die soziale stärke infor- meller wohn- gruppen

Transcription

die soziale stärke infor- meller wohn- gruppen
Selbsthilfe
Vorgeschichte
DIE SOZIALE
STÄRKE INFORMELLER WOHNGRUPPEN
“Aufstieg und Fall” des Torre David
Alfredo Brillembourg &
Hubert Klumpner
im Gespräch
mit ARCH+
TORRE DAVID
INVADED BUILDINGS
INFORMAL SETTLEMENTS (2005)
Alfredo Brillembourg (1961) Architekturstudium an der Columbia Universität in New York
und in Venezuela, gründete 1993 in Caracas den Urban-Think Tank, lehrte an südamerikanischen Universitäten. Brillembourg gründete zusammen mit Hubert Klumpner das S.L.U.M.
Lab (Sustainable Living Urban Model Laboratory) und leitet seit 2010 mit ihm zusammen
den Lehrstuhl Urban-Think Tank für Architektur und Urban Design, ETH Zürich.
Hubert Klumpner (1965) Architekturstudium an der Universität für angewandte Künste in
Wien und der Columbia Universität in New York. 1998 trat er dem Urban-Think Tank bei,
2001 städtebaulicher Berater des Internationalen Programms für soziale und kulturelle Entwicklungen in Lateinamerika. Seit 2010 zusammen mit Brillembourg Lehrstuhl Urban-Think
Tank, ETH Zürich.
Publikation: Alfredo Brillembourg und Hubert Klumpner (Hg.): Torre David. Informal Vertical Communities, Lars Müller Publishers, Zürich 2013. Die Publikation zeigt die Ergebnisse einer einjährigen Untersuchung der Lebensumstände und der Organisationsstruktur im
Torre David, Fotografien: Iwan Baan. Die hier gezeigten Zeichnungen und Fotos stammen
aus der Veröffentlichung.
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1990 Baubeginn des Centro Financiero Confinanzas in Caracas als Büro-, Hotelund Großbanksitz, Investor David Brillembourg
1993 Tod Brillembourgs (nach ihm benannt: Torre David)
1994 Finanzkrise in Venezuela: Einstellung der Baumaßnahmen, 192 m hoher, 45stöckiger Rohbau
1995 staatliche FOGADE (Fondo de Garantia de Despositos y Proteccion Bancaria)
beschlagnahmt Torre David
2001 Versuch einer Versteigerung für 60 Millionen US Dollar, blieb ohne Käufer.
Chronologie einer Hausbesetzung
Nachdem der Bau nicht verkauft werden konnte, begann 2007 die Besetzung durch
mehrere Familien, die von den Wachmännern aus Mitleid in den Turm gelassen wurden. Sie schufen sich daraufhin zunächst mit Zelten Notbehausungen, doch nach und
nach kamen immer mehr Obdachsuchende hinzu und der zum vertikalen “Slum” gewordene Turm wurde durch Mauern, Durchbrüche und Absturzsicherungen gesichert.
Im Jahr 2009 lebten nach Schätzungen bereits 200 Familien im Torre David. Da
für viele Familien, auch für die von Lehrern und Polizisten, die Löhne in Caracas nicht
ausreichen, um sich eine Wohnung zu mieten, war der Turm zu einem Zuhause geworden, das weniger gefährlich war als die Slums am Stadtrand. Die meisten Bewohner
hatten zwei Jobs, um für ihren Lebensunterhalt zahlen zu können. Im Turm selbst hatten sich unterschiedlichste Dienstleistungsangebote angesiedelt, die neben Supermärkten und Werkstätten von selbstgemachtem Eis, über Englischstunden bis hin zu günstigen Zahnspangen für das perfekte Lächeln unabhängig von regulären Öffnungszeiten
alles anboten. Einige Bewohner betrieben sogenannte Mototaxis, um sich etwas dazu
zu verdienen, und brachten die Leute (mit ihren Einkäufen) für wenig Geld mit Motorrädern bis zur 10. Etage (Anzahl der Parkgeschosse). Die Aufzüge waren kurz nach Baustopp ausgebaut und verkauft worden. Zur Absicherung des Gebäudes wurden elektrische Schlösser an den vier Eingängen angebracht, zu
denen nur die Bewohner einen Schlüsselchip hatten
und die rund um die Uhr vom Sicherheitspersonal des Kollektivs
bewacht wurden.
