Otto Willmer - Museum der Alltagskultur

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Otto Willmer - Museum der Alltagskultur
Gerhard Prinz (Bearb.)
„Ein Lehrerleben“. Die Lebenserinnerungen des Otto Willmer
(1888 – 1981)
Vorbemerkungen des Bearbeiters
Wohl wenige Berufe konnten sich im Verlaufe des 19. und des beginnenden 20.
Jahrhunderts einer solchen Aufwertung erfreuen wie die Volksschullehrer. Als der
Verfasser der vorliegenden Lebenserinnerungen im Jahre 1907 seine erste Stelle
antrat, stand ein langer Prozess kurz vor dem Abschluss, an dessen Beginn das
sprichwörtlich gewordene „arme Dorfschulmeisterlein“ gestanden hatte. Das hatte
es wirklich einmal gegeben: Oft mehr schlecht als recht ausgebildet, meist jämmerlich bezahlt, deshalb allen möglichen Nebenerwerben nachgehend, dazu noch
zu Mesner- und Orgeldiensten verpflichtet und völlig vom Wohlwollen des Ortspfarrers als seinem unmittelbaren Vorgesetzten abhängig. Erster Schritt im Hinblick auf eine bessere Qualifikation war die 1811 beginnende Einrichtung von
staatlichen Lehrerseminaren1. Die Ernennung der Lehrer durch staatliche Instanzen ab 1836 beendete das für die Bewerber nicht selten mit erniedrigenden Zugeständnissen verbundene Auswahlverfahren durch die Gemeinden. Nach 1858 begann die Verbesserung der Ausbildung sowie der dienstrechtlichen Verhältnisse,
die sich zunehmend einem beamtenähnlichen Status annäherten. 1909 wurde die
geistliche Schulaufsicht in fachlicher Hinsicht abgeschafft; auch gab es von nun an
Aufstiegschancen in Schulleitung und Schulaufsicht. 1912 wurden endlich den
Volksschullehrern die vollen Beamtenrechte zuerkannt. Die vollständige verwaltungsmäßige Trennung von schulischen und kirchlichen Angelegenheiten erfolgte
aber erst 1919.2 Dieser Aufwertungsprozess steht in ursächlichem Zusammenhang mit der zur selben Zeit verlaufenden Entwicklung Württembergs vom Agrarzum Industrieland. Dadurch stiegen auch die Anforderungen an die Basisqualifikation der Bevölkerung und somit an die Volksschulen und deren Lehrpersonal.
Otto Willmer war Zeuge und vor allem Begünstigter der letzten Phase dieses enormen kollektiven Aufstiegs, der in einem Jahrhundert vom gering geschätzten, schlimmstenfalls mit dem Viehhirten oder Waldschützen gleichgestellten Gemeindebediensteten zum angesehenen Staatsbeamten führte. Zudem ist er als
Kleinbauernsohn Aufsteiger auch in individueller Hinsicht und darin nicht untypisch, waren doch im 19. Jahrhundert über die Hälfte der Volksschullehrer Kinder
von Handwerkern und Bauern3. Der Lehrerberuf gehörte also zu den wenigen Aufstiegsmöglichkeiten in einer sozial noch wenig durchlässigen Gesellschaft. Dies
wird wohl allgemein bekannt gewesen sein, und vielleicht lässt sich Willmer deshalb auf seinen individuellen Aufstieg, der ja immerhin vom Bauernbub zum Schulleiter führte, nicht weiter ein. Berufsständische Angelegenheiten hingegen werden
immer wieder und ausführlich erörtert. Dass dabei die materiellen Aspekte einen
breiten Raum einnehmen, sollte nicht befremden: Auch die Entlohnung einer Berufsgruppe ist Ausdruck ihrer gesellschaftlichen Wert- oder Nichtwertschätzung.
1
Zu deren Geschichte Friederich, Gerd: Die Volksschule in Württemberg im 19. Jahrhundert (Studien und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte, 6). Weinheim und Basel 1978. S.
80-96.
2
Überblick über die gesamte Entwicklung ebenda, S. 119-125.
3
Ebenda, S. 118 f.
1
Auffallend in Willmers Bericht ist auch, dass Begebenheiten des privaten Lebens
bei der Schilderung seiner Kindheit und Jugend noch recht ausführlich behandelt
werden und danach zunehmend in den Hintergrund treten. Über Ehefrau und Kinder zum Beispiel ist dann nur sehr knapp und nebenbei etwas zu erfahren. Das ist
durchaus die Absicht des Verfassers, der in erster Linie eine der Information seiner
Berufskollegen dienende „Darstellung über den Volksschullehrer“ in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts geben will. Dass Willmer engagiert und gerne Lehrer
war, schlug sich auch in der Berufswahl von zweien seiner drei Kinder nieder: Sowohl der älteste, 1915 geborene Sohn als auch dessen ein Jahr jüngere Schwester
wählten ebenfalls den väterlichen Beruf, und nur der 1919 geborene, 1945 an
Kriegsfolgen verstorbene jüngste Sohn entschied sich für ein Studium an der
Technischen Hochschule Stuttgart4.
Noch bis weit in die bundesrepublikanische Zeit hinein galten Volksschullehrer als
die volkskundlichen Laien schlechthin: als engagierte Forscher, Sammler oder Autoren ebenso wie als Multiplikatoren. Meist war Volkskunde selbstverständlicher
Bestandteil einer umfassend definierten Heimatkunde. Ein beträchtlicher Teil der
älteren Ortsliteratur, der Heimatbücher, Ortschroniken usw., war von Volksschullehrern verfasst oder herausgegeben. Schon als sich um 1900 die Volkskunde in
den deutschsprachigen Ländern zunächst auf Vereinsebene formierte und so auch
die „Württembergische Vereinigung für Volkskunde“ entstand, spielten sie eine
gewichtige Rolle. Denn diese Vereinigung brachte gleich nach ihrer Gründung eine
landesweite volkskundliche Erhebung in Gang, bei der nicht nur, aber vor allem
die Volksschullehrer zur Mitarbeit aufgerufen waren. Im Falle einer Zusage wurde
ihnen gestattet, ihren für das Jahr 1900 fälligen „Konferenzaufsatz“ diesem Vorhaben zu widmen.5 Diese Konferenzaufsätze waren im Zusammenhang mit den Lehrerkonferenzen anzufertigen, die neben Lehrkursen und Lesegesellschaften vor
1914 der Fortbildung der württembergischen Lehrerschaft dienten. Die Anzahl der
jährlich abzuliefernden Aufsätze hatte sich von ursprünglich vier allmählich reduziert, so dass ab 1891 nur noch einer abzugeben war und auch dies nur bis zur
Vollendung des vierzigsten Lebensjahres.6 Obwohl die Aufsatzpflichtigen wie immer die Wahl zwischen mehreren Themen hatten und sich nur ein Teil für die Mitarbeit an diesem ersten volkskundlichen Großprojekt in Württemberg entschied,
kamen fast sechshundert Berichte zustande, von denen der weitaus größte Teil
aus der Feder von Volksschullehrern stammte.7 Für manchen von ihnen war die
Abfassung eines Konferenzaufsatzes keineswegs die erste volkskundliche Betätigung. Eine qualifizierte Ausbildung, ein besserer Status und höhere Einkünfte hatten schon ab den 1860er-Jahren eine verstärkte Aufstiegsorientierung der
Volksschullehrer zur Folge. Die akademisch ausgebildeten, höherrangigen Gymnasiallehrer, deren klassisch-philologische Grundlagen sie nach wie vor nicht besaßen, wurden zu ihren Vorbildern. Erreichbar waren sie zwar weiterhin nicht, doch
4
Schriftliche Mitteilung von Helmut Burkhardt, Wurmlingen (Sohn von Willmers Tochter) vom
04.12.2011, dem an dieser Stelle herzlich gedankt sei. Demselben Schreiben ist auch zu entnehmen, dass Willmer am 08.06.1981 in Metzingen, Kreis Reutlingen, verstarb.
5
Hierzu die Vorworte in: Bohnenberger, Karl (Bearb.): Volkstümliche Überlieferungen in Württemberg. Glaube – Brauch – Heilkunde (Forschungen und Berichte zur Volkskunde in BadenWürttemberg, 5). 3. Auflage, Stuttgart 1980. S. VI f.
6
Friederich, Gerd: Die Volksschule in Württemberg im 19. Jahrhundert (Studien und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte, 6). Weinheim und Basel 1978. S. 96-98.
7
Bohnenberger, Karl (Bearb.): Volkstümliche Überlieferungen in Württemberg. Glaube – Brauch –
Heilkunde (Forschungen und Berichte zur Volkskunde in Baden-Württemberg, 5). 3. Auflage, Stuttgart 1980. S. VI f.
2
der zur selben Zeit in den Volksschulen an Bedeutung gewinnende Deutsch-, Geschichts- und Geographieunterrichts erschloss ihnen andere Felder: In der Heimat, Landes- und Volkskunde konnten sich auch die Volksschullehrer mit ihrem bescheideneren Bildungshintergrund qualifizieren und profilieren. Dass die intensive
Beschäftigung mit den Dingen vor Ort einem gewissen Provinzialismus förderlich
sein konnte, gehörte zu den Schattenseiten dieser Entwicklung.8
Willmers Interessen allerdings sind von Jugend an weit gespannt. Schon mit der
Qualität seiner Ausbildung am Nagolder Schullehrerseminar ist er nicht immer zufrieden und hätte im einen oder anderen Fach deutlich mehr erwartet. Als Junglehrer beschäftigt er sich mit den zeitgenössischen reformpädagogischen Ansätzen, und bis ins fortgeschrittene Alter bleibt er über die fachliche Fortbildung hinaus an Musik, Geschichte, Kunstgeschichte oder Geologie interessiert. Ein berufstypischer und ausschließlicher Heimatkundebetreiber ist er also nicht, wobei dann
im Ruhestand doch noch einschlägige Aktivitäten zu verzeichnen sind: Ende 1965
bittet Willmer die Stuttgarter Landesstelle für Volkskunde um Einsichtnahme in
den Konferenzaufsatz von Laufen an der Eyach9. Er vermutet, dass es sich bei
dessen Verfasser um seinen Schwiegervater handle; außerdem beschäftige er sich
gerade mit dem Sammeln alter mundartlicher Ausdrücke aus dem benachbarten
Frommern10, seinem Herkunftsort11. Nachdem ihm angeboten wird, entweder Mikrofilmabzüge fertigen zu lassen oder den Konferenzaufsatz persönlich in der Landesstelle einzusehen12, entscheidet er sich für letztere Möglichkeit und kündigt
seinen Besuch an13. Im folgenden Jahr übergibt er dann seine „Zusammenstellung
mundartlicher Ausdrücke aus Frommern, Kreis Balingen“ dem Volkskundeinstitut
der Universität Tübingen (dem heutigen Ludwig-Uhland-Institut für Empirische
Kulturwissenschaft), das sie zwecks Aufbewahrung an die Landesstelle weiterleitet, die sich bei Willmer „für den Dienst, den Sie damit der württembergischen
Volkskunde geleistet haben“ bedankt14. Es handelt sich um ein Konvolut von sechzehn Einzelblättern, die beidseitig maschinenschriftlich beschrieben und mit handschriftlichen Ergänzungen versehen sind. In diesem Glossar werden Mundartausdrücke aus Frommern aus der Zeit um 1900 aufgelistet. Laut Vorbemerkung sollen
auf diesem Wege ausgestorbene bzw. aussterbende Ausdrücke festgehalten werden15.
Die vorliegende Bearbeitung des Textes beruht auf einem in der Manuskriptsammlung der Landesstelle verwahrten Typoskript, bestehend aus Fotokopien von ursprünglich 22 doppelseitig beschriebenen Blättern. Da über den Verbleib eines
eventuellen Originals nichts bekannt ist, wird diese Kopie hier fortan als das Original bezeichnet. In der folgenden Wiedergabe sind Rechtschreibung und Zeichensetzung auf den aktuellen Stand gebracht. Offensichtliche Verschreibungen wurden stillschweigend berichtigt. Die Einteilung der Kapitel und deren Benennung
erfolgten überwiegend durch den Bearbeiter. Abkürzungen wurden aufgelöst, die
Schreibweise von Zahlwörtern und Datumsangaben vereinheitlicht. Belassen sind
8
Friederich, Gerd: Die Volksschule in Württemberg im 19. Jahrhundert (Studien und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte, 6). Weinheim und Basel 1978. S. 202-205.
9
Heute Stadtteil von Albstadt, Zollernalbkreis.
10
Heute Stadtteil von Balingen, Zollernalbkreis.
11
Landesstelle für Volkskunde Stuttgart, Altregistratur, XXXV/9, Schreiben vom 30.11.1965.
12
Ebenda, Schreiben vom 07.12.1965.
13
Ebenda, Schreiben vom 10.12.1965.
14
Ebenda, Schreiben vom 21.09.1966.
15
Landesstelle für Volkskunde Stuttgart, Nachlass Landesstelle für Volkskunde, C/50.
3
als sprachliche Besonderheiten einige ältere Formen wie andern, hiebei usw. Eingearbeitet sind Willmers handschriftliche Korrekturen im Original, nicht wiedergegeben jedoch die Unterstreichungen. Seine Darstellungen beruflicher Verhältnisse
und Entwicklungen wurden auf ihre sachliche Richtigkeit überprüft. Dies war allerdings nicht immer möglich, da einige von ihnen auf Unterlagen Willmers beruhen,
die nicht mehr vorhanden sind und deren Inhalt auch nicht mehr rekonstruierbar
ist.
Vorbemerkung des Verfassers
Schon öfters wurde im Kollegenkreis bedauert, dass es keine Darstellung über den
Volksschullehrer aus dem Zeitraum seit etwa 1900 gebe, die dem (sic) Kollegen
Aufschluss gebe über den Stand in diesen letzten 50 Jahren. Dabei wurde auch an
mich die Bitte um Aufzeichnungen über diesen Zeitraum herangetragen. Schließlich machte ich mich mit dem Gedanken näher vertraut, diese Aufgabe in Angriff
zu nehmen. So beginne (ich, G.P.) an dem heutigen Ostermontag, 27. März 1967,
mit meinen Aufzeichnungen. Doch möchte ich zu Beginn einige Erklärungen vorausgehen lassen: Wer einen phantasievollen Bericht erwartet, wird enttäuscht
sein. Nüchtern und sachlich soll erzählt werden. Sodann wird nicht nur ein Lehrerleben geschildert werden. Auch durchaus Persönliches, die Jugendzeit eingeschlossen, muss eingefügt werden, um ein Gesamtbild entstehen zu lassen. Endlich darf ein Wort der Kritik – wenn angebracht! – nicht fehlen, doch immer um
der Sache, nicht der Person wegen.
Frühe Jahre und Schulzeit in Frommern (1888 – 1902)
Welch ein großer Segen ein Elternhaus für ein Kind sein kann, habe ich von frühester Jugend an erfahren dürfen. Meinen Vater habe ich meines Wissens nie fluchen hören, während bei anderen Männern ellenlange Flüche an der Tagesordnung waren. Nur ein einziges Mal habe ich zwischen meinen Eltern einen Wortwechsel gehört. Wenn sie strafen mussten, geschah es mit Maßen. Denn derartige
Tugendbolde, dass Strafen unnötig gewesen wären, waren wir – und auch ich –
nicht. In einem Bauernhaus kann ein Kind lernen, gewisse Arbeiten als selbstverständlich auszuführen. So müssen zum Beispiel das Vieh gefüttert und geputzt,
der Stall gesäubert werden; darüber gibt es gar keine Diskussionen. Das Kind
muss sich in den Arbeitsablauf des Tages eingliedern.
Als ersten Lebensabschnitt möchte ich die Jahre von meiner Geburt (14. September 1888 zu Frommern) bis zum Eintritt in die Schule (1894) in der Erinnerung
auftauchen lassen. Hier kann es sich nur um wenige Eindrücke handeln. Da war
die erste Eisenbahnfahrt von Frommern nach Dusslingen16, wohl im Jahr 1892
oder 1893. Mein Vater litt öfters an Rheumatismus, und so entschloss er sich, den
„Dusslinger Balthes“, einen weit bekannten Heilkundigen17, aufzusuchen. Über den
Erfolg weiß ich nichts zu berichten, denn es war meine erste Eisenbahnfahrt, und
so interessierten mich medizinische Fragen nicht, und für das kleine Büble gab es
anderes zu sehen, zu hören und zu riechen. Wahrscheinlich waren zwei andere
Gründe ausschlaggebend dafür, dass ich mit durfte: Kinder bis zu fünf Jahren
16
Gemeinde im heutigen Kreis Tübingen.
Eigentlich Jakob Dieter (1842 – 1911), über Württemberg hinaus bekannter, auch von Schulmedizinern respektierter und von Apothekern akzeptierter heilkundiger Laie. Benannt nach dem Vornamen seines ebenfalls laienmedizinisch tätig gewesenen Vaters. Hierzu Bohnenberger, Karl
(Bearb.): Volkstümliche Überlieferungen in Württemberg. Glaube – Brauch – Heilkunde (Forschungen und Berichte zur Volkskunde in Baden-Württemberg, 5). 3. Auflage, Stuttgart 1980. S. 231.
17
4
brauchten keinen Fahrpreis zu bezahlen. Auch diente mein ältester Bruder Jakob
(Stiefbruder) gerade seinen Militärdienst im benachbarten Tübingen ab, so dass er
mittags in Dusslingen mit uns zusammentreffen konnte, was wiederum keine großen Kosten verursachte.
Ferner ist mir in Erinnerung geblieben, dass mich meine Eltern 1893 nach
Burgfelden18 mitnahmen, wo im Kirchenschiff Wandmalereien und Gräber aufgedeckt worden waren19. Ich kann aber nicht behaupten, dass mir irgendwelche tiefere Erinnerung geblieben sei. Hinzufügen möchte ich jedoch, dass mir der aus
Burgfelden gebürtige Lehrer Martin Raff (geboren 1864) etwa 1915 erzählte, dass
die Farben noch sehr gut erhalten waren, aber bald verblichen, da das Gotteshaus
den ganzen Sommer über offen stand und Regen und Wind freien Zugang hatten.
Das Jahr 1893 war sehr trocken; auf den Wiesen konnte fast kein Heu abgeführt werden. Viele Bauern setzten deshalb einen Teil des Viehbestandes ab,
wodurch die Viehpreise stark fielen. Zur Kirschenzeit starb mein Großvater mütterlicherseits in Weilheim20. Wir erbten auch noch zwei Wagen vorjähriges Heu. Dadurch konnte mein Vater seinen Viehbestand halten, ja vermehren, und er kaufte
eine Kuh samt Kalb auf dem Markt in Balingen um 70 Mark! Zu damaliger Zeit waren alle Kinder des ganzen Kalenderjahrgangs, die sieben Jahre alt waren oder
wurden, schulpflichtig. Schulbeginn war immer auf Georgentag, „Jörgentag“, 23.
April, einem wichtigen bäuerlichen „Lostag“21. Also waren manche Schulneulinge
schon etwas über sieben Jahre, andere noch nicht ganz sieben Jahre. Da wir direkt neben der Schule, auch neben Kirche und Rathaus wohnten auf dem so genannten „Fronhof“, einem Sankt Gallischen Klosterhof22, waren wir mit den Lehrern wohlbekannt. Ich selbst war, oft mit einem anderen Nachbarsbuben, auf der
„Bude“ gewesen. Da war für uns Buben das Rauchen wichtig; manchmal durften
wir’s probieren. Ich erinnere mich, dass ich einmal gerade noch die Treppe hinauf
kam, und dass man mich in die Stube tragen musste. Ich glaube, dass es davon
herrührt, dass ich später dem Rauchen nie viel Geschmack abgewinnen konnte
und seit über vierzig Jahren – freiwilliger – Nichtraucher bin.
Also begann ein neues Leben. Ich kam zwar schon mit sechs Jahren, also ein Jahr
zu früh, zur Schule, aber das Lernen machte mir keine Schwierigkeiten, und so
hatte ich keine Abneigung gegen das neue Leben. Als Lehrer der Unterklasse war
in ähnlichen Fällen immer der Unterlehrer, im Volksmund „Provisor“ genannt, tätig
(amtlicher Titel: Lehrgehilfe; der Unterlehrer bekleidete eigentlich schon eine gehobene Stellung). Ausgerüstet war der junge ABC-Schütze mit Griffelbüchse oder
Griffelschachtel (enthaltend einige mehr oder weniger gut gespitzte Griffel), Tafel
und von den älteren Geschwistern ererbter Fibel (herausgegeben wohl vor 1880);
Ranzen war äußerst selten. Gesäubert wurde die Tafel mit einem befeuchteten
Schwamm, falls man es nicht vergessen hatte, denn das Wasser musste gespart
werden, da es noch keine Wasserleitung gab und nicht alle Haushaltungen einen
eigenen Brunnen besaßen. Andernfalls spuckte man eben auf die Tafel; dann war
18
Heute Stadtteil von Albstadt, Zollernalbkreis.
Evangelische Michaelskirche mit umfangreichen, 1892 entdeckten frühromanischen Wandmalereien: Helber, Ingrid: Kunst- und Kulturdenkmale im Zollernalbkreis (Zollernalb-Profile, Reihe B, 1).
Stuttgart 2001. S. 19 f.
20
Unmittelbarer Nachbarort von Frommern, 1936 mit Waldstetten zu Weilstetten vereinigt; dieses
ist heute Stadtteil von Balingen, Zollernalbkreis.
21
Lostage sind festgelegte Tage im bäuerlichen Jahreslauf, an denen Vorhersagen hinsichtlich der
Witterung oder der Ernte getroffen werden.
22
Früher dem Kloster Sankt Gallen in der Schweiz abgabepflichtiger Hof.
19
5
die wöchentliche Samstagsreinigung gewiss nicht mehr unnötig. Gleich begann
das Lesen in der „alten“ Fibel, und zwar wurden Silben gelesen, zum Beispiel la-leli-lo-lu, el-il-al-ol-ul, se-so-si-sa-su, us-es-os-is-as usw., und tatsächlich lernte man
Lesen, wenn auch unter großen Mühen. Bilder irgendwelcher Art waren nicht enthalten, weder farbig noch auch nur schwarzweiß. Und trotzdem lernte man Lesen,
bis Schuljahrsende die kleine und große deutsche Druckschrift, auch kleinere Geschichten, zum Beispiel vom unfolgsamen Fischlein (natürlich mit angehängter
Moral!). Hefte, Zeichenpapier, Bleistift und Farbstift existierten für den Erstklässler
nicht. Im zweiten Schuljahr war ein neues, aber meist schon lange gebrauchtes
Lesebuch für das zweite und dritte Schuljahr in Benützung, in dem man zur Erlernung der lateinischen Schrift weiter schritt. Es enthielt auch einige hübsche Stücke, zum Beispiel „Der schlafende Apfel“, „Sonne und Wind“, „Wie das Finklein das
Bäuerlein im Scheuerlein besucht“ und so fort, die mir sehr gefielen. Dass wir je
einmal gemalt haben, daran kann ich mich nicht erinnern; ich will es für Anschauungsunterricht (jetzt Heimatkunde genannt) nicht ganz bestreiten. Rechenbuch war unbekannt; die alte gute „Russische Rechenmaschine“ aber wohlbekannt: Man zählte eben an den Fingern. Dann gab’s noch eine Biblische Geschichte und ein Spruchbuch, denn Lieder und Sprüche auswendig lernen – Memorieren
– war äußerst wichtig! – und für die spätere Laufbahn des Lehrers oft entscheidend.
Glücklicherweise stand wenigstens noch Singen im Stundenplan, was mir persönlich viel Freude machte. Da lernte man als Sieben- oder Achtjähriger Choräle wie
„Sollt’ es gleich bisweilen scheinen, als wenn Gott verließ die Seinen“, wo ich mir
unter „bisweilen“ vorstellte, dass die Sonne „bis Weilen“ (Weilheim, im Volksmund
„Weilen“ genannt, der Geburtsort meiner Mutter und mir damals wohlbekannt)
scheinen würde, was gut möglich und also vollkommen in Ordnung war. Im zweiten (oder dritten?) Schuljahr machte man Bekanntschaft mit Feder und Tinte;
Bleistift usw. blieb immer noch unbekannt. Da schrieb man also mit dem von Anfang bis Ende gleich schmalen Federhalter, der am einen Ende eine kleine Blechhülse trug. In eine Einkerbung konnte man eine Feder einschieben; entweder eine
„Röslesfeder“ oder eine „G-Feder“, je nach dem eine Rose oder ein lateinisches G
eingestanzt war. Nun konnte „das Spiel beginnen“. Leider sahen meist nach kurzer
Zeit die Enden von Daumen, Zeige- und Mittelfinger ganz schwarz aus. Es war oft
ein Jammer. Im vierten Schuljahr erlernte man die lateinische Schrift; ich erlebte
diese Zeit in Frommern nicht mehr. Man muss zugeben, dass viel zur Pflege der
Schrift – „Schönschreiben“ genannt – geschah. In den Schuljahren 4 bis 7 musste
jedes Vierteljahr (oder jeden Monat?) eine Schriftprobe eingetragen werden auf
genau eingezeichnetes Liniensystem, und dieses Heft war bei allen Prüfungen dem
Prüfenden vorzulegen, der sie (sic) regelmäßig überprüfte.
Auch ein jährlicher Schulausflug wurde unternommen, aber wie es für die damalige Zeit üblich war, nur in die nächste Umgebung (das soll nicht tadelnd angemerkt
sein!). So erinnere ich mich an einen „Spaziergang“ auf die Schalksburg23, und
dass die damaligen Reste des Südwestturmes viel, viel größer waren als die heutigen und noch den Eindruck eines Turmes machten. Ein anderes Mal ging’s über
die „Hossinger Leiter“24, der man sich von Westen her nähern musste und die aus
23
Burgruine oberhalb von Laufen an der Eyach.
Aus zwei Leitern zur Überwindung von Felswänden bestehendes Teilstück des kürzesten Fußweges zwischen dem auf der Albhochfläche gelegenen Hossingen (heute Ortsteil von Meßstetten,
Zollernalbkreis) und dem Eyachtal. Ein zeitgenössischer Bericht über die Leitern und ihre Mängel
findet sich in: Blätter des Schwäbischen Albvereins Jg. 1894, Heft 7, S. 141.
24
6
Holz war und der ein bis zwei Sprossen fehlten. Aber wir kamen glücklich hinauf.
Unser damaliger Lehrer fasste das erste Schuljahr als eine Klasse zusammen und
die Schuljahre 2 und 3 ebenfalls als eine Klasse, wobei er die Schüler rein nach
ihren Leistungen setzte ohne Rücksicht auf das Alter. Dabei nahm ich den zweiten
Platz ein; „des Pfarrers Rudolf“, mein Kamerad, saß ein Stück weiter unten. Wenn
nun die Zeit der jährlichen Prüfung durch den Ortsschulinspektor (Pfarrer)25 nahte,
musste Rudolf meinen Platz einnehmen und ich etwas nach unten rutschen. So
wechselten wir während der Prüfungen!
Im übrigen ist über meine Zeit als Schüler in Frommern wenig zu berichten. Aber
ein Erlebnis ist mir in deutlicher Erinnerung geblieben: die große Überschwemmung der Eyach am 5. Juni 1895. Zwar habe ich die Unglücksnacht durchschlafen,
aber am andern Morgen weckte mich meine Mutter mit den Worten: „Otto, stand
uff, ´s hot so a grausegs Hochwasser!“ Es waren mehrere Tage schwere Gewitter
niedergegangen. Wir selber wohnten im höchsten Teil des Dorfes und hatten unter der Katastrophe wenig zu leiden. Aber im Flecken unten an der Eyach! Keine
Brücke mehr da, kein Übergang, viele Häuser weggerissen. Die Eyach war bisher
links am Armenhaus vorbei geflossen, jetzt rechts. Und in den nächsten Tagen,
besonders sonntags, Zuschauer ohne Zahl. Der Besucherstrom, aber auch der
Spendenstrom wollte kein Ende nehmen. Über deren (sic) Verwendung gab es
noch lange hässliche Auseinandersetzungen. Auch der König Wilhelm II. fand sich
mit Gefolge ein. Was gab es da zu sehen; die wehenden Helmbüsche und die breiten roten Streifen an den Hosen26 machten einen gewaltigen Eindruck. Später kamen mir Zweifel, ob ich auch die richtige Person als den König angesehen habe.
