Drägerheft Nr. 391

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Drägerheft Nr. 391
Drägerheft
Reinheit
391
Wie in Warstein Bier
gebraut wird
Höllenfeuer
Flashover im Nadelwald
Drägerheft 391 3/2012
Ethik
Technik für das Leben 3 / 2012
Sättigungstauchen
Welt unter Wasser
Harter Job für Berufstaucher
Die Last der
Entscheidungen
Foto : Drägerwerk AG & Co. KGaA
Ur spr ün ge LUB EC A -V E N T IL
Wissen Sie eigentlich, was …
… ein Ventil für Bierzapfanlagen mit dem Unternehmen zu tun hat?
1889 gründete Johann Heinrich Dräger einen Vertrieb, unter anderem für Bierzapfanlagen,
die mit komprimierter Kohlensäure arbeiteten. Doch das Bier floss ungleichmäßig. Bis Dräger
sein Lubeca-Ventil erfunden hatte, womit sich das Bier fortan in regelmäßigen Strömen in
die Gläser ergoss. Die Quelle eines innovativen Unternehmens – das Ventil, nicht das Bier.
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Drägerheft 391 | 3 / 2 012
Inh alt
Wohnen
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E r fa hr u n g
Drei Menschen, die bewegen:
Neuroanästhesist Dr. Dirk Repkewitz teilt
sein Wissen in Praxiskursen. Robert Gutknecht und David Strieth halten die Freiwil­li­ge
Feuerwehr nicht nur für ein Hobby.
6S t i c hwör t e r
Darüber hinaus: Was noch alles hinter
den Themen dieser Ausgabe steckt.
8
F ok u s
Sättigungstauchen: Berufstaucher
haben einen der anspruchsvollsten Arbeits­
plätze. Doch sie sind bescheiden und
machen kaum Schlagzeilen. Ihr täglicher
Job ist spannend genug.
18
B r au er eie n
Premium-Biere: Perfekte Rohstoffe sowie
immer wieder kontrollierte Prozesse machen
den Geschmack eines Bieres aus. Und
den Erfolg einer Brauerei wie Warsteiner.
32
SChützen
22
E THik
Helfende Berufe: Wie trifft man
in kritischen Situationen die richtige
Entscheidung? Die Ethik bietet
Antworten – auch für die Praxis.
26
We r k feue r w ehr
Automobilindustrie: In Wolfsburg ist
alles ein, zwei Nummern größer.
Und für die dortige Werkfeuerwehr
gibt es einige Besonderheiten.
30I nfo gr af ik
Unter Wasser: Mehr als zwei Drittel
der Erde sind von Wasser bedeckt. Und
die Tiefsee wird erst jetzt erforscht.
32Re t t u n g sdie ns t
Kohlenstoffmonoxid: Ein gewissermaßen
hinterhältiges Gas, das man weder
sieht noch riecht. Eingasmessgeräte geben
Sicherheit – auch in Wien.
36
F E UERW EHR
Training: Wie man sich in
Mittel­schweden auf das Löschen in
der Flammenhölle vorbereitet.
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Sichern
Åke Ericson
benötigt man in Warstein, um einen Liter Gerstensaft zu brauen. Auch wenn der
Verbrauch für die Rohstoffe hier nicht einfließt, ist der „Wasser-Fußabdruck“ eher gering – mehr ab Seite 18
MEV/F1online
8
3,6 Liter
Hav yard Global Solutions AS
Titelfoto : Martin kunze, Fotolia Etwa
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M edi z in to ur ismu s
Thailand: Das Bangkok Hospital umsorgt
Patienten aus aller Welt.
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S t r a ssen v er k e hr
Interlocks: Die Niederlande geben
Alko­holsündern eine zweite
Chance – und bauen auf grundlegende
Verhaltens­änderungen.
48S c hu lt er b l ic k
Produktion: Kaum ein Anästhesiegerät ist wie das andere. Fast alle werden
kundenspezifisch hergestellt.
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A u sb lic k
Schichtarbeit: Sie ist in vielen Berufen
nicht mehr wegzudenken, und oft mit
Stress verbunden. Doch mögliche gesundheitliche Folgen lassen sich reduzieren.