Die Wohnungen der einzelnen Familien wurden von ihnen selbst, je nach finanziellen
Mitteln, unterschiedlich ausgebaut, während die meisten Abgrenzungen und Absicherungen
aus Kostengründen aus rotem Klinker gemauert wurden. Anstriche und
Tapeten sowie individuelle Dekoration, üppige Stoffe etc. sorgten für ein
Erscheinungsbild, das die Bewohner als
normale “Mittelklasse-Wohnung“ ansahen.
Die Frischwasserversorgung funktionierte mit einem selbstangefertigten Pumpensystem auch in den oberen Stockwerken. Einmal die Woche wurde der Haupttank im
16. Stock für die Bewohner geöffnet, die mit Schläuchen ihre eigenen Wassertanks auffüllen konnten. (500 Liter Tanks, mind. 2 pro Familie) Außerdem gab es nach Bedarf eine
Zulieferung von Trinkwasser. Das Abwasserproblem konnte durch die teilweise vorhandenen Abwasserrohre weitgehend gelöst werden. Nachdem die Mülltonnen im Hof von
immer mehr Ratten befallen worden waren, wurden die Bewohner selbst für ihre Müllentsorgung verantwortlich gemacht. Die Stromversorgung war mit die wichtigste Infrastruktur, da sowohl die Pumpen als auch die Beleuchtung der Erschließung und die Läden von ihr abhängig waren. Nach anfänglichem Anzapfen der öffentlichen Leitungen
handelte die Gemeinschaft daher einen Vertrag mit einem staatlichen Stromversorger
aus, allerdings stieg der Verbrauch mit zunehmenden Geräten pro Haushalt enorm an
und regelmäßige Stromausfälle bestimmten zuletzt den Alltag.
Der vertikale “Slum” war seit seinem Bestehen für die Polizei schwer kontrollierbar
und wurde oft als krimineller Brennpunkt diffamiert. Bis zur Räumung im Juli 2014 lebten mehr als 3000 Menschen mit ihrer selbst entwickelten Infrastruktur auf den ersten
28 Stockwerken des Turms.
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ARCH+: Der Torre David war wahrscheinlich die weltweit größte Hausbesetzung, die
es je gegeben hat, zumindest, was die Größe des Objektes betrifft. In Ihrer Veröffentlichung sprechen Sie davon, dass der Torre die Komplexität einer Stadt aufwies.
Alfredo Brillembourg, Hubert Klumpner: Wir haben uns bereits nach den ersten Beobachtungen des physischen und sozialen Raums für eine eingehende Untersuchung
und Analyse des Torre David entschieden, da wir erkannt hatten, dass unsere Erwartungen falsch gewesen waren und es viel zu lernen gab. Die öffentliche Meinung über
den Torre David, wie wir sie von Menschen in Caracas erfuhren, die uns von dem Ort
erzählten, basierte weitgehend auf Gerüchten und oberflächlichen Meinungen. Nach
den anfänglichen Streifzügen durch das Gebäude und Gesprächen mit Bewohnern fanden wir eine Realität vor, deren Komplexität sich schwer auf eine Interpretation, ein Symbol oder eine Typologie beschränken ließ. Das ist der Grund, warum wir den Torre als
eine Stadt in der Stadt beschrieben haben.
Wie konnte ein solches Experiment überhaupt funktionieren, z.B. im Hinblick auf die interne soziale Organisation und Verwaltung?