Ab Frühjahr 1897 sollte (durfte?) ich die Realschule Balingen besuchen. Anscheinend hatte schon zwei, drei Monate vorher eine Art Vorbereitungskurs für
Schreiben (lateinische Schrift, die ich nicht kannte), Rechnen, schon etwas Französisch stattgefunden, denn als ich mich mit noch einem andern Frommerner Schüler einfand, war die ganze Klasse schon da. Ich hatte anscheinend den Anforderungen genügt, denn ich durfte da bleiben und besuchte die Realschule in Balingen fünf Jahre lang (1897 – 1902). Es war eine Schule mit zwei Lehrern. Die Klassen 1 und 2 wurden von dem Kollaborator (bei den Schülern: „Kohlabroter“27) betreut, die Klassen 3 bis 5 vom Reallehrer (heute: Studienrat). Beide waren aus
dem Volksschullehrerstande hervorgegangen nach Ablegung der Elementarlehrer(ergänzungs)prüfung bzw. Hochschulstudium und waren gute Methodiker, bei
denen man etwas lernte, ohne dass sie „Prügler“ gewesen wären, und ich denke
(sic) ihrer heute noch in Dankbarkeit. Trotzdem ich anfangs einigen Nachholbedarf
hatte, konnte ich bald mithalten und mich ab Klasse 2 an die Spitze setzen. Einmal
hatten wir für wenige Wochen einen jungen Stellvertreter, wohl wegen Krankheit;
einen ganz unverständigen Prügler, der denn auch überall verhasst war und von
dem wir gern Abschied nahmen. Sonst sind mir keine besonderen Ereignisse in
Erinnerung. Nur Freihandzeichnen war trostlos: ewiges Abzeichnen von stilisierten
Blättern usw. von großen Vorlagen (etwa 40:60)28, nie etwas Lebendiges, Lebens25
Die geistliche Schulaufsicht in fachlicher Hinsicht wurde 1909 abgeschafft: Dehlinger, Alfred:
Württembergs Staatswesen in seiner geschichtlichen Entwicklung bis heute. Erster Band. Stuttgart
1951. S. 462 f.
26
Diese Streifen trugen nur Generäle und Generalstabsoffiziere: Hein, …: Das kleine Buch vom
Deutschen Heere. Ein Hand- und Nachschlagebuch zur Belehrung über die deutsche Kriegsmacht.
Kiel und Leipzig 1901. S. 238 f.
27
Kohlenbrater.
28
Wohl Abmessungen der Vorlagen in Zentimetern.
7
volles. Ein einziges Mal unternahmen wir wohl in Klasse 2 einen Lerngang an den
Heuberg29, wo uns Kollaborator Sattler Frühlingsblumen auf der Wiese zeigte.
Frühjahr 1902 schied ich aus der Balinger Schule aus, worüber später berichtet wird. Doch möchte ich noch von unsern Schulausflügen berichten. Diese
führten weiter von der Heimat weg als zur Frommerner Zeit. Aber meine Eltern
hatten beim besten Willen nicht das Geld für Schulausflüge. Da stellte der durch
seine Wohltätigkeit bekannte Fabrikant Behr einen Geldbetrag zur Verfügung, der
auch ärmeren Kindern die Teilnahme ermöglichte. So konnte auch ich mich an den
Ausflügen erstens Reutlingen – Achalm – Pfullingen – Nebelhöhle – Lichtenstein –
Olgahöhle – Honau und zweitens Fußmarsch Kaiseringen – Hausen im Tal –
Werenwag – Beuron (und Bad in der Donau) beteiligen. Auch an diese Tage und
den guten Spender denke ich noch heute mit Dankbarkeit (und Wehmut!) zurück.
Es folgen nun Erinnerungen aus dem Leben der damaligen Jugend. Als
Bauernkind war es selbstverständlich, dass ich an allen bäuerlichen Arbeiten teilzunehmen hatte. So sind mir diese alle, einschließlich Mähen, wohlbekannt. Gerne
besuchte ich auch die nahe gelegene Mühle, so dass mir alle Arbeitsgänge wohl
vertraut waren. Mit Staunen sah ich in die dunkle Wasserstube hinab, denn von
dort sollten nach den Aussagen der Größeren die Kinder herkommen. Auch eine
„Reibe“ für den Hanf war angeschlossen, ebenso eine Sägmühle, und stundenlang
schaute ich zu, und Müller und Mahlknecht ließen mich ruhig gewähren, auch
wenn ich stundenlang dablieb. Wenn ich genug hatte, besuchte ich eine Zeit lang
den Dorfschmied bei seinen Arbeiten, besonders dem Beschlagen der Kühe und
Pferde. Ebenso wendete ich meine Aufmerksamkeit dem Zimmermann zu, der
noch alle seine Balken mit dem „Breitbeil“ beschlagen musste. Genau verfolgte
ich, wie er mit einer in einem kleinen Kübel geschwärzten Schnur eine „schnurgerade“ Linie auf dem Balken anbrachte. Mein Vater war gelernter Schuhmacher, der
auch zwei Jahre in der Schweiz gewesen war, jetzt aber nur noch für den eigenen
Hausgebrauch arbeitete, aber noch seine vollständige Schusterwerkstatt besaß.
Was für solide Arbeit wurde da geleistet, und lauter Handarbeit! Die Kinderschuhe
waren so gearbeitet, dass sie für den rechten oder linken Fuß passten, je nach
Bedarf. Auf der Sohle mit starken Nägeln beschlagen, die Absätze mit einem dünnen, flachen Eisen versehen, an der Vorderkante noch besonders starke Nägel:
Das war wirklich Dauerware und hielt einige Kinder durch. Diese Wohlvertrautheit
mit einer ganzen Zahl von Handwerken ist mir in meinem späteren Beruf sehr zustatten gekommen.
Das Essen war einfach, aber kräftig. Genau erinnere ich mich an den Haberbrei
(meist morgens), „gestandene“ Milch (sauere Milch) mit Kartoffeln oder Schwarzbrot eingebrockt. Da wir am Haus angebaut einen Backofen hatten, wurde fast
alles Brot selber gebacken. Also musste man mit Feuermachen, „Einschießen“30
usw. Bescheid wissen. Da gab es die ach so seltenen Leckerbissen, nämlich einen
„Baurakuacha“31, hergestellt aus Schwarzbrotteig („rucke Brot“32) mit etwas Rahm
und Kimmich (Kümmel) darauf. Das war etwas Gutes! Süßigkeiten aller Art waren
so gut wie unbekannt. Ich erinnere mich nur, dass ich im Alter von etwa sechs
Jahren eine Zeit lang sonntags ein oder zwei Pfennig bekam, mit denen ich stolz
29
Gemeint ist wahrscheinlich der in der Nähe von Balingen gelegene Kleine Heuberg im Albvorland. Der weiter entfernte Große Heuberg ist ein Teil der Westalb.
30
Einbringen der Backwaren in den Ofen.
31
Bauernkuchen.
32
Aus Roggenmehl hergestelltes Brot; auch allgemeiner verwendete Bezeichnung für Schwarzbrot.
8
zum Krämer zog, um mir einen „Blockmockel“33 (Süßigkeit) zu kaufen. Wenn meine Mutter zu Markt ging, was selten geschah, brachte sie von Balingen eine kleine
Tüte mit erbsengroßen Bonbons mit, dazu einen Doppelwecken, und nun verteilte
man das Ganze unter meist vier Kinder.
Sonntags gingen meist einige Buben miteinander auf der Markung spazieren, auch
auf Lochen, Schalksburg und andere Berge der Umgebung. Eine Zeit lang war es
üblich, mit den Buben von Dürrwangen34 einen Streit auszutragen, indem man
Steine gegeneinander warf (ich hatte auch einmal eine Wunde auf dem Kopf!)
oder mit dicken Prügeln aufeinander losging. Unsere Väter mögen oft nicht
schlecht geschimpft haben, wenn die Wiesen beim Mähen voller Steine lagen –
oder wussten sie es noch von ihrer Jugendzeit her? Wenn im September das Obst
zu reifen begann, war es unser selbstverständliches Recht, dass wir uns unseren
Bedarf von den Bäumen entlang der Straße nach Balingen – oder auch sonstwo –
holten. Gelegentlich beging man auch Taten, die man sich vorher wohl nicht überlegt hatte. So erinnere ich mich an einen Sonntagmittag35, wo wir etwa neunjährigen Buben an ein Hanffeld kamen. Da er (sic) schön hoch gewachsen war, schien
es uns sehr geeignet, darin „Verstecken“ zu spielen, und so schlichen wir schön
gebückt durch das Feld und hinterließen kreuz und quer Spuren. Als die Sache
kund wurde, leugneten wir alles ab. Aber wenn ich heute gelegentlich an dem
Platz vorbei komme, fällt mir diese unüberlegte Handlung ein. Ich möchte aber
davor warnen, solchen Jugendtorheiten allzu viel Bedeutung zuzumessen. Wir hatten uns wirklich nichts Böses dabei gedacht. Andererseits muss davor gewarnt
werden, die Kinder zu sehr in Schutz zu nehmen. Bei Gesprächen über Kindertorheiten erzählte mir ein Bauer, wie ihn einst sein Vater lebhaft verteidigt hatte, und
er schloss mit den Worten: „Für Kinder kann man nicht streiten – ich habe es halt
doch getan gehabt.“
Noch ein Erlebnis muss ich anfügen. Als ich etwa ein Jahr nach Balingen ging, hieß
es an einem Samstag: „Morgen gehen wir alle nach Stockenhausen36; gehst Du
auch mit?“ Natürlich stellte ich mich zur verabredeten Zeit dort ein. Man war vergnügt, und jeder bekam eine Limonade, die am Schluss von einem Klassenkameraden für alle bezahlt wurde. Dann ging man geordnet nach Hause, voll Freude
über den schönen und billigen! Tag. Am Montag ging in Balingen nochmals alles
auf den Bahnhof, und der gleiche Spender ließ aus dem aufgestellten Automaten
einige Päckchen Schokolade (zehn Pfennig) und gebrannte Mandeln (was für ein
Hochgenuss! – zehn Pfennig) heraus, die nun verteilt wurden. Es wirft ein Licht
auf die damaligen Zeitverhältnisse, dass unser Verhalten einem Eisenbahnbeamten auffiel, und er fragte den Anführer, woher er das Geld habe. „Gefunden, selt
in sellem Graba“37 war die Antwort. Man ging der Sache nach, und es stellte sich
heraus, dass der betreffende Knabe seinen Eltern das Geld aus der Ladenkasse
entwendet hatte. Ob meine anderen Kameraden davon Kenntnis gehabt hatten,
weiß ich nicht. Ich für meine Person wusste von allem nichts. Nun kam der Fall
auch in der Schule zur Behandlung, und Kollaborator Sattler entschied, dass wir
die Ausgaben zu ersetzen hatten. Also musste ich während der Schulzeit heim
nach Frommern gehen und vierzig Pfennig als Ersatz holen. Das war ein schwerer
Gang! Aber meine Eltern glaubten meinem Bericht und meinen Beteuerungen und
33
34
35
36
37
Wohl keine offizielle Produktbezeichnung, sondern umgangs- oder kindersprachliche Benennung.
Unmittelbarer Nachbarort von Frommern, heute Stadtteil von Balingen, Zollernalbkreis.
Mundartlich für: Sonntagnachmittag.
Heute Stadtteil von Balingen, Zollernalbkreis.
Dort in jenem Graben.
9
gaben mir das Geld, und so nahm die Angelegenheit noch ein erträgliches Ende.
Aber ich ließ sie mir zur Warnung dienen.
Das Verhältnis unter uns Schülern war im Allgemeinen gut. Unterschiede betreffend des Bekenntnisses (sic) unter uns bestanden nicht. Als einer der aus
Erlaheim38 gebürtigen katholischen Schüler den Fuß brach, wurde er von der ganzen Klasse geschlossen besucht. Erst ab etwa dem zwölften Lebensjahr wurden
plötzlich Schimpfworte laut, verstummten aber bald wieder. Die zwei unteren Klassen waren mit der Lateinschule und einigen Volksschulklassen in einem Gebäude
untergebracht. Letzteren gegenüber fühlten wir uns als „Studentle“ ein bisschen
erhaben; zu ersteren hatten wir als „Konkurrenz“ wenig Verbindung. Unterschiede
zwischen Arm und Reich innerhalb der Klasse bestanden so gut wie gar nicht.
Es sei noch kurz auf die Gebräuche der damaligen Zeit eingegangen. Zu
Weihnachten hatte man einen Christbaum mit einigen bunten Kerzen, Äpfeln,
auch einigen „Springerle“39. Bald nach dem Weihnachtstag begann man, möglichst
unbemerkt das Eine oder Andere zu naschen; die Versuchung war zu groß. Als
weiteres Geschenk gab es ein Schächtelchen voller Griffel (Aufschrift: „Dem braven Kinde“) oder ein Schreibheft, vielleicht noch eine Brezel. Am dritten Feiertag
war der „Pfeffertag“40, wo man die Mädchen mit einer Wacholderrute zu kitzeln
versuchte. Am Altjahrabend haben wir Geschwister in den Nachbarhäusern „das
Jahr angesungen“, wobei wir kleine Gaben erhielten. Der „Niklas“ war in
Frommern unbekannt; ihn habe ich erst in Balingen kennen gelernt41. Am Altjahrabend schoss man auch mit der Pistole oder der Schlüsselbüchse, aus einem alten
Hohlschlüssel hergestellt. Das krachte gewaltig (nach unserer Meinung!). An Ostern ging man mit seinen Eiern auf die Wiese, um sie zu werfen, zu rugeln42 oder
zu „mepfen“, das heißt, mit der spitzen Seite gegeneinander zu stoßen. Wessen Ei
unbeschädigt blieb, (der, G.P.) war Sieger und erhielt das andere Ei auch. Ferner
konnte einer sein Ei in der Hand halten, und der Gegner durfte mit einem Geldstück darauf werfen. Blieb das Geldstück – meist zwei Pfennig – stecken, hatte er
das Ei gewonnen, andernfalls hatte er sein Geld verloren. Meiner Erinnerung nach
haben wir Kinder nie ein Geburtstagsgeschenk erhalten. Bei Verlobungen schossen
die ledigen Bursche (sic) mit ihren Pistolen. Einmal, bei der Tochter des Müllers
der „Schlösslesmühle“, waren es mindestens 25 bis 30 Bursche: Das war ein Geknalle!
In meiner Jugendzeit war es üblich, dass bei einem Neubau die Schüler die Ziegel
„boten“ in der Reihe, dann auch über eine Leiter auf das Dach hinauf. Als der
Neubau des Schulzen (Bürgermeisters) gedeckt wurde, brach die Leiter, und eine
Reihe Schüler fielen herab. Glücklicherweise war nichts geschehen, aber die Aktion
wurde gleich abgebrochen. Beim Bau der Wasserleitung 1898 bis 1900 wurde ein
italienischer Arbeiter durch einen verspätet losgehenden Schuss43 in die Luft geschleudert und schwer verletzt; ich stand ganz in der Nähe, als es geschah. Bei
den beschränkten Einkommensverhältnissen bei uns zu Hause war es ganz selbstverständlich, dass auch die Kinder in ihrer Art zur Steigerung des Einkommens
38
Heute Stadtteil von Geislingen, Zollernalbkreis.
Mit Hilfe von Modeln hergestelltes Weihnachtsbildgebäck aus Eierschaummasse.
40
Nimmt Bezug auf „pfeffern“ in der Bedeutung von „schlagen“.
41
Diese Aussage macht (wieder einmal) deutlich, dass sich nicht wenige Bräuche erst von den
Städten aus ins dörfliche Umland verbreiteten. Dass es prinzipiell umgekehrt sei, gehörte lange Zeit
zu den grundlegenden Thesen der Volkskunde.
42
Rollen.
43
Wohl bei Sprengarbeiten.
39
10
beitrugen. Das geschah durch Arbeiten der mannigfaltigsten Art: Sammeln von
Arzneipflanzen, zum Beispiel „Gütschle“ (weiße Taubnessel), „Katzadoba“ (Wundklee), Holunderblüten. In den Ferien verdiente man sich einige Mark mit „Steinschlagen“, dem Zerkleinern der am Straßenrand aufgesetzten Steine, die zum Beschottern der Landstraße dienten. Wenn der Hopfen zeitig44 war, ging man nach
Balingen zur Brauerei Lang und erhielt für jeden Simrikorb45 abgezopfte (sic) Hopfen zehn Pfennig, was für uns Kinder ein schönes Geld war und bei schöner Witterung auch ein angenehmes Geschäft. Selbstverständlich wurde abends zu Hause
das verdiente Geld restlos abgeliefert. In den Wintermonaten stellten wir für Ebinger Schuhgeschäfte aus Stoffresten „Endschuhe“46 her, die sicherlich im Winter
schön warm gaben. Bei der Kirche galt es, die Anlagen zu säubern und vom Unkraut frei zu halten, wofür wieder Einiges einging. War einmal ein Karussell da, so
erhielten wir zwar kein Geld zum Fahren. Aber sie (sic) wurde von Hand bewegt,
und wir halfen schieben, wofür man dann gegen Schluss einer Runde aufstehen
und also auch eine Weile mitfahren konnte. Unser Nachbar war der Schulmeister,
und weil in Frommern zu damaliger Zeit kein Metzger war, mussten zuerst mein
älterer Bruder Karl und später ich ihm jeden Samstag von Balingen Fleisch bringen, wofür wir fünf Pfennig erhielten. Diese Summe war schon in den Etat eingeplant, denn es gab an diesen Tagen keinen Fünfer für einen Wecken, sondern dieser Fünfer diente als Vespergeld. So kann ich wohl ohne Übertreibung behaupten,
dass ich in meinen Schuljahren schon eine sehr vielseitige Tätigkeit ausüben
musste und konnte.
Nun war indessen die Zeit herangekommen, dass ich mich für einen Beruf entscheiden musste. Da ich gute Schulzeugnisse hatte, hätte mich der Verwaltungsaktuar47 (seinen Namen weiß ich nicht mehr) noch ohne die sechste Klasse der
Realschule (in Ebingen)48 genommen. Aber es sollte anders kommen. Im Jahr
1901, kurz vor Abschluss seiner Seminarausbildung49, war mein älterer Bruder Karl
unerwartet rasch an Blinddarmentzündung in Nagold gestorben. Wohl in Erinnerung daran beschlossen meine Eltern, dass auch ich Lehrer werden sollte. Ich war
damit einverstanden, hatte ich doch in den ganzen Fragenkomplex keinen Einblick.
Es war mittlerweile etwa Dezember 1901 bis Januar 1902 geworden. Nun sollte ich
mit der Vorbereitung beginnen. Das heißt, da meine Eltern kein Geld hatten, sollte
ich mich selber vorbereiten. Das war schwierig, denn die Zahl der Bewerber war
jedes Jahr groß, so dass nur ein Drittel in die bestehenden Seminare50 aufgenommen werden konnte. Ich kaufte ein Buch, das Aufgaben aus den Prüfungen der
vorhergehenden Jahre enthielt (Herausgeber: Jäger) und saß nun meist abends
beim trüben Schein einer Erdöllampe am Tisch, meist allein, und arbeitete die
44
Mundartlich für: reif.
Simri: Nach der Einführung des metrischen Systems 1872 außer Kraft gesetztes, rund 22 Liter
umfassendes württembergisches Getreidehohlmaß.
46
Pantoffelähnliche, weiche und weite Schuhe, die aus Tuchenden hergestellt wurden.
47
Niederer Verwaltungsbeamter, insbesondere in Stadt- und Gemeindeverwaltungen tätig. Die
Ausbildung hierzu hätte fünf Jahre gedauert: Dehlinger, Alfred: Württembergs Staatswesen in seiner geschichtlichen Entwicklung bis heute. Zweiter Band. Stuttgart 1953. S. 962-964.
48
Die Ortsangabe bezieht sich wahrscheinlich nicht auf die Realschule, sondern auf den Sitz des
Verwaltungsaktuars.
49
Gemeint ist die Ausbildung am Schullehrerseminar.
50
Zu dieser Zeit bestanden evangelische Schullehrerseminare in Esslingen, Nürtingen, Künzelsau
und Nagold sowie katholische in (Schwäbisch) Gmünd und Saulgau. Zu deren Geschichte Friederich, Gerd: Die Volksschule in Württemberg im 19. Jahrhundert (Studien und Dokumentationen zur
deutschen Bildungsgeschichte, 6). Weinheim und Basel 1978. S. 80-96.
45
11
Aufgaben durch, soweit es mir möglich war. Mein Reallehrer Immendörfer sah
gelegentlich nach mir, besonders in Aufsatz, Stadtpfarrer Metzger (?)51 ebenso in
Religion. Aber man musste auch einen Choral singen, und so machte man noch
einen jungen Lehrer ausfindig, der mir den Choral „Schwing dich auf zu deinem
Gott“ beibrachte, auch manches Andere. So machte ich mich am Sonntagmorgen
auf und ging, meist bei strenger Kälte, nach Laufen an der Eyach, wo ich den
Nachhilfeunterricht empfing. Meist holte mich nach dem Unterricht die Lehrersfrau
Katharina Hagenlocher zu einem guten Teller warmer Suppe (siehe Luther!)52, was
mir recht schmeckte.
Allmählich kam die Zeit, dass man ein Gesuch um Zulassung zur Prüfung einreichen musste. Dieses wurde unter Anleitung von Pfarrer Walz geschrieben. Bald
traf die Nachricht ein, dass ich zugelassen sei mit Angabe des Zeitpunktes, an dem
ich mich in Nürtingen einzufinden habe. An dem genannten Tag setzte ich mich
mit meiner Mutter in den Zug. Wir wollten unterwegs noch meinen früheren
Kollaborator Sattler in Reutlingen besuchen und fanden ihn auch glücklich. Gleich
hörte er mich einige Sprüche und Lieder ab. Darauf ging’s nach kurzer Zeit wieder
dem Bahnhof zu. Als wir dort ankamen, waren noch zwei Herren mit fünfzehn bis
zwanzig Buben meines Alters da. Man kam ins Gespräch, und es stellte sich heraus, dass wir das gleiche Ziel hatten: Aufnahmeprüfung in Nürtingen. Sie fragten,
wo ich vorbereitet worden sei. Auf die Antwort, dass ich nirgends zur Vorbereitung
gewesen sei, sondern allein zu Hause gearbeitet habe, machten sie bedenkliche
Gesichter und begannen gleich, mir Fragen zu stellen. Meine Mutter und ich fuhren trotzdem dem bekannten Zielort zu. Die Prüfung nahm zwei Tage in Anspruch,
und wir fuhren nach Frommern zurück, wo bald die Nachricht einging: Prüfung
bestanden! Kurz darauf ging die weitere Mitteilung ein, dass ich anfangs Mai in die
Präparandenanstalt in Nagold einzutreten habe. Damit war meine Schulzeit abgeschlossen, und ein Ziel stand vor mir: Lehrer werden!
Nun gab es für mich einige Wochen Ferien. Da es gerade Frühling war, wurden im
benachbarten Laufen Tännlein „verschult“ (versetzt). Dort war also Gelegenheit,
einiges Geld zu verdienen. Also marschierte ich täglich mit einer Zahl anderer
Mitkonfirmanden nach Laufen zum Pflanzensetzen. Auf dem Heimweg wurden jeweils Lieder gesungen, meist „Schelmenlieder“53, die mir unbekannt waren und wo
ich erkennen konnte, was ich „versäumt“ hatte. Am Ende der Beschäftigung gab
es ein ganz schönes Stück Geld.
Präparandenanstalt in Nagold (1902 – 1904)
Nun war also der Tag des Eintritts in die Präparandenanstalt gekommen, einer
Vorstufe des Seminars, nach deren Abschluss wieder eine Prüfung für das Seminar
abzulegen war. Es war im Mai 1902. Meine Mutter begleitete mich, und es mögen
für sie traurige Tage gewesen sein, in Gedenken an den Tod meines Bruders Karl
im August 1901. Bei ihrer Rückfahrt auf dem Bahnhof in Nagold küsste sie mich
noch; ein Ereignis, dessen ich mich weder vorher noch nachher erinnern kann. Wir
waren 35 junge Burschen aus allen Oberämtern54 zwischen Tuttlingen – Münsin51
Willmer erinnert sich richtig. Es handelt sich um den damaligen Zweiten Stadtpfarrer Metzger in
Balingen: Hof- und Staats-Handbuch des Königreichs Württemberg. Ausgabe 1902. Stuttgart 1902.
S. 275.
52
Wohl Anspielung auf die auf Martin Luther und seine Ehefrau zurückgehende Tradition der Gastfreundschaft in den evangelischen Pfarrhäusern.
53
Lieder frivolen Inhalts, andernorts auch „Lumpenlieder“ genannt.
54
Verwaltungseinheiten in Württemberg, flächenmäßig kleinere Vorgänger der heutigen Kreise.
12
gen – Vaihingen. Außer uns war noch ein älterer Kurs untergebracht. Wir schliefen
in kasernenartiger Weise in drei Schlafsälen (zusammen etwa 70); es standen
aber keine Betten übereinander. Außerdem war ein Arbeitssaal (für alle 70!) vorhanden, wo man seine Hausaufgaben erledigte, ferner zwei Lehrsäle (weil zwei
Kurse!). Das Essen nahmen wir im Seminar ein, 300 Meter entfernt, jeweils eine
halbe Stunde nach den drei Kursen des Seminars. Der Unterricht wurde durch
zwei ständige Oberlehrer und zwei Seminarlehrer erteilt, in Form eines etwas verbesserten Volksschulunterrichts. Es zeigte sich eben, dass sie keine genügende
Vorbildung für ihr Amt hatten. Am guten Willen fehlte es wohl nicht. Als Beispiele
mögen genügen, dass wir noch Schönschriften fertigen mussten, das Liniensystem
selbst linieren mussten – vierlinig – samt Richtungslinien unter einem Winkel von
60 bis 70 Grad. In Naturkunde wurden auf Quartblättern55 meist 20 bis 30 Fragen
beantwortet wie folgende: Was für Zähne hat der Hase? Nur das Wort, das im
Buch steht! Die Antwort musste lauten: safrangelb! Der Botaniklehrer machte öfters botanische Wanderungen (eine halbe Stunde), denen ich aber keinen Geschmack abgewinnen konnte, da sie keine biologischen Hinweise enthielten. Jeden
Monat machte man auch einen Nachmittagsausflug, ohne jegliche Hinweise, als
eine Art militärische Beinbewegung – keine geographischen, botanischen, geschichtlichen usw. Hinweise. Außer den vier genannten Lehrern gab noch der Seminarrektor einige Stunden in Religionsunterricht.
Der Tag verlief folgendermaßen: Aufstehen um sechs Uhr, Waschen und Ankleiden, Frühlektion, Essen im Seminar, Unterricht bis zwölf Uhr, Essen im Seminar,
anschließend frei bis vierzehn Uhr. Mittags schlossen sich weitere Lektionen, besonders aber Musikunterricht an. Achtzehn bis neunzehn Uhr Nachtessen und Freizeit, anschließend Selbstbeschäftigung, das heißt Erledigung der Hausaufgaben bis
zur Andacht, und Schlafengehen um einundzwanzig Uhr. Im oberen Hausgang
hatte auch jeder einen schmalen Schrank. In der Lehrerbildung spielte das Fach
Musik eine bedeutende Rolle, damit wir unserer späteren Aufgabe als Lehrer und
besonders Organisten in der Kirche56 nachkommen konnten. In der
Präparandenanstalt wurde in folgenden Fächern Unterricht (in Musik) erteilt: Singen, Geige, Musiklehre, Klavier. Als ich in Nagold eintrat, hatte ich keinerlei
Kenntnis der Noten; ich sang also alles rein nach dem Gehör. Eine billige Schülergeige wurde angeschafft. Aus irgendeinem Grunde (warum, wusste ich selbst
nicht) übte ich fast nie und erlangte nur eine geringe Fertigkeit. Aber wie das Klavierspielen erlernt werden musste, das muss noch dargestellt werden. Außer den
bisher aufgezählten Räumen waren noch zwei Musikzimmer da, in denen die Instrumente standen. Das eine enthielt ein Tafelklavier, dazu noch drei(!) „Tangenten“, cembaloartige Instrumente mit ziemlich leisem Ton. Man stelle sich vor, wie
das klang: Einer spielte Klavier, drei andere zu gleicher Zeit noch Tangente, und
jeder zählte nach Bedarf lauter oder leiser und spielte in D oder f oder b oder Gis.
