Abstracts der Vorträge

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Abstracts der Vorträge
Interdisziplinärer Workshop des DFG-Graduiertenkollegs Geschlecht als Wissenskategorie
an der Humboldt-Universität zu Berlin
Geschlecht als Tabu
Orte, Dynamiken und Funktionen
Abstracts
Inhaltsverzeichnis
Joan Cadden,
Sodomy and Shame in Medieval Science: Silence, Speech, and Laughter
3
Sabine Grenz,
Heldinnenhaftes Entbehren. Tabuisiertes Begehren am Ende des Zweiten Weltkriegs
4
Konstanze Hanitzsch,
Inzest und Shoah: Eine vergleichende Untersuchung in Max Frischs Homo Faber
und Ingeborg Bachmanns Malina
5
Ellen Harlizius-Klück,
Das unendliche Geschlecht: Löcher und Lücken im Gewebe der Mathematik
6
Annette Knaut,
Frauen im Deutschen Bundestag: Indizien und Funktion der Tabuisierung von Exklusion
7
Daniela Hrzán,
„If Your Vagina Could Talk, What Would It Say?“: Taboo, Transgression, and the
Politics of Voice in Eve Ensler’s The Vagina Monologues
8
Jennifer John,
Ent-tabuisierung? Einschreibungen von Geschlecht in die Praktiken des Kunstmuseums
9
Angela Koch,
Das „unsägliche“ Verbrechen – sexuelle Gewalt im Film
10
Bea Lundt,
Zeugungskraft oder zölibatäre Spiritualität?: Die Männlichkeit des weisen Herrschers
im Mittelalter am Beispiel der Exempelsammlung „Die Sieben Weisen Meister“
11
Bettina Mathes,
Der Wille zum Tabu: Iokaste, Ödipus und die Sphinx im Feld des Wissens
13
Beatrice Michaelis,
Recht verschwiegen: Das „Tabu“ der Sodomie in der Sprache
des mittelalterlichen Rechts
14
Bruno Perreau,
Suspicious Speech: Adoption Policies and the Performative
15
Kathrin Peters,
Zeichen der Scham: Fallstudien aus der fotografischen Klinik um 1900
16
Volker Woltersdorff,
„Meine Dämonen füttern“ – paradoxe Bearbeitungen von Geschlechtertabus in der
sadomasochistischen Subkultur
17
2
Joan Cadden,
Sodomy and Shame in Medieval Science: Silence, Speech, and Laughter
The power to regulate, and thus to speak with authority about, sex acts and the sexual body
was contested in the late Middle Ages. Religious doctrine, social norms, and scientific
knowledge coincided on some points (e.g., the stigmatization of homosexual pleasure) but
diverged on others (e.g., the origin and management of such pleasure). Even as they
claimed the right to control knowledge of sex in general and male homosexual desires in
particular, university trained physicians and natural philosophers disagreed among
themselves. Their impulses to silence, speech , and laughter were manifested in the textual
culture of the time.
3
Sabine Grenz,
Heldinnenhaftes Entbehren. Tabuisiertes Begehren am Ende des Zweiten Weltkriegs
Im Mittelpunkt dieses Vortrags stehen Tagebücher von als 'deutsch' anerkannten Frauen im
Zweiten Weltkrieg. Die Analyse bezieht sich vornehmlich auf das Kriegsende in Deutschland.
Die Tagebücher lassen sich grob in zwei Gruppen aufteilen, in solche, die für andere (etwa
in Briefform) geschrieben wurden und solche, die vor allem der eigenen Reflexion dienten.
Herausgefunden werden soll, welche Begehren die Frauen artikulieren und welche nicht
genannt werden und wie darüber Weiblichkeit hergestellt wird. Weiterhin soll untersucht
werden, ob sich diese Artikulationen unterscheiden, je nachdem ob das Tagebuch für andere
oder zur eigenen Reflexion geschrieben wurde. Daraus können vorsichtige Rückschlüsse
darauf gemacht werden, inwieweit bestimmte Beschreibungen dazu dienen, eine 'weibliche'
Maske aufzusetzen bzw. diese Weiblichkeitskonstruktionen zur Wirklichkeit des eigenen
Leibes geworden sind.