Die Sozialstruktur war in vielerlei Hinsicht recht straff organisiert, ganz im Gegensatz
zu dem verbreiteten Bild der Anarchie. Jede der 28 besetzten Etagen hatte ihren Vertreter, von dem erwartet wurde, an den wöchentlichen Treffen, wo Probleme und Verbesserungsvorschläge diskutiert wurden, teilzunehmen. Über bestimmte Initiativen und
Ideen wurde demokratisch abgestimmt und Entscheidungen z.B. über Investitionen in
neue Elektro- und Wasserinfrastrukturen wurden zwar von Ausschüssen getroffen, aber
vorher transparent diskutiert. Gleichzeitig gab es eine Exekutive, die ziemlich selbständig agierte und die eine der Basisqualitäten von Caracas’ Straßenleben widerspiegelte, wo Macht mit einer Mischung aus Furcht und Respekt gewonnen und abgesichert
wird.
Alles was in einer Stadt geregelt ist, musste im Torre neu gelöst werden, vor allem was
die Versorgung einer solchen Menge von Menschen mit dem Notwendigsten zum Leben betrifft, mit Wasser, Nahrung, Strom etc.
Anfänglich, als die Bewohner einzogen waren, zapften sie mit einer selbstgebastelten
Strom- und Wasserinfrastruktur die städtischen Versorgungsleitungen an. Nach ein paar
Jahren gingen sie an die Sache professioneller heran, handelten Verträge mit den Versorgungsunternehmen aus und zahlten für den laufenden Verbrauch sowie für die Rückstände aus ihrer illegalen Entnahme. Ihre Bemühungen waren bezeichnend für eine kollektive Sehnsucht nach Legitimität und Formalisierung. Viele der Bewohner hatten den
Wunsch, dass der Torre David sich nicht in einen Zirkus oder eine kriminelle Unternehmung verwandeln, sondern von Grund auf zu einem staatlich geförderten Projekt des
sozialen Wohnungsbaus würde.
Wie funktionierte das ganz praktisch und über einen längeren Zeitraum mit der Besetzung der Räume? Gab es Regeln für die Vergabe von Räumen, wer hat entschieden, ob
und wo jemand einziehen darf oder nicht?
Auch die Art und Weise, wie der Raum delegiert, verwaltet und übertragen wurde,
folgte einer alternativen Logik. Es gab keine anarchistische oder GeschäftemacherMentalität, wie man hätte annehmen könnte. Die einzelnen Familien besaßen ihr Heim
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nicht. Stattdessen waren die Bewohner verpflichtet, an das Kollektiv eine monatliche
Miete (ca. 30 EUR) zu zahlen, die für Wasser, Strom, öffentliche Instandhaltungsarbeiten und für das Sicherheitsteam, das die Eingänge bewachte, verwendet wurde. Bewohner konnten kein Besitzrecht an der Wohnung, in der sie lebten, beanspruchen, aber
sie waren die Besitzer der Investitionen – wie Wände, Böden, Deckenkonstruktionen,
Mobiliar und Dekorationen –, die sie in den Räumen tätigten. Wenn Bewohner auszogen, haben sie häufig einige dieser Investitionen an die neu hinzukommenden Mieter
verkauft. Neue Bewohner waren meistens mit Leuten, die bereits im Torre lebten, verbunden – Freunde oder Familienmitglieder, die aus Vierteln in anderen Teilen der Stadt
kamen – und es gab in der Tat eine Warteliste mit Mieteranfragen, die vom Führungskomitee geprüft und genehmigt wurde. Es war ein fair geregeltes Verfahren, ähnlich
wie bei der Verwaltung von Oberschichten-Wohnungen in New York City.
Wie haben die Bewohner die räumlichen Probleme einer unfertigen und gefährlichen
Baustelle, eines Hochhauses ohne Aufzüge überhaupt bewältigt? Das war ja nicht gerade eine einfache Wohnsituation.
