WS 2014 zum (7,5 MiB)

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WS 2014 zum (7,5 MiB)
BANAle Bücher 2
Literatur-Seminar WS 2014/15
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Vorwort
Literatur (lateinisch: Sprachkunst, Schrift) umfasst letztendlich im Sinne der
Wortbedeutung alles, was weitestgehend mit Hilfe eines Sprachsystems dargestellt wurde, also was geschrieben, gedruckt, dokumentiert wurde und
wird. Es gibt die sogenannte schöngeistige Literatur. Es gibt die triviale Literatur, die wissenschaftliche Literatur, es gibt zahlreiche Systematisierungsansätze, je nachdem wo, wie und in welchem Zusammenhang über Literatur gesprochen wird. Sieht man sich zum Beispiel die Bestseller-Liste im Magazin
Spiegel an, erfährt man die Unterteilung in Belletristik (Unterhaltungsliteratur) und Sachbücher (Fachliteratur), wobei auch hier wiederum diverse Unterteilungsmöglichkeiten sich anbieten.
So war es unter anderem unser Anliegen sowohl den Bereichen der Unterhaltungs- als auch den der Fachliteratur anzusprechen, zu jedem dieser Themenbereiche eine kurze allgemeine Einführung zu geben und exemplarisch jeweils einige Werke vorzustellen.
Die in dieser Handreichung zusammengestellten Ergebnisse aus den einzelnen Sitzungen sind nur dann namentlich gekennzeichnet, wenn sie von Studierenden angefertigt wurden.
Die von uns festgelegten Themenbereiche waren:
1.
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4.
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6.
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Biografien
historische Romane
politische Literatur
Sachbücher
Jugendbücher
Comics
Als Einstieg in unser Seminar haben wir von Rien Poortvliet: „Auf den Spuren meiner Väter“ gewählt, weil dieses Buch eine Mischung aus allen 6 Themenbereichen darstellt.
Allein schon an diesem Werk könnten exemplarisch die einzelnen Bereiche
theoretisch analysiert und diskutiert werden.
Marius Harm „Rien“ Poortvliet
wurde 1932 in Schiedam geboren, er starb 1995 in Soest, Er war ein niederländischer Maler und Zeichner und wurde als einer der weltweit besten Maler
von Tieren und Jagdszenen bezeichnet.
Er schrieb und zeichnete zahlreiche Bücher, die auch in Deutschland einen
großen Verehrer- und Leserkreis fanden, um hier nur einige zu nennen:
Auf den Spuren meiner Väter
Das Erbe
… und jeder Fuchs hat seinen Bau
Von Augenblick zu Augenblick (Dies und das aus meinem Leben)
Auf den Spuren meiner Väter
Es sollte die Biografie seines Großvaters werden, wurde dann aber auf seine
Urahnen der vergangenen 300 Jahre ausgeweitet. Es beginnt mit den Sommerurlauben, die Poortvliet auf dem Land bei den Großeltern in den 40er
Jahren des letzten Jahrhunderts verlebte und geht dann sukzessive über 10
Generationen zurück bis ins 17. Jahrhundert.
Im Zuge dieser biografischen Spurensuche erzählt er uns reich bebildert über
das tägliche Leben der einfachen Leute in diesen Jahrhunderten, wie zum Beispiel Geburt und Tod, Arbeit und Feste, Krankheiten und Umgang damit.
Er beschreibt romanhaft die historischen aber auch alltäglichen Ereignisse,
wie zum Beispiel die Besetzung durch französische Truppe 1795 und die
Schlacht bei Waterloo 1815.
Die politischen Verhältnisse, stark von der Kirche beeinflusst, werden aus
der Sicht der hart arbeitenden Landbevölkerung gezeigt.
Es werden uns die Wohnverhältnisse sowohl die privaten innerhalb eines
Hauses als auch die öffentliche Aufteilung in einer Ortschaft, die Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens, Kinderspielzeug und vieles mehr dargestellt.
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Biografien
Eine Biografie, auch Biographie (gr. βιογραφία, von βίος, bíos „Leben“ und
-graphie von γράφω, gráphō „ritzen, malen, schreiben“) ist die Lebensbeschreibung einer Person. Die Biografie ist die mündliche oder schriftliche
Präsentation des Lebenslaufes eines anderen Menschen; ein Sonderfall der
Biografie ist die Autobiografie: Sie hat der Betreffende selbst (heute allerdings häufig mit der Unterstützung eines Ghostwriters) über seine eigenen
Lebenserfahrungen verfasst.
(Wikipedia)
Die Biografie ist durchaus eine ernst zu nehmende literarische Gattung, deren Ursprung schon in dem antiken Griechenland, speziell der hellenistischen Ära, zu sehen ist. Bekannte Biografen der Antike waren zum Beispiel
Xenophon und Platons Biografie über Sokrates. Als erste moderne Biograf
wird Tacitus „Agricola“ (98n.Chr.) angesehen. Im Mittelalter herrschten vor
allem Heiligenlegenden (Hagiographie) vor.
Im Spätmittelalter (14. Jahrhundert) entwickelte sich die Lebensbeschreibung als Kunstform. Sie stellte eine Verbindung her zwischen Elementen der
Geschichtsschreibung und der Dichtung: Boccaccio: Trattatello in laude di
Dante (1373) Biographie Dante Alighieris
Etwa mit Beginn des 19. Jahrhunderts kristallisierten sich zwei Formen der
Biografien heraus: die politische (gekrönte Häupter, große Staats- und Feldherren) und die geisteswissenschaftliche (Künstler, Wissenschaftler) Biografie. ( Allg. Dt. Biographie 56 Bd. 1875 - 1902)
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Als eigenständige Gattung hat sich die Autobiografie (Memoiren) herausgebildet, also die Beschreibung des eigenen Lebens, d.h. die Darstellung der inneren und äußerlichen Entwicklung und Befindlichkeit:
Jean Jacques Rousseau: Les Confessions „Die Bekenntnisse“ (1765), Benjamin Franklin: Sein Leben von Ihm selbst erzählt
(1791), H.Ch. Andersen: Märchen meines Lebens (1845), Gerhard Hauptmann Das Abenteuer meiner Jugend (1937)
Der biografische Roman (auch Literarische Biografie) ist zum einen die Lebensbeschreibung historischer Persönlichkeiten aus Politik, Kunst, Literatur usw., wobei das verbriefte historische Material freizügig in Romanform
verwendet wird, d.h. die Unterhaltung des Lesers steht im Vordergrund und nicht unbedingt eine authentische Darstellung der Lebensabläufe.
Jakob Wassermann: Kaspar Hauser (1909), Stefan Zweig: Marie Antoinette (1932), Lion Feuchtwanger: Goya (1951), Peter Härtling: Hölderlin (1976), Charles Lewinsky: Gerron (2011)
Und zweitens hat sich der fiktive biografische Roman herausgebildet, der den Lebensweg eines erdachten Protagonisten oder einer Familie lebensnah vor einer konkreten Zeit schildert: Lion Feuchtwanger : Jud Süß (1925), Charles
Lewinsky: Melnitz (2007)
Autobiografien
Eine eigenständige Richtung innerhalb der Biografien nimmt die Autobiografie (Memoiren) ein. Hier wiederum sind
zwei Bereiche zu unterscheiden, nämlich einmal die Memoiren, die am Ende (oder fast am Ende, also im hohen Alter) eines lange gelebten Lebens stehen und tatsächlich selbst verfasst wurden, mit allem Herzschmerz, Glück, Gefühlen, die darin zum Ausdruck gebracht werden und uns, den Leser, das Leben und die jeweilige Zeit miterleben lassen.
Dann die meist reißerischen zusammen oder auch ausschließlich durch Ghostwriter geschriebenen Ergüsse (Boris
Becker usw.).
Wissenschaftliche Biografie:
In diesen Werken, die häufig ein Historiker oder ein Wissenschafts-Journalist verfasst, geht es um Objektivität, Faktentreue, sauberen Umgang mit den Quellen usw.
Die Grenzen zwischen den einzelnen Biografieformen sind fließend, Mischformen sind die Regel. Und dann gibt es
noch Kleinformen:
Vita — knappe Lebensbeschreibung (wird häufig im Schulunterricht verwendet)
Nekrolog — Nachrufe in Zeitungen zum Beispiel
Biografische Essays - Hommage an noch lebende befreundete oder berühmte Persönlichkeiten
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Warum lesen wir Biografien? Geht es uns um:
- Faszination, in ein fremdes Leben einzutauchen
- Andere Lebensläufe und -muster kennenzulernen
- Sensationslust oder Selbstbestätigung bzw. Mut zur Veränderung?
Es wurden insgesamt vier Biografien vorgestellt:
Eva Siao:
China - Mein Traum, mein Leben
(Autobiografie)
Reinhard Schlüter:
Leben für eine humane Medizin
(Die Biografie der Alice Ricciardi - von Platen)
Hans Otto Meissner:
Der Fall Sorge
(Ein Roman über Richard Sorge nach Tatsachen)
Marcel Reich-Ranicki:
Mein Leben
Die ersten drei sind in dieser Handreichung dokumentiert.
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Eva Siao
China: Mein Traum, mein Leben (Autobiografie)
Bastei Lübbe Verlag 1990
Eva Carola Beatrix Siao, geb. Sandberg,
geboren am 8. November 1911 in Breslau, Deutschland,
gestorben am 29. November 2001 in Beijing, China.
Fotografin, Zeitzeugin des Lebens in der Sowjetunion der 30er und 40er Jahre, Augenzeugin der Anfangsjahre der Volksrepublik China.
Sie wächst in großbürgerlichen deutsch-jüdischen Verhältnissen auf, Vater
Nervenarzt und Sanatoriumsbesitzer stirbt vor ihrem 1.Geburtstag. Er hinterlässt der Familie ein beträchtliches Vermögen. Der 10 Jahre älterer Bruder,
hochmusikalisch, wird für sie väterlicher Beschützer. Die Mutter verliert
1923 das Vermögen. Um fortan den Lebensunterhalt zu verdienen, arbeitet
sie als Fotografin. Eva hilft dabei und entdeckt die Fotografie für sich. Der
Bruder ist inzwischen Kapellmeister in Stockholm und unterstützt finanziell
Mutter und Schwester. Eva geht 1928 zum Letteverein nach Berlin, anschließend bis 1930 nach München an die Hochschule für Film und Lichtwesen.
Die Mutter stirbt 1929 und Eva zieht zum Bruder nach Stockholm, wo sie
die ersten Kontakte mit Emigranten aus Hitler-Deutschland hat. Sie findet
Arbeit im Fotoatelier von Anna Riwkin. Sie wird mit sozialistischem und
kommunistischem Ideengut konfrontiert. Der Bruder ermöglicht ihr eine
Reise nach Moskau. Dort verhilft der Schriftsteller Isaak Babel ihr zu einem
Aufenthalt im Schriftstellererholungsheim am Schwarzen Meer, wo sie sich
in Emi Siao verliebt. Sie fahren gemeinsam nach Moskau, wo sie auch heiraten. Eva wird sowjetische Staatsbürgerin. Emi arbeitete als freier Schriftsteller und im Komitee für die chinesische Sprachreform, Eva freiberuflich als
Fotografin. Sie sind befreundet mit vielen deutschen Migranten, darunter befindet sich der Schriftsteller Friedrich Wolf und dessen Familie, außerdem
Erich Weinert sowie Johannes und Lilly Becher. 1938 wird der Sohnes Lion
geboren. 1939 geht Emi nach China zurück und Eva mit Lion zum Bruder
nach Stockholm, wo sie auf Anraten ihres Mannes eine Hebammen– und
Krankenpflegeausbildung macht, um dann anschließend mit Lion nach China zu kommen.
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In China leben sie in äußerst schwierigen Verhältnissen zusammen mit Mao
Zedong und Zhoe Enlai in der befreiten Gegend Yan’an in Höhlen, während
im restlichen China noch die nationalistische Guomindang und die kommunistische Partei gegen die Japaner kämpften. 1941 erfolgt die Geburt des
zweiten Sohnes. Eva fühlt sich nicht gebraucht, während Emi politisch sehr
eingespannt ist. Emi und Eva entfremden sich und Ende 1943 kehrt sie mit
den Kindern in die Sowjetunion zurück. 5 Jahre kämpft sie ums Überleben
für sich und ihre Kinder im Hinterland der SU, in Kasachstan. Sie übersteht
Fleckfieber, Hunger und Armut. Dabei hilft ihr ihre Ausbildung als Fotografin.
1949, nach der Befreiung Beijings, kommt Emi nach Moskau. Die beiden finden wieder zu einander und reisen gemeinsam zurück nach China. Eva wird
dort Fotokorrespondentin der Agentur Xin Hua und der sowjetische Agentur TASS. 1950 ist die Geburt des jüngster Sohn Heping in Beijing und im
April 1951 geht die Familie für zwei Jahre nach Prag. Emi arbeitet dort als
Sekretär Chinas im Weltfriedensrat. Eva erhält eine Aufgabe zusammen mit
Ilja Ehrenburg in der Propaganda-Abteilung. Sie fotografiert alle Tagungen
und Kongresse. 1953 kehrt die Familie nach Bejing zurück. Hier beginnt nun
Eva mit ihren fotografischen Arbeiten über das Alltagsleben in der Hauptstadt Chinas. Sie erstellt ein filmisches Porträt über den Ex-Kaiser Pu Yi, fotografiert das Alltagsleben in Bejing, Kulturdenkmäler, Kunsthandwerker,
Schauspieler und Sänger der Peking-Oper, meist schwarz-weiß und ohne
Kunstlicht. Von 1958 bis 1964 ist sie Korrespondentin des DDR-Fernsehens,
drehte Dokumentarfilme und war zweimal in Tibet. Die Dokumentation darüber erscheinen in zwei Büchern in der DDR.
Anfang der 60er Jahre erfolgt Chinas Trennung vom sozialistischen Weg der
SU. Durch die beständigen Kontakte mit sowjetischen Botschaftsangehörigen gilt Eva, die ja noch sowjetische Staatsbürgerin ist, als Spionin der
UdSSR und Emi wird als „Revisionisten“ bezeichnet. Um dem entgegenzuwirken, nimmt Eva 1964 die chinesische Staatsbürgerschaft an. Mit diesem neuen Status verliert sie ihre Arbeit für das DDR-Fernsehen. Im Juni 1967 erfolgt die Verhaftung von Eva und Emi Siao mit anschließender siebenjähriger
Einzelhaft im Gefängnis der Armee. Nach der Haftentlassung gilt noch einige Jahre ein Berufsverbot und der Umgang mit alten Freunden ist ihnen untersagt. 1979 erfolgt dann endlich die offizielle Rehabilitierung mit Entschädigung. 1983 stirbt Emi, der sich von den Folgen der Haft nicht erholen konnte.
Seit dem Tod Emis beschäftigt sich Eva Siao intensiv mit Tai Chi, Qi Gong
und chinesischer Philosophie. Sie nimmt die Beziehungen zum DDR-Fernsehen wieder auf, reist unter anderem zu ihrer ersten Werkausstellung 1986
nach Stockholm, weitere Reisen in die Schweiz, nach Deutschland, nach
Großbritannien und in die USA finden statt. Eva Siao erlebt selbst den Mauerfall in Deutschland, glaubte aber bis zum Schluss weiterhin an einen eigenen sozialistischen Weg Chinas.
Alles, was du brauchst, ist in dir. (Das Lebensmotto von Eva Ciao)
Die Veröffentlichung des Fotobuches „Lian Liang und Yang Yang am Meer“
sollte ihr zu ihrem 90. Geburtstag von Freunden und Verehrern über die Gesellschaft für Deutsch-Chinesische Freundschaft Berlin geschenkt werden,
leider ist sie aber kurz vorher gestorben, so dass sie die Veröffentlichung
nicht mehr miterleben konnte.
Die Darstellung der Autobiografie von Eva Siao war mir ein absolutes Bedürfnis.
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Reinhard Schlüter
Alice Ricciardi - on Platen
Leben für eine humane Medizin (Biografie)
Campus Verlag 2012
Alice Ricciardi - von Platen, Psychoanalytikerin und Protokollantin des
Nürnberger Ärzteprozesses, geboren 1910 in Weissenhaus in SchleswigHolstein, gestorben 2008 in Cortona/Italien, Autorin des Buches „Die Tötung Geisteskranker in Deutschland“.
Alice ist die jüngste von vier Töchtern des Grafen Carl von Platen-Hallermund (1870–1919) und der Elisabeth von Alten (1875–1970). Sie besuchte das
Internat der Schule Schloss Salem, das damals unter der Leitung von Kurt
Hahn war. Sie studierte Medizin in Heidelberg, arbeitete anschließend in einem Berliner Kinderkrankenhaus und dann in den Jahren 1939 und 1940 in
Florenz und Rom, wo auch ihr Sohn Georg aus eine Beziehung zu dem deutschen Archäologen Ernst Homan-Wedeking zur Welt kam. 1940 kehrte sie
mit ihrem Sohn Georg zurück nach Deutschland, wo sie mit der EuthanasieAktion konfrontiert wurde. Um sich den politischen und unmenschlichen
Wirren zu entziehen, praktizierte sie bis 1945 als Landärztin in Österreich.
Nach Kriegsende übernahm sie eine Stelle als Assistentin an der psychosomatischen Universitätsklinik in Heidelberg bei Viktor von Weizsäcker.
Die inhumanen Menschenversuche und den Tod von etwa hunderttausend
Geisteskranken wurde ab 1946 durch die amerikanische Militärregierung gerichtlich verfolgen und die hierfür verantwortlichen Ärzte vor Gericht
gestellt.Von der westdeutschen Ärztekammer wurde eine Beobachterkommission unter der Leitung von Alexander Mitscherlich und unter Mithilfe
von Alice von Platten-Hallermund nach Nürnberg entsandt. Mitscherlich
dokumentierte vor allem die Menschenversuchen. Alice von Platen-Hallermund befasst sich besonders mit der Euthanasie von psychiatrischen Patienten. Für sie war in diese Morde die Psychiatrie tief verstrickt und die gesamte deutsche Ärzteschaft wusste davon.
Ihr Buch „Die Tötung Geisteskranker in Deutschland“ wurde sofort nach
Erscheinen auf Druck der deutschen Ärzteschaft aus dem Verkehr gezogen
und eingestampft.
1947 bekam sie eine Anstellung in der Nervenklinik St. Getreu in Bamberg.