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E in b lic k
PAC 7000: Als Teil der persönlichen
Schutzausrüstung warnt es vor jeweils
einem gefährlichen Gas.
3
Er fahr un g Au s alle r W e lt
Menschen, die bewegen
Dr. Dirk Repkewitz, Chefarzt der Neuroanästhesie am Bezirkskrankenhaus Günzburg
Fehler zu machen, ist der Routine gewichen. Das liegt auch an den
technischen Möglichkeiten. Was heute alles machbar ist, erstaunt
mich immer wieder. Für manche Eingriffe arbeiten­wir in unserer
,BrainSuite‘, die über intraoperativen Kernspin eine genaue Navigation im Gehirn ermöglicht. Der Chirurg hat im Vorfeld ein präzises
Bild des Areals. Das ändert sich beim Entfernen von Gewebe. Also
müssen neue Bilder gemacht werden. Der Patient­ist dabei oft wach.
Wenn ein Tumor entfernt wird, der nah am Sprachzentrum liegt,
muss er mit uns reden. Ein Fall, der mich beeindruckt hat? Ein junger Mann sprach, während ihm ein bösartiger­Tumor entfernt wurde, über sein Fachgebiet. Germanische Geschichte! So technisiert
unser Arbeitsumfeld auch ist, für mich liegen dort immer noch Menschen und ihre Schicksale. Empathie ist wichtig. Es reicht nicht, die
Patienten nur zu überwachen. Wir müssen ihnen die Hand halten!“
Fotos: Mat thias Schmiedel; Andreas Reeg ; Text: Isabell Spilker, Silke Umbach
„Weil ich liebe, was ich mache, teile ich mein Wissen gern. Seit
zwölf Jahren organisiere ich Praxiskurse zum Thema Neuroanästhesie. Denn um Facharzt für Anästhesie zu werden, muss man an
mindestens 25 Operationen am offenen Schädel teilgenommen haben. Bei uns bekommen junge Ärzte an drei Tagen die Chance, bei
einigen Eingriffen zu hospitieren. Eine Herausforderung: Das Bewusstsein der Patienten muss während der Narkose ausgeschaltet
werden. Der Chirurg aber möchte wissen, ob bestimmte Hirnfunktionen noch intakt sind. Mit einer normalen Narkose lässt sich das
nicht erreichen. Ebenso wenig können die Reaktionen von Armen
und Beinen getestet werden, wenn – wie bei einer Narkose üblich –
die Muskeln erschlafft sind. Gleichzeitig muss der Patient still und
ruhig sein, darf nicht husten oder zucken. Ich fühle mich in dem, was
ich mache, wesentlich sicherer als noch vor 20 Jahren. Die Angst,
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Robert Gutknecht und David Strieth, Freiwillige Feuerwehr Winkel (Rheingau)
„Es war der größte Einsatz unseres Lebens. Doch selbst unter­
500 Einsatzkräften kann man ganz allein sein, vorn, im Angesicht der Gefahr. Still, menschenleer und bedrohlich – so
fühlte es sich an, am Wasserwerfer, wo wir die giftigen Gase
niederschlugen. Wir gehörten zu den Ersten, die alarmiert
wurden, als am 13. August 2012 in einer Schaumstofffabrik
in Oestrich-Winkel ein Chemikalientank havariert war. Beim
Heran­gehen spürte man die Bedrohung. Ohne Lungen­automat
brannte es in Augen und Nase. Im Werk trat Isocyanat aus, ein
Verwandter der Blausäure. Also waren wir auf unsere Pressluftatmer angewiesen. Am Wasserwerfer ließ es sich damit
gut eine halbe Stunde aushalten. So wehrten wir die Bildung
einer toxischen Wolke ab und schützten die Anwohner. Wir
kennen uns seit vielen Jahren, haben in der Jugendfeuerwehr
angefangen, studieren beide Elektrotechnik. Das ergibt ein
gutes Team – und macht es einfacher, wenn ein Großeinsatz
mitten in die Klausurphase fällt und man sich entscheiden
muss, Prüfungen aufzuschieben. Der Kampf gegen die Bedrohung daheim hat Vorrang! Darauf muss man sich einlassen, wenn man zur Feuerwehr geht. Manch einer denkt, das
ist ein Hobby. Aber es ist mehr: die Übernahme einer Pflicht!