4
Konstanze Hanitzsch,
Inzest und Shoah: Eine vergleichende Untersuchung in Max Frischs Homo Faber und
Ingeborg Bachmanns Malina
In meiner Magisterarbeit Schuld und Geschlecht behandele ich die Verdrängung der Schuld
anhand der Feminisierung der Shoah, welche zu Selbsteinopferung führt. In einem Kapitel
meiner Arbeit analysiere ich Max Frischs Homo faber und Ingeborg Bachmanns Malina im
Hinblick auf die Verdrängung der Shoah. Diesen Aspekt möchte ich gern vortragen. In
beiden Romanen steht das Tabu des Inzests (das Familiengeheimnis) vor der Shoah und
verdrängt dieses andere ‘Familiengeheimnis’. In einer literaturwissenschaftlichen und
psychoanalytischen Auseinandersetzung mit den Texten wird die Bedeutung des Tabus für
die Verdrängung deutlich. Dabei wird die kanonisierte Vorstellung des mit griechischen
Vorbildern (Ödipus) operierenden Homo faber als Auseinandersetzung zwischen Natur und
Kultur entlarvt als Geschichte einer Verdrängung von Schuld und der Shoah, die
naturalisiert an Geschlecht gebunden ist. Die geschlechtlichen Zuweisungen von Natur und
Kultur verdecken das Inzeststabu, dies Widerrum verdeckt die Shoah und verdrängt
letztendlich die Schuld. Das Inzesttabu dient einer Naturalisierung von „Männlichkeit“ und
„Weiblichkeit“ und einer geschlechtlich codierten Schuldabwehr. In Ingeborg Bachmanns
Malina besteht der Tabubruch darin, dass die Autorin das Verhältnis zwischen Mann und
Frau mit faschistischen Strukturen beschreibt. Opfer und Täter scheinen geschlechtlich
eindeutig definiert zu sein. Das Tabu des Inzests tritt bei Bachmann auch als ein
Familiengeheimnis hinzu, welches jedoch nur Platz in ihren Träumen hat. In diesen sind die
Shoah und die Vernichtung der jüdischen Menschen mit ihrer Selbstidentität verbunden.
Erst als das Ich in den Träumen begreift, dass nicht „ihr“ Vater ihr Peiniger ist, erkennt sie
hinter dem Inzest die Shoah und die eigene Mittäterschaft als einen Grund ihres Leidens.
Hier ist der Inzest mit dem Sprechverbot – dem ‘Gesetz des Vaters’ als Verhinderung der
Existenz als ‘Frau’ – verbunden. Das Tabu des Inzests verhindert ein Nachdenken und eine
Verarbeitung der Vergangenheit. Das Inzesttabu verbirgt hier das Tabu der Mittäterschaft
an der Shoah.
5
Ellen Harlizius-Klück,
Das unendliche Geschlecht: Löcher und Lücken im Gewebe der Mathematik
Um .the fabric of mathematics. vor Schäden zu bewahren, die durch allzu sorgloses
Argumentieren entstehen, weil Mathematiker die .difference of cultures. zwischen ihrer
Disziplin und anderen Naturwissenschaften nicht beachten, forderten Jaffe und Quinn 1993
im Bulletin of the American Mathematical Society die Besinnung auf ursprüngliche
mathematische Tugenden. Wer diese Tugenden nicht aufweise, argumentiere wie .the
woman who could trace her ancestry to William the Conqueror with only two gaps..
Nun ist weder bekannt, dass Frauen ein besonderes Interesse an genealogischer Forschung
hätten, noch bevölkern sie in größerer Zahl die hier als bedrohlich empfundene theoretische
Physik. Der Vergleich gibt aber einen subtilen Hinweis darauf, dass es bei den Deduktionen
der Mathematik um Stammlinien geht, und dass Frauen, sofern Sie ein Interesse an eigenen
Stammlinien haben, diese nur lückenhaft rekonstruieren können, da alle Linien vom Vater
zum Nachwuchs gehen? Liegt hier einer möglicher Zugriff auf das Geschlecht als verhüllte
Wissenskategorie in der Mathematik vor? Kann man solch einen dummen Scherz ernsthaft
für die Analyse der Frauenabstinenz in der Mathematik nutzbar machen? Solche
Bemerkungen sind als Ausschlussbeleg nicht tragfähig, denn Frauen sind in der Mathematik
nicht tabu. Wer auf solcher Grundlage argumentiert, fällt sogleich unter das ausgesprochene
Verdikt selbst: das Gewebe der Mathematik durch unsaubere Deduktion zu beschädigen.