Aber schließlich ging’s immer besser, trotz aller Behinderung. Ich hatte große
Freude am zunehmend besseren Spiel und bemühte mich sogar während der Ferien auf dem Harmonium der Schule Frommern um Besserung meiner Leistungen.
Auch mein Vater freute sich über den Fortschritt und schlug mir meine Bitte
um Zeit für diese Aufgabe nie ab. Was war das für ein Stolz, wenn man ein ganz
55
Traditionelles Buchformat, auch Viertelbogen genannt. Die Rückenhöhe eines Buches in diesem
Format betrug etwa 30 – 35 cm.
56
Die Verpflichtung zum Organistendienst bleibt bis 1919 bestehen: Friederich, Gerd: Die Volksschule in Württemberg im 19. Jahrhundert (Studien und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte, 6). Weinheim und Basel 1978. S. 123 f.
13
einfaches Liedchen auf der Geige oder dem Klavier spielen konnte. Zum Abschluss
eines Schuljahres gab es Zeugnisse, die nicht nur vom Vater, sondern auch vom
Pfarrer unterschrieben werden mussten: ein Ausdruck der damals bestehenden
„geistlichen Schulaufsicht“. Darin waren auch die Strafen aufgezählt, die über den
Inhaber verfügt worden waren. Körperliche Züchtigung gab es nicht mehr. Die
mildeste Strafe war die „Erinnerung“ für leichte Vergehen; ihr folgte die „Note“ als
schwerere Strafe, dann ein Tag Hausarrest, der am Sonntag abzubüßen war und
an dem man keine Freizeit hatte, sondern eine Strafarbeit anfertigen musste. Die
schwerste Schulstrafe war Karzer, der aber wie Hausarrest bei unserem Kurs während der Präparandenzeit nicht verhängt wurde, in reichem Maße aber im Seminar. Die schwerste Strafe war jedoch die Entlassung, das heißt die Verweisung
vom Seminar, die meist bei sittlichen Verfehlungen verhängt wurde, auch in unserer Klasse. Das Verhältnis in der Klasse war im Übrigen gut; größere Streitigkeiten
und Feindseligkeiten gab es nicht. Im Frühjahr 1904 musste die
Präparandenprüfung abgelegt werden, die von allen bestanden wurde. Nun waren
wir erst richtige Seminaristen.
Schullehrerseminar in Nagold (1904 – 1907)
Nun nahm das Gewicht der pädagogischen Fächer zu, und im dritten Jahr trat die
pädagogische Praxis dazu. Im Übrigen stand der Unterricht auf etwas höherer
Ebene, und ich will eine Schilderung der meisten Fächer geben. Rektor
Frohnmeyer erteilte Unterricht in Bibelkunde und Ethik. Er war ein hervorragender
Lehrer, leider auch ein Spötter, der es natürlich leicht hatte, seinen Spott über uns
junge Burschen auszuschütten. Einen großen Teil seines Ansehens verscherzte er
sich auch durch sein Benehmen bei Dingen, über die noch später zu reden sein
wird. Ursprünglich Lehrer, studierte er später Theologie und war also Anhänger
der geistlichen Schulaufsicht und der Bekenntnisschule im Gegensatz zur „Simultanschule“57. Ein Bruder war Prälat58. Der zweite wissenschaftliche Lehrer war
Prof. Dr. Häcker, ebenfalls Theologe; ein feiner, stiller Mann. Er erteilte Deutsch
(Sprache und Aufsatz), leider etwas schematisch, wobei er für jeden Fall ein Beispiel in ein Fächlein eintrug. Später fand ich es sehr nachteilig, dass er nicht auf
Wortbedeutung, Bedeutungswandel, kurz: das Leben der Sprache im Sinne Hildebrandts59, eingegangen war. Sodann erteilte er uns Unterricht in Geschichte, wobei
er wieder eine große Anzahl Stammbäume der Herrschergeschlechter anschrieb,
aber sein Unterricht lag auf höherer Ebene. Er war öfter von Hexenschuss geplagt,
aber so pflichteifrig, dass er uns bei manchen Anfällen, wenn es ihm halbwegs
möglich war, in seinem Schlafzimmer, im Bett liegend, Unterricht erteilte. Er war
allgemein beliebt.
Seminaroberlehrer Schäffer erteilte den Musikunterricht (mit einigen Unterlehrern
zusammen) und war als gediegener, fleißiger Lehrer allgemein beliebt. Höhepunkte waren die Seminarkonzerte, ausgeführt vom Seminaristenchor und dem
„Oratorienchor“, dessen Frauenstimmen von Damen der Stadt gesungen wurden.
Zur Verstärkung der Altstimmen wurden auch Präparanden eingesetzt (auch ich
57
Konfessionell neutrale Schule ohne Religionsunterricht.
Titel der Generalsuperintendenten, der Leiter der Generalate (Kirchenbezirke) der württembergischen Landeskirche in Ludwigsburg, Heilbronn, Reutlingen, Tübingen, (Schwäbisch) Hall und Ulm.
Diese sechs Generalate standen zwischen der obersten Kirchenbehörde, dem Konsistorium, und
den Dekanaten: Dehlinger, Alfred: Württembergs Staatswesen in seiner geschichtlichen Entwicklung bis heute. Erster Band. Stuttgart 1951. S. 424-426.
59
Gemeint ist wohl der Pädagoge und Schulreformer Paul Hildebrandt (1870 – 1948).
58
14
hatte einst noch Alt gesungen). Nach Abschluss der Konzerte hatten wir einen
mächtigen Stolz. Doch muss ich über den Musikunterricht ein Wort der Kritik sagen. Uns fehlte jeder Vergleichsmaßstab, und wir waren daher nicht befähigt, ein
begründetes Urteil abzugeben. Wir hörten nie ein wirkliches Konzert, besuchten
nie eine Oper oder ähnliche Musikveranstaltungen, hatten keinerlei Ahnung von
anderen Musikinstrumenten (außer den im Seminar üblichen), also von Holz- und
Blechinstrumenten, Harfe usw., von der Aufstellung eines Orchesters. Ja, nicht
einmal ein Geiger oder Pianist von höheren Graden trat bei uns auf, und all das
wäre gewiss zur Vertiefung des Unterrichts notwendig gewesen.
Der Zeichenlehrer hieß Fauth und war planlos; Schüler der Oberklasse und Seminaristen der letzten Klasse zeichneten dasselbe. Von Geometrie und geometrischem Zeichnen hatte er keine Ahnung, was er selbst zugab und was ihn wieder
sympathisch machte. Er gab letzteren Unterricht an einen Unterlehrer ab. Der Lehrer in Mathematik und Naturwissenschaft hieß Schwarzmaier. In Mathematik konnte er uns etwas vom mathematischen Geist beibringen. Aber in Physik wurde nicht
ein einziger Versuch unternommen, in Mineralogie nicht einmal die vorhandenen
Handstücke gezeigt, keine botanische oder geologische oder andersartige Wanderung unternommen, nichts, gar nichts! In Physik zum Beispiel hörten wir nicht ein
Wort über Elektrizität! Dass es ein Fach wie Chemie gab, war uns nicht einmal
dem Namen nach bekannt. So arm an naturwissenschaftlichem Wissen wird wohl
nie (hoffentlich!) eine Klasse das Seminar verlassen haben. Nun war Schwarzmaier
schon alt, kränklich (Asthma) und wollte noch ein Rechenbuch schreiben, um den
Professortitel (sic) zu erhalten. Aber uns war damit nicht gedient. Die Behörde
musste doch Kenntnis von diesen Zuständen haben, und es wäre sicher möglich
gewesen, einen Ausweg zu finden, der seinen und unseren Interessen gerecht
geworden wäre. Zudem war er noch Rechner für das Essen, das wir Seminaristen
erhielten, und da dessen Güte von vielen von uns bezweifelt wurde, hielt er uns
oft lange Vorträge von zehn, zwanzig, dreißig Minuten und hielt uns eine Standpauke. Dadurch ging noch mehr der kostbaren Zeit verloren. Über die Frage der
Seminarkost sei noch ein Wort angefügt. Mir als Kind aus einfachem Bauernhause
kam das Essen gut vor; es war reichhaltiger als zu Hause. „Saure Milch“ (gestandene Milch) war ganz unbeliebt, während ich persönlich sie sehr gerne aß. Viele
kauften sich anschließend an das Mittagessen Obst oder einen „Schleck“60, wozu
ich gar kein Geld hatte. Ich glaube, dass ich während meiner fünf Seminarjahre
keine zwei Mal mir ein Obst gestattete. Da Schwarzmaier persönlich in Ordnung
war, ergab sich ein eigenartiges Bild; wir bedauerten ihn. Aber es besteht kein
Zweifel, dass großes Versäumnis an uns begangen wurde.
Eines der trübsten Kapitel war die Person des Leiters der Übungsschule, Seminaroberlehrer Köbele. Diese Schule umfasste vier Klassen: Klasse I erstes Schuljahr,
Klasse II zweites und drittes Schuljahr, Klasse III viertes und fünftes Schuljahr,
Klasse IV sechstes und siebtes Schuljahr. Jedes Schuljahr umfasste rund fünfzehn
Schüler. Dabei wurden Kinder, die anschließend die Oberschule besuchen wollten,
grundsätzlich nicht aufgenommen. Es handelte sich bei den Schülern also keineswegs um eine Auslese. Da nur drei Lehrkräfte zur Verfügung standen, mussten
Klasse I und II von einem einzigen Lehrer (in allerdings getrennten Lokalen) versehen werden. Die Seminaristen der letzten Klasse wurden nun auf die vier Klassen verteilt und wechselten im Lauf des Jahres zwei Mal die Klassen, so dass jeder
Seminarist je etwa drei Monate lang (Ferien!) in drei der vier Klassen unterrichten
60
Süßigkeit.
15
konnte; jeweils mit wechselnden Fächern, zum Beispiel Lesen, Religion, Rechnen,
Musik usw. Da also die Klassen und die Fächer gewechselt wurden, war eine vielseitige Ausbildung möglich. Köbele war schon lange in Nagold und zeichnete sich
durch unglaubliche Faulheit aus. Zwar soll er sehr gute Prüfungszeugnisse gehabt
haben, aber ich glaube, dass er sich in späteren Jahren nie mehr auf eine Unterrichtsstunde vorbereitete. Ich möchte ein typisches Beispiel anführen: Es war wohl
1906, dass er einen Lehrgang für angehende Bezirksschulinspektoren halten sollte. Die Teilnehmer waren demnach Geistliche, wobei Köbele eine Reihe von recht
guten Lehrproben hielt. Kaum war der Kurs aus und der letzte Teilnehmer verschwunden, so ging’s noch von der gleichen Stunde an im alten Trab weiter.
Wenn wir etwas gelernt haben, so verdanken wir das den beiden jungen unständigen61 Seminarlehrern; besonders Herrn Klein verehre ich noch heute. Ein weiteres Beispiel für Köbele sei noch angeführt. Die Seminaristen mussten die zu haltenden Lehrproben schriftlich ausarbeiten und dem Übungslehrer vorlegen. Ich
erteilte in der Klasse Köbeles Religion. In meinen sämtlichen Lehrprobeentwürfen
während drei Monaten verbesserte er mir ein Komma; sonst war anscheinend
nichts zu beanstanden. Welche Anregungen hätten da gegeben werden können!
Auch diese mangelhaften Zustände an der Seminarübungsschule konnten doch
der Behörde nicht verborgen bleiben! Noch muss ich anfügen, dass wir für jede
weitergehende Darbietung dankbar waren. Ich erinnere mich an einen Vortrag
über das Radium, dessen Ergebnis allerdings wegen mangelnder Grundlagen (siehe oben) wohl nicht groß gewesen sein mag. Ferner ist mir eine Rezitatorin im
Gedächtnis geblieben, deren Vortrag von „Nils Randers“62 und „Die Brücke am
Tay“63 mich aufrüttelte.
Es seien noch einige Punkte des täglichen Lebens erwähnt. Über die Qualität des
Essens wurde schon berichtet. Einmal in der Woche (Mittwoch) konnte man ein
Fläschchen Bier (einen halben Liter) bestellen oder eine Milch. Manche waren von
zu Hause einen größeren Bierkonsum gewöhnt; diese bestellten sich eben auf den
Namen eines anderen, der kein Bier trank, noch ein weiteres Fläschchen. Das
führte des weiteren dahin, dass sehr viele von uns (auch in anderen Kursen) heimlich in ein Wirtshaus der Stadt gingen (natürlich konnte man keines von den besten wählen), um dort zu trinken und zu rauchen. Meist waren es rund 75 Prozent
der Klasse. Ich selbst war nie beteiligt, schon weil ich das nötige Geld nicht hatte.
Es konnte nicht ausbleiben, dass diese heimlichen Gänge verraten wurden (meist
von Aufpassern in der Stadt); dann wurden die Übeltäter zur Rechenschaft gezogen. Dabei bediente sich der Rektor auch der bekannten Methode, zu den Angeschuldigten bei ihrer Einvernahme zu sagen: „Sie können alles zugeben. X hat
auch schon gestanden“. Nachher stellte sich dann heraus, dass dies nicht zutraf.
Deshalb meine Bemerkung weiter oben64. Dies führte zuletzt so weit, dass kurz
vor unserer Ersten Dienstprüfung rund 90 Prozent der Klasse einen Tag strengen
Hausarrest bekamen und der Rest sich ihnen freiwillig anschloss. Diese unschönen
Verhältnisse änderten sich erst ab dem Jahr 191065 und legten die Grundlage zu
neuen Beziehungen.
Da wir inzwischen neunzehn, zwanzig Jahre alt geworden waren, ließ es sich nicht
vermeiden, dass sich zarte Liebesbande zwischen Seminaristen und einzelnen
61
62
63
64
65
Ohne feste Anstellung, im Anwärterstatus.
Ballade von Otto Ernst (1862 – 1926).
Ballade von Theodor Fontane (1819 – 1898).
Gemeint ist die Bemerkung über Rektor Frohnmeyer im ersten Abschnitt dieses Kapitels.
Von diesen Veränderungen wird an späterer Stelle berichtet.
16
Mädchen der Stadt anknüpften. Einer unserer Kursgenossen wurde vom Seminar
verwiesen (als schwerste Strafe); eigenartigerweise erhielt er als erster von uns
allen eine Lehrerstelle! Noch sei darauf hingewiesen, dass es zu Königs und Kaisers Geburtstag66 zum Mittagessen ein Viertel Wein gab nebst einem festlicheren
Essen. Monatlich einmal fand eine Art Wandertag statt. Ziel war meist Wildberg,
Altensteig oder Haiterbach67. Es handelte sich für die meisten darum, möglichst
bald am Ziel zu sein, möglichst lange dort zu rauchen und zu trinken und dann
möglichst schnell wieder zum Abendessen im Seminar (zu sein, G.P.). Von 1909
oder 1910 ab wurden alle diesbezüglichen Verordnungen wesentlich gemildert.
Jährlich fand ein ganztägiger, später ein zweitägiger Ausflug statt in das Elsass
oder an den Bodensee, dem sich im letzten Jahr ein dreitägiger Ausflug nach Heidelberg und an den Rhein bis Koblenz (mit Schifffahrt) anschloss. Im Jahr 1906
sollte aus Anlass des 25-jährigen Bestehens des Seminars Nagold eine Feier veranstaltet werden, wobei das schwäbische Stück „Das Preislied“ aufgeführt werden
sollte, bei dem ich die darin vorkommende weibliche Rolle übernehmen sollte. Infolge des schweren Unglücks, als das gesamte Gasthaus „Zum Hirsch“ um zwei
Meter angehoben werden sollte und dabei in sich zusammen stürzte68, wurde der
Plan fallen gelassen. Waren doch über fünfzig Personen dabei tödlich verunglückt69; auch eine Anzahl Seminaristen trugen Verletzungen davon. Ich selbst saß
in dieser Zeit in der Mittagsfreizeit um dreizehn Uhr auf (sic) der Orgel, um zu
üben und sah die weiße Staubwolke in nördlicher Richtung vor dem Schlossberg
vorbeiziehen.
Endlich, nach fünf Jahren, sollte unsere Lehrzeit zu Ende gehen. Zuvor war aber
noch die Erste Dienstprüfung als Abschluss abzulegen. Das geschah Ende Januar
und Anfang Februar 1907 und dauerte eine Woche. Wir waren eine zahlenmäßig
starke Klasse (36 gegenüber normal 30), was für mich zur Folge hatte, dass ich
mich in keine Bank („subsellium“ genannt) setzen konnte wie die Übrigen. Ich
fand nur an der Wand, direkt neben dem glühheißen Ofen, auf einem viel zu
schmalen und viel zu schrägen Pultchen einen Platz. Aber es kam doch zu einem
guten Abschluss. Als Beispiel will ich unser Aufsatzthema angeben: „Sich im Spiegel zu beschauen, kann den Affen nur erbauen. Wirke, denn in seinen Werken
kann der Mensch sich selbst bemerken“70. Vom Ergebnis war ich enttäuscht, denn
während ich sonst meist die Note „Gut“ oder Bemerkungen wie „Im Ganzen gute
Gedanken“ erhalten hatte, erreichte ich nur das Zeugnis „Befriedigend“. Andere
Themen waren zum Beispiel: „Dem starken Schwimmer stärkt der Strom die Glieder, den schwachen reißt er nieder“. Ich halte das heutige Verfahren an den
Oberschulen für viel geeigneter. Nun will ich noch ein Verzeichnis der Fächer anlegen, in denen wir in der Ersten Dienstprüfung 1907 geprüft wurden:
Schulkunde
Bibelkunde
Glaubens- und Sittenlehre
66
25.02.1848 (König Wilhelm II.) und 27.01.1859 (Kaiser Wilhelm II.).
Kleinstädte in der näheren Umgebung von Nagold.
68
Entgegen der Darstellung Willmers war es nicht der Gasthof Hirsch, sondern der Gasthof Grüner
Baum. Das Gebäude sollte angehoben werden, um ein Zwischengeschoss einzubauen. Als besondere Attraktion hatte das Lokal während der Arbeiten am 05.04.1906 geöffnet und war gut besucht. Nach mehrstündiger Arbeit stürzte das Gebäude plötzlich ein: Baier, Walter (Bearb.): Nagold
– Bild einer Stadt. Hg.: Stadt Nagold. Nagold 1971. S. 274 f.
69
Es waren 53 Tote und viele Verletzte: Ebenda.
70
Der zweite Satz des Zitates stammt von Friedrich Rückert (1788 – 1866).
67
17
Aufsatz
Deutsche Sprache
Arithmetik (dabei acht Kopfrechnungen!)
Geometrie
Geschichte
Naturgeschichte
Naturlehre
Musik: a) Harmonielehre, b) Orgel, c) Gesang, d) Violine
Zeichnen: a) freies, b) konstruktives
Turnen: a) Turnfertigkeit, b) Lehrfähigkeit
Lehrfähigkeit (das heißt: Lehrprobe)
Fakultative Fächer: Französische Sprache, Handfertigkeitsunterricht
Nun war alles zu einem guten Abschluss gebracht; alle hatten bestanden. Am letzten Abend wurde Abschied gefeiert (bezeichnenderweise ohne Lehrer) mit vielen
Versprechungen und guten Vorsätzen. Aber was ist daraus geworden?
Nachtrag: Gesundheitliche Verhältnisse in der Lehrerausbildung71
Ich sehe mich bei der Rückschau veranlasst, meinen bisherigen Aufzeichnungen
noch einen weiteren Abschnitt anzufügen. Darin soll die gesundheitliche Fürsorge
in Präparandenanstalt und Seminar geschildert werden. In unserem letzten, dem
fünften Jahr, mussten zwei unserer Klassengenossen, Lang und Beitter, wegen
Krankheit aussetzen, konnten dann jedoch ihre Ausbildung fortsetzen und die Prüfung ablegen. Zwei weitere unserer Freunde waren nach einem Jahr gestorben
(Hartmann und Haßberg); Blaich folgte ihnen bald nach, und wieder kurz später
musste Maurer seinen Beruf aufgeben. Er lebte in der Schweiz und Frankreich und
arbeitet dort in verschiedenen Berufen und wandte sich der MazdaznanBewegung72 zu, erlernte mit ungeheurer Energie ihre Atemtechnik und Lebensweise, und es gelang ihm, in jahrelangem zähem Kampf seinen Feind zu überwinden
und zu gesunden. Er lebte später in Mexiko als Bienenzüchter und hatte in Mexiko
nach seinen Worten eine der am besten rentierenden Farmen, starb auch dort im
Alter von etwa 65 Jahren73.
Angesichts dieser Tatsachen muss ich mich fragen: Musste das sein? – und muss
betrübt feststellen: Das konnte gar nicht anders enden! Schon in der
Präparandenanstalt waren untergebracht im Erdgeschoss: Zwei Lehrsäle und einige Musikzimmer; die letzteren mit drei Klavieren besetzt, die meist gleichzeitig
gespielt wurden! Im ersten Stock: Wohnung des leitenden Oberlehrers mit Frau,
Tochter und Dienstmädchen; ein Zimmer für einen Unterlehrer und ein Arbeitssaal, in dem etwa 65 Präparanden gleichzeitig ihre Hausaufgaben machten. Im
Dachstock: Schlafraum für circa 65 Präparanden und Waschraum und Schrank für
Kleider usw. und ein Zimmer für Oberlehrer und ein Zimmer für Unterlehrer. Aborte in einem Bau etwa 30 Meter entfernt. Ich glaube, wir wurden noch spartanischer als in Sparta erzogen. Zu den Mahlzeiten ging’s ins Seminar, 400 Meter entfernt. Im Seminar selbst, wohin man nach zwei Jahren übersiedelte, war die Unterbringung etwas besser, aber immer noch einfach genug. Gelegenheit, wenn
notwendig warmes Wasser zu erhalten, bestand nicht. Immerhin bestand in den
71
Der Nachtrag ist datiert auf 21.10.1974.
Religiöse Bewegung aus zarathustrischen, christlichen und hinduistischen Elementen mit eigener
(vegetarischer) Ernährungslehre sowie Atem- und Meditationstechniken.
73
Wahrscheinlich handelt es sich bei den geschilderten Fällen um Erkrankungen an Lungentuberkulose, die zu dieser Zeit noch weit verbreitet war.
72
18
Wintermonaten die Möglichkeit, im Ganzen zwei, drei Mal ein Bad zu nehmen. Soweit ich weiß, war der Oberamtsarzt mit der Betreuung der Seminaristen beauftragt. Ich kann mich aber nicht entsinnen, ihn während der fünf Jahre einmal bei
der Behandlung der Zöglinge gesehen zu haben. Ich will nicht behaupten, dass er
nie gekommen sei, aber gesehen bei irgendwelcher ärztlichen Tätigkeit habe ich
ihn nie. Ich glaube, dass kein Krankenzimmer vorhanden war, denn gesprochen
hat man nie davon. Wer krank war, blieb eben im Schlafsaal, fast den ganzen Tag
allein. Im Seminar war es eine Winzigkeit besser; immerhin lagen auch hier noch
rund 30 Zöglinge, gemischt aus allen drei Klassen. Ebenso wenig kann ich mich
erinnern, dass während der fünf Jahre je eine Untersuchung des Herzens, der
Lunge oder Ähnliches stattgefunden hätte. Kann man sich dann wundern, wenn
sich derartige Dinge ereigneten wie der frühzeitige Tod unserer Kursgenossen?
Etwa ein halbes Jahr vor der Ersten Dienstprüfung trat noch ein neues Fach
auf. Seine genaue Bezeichnung weiß ich nicht mehr; es könnte „Gesundheitslehre“
geheißen haben. Aber es wurde von allen Klassen überhaupt nicht zur Kenntnis
genommen, selbstverständlich nichts gearbeitet und in der Prüfungsarbeit absichtlich der tollste Blödsinn verzapft. Ich erinnere mich noch genau, wie der Prüfungsjahrgang 1905 erzählte, was sie über ihre Aufgabe „Der Druck der Schulbücher“
geschrieben hatten. Was mag sich wohl der Oberamtsarzt bei der Durchsicht der
Arbeiten gedacht haben? Nun, glücklicherweise hat sich heute (1974) sehr Vieles
zum Besseren gewendet. Da er (sic) im Zeugnis nicht gewertet wird, findet die
Gesundheitspflege auch heute bei den Studenten oft nicht die Beachtung, die sie
verdient. Vielleicht lassen sich Maßnahmen ergreifen, die den angehenden Lehrern
in diesem Fach ausreichende Kenntnisse sichern, die sie für den Ernstfall sichern.
In Winterlingen und Mötzingen (1907 – 1909)
Da damals schon ein gewisser Mangel an Lehrern herrschte, wurde den meisten
gleich bei der Entlassung eine Stelle zugeteilt. Ich sollte als Stellvertreter nach
Vöhringen bei Sulz74 kommen, doch im letzten Augenblick wurde ich telegrafisch
nach Winterlingen im Oberamt Balingen75 beordert, in zwanzig Kilometer Entfernung von meiner Heimat. Am 13. Februar 1907 trat ich in Winterlingen meinen
Dienst an, und das Dorf entsprach wirklich seinem Namen: Mehr als meterhohe
Schneemauern lagen auf beiden Seiten der Straße. Ich hatte das erste Schuljahr
mit 48 Schülern zu unterrichten, für damalige Verhältnisse eine kleine Klasse, und
die Kinder waren willig, so dass wir gut miteinander auskamen. Daneben hatte ich
das Turnen bei den Knaben des siebten Schuljahres, und diese zeigten sich schon
etwas rauer, um nicht zu sagen grober. Auch Beteiligung am Leichengesang bei
Beerdigungen gehörte zu meinem Aufgabenkreis, endlich ein Teil des
Organistendienstes. Ja, sogar im benachbarten hohenzollerischen Straßberg76 hatte ich in der dortigen Diasporagemeinde ungefähr alle vier Wochen den
Organistendienst zu übernehmen. Eine meiner ersten dienstlichen Tätigkeiten war
meine Verpflichtung durch den Königlichen Bezirksschulinspektor. Diese Ämter
waren 1907 alle mit Geistlichen besetzt77.
Ich führe die Urkunde wörtlich auf:
„Eides-Vorhalt für einen Unterlehrer an einer Volksschule.
74
75
76
77
Gemeinde im heutigen Kreis Rottweil.
Gemeinde im heutigen Zollernalbkreis.
Gemeinde im heutigen Zollernalbkreis.
Bis zur bereits erwähnten Abschaffung der geistlichen Schulaufsicht im Jahre 1909.
19
Sie werden als bestellter Unterlehrer zu Winterlingen durch Handtreue78 sich verpflichten: Seiner Königlichen Majestät, unserem allergnädigsten König und Herrn,
treu und gehorsam zu sein, und alle Obliegenheiten Ihrer Stelle nach Vorschrift
der Gesetze und Verordnungen und nach den Ihnen hienach zukommenden Befehlen der Ihnen vorgesetzten Behörden mit Eifer und Genauigkeit zu erfüllen.