Niemand kann dabei sein und nur zwei- oder dreimal im Jahr
kommen. Wir müssen im Training bleiben. Und, wenn Gefahr
droht, das Notwendige tun. In Oestrich-Winkel waren wir erfolgreich. Zwar wurden mehrere Kameraden verletzt, und lange noch wachten Einsatzkräfte vor Ort, doch der Bevölkerung
ist nichts geschehen. Wir konnten gemeinsam verhindern,
dass aus dem Unglück eine Katastrophe wurde.“
5
S t ic hwör t er Um was es HIER Geht
Stichwörter
Jedes von ihnen deckt auf dieser
Doppelseite einen neuen Aspekt eines
Artikels auf, zeigt ihn aus einer anderen
Perspek­tive. Denn jedes Thema hat
verschiedene Facetten. Die Erklärungen
und Erläuterungen der Stichwörter
zitieren aus Lexika, Wör­terbüchern und
Fach-Enzyklopädien. Sie enthalten
auch Streifzüge durch andere Gebiete.
Damit man manchen Aspekt mit
anderen Augen sieht.
Werkalarm
Verbrennungsmotor
In ihm verbrennen Kraftstoff und Luft,
was gezielt zur Erzeugung mechanischer
Energie genutzt wird. Weltweit werden
rund eine Milliarde Autos von Verbrennungsmotoren angetrieben. Werkfeuerwehren sorgen dafür, dass bei der Autoproduktion alles unter Kontrolle bleibt.
Wie etwa beim drittgrößten PkwHerstel­ler der Welt, der VW AG
in Wolfsburg. Ab Seite 26
Schlafen und Wachen
Chronobiologie
Über den allergrößten Teil der Geschichte richtete sich die menschliche Arbeit
nach dem Sonnenstand. Doch mit der industriellen Revolution stand die Sonne im
Schatten des unerbittlich regelmäßigen Takts von Maschinen und Kapitalrendite.
Elektrizität – und ihre Verteilung über Stromnetze – machte die Nacht zum Tag.
Und das Netz von Eisenbahnen sowie Telekommunikation erforderte ebenfalls
einen anderen Zeittakt, der heute von Atomuhren gesteuert wird. Wie die „innere
Uhr“ von Pflanzen, Tieren und Menschen funktioniert, erforscht seit dem 18. Jahrhundert die Chronobiologie. Sie konnte zeigen, wie etwa unterschiedliche Helligkeiten
beim Menschen die Produktion von Hormonen und Botenstoffen auslösen oder
ver­hindern. Das wirkt sich auf Stimmung wie Leistungsvermögen aus. Erkenntnisse,
die notwendige Schichtarbeit erträglicher machen können.
Ab Seite 52
Alkohol
Strafe
FotoS: Shutterstock (3), Åke Ericson, Pacific Stock/F1online
Verstößt jemand gegen Gesetze, sollte das Konsequenzen haben. Strafe ist
eine Konsequenz, auch wenn sich die Rechtspraxis von der alttestamentarischen
Wucht des „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ weitgehend verabschiedet hat.
Will man den Menschen läutern und sein Verhalten nachhaltig ändern,
sind mit­unter sanftere Methoden gefragt – und erfolgreich. Ab Seite 44
Helfer
Biomonitoring
Walzer
Wien
Fiaker, Schnitzel, „Alles Walzer“, Gustav
Klimt, Prater, Lipizzaner, der Stephansdom, „Schmäh“, die schöne blaue Donau,
das Restaurant „Steiereck“. Das alles
gehört zu Wien – wie auch die
Berufsrettung. Ab Seite 32
6
Ob Bakterien, Krebstierchen oder Fische –
zur Qualitätsprüfung von Substanzen
setzt man auch auf die Beobachtung von
Lebewesen in Wasser, Luft und auf der
Erde. Sie reagieren schnell, empfindlich
und zuverlässig. Richtig eingesetzt
sind sie zudem – anders als manche TestChemikalie – keine Gefahr für den
Menschen. In Warstein arbeiten sie
sogar mit am Deutschen Rein­
heitsgebot für Bier. Ab Seite 18
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
Feuerwalze
Multimedia
Flashover
QR: mehr per Handy
Er ist eine der größten Herausforderungen
für Feuerwehrleute, dieser „schnelle
Übergang aller Oberflächen brennbarer
Materialien eines Raumes hin zu einem
Feuer“. Das Resultat ist ein Vollbrand mit
Temperaturen von bis zu 1.000 °C.