Tabus in Fachkulturen sind meist solch subtile Deutungsverbote. Sie gelten auch dort, wo
das Geschlecht in der Mathematik theoretisch und terminologisch wird. Geschlecht ist ein
mathematischer Terminus für die Anzahl verformungsinvarianter Röhren in einer
dreidimensionalen Oberfläche. Ihre Analyse dient der mathematischen Beschreibung von
Hüll-Körpern; in der theoretischen Physik beispielsweise der Beschreibung von Welt-Tüchern
und Raum-Zeit-Hosen. Auch hier wäre es zwar erhellend, aber dennoch unzulässig, die
Definitionen beim Wort zu nehmen. Was ist über die geschlechtliche Verfassung der
Mathematik zu erfahren, wenn man es dennoch tut?
6
Annette Knaut,
Frauen im Deutschen Bundestag: Indizien und Funktion der Tabuisierung von Exklusion
In der deutschen Politikwissenschaft wird in der Regel immer noch von Parlamenten als
geschlechtsneutralen und (verfassungs-)rechtlich weithin determinierten Institutionen
ausgegangen. Die Interaktionen der Akteure im Parlament finden aus dieser Perspektive in
einem durch formelle Regeln bestimmten neutralen Handlungsraum statt. Hierbei bleiben
essentielle Fragen außen vor: Ist ein historisch männlich habitualisierter Ort in seinen
formellen Normen wirklich geschlechtsneutral? Welche Rollen spielen informelle Regeln,
Interaktion für die Geschlechtersegregeation, die durch Routine und Gewohnheit entstehen?
Solche Diskurse sind im Parlament, in dem formelle Gleichberechtigung der Geschlechter
herrscht und in dem eine in der Parlamentskultur verwurzelte „political correctness“ eine
allzu offensichtliche Exklusion auf Grund von Geschlecht verbietet, ein Tabu. Dies hat für die
Wissenschaft und die politische Praxis zur Konsequenz, dass informelle (Gender)Machtstrukturen verborgen bleiben und informelle Exklusionsmechanismen unter dem
Mantel von Geschlechtsneutralität verborgen bleiben. Informelle Mechanismen dienen der
symbolische Grenzziehung zwecks Macht- und Statuserhalt. Die männliche Mehrheit im
Deutschen Bundestag sichert sich so die relevanten Ressourcen politischer Kommunikation
und Information. Eine echte Integration weiblicher Abgeordneter mit gleichen Zugängen zu
Einflussnetzwerken und letztlich zu Macht wird so erfolgreich verhindert. Dieser aus
Unternehmen bekannte „glass ceiling“-Effekt zeigt sich auch hier, so meine These. Über
„Doing gender while doing political communication“ werden Geschlechterstereotype
aktiviert, die für politischen Erfolg, für Machtgewinn und Machterhalt von Frauen eher
dysfunktionale Effekte haben. So steigt vermutlich der Zwang zur Anpassung mit der
Stellung in der Funktionshierarchie. In den informellen Netzwerken politischparlamentarischer Kommunikation verfestigen sich zudem vorhandene Strukturen und
Images, die auf dem Bias von Gender konstituiert sind. Der Deutsche Bundestag bleibt ein
männlich vermachteter Kommunikationsraum.
7
Daniela Hrzán,
„If Your Vagina Could Talk, What Would It Say?“: Taboo, Transgression, and the Politics
of Voice in Eve Ensler’s The Vagina Monologues
The Vagina Monologues by Eve Ensler have repeately been referred to as a taboo-breaking
performance. Their success is usually attributed to their transgressive and carnivalesque
public stance. Private experiences, hidden from others and especially from the self, are
brought onto a public stage. Thus, societally denigrated desire, practices, fantasies and
physical body parts become subject of public celebration. The play, first written and
performed in 1996, consists of a series of monologues about women’s experiences with
their vaginas. Sexual pleasure, but also the psychic and physical costs of violence are being
addressed. The Monologues, which are based on interview material, are not the only part of
the play as they are interspersed with fantastic images of what vaginas wear, say, or smell
like and so-called “vagina facts”. Since 1998, the play has been performed annually on
Valentine’s Day to raise funds as part of a campaign to end violence against women and
girls. V-Day, as the larger movement is called, is a worldwide political movement to end
violence against women by increasing awareness through events and the media and by
raising funds to support organizations working to ensure the safety of women.