Der dortige Chefarzt schickte sie zur psychoanalytischen Weiterbildung
nach London, wo sie bis Mitte der sechziger Jahre blieb, eine spezielle Ausbildung zur analytischen Gruppentherapeutin absolvierte und ihren italienischen Mann, den Journalisten und Organisationsberater Augusto Ricciardi,
kennenlernte. Sie ließen sich nach Stationen in Brüssel und Tripolis in Rom
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nieder. Als sie aus Rom nach Cortona übersiedeln wollten, fiel ihr Mann nach
32 gemeinsamen Jahren 1982 tot um. Er verstarb an einer Gehirnblutung.
Trotz großer Trauer entfaltete sie weiterhin eine fruchtbare Tätigkeit auf
dem Gebiet der Gruppentherapie. Sie war die erste Gruppenanalytikerin in
Italien. In dem von ihrer Mutter geerbten Anwesen in Altaussee/Österreich
gründete sie die „Internationale Arbeitsgemeinschaft für Gruppenanalyse“,
wo sie bis ins hohe Alter jährlich Gruppenseminare und Schulungen abhielt.
Als letzte Zeitzeugin war sie ein gern gesehener Gast auf Konferenzen und
hielt Vorträge in Schulen und auf entsprechenden Veranstaltungen.
Alice Ricciardi - von Platen hatte in Italien ihre Heimat gefunden. Sie liebte
die Leute, das Land, die Kultur, die Kunst. Sie hatte einen großen Freundeskreis und schätzte das menschlich und politisch tolerante Klima: "Eine Euthanasie hätte es in Italien nie gegeben."
Reinhard Schlüter beschreibt sehr ausführlich das Leben der Alice Ricciardi
- von Platen.
Auf der Grundlage ihrer Tagebücher und den Gesprächen mit ihren Freunden und Weggefährten ist diese Buch entstanden.
Der Autor hat in seiner Danksagung auch alle seine Informanten mit genauer Angabe der erhaltenen Informationen und Quellen aufgeführt.
Die Biografie von Alice Ricciardi - von Platen vorzustellen, war mir eine
Herzensangelegenheit, da ich sie persönlich kennenlernen durfte.
Im Herbst 2005 war ich für eine knappe Woche bei ihr in Cortona und habe
versucht, sie in die Geheimnisse des Computers einzuweihen (siehe Foto).
Mit ihrem alten Fiat 500 sind wir spazieren gefahren und sie hat mir ihre
Lieblingsplätze in der Umgebung gezeigt. Es folgte ein reger Briefwechsel,
den sie aber immer noch per Hand und nicht mit dem Computer bewältigte.
Im Dezember 2006 hatte sie in Berlin ein Treffen mit einigen Freunden und
wohnte eine Woche bei mir. Trotz ihrer 90 Jahre absolvierte sie ein straff
durchorganisiertes Programm, das neben den Treffen mit den Freunden auch
Besuche in Museen und Galerien und einen Vortrag im Rahmen des ErzählCafés beinhaltete. Im Jahre 2008 stürzte sie bei einer Vortragsreise in Norditalien und verstarb im Krankenhaus. Ihr Grab ist auf dem Friedhof in Altaussee.
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Hans-Otto Meissner
Der Fall Sorge
Köln 1955
Hans-Jürgen Greul stellte dieses Buch im Seminar vor.
Biografie – ein Thema im BANA-Literaturseminar im Wintersemester 2014/15.
Für mich eine Möglichkeit, mir eine Biografie auszusuchen, über die ich unter sachkundiger Anleitung mit interessierten BANA-StudentInnen mich austauschen konnte.
Einige Biografien liegen bei mir im Regal noch ungelesen, aber meine Aufmerksamkeit wurde gefesselt von einer zufällig bei Oxfam gefundenen Biografie „Der Fall Sorge“, von Hans-Otto Meissner, Köln 1955. Klappentext: „Er war der erfolgreichste Spion aller Zeiten. Er genoss das Vertrauen von Politikern und Militärs. Und niemand
beeinflusste den Verlauf des Zweiten Weltkrieges verhängnisvoller für Deutschland
als Richard Sorge.“ – In den drei Zeilen steckte für mich genügend Zündstoff, um
mein spärliches Wissen über Richard Sorge erweitern zu wollen. Zuerst verschaffte
ich mir einen Überblick in einem Wikipedia-Artikel ‚Richard Sorge’ – also
Zahlen-Daten-Fakten-Hintergrund-Meinungen-Literatur – und dann hatte ich die
Hoffnung, in der Biografie weitere wichtige Einsichten zur Person und den Ereignissen um ihn im Zweiten Weltkrieg zu gewinnen.
Die 366 Seiten waren kurzweilig zu lesen und, wie ich meinte, detailliert in privatesten Einzelheiten, wie Richard Sorge zu seinen welthistorisch wichtigen Informationen gelangt war. - Allmählich trat aber auch die Frage in den Vordergrund, wie war
der Autor der Biografie zu seinen Kenntnissen aus dem Schlafzimmer und der bevorzugten Nachtbar von Richard Sorge gekommen? Der erfolgreichste Spion aller Zeiten vor allem ein Schürzenjäger und standfester Trinker?? Und auf der Grundlage dieser Eigenschaften hat er Weltpolitik geschrieben??? Stets angetrunken!? hat er die
gesamte japanische Regierung, das Militär und die Spionageabwehr mit Hilfe seiner
ungezählten Liebschaften ausgekundschaftet!?? – Im Nachwort(!) schreibt der Autor,
dass sein Buch über Richard Sorge ein Roman nach Tatsachen sei.
Da ich nun endlich und entschieden skeptisch geworden war und noch andere Literatur heranzog, erwies sich der von Meissner verfasste Lebensbericht für mich als
‚einige Tatsachen nach der Phantasie des Autors’.
Ob ich das Buch empfehlen kann? Meine Empfehlung: Die Lektürezeit sparen und
stattdessen lieber drei James Bond Filme mit Sean Connery anschauen.
Gelernt habe ich daraus, dass es ratsam ist, neben einer Biografie weitere Informationsquellen zu nutzen, um mich den Wahrheiten über die beschriebene Person, den
Verfasser und den historischen Zusammenhang zu nähern – wenn mir persönlich das
Thema wichtig ist.
Die Nachrichten, die Richard Sorge in den ersten zwei Jahren des Zweiten Weltkrieges von Japan an die Sowjetunion sandte, haben tatsächlich eine große Bedeutung
gehabt, denn er konnte glaubhaft berichten, - (auf der Grundlage der Arbeit eines
von ihm geführten Spionageringes, der rund vierzig!!! MitarbeiterInnen umfasste) 10
- dass Japan keine Absicht hatte, die Sowjetunion von der Mandschurei aus im
Winter 1941 zu überfallen, was die SU in die Lage versetzte, auch mit sibirischen Militärverbänden die deutschen Invasoren noch vor Moskau zu stoppen:
eine – wahrscheinlich die - entscheidende Wende im Krieg gegen die SU. (Für
den Biografen Meissner „verhängnisvoll für Deutschland“, hierzu siehe ‚Meine
Empfehlung’ oben).
Für den konsequenten Kampf für den Frieden wurde Richard Sorge 1944 in Japan hingerichtet.
Seit den 60er Jahren wurde er in der SU und der DDR als Held verehrt.
Regierungsamtlich schaffte es die Bundesrepublik Deutschland erst 44 Jahre
später, vom Tag der Befreiung am 8.Mai 1945 (8.Mai 1985, Rede von Richard von
Weizsäcker) zu sprechen.
Japan rehabilitierte Richard Sorge, indem offiziell erklärt wurde, dass er kein
Feind Japans gewesen war. Diese späte Ehrung hat seine langjährige japanische
Lebensgefährtin Ishiki Hannako für ihn erkämpft.
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Historische
Romane
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Historische Romane sind fiktionale Prosawerke, deren Handlungen entweder in einer historischen Zeit spielen oder die auch das Leben historischer
Persönlichkeiten thematisch verarbeiten.
Ausgangspunkt des historischen Romans in Deutschland sind die zahlreichen Romane der Schriftstellerin Benedikte Naubert (1752–1819). Ihre historischen Romane, die heute längst vergessen sind, wurden seinerzeit sogar ins
Französische und Englische übersetzt. Sie wurden allerdings anonym oder
auch unter dem Namen ihres Mannes veröffentlicht. Sie sollen für Sir Walter
Scott als Vorbild gedient haben.
Hier einige historische Romane des 19. Jahrhunderts, die ihre Wirkung bis
weit in das 20. Jahrhundert zeigten und zu den Werken der Weltliteratur zählen:
Walter Scott: Ivanhoe
Victor Hugo: Der Glöckner von Notre Dame
Charles Dickens: Die Geschichte aus zwei Städten
Alexandre Dumas: Die drei Musketiere / Der Graf von Monte Christo
James Fenimore Cooper: Der letzte Mohikaner
Felix Dahn: Der Kampf um Rom
Lew Wallace: Ben Hur (der erfolgreichste Roman des 19. Jahrhunderts)
Henryk Sienkiewisz: Quo Vadis
Tostoi: Krieg und Frieden
Der Begriff „Historischer Roman“ wird in manchen Definitionen so gefasst,
dass nur die Werke unter diese Definition fallen, wenn die Inhalte des Romans weit vor der Zeit des Autors liegen. D.h., der Autor dürfte die Zeit
nicht mehr selbst erlebt haben.
Laut Lion Feuchtwanger müssen in einem historischen Roman die historischen Fakten nicht getreu wiedergegeben werden. Wer Faktentreue erwartet, der sollte sich ein Geschichtsbuch als Informationsquelle nehmen. Der
historische Roman zeigt das Weltbild des Schriftstellers in zeitlicher Distanz, d.h. aktuelle Probleme in historischem Gewand.
LION FEUCHTWANGER - Vom Sinn und Unsinn des historischen Romans
Als Vortrag gehalten 1935 auf dem "Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur gegen Krieg und Faschismus " in
Paris, erweitert 1957 in "Das Haus der Desdemona oder Größe und Grenzen der historischen Dichtung"
Damit wären wir bei der Beantwortung der ersten der beiden Fragen, die an den Autor historischer Romane immer wieder gestellt werden. Die erste Frage
lautet: wenn Sie zeitgenössische Inhalte geben wollen, warum dann wählen Sie nicht zeitgenössische Stoffe statt der Vergangenheit?
Erlauben Sie mir, diese Frage aus meinen eigenen schriftstellerischen Erfahrungen heraus zu beantworten. Ich habe zeitgenössische Romane geschrieben
und historische. Ich darf, nach schärfster Gewissensprüfung, erklären, daß ich in meinen historischen Romanen die gleichen Inhalte zu geben beabsichtigte
wie in den zeitgenössischen. Ich habe nie daran gedacht, Geschichte um ihrer selbst willen zu gestalten, ich habe im Kostüm, in der historischen Einkleidung, immer nur ein Stilisierungsmittel gesehen, ein Mittel, auf die einfachste Art die Illusionen der Realität zu erzielen. Andere haben ihr Weltbild, um es
klarer aus sich heraus zu projizieren, in eine größere räumliche Entfernung gerückt, es in irgendeiner exotischen Gegend angesiedelt. Ich habe mein Weltbild zum gleichen Zwecke zeitlich distanziert, das ist alles.
Ich kann mir nicht denken, daß ein ernsthafter Romandichter, der mit geschichtlichen Stoffen arbeitet, in den historischen Fakten etwas anderes
sehen könnte als ein Distanzierungsmittel, als ein Gleichnis, um sich selber sein eigenes Lebensgefühl, seine eigene Zeit, sein Weltbild möglichst treu wiederzugeben. [... ]
So viel zu der ersten der beiden Fragen. Die zweite Frage, die unsereiner immer wieder zu hören bekommt, ist die: wenn ein Leser sich für die Vergangenheit, für Geschichte interessiert, tut er dann nicht besser, eine exakte wissenschaftliche Darstellung zur Hand zu nehmen statt des fiktiven Gebildes eines
Romanschriftstellers?
Nun, der Leser, der im historischen Roman Belehrung sucht, begeht den gleichen Irrtum wie der Autor, der mit dem Historiker in Wettbewerb treten will.
Was ist denn ein Historiker? Ein Mann, der an der Hand von Fakten Gesetze der Entwicklung der Menschheit aufzuzeichnen sucht. Der Autor historischer
Romane aber will, wie wir gesehen, nichts dergleichen aufzeichnen, sondern nur sich und sein Weltbild. Es ist also zwischen dem ernsthaften Autor historischer Romane und dem ernsthaften Historiker der gleiche Unterschied wie etwa zwischen dem Komponisten und dem Forscher, der sich mit den Problemen der Akustik befaßt. Vom Autor eines historischen Romans historische Belehrung fordern, heißt vom Komponisten einer Melodie Aufschlüsse über die
Technik der Radioübertragung verlangen.
Ich habe mich immer bemüht, das Bild meiner Wirklichkeit bis ins kleinste Detail treu wiederzugeben, aber niemals habe ich mich darum gekümmert, ob meine Darstellung der historischen Fakten exakt war. Ja, ich habe oft die mir genau bekannte aktenmäßige Wirklichkeit geändert, wenn sie mir
illusionsstörend wirkte. Im Gegensatz zum Wissenschaftler hat, scheint mir, der Autor historischer Romane das Recht, eine illusionsfördernde Lüge einer
illusionsstörenden Wahrheit vorzuziehen. Hindenburg tadelte seinen Porträtisten scharf, weil der die Knöpfe der Uniform nicht richtig wiedergegeben hatte; Liebermann hatte andere Meinungen von Porträtmalerei. Es ist unschwer zu beweisen, daß Homer, die Autoren der Bibel, Shakespeare und zahllose Autoren historischer Dichtungskunst bis herunter auf unsere Zeit mit der ihnen genau bekannten aktenmäßigen Wirklichkeit erstaunlich kühn umsprangen.
Der Erfolg gibt ihnen recht. Ihre Bücher, ihre erfundenen Legenden, Epen, Dramen, Romane, ihre erfundenen Menschen und Taten, ihre 'Lügen"
erweisen sich als lebendiger als die Tatsachen, wie sie die Wissenschaftler mit Hilfe kritisch gesichteten Materials treulich ermittelt haben. Der Zeitgenosse
der Makkabäer, der die Geschichte von der Königin Esther erfand, hat eine stärkere Wirkung über die Zeit hinweg erreicht als die Chronisten, die die geschichtlichen Fakten der Wiedererstehung des jüdischen Nationalstaates aufzeichneten. Der erfundene Haman ist noch heute für zahllose Menschen ein
viel lebendigerer Feind dieses Nationalstaates als der tatsächliche König Antiochus, sein historisches Original. Daß das historische Urbild des Landvogts
Geßler ein bestimmter Feudalbeamter namens Peter von Hagenbach war, wissen außer mir vielleicht noch fünfhundert Menschen, und abgesehen von den
zehn Pfund Honorar, die ich für die Artikel erhielt, in dem ich diese meine Entdeckung mitteilte, hat diese Wissenschaft niemandem Nutzen gebracht. Den
völlig frei erfundenen Wilhelm Teil aber kennt jedermann, und diese Kenntnis hat allerlei und recht spürbare Folgen gehabt. Eine gute Legende, ein guter
historischer Roman ist in den meisten Fällen glaubwürdiger, bildhaftwahrer, folgenreicher, wirksamer, lebendiger als eine saubere, exakte Darstellung der
historischen Fakten.
Und damit wären wir bei dem wichtigsten Punkt. Daß es Sinn hat, zeitgenössische Romane zu schreiben, bestreiten wenige. Daß es Sinn hat, historische Wissenschaft zu treiben, bestreiten wenige: aber vielen will es nicht eingehen, daß es Sinn hat, historische Romane zu schreiben.
Dabei ist die Wissenschaftlichkeit dessen, was man heute Geschichtsschreibung nennt, äußerst fragwürdig. Nichts gegen den Historiker, der auf
der Basis der Hegelschen Philosophie an Hand von Fakten die Grundlinien der Entwicklung der Menschheit, die Gesetze dieser Entwicklung, ihre Dialektik darzulegen sucht. Aber wer unter anderen Gesichtspunkten historische Fakten zusammenstellt, darf der den Anspruch darauf erheben, ein Wissenschaftler zu sein? Gibt er nicht, wie immer er seinen Stoff anordnet, einfach durch seine Anordnung der Fakten ein subjektives Bild, gibt er nicht im besten Falle
Kunst? Der alte Skeptiker Talleyrand hat seine Erfahrung auf diesem Gebiet in dem Satz zusammengefaßt: 'Nichts läßt sich leichter arrangieren als Fakten."
Und Lytton Strachey formuliert glücklich: 'Geschichte ist offenbar nichts als eine Zusammenstellung angehäufter Fakten." Werden diese Fakten aber ohne
Kunst zusammengestellt, dann ergeben sie Geschichte so wenig, als Butter, Eier und Petersilie Anspruch darauf erheben können, ein Omelett zu sein. [... ]
Er [der Autor historischer Romane] sieht, mit dem Philosophen, seine Aufgabe darin, die natürliche klare Beziehung von Leben und Historie herzustellen,
das Vergangene, die Geschichte, für die Gegenwart und die Zukunft fruchtbar zu machen, f...)
Ich für mein Teil habe mich, seitdem ich schreibe, bemüht, historische Romane für die Vernunft zu schreiben, gegen Dummheit und Gewalt, gegen das, was
Marx das Versinken in die Geschichtslosigkeit nennt. Vielleicht gibt es auf dem Gebiet der Literatur Waffen, die unmittelbarer wirken: aber mir liegt, aus
Gründen, die ich darzulegen versuchte, am besten diese Waffe, der historische Roman, und ich beabsichtige, sie weiter zu gebrauchen.
Erstdruck: Internationale Literatur, Redakteur der deutschen Ausgabe: Johannes R. Becher. Moskau 193S, H. 9.
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Warum lesen wir historische Romane? Was bedeuten sie für den Leser?
