Brand im Kino von ʿAmuda

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Brand im Kino von ʿAmuda
KURDWATCH●Bericht 2
Der Kinobrand von ʿAmuda
im November 1960
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Der Kinobrand von ʿAmuda
im November 1960
Der Brand im Kino von ʿAmuda am 13. November 1960,
bei dem mehrere hundert kurdische Schulkinder ums
Leben kamen, gehört zu denjenigen Ereignissen, die
stets genannt werden, wenn es um die Geschichte der
Diskriminierung der kurdischen Bevölkerung in Syrien
geht. Entweder wird unterstellt, dass die syrische Regierung das Feuer gezielt gelegt hätte, um die anwesenden
Kinder zu töten.1 Oder aber es wird darauf hingewiesen, dass, wer auch immer für den Vorfall verantwortlich zeichne, von antikurdischen Gefühlen beeinflusst
gewesen sei.2 An anderer Stelle heißt es vorsichtiger,
dass die lokale Bevölkerung gegenüber den syrischen
Behörden den Vorwurf der Brandstiftung erhoben hat
und die Vorkommnisse nie aufgeklärt wurden.3 Dieser
Beitrag versucht, aus Augenzeugenberichten und Zeitungsartikeln vom November 1960 zu rekonstruieren,
was damals im Kino von ʿAmuda geschehen ist. Darüber
hinaus soll analysiert werden, weshalb die Ereignisse
wie beschrieben interpretiert wurden.
Hintergrund des Besuchs zahlreicher Schüler im
Kino von ʿAmuda am 13. November 1960 ‒ gezeigt
wurde »Das Mitternachtsgespenst«, ein ägyptischer
Horrorfilm ‒ war der Unabhängigkeitskampf Algeriens gegen Frankreich (1954‒1962). Um diesen zu
unterstützen, fand in Syrien eine Solidaritätswoche
statt, während der die Bevölkerung aufgefordert war,
möglichst viele Spenden für die »algerischen Brüder«
zu sammeln. Der Unterbezirksdirektor von ʿAmuda
hatte befohlen, dass sämtliche Schüler der Grundschulen in ʿAmuda den genannten Film besuchen und
1
Siehe »Ein dringender Appell
um das Schicksal des inhaftierten
syrischen Kurden Dauod Hussein«,
eingesehen unter <http://www.
humanrights.de/doc_de/archiv/s/
syria/Appelldauod_250501.htm>.
2
Siehe Montgomery 2005: 42;
McDowall 1998: 17.
3
Siehe Tejel 2009: 48.
die Einnahmen für den Kampf in Algerien gespendet
werden sollten.
KURDWATCH●Bericht 2
Am Tag des Brandes fanden mehrere Filmvorführun-
4
gen statt. Das Kino soll bei jeder Vorstellung überfüllt
gewesen sein. Es gab insgesamt zweihundert Plätze,
tatsächlich waren bei der letzten Vorstellung jedoch
fünfhundert Kinder anwesend.4 Die meisten von ihnen
saßen dicht gedrängt auf langen Bänken, andere mussten stehen. Der Brand brach aus, weil der Filmprojektor, der den ganzen Tag gelaufen war, aufgrund von
Überhitzung Feuer fing. Die Flammen griffen auf die
circa zwei Meter entfernte Decke über, die aus Holz,
Stroh und Lehm bestand, und breiteten sich von dort
auf das gesamte Kino aus.5 Augenzeugenberichten zufolge wurde dies dadurch befördert, dass die Wände
des Kinos mit Stoff ausgekleidet waren.6
Als das Kino zu brennen begann, gerieten die Kinder
in Panik und versuchten, den Saal schnellstmöglich zu
verlassen. Auf der nördlichen wie der südlichen Seite
des Kinos gab es jeweils zwei schmale Türen ‒ Angaben
des ägyptischen Magazins al-Musawir zufolge waren
die Türen zwei Meter hoch, aber nur achtzig Zentimeter
breit ‒ die ausschließlich nach innen zu öffnen waren.