Die Bewohner waren sich durchaus darüber im Klaren, dass die physische Beschaffenheit ihrer Umgebung alles andere als ideal war. Sie wussten, dass die Einzelnen würden Geld sparen müssen, um ihre Wohnungen mit Balkonen und Geländern auszustatten, und dass das Kollektiv schrittweise die öffentlichen Räumen würde verbessern
müssen, Spalten im Boden mit vorgefundenen Materialien auffüllen, um dann schließlich die Mängel mit Ziegeln, Beton und Metall auszubessern. Ein Großteil des konstruktiven Wissens, das in den Slums von Caracas zur Anwendung kommt, wurde in der Superstruktur des Torre David eingesetzt – eine Verschmelzung der informellen Anpassungen des Gebäudes mit seinem formellen Skelett.
Wir haben eine beträchtliche Zeit darauf verwendet, wie Zugänglichkeit und Mobilität, sowohl vertikal wie horizontal, ausgehandelt, praktiziert und verändert wurden.
Vieles davon ist in unserem Buch dargelegt, zusammen mit einigen der infrastrukturellen und architektonischen Vorschläge, die wir gemeinsam mit Torre David Bewohnern
und unseren Kollegen am Lehrstuhl für Architektur und nachhaltige Gebäudetechnologien hier an der ETH Zürich entwickelt haben.
Der Torre David war ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Ungewiss ist der Ausgang leider nicht mehr. Am 21. Juli 2014 wurde nach 7 Jahren Besetzung mit der Räumung begonnen.
Es muss hier klar und deutlich gesagt werden, dass die ursprünglichen Bewohner des
Torre David nicht in das Gebäude eingedrungen waren, weil sie eine politische Aussage machen oder ein architektonisches Experiment durchführen wollten. Ihre Besetzung resultierte aus wirtschaftlicher und physischer Notwendigkeit – infolge einer Wohnungskrise in Venezuela, die den Großteil der Bevölkerung für Jahrzehnte ohne Zugang
zu annehmbaren und geschützten Behausungen gelassen hat. Die Statistiken sind nicht
absolut zuverlässig, aber eine konservative Schätzung ergibt, dass mehr als 40 % der
Bevölkerung von Caracas in informellen Siedlungen lebt. Wenn wir diesen Umstand betonen, dann nicht, um eine bestimmte Ideologie zu verurteilen, sondern es sind mehrere Generationen von Regierungen und die privaten Kräfte des Marktes, die es versäumt haben, einem Großteil der Bevölkerung menschliche Grundrechte zuzugestehen.
War die Räumung bei Lage und Wert der Immobilie nicht zu erwarten gewesen?
Die Bewohner von Torre David wussten sehr wohl, dass ihre Situation nicht von Dauer
war. Tatsächlich hatten weder sie noch wir den Wunsch, den Status quo fortzusetzen.
Aber es gab eine gewisse Hoffnung, dass einige der positiven Veränderungen, die ihre
illegale Besetzung mit sich brachte, bewahrt oder in andere Teile der Stadt ausgedehnt
werden könnten. Wir beziehen uns hier im Wesentlichen auf eine sozialorientierte Umnutzung bestehender und ungenutzter Strukturen und auf ein Wohnungssystem, das
den einzelnen Bewohnern mehr Handlungskompetenz bezüglich ihrer gebauten Umwelt und ihrer gemeinsamen Zukunft zugesteht – wie es in dem Konzept des “offenen
Gebäudes” der Fall war, das in den 1960er Jahren propagiert wurde und das ein aufgeklärtes Verständnis widerspiegelte, wie Strukturen sich über einen Zeitraum nachhaltig entwickeln und wechselnden Bedürfnissen und Umständen anpassen können.