Insbesondere verpflichten Sie sich, der Ihnen anvertrauten Schulabteilung mit allem Fleiß und Treue sich zu widmen, die vorgeschriebene Zeit pünktlich einzuhalten, sich auf die Schulstunden gewissenhaft vorzubereiten, in der Züchtigung Maß
zu halten und auch der Schwächeren sich mit Sorgfalt anzunehmen. Sie versprechen ferner, gegen Ihre Vorgesetzten ehrerbietig, folgsam und bescheiden zu
sein, sich Ihre Fortbildung ernstlich angelegen sein zu lassen, durch einen stillen
und eingezogenen Wandel und ein in jeder Hinsicht würdiges Benehmen sich die
Achtung der Eltern und Kinder zu erwerben und überhaupt die Pflichten Ihres Berufes so zu erfüllen, wie Sie es gegen den allwissenden Gott zu verantworten sich
getrauen.“
Nun konnte also die Tagesarbeit beginnen. Auf die Unterrichtsstunden bereitete
ich mich fleißig vor, aber es waren so gut wie keine Vorbereitungswerke für die
verschiedenen Fächer da. Doch konnte ich irgendwie die badische Fibel von LayEnderlin79 und die vom benachbarten Hohenzollern auftreiben, denn die württembergische war ganz veraltet, während die zwei genannten schon bebildert waren;
die hohenzollerische Fibel enthielt sogar einige Farbbilder80. Freie Zeit war genügend da, Ablenkung so gut wie keine. Das Problem war beinahe: Was tun mit der
freien Zeit? Nun, es fand sich Einiges. Beim Abgang vom Seminar hatte ich mir für
„Fleiß und Wohlverhalten“ ein Buch wünschen dürfen. Auf Anraten eines meiner
Seminarlehrer wünschte ich mir Chamberlains „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“81, das damals Aufsehen erregte (was ich aber nicht wusste). Ich arbeitete
die beiden Bände durch, aber es zeigte sich bald, dass unsere Vorbildung dieser
anspruchsvollen Lektüre nicht genügte. Zudem stand nirgends ein Nachschlagwerk
zur Verfügung. Für die Ausführungen über Kunst fehlte jegliche Grundlage; die
Darstellungen über Geschichte standen auf einer ganz anderen Höhe, überall Lücken oder gar nichts. Glücklicherweise war ein altes Tafelklavier in der „Unterlehrersbude“, nicht viel besser als eine „Tangente“. An ihm verbrachte ich viele Stunden und konnte mir die Zeit verkürzen und meine Kenntnisse verbessern. Es war
mir eine richtige Hilfe in der Not. Ich unternahm auch, meist allein, Wanderungen
in der näheren Umgebung, die aber auch nicht den Gewinn brachten, wie es hätte
bei besserer Ausbildung sein können.
In Winterlingen waren damals außer Oberlehrer82 Scherle noch drei ständige Lehrer. Sie nahmen sich meiner insofern an, als sie mich zu ihren nachmittäglichen
78
Durch Handschlag bekräftigtes Versprechen.
Wilhelm August Lay (1862 – 1926) und Max Albert Enderlin (1872 – 1940), badische Reformpädagogen.
80
Anzunehmen ist, dass in dem zur preußischen Rheinprovinz gehörenden Hohenzollern preußische Schulbücher verwendet wurden.
81
1899 erschienenes Hauptwerk des britischen Schriftstellers und Kulturphilosophen Houston Stewart Chamberlain (1855 – 1927). In ihm wird eine völkisch-mystische und das Germanentum verherrlichende Ideologie dargelegt, die später großen Einfluss auf die Rassenlehre des Nationalsozialismus hatte.
82
Die Stellen der Oberlehrer wurden an größeren Volksschulen ab 1865 eingerichtet: Friederich,
Gerd: Die Volksschule in Württemberg im 19. Jahrhundert (Studien und Dokumentationen zur
deutschen Bildungsgeschichte, 6). Weinheim und Basel 1978. S. 74.
79
20
Zusammenkünften mitnahmen. Da hiebei aber immer nur „Tapp“83 gespielt wurde
und mir das Geld für Bier zu schad war, ging ich im Grunde meines Herzens nur
ungern hin, und das dabei verbrauchte Geld reute mich, denn ich musste sparen!
Einmal wurden an der Straße nach Benzingen84 auch Tonkrüge ausgegraben, wo
ich mich als interessierter Zuschauer einfand. Wenn ein junger Lehrer in damaliger
Zeit neu in den Dienst trat, war es ganz selbstverständlich, dass er aufgefordert
wurde, verschiedenen Organisationen beizutreten. So trat ich 1907 dem Württembergischen Lehrerverein85 bei, ebenso dem Württembergischen Lehrerunterstützungsverein86, der Unterstützung bei Krankheit und bei Brandfall gab. Einen großen Teil der hiezu erforderlichen Mittel gewann er durch die Herausgabe von
Lernmitteln (Büchern) für die Schüler, die dabei billig und brauchbar waren. Es
war damals gute Sitte, die Versammlungen des Lehrervereins zu besuchen (wozu
die heutige Zeit leider ein anderes Beispiel bietet) und wozu man ein- bis zweistündigen Anmarsch und ebenso Rückweg als ganz in Ordnung betrachtete. Ja,
die jüngeren Lehrer schlossen sich noch zu einer besonderen Gruppe zusammen,
um an ihrer Weiterbildung zu arbeiten. Diese Gruppe Ebingen-Balingen löste sich
aber bald wieder auf.
Ein wichtiges Kapitel, auch für Lehrer, ist die Gehaltsfrage. Ein Unterlehrer von
1907 bezog ein Monatsgehalt von 75 Mark. Das hatte er beim Gemeindepfleger
abzuholen. Aber wie oft hatte so ein Gemeindepfleger (damals meist „Bürgermeister“ geheißen87) selbst kein Geld in der Kasse. Manchmal war es ihm auch kein
besonderes Anliegen, das Geld bereit zu halten. Galt doch der Lehrer neben der
Farrenhaltung in vielen Dörfern als der „Gemeindeschaden“! Nun, in Winterlingen
klappte es meist, denn es war eine größere Gemeinde und der Gemeindepfleger
hatte einen Bruder, der auch Lehrer war, und so hatte er wohl ein verständnisvolles Herz. Wenn man bedenkt, dass für ein einfaches Mittagessen 70 Pfennig bis
eine Mark bezahlt werden musste, so wird man diese Entlohnung nicht als hoch
oder gar zu hoch betrachten können. Ortsschulinspektor war Pfarrer Heintzeler,
ein ruhiger, angenehmer Mann, mit dem ich keine Auseinandersetzungen, allerdings auch keine weitere Berührung hatte.
Ein einschneidendes Ereignis war, dass mein Vater im Mai 1907 ganz unerwartet
an einem Herzschlag starb. Da meine beiden älteren Schwestern (22 und 25 Jahre) auswärts im Dienst88 und meine beiden jüngeren Geschwister erst elf bzw.
vierzehn Jahre alt waren, musste ich jeden freien Nachmittag nach Frommern fahren, um bei der bäuerlichen Arbeit mitzuhelfen. So war auch dadurch meine freie
Zeit knapp. Schon längere Zeit hatte ein Freund mit mir besprochen, in der Erntezeit eine Wanderung in den Schwarzwald zu machen. Aber zuerst musste die Ernte eingebracht und die Garben „gewalzt“ werden (ein Ersatz für Dreschen). Endlich war es soweit. Am ersten Tag erreichten wir über Balingen – Oberndorf unser
Ziel Alpirsbach und brachten auch den Rest glücklich hinter uns.
83
Ein nur in Württemberg verbreitetes, auch „Württembergischer Tarock“ genanntes Kartenspiel.
Heute Ortsteil von Winterlingen, Zollernalbkreis.
85
Der „Württembergische Volksschullehrerverein“ bestand seit 1840: Friederich, Gerd: Die Volksschule in Württemberg im 19. Jahrhundert (Studien und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte, 6). Weinheim und Basel 1978. S. 103-107.
86
Gemeint ist der „Neue Unterstützungsverein für Lehrer, Lehrerwitwen und –waisen“: Ebenda, S.
104.
87
Der Bürgermeister im heutigen Sinn wurde bis 1930 als „Schultheiß“ bezeichnet: Dehlinger, Alfred: Württembergs Staatswesen in seiner geschichtlichen Entwicklung bis heute. Erster Band.
Stuttgart 1951. S. 273.
88
Gemeint ist wohl eine Tätigkeit als Dienstmädchen oder auch Bauernmagd.
84
21
Im Lauf der Monate tauchten neue Fragen auf. Ich wusste, dass ich bald meinen
Militärdienst würde ableisten müssen. In den Jahren 1890 bis 1900 mussten die
Volksschullehrer nach meinem Wissen einen acht- bis zehnwöchigen Dienst ableisten89. Das war inzwischen abgeändert worden. Sie waren zu einjährigem Dienst
verpflichtet worden90. Deshalb hatten wir nach der Ersten Dienstprüfung zugleich
mit dem Zeugnis noch eine „Bescheinigung über die wissenschaftliche Befähigung
zum einjährig-freiwilligen Dienst“ erhalten. Dieser konnte in zweierlei Form abgeleistet werden: Erstens als Einjährig-Freiwilliger, der für Verpflegung, Wohnung
und Ausrüstung selbst zu sorgen hatte. Zweitens als so genannter „KasernenEinjähriger“, eine Sondereinrichtung nur für Volksschullehrer, der in der Kaserne
wohnte, aß und lebte wie die übrige Mannschaft. Der einzige, allerdings ziemlich
große Unterschied bestand in der Kostenfrage: Der Einjährig-Freiwillige hatte mit
einem Aufwand während seines Jahres von 1 500 Mark zu rechnen, also einer
recht bedeutenden Ausgabe. Wer bei der Artillerie oder der Kavallerie sein „Einjähriges“ ableistete, hatte noch höhere Ausgaben. Für mich kam also nur „KasernenEinjähriger“ in Frage. Auch viele andere wählten, wie sich zeigen sollte, diese
Form, die sich im Bewusstsein noch nicht richtig durchgesetzt hatte, bzw. die wesentlich erhöhte Ausgabe für die Ausbildung. Da ich von zu Hause keinerlei Zuschuss zu erwarten hatte, beschloss ich, mich um eine Stelle zu bewerben, mit der
etwas Nebenverdienst verbunden war. Ich fuhr also nach Stuttgart (das erste Mal
in meinem Leben; ich war zwanzig Jahre alt!). Als ich dem zuständigen Referenten
(Reinöhl91) meine Bitte vortrug, erklärte er mir gleich, es sei erst vor wenigen Tagen ein Schreiben aus Winterlingen eingegangen, worin gebeten worden sei, mich
weiter dort zu belassen. Ich erklärte ihm die Gründe, die für meine Bitte ausschlaggebend waren, und fuhr ohne genaueren Bescheid nach Winterlingen zurück. Nach verhältnismäßig kurzer Zeit traf die Nachricht ein, dass ich ab 1. Mai
1908 als Amtsverweser (auf eine erledigte92, aber noch nicht vergebene Stelle) in
Mötzingen, Oberamt Herrenberg93, einzutreten habe.
In Mötzingen trat ich also am 1. Mai 1908 meinen Dienst an. Da gab es manche
Änderung. Das Schulhaus war nämlich einige Monate vorher abgebrannt. Waren
vorher vier Lehrer (drei ständige und ein unständiger) hier tätig gewesen, so
musste nun der Schulbetrieb von zwei unständigen Lehrkräften weitergeführt
werden, und das war nur unter allergrößten Einschränkungen möglich. Schulraum
war fast nicht aufzutreiben. Ich selbst hatte das zweite und dritte Schuljahr als
eine Klasse, sodann das vierte und fünfte Schuljahr als weitere Klasse zu betreuen. Schülerzahl insgesamt: 144! Mein Unterrichtsraum war ein altes Zimmer im
Rathaus. Wie diese Schülerzahl untergebracht werden konnte, ist mir heute noch
schleierhaft. Aborte usw. ganz mangelhaft. Die Bänke füllten den ganzen Raum
vom Pult bis an die hintere Wand mit Ausnahme eines schmalen Gängleins an der
einen Seite. Es waren durchschnittlich also immer 72 Schüler anwesend. Und es
89
Sechswöchige militärische Übungen für Unterlehrer und Schulgehilfen werden (ohne Zeitangabe)
erwähnt in: Dehlinger, Alfred: Württembergs Staatswesen in seiner geschichtlichen Entwicklung bis
heute. Zweiter Band. Stuttgart 1953. S. 740.
90
Wiedergabe einer entsprechenden Verfügung von 1897 in: Friederich, Gerd: Die Volksschule in
Württemberg im 19. Jahrhundert (Studien und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte, 6). Weinheim und Basel 1978. S. 387 f.
91
Konsistorialrat Dr. Friedrich Reinöhl, ordentliches Mitglied des Evangelischen Konsistoriums (der
obersten evangelischen Kirchenbehörde): Hof- und Staatshandbuch des Königreichs Württemberg.
Ausgabe 1908. Stuttgart 1908. S. 141.
92
Hier: zur Wiederbesetzung anstehend.
93
Gemeinde im heutigen Kreis Böblingen.
22
ging tatsächlich; wir haben sogar fleißig zusammen gearbeitet. Ich war mit zwanzig Jahren der Ältere, also „Schulleiter“. Mein Kollege hatte Schuljahr 1, sodann
sechstes und siebtes Schuljahr mit ebenfalls 144 Schülern und war in der Kleinkinderschule untergebracht. Wir kannten uns schon vom Seminar her und kamen
ausgezeichnet miteinander aus. Kompetenzstreitigkeiten gab es nicht. Diese
Schulverhältnisse hatten noch eine andere Folge: In außerordentlichen Fällen war
es in ganz Württemberg möglich, dass der Lehrer neben seiner amtlichen Verpflichtung zu 30 Wochenstunden noch weitere zwei bis vier, ja sechs wöchentliche
Stunden so genannten „Abteilungsunterricht“ erteilte. Für die Jahresstunde wurde
eine zusätzliche Entlohnung von 60 Mark gewährt, also bis zu 360 Mark. Das war
eine ganz schöne Nebeneinnahme. Wurde eine ganze Lehrkraft eingespart, so gab
es „stellvertretenden Abteilungsunterricht“, je nach Bedürfnis und im Einverständnis von Behörde und Gemeinde ebenfalls bis zu sechs Wochenstunden, für die
aber eine jährliche Entschädigung von je 80 Mark ausgesetzt war. Dies war auch
für uns beide Lehrkräfte in Mötzingen der Fall. Ich verdiente also zu meiner regulären Besoldung von zwölf Mal 75 Mark noch nebenher 480 Mark, rund 50 Prozent
mehr. Mein Wunsch war also in reichem Maße erfüllt worden. Aber arbeiten mussten wir und haben es gerne getan.
„Unterlehrersbude“ war auch keine da, so wohnten wir privat; ich im „Schloss“ bei
netten Leuten, bei denen man sich wohl fühlen konnte. Das Mittagessen im Gasthaus war gut, allerdings auch teuer. Daneben hatte ich noch den Organistendienst
mit Taufen und Beerdigungen, was nochmals einen schönen Betrag abwarf. Doch
noch nicht genug, trat der Gesangverein an mich heran, seine Leitung zu übernehmen, denn sechs Wochen nach meiner Ankunft sollte ein Sängerfest mit Preissingen stattfinden. Somit galt es, sich mit einer ganz neuen Arbeit zurecht zu finden. Und es „klappte“: Wir erhielten den Ersten Preis. Sogar die Festrede musste
ich noch halten, und sie fand sogar Anklang, dass ich noch nach Jahren deswegen
befragt wurde. So flogen Sommer und Winter bei viel, viel Arbeit rasch dahin. Wir
fanden aber immer Zeit, zu den Zusammenkünften des „Filialvereins“94 nach Herrenberg und zurück zu wandern. An den „freien“ Samstagen gingen wir nach Nagold, um im „Rössle“ uns an einem guten Vesper zu laben. Im August 1908 machten wir eine mehrtägige Fußwanderung in den Schwarzwald: Nagold – Teinach –
Wildbad – Baden-Baden – Hornisgrinde – Wildsee – Allerheiligen – Freudenstadt.
So waren wir also wirklich „ausgelastet“. Den Pfarrer als Ortsschulinspektor habe
ich nach meiner Erinnerung das ganze Jahr nie in der Schule gesehen; von Bevormundung oder gar Schikane konnte demnach keine Rede sein. Auch den Bezirksschulinspektor habe ich nur gesehen, als ich mich bei ihm an seinem Dienstort
Tailfingen95 vorstellen musste.
Militärdienst in Heilbronn (1909 – 1910)
Inzwischen war ich vom Militärarzt gemustert worden und für tauglich befunden.
Bald traf der Einberufungsbefehl ein: 1. April 1909 zum Füsilierregiment 12296,
elfte Kompanie97, in Heilbronn. 32 Junglehrer waren es, die als „Kaserneneinjährige“ (siehe weiter vorn) ihrer Dienstpflicht genügen wollten. Da in Heilbronn nur
94
Gemeint ist wohl die Ortsgruppe des Lehrervereins.
Heute Ortsteil von Gäufelden, Kreis Böblingen.
96
(4. Württembergisches) Füsilierregiment 122 Kaiser Franz Joseph von Österreich, König von
Ungarn. Füsiliere waren ursprünglich mit Steinschlossgewehren ausgerüstete Infanterieeinheiten;
später wurde die Bezeichnung nur noch aus Traditionsgründen verwendet.
97
Infanterieregimenter waren in Bataillone unterteilt, diese wiederum in Kompanien.
95
23
zwei Bataillone des Regiments lagen (erstes und drittes, das zweite in Mergentheim), kamen je vier Mann auf die einzelne Kompanie. Diejenigen der neunten
und elften Kompanie waren im Bau der elften Kompanie untergebracht in einem
besonderen Zimmer. Es kann nicht Zweck meiner Aufzeichnungen sein, über militärische Fragen zu berichten. Doch muss ich auf einige Dinge hinweisen. Der Ausbildungsleiter war ein Oberleutnant, ein durchaus netter Herr. Sein Stellvertreter
war ein Vizefeldwebel, der uns mit den Worten begrüßte: „So, jetzt haben wir
Euch Bürschlein, jetzt wollen wir Euch mal…“ Anders der Feldwebel der elften
Kompanie! Er versammelte die Unteroffiziere der Kompanie um sich und erklärte
ihnen: „Die Lehrer dürfen zu keinerlei Arbeitsdienst herangezogen werden!“ Das
war ein Wort! Und er stand auch später dazu. Man muss wissen, dass der einfache
Soldat am meisten mit dem Arbeitsdienst (Flure und Zimmer reinigen, Wache
schieben usw.) „geschliffen“ werden konnte. Ich war vom Feldwebel zu einer Art
Stubenältester bestimmt worden und erklärte meinen Stubengenossen, wie wichtig die Stellungnahme des Feldwebels für uns sei und dass wir uns bemühen wollten, ihm sein Entgegenkommen zu honorieren. Ferner erklärte er uns, dass wir für
einen kleinen Betrag (ich glaube, täglich acht Pfennig) unserer Löhnung (täglich
22 Pfennig) an der Unteroffizierskost teilnehmen könnten (die Mannschaftskost
war sehr einfach und bescheiden), was wiederum einen großen Vorzug bedeutete.
Als es nun doch ein Unteroffizier (und nicht der beste!) probierte und uns klopfte
(da wir neben seinem Zimmer wohnten), dass wir ihm seine Stiefel putzen sollten,
erklärte ich ihm nüchtern: „Der Herr Unteroffizier werden wissen (so musste man
damals die Vorgesetzten anreden), dass der Herr Feldwebel gesagt hat usw.“ Daraufhin war mit allen künftigen Versuchen Schluss.
Später wurde das Verhältnis ausgesprochen gut, und das kam so: Die Unteroffiziere (Kapitulanten98 genannt) nahmen später oft Staatsstellungen (weniger wichtige) an99. Dazu mussten sie eine Prüfung ablegen. Es war für sie demnach eine
gewisse Weiterbildung notwendig. Nun fragte mich eines Tages der Fourier (Bekleidung und Ausrüstung), ob ich ihm nicht in Rechnen und Aufsatz etwas Nachhilfe geben könnte. Ich erklärte mich bereit. Seinem Beispiel folgten bald einige der
andern, so dass jeder von uns vier einen „Schützling“ zu betreuen hatte, was für
beide Seiten Vorteile mit sich brachte. Ein anderes Beispiel: Zu Königs Geburtstag100 war es Sitte, einen Kompanieball zu feiern, der möglichst großen Anklang
finden sollte. Nach Besprechung mit dem Feldwebel beschloss ich, das schon einmal erwähnte schwäbische Lustspiel „Das Preislied“ zur Aufführung zu bringen,
wobei allerdings eine Dame aus der Stadt die weibliche Rolle übernehmen musste.
Nun musste noch ein Chor aus Soldaten der Kompanie zusammengestellt und das
Preislied „Im Feld des Morgens früh“101, ein damals sehr bekannter Chor, eingeübt
werden. Dazu brauchte man Noten, die ich selber abschreiben wollte. Als mich
nun der Feldwebel fragte, wie viele Nachmittage ich zum Abschreiben der rund
zwanzig Stimmen benötige, gab ich zur Antwort: „Eine Woche!“, was sofort bewilligt wurde. In Wirklichkeit habe ich zwei Mittage102 gebraucht. Zu den Theaterpro98
Bezeichnung der freiwillig länger dienenden Unteroffiziersdienstgrade.
Gemeint sind die so genannten „Militäranwärter“, die nach Ablauf ihrer Militärzeit und dem Bestehen der erwähnten Prüfung Anspruch auf „Zivilversorgung“ hatten in Gestalt bestimmter Stellen
bei der Staatsverwaltung sowie der Eisenbahn, der Post, den Kommunen usw.
100
25.02.1848.
101
Soldatenlied von Ludwig Bauer (Text) und Christoph Burkhardt (Melodie); die Entstehungszeit
ist nicht bekannt.
102
Mundartlich für: Nachmittage.
99
24
ben gab es Abendurlaub, soviel ich wollte. Da die Aufführung sehr gut gelang,
konnte ich auch bei späteren Anlässen Urlaub haben, soviel ich wollte. Ich habe
das alles so ausführlich erzählt nicht aus Ruhmsucht, sondern um zu zeigen, dass
ein gutes Wort (Feldwebel) einen guten Ort (wir Lehrer) findet. In anderen Kompanien wurden die Lehrer zu den unangenehmsten Diensten, bis zum Treiber bei
Jagden, herangezogen. Welcher Unterschied gegenüber unserer elften Kompanie!
Aus dem eigentlich militärischen Bereich sei nur erwähnt die Kaiserparade
1909 auf dem Cannstatter Wasen, sodann das Kaisermanöver 1909 mit einer bis
dahin noch nie aufgebotenen Truppenstärke (drei bis vier Armeekorps). Ferner
sollte anscheinend erprobt werden, welche Anstrengungen man im Ernstfall der
Truppe zumuten kann. Das wurde auch reichlich besorgt. In unserer Brigade103
kam es deshalb vor, dass Reservisten, die zu diesem Manöver eingezogen worden
waren, auf den Brigadegeneral mit Platzpatronen (in Ermangelung von andern)
schossen. Nach sieben Nächten ohne Bett (nur Biwak!) mussten wir zum Abschluss noch rund 60 Kilometer marschieren von Kützbrunn (bei
Tauberbischofsheim)104 bis Eckartshausen bei Schwäbisch Hall105. Am 31. März
wurden wir entlassen; ich und ein anderer Kollege als Unteroffiziere, die zwei andern als Unteroffiziersaspiranten, während in fast allen anderen Kompanien nur
eine Beförderung zum Unteroffiziersaspiranten oder gar nur Gefreiten106 erfolgte.
Es sei noch nachgetragen, dass wir während des Manövers den aus dem Krieg
1870 fast sagenhaft gewordenen (Erkundigungsritt für die Schlacht bei Sedan107!)
General Graf Haeseler108, genannt „der eiserne Gottlieb“, zu sehen bekamen.
Wieder in Nagold (1910 – 1913)
Der Militärdienst war am 31. März 1910 abgeschlossen und das Dekret für die
neue Stelle eingetroffen. Es lautete: Ab 1. April 1910 an die Mittelschule in Nagold
als Amtsverweser. Es war eine Mittelschule nur für Mädchen, die Dauer wohl beschränkt bis zum Stellenantritt des neu ernannten Mittelschullehrers, die Unterbringung ziemlich primitiv im Feuerwehrgerätemagazin. Die Tage vergingen
schnell, und Anfang Mai galt es, die Stelle am Seminar Nagold anzutreten. Eigentlich sollte ich an der Präparandenanstalt eingesetzt werden. Aber ich hielt meine
eigenen Kenntnisse und Fertigkeiten in Musik nicht für ausreichend; auch war das
zur Verfügung stehende Zimmer recht einfach, so dass ich mich bemühte, Lehrer
an der Seminarübungsschule zu werden. Ich versprach mir auch für die eigene
Weiterbildung mehr Gewinn für mich selbst. In dem Zeitraum von 1907 bis 1910
hatte sich an den Seminarien (sic) und in der Lehrerausbildung manches geändert.
Letztere dauerte statt fünf nun sechs Jahre; Seminar und Präparandenanstalt bildeten eine Einheit. Der Lehrstoff war erweitert. Die überalterten Lehrer waren
teilweise ausgeschieden und durch neue, tüchtige Kräfte ersetzt. Ein neuer, etwas
engherziger Rektor waltete seines Amtes. Der zweite Lehrer (Professor) war kein
Pfarrer mehr, sondern Vollakademiker. Tüchtigen Lehrern war die Möglichkeit geboten, nach sechssemestrigem Studium an der Universität Tübingen (oder andern)
103
104
105
106
107
108
Brigaden bestanden aus zwei oder drei Regimentern.
Heute Stadtteil von Grünsfeld, Main-Tauber-Kreis.
Heute Stadtteil von Ilshofen, Kreis Schwäbisch Hall.
Oberster Mannschaftsdienstgrad bei der Infanterie.
Entscheidende Schlacht des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 am 01.09.1870.
Gottlieb Graf von Haeseler, preußischer Generalfeldmarschall (1836 – 1919).
25
die „Höhere Volksschuldienstprüfung“ abzulegen109 mit der Berechtigung, an
Seminarien oder in der Schulaufsicht als Schulräte tätig zu sein. Eine Zahl
Bezirksschulinspektorate war mit ehemaligen Volksschullehrern besetzt worden.
Kurz: Der jahre-, ja jahrzehntelange Kampf der Volksschullehrer um bessere Ausbildung, Hebung des Ansehens, günstigere Besoldung war zu Gunsten des Lehrerstandes entschieden110 dank des Eingreifens und der Führung durch den ehemaligen Lehrer Dr. Reinöhl, nun Leiter des „Evangelischen Oberschulrats“ (Abteilung Volksschulen)111. Der unständige Lehrer erhielt täglich drei Mark, bisher zwei
Mark 50 Pfennig. Für ständige Lehrer bestand eine Gehaltsskala von 1 600 Mark
bis 3 200 Mark jährlich.
Auch für die Seminaristen selbst traten wesentliche Änderungen ein: Sie konnten
in der letzten, der sechsten Klasse, sich ein Zimmer in der Stadt mieten und dort
wohnen und arbeiten. Sie durften auch Wirtschaften besuchen, konnten auf ihren
Zimmern rauchen usw. Auffallend erschien mir nur, dass von der Berechtigung, in
der Stadt zu wohnen (Externat) von Lehrerssöhnen sehr wenig Gebrauch gemacht
wurde – ob die Geldfrage dabei eine große Rolle spielte? Auch der bisherige Kostverwalter war ausgeschieden und das Essen wesentlich verbessert worden. Die
sechste Klasse bekam beim Mittagessen zwei Teller und konnte sich Servietten
leisten! Auch die Seminarunterlehrer nahmen ihr Essen am Seminarkosttisch ein
zu einem sehr günstigen Preis, was eine günstige Auswirkung auf die Finanzen
hatte. Als sich im Sommer 1910 eine Gruppe von jungen Leuten, davon die Hälfte
Unterlehrer, zu einem Tanzkurs zusammenschloss, beteiligte ich mich auch und
teilte es vorsorglich dem Rektor mit, der aber nicht sonderlich davon erbaut
schien! Ich war damals immerhin 22 Jahre alt. Man beachte die heutigen Verhältnisse.