Bei ihrem Fluchtversuch stolperten und fielen zahlreiche Kinder und blockierten so die beiden Ausgänge. An-
dere Kinder drängten von hinten nach, sodass die Türen
nicht mehr zu öffnen waren ‒ weder von innen, noch
von außen. Die Kinder waren im Kino gefangen. Die
zweite Fluchtmöglichkeit bestand in einem Fenster. Von
denjenigen Kindern, die versuchten, auf diesem Weg zu
entkommen, stürzten zahlreiche in den vor dem Fenster
befindlichen Brunnen. Einige ertranken, andere kamen
mit Verletzungen davon.7 Da es in ʿAmuda, damals eine
Stadt mit etwa 14 000 Einwohnern, keine Feuerwehr
gab, musste diese aus den Städten al-Qamischli und
al-Hasaka angefordert werden ‒ sie traf entsprechend
spät am Unglücksort ein.8
Soweit zu den Geschehnissen. Es gibt, abgesehen von
Gerüchten, keine konkreten Hinweise, dass es sich bei
9
dem Feuer um etwas anderes als einen Unfall gehandelt
hat, der aufgrund mangelhafter Sicherheitsvorkehrungen zu einer Katastrophe führte. Unzureichende Fluchtwege und die Überbeanspruchung von technischen Ge-
4
Siehe Nami 2000: 72.
5
Siehe Nami 2000: 72.
6
Interview mit dem Überleben-
den Dr. Sededîn Mele (Stockholm)
am 10. November 2008.
7
Interview mit dem Überleben-
den Zinar Şêxmus (Berlin) am
12. November 2008.
8
Interview mit dem Überleben-
den Dr. Sededîn Mele (Stockholm)
am 10. November 2008.
9
Diesen zufolge wurde das Feuer
von der syrischen Regierung gelegt; als Beleg wird angeführt, dass
die Türen des Kinos von außen verschlossen gewesen seien, dass die
Angestellten des Kinos selbiges vor
dem Brand verlassen hätten und
dass die Polizei die Bewohner von
ʿAmuda daran gehindert habe, die
Kinder aus den Flammen zu retten,
da dies zu gefährlich sei; siehe
hierzu Tejel 2009: 151, der diese
Gerüchte, die er lokalen Quellen
zuschreibt, zusammenfasst.
räten wiederum werden sich vermutlich nicht auf das
Kino in ʿAmuda beschränkt haben, sondern in Kinos und
KURDWATCH●Bericht 2
anderen öffentlichen Institutionen in ganz Syrien üblich
5
gewesen sein. Dass vonseiten der kurdischen Bevölkerung, auch von syrischkurdischen Parteien, bis heute
unterstellt wird, dass es sich bei dem Brand um einen
gezielten Anschlag gegen die kurdische Bevölkerung
handelte, ist vor allem auf drei Aspekte zurückzuführen.
Erstens auf die damalige politische Situation. Nach dem
Zusammenschluss Syriens mit Ägypten zur Vereinigten
Arabischen Republik im Jahr 1958 wurde die antikurdi-
sche Politik, die bereits unter Adib asch-Schischakli Mitte
der 1950er Jahre begonnen hatte, fortgesetzt. So wurde
es beispielsweise verboten, in Cafés kurdische Musik zu
spielen, kurdische Publikationen zu drucken oder auch
nur zu besitzen. Zudem waren im August 1960, nur wenige Monate vor dem Brand, die Führer des in Aleppo
angesiedelten Exekutivkomitees der Demokratischen
Partei Kurdistans in Syrien (KDPS) festgenommen und
gefoltert, die Parteistrukturen aufgedeckt und fünftausend Personen inhaftiert und verhört worden. Die Parteiführung wurde wegen Separatismus angeklagt und
schließlich zu Gefängnisstrafen verurteilt. Vor diesem
Hintergrund erschien es vielen möglich, dass die syrische Regierung auch direkt gegen die kurdische Bevölkerung vorging. Die insbesondere 1962 und 1963 umgesetzten Arabisierungsmaßnahmen ‒ die Ausbürgerung
zahlreicher Kurden in der Provinz al-Hasaka und der
Zwölf-Punkte-Plan von Muhammad Talab Hilal ‒ waren
nicht geeignet, diesen Verdacht zu zerstreuen. Sie ließen
ihn im Gegenteil umso wahrscheinlicher erscheinen.