Diese Flammenhölle zu löschen
bedarf gezielter Strategien und
Übung. Ab Seite 36
Das Drägerheft erweitert
sein Multimedia-Angebot: Wer
ein iPhone oder AndroidHandy besitzt, kann nun auch
Videos, Infografiken, Fotostrecken oder
Produktinformationen zu bestimmten
Themen auf seinem Smartphone sehen.
Unter den jeweiligen Artikeln stehen
sogenannte QR-Codes. Wer ein solches
Endgerät hat, kann sich im Internet eine
App herunterladen – zum Beispiel das
kostenlose Programm von Scanlife. Wenn
man anschließend die Kamera des Handys auf den QR-Code richtet und auslöst,
werden die Informationen angezeigt.
Reisen
Tourismus
Es sei das „Reisen zum Kennenlernen fremder Orte und zur Erholung“, informieren
einen die Lexika unter dem Stichwort „Tourismus“. So gesehen ist er zunächst
ein Kind der Oberschicht und wurde von dort aus seit dem 19. Jahrhundert zum
­heutigen Massenphänomen: Mit 76,8 Millionen Ankünften war Frankreich im
vergangenen Jahr das meistbesuchte Land, gefolgt von den USA und China.
Deutschland stand auf dem achten Rang. Ein „Tourismus“ der besonderen
Art hat nun auch die Krankenhäuser der Welt erreicht. Ab Seite 40
Ausgezeichnet
Silber für Drägerheft
In diesem Jahr zeichnete der BCP
das Drägerheft (Ausgabe 389)
mit Silber aus. Über 700 Publikationen
erreichten die fachkundige Jury bei
Europas größter Leistungsschau für
Corporate-Publishing-Produkte.
Re­daktion und Art Direktion erhielten
diese Auszeichnung für die verständliche Vermittlung komplexer Technik.
Dürfen und Müssen
Ethik
Schätze
Unterwasserarchäologie
Untergegangene Schiffe sind historische Flaschenposten. Sie bringen nicht
nur P
­ orzellan, Münzen und sogar nach Jahrhunderten noch trinkbare Wein­
flaschen ans Licht, sondern informieren auch über Handelswege und geben
­manches Rätsel auf – wie den „Mecha­nismus von Antikythera“, wohl eine
Himmelsuhr. Ebenso faszinierend: die Welt der Berufstaucher. Ab Seite 8
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
Als Aaron Alston 2003 einen Arm
amputierte, war das einer der seltenen
Fälle ohne jedes ethische Problem:
denn es war sein eigener. Und ohne diese
heroische Selbstverletzung wäre der
fünf Tage lang unglücklich in einer Felsspalte Steckende unweigerlich ver­
durstet. Doch dass Entscheider, Akteur
und Betroffener ein und dieselbe ­Person
sind, ist im täglichen Leben eine Ausnahme. Ethik – oder, besser: Ethiken –
geben Hinweise für das rechte Verhalten. Die Verantwortung muss indes jeder
selbst tragen. Doch: Welche grundsätzlichen Denkweisen gibt es?
Ab Seite 22
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Handwerk unter
extremen Bedingungen:
Sättigungstaucher
erledigen riskante Arbeiten –
mitunter in mehreren
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hundert
Metern Tiefe
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
SÄTT IGU N G STAU CHEN Fo k u s
Schweißen
am Meeresgrund
Mehrere hundert Meter unter der Meeresoberfläche arbeiten
Berufstaucher unter extremen Bedingungen. Komplexe
Technik und moderne Systeme machen diese Arbeiten überhaupt
erst möglich – und das Leben der Taucher sicherer.