- Auseinandersetzung mit der Vergangenheit
- Erhöhung des Verständnisses für die eigene Zeit
- Eintauchen in eine andere Zeit
Es wurden drei historische Romane vorgestellt, 2 historische Romane über den Genozid an den Armeniern, sowie 2 Sachbücher zu Armenien, die sozusagen dann auch die Überleitung zum nächsten Themenkomplex darstellten:
Franz Werfel
Die 40 Tage des Musa Dagh
Edgar Hilsenrath
Das Märchen vom letzten Gedanken
Rolf Hosfeld
Operation Nemesis (Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern)
Armin T. Wegner
Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste
Volker Kutscher
Haus Vaterland
Die vier Werke, den Genozid der Armenier betreffend, sind in dieser Handreichung dokumentiert, für das Buch
„Haus Vaterland“ ist ein Link zu der Homepage von Volker Kutscher geschaltet worden.
Bevor aber die beiden Romane und die beiden Sachbücher die Armenier betreffend vorgestellt wurden, ist erst
einmal der Begriff „Genozid“ geklärt worden und es erfolgte ein kurzer Exkurs in die türkische Geschichte.
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Der Genozid an den Armeniern
Genozid kommt von genos (gr.) = Geschlecht, Abstammung, Rasse / caedere (lat) = morden
Ein Genozid oder Völkermord liegt dann vor, wenn mit politisch administrativer Absicht und auf entsprechende Anweisungen, auf direkter oder indirekter Weise eine ethnische, nationale, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder
teilweise zerstört wird. Völkermord verjährt nicht nach den Konventionen der Vereinten Nationen von 1948. Die
erste Verurteilung unter diesen Gesichtspunkten erfolgte 1998 in Ruanda als die Volksgruppe der Hutu gegen Volksgruppe der Tutsi Krieg führte.
Der erster Völkermord des 20. Jahrhunderts erfolgte nicht, wie fälschlicherweise oft gesagt wird, an den Armenier,
sondern an den Nama und Hereros (1905 - 08) in dem damaligen Deutsch-Südwestafrika unter Generalleutnant von
Trotha. Auch das wird bis heute von Deutschland nicht als Völkermord anerkannt.
Um die beiden Romane und die beiden zu dieser Thematik vorgestellten Sachbücher im historischen Kontext betrachten zu können, ist ein kurzer Exkurs in die jüngere türkische Geschichte erforderlich.
Nach dem verlorenen Russlandkrieg (1877) erfolgte die Aufteilung des osmanischen Reiches mit erheblichen Verlusten in Arabien und auf dem Balkan. Ein Staatsbankrott schien unausweichlich wegen des Wegfalls von Einnahmen
aus diesen Bereichen. Die Hohe Pforte (Sultanat des Osmanischen Reiches) dachte durch hohe Steuern beim Volk
Ausgleich schaffen zu können. Reformen, die Sultan Abdulhamid durch die Siegermächte aufgezwungen wurden,
sind nicht durchgeführt worden. Dazu gehörten u.a. auch gewisse Zugeständnisse für die in der Türkei lebende armenische Volksgruppe, die seit über 2000 Jahren in Ostanatolien und im Südkaukasus beheimatet waren. Sie sind das
älteste christliche Volk und lebten schon länger in der Gegen als die Osmanen (Türken).
Den Aufstand der Armenier, der wegen enormer Repressalien ausbrach, ließ der Sultan durch kurdische Reiterregimenter blutig niederschlagen (1894-96). An Stelle der zugesagten Reformen fanden eine Reihe von Massakern statt.
Außerdem wurde die durch die Siegermächte durchgesetzte Verfassung wieder außer Kraft gesetzt.
1909 kam es zur Revolte durch die Jungtürken, die zurück zu Parlament und Verfassung strebten. Durch sie erfolgte
die Absetzung Abdulhamids und das Einsetzen Mehmet V. Die Hoffnungen auf Befriedung im Land und entsprechende Reformen erfüllten sich nicht. Das „Triumvirat“ Enver Pascha, Talaat Pascha und Cemal Pascha gründeten
ein sogenanntes diktatorisches „Parlament“.
1913, beim zweiter Balkankrieg, bezichtigten sie die christlich armenische Minderheit der Unterstützung des Kriegsgegners Russland und der Spionage für den Feind. Es wurde ein Kollektiv-Vorwurf auf alle Armenier übertragen und
die durchgeführten Massaker an den Armeniern als kriegsbedingte Maßnahme deklariert.
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Franz Werfel
Die 40 Tage des Musa Dagh
Als Franz Werfel sich Anfang des Jahres 1930 mit seiner Frau Alma in Damaskus aufhielt, welches seinerzeit zum französisch verwalteten Syrien gehörte,
begegnete er verstümmelten armenischen Jugendlichen, erfuhr über die Massaker an den Armeniern, sprach mit Zeitzeugen und war derart erschüttert,
dass er den Entschluss fasste, den Abwehrkampf und das Elend des armenischen Volkes festzuhalten. Er begann zu recherchieren, bekam Einsicht in
die französischen Kriegsberichte, nahm Kontakt zu Lepsius und Wegner auf
und schrieb das Buch 1932-33. Es wurde dann 1934 in Deutschland verboten
und Werfel wird aus der Preußischen Akademie der Künste ausgeschlossen.
Werfel nimmt in diesem Buch hellseherisch den Holocaust vorweg.
Adolf Hitler gab einigen skeptischen Offizieren gegenüber, die ihm unmittelbar vor Kriegsbeginn zu Bedenken gaben, Deutschlands Ansehen im Ausland
könnte Schaden nehmen, wenn man tatsächlich versuche, das jüdische Volk
zu vernichten, zur Antwort: Wer erinnert sich denn heute noch an die Massaker der
Türken am armenischen Volk? (22. August 1939)
Aber nicht nur die Armenier, sondern auch die Juden verinnerlichten diesen
Roman und nahmen ihn als Vorbild für Kämpfe ihrerseits.
Reich-Ranicki beschreibt in seiner Autobiographie, wie im Warschauer Ghetto über Kerzenlicht gebeugt, die Juden den Roman lasen.
In seinem Buch erzählt Werfel die Geschichte des Armeniers Gabriel Bagradian, (eine fiktive Gestalt, der Name lehnt sich an das Königsgeschlecht der
Bagratiden an). Er ist der Enkel eines in der Umgebung des Musa Dagh sehr
geachteten Mannes, dem Begründer eines bekannten Istambuler Handelshauses mit Niederlassungen in Paris, London und New York. Gabriel wuchs in
Paris auf und studierte dort. Er heiratet eine Französin, ist in Frankreich völlig assimiliert. Als er zurück in seine Heimat muss, zusammen mit seiner
Frau und seinem 13-jährigen Sohn, weil sein älterer Bruder, der die Familiengeschäfte leitet, schwer erkrankt ist, bricht der Erste Weltkrieg aus und es
gibt kein Zurück aus der Türkei. In Konstantinopel werden armenische Intellektuelle verhaftet und deportiert und ein mit der Familie Bagradian befreundeter hoher türkischer Offizier gibt ihm den Rat, sich mit seiner Familie in
das Heimatdorf am Fuße des Musa Dagh vorerst zurückzuziehen, bis sich
die Lage beruhigt hat. Zuerst hat er Probleme, sich wieder in seine dörfliche
armenische Umgebung einzuleben, doch im Laufe der Zeit entdeckt er seine
Beziehung zu Armenien neu. Die dunklen politischen Wolken, die aufziehen,
will außer Bagradian niemand sehen. Seine Frau ist als Gesellschaftsdame
voll und ganz in ihrem Element und die Notabeln der armenischen Gesellschaft fühlen sich wohl bei ihren Gesellschaften und wollen nichts von drohendem Unheil hören.
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Die Situation spitzt sich jedoch dramatisch zu, zuerst werden ihnen die Inlandspässe, dann die Auslandspässe weggenommen unter dem Vorwand, sie müssten geändert werden.
Den christlichen Armeniern in der Umgebung wurde aber erst klar, was mit ihnen geschieht, als sie hörten, was mit
den Armeniern in Zeitun, der Kreishauptstadt, passiert ist: Ihnen wurde ihr Hab und Gut weggenommen. Sie wurden vertrieben, erschossen, vergewaltigt. Das erfahren sie von einer Zeituner Familie, der es gelungen ist, sich diesen
Qualen durch Flucht zu entziehen.
Kurz darauf erreichte der Befehl Gabriel Bagradjan und seine Mitbewohner, dass sie nur sieben Tage Zeit haben, um
sich auf die Verbannung vorzubereiten. Aber bei dem Gedanken die Familien in die Wüste zu schicken, beschließen
sie, sich dem Befehl zu widersetzen und entschieden sich für den Widerstand. Weil die Dörfer selbst schlecht zu verteidigen waren, zogen die zum Widerstand entschlossenen über 800 Familien (ca.5ooo Menschen), auf den Musa
Dagh. Alle Schafe- und Ziegenherden wurden mitgenommen, sowie alle Lebensmittel und die verfügbaren Waffen,
was nicht einmal ausreichte, um die Hälfte der Männer zu bewaffnen.
Es wurde auf dem Berg ein Heer errichtet, vier Mann bildeten die militärische Führung. Es wurden Gräber ausgehoben, Steinwälle errichtet und alle Eingänge des Berges wurden gesichert, sie stellten eine Eingreifreserve auf und
Gabriel Bagradjan wurde Befehlshaber über die militärischen Angelegenheiten. Auf dem Berg wurden Einrichtungen
kommunaler Art, Kirche, Krankenstation, Versammlungsort und vor allem Laubhütten und Zelte für die Menschen
geschaffen, also ein funktionierendes Gemeinwesen, an dessen Spitze einige, die letztendliche Verantwortung tragende Persönlichkeiten von den einzelnen Dorfgemeinschaften gewählt, die sozusagen die Regierung des kleinen Kosmos auf dem Berg stellten. Ausführlich wird sowohl das Leben auf dem Berg als auch die Kämpfe der Eingeschlossenen gegen die türkischen Angreifer beschrieben.
Die Überlebenden des Berges werden nach 40 Tagen gerettet. Gabriel will auf dem Berg noch einmal Abschied nehmen und wird von türkischen Freischärlern erschossen.
Zweimal wird der Roman durch fast dokumentarische Kapitel unterbrochen, "Zwischenspiel der Götter" genannt.
Es geht um den deutschen Pastor Lepsius, der sich seit langem für die Armenier im Osmanischen Reich einsetzte
und zu Beginn des Ersten Weltkrieges die deutsch-armenische Gesellschaft gründete. Gleich zu Anfang des Buches
wird sein Besuch in Konstantinopel beschrieben. Er trifft die Spitzen der osmanischen Regierung, Enver Pascha und
Talaat Pascha. Sie versichern, es seien keine neuen Massaker geplant, nur Umsiedlungen und gehen auf die Beobachtungen von Lepsius gar nicht ein.
Das zweite "Zwischenspiel der Götter" findet statt, als ein Großteil der armenischen Bevölkerung bereits deportiert
oder tot ist. Lepsius wird im Auswärtigen Amt nur von untergeordneten Beamten empfangen, die ihm klar machen,
dass Deutschland den Verbündeten nicht kritisieren wird. Auch in der Türkei hat er keinen Zugang zur Regierung
mehr.
Ein Journalist schrieb in der Jewish Post 1934: Ich lese jetzt das Buch von Werfel: Die 40 Tage…: Der große Roman behandelt
das Schicksal der Armenier im 1. Weltkrieg. Wie viel Verwandtes ist da mit den Judenschicksalen. Aber letztendlich hat doch niemand in der Welt den Armeniern geholfen und das Volk ist zugrunde gegangen.
Historischen Quellen zufolge wurden überlebenden Armenier nach 53 Tagen von einem französischen Kanonenboot
gerettet. Warum schreibt Werfel von 40 Tagen? Er nimmt hier Bezug auf die Bedeutung der Zahl 40 in der Bibel:
40 Tage Sintflut, 40 Tag Moses auf dem Berg Sinai, 40 Jahre zog das Volk Israel durch die Wüste, Prophet Elija geht
nach schweren Depressionen 40 Tage und 40 Nächte zum Berg Horeb, um Gott zu begegnen, 40-tägige Zeit – als
"Quadragesima" – Fastenzeit vor Ostern.
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In einem Brief an seine Eltern schrieb Werfel 1932: Ich bin ganz in meinem neuen Buch versunken, das seinem Ausmaß nach
riesig wird, 1000 Seiten, es wird vielleicht mein Hauptwerk sein, ungeheure Verantwortung hängt daran, durch die Ereignisse hat
es symbolische Aktualität bekommen: Unterdrückung Vernichtung von Minoritäten durch den Nationalismus.
Denn ein zentrales Motiv des Romans ist die einerseits individuelle andererseits generelle Fremdheit, die im Roman
gezeigt wird, die Frage nach Identität. Da ist zum einen Gabriel Bagradian selbst, der als assimilierter Kultureuropäer mit osmanischem Pass anfangs in Spannung zu seinen armenischen Wurzeln lebt, dann aber durch die politische
Situation zum Armenier gemacht wird, sich darin aber fremd fühlt. So ging es nach 1933 Werfel ähnlich.
Da ist seine Frau, die als kultivierte Französin kaum eine Chance hat, von den Armeniern anerkannt zu werden, so
sehr sie sich auch um Anerkennung bemühte.
Das könnte auch als eine Anspielung auf die Situation seiner Frau Alma in seiner Familie sein, die als Nichtjüdin keine Anerkennung fand.
Und da ist der Sohn, der sich in Sprache, Verhalten und Kleidung seinen armenischen Altersgenossen anzupassen versucht, für diese aber immer das verwöhnte, fremde Herrensöhnchen bleibt.
Und da ist - generell - das Schicksal der Armenier im türkischen Großreich: Sie haben für das Osmanische Reich in
Kriegen ihr Leben gelassen, sich der türkischen Obrigkeit untergeordnet, dennoch wurden sie als Fremde abgestempelt, verfolgt, vertrieben und ermordet.
Und die türkischen Verfolgungsmaßnahmen verweisen ganz klar auf die kommenden Maßnahmen der Nazis: Passentzug, Entwaffnung, Schließung der Geschäfte, Enteignung, Deportation, Ermordung.
Eine große Stärke dieses Romans liegt neben der Weitsichtig des Autors, der den Holocaust kommen sah, in der
Schilderung der Gedanken, Gefühle, Empfindungen und Verhaltensweisen der einzelnen Protagonisten. Neben dem
großen Handlungsbogen, der über fast 1000 Seiten die Spannung hält, sind es vor allem die minutiösen Beschreibungen und Darstellungen des Alltags auf dem Musa Dagh, mit klar definierten Zuständigkeiten, eindeutiger Aufgabenzuteilung und geregelten Arbeitsabläufen, die bestechen. Ein Mikrokosmos, eine Notgemeinschaft, in der sich Probleme gesellschaftlicher und sozialer Art darstellen, wie man sie überall findet. Diese Menschen werden überhaupt
nicht idealisiert, sie werden mit allen Größen, Schwächen, Gemeinheiten und was der Mensch noch alles an Eigenschaften zu bieten hat, dargestellt.
Und so wird der Musa Dagh oft mit dem Widerstand in den jüdischen Ghettos während des Zweiten Weltkriegs verglichen. Eines von ihnen, das Ghetto von Bialystok, fand sich in der gleichen Situation wie der Musa Dagh. Im Februar 1943 wurde Mordechai Tenenbaum vom Wilnaer Ghetto geschickt, um den Widerstand in Bialystok zu organisieren. Aus den Aufzeichnungen der Sitzungen: „Nur eins bleibt für uns: den kollektiven Widerstand im Ghetto zu organisieren, um jeden Preis! Das Ghetto als unseren Musa Dagh zu betrachten, um ein ehrenvolles Kapitel des jüdischen Bialystok und unserer Bewegung in die Geschichte zu schreiben!“
1942 erwogen viele Juden in Israel einen Rückzug mit Verteidigung auf dem Karmelberg wegen eines möglichen Einmarsches der Nazis in der Region. Benannt als „Northern Program“, „Carmel-“, „Massada-“ oder „Musa-Dagh-Plan“,
war es gedacht als ein Bollwerk gegen die Nazi-Angriffe. Meir Batz, einer der Führer der jüdischen Milizen, der auch
den Roman gelesen hatte, erklärte, dass die Gemeinschaft den Karmel in den Musa Dagh des palästinensischen Judentums wandeln wolle … „Wir setzten unser Vertrauen in die Stärke des jüdischen Musa Dagh und waren entschlossen, auszuhalten für mindestens drei bis vier Monate.“
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Edgar Hilsenrath
Das Märchen vom letzten Gedanken
Historischer Roman aus dem Kaukasus
Heyne Verlag 1994
Der Roman erzählt die Geschichte der Familie Khatisians und damit gleichzeitig die Geschichte des armenischen Volkes.
Der letzte Gedanke eines Märchens kann alle Zeiten und Grenzen überwinden. Der letzte Gedanke des letzten Sprosses der Familie Khatisian sitzt zusammen mit dem körperlosen Märchenerzähler auf der Stadtmauer der anatolischen Stadt Bakir und erfährt über diesen vom Leidensweg seiner Familie
und damit seines Volkes. Der Märchenerzähler zeigt ihm die Folterkammern
der türkischen Gefängnisse, lässt ihn die Leiden der Deportation erfahren,
das große Pogrom von 1915 erleben und geht weit zurück in die armenische
und damit auch türkische Geschichte. Wir erfahren viel über die Sitten und
Gebräuche, über das Leben der Armenier und deren Zusammenleben mit
ihren türkischen Nachbarn. Wir erfahren auch, wie die Vertreibung und Ermordung der Armenier politisch vorbereitet wurde und die türkische Bevölkerung von den administrativen Kräften mit Lug und Trug gegen die armenischen Nachbarn aufgebracht wurden. Wir erfahren auch einiges über die Verstrickung z.B. der Deutschen in den unvorstellbaren Genozid. Das Buch ist
trotz seiner märchenhaften Art und der mitunter sehr drastischen Ausdrucksweise streckenweise so grausam geschrieben, dass es manchmal schwerfällt,
weiterzulesen. Aber wie sonst soll das Grauenhafte, das Unmenschliche beschrieben werden? Nach der Erstveröffentlichung 1989 von Hilsenrath
schrieb der Kritiker Alexander von Bormann in der Neuen Zürcher Zeitung
mit Bezug auf „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ von Franz Werfel, der bis
dahin als bester Armenierroman der Weltliteratur galt: „Doch finde ich Hilsenraths Roman dem Werfels bedeutsam überlegen: er ist ein historischer und poetischer
zugleich... Mit Recht hat Hilsenrath den Döblin-Preis 1989 für dieses Werk bekommen.“ Hilsenrath hatte 1989 natürlich schon ganz andere Möglichkeiten seine
Recherche durchzuführen. Monatelang u.a. im Armenian National Institut /
Kalifornien hatte er geforscht. Sein Buch ist trotz seiner märchenhaften Art
grausam und faszinierend zugleich und es lässt einen beim Lesen überhaupt
nicht los. Wie alle Bücher von Hilsenrath, die sich ja ausschließlich mit dem
Holocaust und den individuellen Folgen beschäftigen, ist es sehr drastisch
geschrieben. Das „Märchen“ von Hilsenrath stellt eine historische und literarische Ergänzung zu Werfels „40 Tagen“ dar.