Was sind die offiziellen Gründe für die Räumung, gab es keine Verhandlungen mit der
Gemeinde, die Hausbesetzung zu legalisieren? Wo werden die ca. 4000 Menschen, die
sich in dem Turm eingerichtet hatten, untergebracht werden? Wie geht es für sie weiter?
Die jüngsten Maßnahmen der Regierung waren nichts weniger als transparent, sodass
eine Erklärung oder Vorhersage schwer fällt. Nachdem sie jahrelang auf geradezu
peinliche Weise die Bemühungen der Bewohner um Anerkennung ignoriert hatte, verkündete die für die Entwicklung von Caracas zuständige kommunale Behörde im Juni
ihre Absicht, mit der Gemeinschaft zusammenzuarbeiten und bei der Entwicklung besserer Lebensbedingungen zu helfen. Einige Wochen später kündigten dieselben Beamten an, dass sie bald mit einem Räumungsprozess beginnen und die Bewohner in neue
soziale Wohnungsbauprojekte verlagern würden, 50 km außerhalb von Caracas. Dieser Prozess begann gerade letzten Monat.
Angeblich erfolgt die Räumung im Einvernehmen mit den Bewohnern des Torre David.
Während einigen Berichten zufolge viele Bewohner froh sind, endlich Regierungshilfe
bei der Suche nach einem sicheren Heim zu bekommen, behaupten andere, dass es
ein Fall von Zwangsräumung eines Slums sei, eine Perpetuierung des Armutszyklus'. Es
ist zu früh, um zu verstehen, was hinter diesem Umzug steckt, und wir wissen auch nicht
viel über die Qualität der Wohnungen, die den Bewohnern angeboten werden, oder
die sozialen Leistungen in der Stadt Cúa. Wir stehen in Kontakt mit einigen der Bewohner, mit denen wir zusammen gearbeitet haben, und wir sind gespannt darauf, mehr
darüber zu erfahren, wie sich ihr Leben aufgrund dieses Umzugs verändert hat und
wie es sich weiter verändern wird.
Haben Sie Informationen darüber, was mit dem Torre David geschehen wird?
Auch was die Pläne für das Skelett und den Standort des Torre David betrifft, hat die
Regierung zahlreiche verwirrende Aussagen von sich gegeben. Zunächst haben sie angekündigt, sie beabsichtigten, die Rechte an dem Gebäude einer Gruppe von chinesischen Investoren zu verkaufen, die das Gebäude auf ähnliche Weise, wie ursprünglich
geplant, fertigstellen würden – Büros, ein Luxus-Hotel, Einkaufsläden. Die Beamten haben jedoch auch vorgeschlagen, die Bauten auf dem Gelände abzureißen und einen
öffentlichen Park anzulegen. Ein weiterer Vorschlag war, die Büros des Rathauses in das
Gebäude zu verlegen.
Es gab eine Reihe öffentlicher Foren, was wir sehr begrüßen, die hoffentlich Teil eines echten Planungsprozesses sind, der demokratisch und transparent abläuft. Der
Standort und der millionendollarwerte Bau darauf gehören einer staatlichen Versicherungsagentur. Es ist das kollektive Eigentum des venezolanischen Volkes, und wir hoffen, welche Entwicklung auch immer dort geplant wird, dass sie mit Fokus auf soziale
Prioritäten geplant wird.
Der Torre David war eine informelle Struktur, nichts hatte offiziellen Charakter oder war
gesetzlich abgesichert, das Wohnen entstand allein durch Selbsthilfe und solidarische Unterstützung. Die Bedeutung informeller Strukturen für das Überleben der Menschen in
den ungebremst wachsenden Megacities der südlichen Halbkugel ist in der Fachliteratur mittlerweile unbestritten. Hatte der Torre in diesem Zusammenhang Modellcharakter oder war es ein singuläres Ereignis?