Nun aber zur Arbeit an der Übungsschule. Darüber habe ich weiter oben schon
Einiges ausgeführt. Ich hatte die Klasse I (erstes Schuljahr) und Klasse II (zweites
und drittes Schuljahr) zu betreuen. Die zwei notwendigen Lokale waren durch eine
Glastüre getrennt, doch musste ich oft hin und her pendeln. Leider war der alte
untätige Oberlehrer noch da. Die Seminaristen eines Kurses wurden in vier Gruppen zu je ungefähr sieben Mann eingeteilt, die dort ihre Lehrproben halten, aber
auch die so genannten „Musterlektionen“ des betreffenden Unterlehrers zu besuchen hatten. Da ich zwei Klassen hatte, sollten bei derartigen „Veranstaltungen“
also rund zwölf bis fünfzehn Zuhörer anwesend sein. Meist waren es zwanzig und
mehr, denn diejenigen, für die Klasse IV zuständig war, saßen ebenfalls bei mir,
und der Herr Oberlehrer musste „seine“ Seminaristen holen. Das war mir natürlich
peinlich, aber nicht meine Schuld. Ich hatte mir, in Erinnerung an vorige Zeiten,
vorgenommen, die Ausbildung der „Anlernlinge“ auf jede Weise zu fördern. Deshalb beschäftigte ich mich eingehend mit pädagogischen Fragen. Für den Unterricht des ersten Schuljahres kaufte ich mir zur Anregung eine Reihe von Fibeln,
zum Beispiel Berlin, Hamburg, Niedersachsen112, Bayern, Baden usw. Der in Sach109
Als Voraussetzung wird ein fünfsemestriges Studium genannt in: Dehlinger, Alfred: Württembergs Staatswesen in seiner geschichtlichen Entwicklung bis heute. Zweiter Band. Stuttgart 1953.
S. 973.
110
Geschildert werden hier einige Folgen des Schulgesetzes von 1909: Friederich, Gerd: Die Volksschule in Württemberg im 19. Jahrhundert (Studien und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte, 6). Weinheim und Basel 1978. S. 78 f.
111
Identisch mit dem bereits erwähnten Konsistorialrat Dr. Friedrich Reinöhl.
112
Da das Land Niedersachsen erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstand, ist hier vielleicht die
ehemalige preußische Provinz Hannover gemeint.
26
sen erscheinenden Zeitschrift „Neue Bahnen“113 habe ich viele Anregungen zu verdanken. Mit Eifer wandte ich mich dem Werk und den Werken von
Kerschensteiner114 zu, der in hohem Ansehen stand, zugleich im Hinblick auf meine Zweite Dienstprüfung.
Vor Antritt meines Postens hatte ich mir vorgenommen, dass sich später keiner
meiner Zöglinge über mangelnde Förderung sollte beklagen können (wie ich! –
siehe oben). Immer wieder machte ich nicht nur schriftliche Anmerkungen, sondern ließ die Betreffenden zu mir kommen und besprach ihren Entwurf und versuchte, einen besseren gemeinsam mit ihm (sic) zu finden. Anregungen zum Gebrauch des Sandkastens, Formen in Ton und Plastilin (1910!), Pflege des kindlichen Malens wurden gegeben usw. Wenn man mich fragt: „Hast Du diesen großen
Worten auch die entsprechenden Taten folgen lassen?“, so antworte ich: „Ja!“
Nach Abschluss der Prüfungen habe ich mir zur Kontrolle jedes Mal eine Zusammenstellung gemacht. Diese zeigten mir, dass meine beiden Klassen jedes Mal (in
insgesamt sieben Prüfungen) am besten abschnitten, manchmal einen halben bis
einen Punkt über dem Durchschnitt der vier Klassen, dass in sämtlichen Fällen ein
einziges Mal die Note 7 (Sehr gut) erteilt wurde bei rund 200 Prüflingen, und dass
ich selbst in der Zweiten Dienstprüfung diese sehr seltene Note errang. Diese ganze Entwicklung kann man zusammenfassen unter dem Begriff „Arbeitsschule“, um
dessen Klärung lange gerungen werden musste. Ursprünglich glaubten viele, eine
gewisse Zahl von manuellen Tätigkeiten mache das Wesen der Arbeitsschule aus,
bis man erkannte, dass auch geistige Kenntnisse und Erkenntnisse nach der Weise
der Arbeitsschule errungen werden konnten – also Weckung der geistigen und
körperlichen Selbstständigkeit des Kindes. Weg von der „Lernschule“, in der die
Kenntnisse an das Kind herangetragen wurden und diese von ihm nur aufgenommen zu werden brauchten. Der Schüler sollte nicht nur dasitzen, die Hände an der
Bankkante, sondern der Lehrer war froh, wenn der Schüler selber Fragen stellte.
Je mehr Fragen, Zweifel, Wünsche des Kindes, je mehr es selber mitarbeitete,
umso besser. Diesen Fragen der „Neuen Schule“ wendete ich in Zusammenhang
mit Kerschensteiner, Gaudig115 usw. meine volle Aufmerksamkeit zu.
Die neue Seminarordnung hatte jeder Klasse zugebilligt, drei Leute aus ihrer Mitte
zu wählen, „Vertrauensschüler“ genannt, die Wünsche vorbringen konnten und bei
manchen Fragen zu hören waren. Sie mussten aber vom Lehrerkollegium bestätigt
werden. In einer (von sieben) Klassen wurde die Zustimmung versagt. In einer
Klasse beschwerten sich besonders die Unterlehrer über einen Seminaristen bei
seinen Klassengenossen. Sie versprachen zuletzt, sich um den Betreffenden zu
kümmern zu wollen und für Ordnung zu sorgen. Dabei mussten sie feststellen,
dass er seine eigenen Kameraden des öfteren bestohlen hatte. Darauf wurde er
aus dem Seminar verwiesen. Eigenartigerweise war er der erste seiner Klasse, der
eine Stelle erhielt. Dieses Verhalten der Behörde kam mir recht eigenartig vor, und
ich finde es auch heute noch als gar nicht in Ordnung. Als ich mich in den Betrieb
der Übungsschule eingearbeitet hatte, musste ich mich auf die Zweite Dienstprüfung vorbereiten. Dazu blieb mir wegen der vielen Arbeit am Tage meist nur der
Abend bzw. die Nacht übrig oder die Ferien. Neben der Mathematik vertiefte ich
mich besonders in Geometrie. Hierzu besaßen wir im Seminar ein von Spieker ver-
113
114
115
Von 1890 bis 1938 erscheinende pädagogische Zeitschrift.
Georg Kerschensteiner (1854 – 1932), Reformpädagoge und Begründer der „Arbeitsschule“.
Hugo Gaudig (1860 – 1923), Reformpädagoge.
27
fasstes Lehrbuch, von dem zwölf Abschnitte zur Behandlung kamen. Da ich großes
Interesse hatte, drang ich bis Kapitel 18 vor, also fast das ganze Buch.
Da ich weiter oben die Prüfungsfächer der Ersten Dienstprüfung aufgezählt habe,
will ich nun auch die der Zweiten Dienstprüfung folgen lassen:
Lehrfähigkeit (Lehrprobe): Sie stand ganz am Schluss der Prüfung. Sie wurde während der Prüfung, die eine Woche dauerte, zugeteilt, so dass man zwei Tage zur
Vorbereitung hatte. Das Thema für den Einzelnen wurde zugeteilt (eine andere Art
war das Verlosen). Das Thema meiner Lehrprobe hieß „Der Umlaut in der Gegenwart des Zeitworts“ und lag mir nicht.
Schulkunde: a) Allgemeine Erziehungs- und Unterrichtslehre, b) Spezielle Unterrichtslehre: Für diesen Teil wählte ich den für die damalige Zeit noch wenig bekannten Kerschensteiner und im besonderen sein Werk „Grundlagen der Schulorganisation“; eigenartigerweise wurden mir über dieses Werk bei der Prüfung keine
Fragen gestellt, c) Geschichte der Pädagogik und Volksschulgesetzgebung.
Religion.
Aufsatz.
Deutsche Sprache.
Geschichte der deutschen Literatur: Hier musste zusätzlich ein Klassiker besonders
eingehend studiert werden und dazu wieder eines seiner Werke. Meine Wahl fiel
auf Schiller mit besonderem Eingehen auf „Wallenstein“.
Arithmetik.
Geometrie.
Geschichte.
Realistisches Wahlfach: Hier wählte ich Erdkunde.
Musik: a) Orgel, b) Gesang, c) Violine. In Orgel musste ein Choral gespielt werden, möglichst cantus firmus116 oder mit Transponieren in eine andere Tonart,
ferner ein selbst gewähltes Orgelstück. Hierzu wählte ich eine Fuge in E aus dem
„Wohltemperierten Klavier“ von Johann Sebastian Bach.
Zeichnen eines frei gewählten oder zugeteilten Gegenstandes.
Fakultative Fächer: Harmonielehre, französische Sprache (hieran beteiligte ich
mich nicht).
Wie man sieht: ein reicher Katalog von Fächern!
Wegen der großen Zahl der Prüflinge mussten mehrere Abteilungen gebildet werden (in alphabetischer Reihenfolge). Der Buchstabe W zählte natürlich zur letzten
Abteilung, und ich musste mich Ende Juni 1913 (die Woche weiß ich nicht mehr
genau) im Gebäude des Oberkirchenrats in der unteren Rotebühlstraße117 gleich
neben der Rotebühlkaserne einfinden. Für diese Zeit war ein Zimmer im Hotel
Rauh in der Sofienstraße bestellt. Das Wetter war sonnig und warm, also nicht
besonders günstig. Doch ging alles gut vorüber, und die Prüfung lag hinter mir.
Nun war eine große Last von mir genommen.
Gleich machte ich mich auf die Suche nach einer günstigen Stelle. Als solch erschien mir Boll, Oberamt Sulz118. In unserer zweiten, freien Lehrerzeitung, dem
„Lehrerheim“119, erschienen jede Woche Angaben über die frei gewordenen und
im „Staatsanzeiger“ ausgeschriebenen Stellen. Ich fuhr nach Boll, um mir die Ver116
Festgelegte Melodie, die im Rahmen eines musikalischen Werkes von den anderen Stimmen
umspielt wird, ohne selbst besonders verändert zu werden.
117
In Stuttgart.
118
Heute Stadtteil von Oberndorf am Neckar, Kreis Rottweil.
119
Die freie württembergische Lehrerzeitung „Das Lehrerheim“ mit dem Untertitel „Samstagsblatt
für Lehrer und Lehrerfreunde“ erschien von 1886 bis 1923.
28
hältnisse anzusehen. Diese schienen günstig: Das Schulhaus neu und kurz vor der
Einweihung. Entfernung zur nächsten Bahnstation Oberndorf am Neckar (auch
Schnellzüge) nur zwei Kilometer. Allerdings große Einklassenschule, aber dafür
Abteilungsunterricht. Dorf sauber und Einwohner anscheinend in guten Verhältnissen (guter Verdienst in der Gewehrfabrik Mauser in Oberndorf). Ich schickte meine Bewerbung ab, und schon nach vierzehn Tagen erschien im „Staatsanzeiger“
meine Ernennung nach Boll. Kurz darauf, wohl Ende Juli, fand die Einweihung
statt, zu der ich natürlich auch eingeladen wurde. Bei einem Zusammensein im
Gasthof zum Hirsch richtete ich auch einige Worte an die Versammelten, denn ich
nahm an, dass sie gerne etwas hören wollten, um sich ein Bild des „Neuen“ zu
machen. Das Semester am Seminar ging seinem Ende zu; die Ferien standen bevor, und es galt, noch eine Reihe von Abschiedsbesuchen, „Anstandsbesuchen“, zu
machen. Es war Mitte August, und am gleichen Tag fuhr ich nach Laufen/Eyach,
um mich dort zu verloben. Da in Boll gerade Ernteferien waren, hatte ich zwei
Wochen Zeit, um mich von der Prüfungsarbeit, der Bewerbung um die neue Stelle
und den mancherlei Arbeiten im Zusammenhang mit der Verlobung zu erholen.
In Boll (1913 – 1917)
Nun begann ein neuer Lebensabschnitt; das war am 1. September 1913. Boll war
eine Einklassenschule mit 65 Schülern in sieben Jahrgängen! Pfarrer war keiner
am Ort120 – vielleicht ein Vorzug, aber auch kein Bäcker und kein Metzger. Die
Einwohnerzahl betrug rund 400. Dass weder Bäcker noch Metzger da waren, erwies sich nicht als besonders schlimm. Denn da weit über die Hälfte der erwerbsfähigen Männer in der Gewehrfabrik Mauser arbeitete, musste man ihnen täglich
das Essen tragen, was durch Buben und Mädchen des sechsten und siebten Schuljahrs geschah. Diese konnten dann beim Bäcker und Metzger allerlei mitbringen.
Aber eben dieses Essentragen erwies sich als eine der schwersten Belastungen für
die Schule und die Kinder. Für sie war meist um zehn Uhr (mindestens aber um elf
Uhr) der Unterricht zu Ende. Dann ging’s in aller Eile nach Hause, sofort anschließend mit drei, vier Portionen Essen nach Oberndorf (wobei man auch manchmal
eines fallen ließ). Darauf wieder rasch nach Hause (180 Meter Höhenunterschied!), denn um fünfzehn Uhr begann nochmals der Unterricht an der Oberklasse. Dieser fand also täglich von sieben bis zehn Uhr sowie Montag, Dienstag, Donnerstag, Freitag von fünfzehn bis sechzehn Uhr statt. Die Unterklasse wurde von
zehn bis zwölf Uhr sowie Montag, Dienstag, Donnerstag und Freitag von dreizehn
bis fünfzehn Uhr unterrichtet. So war auch für den Lehrer der Unterricht sehr anstrengend, was mit der hohen Schülerzahl sowie dem leidigen Essentragen zusammenhing. In diesen neuartigen Betrieb musste ich mich zuerst einarbeiten,
und das erforderte einige Zeit. Selbstverständlich war bei dieser hohen Schülerzahl
Abteilungsunterricht (siehe oben!) eingeführt. Für die Knaben war Fortbildungsschule121 zu erteilen; für die Mädchen der vor ein und zwei Jahren aus der Schule
Ausgetretenen gab es Sonntagsschule122: So unglaublich es jetzt klingen mag –
120
Boll hatte zwar eine Kirche und einen Friedhof, gehörte aber seit 1836 zur evangelischen Pfarrei
der benachbarten Stadt Oberndorf: Ade-Rademacher, Dorothee u.a. (Red.): Geschichte der Stadt
Oberndorf am Neckar. Band 2 – Vom Übergang an Württemberg bis heute. Hg.: Stadt Oberndorf
am Neckar. Oberndorf am Neckar 2006. S. 483.
121
Im 19. Jahrhundert, insbesondere ab 1895, aus der Sonntagsschule entstanden: Dehlinger,
Alfred: Württembergs Staatswesen in seiner geschichtlichen Entwicklung bis heute. Erster Band.
Stuttgart 1951. S. 464 f.
122
Auf das 16. Jahrhundert zurückgehende, obligatorische Fortsetzung der Volksschule: Ebenda.
29
nach dem Gottesdienst waren für sie zwei Stunden Unterricht zu erteilen. Diesen
Zustand beschloss ich bei erstbester Gelegenheit zu ändern. Siehe darüber später!
Daneben war man am Sonntag noch Organist, so dass dieser angebliche „Ruhetag“ mit Arbeit wohl ausgefüllt war. Endlich wartete ein Gesangverein in einem im
Allgemeinen Musik liebenden Dörflein auf einen Dirigenten. Also Arbeit in Hülle
und Fülle. Aber es ging dem Winter zu; allein war ich auch – was blieb da außer
der Arbeit noch übrig? Von Radio, Fernsehen und heutigen Annehmlichkeiten wie
Auto ganz zu schweigen.
Um diese Zeit beginnen die Bauern, ihre Schweine zu schlachten, und dann bringt
man dem „Schulmeister“ oder dem „Herr Lehrer“ die „Metzelsuppe“: Kraut, Fleisch
und Wurst, je nach Vermögen. Diese Gabe wird aber selten mit ganz reinem Herzen dargebracht. Entweder gibt man sie überhaupt nur ungern unter halbem
Zwang oder hofft man, dass der „Herr Leeehrer“ (sic) sich erkenntlich zeige; am
liebsten, wenn man den betreffenden Kindern Stunden oder Tage frei gibt für
Heuet123, Ernte, Pflügen usw. Es ist demnach eine heikle, umstrittene Sache. Ich
selber bin grundsätzlich gegen solche Geschenke, da sie oft benützt werden, um
dem Lehrer den Vorwurf der Ungerechtigkeit zu machen – da der Betreffende zum
Beispiel nicht genug geschenkt habe, seien seine Kinder - - - usw. Auch bin ich der
Ansicht, der Staat solle seine Beamten so bezahlen, dass sie ihr Auskommen haben und solche Geschenke nicht brauchten. Aber man würde manche schul- und
lehrerfreundlich eingestellten Leute vor den Kopf stoßen, wollte man ihr Geschenk
zurückweisen, das wirklich gern gegeben war – was auch vorkam. Nach langem
Überlegen entschloss ich mich, folgendermaßen zu handeln: Wenn mir ein Schüler(in) (sic) Metzelsuppe brachte, gab ich ihm ein so großes Gegengeschenk in
Geld, dass ich das Fleisch usw. hätte kaufen können. Die „alte Mine“ besorgte mir
wegen meines Junggesellenstandes meine Wohnung und durchschaute meine
Stellungnahme gleich und machte mich in dezenter Weise darauf aufmerksam.
Durch den anschließenden Ersten Weltkrieg samt Inflation kam der Brauch weithin in Abgang. Wie es jetzt, 1967, damit steht, weiß ich nicht. Auf Neujahr war es
noch Sitte, dem Lehrer ein Neujahrsgeschenk zu geben. Da brachten die Kinder
ihrem Lehrer zehn, zwanzig, ganz reiche auch 50 Pfennig. Ich bedankte mich und
sagte, dass sie das Geld auf das Harmonium legen sollten. Nun zählten wir es, und
ich sagte: „Für den gleichen Betrag schenke ich Euch Bücher in Eure Schülerbibliothek“ (die 1913 noch gar nicht bestand); später nahm sie einen schönen Umfang
an und leistete auch im Unterricht gute Dienste.
Von einem fast unglaublichen Vorfall muss ich noch berichten. Das alte Schulhaus
in Boll war klein, die Lokale sehr niedrig; der Lehrer musste seine größeren Möbelstücke mit dem Lotterseil124 in der Scheune auf die Bühne125 ziehen, weil er sie
nicht über die Treppe in seine Zimmer befördern konnte. Deshalb war ja das neue
Schulhaus errichtet worden. Nun brannte das alte Schulhaus – wohl infolge Brandstiftung – in einer Winternacht ab126, ohne dass ich das Mindeste bemerkte. Es lag
mit dem Rathaus zusammen neben der Kirche. Die alte Mine erzählte mir am Morgen das Neueste. Ich möchte vorausgreifen und die Frage des Schulhauses abschließend behandeln. Bei meinem Amtsantritt bedauerte ich im Stillen, dass Boll
123
Mundartlich für: Heuernte.
Vor allem zum Hochziehen von Getreidegarben verwendetes Seil.
125
Mundartlich für: Dachboden.
126
Am 04.02.1914: Ade-Rademacher, Dorothee u.a. (Red.): Geschichte der Stadt Oberndorf am
Neckar. Band 2 – Vom Übergang an Württemberg bis heute. Hg.: Stadt Oberndorf am Neckar.
Oberndorf am Neckar 2006. S. 482.
124
30
nicht gemeinsam mit der Nachbargemeinde Bochingen127 ein Schulhaus gebaut
hatte (der Vorschlag ist nie gemacht worden). Aber die Gegensätze wären für die
damalige Zeit wohl noch zu groß gewesen: evangelisch – katholisch… lehrerfreundlich – wenig für Lehrer… Kinder reinlich – lässt zu wünschen übrig. Doch
hatten auch die Boller nach meiner Ansicht etwas versäumt, nämlich noch einen
Reservesaal oder (ein, G.P.) Ausweichlokal im neuen Schulhaus einzubauen. Nach
dem Brand machte ich sie darauf aufmerksam und konnte erreichen, dass beim
Aufbau des Rathauses ein Schullokal dort eingebaut wurde, das zwar noch einige
Jahre unausgebaut war, aber doch schon bald gebraucht wurde, und da war die
Gemeinde froh, dass ein Lokal zur Verfügung stand.
Das für Boll zuständige Bezirksschulinspektorat war in Balingen mit dem Sitz in
Ebingen, eine Entfernung von 40 Kilometern. Man bedenke diese Verhältnisse mit
den heutigen! Die nächste Bahnverbindung führte über Horb – Tübingen nach
Ebingen, rund 100 Kilometer128. Zu Konferenzen und Bezirksschulversammlungen
musste man nachts um vier Uhr abmarschieren, um in Rosenfeld129 einen Postomnibus zu erreichen, der nach Balingen fuhr. Bei einem Schülerausflug auf die
Balinger Berge und (den, G.P.) Raichberg130 fuhr ich mit den Schülern auf einem
mit Pferden bespannten Leiterwagen nach Balingen, dann mit Zug nach
Onstmettingen131 und ähnlich wieder zurück. Im Lehrerverein zählten wir zum Filialverein Sulz, und da legte man die zehn Kilometer einfache Strecke meist zu Fuß
zurück, oft mit Frau und Kind(ern) und Kinderwagen. Auch in Oberndorf traf fast
wöchentlich ein anders, aber auch aus Kollegen zusammengesetzter Kreis zusammen; so groß war das Bedürfnis nach Gleichgesinnten. Denn die geistige Vereinsamung droht im Dorf, und es war in dieser Hinsicht ein Nachteil, dass Boll keinen
Pfarrer hatte. Im Februar 1914 erlebte ich nun auch zum ersten Mal die Fastnacht
mit ihrem Mummenschanz. Zwar ist das auf dem kleinen Dorf gegenüber Oberndorf Gebotene nur arm zu nennen132. Aber doch war es ganz ausgeschlossen, Unterricht zu erteilen. Erstaunlich war und ist heute noch, was bei diesem Anlass an
Geschenken (Würste, Orangen) ausgeteilt wird. So ging unter viel Arbeit das Frühjahr dahin. Am 13. April 1914 hatte ich mich verheiratet. Von diesem Sommer ist
noch zu erwähnen die Teilnahme des Gesangvereins an einem Preissingen in
Onstmettingen. Gegen große Konkurrenz errangen wir den Ersten Preis mit der
höchsten Punktzahl. Das stärkte meine Stellung als Dirigent, aber auch mein Ansehen als Lehrer profitierte davon. Auf der einklassigen Dorfschule hängt eben
alles zusammen zu einem einheitlichen Bild. Das ist einer der großen Pluspunkte
der Einklassenschule.
Man lebte heiter und trotz der schmalen Bezahlung auch ziemlich sorglos und
freute sich des Lebens. Die Veränderung kam rasch und unerwartet. Es kann nicht
Aufgabe dieser Ausführungen sein, die politischen Verhältnisse jener Tage zu
schildern, aber Einiges muss doch angeführt werden. Am Tag der Mobilmachung
(2. August 1914), einem Samstag, hätte nach meiner Erinnerung eigentlich ein
127
Heute Stadtteil von Oberndorf am Neckar, Kreis Rottweil.
Es waren sogar 116 Streckenkilometer.
129
Stadt im heutigen Zollernalbkreis.
130
956 Meter hoher Berg südlich von Hechingen.
131
Heute Stadtteil von Albstadt, Zollernalbkreis.
132
Oberndorf war zu dieser Zeit mehrheitlich katholisch. Von der gelegentlichen Ausbreitung der
ursprünglich nur in katholischen Orten stattfindenden Fastnacht in die benachbarte evangelische
Umgebung wird für das Ende des 19. Jahrhunderts berichtet in: Bohnenberger, Karl (Bearb.):
Volkstümliche Überlieferungen in Württemberg. Glaube – Brauch – Heilkunde (Forschungen und
Berichte zur Volkskunde in Baden-Württemberg, 5). 3. Auflage, Stuttgart 1980. S. 35.
128
31
„Lehrerkränzchen“ mit Frauen – ich glaube in Dornhan133 – sein sollen. Es war
kurzfristig verschoben worden. Nun hatte sich der alte Stamm wieder in Oberndorf
getroffen. Mit ernsten Gesichtern und Gedanken gingen wir auseinander. Im Übrigen ist die Begeisterung jener Tage kaum zu schildern, denn das ganze deutsche
Volk war überzeugt, in einen gerechten Krieg zu ziehen. Eine Behinderung eiliger
Transporte auf der Straße durch unnötige Kontrolle brauchen wir uns nicht vorzuwerfen. Aber die Kontrolle der Anlagen der Wasserversorgung Aistaig134 führte
auch ich – mit dem Gewehr auf dem Rücken – durch. Zur Stärkung der Goldvorräte des Deutschen Reiches sollte eine Goldsammlung durchgeführt werden, bei der
ich die hohe Summe von 7 000 Mark zusammenbrachte, so dass mir das Postamt
Oberndorf nicht einmal den Gegenwert in Papier ausbezahlen konnte. Die Frauen
der Gemeinde unter Anleitung meiner eigenen Frau strickten Strümpfe, Pulswärmer usw. für die Truppen im Feld.
Auf meiner Schulstelle in Boll war ich (zunächst) unabkömmlich; das heißt, ich
konnte nicht (gleich) zum Heer eingezogen werden. So ist es verständlich, dass
auch mir immer mehr Arbeit aufgeladen wurde. Anfang 1916 musste ich die Gemeindepflege135 übernehmen, da kein anderer geeigneter Mann da war. Diejenigen, die in Oberndorf arbeiteten, waren noch unabkömmlicher als ich136. So bekam ich auch noch Einblick in das Rechnungswesen einer Gemeinde. Andererseits
benutzte ich diesen Umstand, um die Sonntagsschule der Mädchen – wenn vielleicht auch nur vorübergehend – abzuschaffen und mit der Fortbildungsschule der
Knaben zusammenzulegen. Die jungen Leute sollten militärisch etwas geschult
werden. Das geschah in der „Jugendwehr“ (ich glaube, so war der Name)137, einem militärähnlichen Verband, aber ohne Waffen. Seine Bedeutung und Erfolge
waren übrigens minimal. Ich glaube, es war 1916, dass in der Bezirksschulversammlung die Aufgabe gestellt war „Die Bedeutung der Volksschule für Krieg und
Sieg“. Um die Aufgabenstellung zu verstehen, muss man wissen, dass der Aufgabensteller, nämlich der Bezirksschulinspektor, Mitglied der „Alldeutschen“138 war.
Zwei Vorträge sollten das Thema erläutern. Der eine Referent, übrigens ein Kursgenosse von mir, voll Schwung und Temperament. Der andere Referent, nämlich
ich, streng sachlich, da die Lage zu jener Zeit wohl gut schien, aber auch nur
„schien“.
Kriegsdienst (1917 – 1918)
Doch die Zeit schritt weiter, und so kam, was zu erwarten war: der Gestellungsbefehl auf 1. Februar 1917 nach Stuttgart in die Rotebühlkaserne. Neben dem üblichen militärischen Betrieb besuchte ich so oft als möglich das Theater, da für Soldaten eine Zahl verbilligter Karten zur Verfügung stand. Im Frühjahr (März?) 1917
133
Stadt im heutigen Kreis Rottweil.
Willmer verwechselt hier Wasser- und Stromversorgung, denn in Aistaig (heute Stadtteil von
Oberndorf am Neckar, Kreis Rottweil) befand sich das Wasserkraftwerk des „Gemeindeverbands
Überlandwerk Aistaig“, dem Boll 1913 beigetreten war: Ade-Rademacher, Dorothee u.a. (Red.):
Geschichte der Stadt Oberndorf am Neckar. Band 2 – Vom Übergang an Württemberg bis heute.