Die Türkei, die bis heute die Massaker an den Armeniern als sogenannten
Kollateralschaden des 1. Weltkrieges darstellen und den Begriff des Völkermordes hierfür leugnen, legen immer wieder dar, dass die Armenier einen
Aufstand zusammen mit dem Kriegsgegner planten und deshalb aus dieser
Gegend umgesiedelt werden mussten.
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Rolf Hosefeld
Operation Nemesis
Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern
Kiepenheuer & Witsch 2005
Rolf Hosfeld, promovierter Germanist, Politologe u Philosoph, hat in diesem Buch die politischen und historischen Fakten so spannend zusammengestellt, dass es sich wie ein Krimi liest. All diejenigen, die immer noch diesen
Genozid leugnen, sollten nach der Lektüre dieses Buches eines Besseren belehrt sein. Es geht in diesem Buch nicht nur um die ungeheure Schuld, die
seinerzeit die türkische Regierung auf sich geladen hat, es geht auch um die
indirekte Befürwortung des Deutschen Reiches und vor allem auch, dass weder die moderne Türkei noch die Bundesrepublik Deutschland die Ermordung der Armenier als Genozid anerkennen.
... So sehr man aber über Zahlen streiten mag, das Ergebnis, die vollständige Vernichtung des armenischen Einflusses in Anatolien, ist jedoch eindeutig. ...
Ebenso eindeutig ist, dass der Völkermord an den Armeniern ohne die schützende Hand
des Deutschen Reiches während des Waffenbündnisses mit der Türkei im Ersten Weltkrieg kaum möglich gewesen wäre.
(Seite 311 Operation Nemesis)
Im Juni 1921 wird das Berliner Landgericht zum Schauplatz eines Prozesses, der die
Welt aufrüttelt. Der Angeklagte hat den Verantwortlichen für den Völkermord an den
Armeniern, den ehemaligen türkischen Großwesir Talaat Pascha in Charlottenburg
auf offener Straße erschossen. Der junge Angeklagte wird freigesprochen.
Was das Gericht nicht weiß: Er gehört dem geheimen Kommando »Nemesis« an, das
sich zum Ziel gesetzt hat, die untergetauchten Haupttäter des ersten großen Genozids
unserer Zeit, dem 1,4 Millionen Armenier zum Opfer fielen, zur Strecke zu bringen.
Rolf Hosfeld erzählt die Hintergründe dieses Mordes: Die Massaker zur Zeit des Sultans Abdul Hamid II., die Europa schockieren und Kaiser Wilhelm II. gleichgültig
lassen. Die Entstehung eines aggressiven türkischen Nationalismus, und schließlich die
systematische Vernichtungspolitik unter dem Schutz des Bündnisses mit dem Deutschen
Reich im Ersten Weltkrieg. Nach dem Krieg werden die Hauptverantwortlichen dieses
Menschheitsverbrechens, das vom türkischen Staat bis heute geleugnet wird, durch ein
Kriegsgericht in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Die meisten von ihnen jedoch fallen
der »Operation Nemesis« zum Opfer.
(Klappentext)
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Armin T. Wegner
Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste
Wa l l s t e i n
2 0 1 1
Armin T. Wegner (promovierter Jurist) war ein deutscher Reiseschriftsteller,
Lyriker und vor allem Pazifist, der 1933 einen legendären Brief an Hitler
schrieb, in dem er gegen die Judenverfolgung protestierte. Nach KZ-Haft,
Folter, Verbrennung seiner Bücher musste er Deutschland verlassen und
starb 1978 in Rom.
Die Gedenkstätte Yad Vashem ehrt ihn dauerhaft als Gerechten der Völker.
Als Sanitäter war er im Ersten Weltkrieg in der Türkei und sah den Deportationsmarsch der Armenier, die von den Türken in die syrische Wüste getriebenen wurden.
Er fotografierte trotz des Verbotes die Grausamkeiten auf dem Weg dorthin.
In den Jahren 1915 bis 1917 fanden nach Schätzungen bis zu 1,3 Millionen Armenier den Tod. In einem offenen Brief an den amerikanischen Präsidenten
Wilson protestierte Wegner gegen dieses ungeheure Morden, ebenso bei der
kaiserlichen Diplomatie, ohne allerdings Erfolg zu haben.
Die Fotografien schmuggelte er, am Körper versteckt, nach Deutschland und
erstellte eine Dokumentation. 1919 hielt er in der Berliner Urania seinen ersten DIA-Vortrag, es folgten Vorträge in Breslau und Wien. Einen Roman,
den er über diesen Völkermord angefangen hatte, beendete er nicht, da der
erste Vorabdruck von Werfels „40 Tagen“ erschienen war.
Es existieren unterschiedliche Fassungen seines Vortrages im Wegner-Archiv
und in der Familie. Dem vorliegenden Buch liegt seine letzte Fassung, die er
für den Vortrag in Wien erstellt hatte, zugrunde.
Ein Essay des Wissenschaftsjournalisten Wolfgang Gust ergänzt die Aufzeichnungen von Wegner durch historische Beschreibung der Situation im osmanischen Reich von 1915/16.
21
4
Politische
Literatur
Politische Literatur ist ein Sammelbegriff für die Literatur, die sich mit allen
politischen Themen, Ideen und Ereignissen befasst. Das kann in unterschiedlichen Gattungen erfolgen, in Gedichten und Liedern, mit Flugblätter, Pamphleten und Traktaten. Es können Essays sein, Sachbücher, Briefe, Kurzgeschichten oder Romane. Auch Kinderbücher und Comics können hoch politisch sein.
Politische Literatur thematisiert gesellschaftliche und politische Zustände,
die kritisch reflektiert werden, d.h. im Fokus steht die Gesellschaftskritik.
Oder Zustände werden unter ideologischen oder ethischen Gesichtspunkten
betrachtet, d.h. die Moral steht dann im Fokus. Es können aber auch pädagogisch-didaktische Gesichtspunkte eine Rolle spielen, d.h. dann will der Autor
seine Leserschaft in Hinsicht auf gesellschaftliche Veränderung „erziehen“.
Oder der Autor will einfach nur informieren. Oder es ist von allem etwas in
einem Buch enthalten.
Gibt es überhaupt unpolitische Literatur? Will nicht jeder Autor mit seinen
Werken etwas erreichen? ... und sei es nur die reine Unterhaltung, das Ablenken vom Alltag!
Aber uns geht es hier nicht um die politischen Aspekte in der allgemeinen
Literatur, sondern vor allem um das Sachbuch, das uns politische Informationen liefert, uns anregt, über aktuelle politische Situationen nachzudenken
und diese zu diskutieren, bestehende Meinungen und Urteile kritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls zu revidieren. Es geht darum, unsere heutigen
politischen, sozialen und gesellschaftlichen Probleme und Gemengelagen zu
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verstehen und, wenn möglich, in Prozesse einzugreifen, ggf. durch bürgerschaftliches oder ehrenamtliches Engagement.
Warum lesen wir politische Literatur? Geht es uns um:
- Verständnis für die Zeit, in der wir leben
- Auseinandersetzung mit der eigenen Zeit
- Veränderungspotenziale ausloten
Es wurden zwei Bücher vorgestellt:
Yvonne Hofstetter: Sie wissen alles
Peter Scholl-Latour: Der Fluch der bösen Tat
Bevor das Buch von Yvonne Hofstetter vorgestellt wurde, ist die Problematik „Whistleblower“ thematisiert worden.
Ein Whistleblower (von engl.: to blow the whistle, ‚in die Pfeife blasen‘; im deutschen Sprachraum auch ‚Enthüller‘, ‚Skandalaufdecker‘ oder ‚Hinweisgeber‘) ist eine Person, die für die Allgemeinheit wichtige Informationen aus einem geheimen oder geschützten
Zusammenhang an die Öffentlichkeit bringt. Dazu gehören typischerweise Missstände oder Verbrechen wie Korruption, Insiderhandel, Menschenrechtsverletzungen, Datenmissbrauch oder allgemeine Gefahren, von denen der Whistleblower an seinem Arbeitsplatz
oder in anderen Zusammenhängen erfährt. Im Allgemeinen betrifft dies vor allem Vorgänge in der Politik, in Behörden und in Wirtschaftsunternehmen.
Dabei handelt ein Whistleblower stets uneigennützig. Der Begriff Whistleblower ist positiv besetzt, das negativ konnotierte Pendant ist Nestbeschmutzer.
Whistleblower genießen in Teilen der Öffentlichkeit ein hohes Ansehen, weil sie für Transparenz sorgen und sich als Informanten
selbst in Gefahr begeben oder anderweitige gravierende Auswirkungen auf ihr Leben und ihre Arbeit riskieren.
(Ausschnitt aus Wikipedia, mehr über den unteren Link)
http://de.wikipedia.org/wiki/Whistleblower
Bekannte Whistleblower:
Edward Snowden – ehemaliger technischer Mitarbeiter der US-amerikanischen Geheimdienste NSA und CIA,
der mit Hilfe Tausender kopierter Dokumente die Existenz von Programmen amerikanischer und britischer Geheimdienste öffentlich machte, die der Totalüberwachung des weltweiten Internetverkehrs dienen, darunter PRISM,
Tempora und Boundless Informant. Lebt derzeit in Moskau, wo er Asyl erhalten hat.
Bradley Manning (heute nach rechtskräftiger Namensänderung: Chelsea Manning) - ehemaliger US-Soldat, machte geheime Dokumente über die US-Einsätze im Irak und in Afghanistan öffentlich, weil er die Öffentlichkeit auf
das seiner Meinung nach „unmoralische Handeln“ seiner Regierung aufmerksam machen wollte, wie etwa Folter von
Verdächtigen. Im August 2013 wurde er zu 35 Jahren Haft und einer Geldstrafe von 100.000 US-$ verurteilt. Seine
Haftbedingungen und Behandlung durch US-Behörden wurden mehrfach massiv kritisiert, unter anderem von der
UNO.
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Yvonne Hofstetter
Sie wissen alles
Wie intelligente Maschinen in unser Leben eindringen und warum wir für unsere Freiheit kämpfen müssen
Bertelsmann-Verlag 2014/ 1. Auflage
In Ihrem Auto fühlen Sie sich grenzenlos frei und unbeobachtet? Ihr Neuwagen weiß genau, wo Sie fahren, merkt sich Ihr Fahrverhalten und leitet es weiter, etwa Ihrer Autoversicherung. Sie glauben, dass sich niemand für Ihr Liebesleben interessiert? Der selbst lernende Heizungsthermostat schon. Er verrät Ihrem Energieanbieter, ob und wann Sie zu Hause aktiv sind. Die schöne
neue Welt der smarten, vernetzten Telefone, Häuser und Alltagsgegenstände
verspricht uns Komfort und ein schönes Leben. Dafür aber wollen sie alles
von uns wissen. Wir haben es gern bequem, und das hat eben seinen Preis.
An dieser Stelle widerspricht Yvonne Hofstetter leidenschaftlich. Es ist ein
Spiel mit dem Feuer, der Einsatz unverhältnismäßig hoch. Die intelligenten
Systeme der digitalen Revolution - auch als Big Data bekannt - lösen nicht
nur einen technologischen sondern einen gesamtgesellschaftlichen Paradigmenwechsel aus. Die digitalen Landnahmen á la Google, Facebook oder Amazon sind in Goldgräberstimmung. Der freie Mensch jedoch, der über sich
selbst bestimmt - er steht auf dem Spiel. Intelligente Maschinen, die uns „optimieren“ wollen, greifen in unseren Alltag ein und regeln unsere Zukunft.
Unsere Menschenwürde, eine der großen Errungenschaften europäischer Geschichte, ist akut bedroht und damit unsere demokratische Grundordnung.
Yvonne Hofstetter proklamiert die längst fällige engagierte Debatte darüber,
wie unsere Gesellschaft unter dem Regime künftig aussehen soll. Mit dem
Selbstbestimmungsrecht über die Daten, die untrennbar mit unserer Person
verknüpft sind, müssen wir auch unsere Freiheit zurückerobern. Wir brauchen neue Regeln für den noch rechtsfreien Raum und die gewaltige Dynamik rund um die Revolution, die sich Big Data nennt. Nur so kann aus der
Gefahr für uns alle ein großer Wurf für Wachstum und Wohlstand der Zukunft werden.
( Klappentext )
Waltraut Seidler stellte diese Buch sehr eindrucksvoll und intensiv im Seminar vor, wählte die folgenden Zitate aus und machte uns auf Literatur aufmerksam, die ebenfalls entsprechende Probleme beinhaltet.
Zitate aus dem Buch von Y. Hofstetter:
"Die nur vermeintlich vernünftige Nutzenmaximierung wird dazu führen, dass
sich Menschen freiwillig der Leitung und Kontrolle intelligenter Maschinen unterordnen werden.
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Komplex und teuer sowohl in Entwicklung als auch im Unterhalt befinden sich die Systeme der Analyse, Prädikation
und Steuerung in den Händen weniger kommerzieller Organisationen. Sie werden zu den neuen Autoritäten der
schönen neuen kontrollierten Welt, nicht durch die Handlung des Souveräns - dazu gehören sowohl die politische
Willensbildung von unten als auch die Wahl der Repräsentanten mit mehr oder weniger Charakterfestigkeit und Integrität -, sondern schlicht durch Besitz und Verfügungsgewalt über die komplexen Systeme der proaktiven Steuerung, verbunden mit der kontinuierlichen Überwachung der Zivilgesellschaft." S.279.
Originalzitat des Topmanagers von Google, Eric Schmidt:
"Was wir tun, ist gut für die Menschheit, Punkt."
Aber:
"Die Gesetze der Big-Data-Industrie - sie müssen nicht gelten, noch sind sie nicht in Stein gemeißelt. Noch können wir selbst die
Rahmenbedingungen festlegen, damit die Freiheit nicht verfällt und zu dem wird, was wir uns niemals hätten träumen lassen: zur
Unbekannten." S.280
Bücher mit ähnlicher Thematik:
Sachbücher:
Joseph Weizenbaum: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, suhrkamp taschenbuch, 1990/
8.Auflage; zum ersten Mal erschienen 1976 in den USA
Jaron Lanier: Wem gehört die Zukunft? Hoffmann und Campe 2014/ 1.Auflage
Roman:
Dave Eggers, Der Circle, Kiepenheuer & Witsch 2014/ 1. Auflage
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Peter Scholl-Latour
Der Fluch der bösen Tat - Das Scheitern des Westens im Orient
Propylen September 2014
„Das eben ist der Fluch der bösen Tat, dass sie, fortzeugend, immer Böses
muss gebären.“
Friedrich Schiller, Wallenstein
Diese Motto stellt Scholl-Latour nicht nur seinem Buch voran, sondern es
springt den Leser in jedem Kapitel immer wieder an. Er schreibt gegen den
Mainstream der öffentlichen Meinung, verknüpft Selbsterlebtes aus den letzten 65 Reporterjahren mit aktuellen politischen Analysen. Das Buch beginnt
mit einer düsteren Bestandsaufnahme. "Vor einem Jahr noch konnte die Welt mit
Gelassenheit auf das anstehende Jahr 2014 blicken. Eine kriegerische Konfrontation
auf europäischem Boden schien nicht mehr vorstellbar. Heute sind diese Illusionen zerplatzt. … Alte Wunden, von denen man annahm, sie seien längst verheilt, brechen wieder auf."
Seiner Meinung nach könnte der Konflikt in der Ukraine sich in Richtung
"Sarajewo im Donbass“ entwickeln: „… Der Wunsch der ost-ukrainischen Provinzen Luganzk und Donezk, sich aus der Bevormundung durch Kiew zu lösen, wäre vielleicht auf diplomatischem Wege zu regeln gewesen.“ Hier handelt es sich für ihn
um einen historischen Konflikt zwischen dem einst österreichisch - griechisch - katholischem Ost-Galizien im Westen und dem zutiefst russisch byzantinisch geprägten Dombaz. Im 2. Weltkrieg waren in Ost-Galizien, der
heutigen West-Ukraine, die Deutschen als Befreier von Russland gefeiert
worden und 150 000 ukrainische Nationalisten kämpften in der Waffen-SS.
Östlich vom Dnjeper, der heutigen Ost-Ukraine, führten die Deutschen einen Vernichtungskrieg und die russische Armee wurde 1945 als Befreier gefeiert. Das alles hat bis heute seine Spuren hinterlassen.
Der tragische Absturz der Malaysian Airlines MH 17 gibt das Rätsel auf, ob
und wer die Maschine abgeschossen haben könnte. Es kann nicht im Interesse Putins gewesen sein, eine solcheTragödie herbeizuführen. In einem seiner
letzten Interviews bemerkte Scholl-Latour: Wir leben in einem Zeitalter der Massenverblödung, besonders der medialen Massenverblödung.
Man sollt immer nachfragen: cui bono - wem zum Vorteil, wem nützt es?
Nachdem von der Europäischen Gemeinschaft der Beitritt der Ukraine in
die Eurasische Union mit der Verlockung einer wirtschaftlichen Assoziation
an die EU hintertrieben wurde, sind die Grenzen der SU nach Westen destabilisiert worden. Helmut Kohl hatte dem Generalsekretär der KPdSU, Michail Gorbatschow, seinerzeit vor der Vereinigung der beiden deutschen Staaten die Zusicherung gemacht, dass ein Beitritt der Staaten des ehemaligen
Warschauer Paktes zur NATO ausgeschlossen sein würde.