Foto : Tips Images/F1online
D
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
ie blaue Drucktür führt in eine
andere Welt. Hier glänzt Edelstahl, Liegesessel mit weißen
Kunststoffbezügen hängen an der Wand.
Unter der Decke: eine Hochdruck-Wassernebel-Löschanlage. Links führt eine Leiter durch eine enge Röhre nach unten in
die nächste Etage. Sie ist ein Spiegelbild
des oberen Wohnzylinders, nur dass sich
hier Stockbetten entlang der Wände hangeln. So stellt man sich das Innere einer
Raumstation vor. Und tatsächlich ist dieses Habitat für das Leben unter extremen
Bedingungen gemacht: doch nicht im All,
sondern tief unter der Meeresoberfläche.
Für die Taucher an Bord des norwegischen Spezialschiffs Seven Havila ist
­diese unwirklich anmutende Umgebung >
9
Fok u s SÄT T IGUN GSTAUCH E N
Die Technik hat sich in den vergangenen
Jahrzehnten deutlich verändert
Geschlossenes
System: Moderne
Taucherbasis­
schiffe wie die
Seven Havila
(oben) sind um
die Anlage für
das Sättigungs­
tauchen gebaut.
In den Druck­
kammern (unten)
leben die Taucher
während der Ein­
sätze teils mehre­
re Wochen lang
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Drägerheft 391 | 3 / 2 012
Foto : istockphoto
Tieftaucher: Pottwale können
bis zu 3.000 Meter erreichen
> ein Stück Heimat. Bei Einsätzen leben
sie bis zu 28 Tage in diesem System aus
Röhren, in dem Wohn- und Schlafkammern eng miteinander verbunden sind,
und an das sich Sanitäranlagen sowie
Übergänge zu den beiden Tauchkugeln
anschließen. Bei Einsätzen beträgt der
Druck ein Vielfaches des gewohnten
atmosphärischen Drucks. Geatmet wird
dann eine Mischung aus Helium und
Sauerstoff (Heliox).
Die Taucher absolvieren jeweils
sechsstündige Arbeitsschichten, etwa
in der Nordsee. Die Seven Havila ist für
Arbeiten bis zu 300 Meter Meerestiefe
zugelassen. Doch lange Tauchgänge sind
nur möglich, wenn sich der menschliche
Körper für längere Zeit an die Bedingungen anpasst, die in solchen Tiefen herrschen. Die Dekompressionszeit beträgt
– je nach Druck – mehrere Tage; beim
oberflächennahen Sporttauchen sind es
nur wenige Minuten.
FotoS: Hav yard Global Solutions AS
Tauchen liegt in der Familie
„Drei bis vier Wochen auf engstem Raum:
Das ist eine lange Zeit, aber man gewöhnt
sich daran“, sagt Neil Ward, Spezialist für
Arbeiten in großen Tiefen. Der Schotte ist
seit 22 Jahren Berufstaucher. Und das ist
Teil seiner Familiengeschichte: „Schon
mein Großvater war Taucher. Heute führen mein Bruder und ich diese Tradition
fort.“ Ward hat bereits Einsätze an der
afrikanischen Küste hinter sich. Sonst
taucht er in der Nordsee, vor Norwegen
oder seiner britischen Heimat.
Die Aufträge ähneln einander oft:
leichte bis mittelschwere Installationsund Bauarbeiten, dazu Wartung und
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Reparatur. Die Anlagen gehören fast
immer zur Öl- und Erdgasindustrie –
Bohrinseln, Pipelines und andere Stahlkolosse, die die Schätze im Meeresboden
zutage fördern. Wer hier als Berufsoder Sättigungstaucher arbeitet, muss
nicht nur die Technik beherrschen, sondern auch nach industriellen Standards
schweißen und montieren können.
