteil an Sternes Empfindsamkeit freisprechen können, schicke ich Ihnen hier ein Buch, von dem ich Ihnen aber, damit Sie gegen Fremde vorsichtig sind, voraussagen muß, daß es das Unglück oder das Glück hat, ein wenig
verschrien zu sein. Es ist Diderots ,Fataliste‘. Ich denke, es wird Ihnen gefallen, und Sie werden
die Fülle des Witzes hier ganz rein finden von sentimentalen Beimischungen. Es ist mit Verstand
angelegt, und mit sichrer Hand ausgeführt. Ich darf es ohne Übertreibung ein Kunstwerk nennen.
Freilich ist es keine hohe Dichtung, sondern nur eine – Arabeske. Aber eben darum hat es in
meinen Augen keine geringen Ansprüche; denn ich halte die Arabeske für eine ganz bestimmte
und wesentliche Form oder Äußerungsart der Poesie.“ (Brief über den Roman, Rasch 510)
„Der arabeske Witz ist der Höchste […] nur in jenem nebst dem combinatorischen liegt die
Indicazion auf unendliche Fülle“ (KA V, 409)
„Arabesken und dialektische Versuche gehen ins Unendliche fort“ (KA V, 403)
„Das Wesentliche im Roman ist die chaotische Form – Arabeske, Mährchen“ (KA X, 101)
„Ja, ich kann mir einen Roman kaum anders denken, als gemischt aus Erzählung, Gesang und
anderen Formen“ (Gespräch über die Poesie, 1800)
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Europäische Romantik
Friedrich Schlegel, Poetik VI
Die Idee der Universalpoesie:
„Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und
Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik,
Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig
und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen […]. Sie umfasst alles, was nur poetisch
ist, vom größten wieder mehrere Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst bis zu dem
Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosem Gesang.“ (Ath. 116)
Die Idee der neuen Mythologie:
„Es fehlt, behaupte ich, unsrer Poesie an einem Mittelpunkt, wie es die Mythologie für die der
Alten war, und alles Wesentliche, worin die moderne Dichtkunst der antiken nachsteht, lässt sich
in die Worte zusammenfassen: Wir haben keine Mythologie. Aber, setze ich hinzu, wir sind nahe
daran, eine zu erhalten, oder vielmehr es wird Zeit, daß wir ernsthaft dazu mitwirken sollen, eine
hervorzubringen. / Denn ganz auf dem entgegengesetzten Wege wird sie uns kommen wie die alte
ehemalige, überall die erste Blüte der jugendlichen Phantasie, sich unmittelbar anschließend und
anbildend an das Nächste, Lebendigste der sinnlichen Welt. Die neue Mythologie muß im Gegenteil aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden; es muß das künstlichste aller
Kunstwerke sein, denn es soll alle anderen umfassen, ein neues Bette und Gefäß für den alten
ewigen Urquell der Poesie und selbst das unendliche Gedicht, welches die Keime aller andren
Gedicht verhüllt.“ (Rede über die Mythologie, in: Das Gespräch über die Poesie)
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