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Die Befürchtung der SU, dass ein solches Angebot, nämlich das einer Wirtschaftsassoziation, nur eine Vorstufe zur
Ausdehnung der NATO nach Osten bedeuten könnte, ist nach Scholl-Latour mehr als verständlich und nach seiner
Meinung muss man kein „Putin-Versteher“ sein, um das zu begreifen. Und unbegreiflich empfindet Scholl-Latour,
dass die westliche Allianz es nicht nachvollziehen kann, wie unerträglich es für Putin sein muss, dass die US-Air
Force in unmittelbarer Nachbarschaft von Sankt Petersburg Übungsflüge veranstaltet und dass Putin Befürchtungen
habe, dass nach Ablauf des ukrainisch-russischen Vertrages (Chruschtschow hatte 1954 die Krim an die damalige Sowjetische Republik Ukraine gegeben) US Flugzeugträger vor Sewastopol ankern würden.
... Aus Berlin ertönte nicht der geringste Einwand, als die ultrakonservative Mannschaft von Präsident George Bush, nachdem die
Orange Revolution von 2004 in Kiew nicht zum Ziel geführt hatte, die früheren Ostblockstaaten von Estland bis Bulgarien in das
Atlantische Bündnis integrierte und somit die USA unmittelbar an die Grenzen des noch verbliebenen russischen Machtbereichs in
Europa heran schob. Zur offenen Verstimmung kam es, als das Pentagon in diesem neuen Areal einen Raketenzaun, ein Abwehrsystem feindlicher Lenkwaffen, plante, was angeblich gegen die islamistische Republik Iran gerichtet war. …
Scholl-Latour warnt vor der Isolation Russlands, der Explosivität des Nahen Ostens und der Herausforderung durch
China. Aktuelle Konflikte im Kaukasus, Pakistan, Iran hat er lange vorausgesehen, sowie sie als Vorzeichen eines
neuen kalten Krieges, den der Westen nur verlieren kann, gedeutet. Auch die bestehenden Probleme in der Türkei
und die Konflikte in der Arabischen Welt sind von ihm Jahrzehnte im Voraus beschrieben worden (z.B. in seinem
Buch: Allahs Schatten über Atatürk).
Darüber hinaus beklagt Scholl-Latour die "unterwürfige Haltung" der Europäer gegenüber den USA. Den Ausspruch
"Fuck the EU" der amerikanischen Spitzendiplomatin Victoria Nuland hätte er gern mit einem entschiedenen "Fuck
off " Richtung Washington beantwortet gesehen.
Neben der Ukraine-Krise besteht für ihn ebenfalls eine weitere große Kriegsgefahr im Nahen Osten durch die bislang ungelöste und unhaltbare Situation der Palästinenser. Netanjahu ließ die Tunnel palästinensischer Widerstandskämpfer im Gaza-Streifen sprengen, wodurch es erneut zu enormen Verlusten der palästinensischen Zivilbevölkerung kam: Für die zwei Millionen Menschen, die im Küstenfetzen von Gaza zusammengepfercht leben, schlägt die Stunde der totalen Verzweiflung.
Die Probleme des gesamten Nahen Ostens haben ihre Wurzeln in der willkürlichen Grenzziehungen nach dem Ersten Weltkrieg, in der auf Lügen basierende Invasion in den Irak 2003 bis zu der „unangemessenen, weil auf Unkenntnis
basierenden Euphorie über den Arabischen Frühling 2011“. Das Entstehen der Terrormiliz IS hätte erkannt und früher bekämpft werden müssen und nicht der Iran mit seinem relativ weltoffenen Schiitentum sondern Saudi-Arabien mit
seinem alle anderen Religionen ausgrenzenden Wahhabismus, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate und Kuwait müsste von den westlichen Staaten verteufelt und nicht als Partner hofiert werden.
Der Tod von Peter Scholl-Latour im August 2014 bedeutet für alle, die sich objektiv über Krisen und deren Ursachen
informieren wollen, ein großer Verlust. Er hat in seinen Büchern Hintergründe aus historischer, ökonomischer und
weltanschaulicher Sicht in einem auch für politisch nicht so versierte Leser gut lesbaren Stil erklärt.
Sein letztes Werk „Der Fluch der bösen Tat“, das posthum erschienen ist, kann durchaus als sein Vermächtnis betrachtet werden, das unsere derzeitig wirren politischen Landschaften ein bisschen zu enträtseln hilft.
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5
Sachbücher
Bei Sachbüchern (Non-Fiction) handelt es sich um Textsammlungen zu unterschiedlichen Themen aus Politik, Wirtschaft, Gesundheit, Kultur, Sport usw.
Im Unterschied zu Fachbüchern richten sich Sachbücher nicht unbedingt an
fachkundige Leser, sondern durchaus an Leser ohne Vorkenntnisse. Sachbücher beschäftigen sich in aller Regel mit Themen und Trends der Zeit, in der
sie geschrieben wurden, selbst „Kochbücher“ unterliegt dem jeweiligen Zeitgeist. Auch Nachschlagewerke, Enzyklopädien, Schulbücher, Musikbücher,
Reiseliteratur, auch Almanache zählen in der Regel zu den Sachbüchern.
Sachbuch ähnliche Schriften, die wissenswerte Informationen über den Menschen oder die Welt beinhalteten, gab es schon in der Antike vor mehr als
2000 Jahren. Die ersten überlieferten Formen sind die Lehrgedichte (didaktische Epen) von Hesiod (700 v. Chr.) (Theogonie: Entstehung der Welt u. der
Götter) (Erga/Werke und Tage: Landwirtschaftliches Arbeiten, die Erbteilung und deren Gefahren, Verschuldung und nachbarschaftliche Solidarität,
die das Überleben in der bäuerlichen Gemeinschaft sichern sollten).
Die ersten Sachbücher nach unserer heutigen Definition entstanden allerdings erst viel später, nämlich während der Zeit der Aufklärung im 17. Jahrhundert, wobei es hier vor allem um die Erklärung von Naturphänomenen
ging.
Der Tscheche Johann Amos Comenius schrieb das erste als Sachbuch anerkannte Werk: Orbis sensualium pictus (Die sichtbare Welt in Bildern) 1658.
Es war zu seiner Zeit ein lehrreiches Standardwerk und befasste sich mit vielen Themen aus verschiedenen Wissensgebieten. Späterhin entwickelte sich
das Sachbuch so, dass je Buch die Informationen nur zu einem bestimmten
Thema erfolgten (Tiere, Pflanzen, Geografie, Astronomie usw.).
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Die eigentliche Zeit des Sachbuchs begann allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Das 1949 erschienene Werk
„Götter, Gräber und Gelehrte“ von C.W. Ceram ist mit einer Gesamtauflage von 5 Millionen Exemplaren bis heute
das erfolgreichste Sachbuch und gilt in Deutschland als Wegbereiter des modernen Sachbuchs.
1967 wurde das Sachbuch in die Kategorie der preiswürdigen Bücher im Rahmen des Deutschen Literaturpreises aufgenommen und gehörten schon bald darauf in fast jedem Verlag zum festen Programm.
Warum lesen wir Sachbücher? Was bedeuten sie in unserem Lesealltag?
- Auseinandersetzung mit Fragen und Problemen unserer Zeit
- Wichtige Informationsquelle
- Verständnissuche bei vorhandenen Problemen
Es wurden zwei Sachbücher vorgestellt:
Manfred Spitzer
Digitale Demenz
Miriam Meckel
Das Glück der Unerreichbarkeit
Die beiden unter der Rubrik „Politische Literatur“ vorgestellten Bücher sind ebenfalls Sachbücher, jedoch beide mit
dem Fokus auf Politik.
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Manfred Spitzer
Digitale Demenz
München 2012
Dieses Buch wurde von Hans-Jürgen Greul in unserem Literatur-Seminar
vorgestellt:
Im BANA-Literaturseminar im Wintersemester 2014/2015 ist auch das Genre ‚Sachbücher’ behandelt worden.
Die ausführliche und beispielreiche Einführung zum Begriff ‚Sachbuch’ habe
ich für mich so zusammengefasst: Ein Sachbuch vermittelt Wissen über ein
Sachthema aus allen Lebensbereichen und hat die Absicht Laien und Amateure über ein Thema in Kenntnis zu setzen, was sie sich über Fachbücher mangels professionellem Wissen nicht aneignen könnten. Kurz: Sachbücher für
interessierte Laien und Amateure -- Fachbücher von Profis für Profis.
Als mitunter arg gebeutelter Laie im digitalen Dschungel fiel meine Wahl auf
ein Buch von Manfred Spitzer, Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere
Kinder um den Verstand bringen. München 2012
Und auf der Rückseite des Einbandes geht das Horrorszenario weiter ‚Wir
klicken uns das Gehirn weg’.
Nun habe ich in dem Seminar gerade zwei analoge Medien benutzt über den
‚Spion’ Richard Sorge. Um diese zwei Bücher zu verstehen und auftauchende
Fragen zu beantworten und ein persönliches Urteil abzugeben, waren mir die
digitalen Medien inhaltlich und organisatorisch und arbeitstechnisch sehr
nützlich.
Und nun benutze ich schon wieder digitale Medien, um mich mit dem Buch
auseinanderzusetzen und um diesen Kurzbericht zu verfassen.
Werde ich am Ende mein Gehirn weggeklickt haben?
Das Lob über das Buch zuerst:
Die Nutzung der digitalen Medien birgt besonders in der Kindheit viele Gefahren und der Autor, ein renommierter Gehirnforscher, belegt diese augenfälligen Gefahren mit wissenschaftlichen Ergebnissen. Desgleichen belegt er
die Gefahren für das Gehirn in der Schulzeit. Der Autor weist darauf hin,
dass das Gehirn in jedem Alter trainiert werden muss wie die Muskeln des
Körpers auch. So werde das Gehirn nicht größer, aber die Verbindungen der
Nervenzellen untereinander vermehren sich, was durch aktives Lernen geschieht und unverzichtbar bis ins hohe Alter für die Leistungsfähigkeit sei.
Aber die Warnungen vor den Gefahren, allein schon des Fernsehens für die
geistige Entwicklung, sind so alt wie die Massenverbreitung dieses Mediums.
Ein gewichtiges Argument war, das Fernsehen führe zu einem kognitiven Mo30
tivationsdefizit. Und damals wie heute besteht diese Gefahr der Denkfaulheit durch Fernsehen.
Man kann natürlich wieder einmal diese Gefahr beim Namen nennen und sie nun wissenschaftlich untermauern, wie
Spitzer das tut – aber es nützt sehr wenig, weil die Ursachen der geistigen Verflachung eben nicht in den digitalen
Medien selbst liegen.
Wachsende Armut, besonders Kinderarmut und Altersarmut führen dazu, dass die Medien zum Ersatz für eine gelungene Sozialisation werden und dass sie später zum dürftigen Ersatz für fehlende gesellschaftliche Teilhabe werden.
Spitzer scheint sich mit dem Gedanken zu begnügen: ‚Gefahr erkannt - Gefahr gebannt’. Das ist allerdings zu kurz
gegriffen bei einem gesamtgesellschaftlichen Prozess.
Meine Empfehlung: Die Gefahr der Verdummung durch die digitalen Medien ernst nehmen (auch ohne dieses Buch
und stattdessen ab und zu einen Billy Wilder Film anschauen) und die neuen digitalen Möglichkeiten außerdem ohne Furcht und Leichtsinn bei vielen Gelegenheiten nutzen.
Und habe Mut selber zu denken, für dich und vor allem mit anderen!
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Miriam Meckel
Das Glück der Unerreichbarkeit
Wege aus der Kommunikationsfalle
Murmann 2008
Wir älteren Herrschaften wurden zur Höflichkeit erzogen: Mittags oder spätabends bei jemandem anzurufen, gehörte sich nicht, man hielt sich an bestimmte Zeiten. Die mobilen Kommunikationsmedien unterlaufen das.
Wie oft müssen wir unsinnige Gespräche in öffentlichen Verkehrsmitteln, an
der Kasse im Supermarkt über uns ergehen lassen. Haben wir unser Handy
vergessen, fühlen wir uns nicht ganz vollständig. Der unbewusste Griff dort
hin, wo wir normalerweise unser Handy haben, zeigt unsere Abhängigkeit.
Fällt zu Hause das Internet aus und wir haben dadurch keine Möglichkeit,
unsere E-Mails abzurufen, erfasst uns Panik. Wir fühlen uns abgeschnitten
von der Außenwelt. Nicht wir legen unsere Kommunikation fest, sondern die
Technik bestimmt unser soziales Leben, unsere Kommunikation hat längst
ein Eigenleben entwickelt.
Mittlerweile werden täglich bis zu 200 Milliarden E-Mails geschrieben und
verschickt. Davon sind 70% Spam. Psychologen meinen, dass der Mensch
nur 2% der bei ihm eingehenden Informationen verarbeiten kann. Durch dieses Übermaß an eintreffenden Informationen wird ein sogenanntes „Kommunikationsrauschen“ verursacht, das nicht nur individuell zu Stress und Überlastung im Arbeitsleben führt, sondern auch nicht unerhebliche volkswirtschaftliche Kosten verursacht. Denn durch die unnötigen Unterbrechungen
des Arbeitsflusses gehen 28% der täglichen Arbeitszeit verloren.
Aber auch im privaten Kommunikationsverkehr führen ständige Unterbrechungen des eigenen geplanten Zeitablaufs durchaus ebenfalls zu Problemen.
Man wird in seiner Ruhe, seiner Konzentration, seiner Intimsphäre gestört.
Selbst wenn man sich entschließt, nicht sofort zu reagieren, so ist eine zeitnahe Reaktion intendiert, denn man sieht auf dem Display, wer den Kontakt
sucht oder liest die eingehende SMS oder Mail, die man mitunter gar nicht
beantworten möchte, sich aber zu antworten verpflichtet fühlt.
Die ständige Erreichbarkeit erzwingt von uns ein Leben im Multitasking-Modus, aber dass der Mensch Multitasking fähig ist, hat sich als Mythos erwiesen. Wir können nicht mehrere Dinge gleichzeitig mit der gleichen Konzentration und Intensität machen, nein, wir sind dann niemals ganz bei einer Sache.
Wir entwickeln uns zu einer „Immer-mehr-Gesellschaft“. Wir konsumieren
immer mehr, erhalten immer mehr Informationen, kommunizieren immer
mehr und haben in allen Lebenslagen immer mehr Alternativen.
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Ist es schon schwierig sich im Supermarkt immer für das richtige Produkt in der angebotenen Vielfalt zu entscheiden, wie ungleich schwerer ist es dann erst, wenn wir uns für komplizierte, anspruchsvolle und folgenreiche Prozesse
in unserem Leben entscheiden müssen.
Ulrich Beck, der gerade verstorbene Soziologe, hat u.a. die Gesellschaft unter dem Aspekt der mit ihr verbundenen
Lebensrisiken betrachtet. Der Mensch in unserer modernen Gesellschaft erlebt einen unerhörten Zugewinn an
Wahl- und Gestaltungsfreiheit. Aber er muss zugleich mit wachsender Komplexität und Verantwortung umzugehen
lernen.
Die Technologie der mobilen Kommunikation verändert Situationen und Menschen in ihren Beziehungen zueinander. Nehmen wir als Beispiel nur die Pünktlichkeit: In Zukunft wird der Begriff des Zuspätkommens aus unserem
Verhaltenskodex und den dafür vorhandenen Begrifflichkeiten verschwunden sein, denn wir kommen ja nicht zu
spät, wir haben unser Kommen für einen etwas späteren Zeitraum angekündigt.
Der moderne Flirt erfolgt heutzutage über SMS und E-Mails. Durch das Handy ist die Möglichkeit gegeben, jederzeit in Kontakt zu treten. Die SMS sorgt weiterhin dafür, dass man im Kontakt bleiben kann, auch wenn ein Anderer von der kommunikativen Anbahnung möglich nichts mitbekommen soll. Das ist dann schon die virtuelle Vorbereitung für einen Seitensprung.
Der Trend zum Cybersex ist nicht nur bei Jugendlichen weit verbreitet und führt nicht selten zu Problemen in der
realen Kontaktaufnahme.
Die künftige Herausforderung wird sein, zwischen den Kommunikationsdimensionen - wirkliches Leben versus virtuelles Leben - zu unterscheiden und nicht die Dimensionen zu vermischen.
Das Glück, sich unerreichbar zu machen, das gelingt aber offenbar nur wenigen Menschen. Für den „Kommunikations-Junkie“, der ständig E-Mails checken und ein Ohr am Mobiltelefon haben muss, hat Miriam Meckel nur ganz
lapidar die Bemerkung übrig: „Pawlow lässt grüßen“. Und da sie selbstverständlich nicht das „Kommunikationsrad“ zurückdrehen will, wir also durchaus sozial und technisch anschlussfähig bleiben sollen, empfiehlt sie den bewussten
und reflektierten Umgang mit den informationstechnischen Medien und das Einbeziehen des „Aus-Knopfes“.
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Jugendliteratur
„KJL ist die Bezeichnung für a) alle Texte, welche ausdrücklich für Kinder
und Jugendliche produziert sind (spezifische KJL), b) alle Schriften, welche
von Kindern und Jugendlichen konsumiert werden, ohne dass sie für diese
speziell verfertigt zu sein brauchen (z.B. Zeitung), oder von jugendlichen Lesern rezipiert (Schul-, Lehrbuch) werden (KJL im weiteren Sinne, auch Kinder- und Jugendlektüre). KJL wird in Büchern, Heften und anderen Druckerzeugnissen, im weiteren Sinn auch in den Massenmedien wie Film, Tonband, Schallplatte verbreitet.“ (Klaus Doderer Kinder- u. Jugendliteratur
1984, S.161)
Jugendliteratur (eigentlich das ganze Spektrum der literarischen Genres für
junge Menschen etwa zwischen 12 und 18 Jahren ) ist immer wieder unter
verschiedenen Gesichtspunkten untersucht worden. Unter soziologischen,
psychologischen und pädagogischen Perspektiven erfolgten die Analysen.