The goals of my presentation are twofold: I first will outline what about The Vagina
Monologues has been or could be classified as taboo breaking and situate it in the context of
the historical development of the US-American women’s movement, particularly the
women’s health movement. Another area of interest is what I refer to as the ‘talking vagina’
or ‘personified vagina’ trope. The ‘talking’ or ‘personified vagina’, as it appears in The
Vagina Monologues, is not really a new phenomenon, but has previously occurred in works
of fiction such as Eurydice’s f/32. What then is the social and cultural function of the ‘talking
vagina’ trope and what is its relation to taboos and their transgression? In a second step I
will examine the political implications of taboo breaking in The Vagina Monologues for the
global women’s movement. While speaking out loud about what has been silenced can be a
powerful tool in political struggle, The Vagina Monologues have attracted sustained criticism
from different political camps, including women of color, the Intersex Society of North
America, and “Bring Our Daughters Home”, an organization of mothers of the murdered
women in Juárez, Mexico. In my presentation, I will take up and further develop this
criticism, while specifically focusing on critical points in The Vagina Monologues that relate
to intersectionalities of race, gender and sexuality. Special attention will be given to the
treatment of ‘female genital mutilation’ in the Monologues and in how far the discussion of
this subject relates to other accounts which do or do not establish parallels between ‘FGM’
and harmful cultural practices in the ‘West’. The presentation will largely draw from
American Studies as its disciplinary background. However, the questions raised by the
performance and reception of The Vagina Monologues in other national contexts will also be
briefly addressed.
8
Jennifer John,
Ent-tabuisierung? Einschreibungen von Geschlecht in die Praktiken des Kunstmuseums
Eine Vielzahl von Kunstausstellungen griff in den vergangenen Jahren das Thema
Geschlecht explizit auf und beleuchtete es aus unterschiedlichen Perspektiven – so sind
beispielsweise zunehmend Werken von Künstlerinnen präsent, und ebenso ist der
kunstinteressierten Öffentlichkeit Kunst, die sich mit queerer Subkultur auseinandersetzt,
nicht mehr fremd. Kaum ein Aspekt rund um das Thema Geschlecht scheint mehr ein Tabu
zu sein. Fanden die Forderungen feministischer Aktivistinnen, die sich um den Einschluss
von Künstlerinnen in den Kanon bemühten, Gehör? Zeigen die Debatten um das Konstrukt
Geschlecht Wirkungen in der Praxis von Kunstmuseum?
In meinem Vortrag möchte ich der Frage nachgehen, ob das Thema Geschlecht und seiner
Bedeutung und Wirkung in der Kunstgeschichte wirklich eine Enttabuisierungen erfuhr und
erfährt oder ob die Ausschlussmechanismen, die zur Tabuisierung führen, trotz der
Benennung greifen. Mittels der Untersuchung einzelner Ausstellungen der vergangenen
Jahrzehnte, die sich explizit mit dem Thema Geschlecht auseinandersetzten, sollen diese
Ausschlussmechanismen genauer analysiert werden. So können auch die Formen der
Einschreibungen von Geschlecht in kunsthistorische Diskurse, wie sie in musealen Praktiken
aufgegriffen, wiederholt und fortgeschrieben werden, genauer bestimmt werden.
Die Untersuchung wird am Beispiel von Ausstellungen eines traditionellen, deutschen
Kunstmuseums – der Hamburger Kunsthalle – paradigmatisch durchgeführt. Angelehnt an
das Konzept der Kulturanalyse von Mieke Bal sollen die impliziten und expliziten musealen
Diskurse ans Licht geholt werden.
9
Angela Koch,
Das „unsägliche“ Verbrechen – sexuelle Gewalt im Film
„Shame folded up in blind concealing night, / When most unseen, then most doth
tyrannize.“
(aus: Shakespeare, The Rape of Lucrece)
Die Darstellung von sexueller Gewalt im Film hängt in vielfacher Weise mit der Setzung,
Verletzung und Überschreitung von Tabus zusammen. Der Zusammenhang von Tabu und
sexueller Gewalt ist bedeutsam für die Konstruktion der Geschlechterverhältnisse und die
Erhaltung/Veränderung der symbolischen Ordnung der Geschlechter. Das Tabu tritt dabei in
unterschiedlichen Formen und Kontexten auf:
1. Das Tabu der Darstellung: Sowohl konservative Kreise als auch radikale Feministinnen
(Dworkin, Kappeler, MacKinnon) befürworten ein Tabu der Darstellung von sexueller Gewalt.