Seit 2011 arbeitet Neil Ward für das
englische Unternehmen Subsea 7 auf
der Seven Havila, einem der weltweit
modernsten Schiffe seiner Art. „Bis zu
sechs Taucher können gleichzeitig auf
dem Meeresboden arbeiten“, erklärt
Schichtleiter Peter Alexander, und das
stelle derzeit den Maßstab für große
Arbeitseinsätze dar. Dazu werden beide Tauchglocken mit jeweils bis zu vier
Mann in die Tiefe gelassen. Einer bleibt
zur Sicherung immer in der Glocke.
„Die technische Entwicklung des
Sättigungstauchens in den vergangenen
Jahrzehnten ist gewaltig“, sagt Alexander.
Der Engländer hat früher selbst als Sättigungstaucher gearbeitet. „Ich war dabei,
als dieses Verfahren in der Nordsee vor
mehr als 35 Jahren eingeführt wurde.“
Was sich nicht geändert habe, sei die
Anforderung an die Männer, die sich diesem Job stellen: „Man muss ein absoluter Teamplayer sein, extrem stressresistent, und sich neuen Situationen schnell
anpassen können.“
Vollautomatisierte Tauchtechnik
Immerhin nimmt das Schiff der Crew
die anspruchsvolle Aufgabe ab, Drücke,
Gasgemische und Temperaturen ständig von Hand nachführen zu müssen. >
Leben in
10 Kilometer Tiefe
Die ursprünglichste Form des Tauchens
ist das Apnoe- oder Freitauchen, bei
dem Menschen ihre Tauchgänge mit nur
einem einzigen Atemzug bestreiten.
Der Weltrekord für Männer liegt bei mehr
als 200 Metern. Um aber länger unter
Wasser arbeiten zu können, braucht der
Mensch eine künstliche Versorgung
mit komprimierten Atemgasen.
Hier sind uns andere Säugetiere –
wie See-Elefant oder Pottwal – weit
voraus, die länger als eine Stunde
tauchen können (siehe auch Seite 30 f.).
Manche Tiere leben sogar in größten
Wassertiefen. So wurden in diesem Jahr,
bei einer Expedition der Universität
Aberdeen in die neuseeländische Tiefseerinne Kermadec Trench, riesige
Flohkrebse („Alicella gigantea“) in über
zehn Kilometer Tiefe entdeckt. Hier
herrscht ein Druck, der tausendmal größer ist als an der Wasseroberfläche.
Bereits in der griechischen und
­römischen Antike gab es Überle­gun­gen,
wie man mit technischen Hilfs­mitteln
längere Zeit unter Wasser bleiben kann.
Alexander der Große erkundete im
vierten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung mit einer Taucherglocke
die Tiefe. Vor mehr als 2.000 Jahren
griffen Kampfschwimmer unter
Wasser feindliche Schiffe an, Perlentaucher sammelten Mollusken auf
dem Meeresboden, und Experten für
Unterwasserarbeiten bargen gesun­
kene Schiffe und führten Reparaturen
an Hafenanlagen aus.
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Ab in die Tiefe: Tauchkugeln
für Sättigungstaucher warten in
einem Taucherbasisschiff auf
ihren Einsatz. In ihnen können
Berufs­taucher bei Überdruck bis
auf mehrere hundert Meter Arbeits­tiefe herabgelassen werden
Ein Grundprinzip, das was „taucht“
Das Problem der Atemluftversorgung versuchten viele Erfinder zu lösen,
indem sie Atemrohre an die Wasseroberfläche führten. Das Schnorchelprinzip funktioniert jedoch nur in geringen Tiefen. Bereits in 20 Meter
Tiefe herrscht das Dreifache des atmosphärischen Drucks. Hier braucht
es eine andere Möglichkeit, den Menschen zuverlässig mit komprimierter Atemluft zu versorgen. Das geschah mit den ersten Helmtauchgeräten
um das Jahr 1800, die mit einer Pumpe komprimierte Atemluft über
einen Schlauch erhielten.
Zusammen mit der Technik wurde die Physiologie des Tauchens
entwickelt. Dazu gehören insbesondere Prävention und Therapie der
Dekompressionskrankheit. Sie tritt auf, wenn der Druck beim Auftauchen
zu schnell wieder nachlässt. Die in Blut und Gewebe gelösten Gase –
insbesondere Stickstoff – bilden dabei Bläschen, die Gewebe und ­Nerven
schädigen und Blutgefäße blockieren können. Zu den weiteren Kom­
plikationen des Tauchens gehört die Vergiftung durch hohe Stickstoffkonzentrationen im Gewebe, der „Tiefenrausch“.