Unter dem Begriff der Kinder- u. Jugendlektüre wird die Literatur verstanden, die außerhalb des Unterrichtes freiwillig von den Jugendlichen gelesen
wird, also eine Definition, die eine klare Abgrenzung zur Schullektüre darstellt. Es gibt die intendierte (autorisierte) Literatur, d.h. die mit den Vorstellungen der Erwachsenen konform geht. Zu den nicht-intendierten Lektüren
zählt alles das, was den Erwachsenen als nicht geeignet erscheint, aber von
den Jugendlichen gelesen wird. Dabei ist die Unterscheidung zwischen den
einzelnen Altersgruppen (Erwachsene, Kinder, Jugendliche unterschiedlichen Alters) fließend. So sind manche Romane, die ursprünglich für Erwachsene geschrieben wurden, inzwischen in der Kategorie der Jugendbücher zu
finden ( Der Fänger im Rogen, Herr der Fliegen, Illuminate). Dann gibt es
Jugendbücher, die sich bei Erwachsenen größter Beliebtheit erfreuen (Har-
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ry Potter, Stephanie Meyer: Twillight-Romane). Aus dem Blickwinkel des Verlagswesens gibt es die akzeptierte Literatur, d.h. alles, was sich durchsetzt bzw. die nicht-akzeptierten Werke, die sich vorerst nicht gut verkaufen.
Da sich nun inzwischen ein altersübergreifendes Publikum herauskristallisiert hat, haben die Verlage die sogenannten All-Age-Titel propagiert. Dazu gehören zum Beispiel:
J.R.R. Tolkin: Herr der Ringe / David Eddings: Eragon / C.S. Lewis: Die Chronik von Narnia / Rick Riordan: Percy
Jackson / Walter Moers: Zamonien-Zyklos / Joanne Rowling: Harry Potter, um nur einige zu nennen.
Bis weit in die Neuzeit gab es keine spezielle Kinder- und Jugendliteratur. Märchen waren immer beliebt und wurden seit dem 19. Jahrhundert auch für Kinder bearbeitet. „Der Struwwelpeter“ von Heinrich Hoffmann (1845) war
eines der ersten und eines der erfolgreichsten Kinderbücher. Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“ (1865) wird als
erstes Kinder- und Jugendbuch bezeichnet, das vollständig frei von moralischen Botschaften ist. So sind in allen Kinder- und Jugendbücher immer der Zeitgeist und die vorherrschenden Erziehungsvorstellungen zu erkennen gewesen.
Hier nun einige der am meisten gelesenen Jugendbücher in den Jahre 1950 bis 2000, denn danach erfolgte ein radikaler Perspektivwechsel durch den riesigen weltweiten Erfolg der Harry-Potter-Bücher:
Nach dem 2. Weltkrieg wurde die Literatur durch die Alliierten reguliert. Es gab erst einmal keine neueren Jugendliteraten und es erfolgte ein Rückgriff auf Werke der Weltliteratur: Herman Melville: Moby Dick / Charles Sealsfield:
Das Kajütenbuch / Charles Dickens / James Fenimore Cooper / Robert Luis Stevenson / Mark Twain / Jules Verne
1950 bis in die 1960er Jahre erfolgte in der BRD der Rückgriff auf Werke von: Karl May / Erich Kästner / Astrid
Lindgren / Enid Blyton / William Golding: Herr der Fliegen / Kurt Held: Die rote Zora / Lisa Tetzner: Die Kinder
aus Nr. 67 und in der DDR griff man zur sozialistisch-realistischen Lektüre: Liselotte Welskopf-Henrich: Die Söhne
der großen Bärin / Benno Pludra: Tambari / Ehm Welk: Die Heiden von Kummerow / Gehard Holtz-Baumert: Alfons Zitterbacke. Geschichten eines Pechvogels, um auch hier nur einige zu nennen.
In den 1960 bis 1970er Jahren wurde die Emanzipation der Mütter und die antiautoritären Tendenzen in den Büchern verarbeitet: Christine Nöstlinger: Die feuerrote Friederike, Der liebe Herr Teufel, Wir pfeifen auf den Gurkenkönig / Mirjam Pressler: Mit Jakob wurde alles anders, Goethe in der Kiste
Die 1970 bis 1980er Jahre zeichneten sich aus durch unterschiedliche Strömungen. Die ersten soziologisch und politisch orientierten, sowie die ersten zeitkritisch-fantastischen Romane eroberten die Büchertische: Peter Härtling:
Oma, Das war der Hirbel, Theo haut ab / Max von der Grün: Vorstadt-Krokodile / Douglas Adams: Per Anhalter
durch die Galaxis / Judith Kerr: Als Hitler das rosa Kaninchen stahl, Warte bis der Frieden kommt / Michael Ende:
Momo, Die unendliche Geschichte.
Die 1980 bis 1990er Jahre standen unter dem Eindruck der Katastrophe von Tschernobyl und der Anti-Atom-Bewegung: Doris Orgel: Der Teufel in Wien / Morton Rhue: Die Welle / Gudrun Pausewang: Die letzten Kinder von
Schewenborn, Die Wolke um auch hier nur einige zu nennen.
In den 1990 bis in die 2000er Jahre waren die historischen Romane von Klaus Kordon (Die roten Matrosen, Der
Weg nach Bandung, Wie Spucke im Sand u.a.) sowie die Serie: Die drei ??? von G.H. Stone sehr beliebt .
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1997 – Das Jahr, in dem die Kinder- und Jugendliteratur um einen Meilenstein der besonderen Art erweitert wurde. Der erste Band
der Harry-Potter-Romane „Harry Potter und der Stein der Weisen“ hält Einzug in die Buchläden der ganzen Welt.
Wenn es um diejenige Literatur auf dem deutschen Jugendbuchmarkt geht, die eine Welt jenseits der unsrigen abbildet, dann ist die
Ödnis beim Durchblättern der vielen, vielen Bände nicht selten so ungeheuerlich, dass man sich gleich abwenden möchte: Hier ein
Elfenwald als siebzehnter Aufguss aus dem "Herrn der Ringe", dort eine uninspirierte Reise ins Eisland, hier eine mordgierige Barbarenhorde in einer fernen Zeit, dort ein Raumschiff, das unvermittelt im Vorgarten landet, von den allgegenwärtigen Drachen
ganz zu schweigen. Und alles, alles tritt mit dem Anspruch auf, der jeweils "erste Band einer neuen, phantastischen Trilogie" zu sein,
von der man, wenn man Glück hat, nach diesem ersten Band nicht mehr viel hört.
TILMAN SPRECKELSEN FAZ (15.03.2008)
Auf der Welle des riesigen Erfolges von Joanne Rowlings Harry Potter versuchten viele andere Autoren mitzuschwimmen und es entstanden viele Fantasy-Romanreihen für Kinder und Jugendliche. In allen diesen Büchern wird die
Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in einer fantastischen Welt beschrieben.
Die Fantasy-Romane beinhalten übernatürliche, märchenhafte und magische Elemente, Motive alter Mythen, Volksmärchen oder Sagen, Feen, Hexen, Zwerge oder Zauberer, Drachen, erfundene Wesen oder anthropomorphe (menschenartige) Tiere. Häufig wird die Handlung in eine fiktive Welt verlegt, die sich deutlich von der irdischen Realität
unterscheidet, aber für den Verlauf der Handlung als real anzusehen ist.
Bei den Science Fiction-Romanen handelt es sich oft um reißerischen Dystopien mit viel Spannung und Nervenkitzel. Echte Utopien sind unter den Jugendbüchern kaum zu finden.
Was hat uns an dem Thema Jugendliteratur interessiert und unter welcher Fragestellung haben wir das Thema betrachtet:
- Wie tickt unsere Jugend?
- Wodurch haben sich Lesegewohnheiten verändert?
- Wie ist das Bücherangebot für Jugendliche?
Beispiele aus dem Schulalltag unserer Enkel hat uns gezeigt, dass in den Schulen leider noch sehr häufig literarische
Vorlagen im Deutschunterricht verwendet werden, die an den Lesegewohnheiten der Jugendlichen oft vorbei gehen.
Wir haben festgestellt, dass die preisgekrönten Jugendromane (z.B. von Andreas Steinhöfel oder Janne Teller) häufig
von Erwachsenen gekauft und gelesen werden, die Jugendlichen mehr zu den Fantasy-Romanen greifen.
Auf den nachfolgenden 7 Seiten ist eine Liste der zur Zeit gängigsten Jugendbücher zu finden, die aber nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Sie setzt sich zusammen aus Befragung Jugendlicher und deren Eltern. Die Inhaltsangaben der einzelnen Bücher sind zum Teil aus dem Internet übernommen, zum Teil handelt es sich um gekürzte
Klappentexte.
36
.
1.
Fantasy-Literatur
Rick Riordan: Percy Jackson
Die Handlung spielt vorwiegend an der Ostküste der USA und basiert auf der griechischen Mythologie. Die Serie
basiert darauf, dass die Sagen der griechischen Mythologie real sind. Dementsprechend existieren die griechischen
Götter, aber auch alle anderen unsterblichen Figuren und Ungeheuer der griechischen Mythologie noch heute. Der
Sitz der Götter, der Olymp, befindet sich aber nicht mehr in Griechenland, sondern hat sich mit dem Machtzentrum der westlichen Welt verlagert und befindet sich nun in New York, wo die Handlung beginnt.
Eoin Colfer: Artemis Fowl
Die Reihe erzählt die Lebensgeschichte des hochintelligenten Jungen Artemis Fowl, der im Rahmen seiner Coups
immer wieder mit dem sogenannten Erdvolk, den letzten Überlebenden der nichtmenschlichen Zivilisationen, die
sich tief in das Erdinnere zurückgezogen haben, zusammentrifft. Das Erdvolk ist der Menschheit technisch zwar
überlegen, versteckt sich jedoch trotzdem vor ihr, da es im Falle einer Konfrontation einen Vernichtungskrieg mit
den zahlenmäßig überlegenen Menschen fürchtet.
Christopher Paolini: Die Eragon-Tetralogie
In der Eragon-Tetralogie spielt die Handlung in einer fiktiven Welt namens Alagaësia und konzentriert sich auf die
Abenteuer des Drachenreiters Eragon und seines Drachen Saphira.
Cornelia Funke: Die Tintenwelt-Trilogie
Es geht um den Buchbinder Mortimer und seine Tochter Meggie, der eine Begabung hat, die ihm selbst rätselhaft
ist. Eines Tages liest er seiner Frau Resa aus dem Buch Tintenherz mit seiner begnadeten Stimme vor. Dabei werden der Verbrecher Capricorn und weitere Figuren aus dem Buch heraus in die wirkliche Welt gelesen. Dafür verschwinden Resa und zwei Katzen für zehn lange Jahre in der mittelalterlichen Tintenwelt.
Clive Staples Lewis: Die Chroniken von Narnia
1950–1956 veröffentlicht, aber erst im Zuge der Fantasy-Welle Bekanntheit erlangt. Die Chroniken machen deutliche Anleihen an christliche Motive, aber auch an griechische und römische Mythologie, sowie an traditionelle englische und irische Märchen.
Walter Moers: Der Zamonien-Zyklus
Die Romanreihe besteht aus 7 Bücher, die alle auf dem Kontinent Zamonien spielen. Es gibt in jedem Band andere
Hauptpersonen. Manchmal kommen Charaktere in mehreren Bänden vor oder werden erwähnt. Er behauptet in
den meisten Büchern, dass er nur der Übersetzer aus dem Zamonischen ist. Die 13½ Leben des Käpt’n Blaubär (Untertitel: „Die halben Lebenserinnerungen eines Seebären, mit zahlreichen Illustrationen und unter Benutzung des
Lexikons der erklärungsbedürftigen Wunder, Daseinsformen und Phänomene Zamoniens und Umgebung von Prof.
Dr. Abdul Nachtigaller.“) ist der erste Zamonien-Roman (Erstausgabe: 1999).
37
John Ronald Reuel Tolkien: Der Herr der Ringe
Klassiker der Fantasy-Literatur und gilt als grundlegendes Werk der High Fantasy. Der Roman steht vor dem Hintergrund einer von Tolkien sein Leben lang entwickelten Fantasiewelt (Tolkiens Welt). Er erzählt die Geschichte eines
Rings, mit dessen Vernichtung die böse Macht in Gestalt des dunklen Herrschers Sauron untergeht. Die Hauptfiguren sind vier Hobbits. Neben diesen spielen als Vertreter des Guten Elben, Menschen des Nordens und Westens,
Zwerge und Zauberer wichtige Rollen. Ihre Gegenspieler sind die Geschöpfe und Untertanen Saurons, die Orks,
Trolle und Menschen des Ostens und Südens.
Stephenie Meyer: Bis(s) zum Morgengrauen ( Twilight-Trilogie)
Es geht um den Vampir Edward Cullen und die Highschool-Schülerin Bella Swan Twilight ist eine vierbändige Jugendbuchreihe aus dem Genre der Vampirromane. ... In den Romanen dienen historische Ereignisse als Kontext der
Figuren …
Joanne K. Rowling: Harry Potter
Erzählt wird die siebenteilige Geschichte des Titelhelden Harry James Potter, eines Schülers des britischen Zaubererinternats Hogwarts, und seiner Konfrontationen mit dem bösen Magier Lord Voldemort und dessen Gefolgsleuten,
den sogenannten Todessern. Jeder der sieben Bände beschreibt ein Schul- und Lebensjahr von Harry Potter, beginnend kurz vor seinem elften Geburtstag.
Suzanne Collins: Die Tribute von Panem
Die Tribute von Panem spielt in einer nicht näher definierten Zukunft, nachdem Nordamerika durch Kriege und
auch Naturkatastrophen größtenteils zerstört wurde. Aus den Trümmern entstand die diktatorische Nation Panem,
welche ursprünglich aus dem regierenden reichen Kapitol und 13 umliegenden ärmeren Distrikten bestand. Der Name des Landes Panem leitet sich vom Ausspruch Panem et circenses (lat. ‚Brot und Spiele‘) des römischen Dichters
Juvenal ab. Schließlich kam es wegen der immer größeren Ausbeutung der Menschen zu einem Aufstand der Distriktbewohner gegen das Kapitol. Dieser wurde jedoch niedergeschlagen, wobei Distrikt 13 scheinbar vollständig vernichtet wurde. Als Mahnung für die Distrikte führte die Regierung die sogenannten Hungerspiele ein. Aus jedem Distrikt werden zwei Spieler ab dem 12 Lebensjahr (Tribute) ausgelost, die gegeneinander bis auf den Tod kämpfen müssen. Diese sollen die Distrikte einschüchtern und daran erinnern, dass sie der Macht der Regierung schutzlos ausgeliefert sind.
Cornelia Funke: Reckless. Steinernes Fleisch
Als zwölfjähriger Junge begibt sich Jacob aus Sehnsucht nach seinem verschwundenen Vater John Reckless in dessen
Zimmer. Dort findet er eine Botschaft, mit deren Hilfe er durch einen Spiegel in eine Spiegelwelt gerät. Dort existieren die Figuren der Grimmschen Märchen tatsächlich, die Welt hat sich aber weiterentwickelt und modernisiert und
befindet sich nun in einem Zustand des Verfall. In den immer länger werdenden Zeitspannen, in denen er in seiner
Welt abwesend ist, wird er Lehrling des Schatzsuchers Chanute. Später wird Jacob selbst Schatzsucher der Kaiserin
von Austrien. Zwölf Jahre, nachdem Jacob Reckless das erste Mal in die Welt hinter dem Spiegel geraten ist, sieht
sein Bruder Will ihn dabei, wie er im Zauberspiegel verschwindet und folgt ihm. Dort wird Will von einem Goyl angegriffen, woraufhin ihm langsam eine Haut aus Jade wächst, die ihn in einen Goyl verwandelt. Wills Freundin Clara
folgt ihm durch den Spiegel und zieht nun mit ihm und Jacob und seiner Gefährtin Fuchs los, die versuchen, ein Gegenmittel gegen den Fluch zu finden.
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Derek Landy: Skulduggery Pleasant
Stephanie ist zwölf Jahre alt, als ihr Onkel Gordon Edgley, ein Autor, unerwartet verstirbt. Auf der Beerdigung zieht
ein dünner, ihr unbekannter Mann ihre Aufmerksamkeit auf sich. Er trägt trotz der Hitze eine Sonnenbrille, Mantel
und Schal: Skulduggery Pleasant. Im Verlauf der Geschichte stellt sich heraus, dass unter den Menschen Alchemisten, Magier, Nekromanten und andere magische Wesen leben. Stephanie wird Skulduggerys Lehrling, der als Detektiv für das Sanktuarium arbeitet.
Jonathan Stroud: Bartimäus
Die fiktiven Hauptpersonen sind der Dschinn Bartimäus und der junge Zauberlehrling Nathanael, der im Laufe der
Trilogie zu einem sehr fähigen Magier wird. Bartimäus ist eine Jugendbuchreihe, kann allerdings auch von Erwachsenen gelesen werden. Des Weiteren sind zahlreiche für Fantasy typische Elemente zu finden – so spielen zum Beispiel
Magie, Zauberer und Dämonen eine wesentliche Rolle.Trotz starker Bezüge zur tatsächlichen Gegenwart und Geschichte der Menschheit spielt die Handlung in einer alternativen Realität, in der sich die Geschichte anders entwickelt hat.
Erin Hunter: Warrior Cats (Kriegerkatzen)
In der Serie geht es um Katzen, die in vier verschiedenen Clans leben, welche DonnerClan, FlussClan, WindClan
und SchattenClan genannt werden. Sie kämpfen zusammen mit ihren Clan-Kameraden um das Überleben, dabei hat
jeder eine bestimmte Aufgabe im Clan. Sie haben einen starken Glauben an den SternenClan, wo die verstorbenen
Kriegerahnen aller Clans weilen.
DAS ERFOLGREICHSTE DEUTSCHE ROLLENSPIEL
Das Schwarze Auge
Majestätische Drachen und ungeheure Gefahren, versunkene Schätze und lebendige Götter - streife als ruhmreicher
Held durch strahlende Städte und unberührte Wildnis, begegne sagenhaften Kreaturen und finsteren Feinden, erlebe Abenteuer jenseits der Vorstellungskraft in einer Welt, die der unseren so ähnlich und doch so fremd ist.
Mit seiner phantastischen Spielwelt, seiner lebendigen Geschichte und seiner aktiven Fangemeinde hat es Das
Schwarze Auge (kurz: DSA) in den 30 Jahren seines Bestehens zum bekanntesten und erfolgreichsten deutschen Rollenspiel gebracht.