Während Erstere eine Auflösung der Moralvorstellungen befürchten, erwarten Letztere eine
Reproduktion der heterosexistischen Gewaltverhältnisse durch die medialen Darstellungen.
2. Das Tabu, Geschlechtsrollen zu überschreiten: Sexuelle Gewalt wird häufig als Drohung
bzw. Mittel gegen diejenigen herangezogen, die sich der Zuordnung zu eindeutigen
Geschlechtsidentitäten entziehen oder geschlechtliche Muster aufbrechen und unterlaufen
(z. B. "Boys don't Cry", "Monster").
3. Das Tabu der 'Opfer'perspektive: In der Darstellung und anschließenden Verfolgung der
sexuellen Gewalttat eröffnet sich ein Widerspruch zwischen der Visualisierung der Tat und
der/des Betroffenen und deren Erfahrung und Erinnerung. Während die visuelle Darstellung
Objektivität und Evidenz schafft, wird die Perspektive der/des Angegriffenen (sowohl visuell
als auch auditiv) zumeist ausgeblendet und tabuisiert.
Im geplanten Vortrag sollen die folgenden Fragen diskutiert werden:
Welche Tabus werden gebrochen, wenn sexuelle Gewalt explizit gezeigt wird (z. B. "The
Accused", "Irréversible")? Welche Formen von sexueller Gewalt werden tabuisiert? Und
warum?
Inwiefern korrespondieren die Tabus der Darstellung von sexueller Gewalt der
Konservativen und der radikalen Feministinnen miteinander (z. B. Rape-Revenge-Filme)?
Angesichts der engen Verbindung von sexueller Gewalt und Selbstmord/Tod im LucretiaMotiv gilt es die Verschiebung von der Tabuisierung der sexuellen Gewalttat (Lucretia) zur
Tabuisierung des Sterbens/Tötens (im aktuellen Unterhaltungsfilm) zu analysieren.
Welche Rolle spielt die Tabuisierung der Erfahrung der Angegriffenen? Warum erhalten sie
keine Stimme, keine Rederecht und warum wird damit die Erinnerung der direkt Betroffenen
meist völlig negiert? Was bedeutet dies angesichts der Tatsache, dass die
Erfahrung/Erinnerung als Grundlage für die Konstruktion der Subjektivität gilt und einen
"Realitätseffekt" herstellt?
Inwieweit stellen sexuelle Gewalt und die Etablierung von Tabus um dieses Verbrechen sich
gegenseitig konstituierende Momente der Herrschaftssicherung dar? Inwieweit stellen sie
sich gegenseitig infrage oder unterlaufen sich sogar ("I spit on your grave", "Boys don't
Cry", "Baise-moi")?
10
Bea Lundt,
Zeugungskraft oder zölibatäre Spiritualität?: Die Männlichkeit des weisen Herrschers im
Mittelalter am Beispiel der Exempelsammlung „Die Sieben Weisen Meister“
Fast jeder kennt die „Prinzessin auf der Erbse“. Aber wer kennt den Prinzen auf dem Efeu?
Dabei ist die „Efeuprobe“ ein fester Bestandteil einer weitverbreiteten Narration, in den
Motivkatalogen bezeichnet als „Die Sieben Weisen Meister“. Diese Erzählung kommt aus
dem Orient im 12. Jahrhundert nach Europa, sie verbreitet sich weltweit in einer Reihe von
ganz unterschiedlichen Gestaltungsweisen und in vielen Volkssprachen. In ihrer
Druckfassung gehört sie in der Frühen Neuzeit zu den verbreitetsten populären Schriften
überhaupt.
Die Erzählung von der „Prinzessin auf der Erbse“ gehört zum Kanon allgemein bekannter
Märchen. Sie wird verstanden als eine Probe auf die Eignung einer jungen Frau zur
Herrscherin. Sie solle unter Beweis stellen, so wird dieses Märchen gedeutet, dass sie über
eine im Alltag undenkbare ungeheure, ja exaltierte Empfindlichkeit verfügt, die verfeinerte
Lebensart, die sich nur Frauen einer hochzivilisierten Elite „leisten“ können. Wird die
Symbolik der Inszenierung entschlüsselt, kann die Probe aber auch als Test auf die
Tauglichkeit gelten: Die Erbse erinnert an die Klitoris und ihre provozierende Platzierung im
Gästebett soll die Prinzessin auf ihr zukünftiges Schicksal vorbereiten: als Königin wird sie
Aufgaben vor allem an diesem Ort erfüllen müssen, Sexualität, Schwangerschaften,
Geburten, sie wird auf unbequemen und harten Lagern unterwegs nächtigen müssen. Nicht
ihre Zimperlichkeit ist also gefragt, sondern ihre Bereitschaft, sich mit dieser harten
Aufgabe zu identifizieren.