Hg.: Stadt Oberndorf am Neckar. Oberndorf am Neckar 2006. S. 482.
135
Verwaltung der Gemeindefinanzen.
136
Gemeint sind die Beschäftigten der Oberndorfer Gewehrfabrik.
137
Die ab 1896 als Organisationen zur vormilitärischen Ausbildung entstandenen Jugendwehren
erlebten während des Ersten Weltkrieges einen Aufschwung.
138
Der 1891 gegründete, deutsch-völkisch orientierte „Alldeutsche Verband“ vertrat im Ersten
Weltkrieg extrem annexionistische Kriegsziele und gehörte zu den ideologischen Wegbereitern des
Nationalsozialismus.
134
32
starb auch der berühmte Luftschifferfinder Graf Zeppelin, bei dessen Beerdigung139 unsere Kompanie den militärischen Rahmen übernehmen musste. In der
gleichen Zeit musste ich drei Tage nach Berlin fahren, um einen Fahnenflüchtigen
abzuholen, was für mich einige interessante Tage abgab, da ich noch nie in Berlin
gewesen war. Doch da ich ausgebildeter Soldat war, war meines Bleibens in Stuttgart erwartungsgemäß nicht lange. Ende März, Anfang April ging es ab nach
Frankreich, zunächst in ein Feldrekrutendepot mit wechselndem Standort, je nach
Einsatz der 26. Reserve-Division. Wohl Anfang Mai erfolgte die Zuteilung an die
einzelnen Regimenter, und so wurde ich zuletzt der fünften Kompanie des Infanterieregiments 180 (Tübingen)140 zugeteilt, deren Kompanieführer mein Kursgenosse
Wilhelm Häußler war. Zum Einsatz kamen wir beim viel umkämpften Bullecourt an
der Siegfriedlinie141 in der Gegend von Arras142. Ab Juli lagen wir meist in der Nähe
von Ypern143 (Houthulster Wald) oder am Iserkanal144 im Überflutungsgebiet. Anfangs Januar 1918 kamen wir zur Auffüllung, Neugliederung usw., wie sie größeren Operationen voranzugehen pflegen, nach Sint Niklaas-Waas in Flandern in der
Nähe von Antwerpen. Nachdem ich im Herbst 1917 bei einem dreitägigen Etappenurlaub schon Brüssel, Brügge und Ostende kennen gelernt hatte, machte ich
mich, wenn auch in bescheidener Weise, mit Antwerpen bekannt. Zu Bahn und
zuletzt im Nachtmarsch vollzog sich nun der Aufmarsch zu der „großen Offensive“
des Frühjahrs 1918, die allgemein als der Beginn der großen Entscheidung gewertet wurde. Nach meiner Verwundung bei Henin-sur-Cojeul145 kam ich über kurzen
Zwischenaufenthalt in Duisburg-Ruhrort nach Ebingen (Marienheim).
Bald von meiner Verwundung genesen, wurde ich der Marschkompanie in Tübingen zugeteilt, da eine Verwendung im Feld zunächst nicht in Frage kam, denn der
militärärztliche Befund lautete „g.v.E.“ (verwendungsfähig Etappe)146. Ich hatte es
mit der Ausbildung von Leuten zu tun, die meist durch Verwundungen, zum Beispiel Arm- oder Handschüsse, stark behindert waren. Die Stimmung war – es war
September, Oktober geworden – der militärischen Lage entsprechend „mäßig“,
doch kam ich mit den Leuten gut aus. Es gab unter den Unteroffizieren immer
noch „Schleifer“, und das stellte ich vor der ganzen Kompanie ab; auch oder gerade, weil es sich um den Kompaniefeldwebel drehte. Abends saßen wir oft im Kasino, und ich erinnere mich an schöne Abende, wo musiziert wurde – Violine: Leutnant Daiber, Gesang: Leutnant Krauß, Klavier: ich. Während der Herbstmonate
war ich auch für einige Wochen nach Stuttgart abkommandiert. Ein Oberleutnant
Wildermuth (der spätere Bundesminister)147 sollte mit einer Kompanie den älteren
Ausbildern (ab Major) das neue Gefechts- und Abwehrverfahren näher bringen. Zu
139
Der am 08.03.1917 verstorbene Ferdinand Graf von Zeppelin war Ehrenbürger von Stuttgart
und wurde auf dem Stuttgarter Pragfriedhof beigesetzt: Klöpping, Karl: Historische Friedhöfe AltStuttgarts. Band 2: Der Central-Friedhof auf der Prag. Stuttgart 1996. S. 232.
140
(10. Württembergisches) Infanterieregiment 180.
141
Gemeint ist die „Siegfriedstellung“ im Ersten Weltkrieg, eine deutsche Verteidigungslinie in
Nordfrankreich. Willmer verwechselt sie hier mit der „Siegfriedlinie“, einer Bezeichnung für den von
1938 bis 1940 errichteten „Westwall“ an der Westgrenze des Deutschen Reiches.
142
Stadt in Nordfrankreich.
143
Flämisch: Jeper, in der belgischen Provinz Westflandern.
144
Flämisch: IJzerkanaal.
145
Ort südöstlich von Arras.
146
Genau: „garnisonsverwendungsfähig Etappe“, also nur im Versorgungsgebiet hinter der Front
einsetzbar.
147
Eberhard Wildermuth (1890 – 1952), von 1949 bis zu seinem Tode Bundesminister für das
Wohnungswesen. Biographische Darstellung von Wilhelm Kohlhaas in: Lebensbilder aus Schwaben
und Franken. 16. Band. Stuttgart 1986. S. 413-428.
33
diesem Lehrgang war auch ich als Zugführer148 eingeteilt. Es gab Gelegenheit zum
Besuch des Theaters: Parkett zweite und dritte Reihe zu einer Mark! Natürlich war
die Zahl der Karten beschränkt.
Ebenso, wie die militärische Lage für jedermann klar erkennbar war, zeichnete
sich auch eine Änderung im zivilen Bereich ab. Nicht, dass die Soldaten in Tübingen besonders aufsässig gewesen wären. Aber als die Revolutionswelle von Norden (Kiel)149 kam, leistete eigentlich niemand Widerstand. Sogar im Offizierskorps
tauchte plötzlich ein Hauptmann Hirschberg auf, den ich sonst noch nie gesehen
hatte, und empfahl einem jüngeren Leutnant, von jetzt ab das Monokel aus dem
Auge zu nehmen150. Als Anführer der rebellierenden Soldaten sah man endlich einen Vizefeldwebel Müller (für Tübingen). Wieso er zu dieser Stellung kam, ist mir
nicht bekannt, auch völlig unbegreiflich: Er sprach ein mangelhaftes, stotterndes
Deutsch und soll sich bei den Soldaten durch seine schlechten Manieren beim Essen empfohlen haben, da er beim Essen mit den Händen an den Zähnen herumfingerte151! Im Übrigen glaubte man sich jetzt aller militärischen Aufgaben ledig.
Ich führe nur zwei selbst erlebte Beispiele an: Als wachhabender Offizier musste
ich die verschiedenen ausgestellten Wachen kontrollieren. Bei einer Kontrolle des
Postens in der „Alten Aula“152 schliefen sämtliche anwesende Soldaten den Schlaf
des Gerechten. In der damaligen neuen Kaserne (Paulinenkaserne)153 saßen und
schliefen sämtliche Wachsoldaten in der Wachstube, ohne einen Posten aufgestellt
zu haben. Die Gewehre waren fein säuberlich vor dem Gebäude der Wache aufgereiht.
Ende November 1918 war für die zurückmarschierenden Truppen in Oberndorf am
Neckar ein Verpflegungslager einzurichten (mit der entsprechenden Anzahl Mannschaften), womit ich beauftragt wurde. So fiel es mir nicht schwer, auf 30. November 1918 meine Entlassung aus dem Heer zu erreichen und auf 1. Dezember
nach Boll zurückzukehren.
Wieder in Boll (1918 – 1928)
In schulischer Beziehung brauchte ich die früher gewohnte Arbeit nur aufzunehmen und weiterzuführen. Die Stellvertreterin während der Kriegszeit hatte ganz
schön weitergearbeitet. Aber auf dem Gebiet der Schule ergaben sich, wie fast auf
allen Gebieten, große Änderungen. Von den politischen Veränderungen (Republik
usw.) sei hier abgesehen und nur das Gebiet der Schule behandelt. Das wichtigste
Ergebnis dieser Tage war für die Schule wohl die Abschaffung der „geistlichen
Schulaufsicht“ von der obersten Spitze im Oberschulrat bis in jede Stadt und Gemeinde154. Damit war ein lange verfochtener Wunsch nach langen, oft bitteren
148
Kompanien waren in Züge eingeteilt.
Die Novemberrevolution 1918 begann mit Meutereien von Matrosen der Kriegsmarine in Wilhelmshaven und Kiel.
150
Das Monokel (Augenglas für ein Auge) galt als Symbol für die Abgehobenheit und Arroganz des
wilhelminischen Offizierskorps.
151
Die angeblich schlechten Manieren Müllers stehen im Gegensatz zu der Tatsache, dass er ein
abgeschlossenes Studium hatte: Vgl. die Darstellung in: Boger, Hartmut u.a.: Arbeitertübingen. Zur
Geschichte der Arbeiterbewegung in einer Universitätsstadt. Tübingen 1980. S. 132.
152
Altes Hauptgebäude der Universität Tübingen neben der Stiftskirche.
153
Nicht belegte, aber vielleicht (wegen der Lage an der Paulinenstraße) inoffiziell verwendete
Bezeichnung für die damals amtlich als „Neue Kaserne“ firmierende Anlage.
154
Gemeint ist die endgültige, auch verwaltungsmäßige Trennung der kirchlichen und schulischen
Angelegenheiten, nachdem bereits 1909 die geistliche Schulaufsicht in fachlicher Hinsicht abge149
34
Kämpfen erreicht. Vorbei waren die Zeiten, wo der Lehrer zur Übernahme des
(unentgeltlichen) Organistendienstes gezwungen werden konnte155. Vorbei die
Zeit, da die Lehrersfrau dem Pfarrer das Chorhemd waschen und bügeln musste156. Diese Sache war freier Übereinkunft vorbehalten. Den Vorsitz und die Leitung im Ortsschulrat157 übernahm der Lehrer. Ich hielt es aber bei der Geschäftsübernahme für richtig, dem Geistlichen für viele gute Dienste (das gab es nämlich
auch, und ich persönlich kann über die Geistlichen nicht klagen) den geziemenden
Dank zu sagen. In der Rückschau kann ich sagen, dass von diesem Tag an das oft
sehr gespannte Verhältnis zwischen Pfarrer – Lehrer und Kirche – Schule sich gebessert hat und heute eigentlich keine Ressentiments auf Lehrerseite vorhanden
sind. Sehr oft haben seitdem die Geistlichen den Lehrern in schulischen Fragen
wertvolle Hilfe geleistet.
Hart umkämpft war die Frage der Schulform: Konfessionsschule – Simultanschule.
Überall veranstaltete die Kirche Aufklärungsversammlungen über die schwebenden
Fragen. In die Kirche in Sulz kam sogar der zuständige Prälat (ich glaube, Prälat
Schöll aus Ulm158). Wenn man die damaligen Zeiten mit ihrem erbitterten Kampf
um die Erhaltung der Konfessionsschule mit der heutigen Stellungnahme der Kirche zur Gemeinschaftsschule vergleicht, so ist doch ein sehr großer Fortschritt
festzustellen. Ich muss aber im Dienste der Wahrheit feststellen, dass damalige
Simultanschule (ohne Religionsunterricht) und heutige Gemeinschaftsschule (Religionsunterricht unter freiwilliger Mitwirkung der Lehrer) sich nicht ganz entsprachen. Aber als Ergebnis der Abschaffung der geistlichen Schulaufsicht darf auch
hier ein wesentlicher Fortschritt verzeichnet werden. In der Frage der Weiterbildung der Lehrerschaft wurde nach neuen Wegen gesucht. Die für alle Lehrkräfte
bisher verbindlichen Bezirksschulversammlungen (einmal im Jahr) wurden beibehalten. Die Hauptkonferenz, für die jede Lehrkraft eine schriftliche Arbeit zu liefern
hatte159, fiel weg. Die zweimal jährlich stattfindenden Sonderkonferenzen, für die
alle unständigen Lehrkräfte Arbeiten zu liefern hatten, sollten in anderer Form weitergeführt werden160. Auch ein anderer alter Zopf fiel der neuen Zeit zum Opfer.
Bisher war der Schulleiter nicht im Besitz eines Dienstsiegels161, wie es sonst die
Behörden haben. Musste der Schulleiter ein amtliches (nicht privates) Schriftstück
an die vorgesetzte Behörde einreichen, so hatte er dazu so genannte „Dienstmarschafft worden war: Friederich, Gerd: Die Volksschule in Württemberg im 19. Jahrhundert (Studien
und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte, 6). Weinheim und Basel 1978. S. 78 f.
155
Die Verpflichtung zum Organistendienst bestand zwar bis 1919, doch musste der Dienst seit
1905 gesondert vergütet werden: Ebenda, S. 123 f.
156
Gemeint können hier nur katholische Geistliche sein, da evangelische Pfarrer in der Regel verheiratet waren und zudem kein Chorhemd, sondern einen Talar trugen.
157
Nach der Regelung von 1891 wurde der Ortsschulrat vom Pfarrer als Ortsschulaufseher und
vom Ortsvorsteher gemeinsam geleitet. Weitere Mitglieder waren die Lehrer und eine Anzahl gewählter Bürger. Ab 1909 gingen die Aufgaben des Ortsschulaufsehers an andere Instanzen über:
Dehlinger, Alfred: Württembergs Staatswesen in seiner geschichtlichen Entwicklung bis heute.
Erster Band. Stuttgart 1951. S. 470.
158
Das Gebiet des Oberamts Sulz gehörte zum Generalat (später: Prälatur) Ulm: Staatshandbuch
für Württemberg. Ausgabe 1922. Stuttgart 1922. S. 129.
159
Ungenau; es waren seit 1891 zwei Hauptkonferenzen jährlich, wobei nur bis zum 40. Lebensjahr eine schriftliche Arbeit („Konferenzaufsatz“) anzufertigen war: Friederich, Gerd: Die Volksschule in Württemberg im 19. Jahrhundert (Studien und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte, 6). Weinheim und Basel 1978. S. 97.
160
Auch die unständigen Lehrkräfte hatten ab 1891 nur noch eine schriftliche Arbeit pro Jahr abzuliefern: Ebenda.
161
Rundstempel mit amtlicher Funktion.
35
ken“ (also nicht die allgemein üblichen Postwertzeichen) zu verwenden und einen
Stempel aufzudrücken, der die Worte „In Ermangelung eines Dienstsiegels Schule
X“ enthielt. Nun erhielt auch die Schule einen Dienststempel, der sich in den folgenden Jahren allerdings mehrfach änderte. Alle diese Neuerungen führten in
Verbindung mit den pädagogischen Reformen, die unter dem Begriff „Arbeitsschule“ zusammengefasst werden können, dazu, dass Schule und Lehrerstand in ihrer
Arbeit freier, selbstständiger und auch selbstbewusster wurden. Noch nicht zum
Erfolg führten die Bestrebungen, für alle Schulen und Schularten einen gemeinsamen Unterbau, eine „Grundschule“, einzurichten. Dieser Neuaufbau des Schulwesens zog sich jahrelang hin, im Grunde genommen bis heute und noch länger.
Zu gleicher Zeit wurde die politische Lage des Deutschen Reiches ernster
und mit ihr die finanziellen Umstände. Eigenartigerweise ging die eigentliche
Schularbeit ziemlich ungestört weiter. Da die Schülerzahlen immer mehr anstiegen
– 1921 waren es neunzehn Schulneulinge – beantragte ich die Errichtung einer
neuen, unständigen Stelle, und es gelang verhältnismäßig leicht, bei Gemeinde
und Behörde diese Forderung durchzubringen162. Nun wirkte es sich günstig aus,
dass ein Schulraum auf mein Drängen im neuen Rathaus eingerichtet worden war
samt einem Zimmer für den Unterlehrer. Große Sorgen bereitete die Erteilung des
Handarbeitsunterrichtes für Mädchen an allen den Orten, wo keine ausgebildete
Lehrkraft für diesen Zweck vorhanden war. So auch in Boll, wo meine Frau gelegentlich diesen Unterricht übernehmen musste. Ich beantragte daher bei der
Schulbehörde die Errichtung einer Stelle für Handarbeitsunterricht. Da diese für
Boll allein aber nicht voll ausgelastet wäre, sollten die Gemeinden
Wittershausen163 und Sigmarswangen164, wo ähnliche Verhältnisse herrschten und
die etwa vier Kilometer entfernt waren, zur Ausfüllung dieses Lehrauftrages hinzugezogen werden. Die Gemeinderäte und Ortsschulräte der drei genannten Gemeinden kamen in Wittershausen zusammen, und nach eingehender Prüfung und
Besprechung wurde beschlossen, die Errichtung einer derartigen Stelle zu beantragen. Diesem Ersuchen gab der Oberschulrat bald statt, und die neue Lehrkraft
erhielt ihren Sitz in Wittershausen, von wo aus sie auch die zwei andern Gemeinden betreuen musste.
Glücklicherweise hatte ich eine andere Angelegenheit schon früher fast ganz zum
Abschluss gebracht: die Versorgung der Boller Schule mit Lehrmitteln. In den Jahren vor dem Neubau der Schule hat der damalige Lehrer so gut wie keine Neuanschaffungen mehr gemacht; auch sonst war wohl nichts Besonderes vorhanden.
Nach meinem Dienstantritt machte ich mich gleich an die Arbeit; Kataloge wurden
durchgesehen usw. Bald hatte ich eine ganz schöne Ausstattung für die Schule an
Bildern für die verschiedenen Unterrichtsfächer beisammen, ebenso eine Reihe
von neuen Karten. Präparate fehlten meist, waren auch nicht so dringend notwendig, da wir ja vielfach das lebende Objekt beobachten konnten. Zu diesem Zweck
war (sic) mir infolge Nichtanschaffungen der letzten Jahre rund 400 Mark zur Verfügung gestellt; das war für eine Einklassenschule um 1914 ein recht schöner Betrag, den ich restlos ausgegeben habe. In den Tagen der Inflation war ich froh, so
gehandelt zu haben. Wie kam es zu diesem Betrag? Vor 100 und mehr Jahren gehörten zur (kärglichen!) Besoldung des Schulmeisters auch die Schulgüter, etwa
162
Die zweite Lehrerstelle wurde 1921 eingerichtet: Ade-Rademacher, Dorothee u.a. (Red.): Geschichte der Stadt Oberndorf am Neckar. Band 2 – Vom Übergang an Württemberg bis heute. Hg.:
Stadt Oberndorf am Neckar. Oberndorf am Neckar 2006. S. 482.
163
Heute Ortsteil von Vöhringen, Kreis Rottweil.
164
Heute Stadtteil von Sulz am Neckar, Kreis Rottweil.
36
der Allmand der „Bürger“165 entsprechend. Ab 1880 ungefähr legten manche Lehrer nicht mehr soviel Wert darauf, die Schulgüter selber umzutreiben. Als die Gehälter um einen Durchschnittsbetrag für Schulgüter erhöht wurden, wurden in den
meisten Fällen andere Bürger ihre Pächter; der Ertrag fiel aber nicht mehr dem
Schulmeister, sondern der Schulkasse zu. War der Pachtbetrag auch nicht hoch,
so sammelte sich im Verlauf der Jahre doch eine kleine Summe an. Um 1900 baute fast kein Lehrer die Schulgüter selber an. Nur der alte Lehrer Weller von
Frommern tat es, da seine Frau aus dem Ort war und auch Felder in die Ehe mitbrachte. Mein Vater hat ihm oft seine Wiesen gemäht; ich habe oft Heu bei ihm
„geträppelt“166. Im Schulhaus war (sic) Stall und Scheune. Ähnliches ist mir nur
vom Lehrer Wägelein in Renfrizhausen167 bekannt. Man kann demnach mit Recht
behaupten, dass die Lehrer um 1900 ihre Schulgüter nicht mehr selbst umtrieben.
In den Inflationsjahren habe ich mich bemüht und bekam von der Gemeinde auf
privater Grundlage zwei Allmandstücke, auf denen ich Weizen, Kartoffeln, Mohn
(einmal 120 Pfund geerntet!) anpflanzte. Zwei kleine Hausgärten hatte ich auch,
hatte sie aber selbst anlegen und den Boden herbei tragen müssen, so dass für
das Schlimmste vorgesorgt war. Heutzutage lacht man über derartige Verhältnisse, aber seinerzeit hatten sie schon ihre Berechtigung.
Bevor ich zum letzten Teil meines Berichtes über Boll übergehe, muss ich noch
einige Punkte nachtragen. In der Schule hatte ich, wie auch die Prüfungsbescheide erkennen lassen, gute Erfolge. Dies führe ich hauptsächlich auf das von mir
angewandte „Helfersystem“ zurück. In einigen Fächern, besonders Rechnen, behandelte ich im vierten Schuljahr den Stoff des vierten und fünften Schuljahrs und
wiederholte ihn also für das fünfte Schuljahr. Ebenso verfuhr ich mit dem sechsten
und siebten Schuljahr. Das ergab zwar eine starke Belastung des vierten bzw.
sechsten Schuljahrs, und ich war mir dessen voll bewusst. Aber ich behandelte die
Schüler des vierten bzw. sechsten Schuljahrs mehr als „Zuhörer“ und gab ihnen
aus dem fünften bzw. siebten Schuljahr Helfer bei und hatte dann die Gewähr,
dass sie im fünften bzw. siebten Schuljahr den Stoff sicher beherrschten. Mit
Lernmitteln (für die Hand der Schüler) waren diese recht spärlich versorgt. Außer
Spruchbuch168, Gesangbuch, Singheft war nur Rechenbuch sowie ein Realienbuch
– eine Kurzausgabe für Geschichte, Erdkunde, Naturgeschichte und Naturkunde –
vorhanden. Das Turnen fand unter ungünstigen Umständen meist für Knaben und
Mädchen gemeinsam im grob geschotterten Schulhof statt. Statt der schweren
eisernen Turnstäbe ließ ich die Kinder aus abgebrochenen Rechenstielen hölzerne
Stäbe anfertigen.
Abschließend muss ich noch Vorgänge zur Behandlung bringen, die eigentlich
nicht schulischer Art sind, aber doch das Leben eines „Landlehrers“ stark beeinflussten. Ich erzählte weiter oben, dass ich Ende November 1918 mit zugeteilten
Mannschaften ein Verpflegungslager für rückmarschierende Truppen, darunter
auch schwere österreichische Artillerie, anlegen musste. Da Boll so nahe bei
165
Allen Bürgern des Ortes zwecks gemeinsamer Nutzung zur Verfügung stehender Teil der Markung, insbesondere Wald und Weideland. Vor allem letzteres wurde im 19. Jahrhundert zunehmend aufgeteilt und in Privatbesitz überführt.
166
Träppeln: mit vielen kleinen Schritten treten. Der Ausdruck findet sich mit dieser Bedeutung in
dem eingangs erwähnten Frommerner Glossar in: Landesstelle für Volkskunde Stuttgart, Nachlass
Landesstelle für Volkskunde, C/50, Blatt 13b. Unklar bleibt, was in diesem Zusammenhang damit
gemeint ist.
167
Heute Stadtteil von Sulz am Neckar, Kreis Rottweil.
168
Wohl für den Religionsunterricht.
37
Oberndorf liegt, ging ich abends zum Übernachten nach Boll. Unterwegs hörte ich
nicht weit hinter mir in der Dunkelheit ein Geräusch wie das Aufreißen der Kammer eines Gewehrs. Nun war für den gleichen Abend in Boll eine Bürgerversammlung einberufen, in der über die neue Lage gesprochen werden sollte. In der Aussprache erzählte ich mein Erlebnis vom gleichen Abend und setzte hinzu, dass unter der neuen Freiheit natürlich nicht Zügellosigkeit, Raub, Mord usw. zu verstehen
sei. Auf Grund meiner Ausführungen wurde ich einstimmig zum Vorsitzenden des
Arbeiter- und Bauernrates gewählt. Oberndorf war noch überfüllt mit zugezogenen
Arbeitern, und wenn in der ganzen Gegend keine schweren Ausschreitungen vorkamen, darf auch ich mir ein bescheidenes Teil als Verdienst anrechnen. Die
Überbeschäftigung in Oberndorf schlug ins Gegenteil um – vollständige Arbeitslosigkeit. Dazu wurde die Ernährungslage immer ungünstiger. Lebensmittel mussten
aufs Strengste rationalisiert (sic) werden; Lebensmittelkarten wurden weiterhin
ausgegeben. Diese ganze Angelegenheit lag in den Händen des Schultheißen. Da
gewisse Unregelmäßigkeiten vorkamen, auch eine Senkung der Preise möglich
schien, stellte der Arbeiter- und Bauernrat an den Schultheißen ein entsprechendes Ersuchen. Er lehnte ab, worauf ihm die Austeilung der Lebensmittel usw. entzogen wurde. Ich schlug dem Gemeinderat vor, dass er die Sache in eigene Regie
unter eigenem Risiko übernehmen solle. Da auch er ablehnte, übernahm ich die
ganze Lebensmittelverwaltung, zog aber noch einen Gemeinderat und einen weiteren geachteten Bürger hinzu. Wir alle drei erhielten für die aufgewendete Zeit
den angemessenen ortsüblichen Lohn; auch wurden viele Artikel unter dem festgesetzten Preis abgegeben sowie über alles genaue Listen geführt. Das ging weiter, bis mit der Einführung der Rentenmark 1923 die Inflation zu Ende ging. Zum
Abschluss legte ich dem Gemeinderat eine genaue Abrechnung vor mit Bekanntgabe des Überschusses. Da er aber seinerzeit die Verwaltung in eigener Regie abgelehnt hatte, sagte ich, dass ich ihm nun auch den Überschuss nicht übergeben
könne. Ich verwendete ihn vielmehr dazu, um für die Schule einen dringend gebrauchten Lichtbilderapparat für Diapositive anzuschaffen (den wir anderweitig ja
doch nicht bekommen hätten!).
Eine andere Notwendigkeit einzugreifen ergab sich in Verbindung mit anderen Arbeiter- und Bauernräten gegenüber dem Überlandwerk Aistaig. Ihm mussten
mangelhafte Aufsicht bei der Aufschüttung des Dammes sowie bei der Zurichtung
des Untergrundes eines Staubeckens vorgeworfen werden. Das Überlandwerk
wehrte sich gegen unsere Vorwürfe, stellte eigene Untersuchungen an und musste
auf deren Grund unsere Vorwürfe voll zugeben. Noch wenn ich zwanzig, dreißig
Jahre später mit der Eisenbahn am Stauwerk vorbeifuhr, konnte man erkennen,
wie mangelhaft der Damm einst aufgeführt worden war. In diesen schweren Jahren haben wir oft auch die Lage der Landwirtschaft besprochen, besonders mit
Lammwirt Hölle und Hans Graf. Wir waren der Ansicht, dass nur Zusammenlegung
der Grundstücke, vielleicht auch durch Tausch, und weitgehende Mechanisierung/Motorisierung weiterhelfen könne. Die Vorsitzenden der einzelnen Arbeiterund Bauernräte versammelten sich regelmäßig in Sulz. Auch hier legte ich Wert
auf sachliche Arbeit, weshalb die Vertreter der Unabhängigen Sozialisten (KPD)169
zusehends zurückhaltender wurden und bald gar nicht mehr erschienen. In diesem
Zusammenhang war es für mich interessant, an der Landessitzung der Arbeiterund Bauernräte in Stuttgart teilzunehmen, wo ich auch den Staatspräsidenten Wil169
Die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) war nicht identisch mit den Unabhängigen Sozialisten, sondern entstand im Januar 1919 durch Abspaltung von diesen.