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2. Science Fiction-Romane
Douglas Adams: Per Anhalter durch die Galaxis
Es handelt sich um eine Mischung aus Komödie, Satire und Science Fiction, die zuerst als Hörspielserie vom BBCRadio ausgestrahlt wurde. Als Roman international erfolgreich, wurde das Werk weiterentwickelt und dabei noch in
weitere Medien (Fernsehserie, Computerspiel, Kinofilm) umgesetzt. Per Anhalter durch die Galaxis ist dabei sowohl
der Titel des ersten Buches als auch gleichzeitig der gesamten Serie. Die Geschichte erlangte schon früh Kultcharakter (1978), wobei der charakteristische Humor des Autors besonderen Anklang fand. Die Geschichte, die allen Versionen zugrunde liegt, sind die Abenteuer des Arthur Dent, eines Durchschnittsengländers, der mit knapper Not und
mit Hilfe seines Freundes Ford Prefect der totalen Zerstörung des Planeten Erde durch eine außerirdische Rasse namens Vogonen entgeht. Zu Arthurs Verblüffung erweist sich sein Freund als außerirdischer Besucher, der die Erde zu
Recherchezwecken wegen eines galaktischen Nachschlagewerks bereiste und zu dessen Unglück sich für einige Jahre
keine Weiterreisemöglichkeit ergeben hatte. Als die Flotte der Vogonen auftaucht, um die Erde zwecks Baus einer
galaktischen Hyperraum-Expressroute zu zerstören, nutzt Ford die Gelegenheit und bringt sich und Arthur mittels
„Subraum-Äther-Winker“ (Sub-Etha-Sens-O-Matik, eine Art elektronischer Daumen) sozusagen per Anhalter an
Bord eines der Vogonenraumschiffe.
James Dashner: Die Auserwählten – Im Labyrinth
Der erste Roman einer dystopischen Science-Fiction-Trilogie für Jugendliche. Die Geschichte handelt von einer
Gruppe Jungs im Teenageralter, die über Jahre hinweg an einen Ort gebracht werden, den sie die „Lichtung“ nennen.
Sie bezeichnen sich selbst als „Lichter“ und haben allesamt keinerlei Erinnerungen an ihr bisheriges Leben. Alles was
sie noch wissen, sind ihre jeweiligen Vornamen. Die Leute, die die Jugendlichen zur Lichtung bringen und sie dort
fortwährend beobachten, werden von den Lichtern als „Schöpfer“ bezeichnet. Diese versorgen sie wöchentlich mit
Vorräten, Baustoffen oder Kleidung. Zudem verfügen die Lichter über Nutzvieh, fließendes Wasser, mehrere hausähnliche Bauten (darunter ein Schlachthaus) und Strom.
Die Lichtung befindet sich inmitten eines gigantischen Labyrinths mit unüberwindbar hohen Wänden aus massivem Stahl, in dem sich hauptsächlich nachts mörderische Kreaturen – halb Tier, halb Maschine –, die sogenannten
„Griewer“, herumtreiben. An allen vier Seiten der Lichtung befinden sich Eingänge ins Labyrinth („Tore“), die sich
nachts zum Schutz der Lichter schließen.
Martina Wildner: Murus
Die Welt im Jahr 2371 ist durch eine Mauer geteilt. Jojo lebt rechts der Mauer in einer verfallenen Stadt, in der es
kaum genügend zu essen gibt und die von marodierenden Jugendbanden heimgesucht wird. Seit einiger Zeit stellt
sich der Vierzehnjährige die Frage: Was ist drüben, auf der anderen Seite? Die Erklärungen seiner Pflegemutter Agathe, da drüben sei das Nichts und die Mauer bewahre die Menschen davor, ins Nichts zu stürzen, befriedigen ihn
nicht mehr. Doch Jojo ist mit seinen Fragen allein, denn die meisten Menschen sind nur am nackten Überleben interessiert – bis Jojo eines Tages ein schlafendes Mädchen vor seiner Haustür findet, das ihm allerhand Rätsel aufgibt.
Langsam wird Jojo klar, dass Lotte von drüben kommen muss und die Mauer womöglich eine Gefahr für die Menschen darstellt … Martina Wildners Jugendroman “Murus” ist eine Mischung aus Science-Fiction- und Fantasy-Roman. Das Buch spielt in einer düsteren Zukunft, in der die Welt durch eine Mauer geteilt ist, hat zugleich jedoch
auch Fantasy-Elemente, weil einige der Personen besondere Fähigkeiten haben.
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William Gibson: Neuromancer
der erste Teil einer gleichnamigen Romantrilogie, die auch unter dem Namen Sprawl Series bekannt ist und erschien
1984 in Amerika und 1987 in Deutschland.. Der Roman gilt als die geistige Grundlage des Cyberpunk, eine relativ
neue Richtung der Science-Fiction, in welchem insbesondere die Idee der durch Computer ermöglichten virtuellen Realität verfolgt wird. Die Neuromancer-Trilogie schuf nicht nur eine neue Untergattung des Science-Fiction
und prägte deren Vokabular, sondern beeinflusste auch einige Werke besonders stark.
Cyberpunk -- wohl eine der wichtigsten Strömungen der 80er Jahre und hier in ihrer Rein- und beinahe auch Urform
vorliegend. Die entworfene Welt ist düster und jeder sorgt sich nur ums eigene Überleben. Entweder hält man sich
mit Verbrechen über Wasser oder aber man ist Angestellter eines Großkonzerns -- was im Grunde nicht viel Unterschied macht, denn diese Konzerne halten faktisch die Macht in ihren Händen und meist sind sie es auch, die das
Geld für die Verbrechen der "kleinen Leute" springen lassen.
3. Jugendromane und Sachbücher
Steinhöfel, Andreas: Die Mitte der Welt.
Das Leben könnte so einfach sein. Für den siebzehnjährigen Phil ist es das aber ganz und gar nicht. Er hat vor allem
unter seiner schrägen Verwandtschaft zu leiden: So hat seine Mutter eindeutig zu viele Männer in ihrem Leben und
seine Zwillingsschwester Dianne ärgert sich schon mal, wenn sie jemanden beim Messerwerfen nicht ins Herz trifft.
Und dann gibt es da noch Phils erwachende Neigung zum männlichen Geschlecht … Mit Die Mitte der Welt hat
Andreas Steinhöfel einen ungewöhnlichen Coming-of-Age-Roman geschrieben, er erzählt die Geschichte des siebzehnjährigen Phil, der zwischen Familiengeheimnissen und dem eigenen Erwachsenwerden seinen Platz in der Welt
sucht. Dass die ungewöhnliche Familiengeschichte aus der Perspektive Phils geschildert wird, verleiht dem Leseerlebnis eine intensive Unmittelbarkeit.
Steinhöfel, Andreas: Anders
"Anders" ein vielschichtiges, manchmal sogar philosophisches Jugendbuch, das sich mit dem Anderssein befasst und das mit einer echten Krimigeschichte gepaart ist.
Nach dem Unfall sind Zeit und Welt aus den Fugen. 263 Tage liegt der Winterjunge im Koma, exakt die Anzahl jener
Tage, die seine Mutter vor elf Jahren mit ihm schwanger war. Dann erleben die Menschen um ihn herum ein Wunder: An einem prächtigen Sommertag kehrt Felix Winter zurück ins Leben. Und nennt sich von nun an anders, nämlich Anders. Er hat keinerlei Erinnerung mehr an die Zeit vor dem Unfall oder an den Unfall selbst ... und es gibt jemanden, der alles dafür tun wird, dass das so bleibt.
Janne Teller: Nichts (Was im Leben wichtig ist)
"Nichts bedeutet irgendwas, deshalb lohnt es sich nicht, irgendwas zu tun." Mit diesen Worten schockiert Pierre alle in der Schule. Um das Gegenteil zu beweisen, beginnt die Klasse alles zu sammeln, was Bedeutung hat. Doch was
mit alten Fotos beginnt, droht bald zu eskalieren: Gerda muss sich von ihrem Hamster trennen. Auch Lis Adoptionsurkunde, der Sarg des kleinen Emil und eine Jesusstatue landen auf dem Berg der Bedeutung. Als Sofie ihre Unschuld und Johan seinen Zeigefinger opfern mussten, schreiten Eltern und Polizei ein. Nur Pierre bleibt unbeein41
druckt. Und die Klasse rächt sich an ihm ... Eine erschütternde Parabel über das Erwachsenwerden, Erziehung und
Gewalt in unserer Gesellschaft.
Raquel J. Palacio: „Wunder“
August ist anders. Dennoch wünscht er sich, wie alle Jungen in seinem Alter, kein Außenseiter zu sein. Weil er seit
seiner Geburt so oft am Gesicht operiert werden musste, ist er noch nie auf eine richtige Schule gegangen. Aber
jetzt soll er in die fünfte Klasse kommen. Er weiß, dass die meisten Kinder nicht absichtlich gemein zu ihm sind.
Am liebsten würde er gar nicht auffallen. Doch nicht aufzufallen ist nicht leicht, wenn man so viel Mut und Kraft
besitzt, so witzig, klug und großzügig ist - wie August.
John Green: Das Schicksal ist ein mieser Verräter
Die sechzehnjährige Hazel Grace Lancaster leidet seit drei Jahren an Schilddrüsenkrebs mit Metastasen in der Lunge, konnte aber durch die Anwendung eines neuen Medikaments überleben. Ihr Lieblingsbuch ist Ein herrschaftliches Leiden von Peter van Houten. Auf Anraten ihrer Eltern besucht sie eine Selbsthilfegruppe für Krebspatienten,
wo sie den siebzehnjährigen Augustus „Gus“ Waters kennenlernt, dem infolge eines Knochentumors ein Bein amputiert werden musste. Die beiden verbringen immer mehr Zeit miteinander und ihre Beziehung wird enger. Doch Hazel möchte Gus vor dem Schmerz ihres unvermeidlichen Todes bewahren – sie betrachtet sich selbst als „Zeitbombe“, die irgendwann hochgehen und jeden, der ihr nahesteht, verletzen wird – und beschließt, sich nicht mehr mit
ihm zu treffen.
Mit einer schweren Lungenentzündung landet Hazel im Krankenhaus. Während ihrer Genesung wird sie mehrmals
von Gus besucht, der ihr versichert, dass sie ihm viel mehr bedeute als jeder Schmerz, den sie ihm zufügen könnte.
Er will ihr ihren Herzenswunsch, nämlich Peter van Houten, den Autor ihres Lieblingsbuches, in Amsterdam zu besuchen, erfüllen; er hat bei einer Organisation, die krebskranken Kindern Herzenswünsche erfüllt (eine Fantasieversion der realen Make-A-Wish-Foundation), noch einen Wunsch frei, den er nun für Hazel einsetzen möchte. Nach
längeren Diskussionen mit den Eltern und den Ärzten erhalten die beiden die Erlaubnis, in Begleitung von Hazels
Mutter nach Amsterdam zu reisen.
John Grisham: Theo Boone und der unsichtbare Zeuge
Es ist sein erstes Jugendbuch und soll der erste Teil einer Jugendbuchreihe sein. Theo Boone, Anwaltssohn mit ausgeprägtem Sinn für Recht und Gerechtigkeit, löst die schwierigsten Fälle – und er ist erst dreizehn!
Für den dreizehnjährigen Theodore Boone gibt es nichts Spannenderes als die Welt des Justizwesens. Wann immer
er kann, ist er Zuschauer bei Gerichtsverhandlungen und eignet sich so ein erstaunliches Wissen über das Recht an.
Seine Eltern, beide Anwälte, müssen ihn immer wieder daran erinnern, dass er auch noch zur Schule gehen muss.
Theo jedoch träumt von dem Tag, an dem er selbst als Anwalt oder Richter für Gerechtigkeit sorgen kann. Bis dahin
übt er schon fleißig, indem er seinen Mitschülern als findiger Rechtsberater aus der Patsche hilft.
Janne Teller: Krieg - Stell dir vor, er wäre hier
Stell dir vor, es ist Krieg - nicht irgendwo weit weg, sondern hier in Europa. Die demokratische Politik ist gescheitert und faschistische Diktaturen haben die Macht übernommen. Wer kann, flieht in den Nahen Osten, wie der 14jährige Protagonist aus Deutschland. In einem ägyptischen Flüchtlingslager versucht er mit seiner Familie ein neues
Leben zu beginnen. Weil er keine Aufenthaltsgenehmigung hat, kann er nicht zur Schule gehen, kein Arabisch ler42
nen, keine Arbeit finden. Er fühlt sich als Außenseiter und sehnt sich nach Hause. Doch wo ist das? Nach dem Bestseller "Nichts" eine neue erschreckende Vision von Janne Teller zu hochaktuellen Themen wie Flucht, Migration
und Fremdenfeindlichkeit.
Lucy und Stephen Hawking: „Der geheime Schlüssel zum Universum“
"Die unglaubliche Reise ins Universum" und "Zurück zum Urknall – Die große Verschwörung".
Bei vielen Erwachsenen wird der Name des Autors wohl Verwunderung auslösen – Stephen Hawking, der bekannte
und, zugegebenermaßen, geniale Astrophysiker, als Kinderbuchautor?! Kann das funktionieren? Es kann! Nach einem etwas „;schrägen“ Einstieg, der uns direkt in das ungewöhnliche Leben des Jungen George katapultiert, befinden sich junge Leser unversehens in einer spannenden Geschichte voller Mysterien und physikalischen Geheimnissen, die ihre Leser sofort in ihren Bann zieht.
Luca Novelli: Das Darwin-Projekt: Charles Darwins Reise um die Welt
Zum 200. Geburtstag von Charles Darwin im Februar 2009 - Charles Robert Darwin (12.02.1809-19.04.1882), englischer Wissenschaftler, begründete die moderne Evolutionstheorie. Seine Arbeiten revolutionierten die Biologie und
Geologie grundlegend und wirken bis heute nach.
England, 1831: Charles Darwin sticht zu einer Expedition in See, die ihn um die ganze Welt führt. Fünf Jahre ist er
unterwegs und forscht in Patagonien, Feuerland, Chile und auf den Galapagosinseln. Die Beobachtungen, die er
dort macht, begründen seine revolutionäre Evolutionstheorie. Zum Darwin-Jahr 2009 hat der Autor Luca Novelli
ein besonderes Projekt gestartet. Unterstützt von WWF und UNESCO, wiederholt er Darwins legendäre Reise mit
der Beagle und beschreibt, wie sich die Welt seit damals verändert hat. Dabei lässt er den Abenteurer und Forscher
selbst zu Wort kommen und von seinen bahnbrechenden Entdeckungen berichten. Eine brillante Mischung aus Reisetagebuch und Abenteuerroman!
Ernst Gombrich: Eine kurze Weltgeschichte für junge Leser
Jugendsachbuch des österreichischen Kunsthistorikers aus dem Jahr 1935. In 39 Kapiteln auf rund 300 Seiten erzählt
es – nach einer kurzen Darstellung der Entwicklung von Sonnensystem, Erde und Frühmenschen – knapp die Geschichte der Menschheit von den ersten Hochkulturen bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Der Schwerpunkt liegt
dabei auf der Geschichte Europas und des Mittelmeerraums, Indien und China werden nur gestreift, Schwarzafrika,
das präkolumbianische Amerika und Australien bleiben ausgeklammert.
Das Buch wurde sehr schnell ein Erfolg. Schon bald folgten Übersetzungen in fünf Sprachen. Kurze Zeit später wurde es wegen seiner zu „pazifistischen“ Gesinnung von den Nationalsozialisten verboten. Einige Jahre nach Ende des
Zweiten Weltkriegs erhielt Gombrich die Rechte an seinem Buch zurück. Doch erst 1985 erschien eine vom Autor
überarbeitete und um ein Nachwort ergänzte Neuauflage. Eine weitere, aktualisierte Überarbeitung, die Gombrich
kurz vor seinem Tod 2001 besorgte, erschien 2006.
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Comics
Comic ist der gängige Begriff für die Darstellung eines Vorgangs oder einer
Geschichte in einer Folge von Bildern. In der Regel sind die Bilder gezeichnet und werden mit Text kombiniert; das Medium Comic vereint Aspekte
von Literatur und bildender Kunst, wobei der Comic eine eigenständige
Kunstform und ein entsprechendes Forschungsfeld bildet.
Comic-typische Merkmale und Techniken, die aber nicht zwangsläufig verwendet sein müssen, sind Sprechblasen und Denkblasen, Panels und Onomatopoesien.
Onomatopoesie ist die sprachliche Nachahmung von außersprachlichen
Schallereignissen.
In der deutschen Comic-Sprache wurde die Schöpfung neuer, möglichst ungewöhnlicher Onomatopoetika vor allem von Erika Fuchs (Micky Maus Magazin) und Herbert Feuerstein (Mad-Magazin) zur Kunst erhoben, weshalb gelegentlich scherzhaft vom Erikativ die Rede ist.
Im Comic werden neben herkömmlichen Onomatopoetika und Neuschöpfungen wie „ZASS!“, „KRRRRZZZ“ oder „ZABADONG“ auch Inflektive
solcher Wörter benutzt, die lediglich von ihrer Etymologie her onomatopoetischen Ursprungs sind (bspw. „SEUFZ!“ oder „KEUCH!“), ferner Inflektive
von umschreibenden Onomatopoetika („TRÖÖT!“).
(Auszüge aus Wikipedia)
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Als wir uns das Thema „Comics“ für unser Seminar überlegten, war uns noch nicht bewusst, wie umfangreich inzwischen diese Thematik und der damit verbundene Forschungsbereich sich darstellt.
Wir alle haben Comic-Figuren oder Bilder aus der Kindheit und Jugend im Kopf, ein bisschen nostalgisch, nicht weiter darüber nachdenkend was der Comic eigentlich für ein Phänomen ist, wie er im Laufe der Zeit sich zu einer eigenen Kunst- und Kulturform entwickelt hat, wie er andere Kunstformen und auch Sprache beeinflusst hat.
Die Entwicklung im Laufe von fast 200 Jahren ist nicht schrittweise auf einander aufbauend erfolgt. Im Gegenteil,
fast abgeschottet von den anderen Künsten hat sich die Form des Comics quasi selbst entwickelt. Und da diese
Form stark von den Trägermedien (erst Zeitung, dann das Heft) und natürlich in extremer Weise von den Marktgesetzen abhängig war, hatte sich anfangs alles auf ein Zielpublikum ausgerichtet.
Auf diese Weise haben sich verschiedene Comic-Kulturen entwickelt und es ist ein Medium zwischen Tradition und
Moderne entstanden.
Comic ist der gängige Begriff für die Darstellung eines Vorganges oder einer Geschichte in einer Folge von Bildern.