Zweitens dürfte eine Rolle gespielt haben, dass es
keine ordentliche Untersuchung des Falls gab beziehungsweise niemand für den Tod der Kinder zur Verantwortung gezogen wurde. Zwar wurden die drei Kinobetreiber Xidir Ezîz, Silêman Remedan und Ehmed Hesenat sowie ihre Mitarbeiter Ehmed Ibrahîm, Mihemed
Mehmud und Ehmed Şerîf im Anschluss an den Brand
verhaftet. Sie wurden jedoch bereits nach kurzer Zeit
wieder freigelassen.10 Drittens wird auch die Tatsache,
dass es bis heute nicht gestattet ist, der Toten des Kinobrandes von ʿAmuda öffentlich zu gedenken, dazu beige-
10
Interview mit dem Überleben-
den Dr. Sededîn Mele (Stockholm)
am 10. November 2008.
tragen haben, das Misstrauen der Bevölkerung hinsichtlich der Ursachen des Brandes zu befördern.
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Die genaue Zahl der Opfer ist nicht bekannt, kur-
6
dische Quellen gehen von mindestens 283‒300 Toten
aus.11 Die ägyptische Zeitung Akhir Daqiqa berichtet in
ihrer Ausgabe vom 15. November 1960 von 200 Toten
und 450 Verletzten, vor allem Schwerverletzte, die später zum Teil ihren Verletzungen erlagen.12 Das ägyptische Magazin al-Musawir wiederum spricht von 180 Toten und 121 Verletzten.13
Auf dem Friedhof von ʿAmuda gibt es einen Bereich,
in dem die Opfer des Kinobrandes beerdigt worden
sind. Auf einem Teil der Grabsteine sind bis heute Namen erkennbar, auf anderen nicht mehr. Den Inschriften anderer Gräber, etwa den Massengräbern, war nie
zu entnehmen, wer hier beerdigt worden ist. Im Folgenden sollen die Namen der Toten genannt werden,
die anhand der Grabsteine identifizierbar sind:14
1. Ehmed Ebdilhadî
2. Mihemed Mesum Xelîl (geb. 1950)
3. Ednan Mecîd Ezîz
4. Mihemed Yasîn Esed el-Rîbat (geb. 1951 in Damaskus)
5. Zuher Ebdilezîz Ebdilqadir Derwîş
6. Mehmud Ismaîl Remo
7. Mihemed Saleh Mihemed Yûsiv (1950)
8. Ibrahîm Mihemed Yûsiv (1946)
9. Fehed Şêxmûs (1949)
10. Emîn Bengo (1953)
11. Ibrahîm Silêman Bengo
12. Ehmed Ferhan
13. Mihemed el-Hac Mehmûd
14. Mihemed Salih Silêman
15. Ezîz Mihemed Emîn Reşwanî (1948)
16. Ibrahîm Emîn Reşwanî (1948)
17. Ibrahîm Hecî Îsa (1949)
18. Mihemed Silêman Mercî (1948)
19. Nurî Mihemed Sebuhe (1947)
20. Mehî Mihemed Emîn Kalo (1946)
21. Xorşîd Mele Sîrac (1950)
22. Emîn Selfîc Emîn
23. Hesen Hac Mihemed
24. Mihemed Saleh Şêxmûs Mihemed Kurdî
11
Siehe hierzu etwa Dr. Ebdul-
basit Seyda, »Sînema Amûdê çima
şewitî?«, 18. November 2000, eingesehen unter <http://www.amude.
net/sinema/basit.html>.
12
Siehe Nami 2000: 81.
13
Siehe Nami 2000: 72.
14
Die Liste der Namen (und
in einigen Fällen Geburtsdaten)
stammt vom November 2004. Sie
wurde zusammengestellt von Dijwar Naso und erstmals veröffentlich in dem Artikel »Navên hin goriyên şewata sînema Amûdê«, eingesehen unter <http://www.amude.
net/sinema/nav.html>. Wir haben
die Angaben in der dort veröffentlichten Form übernommen.