Es ist wirklich wichtig, informelle Siedlungen wie den Torre David weder zu verteufeln
noch zu romantisieren. Solche Siedlungen sind im allgemeinen komplexe Orte, die weder ganz gut noch ganz schlecht sind, und sie entstehen aus unmenschlichen Mängeln
heraus – Mängel, was die wirtschaftlichen Chancen, die politische Stärke und soziale
Durchlässigkeit betrifft. Und trotzdem ist es wichtig, diese Orte nicht als komplett gescheitert abzutun, wie es unter modernen Planern und Architekten jahrzehntelang üblich war. Wir sollten auch nicht abstreiten, dass in diesen städtischen Zonen bedeutsame und wertvolle räumliche Strategien, die legitim sind, erfunden und verfeinert wurden. Einige haben sich bewährt und einige sind gescheitert, aber der Zustand der
Informalität ist keine Ausnahme mehr, sondern die Regel. Innerhalb von 15 Jahren,
schätzt die UN, werden 2 Milliarden Menschen in Slums leben.
Was lässt sich von diesem Beispiel lernen: erstens für die Verwaltung von Städten, zweitens für die Planung von Wohngebieten?
Profis wie wir, die über eine gewisse Macht verfügen, die gebaute Umwelt mit Hilfe formaler Werkzeuge zu gestalten, müssen daraus lernen, wie die Mehrheit der Strukturen und Räume in der urbanen Welt geformt sind. Wenn wir auf einen politisch sicheren Kontext oder auf einfache Fragen, die effizient beantwortbar sind, warten, werden
wir zunehmend an Bedeutung verlieren. Architekten und Entwerfer sollten sich bemühen, Bindeglied, Vermittler und Anstifter zu sein. Wir haben gesehen, was passiert, wenn
unfähige kommunale Politiker, die Verheerungen ungezügelter Finanzmärkte und technokratische Planer die gebaute Umwelt beherrschen. Es ist an der Zeit, wieder Boden
zu gewinnen und sich auf eine menschenorientierte Welt, die chaotisch ist, aber großes Potential hat, einzulassen.
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Wie es gewesen war: Die Nutzung des Torre David –
KIOSK
PROLONGACIÓN AV. EL LAGO
AV
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LA
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WOHNUNGEN: UMBAUTEN IM GEBÄUDE
INVADED BUILDING
SECUR
GUARD
I
1
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CHURCH UNDER
CONSTRUCTION
I
F
ELEV. 0.00
L
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ELEV. -1.76
ELEV. 0.00
N
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ELEV. 0.00
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ELEV. +1.39
I
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L
ELEV. 0.00
CALLE REAL CORTIJO DE SARRIA
BASKETBALL COURT/
FOOTBALL PITCH
ELEV. 0.00
H
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K
K
K
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DEPOSIT
ELEV. -3.00
OLD SOCCER
FIELD
AV. U
RDA
NETA
FOOD CART
SECURITY GUARD
Ebene 6
MOTO TAXI
KIOSK
Erdgeschoss
ERSCHLIESSUNG / VERKEHRSFLÄCHEN
GEMEINSCHAFTSEINRICHTUNGEN
CIRCULATION DIAGRAM
BUILDING PROGRAM
TOWER FLOOR CIRCULATION
SHOPS
STAIRS
1
VEHICLE ACCESS
ADMINISTRATION
2
PEDESTRIAN ACCESS
1
EXTERNAL MOTOTAXI PATH TO PARKING
2
INTERNAL MOTOTAXI PATH TO PARKING
3
BUS ACCESS TO UNDERGROUND PARKING
LARGE GROCERY STORES
COORDINATORS’ ASSEMBLY SPACE
SPORTS
LEVEL 44
3
GYM TERRACE
TEXTILE WORKSHOP
RELIGIOUS
ENTRANCE AREA
4
IDENTITY CHECK
MAIN TRASH DUMP
3
LEVEL 28
CONNECTION BETWEEN
BUILDINGS A AND B UNTIL LEVEL 17
LEVEL 28
LEVEL 23
LEVEL 22
LEVEL 21
1
PARKING RAMP
UNTIL LEVEL 10