In der Regel sind die Bilder gezeichnet (es gibt auch Fotocomics) und werden mit Text kombiniert. Das Medium Comic vereint dadurch Aspekte der Literatur und der Bildenden Kunst. Es ist eine eigenständige Kunstform mit einem
entsprechenden Forschungsfeld. Wie in jedem künstlerischen Bereich suchen die Künstler immer wieder nach neuen Wegen und so kann man sagen, dass die Comic-Produktion zwischen Tradition und Moderne schwankt und neue
Ausdrucksformen gesucht und gefunden werden.
Aus dem Englischen abgeleitet von comical = komisch hat es in anderen Ländern nicht immer die gleiche Bezeichnung.
Italien: Fumetti (Rauchwölkchen) / Frankreich: Bande Dessineé (gezeichnete Binde, Reihe)
China: Lien-Huan-Hua (Ketten-Bilder) / Japan: Manga (spontanes Bild)
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Beim Comic sind die Bilder zu räumlichen Sequenzen angeordnet, einbildrige Illustrationen (Karikaturen, Cartoons) zählen nicht zu den Comics. Die einzelnen Bilder der Geschichte werden in Panels dargestellt, wobei von
links nach rechts gelesen wird (Ausnahme: Mangas), die Panels aber nicht immer die gleiche Größe oder Form haben müssen. Sie können auch über eine ganze Seite gehen, dann spricht man von Splashs. Splashs haben eine ähnliche Bedeutung wie der Vorspann bei einem Film. Die Protagonisten äußern sich mittels Sprech- oder Denkblasen.
Erklärende Texte unterhalb des Panels findet man nur in Wissen vermittelnden Comics oder Comic-Romanen. Ansonsten ergibt sich die Geschichte nur aus den Bildern und den dazugehörigen Sprechblasen. In den Bildern eingeschlossene Geräuschbegriffe, sogenannte Soundwords (Onomatopöie) sind meist lustige, völlig neue Schöpfungen,
die der Erhellung der Handlung dienen. Sie gaben oft Anlass zu heftigen Diskussionen, dass die Sprache verballhornt wird.
Die ersten gezeichneten Witze gab es 1788 in dem Londoner Satire-Blatt PUNCH, die großen Anklang fanden. Bald
darauf nahmen andere Londoner Zeitungen in ihrer Sonntagsbeilage die Idee auf und es gab die ersten Strips. Sequenzielle Darstellungen gab es aber schon früher, z.B. auf der Trajansäule 112 n. Chr. in Rom, die Darstellung des
Krieges der Römer gegen die Darer. Berühmte Bildergeschichten (Max und Moritz) von Wilhelm Busch können
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durchaus als Vorstufe der späteren Comics betrachtet werden, auch wenn sie noch nicht die Comic-Kriterien erfüllen. Der erste moderne Comic war ab 1896 „The Yellow Kid“ von Richard Felton Outcault, eine Geschichte in 5 Bildern, die aber noch nicht in Panels gezeichnet war. Ein glatzköpfiges Kerlchen in einem gelben Nachthemd, auf dem
der Text geschrieben stand. „The Yellow Kid“ wurde in der New York World, damals ein Skandalblatt, vom PulitzerImperium herausgegeben und wurde ein Riesenerfolg. Der Begriff der Yellow-Press soll angeblich daher stammen.
Eine weitere große Zeitung, das New York Journal vom Hearst-Imperium, konnte da nicht zurückstehen und gab ab
1896 „The Katzenjammer Kids“ von Rudolf Dirks heraus. Er war der erste, der sequenzielle Sprechblasencomics
erstellte. Seine Figuren Fritz und Hans hatte er in Anlehnung an Max und Moritz geschaffen. Seine Texte sind gekennzeichnet durch ein Englisch mit verballhorntem Deutsch. (Beispiel: mit dose kids, society is nix). Er schuf
kunstsprachliche Begriffe wie Okey Dokey, was später von den Simpsons übernommen wurde und inzwischen auch
in den umgangssprachlichen Wortschatz übergegangen ist. Die „Katzenjammer Kids“ gibt es noch heute, sie sind die
bisher langlebigste Comi-Serie. Im Film „Inglourious Basterds“ antwortet Lt. Archie Hicox auf die Frage nach seinem Deutsch: I speak German like a Katzenjammer Kid.
Winsor McCay war ein großer Visionär. 1904 schuf er seinen Summy Sneeze, einen kleinen niesenden Jungen, bei
dem das Niesen (Durchbrechen des Panels) immer in einer Katastrophe endete. Dieser Comic-Strip erschien täglich
bis 1905. Dann gab er „Little Nemo in Sluberland“ heraus. Mit Little Nemo wurde die erste Fortsetzungsgeschichte
geschaffen. Jede Geschichte endete damit, dass Nemo aus dem Bett fällt und aufwacht. In den jugendstilartigen, surrealen Bildern von großer Ästhetik reist Nemo durch verschiedene Traumländer. Jetzt ließ man McCay ganzseitig
arbeiten und er konnte dadurch mit Größe und Form der Panels experimentieren. Er variierte die Bildausschnitte,
betonte die fantastischen Elemente, zeichnete Stadtlandschaften in Perspektiven, wie man sie bisher noch nie gesehen hatte. Im Mittelpunkt seiner Arbeiten steht nie die Figur sondern immer das Thema, die Traumwelt von Nemo.
Sein großes Vorbild war Georges Meliés (Reise zum Mond) und er hörte 1911 auf, die Commics zu zeichnen und widmete sich wie Meliés dem Film.
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1913 kamen die ersten Tarzan.Strips. Sie waren nicht von Erfolg gekrönt und nach 23 Folgen wurden sie beendet.
Erst 1929 wurden sie wieder aufgelegt und zwar in 134 amerikanischen Zeitungen gleichzeitig. Der große Erfolg führte dazu, dass sie alsbald dann in Heft-Form erschienen.
Walt Disneys „funny animals“, sprechende Tiere, die sich wie Menschen benehmen (antropomorphe Figuren), erschienen als Zeitung-Strips. 1930 Mickey Mouse, 1934 Donald Duck und 1937 kamen die drei Neffen dazu. 1940 erschien das erste Heft, Walt Disney Comics and Stories (WDCS) in einer Startauflage von 252 000 Exemplaren. Für
die Comichefte wurde Entenhausen mit all seinen Figuren geschaffen. Dagobert Duck ist das Sinnbild des skrupellosen Kapitalisten und Donald der naive, komische Pechvogel.
Der Erfolg in Deutschland ist u.a. auf die Übersetzung durch Dr. Erika Fuchs zurückzuführen. Sie hat einen völlig
neuen Sprachduktus für die Sprechblasen gefunden. Die Verknappung (Inflektive) der Verben (Ächz, Stöhn, Keuch)
wurden ihr zu Ehren Erikative getauft. Dazu hatte sie Sprichwörter, Schiller- und Shakespeare-Zitate, dem Inhalt
entsprechend umgewandelt, verwendet. Sie hat mehrere Literaturpreise für ihre eigenwilligen Übersetzungen bekommen.
In den 40er Jahren kamen die Superhelden, allen voran Prinz Eisenherz und Tarzan, gezeichnet von dem großartigen
Zeichner Hal Forster, auf den Markt. Hal Forsters Comics gehören zu den populärsten der Welt. Er recherchieret
akribisch alle Details. Mit Prinz Eisenherz schuf er sein eigenes Mittelalter, bei dem aber die Kostüme, die Burgen
und die Schlachtszenen historisch richtig dargestellt waren.
Die ersten Science Fiction- und Horrorcomic-Autoren in den 50er Jahren in USA waren ihrer Zeit weit voraus. Sie
hatten in der Art der heutigen Graphic Novels gearbeitet, was aber die Zensur auf den Plan rief. Es sollten nur Comics mit kindgerechten Inhalten gestaltet werden. Selbst als die Autoren sie dann als sogenannte EC = Entertaining
Comics (Designed for more adult readers) herausgeben wollten, wurde das verboten.
Für das neue und überaus erfolgreiche Trägermedium, das Heft, wurde ab sofort der Begriff Comic benutzt. Die ehemaligen Zeitungsstrips hatten sich zu selbständigen Publikationen entwickelt und waren an allen Kiosken erhältlich.
Comic-Elemente fanden ihren Weg in die Bildende Kunst (Roy Lichtenstein), in den Film (Storyboard, Zeichentrickfilme), in die Literatur (Reduktion der Sprache).
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Charles G. Schulz schaffte es mit seinen Peanuts von 1950 bis 2000 in 18 000 Strips die alte Popularität wieder aufleben zu lassen. Er hatte jeden Tag nur einen Vier-Panel-Strip zur Verfügung und hat damit aber ein unvergleichlich
naiv-philosophisches Werk geschaffen.
Die Superman-Hefte für 10 Cent wurden nicht nur bei Jugendlichen die beliebtesten Comics. Erwachsene lasen mit
genau so großem Enthusiasmus. Die Superman-Erfolge haben bis heute angehalten und eine ganz eigene Industrie
mit Milliardenumsätzen geschaffen.
In Europa waren die ersten Comics wie in Amerika als Comicstreifen in den Zeitungen zu finden. Der Comic-Boom
setzte in den meisten Ländern erst nach dem 2. Weltkrieg ein. Das kleine Belgien war hingegen schon sehr früh
durch den Zeichner Georges Remi (Hergé) mit seiner Serie „Les Aventures de Tintin“ (Tim und Struppi) 1929 auf
dem Markt. Er prägte einen ganz eigenen Stil: Klare Konturen, realistische Hintergründe, die Figuren haben einen
leicht abstrakten Funny-Einschlag. Es gibt keine Schattierungen, die Realität soll mit einfachen, geometrischen Strichen abgebildet werden. Er hält immer das Gleichgewicht zwischen Abenteuer und Komik. Groscinny und Uderzo
schufen mit Asterix und Obelix ein unglaubliches Phänomen. Mit Auflagen in Millionenhöhen waren und sind sie
die meistverkauften Comics und die beiden Künstler wurden zu Rittern der Kunst und Literatur gekürt. Lucky Luke schießt schneller, als sein Schatten die Waffe ziehen kann. Das alles sind Figuren, die sich ins kollektive Kulturgedächtnis eingebrannt haben.
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Vor 1945 gab es in Deutschland nach Wilhelm Busch keine nennenswerten Impulse, wenn man O.E.Plauen (Vater
und Sohn von 1934-37 in der Berliner Illustrierten) nicht mitrechnet, da er keine Literatur sondern Bildergeschichten gemacht hatte. Im Simplicissimus und in den Lustigen Blättern fand eine strickte Trennung von Text und Bild
statt. Einzig Olaf Gulbransson hat einige ganzseitige Bildergeschichten geschrieben/gezeichnet.
Das erste und auch langlebige Heft war „Lurchi“ von der Firma Salamander 1937, uns allen auch der Spruch noch bekannt: Lange schalt´s im Walde noch, Salamander lebe hoch!
Auch in Deutschland entwickelten die Illustratoren ihre Comics als Zeitungsstreifen: Mecki in der HörZu 1951,
Nick Knatterton in der Quick 1950-59, Reinhold das Nashorn im Stern 1953, auch hier der uns bekannte Spruch: Kinder haben Sternchen gern, Sternchen ist das Kind vom Stern. Am langlebigsten war Oskar, der freundliche Polizist im Kölner Stadtanzeiger von Otto Schwalge (1954 - 2012). Und Touché zeichnet seit 1991 in der TAZ (Thomas Körner =
TOM)
Aus den Zeitungsstreifen haben sich je nach Popularität die Hefte entwickelt. In den 60er und 70er Jahren können
wir von der Blütezeit der Comics in Deutschland sprechen. 144 Millionen, hauptsächlich Importe, wurden in dieser
Zeit vertrieben. Ab 1951 gab es Mickey Mouse, ab 1970 Superman und Batman, Fix und Foxi 1953 - 2010 von Rolf
Kauka, vom dem auch Sigurd, der ritterliche Held, ebenfalls ab 1953, stammt.
In den 1960er Jahren gab es eine Anti-Comic-Kampagne von Seiten der Lehrerschaft, da man befürchtete, dass die
Kinder nicht richtig lesen lernen würden und man sprach von Lesefutter für Analphabeten, was sich aber als nicht
zutreffend zeigte.
In der DDR wurde der Begriff Comic nicht benutzt, man bezeichnete diese Art als Bildergeschichten. Ab 1955 im
Mosaik-Heft: Die Digedags und ab 1976 die Abrafaxe.
Die japanische Comicversion, der (auch das) Manga, ist mit unseren Comics nicht vergleichbar. Er hat sich ohne äußere Einflüsse entwickelt und es gab und gibt in Japan auch keine nennenswerten Importe. Mangas erscheinen jährlich in Japan in einer Stückzahl von 2 Milliarden in 8400 Titeln. Die Leserichtung ist von hinten nach vorn und von
rechts nach links. Zudem ist eine bestimmte Stilisierung der Figuren typisch. Mangas sind handlungsorientiert. Es
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gibt Koma-Mangas, bestehend aus wenigen Bildern und Story-Mangas, längere Erzählungen. Viele Zielgruppen werden angesprochen, für die es jeweils eigene Mangas gibt: Shojo für Mädchen, Shonen für Jungen, Gekiga für Erwachsene und innerhalb dieser einzelnen Gruppen werden nach Alter und unterschiedlichen Interessenlagen die Mangas
herausgegeben. Das erklärt die riesige Titel- und Auflagenzahl.
Dann gibt es noch die Underground Comix. Das x steht für x-rated = erwachsene Leser. Diese Comix brachten den
Lebensstil der Pop-Kultur der 70/80er Jahre zum Ausdruck. Der Autoren-Comic ist eine Bezeichnung seit den 90er
Jahren in Analogie zu den Autorenfilmen. Hier macht ein Künstler alles in eigener Regie, mit einem eigenen Stil, der
als solcher auch dem Künstler dann zugeordnet werden kann. (Ralf König: Der bewegte Mann / Werner Brösel / Walter Moers).
In den Grafic Novels werden ganze Romane erzählt, oft in großformatigen Bildern (Bilals/Christin: Der Schlaf der
Vernunft/ Mirjane Sartrapi: Persepolis).
Ein Comic (Die Sache mit Sorge) wurde uns von Hans-Jürgen Greul vorgestellt. Seine erbauliche Zusammenfassung ist als i-Tüpfelchen auf der letzten Seite unserer Literatur-Zusammenfassung in den BANAlen Büchern 2 statt
eines Schlusswortes zu lesen.
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Im BANA-Literatur-im Wintersemester 2014/15 ist u.a. das Genre ‚Comic’
behandelt worden.
Auf den ersten Blick ist nicht sofort zu erkennen, was Comics mit Literatur
zu tun haben und so habe ich auch in historischer Sicht gleich an Wilhelm
Busch, Walt Disney und Rolf Kauka, an Max und Moritz, Mickey Mouse und
Fix und Foxi gedacht. In einem historisch fundierten und sehr lebendig illustrierten Beitrag hat Ursula Focali uns BANAUSI (BANA UniStudentInnen)
dargestellt, dass sich die kleinen kurzen Bilder-Text-Streifen zu einer respektablen Eigenständigkeit entwickelt haben – nämlich zu umfangreichen Bilder
(z.B. gezeichnet, gemalt, fotografiert) -Text – Gesamtwerken: graphic novels.
Ich hatte Glück, dass ich zu meinem historisch-biografischen Thema ‚Richard Sorge’ tatsächlich eine grafische Erzählung fand: Isabel Kreitz, Die Sache mit Sorge. Stalins Spion in Moskau. Hamburg 2008 –
So konnte ich bei einem mir halbwegs vertrauten Thema Nutzen und Nachteil dieser Allianz von darstellender Kunst und Literatur anschauen.
Was gewinnt der Leser einer Biografie - genauer gesagt, einer partiellen Lebensbeschreibung, wenn er zusätzlich noch gezeichnete Bilder für die Erkenntnisgewinnung geboten bekommt?
„Ein Bild erzählt mehr als tausend Worte“ – lässt sich diese Volksweisheit an
der vorliegenden grafischen Erzählung als richtig erweisen?
Das Buch umfasst immerhin knapp 250 Seiten im Format zwischen DIN A5
und DIN A 4.
Die Vermutung, dass ein Bild mehr als tausend Worte erzählt, ist sicher nicht
wörtlich zu nehmen, denn so läge hier ein gigantischer Informationsschatz
vor mir. Die Bilder vermitteln Eindrücke und Assoziationen als Zusatznutzen zum Text. Das Bild als einprägsame Illustrierung im Schnellverfahren,
scheinbar konkreter, neben dem abstrakten Inhalt des Schriftlichen.
Und was wird hier transportiert? Von Frau Kreitz über Herrn Sorge?
Die Essentials aus der Erzählung sind nicht wesentlich anders als die aus
dem 50 Jahre älteren ‚Roman nach Tatsachen’ von Hans-Otto Meißner, Der
Fall Sorge. –- Richard Sorge, der Weiberheld und immer Alkoholisierte – und
so nützlich ist die Verbindung von Bildern und Text schon, dass genau diese
vollständige Verzerrung der historischen Person dem Leser sich ohne große
Mühe einprägt. Die in diesem Falle unheilige Allianz von Bild und Text
reicht allemal zur Diffamierung des Protagonisten.
Um wieviel anders müsste die grafische Erzählung aussehen, wenn die Absicht bestanden hätte, die einmaligen historischen Verdienste von Richard
Sorge sachlich und mit Bildern besonders einprägsam darzustellen.
Auch bei der Beschäftigung mit diesem Buch erwies es sich als unabdingbar,
verschiedene weitere Informationsquellen zu benutzen. Auch der Anhang eine historische Recherche von einem Journalisten zum Thema - hilft aus
Mangel an historischer Ausführlichkeit nicht, die geschichtlichen Gesamtmängel auzugleichen.
Meine Empfehlung zur Lektüre? In der Stadtbücherei ausleihen und wie oben vorgewarnt lesen und Zeit sparen und eine Box Miss Marple nehmen
und im Pantoffelkino genießen.
Der Redlichkeit halber hier noch ein (im Buch auf Seite 242 verstecktes?!?)
Zitat von einer Weggefährtin von Richard Sorge: „Aus Richard Sorge wurde
der Held und Meisterspion, der Mann mit den drei Gesichtern in Buch und
Film verklärt als Bonvivant und Frauenheld. Für mich war er einer der rechtschaffensten Menschen, die ich je gekannt habe.“
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