Die mittelalterlichen Ursprünge der „Prinzessin auf der Erbse“ sind unbewiesen. Umso
auffallender, dass es innerhalb der Rahmenhandlung der „Sieben Weisen Meister“ seit dem
13. Jahrhundert eine ähnliche Probe auf die Reife eines Prinzen gibt. Seine sieben Lehrer
unterziehen ihn einem Test, der die Erziehungsphase des Vierzehnjährigen abschließen soll.
Nicht Wissen oder körperliche Geschicklichkeit sind dabei gefragt. Es wird ihm vielmehr ein
Efeublatt unter jeden Bettpfosten gelegt. Morgens beim Erwachen beobachten ihn die
Weisen und versichern sich seiner Wahrnehmung des Phänomenes. Er deutet seine neue
veränderte Position verbal mit einer dreifachen Alternative: der Himmel habe sich gesenkt,
das Bett erhöht, das Dach sei niedriger geworden. Er definiert also zunächst einmal seine
Rolle als erwachsener Mann neu zwischen Himmel (Religion), Dach (menschlicher
Gemeinschaft) und Bett (Sexualität). Eine Variante aus der Predigtsammlung „Scala Coeli“
ergänzt diese Episode durch einen erotischen Traum. In diesem wird deutlich, dass der
junge Mann seine erste bewusst wahrgenommene Erektion und Pollution mit Hilfe seiner
Lehrer zu deuten versucht. Die Erziehung eines Herrschers schließt also seine Definition als
sexuell aktiver Mann ein. Ja, diese ist die eigentliche Meisterprobe.
Doch muß er diese Reife erst in der Praxis unter Beweis stellen. In der kommenden
Handlung wird eine junge Frau, seine Stiefmutter, ihn sexuell provozieren. Doch unterliegt
er einer Schweigepflicht, die seine Zunge versiegelt, symbolisch aber auch für sexuelle
Aktivität steht. Breite Passagen des Buches widmen sich den Fragen des Erlaubten und
Verbotenen: wie darf ein Mann innerhalb der Männergemeinschaft, der Familie, am Hofe
seine Sexualität ausleben? Erst als der Prinz im Stande ist, in einer eigenen Erzählung seine
Entwicklung zu deuten, wird er zum König ernannt. Er wird in der Männergruppe herrschen,
die einzige Frau wird getötet. Ein absurder Schluß, der aufzeigt, dass die zentrale tabuisierte
Frage nach der „Normalität“ des zeugenden Herrschers gerade nicht in konsensfähiger
Weise beantwortet werden konnte.
11
Für den Herrscher ergibt sich also ein Raum voller zunächst widersprüchlicher Aussagen und
Wertungen: im Medium erzählender Quellen wird er in Beziehung gesetzt zu
konkurrierenden Entwürfen zwischen dem zölibatären Kleriker und dem zeugenden
Heilsträger; der Deutungsrahmen kreist um die Pole von Tabuisierung und Idealisierung, um
überirdisch-sakral und irdisch-potent. Es werden ihm außerordentliche Freiräume
zugestanden, zugleich aber wird seine Sexualität wiederum auf eine eindeutige Weise
normativ definiert. Ist seine sexuelle Aktivität zugleich ein Vorbild und eine Ausnahme für
ein Konzept von Männlichkeit? Wie wird der Herrscher von morgen auf diese Aufgaben
vorbereitet? Wie wird über sie gesprochen? Wie und warum wird sie verschlüsselt?
Während die historische Pädagogik bisher behauptete, das Mittelalter habe keine bewusst
wahrgenommene Kindheit und Jugend gekannt, zeigt dieses Beispiel die besondere
gesellschaftliche Bedeutung der Phase der Pubertät, da in ihr kollektiv und individuell über
kontroverse Deutungen von Männlichkeit verhandelt wird.