38
helm Blos170 kennen lernte und wo das Mitglied Unfried171 seinem Namen alle Ehre
machte. In den Tagen von Ende 1918 bis Anfang 1919 waren besonders die Frauen, die das Wahlrecht erhalten hatten, froh über eine Belehrung und Aufklärung
über dieses Wahlrecht und die Parteien. In einigen Vorträgen suchte ich ihnen einen objektiven Eindruck zu vermitteln. In der anschließenden Reichstagswahl172
erreichte Boll eine Wahlbeteiligung von 98 Prozent – eine Zahl, die später sicher
nie mehr erreicht wurde (ohne Zwang!).
Die Errichtung einer zweiten Schulstelle brachte natürlich eine gewisse Erleichterung für mich. Nachdem es 1927 geschienen hatte, als ob eine für die Lehrer
günstige Besoldungsordnung durchgeführt würde, scheiterte sie am Widerstand
der andern Beamtengruppen. Um diese Zeit mussten auch meine Kinder die Oberschule besuchen; dafür kam nur Oberndorf in Betracht. Der Weg dahin war zwar
nicht besonders weit, aber er wies einen Höhenunterschied von 180 bis 200 Meter
auf. Deshalb musste ich mich allmählich nach einer neuen Stelle umsehen. Nachdem ich Stellen in Stuttgart-Münster und Esslingen-Wäldenbronn angesehen hatte,
meldete ich mich nach Betzingen173 und erhielt die Stelle. Der Aufzugstermin war
auf 1. Mai 1928 festgesetzt. Nach Verabschiedung verließen wir Boll, das uns fünfzehn Jahre Heimat gewesen war, während ich ursprünglich nur einen Aufenthalt
von fünf bis sieben Jahren beabsichtigt hatte.
Exkurs: Materielle Lage der Volksschullehrer
Es mag angebracht sein, nun einen Rückblick zu geben über die Gehaltsverhältnisse der Volksschullehrer. Das Einkommen der Lehrer war so gering wie ihr Ansehen. Beide scheinen in Wechselwirkung gestanden zu haben. Hinweise auf frühere
Zeiten gibt es genügend174. Das Lied vom „armen Dorfschulmeisterlein“ ist ja heute noch bekannt, und wenn sich besonders in den letzten Jahrzehnten Vieles gebessert hat, so ist dies fast mehr dem Zwang der Verhältnisse zuzuschreiben als
gutem Willen. Bekannt ist auch, dass der Lehrer weithin als „Fleckenschaden“
galt175. Nur unter härtestem Kampf war eine Besserung zu erreichen. Einige Gründe haben zusammengewirkt, dass sich die Auseinandersetzung so sehr in die Länge zog. Der erste war, dass die Lehrer nicht den Beamten gleichgestellt waren. Bei
Gehaltsfragen ging es immer um die Beamten und Lehrer. Wenn Gehaltsfragen
und insbesondere Aufbesserungen für die Beamten beschlossen waren von beiden
Kammern des Landtages, mussten diese Fragen alle nochmals für die Lehrerschaft
gesondert behandelt werden176. Bis es soweit kam, waren aber die Etatmittel –
170
Der Sozialdemokrat Wilhelm Blos (1849 – 1927) war von 1919 bis 1920 der erste Staatspräsident Württembergs.
171
Gemeint ist wahrscheinlich der evangelische Pfarrer und aktive Pazifist Hermann Umfrid (1892 –
1934): Schwarzmaier, Hansmartin und Schaab, Meinrad (Hg.): Handbuch der badenwürttembergischen Geschichte. Vierter Band: Die Länder seit 1918. Stuttgart 2003. S. 79.
172
Gemeint ist wohl die Wahl zur Weimarer Nationalversammlung am 19.01.1919.
173
Betzingen war bereits seit 1907 Stadtteil von Reutlingen: Schwarz, Paul und Schmid, Heinz Dieter (Hg.): Reutlingen. Aus der Geschichte einer Stadt. Reutlingen 1973. S. 263.
174
Hierzu Friederich, Gerd: Die Volksschule in Württemberg im 19. Jahrhundert (Studien und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte, 6). Weinheim und Basel 1978. S. 119-123.
175
Als Schaden des Dorfes wegen seiner von der Gemeinde zu tragenden Entlohnung. Ursprünglich
hatten die Gemeinden sämtliche mit dem Schulbetrieb verbundenen Kosten zu tragen. Gegen Ende
des 19. Jahrhunderts wurde ein Teil davon vom Staat übernommen, der sich in der Folgezeit, vor
allem nach 1918, immer stärker beteiligte: Dehlinger, Alfred: Württembergs Staatswesen in seiner
geschichtlichen Entwicklung bis heute. Erster Band. Stuttgart 1951. S. 458 f.
176
Diese Ausführungen beziehen sich auf die Zeit vor 1912. In diesem Jahr erhielten die
Volksschullehrer die vollständigen Beamtenrechte: Friederich, Gerd: Die Volksschule in Württem39
wie es so geht – meist erschöpft. Nun hieß es oft: „Wir würden gern Aufbesserung
gewähren; wir sehen sogar ein, dass es notwendig ist, aber der Etat ist erschöpft.
Und zudem: Ihr seid so viele, da schlägt es so sehr zu Buche“. Kurz und gut: Die
Lehrerschaft ging leer aus. In der Ersten Kammer saßen als Vertreter der Kirche
und sehr einflussreiche Mitglieder des Parlaments die Prälaten177. Da kam es doch
tatsächlich vor, dass diese gegen eine Verbesserung stimmten mit der Begründung, man könne den Lehrern keine Aufbesserung zubilligen – „sonst schlagen sie
die Sterne vom Himmel“. Nun war doch allgemein bekannt, wie schlecht die Einkommensverhältnisse der Lehrer waren. Noch mehr erbitterte eine andere Äußerung eines Prälaten: „Die Lehrer mögen um Gotteslohn arbeiten“. Solche Worte
waren auch der Grund für die meist sehr große Erbitterung gegen die geistliche
Schulaufsicht. Eine Besserung trat, wie oben ausgeführt, erst mit deren Abschaffung 1919 ein.
So ist wohl begreiflich, dass viele Lehrer Nebenverdienst suchten, zum Beispiel
Nachhilfeunterricht, andere Ämter, und sich auf die Bestellung der Schulgüter, die
einen Teil der Bezahlung ausmachten, legten. Ab 1870, 1880 scheint die Bestellung der Schulgüter durch den Lehrer nachgelassen zu haben; um 1900 war sie
fast nicht mehr ausgeübt. Um 1890 scheint auch eine andere Erleichterung eingetreten zu sein: Wenn ein Lehrer in seine ständige Stelle eingewiesen wurde, musste er im ersten Jahr zwanzig Prozent seines Gehaltes als Beitrag zur Pensionskasse
bezahlen. Hatte er beispielsweise einen Gehalt178 von 800 Mark, so wurden ihm
160 Mark abgezogen, dazu laufend zwei bis drei Prozent179. Trat eine Aufbesserung seiner Bezüge von 800 auf 900 Mark ein, so hatte er für die 100 Mark wieder
zwanzig Prozent zu bezahlen, neben den laufenden zwei bis drei Prozent. Daher
stammen die Grundkapitalien für die Lehrerpensionskassen! Um 1900 scheinen
sich die Gehälter für ständige Lehrer auf 1 200 Mark Anfangsgehalt eingependelt
zu haben, die im Verlauf von 27 Dienstjahren in neun dreijährigen Stufen auf 2
400 Mark anstiegen. Unständige Lehrer (Lehrgehilfen) hatten etwa 65 Mark monatlich, Unterlehrer ein Geringes mehr. Der Gehalt war beim Gemeindepfleger (oft
Bürgermeister genannt180) abzuholen. 1907 war das monatliche Einkommen für
alle unständigen Lehrer auf 75 Mark angestiegen. Im Zusammenhang mit der
Neuordnung der Lehrerbildung 1909 bis 1910 scheinen sich auch Verfassungskämpfe abgespielt zu haben, in deren Verlauf die Gehälter neu geregelt wurden.
Darüber bin ich nicht genau im Bild, da ich ja 1909 bis 1910 mein Militärjahr in
Heilbronn abdiente. Auf jeden Fall bezogen unständige Lehrer nun ein nach Tagen
berechnetes Gehalt von drei Mark pro Tag. Diese wurden mir vom Kameralamt181
Altensteig ausbezahlt, das mir für ein ganzes Jahr drei Mark Einkommensteuer
abzog; das war meine ganze Steuerschuld.
berg im 19. Jahrhundert (Studien und Dokumentationen zur deutschen Bildungsgeschichte, 6).
Weinheim und Basel 1978. S. 125.
177
Die Prälaten waren nicht in der Ersten, sondern in der Zweiten Kammer (Kammer der Abgeordneten) vertreten: Weller, Karl und Weller, Arnold: Württembergische Geschichte im südwestdeutschen Raum. 7. Auflage. Stuttgart und Aalen 1972. S. 226.
178
Veraltete, in Süddeutschland übliche maskuline Verwendung.
179
Im Jahr der Einstiegszahlung sowie in den Folgejahren. Angegeben sind hier immer Jahresgehälter!
180
Der Bürgermeister im heutigen Sinn wurde bis 1930 als „Schultheiß“ bezeichnet: Dehlinger,
Alfred: Württembergs Staatswesen in seiner geschichtlichen Entwicklung bis heute. Erster Band.
Stuttgart 1951. S. 273.
181
Teilweise dem heutigen Finanzamt vergleichbar, aber auch für andere Aufgaben zuständig.
40
Es hatte sich doch allmählich herumgesprochen, dass die Einkommensverhältnisse
der Lehrer beschämend waren, und so hatten sich um 1900 eine ganze Zahl von
Städten, ja sogar viele Dörfer bereit gefunden, ihren Lehrern einen Ortszuschlag
zu bezahlen. Dieser betrug von 600 Mark in größeren Städten bis zu 50 bis 100
Mark in Dörfern, natürlich jährlich zu beziehen. Man bedenke, dass man zum Beispiel für 100 Mark zwei gute Anzüge kaufen konnte. Ich führe im Folgenden eine
Reihe von Städten mit ihren jährlichen Zulagen an:
Balingen 400 Mark
Böblingen 200 Mark
Calw 400-500 Mark
Obertürkheim182 300 Mark
Freudenstadt 400 Mark
Geislingen 400 Mark
Göppingen 500 Mark
Heidenheim 400 Mark
Leonberg 100-150 Mark
Ludwigsburg 500 Mark
Nagold 300-400 Mark
Nürtingen 200-400 Mark
Reutlingen 500 Mark
Feuerbach183 600 Mark
Tübingen 400 Mark
Tuttlingen 400 Mark
Urach 300-400 Mark
Waiblingen 350 Mark
Welzheim 150-200 Mark.
Besonders schulfreudig zeigten sich die Städte, sodann aber weitgehend die Landgemeinden der Oberämter Calw und Freudenstadt. Sehr viele Dorfgemeinden
machten mit, meist mit einem Jahresbetrag von 50 bis 150 Mark. Auch für die
ständigen Lehrer scheint um 1910 eine neue Besoldungsordnung aufgestellt worden zu sein184. Die Gehälter betrugen nun 1 600 Mark und stiegen an bis 3 200
Mark. In meiner Anstellungsurkunde vom 18. Juli 1913 steht: „Derselbe bezieht
einen Gehalt von 1 600 Mark“. Die Städte Stuttgart, Ulm, Heilbronn, Esslingen
scheinen soweit von der allgemeinen Gehaltsordnung abgewichen gewesen zu
sein, dass man beinahe von einer eigenen Besoldungsordnung sprechen kann. Mit
der Neuordnung um 1910 durften die Ortszulagen nicht mehr neu verliehen werden; möglicherweise durften die alten Inhaber sie noch behalten.
Über die nächsten Jahre bis zum Ende der Inflation im November 1923 fehlen mir
Angaben. Ich finde lediglich eine Angabe 1921: Gehalt 1 900 Mark; demnach war
ich in der dritten Stufe, also zwei Mal vorgerückt. Ein anderes Mal, ebenfalls von
1921:
Gehalt 7 700 Mark
Ortszuschlag 1 060 Mark
Kinderzuschlag 1 440 Mark
Teuerungszulage 5 100 Mark
182
Zu dieser Zeit noch selbstständige Gemeinde, allerdings ohne Stadtrecht.
Dito.
184
Die Besoldung aller württembergischen Beamten wurde mit Wirkung ab 1911 in vielen Punkten
neu geregelt und generell aufgebessert: Dehlinger, Alfred: Württembergs Staatswesen in seiner
geschichtlichen Entwicklung bis heute. Zweiter Band. Stuttgart 1953. S. 1016 f.
183
41
Zusammen 15 300 Mark jährlich, das sind monatlich 1 275 Mark.
Aus diesen Zahlen sieht man die rasende Verschlechterung der finanziellen Lage,
aber auch, dass verschiedene neue Gehaltsteile unter dem Druck der Zeitverhältnisse eingeführt werden mussten: Kinderzuschlag mit Rücksicht auf die gestiegenen Lebenshaltungskosten, Ortszuschlag besonders in Hinsicht auf die Mietpreise.
Zuletzt kamen die angewiesenen Gehälter vollständig entwertet bei uns auf dem
Lande an. Auf meinen Vorschlag schlossen sich die Lehrer von Boll, Bochingen,
Wittershausen, Sigmarswangen und Vöhringen zusammen, dass immer abwechselnd einer die Gehälter für alle auf dem Staatsrentamt185 in Rottweil abholte, damit sie wenigstens noch eine kleine Kaufkraft hatten.
Führer der im Württembergischen Lehrerverein zusammengeschlossenen Lehrerschaft war von 1907 bis 1923 Johannes Löchner186. Ihm sind wir zu größtem Dank
verpflichtet. Der um die Jahrhundertwende geführte Kampf um eine fortschrittlichere Verfassung führte 1907 zu einer Verfassungsrevision187 mit dem Ergebnis,
dass die Vertreter der Ritterschaft und der Prälaten aus der Zweiten Kammer ausscheiden mussten und in die Erste Kammer kamen. Die Zweite Kammer war also
eine reine Volkskammer, hervorgegangen aus Wahlen; die Erste Kammer bestand
dann noch bis zur Weimarer Verfassung. Als weiteres Ergebnis der Verfassungsrevision folgten Schulreform und Besoldungsreform. (…) 1923 starb Löchner, während er sich im Landtag besonders für die Junglehrer einsetzte, an einem Schlaganfall. Die Besoldungsverhältnisse waren immer noch nicht nach unseren Wünschen geregelt. Es fehlten Beförderungsstufen wie bei den übrigen Beamten. Der
Lehrer konnte seine Besoldungsklasse durchlaufen, in deren Endstufe er dann sitzen blieb auf Lebenszeit. Wir verlangten die so genannte „Sechstelung“, das heißt,
drei Sechstel sollten in der Anfangsgruppe sein, zwei Sechstel in der nächst höheren Gruppe und das letzte Sechstel in einer weiteren Gruppe188. Dieses Ziel wurde
nicht erreicht; es kam höchstens zu einer „Zehntelung“. Schuld daran trug in erster Linie der Führer des Beamtenbundes Brodhag, der die Interessen der mittleren
Verwaltungsleute189 vertrat. Daher ist bis auf den heutigen Tag eine Spannung
zum Beamtenbund geblieben. Es handelte sich weiter darum, die Zeitspanne für
das Vorrücken von drei auf zwei Jahre zu verkürzen, dass man also bälder in den
Endgehalt einrückte. Ebenso war daran gelegen, die Versorgungsbezüge bei Eintritt in den Ruhestand günstiger zu gestalten, also den Beginn der versorgungsberechtigten Zeit bälder beginnen zu lassen, ferner den Prozentsatz für den Ruhegehalt günstiger zu gestalten, dass nicht nur 50 oder 60 Prozent, sondern 75 Prozent
des Gehaltes als Ruhegehalt erreicht werden konnten usw. Die Auszahlung wurde
von den Staatsrentämtern übernommen; noch später wurden Landes- bzw. Regierungshauptkassen eingerichtet190. Zur leichteren Abwicklung musste jeder Beamte
185
Die Staatsrentämter wurden 1922 eingerichtet und übernahmen einen Teil der Aufgaben der
früheren Kameralämter: Dehlinger, Alfred: Württembergs Staatswesen in seiner geschichtlichen
Entwicklung bis heute. Zweiter Band. Stuttgart 1953. S. 767 f.
186
Der 1861 geborene Johannes Löchner war zudem seit 1906 liberaler Landtagsabgeordneter und
nach dem Ersten Weltkrieg bis 1922 Vorsitzender des Württembergischen Beamtenbundes:
Raberg, Frank (Bearb.): Biographisches Handbuch der württembergischen Landtagsabgeordneten
1815 – 1933. Stuttgart 2001. S. 518 f.
187
Die Verfassungsreform erfolgte 1906.
188
Dieses Aufteilungsverfahren wurde später als „Stellenkegel“ bezeichnet.
189
Nach heutigem System Angehörige teils des mittleren, teils des gehobenen Dienstes.
190
Gemeint ist die Staatshauptkasse, die ab 1926 die Ausbezahlung der Gehälter übernahm:
Dehlinger, Alfred: Württembergs Staatswesen in seiner geschichtlichen Entwicklung bis heute.
Erster Band. Stuttgart 1951. S. 461.
42
ein Girokonto eröffnen zur bargeldlosen Überweisung. Die Frage der Schulgüter
wurde endgültig erledigt. Ab Oktober 1927 erfolgte die Einweisung in das allgemeine Gehaltssystem der Beamten; es war die Einweisung in Besoldungsgruppe
8a. Ein Kuriosum eigener Art musste die Lehrerschaft über sich ergehen lassen,
mit dem das Dritte Reich seine ausgesprochene Lehrerfeindschaft bekundete: Der
größte Teil, der befördert worden war und den Titel „Oberlehrer“ tragen durfte,
wurde zurückgestuft, durfte jedoch den Titel „Oberlehrer“ behalten, musste ihn
aber in Klammer setzten, so dass ein solcher Lehrer amtlich als „(Ober)lehrer X“
(Klammeroberlehrer) bezeichnet wurde. Ein Fall, der in der Besoldungsgeschichte
sicher einzigartig dasteht!
(…)
Aber auch auf einige Vergünstigungen hat die Lehrerschaft freiwillig verzichtet:
Für seine eigenen Kinder war der Lehrer früher schulgeldfrei. Das Schulgeld betrug für ein Kind meines Wissens einen Gulden (1,70 Mark)191. Die Lehrerschaft
verzichtete auf die Vergünstigung, nur acht bis zehn Wochen Militärdienst leisten
zu müssen. Der Erste Weltkrieg hätte sowieso eine Änderung erzwungen.
In Reutlingen-Betzingen (1928 – 1953)
Am neuen Orte hatte ich das siebte bzw. achte Schuljahr zu übernehmen, eine
gemischte Knaben- und Mädchenklasse mit 30 Schülern. Dazu Turnen an der Klasse des Rektors; auch neue Fächer, die an der einklassigen Schule nicht erteilt
worden waren, wie Werkunterricht. So musste ich mich in viele Stoffe neu einarbeiten. Gleich nachdem ich die Arbeit am 1. Mai 1928 aufgenommen hatte, musste ich mich einer schweren Halsoperation unterziehen. Aber nachdem alles glücklich überstanden war, ging’s mit neuem Eifer an die Arbeit. Später hatte ich auch
eine gemischte Klasse mit 63 Schülern, wobei ich allerdings noch Aushilfe von anderen Lehrkräften hatte. So war ein angenehmes Arbeiten möglich. Aber der politische Horizont umwölkte sich, und die Arbeitslosigkeit nahm erschreckend zu. Ein
neuer Mann zog die Massen an. Ich wollte mir Klarheit über die neue Bewegung
verschaffen. Ich glaube, es war in der zweiten Hälfte 1932, wo eine neue Reichstagswahl vor der Tür stand192. Hitler sprach auf einer Wahlversammlung in Reutlingen193, und ich wollte ihn auch hören. Aber er konnte mich mit seinen Ausführungen nicht überzeugen. Nun holte ich auf der Lehrerbibliothek sein Buch „Mein
Kampf“. Das Buch war dazumal so wenig begehrt, dass ich es gleich mitnehmen
konnte. Doch auch dieses Werk konnte mich nicht umstimmen. Neben meiner
Schularbeit hatte ich auch noch den Gesangverein „Reutlinger Sängerkranz“ übernommen, der zwar keine bedeutende Rolle spielte, aber von mir nach fleißiger
Arbeit zu sehr schönen Leistungen geführt werden konnte. Auch im Schwäbischen
Albverein hatte ich den Posten des Vertrauensmannes übernommen.
Nach der Machtübernahme begann eine Umwertung aller Werte. Auch die Lehrerschaft der Ober- und Volksschulen strömte in Massen der neuen Partei zu. 1933
191
Das (hier gerundet umgerechnete) Beispiel bezieht sich auf die Zeit vor der 1873 erfolgten Einführung der Markwährung; der angegebene Betrag lässt sich nicht belegen. Die Erhebung und
Festsetzung des Schulgelds lag innerhalb bestimmter Grenzen im Ermessen der Städte und Gemeinden. Die allgemeine Schulgeldfreiheit für Volksschulen wurde erst nach 1918 eingeführt: Friederich, Gerd: Die Volksschule in Württemberg im 19. Jahrhundert (Studien und Dokumentationen
zur deutschen Bildungsgeschichte, 6). Weinheim und Basel 1978. S. 166.
192
Gemeint ist die Reichstagswahl vom 31.07.1932.
193
Adolf Hitler sprach auf einer Großkundgebung auf der Reutlinger Rennwiese am 29.07.1932:
Schwarz, Paul und Schmid, Heinz Dieter (Hg.): Reutlingen. Aus der Geschichte einer Stadt. Reutlingen 1973. S. 205.
43
kam der Rektoratsposten in Betzingen zur Neubesetzung. Schulrat Wittmann forderte mich auf, mich um die Stelle zu bewerben. Ich antwortete: „Diese Stelle bekomme ich ja doch nicht!“ Er entgegnete: „Gerade solche Leute wie Sie braucht
das Dritte Reich!“ Endlich bewarb ich mich doch noch, weil ich der Behörde (Partei) die Ausrede nehmen wollte, zu sagen: „Sie hätten das Rektorat bekommen,
aber Sie haben sich ja nicht gemeldet.“ Natürlich erhielt ich, wie jedem halbwegs
Einsichtigen klar war, die Stelle nicht. Bald begannen die Angriffe auf die Lehrerschaft und ihre Verächtlichmachung. Ich erinnere mich noch genau an einen 1.
Mai, wo wir bei der Kundgebung auf der Rennwiese singen sollten und kurz vorher
von Goebbels in der übelsten Weise verächtlich gemacht worden waren, dass sich
sogar überzeugte Parteigenossen empörten. Überhaupt war der Widerstand aus
der Lehrerschaft größer als gemeinhin angenommen wird, und dass ältere Kollegen von jüngeren denunziert wurden. Ich erinnere mich auch an einen jüngeren
Lehrer, der die älteren Kollegen im Zeichensaal der Jos-Weiß-Schule „zusammenstauchte“ und nach dem Zusammenbruch als besonders verdienstvoller Gegner
der Nazis bevorzugt behandelt wurde. Selbstverständlich bekam auch ich Zweifel,
wenn ich die großen Leistungen sah, zum Beispiel Arbeitsbeschaffungsprogramm.
Aber dann ereigneten sich wieder Dinge, die mich in meiner Ablehnung bestärkten. Wir sahen beispielsweise öfters einen abgeschlossenen Omnibus aus Richtung
Hechingen kommen, dem immer ein Personenwagen folgte. Erst viel später erfuhren wir, dass er Insassen von Rottenmünster bei Rottweil194 nach Grafeneck
brachte, wo sie liquidiert wurden195. Das Ausland will den Deutschen nicht glauben, dass sie von diesen Vorgängen nichts wussten, aber es ist tatsächlich der
Fall.
Ich wusste, dass ich schon länger überwacht wurde auch von Kollegen, die sich
als meine speziellen Freunde ausgaben. Aber ich war auf der Hut, und in einem
geheimen Gutachten musste mein „Freund“, Überwacher und Obernazi Rektor
Wirsching zugeben, dass ich nicht zu durchschauen sei. Das war meine Absicht.
Bei den berüchtigten „Morgenfeiern“ hielt ich mich, soweit möglich, zurück und
sprach über unverfängliche Themen. Auch über meine religiöse Einstellung liegen
mir zwei geheime Berichte vor, die natürlich für mich nichts Günstiges enthielten,
besonders, da ich im Jahr 1934 den Organistendienst an der hiesigen Kirche übernahm, während er sonst immer abgegeben wurde und der Austritt aus der Kirche
erfolgte. Für die Betzinger Schule war ich schon vor dem Dritten Reich Kassier196
für den „Verein für das Deutschtum im Ausland“ (VDA)197 gewesen und behielt
dieses Amt auch nach der Machtübernahme bei. In einer Zusammenkunft der Kassiere sagte der von der Partei entsandte Redner unumwunden, dass die von der
Partei bei ihren Sammlungen ersammelten Gelder sehr oft gar nicht für den angegebenen Zweck verwendet würden. Systematisch bereitete ich eine Reihe von Änderungen vor und verschleierte die Beweggründe sorgfältig, so dass niemand sie
durchschaute. Schon 1934 gab ich zum großen Bedauern der Sänger den „Sän194
Zu dieser Zeit im ehemaligen Kloster Rottenmünster untergebrachte kirchliche Heilanstalt für
Geisteskranke.
195
In den Jahren 1940 und 1941 wurden in verschiedenen Anstalten, darunter auch in Grafeneck
(heute Ortsteil von Gomadingen, Kreis Reutlingen) Zehntausende Insassen von Heil- und Pflegeanstalten ermordet. Nach Protesten aus der Bevölkerung wurde dieses Euthanasieprogramm unter
strengerer Geheimhaltung und in vermindertem Umfang bis 1945 fortgesetzt.
196
Veraltet für: Kassierer.
197
1881 (unter anderem Namen) gegründeter und 1938 gleichgeschalteter Verein zur Pflege deutscher Kulturbeziehungen im Ausland.
44
gerkranz“ ab, weil ich voraussah, dass das Dritte Reich die Sänger zu seiner Sache
gebrauchen bzw. missbrauchen würde (was auch prompt geschah). Zum andern
1936 den Schwäbischen Albverein198, weil ich mich weigerte, das übliche Führerhoch auszubringen. Endlich 1938 meine Oberklasse199, obgleich sogar mein lieber
„Freund“ Wirsching zugeben musste, dass ich der geborene Oberklassenlehrer sei,
denn die vollständige Beschlagnahme der Oberklassen für Hitlerfeiern war vorauszusehen. Das von meinen Gegnern erwartete Fiasko an der Unterklasse trat nicht
ein. Ein geheimes Gutachten stellte schlicht fest: „Wer so gar keinen Zusammenhang hat mit der Partei und ihrem reichen Leben usw.“ Das genügte wohl auch
dazu, mir jede Anerkennung zu versagen. Im Jahr 1936 und noch ein weiteres Mal
sollten besonders tüchtige Lehrer durch bevorzugte Beförderung ausgezeichnet
werden. Wie mir Schulrat Wittmann sagte, stand ich an zweiter Stelle des Beförderungsvorschlages. Befördert wurden aber, wie zu erwarten stand, verdiente Parteigenossen. Noch ein anderer Vorfall musste mich erregen: Mein Rektor und
„Freund“ Wirsching wohnte im gleichen Schulhaus neben mir, hatte aber die bessere Wohnhälfte. Nun wurden in seinen Teil 7 000 Mark verbaut, in meinen Teil
gar nichts, obwohl mir schon längere Zeit der Einbau eines Bades versprochen
war. Als ich deshalb bei dem städtischen Baudirektor vorstellig wurde, sagte Wirsching, dass derartige Dinge auch über den Schulleiter, also ihn, gehen mussten.