LEVEL 20
LEVEL 18
LEVEL 17
LEVEL 16
LEVEL 14
LEVEL 13
LEVEL 12
LEVEL 10
LEVEL 9
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2
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3
1
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1
4
LEVEL 7
LEVEL 6
–– eine Analyse von Urban Think Tank
I
1
I
C
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I
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K
K
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D
K
B
Ebene 10
Ebene 28
STROMVERSORGUNG
WASSERVERSORGUNG
ELECTRICITY DISTRIBUTION
WATER DISTRIBUTION
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BUILDING BREAKERS
1
2
FLOOR BREAKERS
3
APARTMENT BREAKERS
2
WATER PUMPS
4
CONSUMPTION BOARD
3
APARTMENT WATER TANKS
5
CITY ELECTRICAL GRID
4
CITY WATER MAIN
MAIN WATER TANK - LEVEL 16
WATER FOR BUILDING A IS PUMPED TO AND
DISTRIBUTED FROM THE MAIN WATER TANK WEEKLY
2X500L TANKS PER APARTMENT (TYP.) REFILLED WEEKLY
LEVEL 28
LEVEL 28
2
2
LEVEL 16
MAIN WATER TANK
LEVEL 16
3
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LEVEL 19
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LEVEL 16
LEVEL 6
2
2
1
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2
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2
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1 Läden, Nähwerkstatt, Friseursalon und
andere Dienstleistungen wurden von
Privatpersonen auf unterschiedlichen
Geschossenen angeboten und boten vor
allem in den oberen Etagen eine komfortable Alternative zum Einkaufen in der Stadt
(Lebensmittelpreise durften in den oberen
Stockwerken aufgrund der Transportkosten
auch etwas höher sein).
2 Das Kollektiv hatte neben dem viel
genutzten Basketballplatz im Hof auch die
Kirche im Erdgeschoss (der Pastor nimmt
eine Schlüsselrolle in der Administration, “La
directiva”, ein) und einen Versammlungsraum eingerichtet.
3 Sogenannte “Mototaxis” wurden von
Privatpersonen betrieben. Sie brachten die
Bewohner gegen eine kleine Gebühr mit
Motorrädern bis in die 10. Etage des Turms.
4 Ab dem 10. Stockwerk mussten die restlichen 18 bewohnten Geschosse fußläufig
über die Treppen erreicht werden.
5 Provisorische Brüstungsmauern aus rotem
Klinker, dem aus Kostengründen meist
genutzten Baumaterial, sicherten die offenen
Fassaden des Rohbaus ab ...
6 ... und auch die Absturzsicherungen der
Verbindungsstege zwischen Parkhaus und
Turm dienten dem Schutz der Bewohner.
7 Ein vom Kollektiv bezahlter Sicherheitsdienst war rund um die Uhr vor und im Torre
David präsent ...
8 ... und kontrollierte die Zu- und Eingänge
zum Turm.
9 Die Flure dienten den Bewohnern als
Aufenthalts- und Kommunikationsbereiche.
Sie waren meist Tag und Nacht belebt.
10 + 11 Die Familien bauten ihre
Wohnungen je nach finanziellen Mitteln,
Belegungsdichte und persönlichem
Geschmack aus. Sie legten großen Wert auf
ein “gepflegtes” Erscheinungsbild, das sich
an der Vorstellung einer “MittelklasseWohnung“ orientierte und von dem einer
typischen Slum-Behausung abhob.
12 Die in Eigenbau gemauerten Trennwände reichten in vielen Fällen aufgrund
der Raumhöhe nicht bis zur Decke des
Rohbaus. In diesem Beispiel wurde die
Tapete in “veredelter” Form an das unverputzte Mauerwerk angepasst.
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Alle Fotos dieses Beitrags von Iwan Baan.
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