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Bettina Mathes,
Der Wille zum Tabu: Iokaste, Ödipus und die Sphinx im Feld des Wissens
Der Ödipusstoff bietet bis heute ein wirkmächtiges Narrativ für die Genese des „Willens zum
Wissens“ (Foucault) in Abhängigkeit von einem Willen zum Tabu. Die Blendung öffnet
Ödipus die Augen, die Tabuisierung des ermordeten Körpers der Iokaste sollte aus der ‘Frau’
ein „Rätsel“, einen „dunklen Kontinent“ (Freud) machen. Auch die Sphinx ist verstummt.
Aber ist ihr Rätsel gelöst? Oder dient das Rätsel (Singular) nur dazu, die Rätsel (Plural) zu
verdecken, die den männlich kodierten „Willen zum Wissen“ in Frage stellen?
Ausgangspunkt des Vortrags ist das Dreieck, das die antiken Ödipusdramen, der Film
„Riddles of the Sphinx“ (Mulvey/Wollen 1977) und Freuds „Ödipuskomplex“ bilden.
13
Beatrice Michaelis,
Recht verschwiegen: Das „Tabu“ der Sodomie in der Sprache des mittelalterlichen Rechts
In meinem Vortrag beschäftige ich mich mit den rhetorischen Manövern rechtlicher
Instanzen im Mittelalter. Neben Rechtsvorschriften werden dabei Verhörprotokolle,
Gerichtsakten und Chroniken zur Sprache kommen. Sexuelles Vergehen stand hier oft im
Zusammenhang mit anderen Missetaten wie Diebstahl, Bestechung oder politische/religiöse
Unbotmäßigkeit und konnte erst in diesen Kontexten tatsächlich zur Sprache gebracht
werden. Sodomitische Praktiken unterlagen in diesem diskursiven Archiv des Befragens,
Zuhörens, Beschreibens und Vorschreibens einer spezifischen Rhetorik des Schweigens.
Über das Tabu wurde jedoch nicht nur geschwiegen, sondern auch in nahezu
pornografischer Detailversessenheit ausgiebig geredet. Momenten dieser ambigen
sprachlichen Konstruktion der Sodomie als Tabu in der Jurisdiktion möchte ich daher
genauer nachspüren.
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Bruno Perreau,
Suspicious Speech: Adoption Policies and the Performative
In France case law has consecrated the practice of administrative refusal of official
accreditation for gays and lesbians seeking to adopt children. Courts reduce family ties to
blood ties and assign citizens to social roles directly inherited from nature. Nevertheless, the
French administrative supreme court (Conseil d’État) never refers to homosexuality in order
to justify its rulings but evokes candidates’ preference of living (“choix de vie”). Through
this legal taboo, legitimate sexual behaviours are classified and equality remains
unspeakable. In the silence of the law, the only solution for homosexual candidates to be
accredited is to perform a heterosexual life when facing social workers undertaking the
administrative inquiry. However, while being relegated to the closet, gays and lesbians
develop their subjectivity: they make a conscious use of the sexual taboo as a way to
manage their lives and identities. On their side, social workers are not completely fooled by
this performance: most of them consider the speech of unmarried candidates as suspicious
while some of them prefer to turn a blind eye.
Thus, while a gender taboo can clearly be defined as far as legal issues are concerned,
things become more ambivalent regarding social practices. As Michel Foucault wrote in La
volonté de savoir, “there is no binary division to be made between what one says and what
one does not say; we must try to determine the different ways of not saying such things
[...] There is not one but many silences”. My proposal intends to follow this foucaldian
perspective in proving that gender taboo is only relevant to the extent that it is considered
as a retrospective notion.
15
Kathrin Peters,
Zeichen der Scham: Fallstudien aus der fotografischen Klinik um 1900
Im Jahr 1900 veröffentlicht Rodolphe Reiss, der später als Kriminologe bekannt
werden sollte, einige Ratschläge zur fotografischen Dokumentation von
Krankheitserscheinungen. Zu diesem Zeitpunkt wird die klinische Fotografie von
Medizinern zwar weitestgehend akzeptiert, aber sie wird nicht ausreichend
praktiziert: Zu aufwendig sind die Einrichtung von Ateliers und Labors, die
Aneignung der Technik und vor allem der Umgang mit den Kranken selbst. Denn
noch die ruhigsten Patienten würden, so Reiss, beim Gedanken fotografiert zu
werden, von einer Unruhe erfasst, die sich in einem für das Fotografieren äußerst
kontraproduktiven Zittern äußerte. Besonders trete dieses nervöse Zittern bei
Kranken auf, deren Geschlechtsteile fotografiert werden sollten.