25. Ehmed Ebdilrehman Deqorî
26. Ibrahîm Ebdilrehman Deqorî
27. Mihemed Hecî Ismaîl Hiso (1946, 5. Klasse)
28. Mihemed Seîd Deqorî (1928)
29. Mihemed Reşad Mehmud Beşar (1948)
30. Mihemed Xalid Şêx Ebdilrezaq el-Bancî
31. Nurî Hecî Hisên (1950)
32. Necmeldîn Ebdilkerîm Seyid Necim
33. Ehmed Mihemed Elî Hiso (1948)
34. Ibrahîm Temo Umer (1950)
35. Salih Xelef
36. Xidir Şêxmûs Zeyf
37. Mihemed Yûnis Zeyf
38. Tariq Şerîf Xelîl (1954)
39. Mihemed Saleh Xelîl (1947)
40. Mihemed Zekî Şêx Musa
41. Remedan Mihemed Elî
42. Ebdilselam Mihemed Saleh Elhac Elî Elkermî (1951)
43. Hisên Ehmed Elkermî
44. Ismaîl Şukrî Rezo (1948)
45. Mihemed Izedîn Elebasî
46. Ibrahîm Mihemed Elî
47. Ehmed Mele Newaf (1950)
48. Mehmud Nezîr Axa (1950)
49. Memduh Nezîr Axa (1948)
50. Sebrî Şukrî Elî
51. Elî Şêxmûs Celo
52. Şêxmûs Ibrahîm Berazî (1946)
53. Ebdilrezaq Ebdilxelîl (1949)
54. Ebdilezîz Ebdilxelîl (1946)
55. Derwîş Mecîd Debax
56. Umer Ebdilhelîm Debax
57. Zuhêr Ehmed Hisên (1946)
58. Ebdilsemed Şêx Tewfîq el-Huseynî
59. Subhî Elî Mihemed
60. Umer Elî Mihemed Elo
61. Fêsel Mistefa Tauus
62. Elî Mele Sîrac Mele Mihemed (1948)
63. Ebdo Hecî Umer Tauus
64. EbdoEhmed Tauus
65. Faris Seîd Hesen
66. Remedan Hesen (1946)
67. Subhî Ehmed Mihemed Remedan (1952)
KURDWATCH●Bericht 2
7
68. Saleh Felemez
69. Umer Sofî Ferec
70. Mehmgd Hecî Mistefa
71. Ehmed Hemo Helqa
72. Ebdilrezaq Ibrahîm Kermî
73. Hisên Mihemed Kermî
74. Ehmed Mihemed Kermî
75. Mihyedîn Zekî Eljac Qasim
76. Izedîn Ebdilkerîm
77. Mihemed Hecî Xelef (1947)
78. Mehmud Hecî Xelef (1952)
79. Meesum Hecî Ezîz (1945)
80. Mihemed Ebdilcelîl Mele Ibrahîm
81. Sîrac Umer Şêxmûs (1946)
82. Ebdilrehman Osman
83. Ebdilîlah Şêxmûs
84. Mehmud Hecî Silêman
85. Fuad Dawid Şêxmûs Hefskê
86. Fewzî Elî Şêxo
87. Celal Hesen el-Umerî
88. Ebdilezîz Mehmud el-Umerî (1948)
89. Ebdilqehar Mehmud el-Umerî (1946)
90. Ebdo Ehmed Mihê Silê
91. Şêxmûs Elhac Têlo
92. Meruf Silêman Ibrahîm
93. Yihya Elhac Mihemed
94. Cemîl Mele Ebdilkerîm Mele Ehmed
95. Ibrahîm Mele Ebdilkerîm Mele Ehmed
96. Hisên Hecî Mihemed
Literatur
McDowall, David 1998: The Kurds of Syria. London:
Kurdish Human Rights Project (KHRP).
Montgomery, Harriet 2005: The Kurds of Syria. An
existence denied. Berlin: Europäisches Zentrum für
Kurdische Studien (EZKS).
Nami, Melah Ahmad 2000: Qisat hariq sinama Amuda.
Al-Qamischli.
Tejel, Jordi 2009: Syria’s Kurds. History, politics and
society. London: Routledge.
KURDWATCH●Bericht 2
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