In diesem Augenblick entschloss ich mich, selbst ein Haus zu bauen, und ich beschleunigte die Vorarbeiten so, dass innerhalb sechs Wochen mit den Bauarbeiten
begonnen werden konnte und dass das Haus auf 1. April 1937 bezogen werden
konnte.
Andere Aspekte zeigten allmählich das wahre Gesicht der NSDAP. Bezeichnend
war auch, dass 1937 oder 1936 alle Reserveoffiziere gemustert wurden. Da ich im
Februar 1918 zum Leutnant der Reserve befördert worden war, musste ich mich
auch beteiligen. Der Befund lautete „g.v.h.“200 (Heimat), was allerdings nicht hinderte (sic), dass ich im August 1939 sofort eingezogen wurde und ins Feld kam.
Man spürte allerorten, dass der Sturm bald losbrechen würde. Ende August 1939
kam es ja zum Kriegsausbruch201. Von einer Begeisterung für einen gerechten
Krieg war nichts zu merken; es war eher eine fatalistische Ergebung in eine unvermeidliche Sache. Gleich am ersten Tag wurde auch ich eingezogen (neben zwei
Söhnen und einem Schwiegersohn). Nach kurzem Aufenthalt in Urach ging es ins
unbekannte Ziel ab, und wir entstiegen nach einigen Tagen dem Transportzug in
Krosno in Galizien202 (Ölfelder). Trotzdem mein ärztlicher Befund nur „g.v.h.“ lautete, war ich einer fechtenden203 Truppe zugeteilt, einem Landesschützenbatallion204. Doch schon auf 31. Dezember 1939 wurde ich wegen Umgruppierungen bei der Truppe in die Heimat entlassen und kehrte in den Schuldienst zurück.
198
Laut Vereinschronik war Willmer von 1930 bis 1937 Vertrauensmann der Ortsgruppe Betzingen:
Internetauftritt der Ortsgruppe Betzingen des Schwäbischen Albvereins e.V., abgerufen am
07.11.2011.
199
Siebtes und achtes Schuljahr.
200
Willmer nennt hier irrtümlich einen zu dieser Zeit nicht mehr verwendeten, aus dem Ersten
Weltkrieg stammenden Tauglichkeitsgrad.
201
Gemeint ist hier wohl die am 30.08.1939 ausgerufene Generalmobilmachung. Der Angriff auf
Polen als Beginn der eigentlichen Kriegshandlungen fand zwei Tage später statt.
202
Stadt im Westen des (nach dem Ersten Weltkrieg an Polen gefallenen) ehemaligen österreichischen Kronlandes Galizien.
203
Hier verwendet im Sinne von „kämpfend“.
204
Truppe für Sicherungs- und Bewachungsaufgaben in der Heimat und im rückwärtigen Heeresgebiet.
45
Mit der Verschlechterung der Lage nahmen auch die Schwierigkeiten der
Schule zu. Ich hatte zum Beispiel ein zweites Schuljahr mit 72 Schülern (mehr hatten beim besten Willen nicht Platz!), dazu aber noch Unterricht an anderen Klassen. Unser großer Idealist Wirsching ließ sich einige Stunden Ermäßigung geben,
die die Nebenkollegen ohne Entschädigung übernehmen mussten, während er an
der Meisterschule Unterricht übernahm, natürlich gegen Bezahlung. Die zunehmenden und immer stärker werdenden Luftangriffe machten zuletzt einen halbwegs geregelten Unterricht unmöglich. Ende 1944 wurde alles zum Volkssturm205
erfasst. Da ich als gewöhnlicher Schütze206 eingeteilt wurde (man sieht daraus,
wie sehr man von meiner nationalsozialistischen Gesinnung überzeugt war), erhob
ich Einspruch, und siehe da – innerhalb einer Stunde war ich zum Zugführer ernannt. Die militärische Ausbildung des Volkssturms, soweit man von einer solchen
sprechen kann, war mir anvertraut. Die politische Aufklärung vertraute man mir
nicht an, glücklicherweise. Bei der militärischen Ausbildung sprach ich auch über
Rückzugsbewegungen und -gefechte. Es war am so genannten „Haldenacker“. Ich
erklärte, dass vielleicht die größte militärische Tat von Gneisenau207 sein Rückzugsbefehl nach Ligny gewesen sei, der die Schlacht bei Waterloo ermöglichte208.
Ein wahrer Feldherr bedenke nicht nur den Angriff, sondern auch den Rückzug.
Viele Deutsche verurteilten, dass der „Führer“ in Russland hinter der zurückweichenden Front starke Verbände zurücklasse, denn sie seien nur verlorene Haufen,
und (ich, G.P.) setzte hinzu: „Dieser Ansicht bin auch ich.“ Ein Mann aus dem
Volkssturm machte sich an mich heran und flüsterte mir zu: „Herr Willmer, passen
Sie auf. Da hinten steht einer und schreibt alles nach.“ So war ich auch beim
Volkssturmdienst „wohl behütet“. Nachdem auch Tübingen in französische Hand
gefallen war, machten sich die Spitzen der Partei auf ins Oberland zu ihren wohlgefüllten Lebensmittellagern. Ich blieb bei den andern Betzingern zurück. In der
Nacht vor dem Einmarsch kamen einige Betzinger Einwohner zu mir und baten
mich, das Dorf an die Franzosen zu übergeben. Bis fünf Uhr früh müsse die Mitteilung hierüber in Ohmenhausen209 sein. Ich lehnte nach längerem Überlegen ab.
Wohl spielte der Volkssturm keine militärische Rolle, aber es war noch eine Truppe
der Wehrmacht da, und diese würde sich meinen Anordnungen nicht fügen. Wenn
also Widerstand geleistet wurde, was sicher war, würde das auf die Zivilbevölkerung zurückfallen und müsste für das Dorf üble Folgen haben. So nahmen die
Dinge ihren Lauf.
Zunächst ruhte die gesamte Schularbeit; es gab in der Tat wichtigere Aufgaben,
die lebenswichtig waren. An den Beginn des Unterrichts war nicht zu denken. Als
ich wenige Tage nach dem Einmarsch zufällig zum Schulhaus in der Hoffmannstraße kam, sah ich, wie hier gehaust worden war: die Kästen mit Werkzeug für
den Werkunterricht restlos ausgeräumt, hauptsächlich von Betzingern, aber auch
von Auswärtigen. Im Rektorat der Telefonapparat zerschlagen und alles zertrümmert und beschmiert. Die vielen hundert Bändchen Klassenlesestoff bis aufs letzte
205
Ab September 1944 zur Verteidigung der Heimat gebildete Truppe, bestehend aus waffenfähigen und nicht der Wehrmacht angehörenden Jungen und Männern im Alter zwischen sechzehn und
sechzig Jahren.
206
Niederster Mannschaftsdienstgrad der Infanterie.
207
Neidhardt Graf von Gneisenau (1760 – 1831), preußischer Heerführer und bedeutendster militärischer Gegenspieler Napoleons in den Befreiungskriegen.
208
Ort südlich von Brüssel, bei dem die napoleonischen Truppen am 18.06.1815 vernichtend und
endgültig geschlagen wurden.
209
Nachbarort von Reutlingen-Betzingen, 1949 nach Reutlingen eingemeindet: Schwarz, Paul und
Schmid, Heinz Dieter (Hg.): Reutlingen. Aus der Geschichte einer Stadt. Reutlingen 1973. S. 263.
46
Stück weg, überall ein Bild sinnloser Zerstörungswut. Den Sommer über wurden
die Schüler mit der Suche nach den gefürchteten Kartoffelkäfern beschäftigt. Am
19. Juli 1945 war ich mit der Leitung der Schule in Betzingen beauftragt worden.
Endlich, ich glaube, es war September, Oktober geworden, durfte mit Genehmigung der Militärregierung der Schulunterricht aufgenommen werden. Doch nun
zeigte sich erst so richtig, wie trostlos die Lage für die Schule war. Es fehlte an
allem: an Büchern, Heften, Griffeln, Schreibfedern und was man sonst braucht.
Die alten Bücher durften nicht mehr verwendet werden; neue waren noch nicht
da. Von der Lehrerschaft waren wohl 90 Prozent als politisch belastet entlassen
worden. Doch schon, trotz allem Jammer, ging Schulrat Baßler daran, neue Lehrer
auszubilden. Bei der Auswahl hiezu (Voraussetzung Abitur) wirkten auch mein
Kursgenosse Goller sowie ich mit. Die schriftliche und mündliche Prüfung war vorbei, da kamen wieder andere Pläne dazwischen: Die gesamte Lehrerschaft von
Südwürttemberg210 wurde in einwöchigen Kursen im Olympia-Theater in Reutlingen einer „Umschulung“ unterzogen. Schulrat Baßler wurde wegen Verwendung
unerlaubter Lernmittel, einer Sache, an der er selbst schuldlos war, dienstentlassen durch die Militärregierung.
Am 11. Januar 1946 wurde ich mit der Leitung des Bezirksschulamts Reutlingen
beauftragt. Das Bezirksschulamt Urach wurde aufgelöst und seine im Kreis Reutlingen gelegenen Schulorte dem Schulamt Reutlingen zugeteilt. Eine Stelle für einen zweiten Beamten wurde geschaffen (bis 1950 etwa, aber nie besetzt). Alsbald
trat ich in Besprechungen mit dem französischen Oberleutnant Wagner und dann
Capitaine211 Obrecht ein wegen Lesestoff. Ich konnte die Erlaubnis erwirken, dass
die alten Lesebücher I, II und III, Ausgabe 1910, verwendet werden durften unter
Weglassung einzelner Stücke (zum Beispiel Siebzigerkrieg212 usw.); auch mussten
die Bücher in der Schule bleiben, also nicht nach Hause genommen werden. Nun
begann überall ein Suchen nach diesen alten Lesebüchern, das auf dem Lande
meist recht erfolgreich war. Es wurde eine Bestandsaufnahme gemacht, was für,
wie viel, welcher Lesestoff in den einzelnen Gemeinden vorhanden war und dieses
Verzeichnis den einzelnen Schulen zugeschickt. Später kam auch eine neue Fibel
von dem Verlag Burda, die aber sehr große Mängel hatte. Es folgten auch neue
Lesebücher. Der Schuljahrsbeginn wurde auf Herbst festgesetzt (später auf Frühjahr verlegt, 1966/67 wieder auf Herbst!). Alle Lehrer- und Schulbibliotheken
mussten einer Überprüfung unterzogen werden, wobei die eigenartigsten Dinge zu
Tage kamen (zum Beispiel Handgranaten noch im April 1946!). Die Bemühungen
des Bezirksschulamts mussten vielfach auf die einfachsten Dinge gerichtet sein:
Schulhefte und andere Lernmittel, die ihm zugingen, mussten an die Schulen verteilt und weitergeleitet werden. Fragebogen (über die politische Vergangenheit)
mussten überprüft werden. Sogar die Erteilung von Privatunterricht jeglicher Art
von Einwohnern des Kreises ging über das Bezirksschulamt an die Militärregierung.
Alle Schulwandkarten mussten vor ihrer Zulassung dem französischen Schuloffizier
(Capitaine Obrecht) vorgelegt werden. Er zeigte sich dabei im Allgemeinen verständigungsbereit (er war selber Lehrer). Sehr große Vorliebe scheinen die Franzosen für Statistiken zu haben. Zweimal im Monat war eine umfassende Statistik
über das Schulwesen des ganzen Kreises einschließlich Oberschulen, Gewerbeschulen, Handelsschulen, Privatschulen usw. auszufertigen.
210
Gemeint ist die Verwaltungseinheit bzw. das bis 1952 bestehende Land WürttembergHohenzollern.
211
Hauptmann.
212
Deutsch-französischer Krieg 1870/71.
47
Die Einstellung neuer Lehrkräfte sowie die Versetzung der bereits vorhandenen
war ganz den Bezirksschulämtern überlassen, musste aber natürlich der Landeskultdirektion (später Kultministerium, noch später Kultusministerium) zur Genehmigung vorgelegt werden. Diese vorläufige und dann endgültige Versetzung usw.
gab natürlich vermehrte Arbeit. Da manche Lehrkräfte infolge ihrer politischen
Vergangenheit immer wieder entlassen wurden, gab es ständigen Wechsel. Es gab
Tage, an denen zwanzig Versetzungen bzw. Entlassungen ausgesprochen werden
mussten. Da in der amerikanischen Zone eine strengere Beurteilung der politischen Vergangenheit üblich war, benutzten das manche Lehrer und ließen sich in
Südwürttemberg eine Stelle zuteilen. Später kamen Erlasse, nach denen die Betreffenden zu entlassen waren. Auf die Wünsche der vielen Flüchtlingslehrer war,
soweit möglich, Rücksicht zu nehmen. Sogar einige Studienräte machten an der
Volksschule Dienst. Das Dritte Reich hatte sich einen Sport daraus gemacht, evangelische Lehrer an katholische Schulen (so genannte „Deutsche Schule“213) und
umgekehrt zu versetzen. Diese strebten jetzt, an ihnen entsprechende Schulen zu
kommen. Die Frage „Bekenntnisschule oder Gemeinschaftsschule?“214 spielte
schon eine große Rolle. Da die politische Überprüfung der Lehrer des Kreises
Reutlingen nach meinen Beobachtungen strenger gehandhabt worden war als anderswo, sandte ich an die Landeskultdirektion eine eingehende Darstellung mit
Darlegung verschiedener besonders dringlicher Fälle und bat um erneute Überprüfung dieser Fälle und Milderung für den ganzen Kreis. Es erfolgte nicht einmal eine
Antwort darauf! Allmählich konnte auch rein pädagogischen Fragen mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden. Eine Arbeitsgemeinschaft für Religion war gegründet und hatte ihre Tätigkeit aufgenommen. Weitere Arbeitsgemeinschaften
mit Einteilung des Kreises in mehrere Zirkel waren geplant und standen vor ihrer
Eröffnung. Viele Lehrer hatten auch immer noch Unterricht an Neben- und Parallelklassen zu erteilen. Auch für mich trat eine Änderung ein: Schon geraume Zeit
hatte ich die Landeskultdirektion im Verdacht, mich in gewissen Fragen zu hintergehen. Ich teilte ihr daher mit ausführlicher Begründung mit, dass ich ab 1. Mai
1947 wieder an meine Schulstelle nach Betzingen zurückkehren werde.
Es musste mit Hochdruck daran gearbeitet werden, die Schulverhältnisse immer
mehr zu normalisieren. Das hatte große Schwierigkeiten, denn die Einwohnerzahl
stieg ständig. Der Zeichensaal musste schon lange als Klassenraum verwendet
werden; die beiden Handarbeitslehrerinnen hatten teilweise gleichzeitig im Handarbeitsraum zu unterrichten. Die Abortverhältnisse waren äußerst mangelhaft.
Die Turnhalle wurde (zweimal) umgebaut, was übrigens nicht meinen Beifall fand.
Ich hätte es lieber gesehen, wenn die Turnhalle erhalten geblieben wäre und eine
Gemeinde- und Festhalle neu erstellt worden wäre. Dieser Wunsch ist bis heute
nicht erfüllt. Gegen die Planung eines Schulneubaus an einem nach meiner Ansicht
falschen Platze musste Stellung genommen werden. Um 1950 war mir versprochen, dass für die Erstellung des nächsten Neubaus nun Betzingen ersehen (sic)
213
Die genaue Bezeichnung lautete „Deutsche Gemeinschaftsschule“. Sie löste 1936 die seitherigen
Bekenntnisschulen ab, die jedoch nach 1945 wieder zugelassen wurden: Dehlinger, Alfred: Württembergs Staatswesen in seiner geschichtlichen Entwicklung bis heute. Erster Band. Stuttgart
1951. S. 463.
214
Endgültig geklärt wurde diese Frage in Baden-Württemberg erst 1967 zugunsten der überkonfessionellen christlichen Gemeinschaftsschulen, wobei jedoch für Südwürttemberg-Hohenzollern
weiterhin Bekenntnisschulen in privater Trägerschaft zugelassen wurden: Endemann, Fritz: Die
Landesverfassung und ihre Entwicklung. In: Bausinger, Hermann u.a.: Baden-Württemberg. Eine
politische Landeskunde. 4. Auflage, Stuttgart 1996. S. 67-88, hier: S. 79 f.
48
sei. Es dauerte aber bis 1966, und dann wieder zu klein. Nun konnte auch wieder
ein Kinderfest veranstaltet werden, ein Zeichen der Stabilisierung der Verhältnisse.
Durch die hohen Schülerzahlen in der Nachkriegszeit (bis zu 80 bis 100 Schüler)
hatten sich meine gesundheitlichen Verhältnisse verschlechtert; hinzu kam Arthritis. So entschloss ich mich, auf die Beendigung meines 65. Lebensjahres um meine Versetzung in den Ruhestand einzukommen und beendete am 30. September
1953 meine Schultätigkeit.
Nachtrag: Kritik der Lehrerausbildung215
Hat das Seminar uns die notwendige Ausbildung für das Lehreramt mitgegeben?
Diese Frage möchte ich nach Beendigung der Tätigkeit in Boll zu beantworten versuchen. Oft hört man diese Frage stellen, und meist erfolgt die Antwort: „Das habe ich in der Schule (bzw. Seminar) nicht gelernt!“ Nun, so leicht will ich mir die
Antwort nicht machen. Aber es gibt Kenntnisse und Tätigkeiten, die vor Ausübung
eines Berufes dem noch in der Ausbildung Begriffenen übermittelt werden müssen. Das gilt auch für den Beruf des Lehrers. Nun habe ich schon im Vorhergehenden des Öfteren ein Wort der Kritik ausgesprochen. Trotzdem will ich auf diese
Punkte nochmals zurückkommen.
Rektor Frohnmeyer erteilte in Religion, Ethik usw. einen guten Unterricht, Professor Häcker in Geschichte, Sprachlehre, Literatur, Aufsatz ebenfalls gut und sehr
fleißig, Oberlehrer Schäffer in allen Musikfächern ebenfalls gut und anregend.
Dass wir nie ein Theater (Oper usw.), ein Symphoniekonzert, ein Quartett, einen
Klaviersolisten, ein gutes Chorkonzert usw. besuchten oder Erläuterungen über die
Instrumente des Orchesters erhielten, hätte sich sicher vermeiden lassen, und so
hätte Manches aus dem Musikleben uns nahe gebracht werden können. Schon in
der Präparandenanstalt hätte der Unterricht sich stärker über den Volksschulunterricht erheben müssen. Doch nun zu den „Sorgenkindern“! Oberlehrer Schwarzmaier war für Mathematik und Naturwissenschaft verantwortlich. Aber er war alt
und verbraucht, litt an Asthma und war gesundheitlich nicht auf der Höhe. Doch
muss ich anerkennend feststellen, dass er uns einen Begriff des mathematischen
Geistes beibringen konnte. Insoweit also keine Klagen. Aber was uns auf dem Gebiet der Naturwissenschaft widerfuhr, ist unglaublich und unverantwortlich! In
Physik wurde kein Apparat vorgezeigt noch vorgeführt. Selbst die vorhandenen
nicht, mit Ausnahme einer Atwoodschen Fallmaschine216, die einst der Vater eines
Seminaristen gebastelt hatte und die verbogen und unbrauchbar war. Wenn
schon, wurde alles als „Kreidephysik“ dargeboten. Endlich kam ein junger, noch
unständiger Lehrer als Stellvertreter, der noch Einiges zu retten suchte. Aber von
Elektrizität haben wir im ganzen Seminar nie ein Wort gehört! In Geologie wurde
nie ein Handstück gezeigt; von geologischen Lerngängen war nie die Rede! Nie
haben wir den Namen Mikroskop erwähnen hören, noch hat ein Einziger einen
Blick damit tun dürfen. So könnte die Reihe noch lange fortgesetzt werden. Es
mag genügen. Oberlehrer Fauth, der Zeichenlehrer, sollte auch den Unterricht in
Geometrie erteilen. Da er nach eigenem Geständnis nichts davon verstand, unterrichtete an seiner Stelle ein unständiger Lehrer, wo wir gut versorgt waren. Wir
215
Ausweislich des zweiten Satzes wurde dieses Kapitel 1928 oder wenig später geschrieben und
könnte somit der älteste Teil von Willmers Lebenserinnerungen sein. Nicht auszuschließen ist aber
auch, dass der hier wiedergegebene Text die überarbeitete Fassung eines älteren ist. Für eine
Abfassung im fortgeschrittenen Alter sprechen zum Beispiel zahlreiche Verschreibungen im Original
und stilistische Mängel.
216
1784 von George Atwood erfundene Vorrichtung zur Demonstration von Bewegungsgesetzen.
49
zeichneten als Seminaristen der letzten Klasse meist dasselbe wie die Schüler der
Übungsschule: Schachteln, Kasten, Blumentöpfe usw. Deshalb auch hier Unzufriedenheit. Von irgendwelchen Belehrungen über Kunst, über die wichtigsten Baustile, war keine Rede.
Das Schlimmste war freilich die Einführung in ein Fach, das das Wichtigste sein
sollte: der Schulunterricht in seiner Praxis, durch Oberlehrer Köbele. Wohl hatte er
ein Büchlein herausgegeben „Die Methode des Schulunterrichts“217. Doch darin
stand überhaupt nichts Positives. Die Untergliederung der Abschnitte nach A), a),
aa), I) und 1) schien das Wichtigste zu sein, oder dass die Schüler „mit raschem
Zehenspitzengang“ bei Bedarf zum Lehrer an den (sic) Pult kamen. Von Besprechungen der drei Lehrer an der Übungsschule zur Klärung mancher Fragen war
keine Rede. Zwar glaube ich nicht, dass er die Befähigung nicht gehabt hätte.
Aber er war unglaublich faul. Einer seiner Enkel sagte später: „Mein Opa ist a faule
Sau“! Seine Frau besaß dazu die nötige Einbildung. Unterricht in Privatunterricht
gegen gute Bezahlung konnte er wohl erteilen. Nun, des Jammers ist genug. Ich
muss noch anfügen, dass wir mit den jungen, den unständigen Lehrern aller Fächer wohl zufrieden sein konnten. Besonders einem derselben, dem Unterlehrer
Klein, waren wir dankbar, dass wir mit ordentlicher Zurüstung ins Schulleben entlassen werden konnten. Die vorgesetzte Behörde, das Evangelische Konsistorium,
musste doch Kenntnis dieser Zustände haben. Es erfuhr ja sonst auch alles, wenn
sich ein Seminarist oder junger, auch älterer Lehrer etwas zuschulden kommen
ließ. Auch in der Stadt Nagold gab es unter der Bevölkerung Aufpasser und Zuträger genug. Noch muss ich anfügen, dass wir von dem Fach Chemie nicht einmal
den Namen hörten. In ein Mikroskop hat nie von uns einer im Unterricht einen
Blick getan usw. usw.
Was blieb in dieser üblen Lage zu tun? Ich habe schon früher ausgeführt, dass ich
als Anerkennungspreis mir das Buch von Chamberlain „Die Grundlagen des 19.
Jahrhunderts“ auf ein Anraten eines von mir geschätzten Lehrers wünschte. Als
ich in meinem einsamen Zimmer in Winterlingen mich an die Arbeit machte, musste ich bald erkennen, dass ich weit überfordert war. Ein Nachschlagewerk war
auch nicht vorhanden, also unüberwindliche Hindernisse überall. Ein Lexikon wäre
für mich notwendiger gewesen, aber leider! Darum: Weiterbildung auf der ganzen
Linie! Ich schloss mich daher einer in der Gegend Balingen – Ebingen sich bildenden Vereinigung jüngerer Lehrer an, die sich aber bald wieder auflöste, ohne ein
positives Ziel erreicht zu haben. Später schloss ich mich dort (in Nagold) dem
„Verein jüngerer Lehrer“ (an, G.P.) und leitete ihn mehrere Jahre. Geboten wurde
hauptsächlich aus dem Gebiet der Literatur sowie aus dem der Naturwissenschaften. Ferner veranstalteten wir Kränzchen für die Lehrer des ganzen Schulbezirks.
Als ich nun auf einer einklassigen Schule unterrichtete218, wurde die Lage immer
schlimmer. Wohl sprach ich auch von Sauerstoff, Stickstoff usw., doch da ich
selbst keine Ahnung hatte, schämte ich mich selbst vor (sic) einer solchen Unterrichtsweise.
Da las ich in einer Lehrerzeitung, dass am Katholischen Seminar219 ein Kurs in
Chemie abgehalten werde zur Weiterbildung. Da meldete ich mich kurz entschlossen. Man bedenke: ein evangelischer Lehrer ohne jede Vorbildung an einem ka217
Gemeint ist wohl dessen 1900 erschienenes Werk „Praktische Methodik für Lehrseminaristen
und angehende Lehrer“.
218
Gemeint ist die Zeit in Boll.
219
Katholische Schullehrerseminare gab es zu dieser Zeit in (Schwäbisch) Gmünd und Saulgau:
Hof- und Staatshandbuch des Königreichs Württemberg. Ausgabe 1910. Stuttgart 1910. S. 157.
50
tholischen Seminar! Aber ich wurde zugelassen. Zwar war ich mir klar, dass für
mich nur ein bescheidenes Ergebnis sich ergeben werde, doch wollte ich’s wagen.
Natürlich erhielt ich für alles keinen Ersatz, weder Fahrgeld, Zehrgeld noch irgendetwas; der Zeitaufwand ging zu meinen Lasten. Nach einiger Zeit fand wieder ein
Kurs in Sulz am Neckar statt, dem ich mich wieder zu gleichen Bedingungen anschloss. Die Ausführungen waren jedoch mehr unterrichtsbezogen, so dass ich
mich nach weiteren Studien in diesem Fach eher zurechtfand. Außerdem besuchte
ich später Kurse für Elektrizität in Reutlingen, Pfullingen220 usw.; eben wo sich Gelegenheit bot, selbstverständlich ohne jegliche Entschädigung für Zeitaufwand,
Fahrgeld. Im Lehrerverein Reutlingen fanden um 1930 laufend Vorträge über Fragen der Geschichte statt, die ich laufend besuchte. Später folgten Vorträge in der
Volkshochschule Reutlingen, wobei mich besonders geologische Fragen beschäftigten mit anschließenden Wanderungen. Fragen der Kunstgeschichte führten
mich durch weite Teile Württembergs auf den dazugehörigen Fahrten. Kurse für
Musik führten mich nach Weilheim unter Teck221 zu Dirigent und Komponist Arnold; auch an das Konservatorium in Stuttgart, worüber sogar eine amtliche Bescheinigung ausgestellt wurde, natürlich ohne jede Beihilfe finanzieller Art. Ein
anderes Mal ging ich nach Winnenden222, wo ein Lehrer namens Reiff eine gute
Einführung in die neue württembergische Fibel gab.
Das war nur eine Auslese. Warum tat ich es dann, da ich für alle Mühe und Ausgabe nie einen Ersatz erhielt? Weil ich es vor meinen Schülern und deren Eltern
nicht wagen konnte, mich mit derart mangelhaften Voraussetzungen, wie sie bei
unserer Klasse223 vorlagen, vor meine Schüler zu treten. Noch ein anderer Punkt
war zu beachten. Früher wurde dem Lehrer oft und oft vorgeworfen: Was wollt
denn Ihr? Das halbe Jahr habt Ihr ja Vakanz224! Daran ist manches richtig, doch
geschah es nicht wegen des Lehrers, sondern um die Hilfe der Kinder im Heuet225,
(bei, G.P.) der Ernte usw. zu haben. Nun hoffe ich, gezeigt zu haben, wozu er seine Freizeit verwenden konnte und musste, ganz abgesehen von der täglichen Vorbereitung, Korrekturen usw. Vielleicht kommt mancher der Kritiker nun zu etwas
anderen Ansichten.
©2014 Gerhard Prinz. Alle Rechte vorbehalten.
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Stadt im heutigen Kreis Reutlingen.
Richtig: Weilheim an der Teck, Stadt im heutigen Kreis Esslingen.
Stadt im heutigen Rems-Murr-Kreis.
Gemeint ist die Klasse im Nagolder Schullehrerseminar.
Veraltet für: Schulferien.
Mundartlich für: Heuernte.
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