Den fotografischen Bildern sieht man es am Ende meist nicht mehr an, mit welchem
einerseits technischen und andererseits affektiven Einsatz sie entstanden sind (und
im Zeichen wissenschaftlicher und visueller Objektivität soll man ihnen beides ja
auch nicht ansehen). Aber es sind genau diese Stellen im medizinischen Diskurs, an
denen die Dimensionen von Leid und Scham, von Zurschaustellung und Inszenierung
deutlich werden. Dass ‚Scham‘ dabei sowohl eine Bezeichnung für das Genital sein
kann als auch für das Gefühl, bloßgestellt oder angeblickt zu werden, hat bereits die
frühe Sexualwissenschaft beschäftigt und zu anthropologischen Erklärungsansätzen
greifen lassen. Meine Vermutung ist indes, dass sich in den ‚Zeichen der Scham‘ ein
historisch spezifischer Ort zu erkennen gibt, nämlich die fotografische Klinik um
1900 und deren (moderne) Verschränkung von Geschlecht und Sichtbarkeit.
Anhand einiger Bild- und Textbeispiele möchte ich diese Vermutung darlegen und
argumentieren.
16
Volker Woltersdorff,
„Meine Dämonen füttern“ – paradoxe Bearbeitungen von Geschlechtertabus in der
sadomasochistischen Subkultur
Die (BD)SM-Szene bietet einen Raum, in dem tabuisierte Inszenierungen von Geschlecht in
ei-nem geschützten und spielerischen Rahmen dargestellt werden können. Der Tabubruch
erlaubt dabei einen besonderen Lustgewinn.
Ich möchte untersuchen, wie sich diese subkulturellen Inszenierungen zur hegemonialen
Ge-schlechterordnung verhalten. Meine Hypothese lautet, dass geschlechtliche
Ausdrucksweisen und Machtkonstellationen, die nicht öffentlich artikuliert werden können, in
den SM-Settings aus-agiert werden. Außerdem werden Rollenkonflikte, die sich aus
unterschiedlichen und wider-sprüchlichen geschlechtlichen Anrufungen ergeben, in diesen
Inszenierungen aufgeführt und durchgearbeitet.
Traditionelle Geschlechterhierarchien und „politisch unkorrekte“ Formen von Weiblichkeit
und Männlichkeit werden einerseits ständig reproduziert, dürfen andererseits aber vor dem
Hinter-grund eines vermeintlich egalitären Geschlechterdiskurses nicht gezeigt oder
angesprochen wer-den. Darunter fallen neben Unterwerfungsritualen auch Artikulationen
von Geschlecht, deren Sexualisierung zwar elementarer Bestandteil ihrer
Herrschaftsstrategie ist, aber nicht öffentlich thematisiert werden darf, wie z.B. in der
Armee oder in Arbeitsverhältnissen. Schließlich gehört dazu ebenfalls der Bereich
sexualisierter Gewalt, der in SM-Inszenierungen zitiert und bearbeitet wird.
Ich untersuche also die obszöne Seite der herrschenden Machtverhältnisse, interessiere
mich aber auch, wie Anfechtungen dagegen genau auf dieser Ebene ansetzen können.
Deshalb gehe ich auch ausführlich auf die Entfaltungen nicht-heteronormativer Formen
sexueller und geschlechtli-cher Identitäten in den SM-Szenen ein, deren Sichtbarkeit und
Intelligibilität im öffentlichen Raum infrage steht, wie queere, transsexuelle und transgender
Identitäten. Dennoch bleibt zu klären, ob der subkulturelle Ausbruch die Tabuisierungen
langfristig untergräbt oder stabilisiert.
In meinem Vortrag werde ich mich auf meine eigenen Beobachtungen in verschiedenen SMSzenen (schwul, hetero, queer) sowie auf von mir aufgezeichnete Diskussionen mit
verschiede-nen SM-Gruppen stützen, die ich seit dem letzten Jahr im Rahmen meines
Forschungsprojektes geführt habe. Ergänzend werde ich Bild- und Textmaterial aus dem
Umfeld der SM-Communitys heranziehen.
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