Technik, bei der ein Taucher seinen Atemgasvorrat mit sich führt, gibt
es seit etwa 100 Jahren. „Seitdem sind wir an der Entwicklung dieser
Geräte beteiligt“, sagt Oliver Schirk, Tauchexperte bei Dräger. Bereits 1912
stellte Dräger ein Kreislauftauchgerät (Rebreather) vor, das in Kombina­
tion mit Helm und klassischem Taucheranzug getragen wurde. Bei einem
modernen Kreislauftauchgerät wird das Kohlendioxid durch Atemkalk
­gebunden, dem gereinigten Gas wird daraufhin frischer Sauerstoff zugeführt.
Zu den wichtigen Schritten der Rebreather-Technik von Dräger gehörten
Kreislauftauchgeräte vom „Leutnant Lund“ (1953) bis hin zu den aktuellen
„LAR 5000“ und „LAR 7000“ für taktische Militäreinsätze und Minen­
taucher. In den 1930er-Jahren begann Dräger auch mit der Entwicklung
von Druckluft-Schwimmtauchgeräten. Heute steht das System „PSS
Dive“ für professionelle Anwender zur Verfügung. Von Anfang an engagier­te
sich Dräger auch in der Tauchforschung. So stellte das Unternehmen
1913 in Lübeck einen Tieftauchsimulator in Dienst und brachte 1917 einen
ersten Dekompressionsapparat auf den Markt.
Zum Schwimmtauchen kommen moderne Formen des Helmtauchens
mit externer Atemgasversorgung und Spezialanwendungen wie das
­Sättigungstauchen. Einen Brückenschlag zur U-Boot-Technik stellen schließ­
lich druckfeste Panzertauchanzüge (Atmospheric Diving Suit, ADS)
dar, die den Taucher vor dem Wasserdruck schützen und ihm gleichzeitig
die notwendige Beweglichkeit für Arbeiten unter Wasser geben.
12
> Mit ihrer vollautomatisierten Tauchtechnik ist die Seven Havila deshalb ein
wichtiger Baustein für das Sättigungstauchen. Im vergangenen Jahr wurde
sie in Dienst gestellt. Dräger hat mit
dem Tauchtechnik-System die größte
Schlüsselkomponente­geliefert. Dazu
zählen beispielsweise­­die Druckkammern, die Gastechnik samt Steuerung,
Leitungen und Speicherelemente, aber
auch Brandschutz- und Rettungstechnik.
Wenn der Kapitän das
Kommando verliert
Operatives Herzstück ist die Tauchzentrale („Dive Control“) auf dem A-Deck,
von der die Seven Havila während eines
Einsatzes gesteuert wird. Alles andere
hat sich dann unterzuordnen: „Sobald
die Tauchglocken im Wasser sind, wird
das Schiff von hier aus kommandiert“,
sagt Peter Alexander. „Dann hat die operative Einheit das Sagen, und nicht mehr
der Kapitän – das Schiff wird also von
unten nach oben gesteuert und nicht
umgekehrt.“ Die Technik des Tauchsystems wurde individuell gefertigt. „Es
gibt kaum Standardkomponenten“, sagt
Per-Arne Spreemann. Der FlugzeugbauIngenieur arbeitet für Dräger an der
Erweiterung der Software des Automa­
tionssystems. Um ein ebenso sicheres
und robustes wie komfortables System
zu entwickeln, brachte Dräger neuartige
und individuelle Lösungen ein. „Deshalb
haben wir uns bereits früh mit der norwegischen Klassifizierungsgesellschaft
DNV (Det Norske Veritas) abgestimmt,
von der die komplette Anlage später abgenommen wurde“, erklärt Spreemann. >
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SÄT T I GU N GSTAU CHE N Fo k u s
Sobald die Taucher im Einsatz sind, hat die
Tauchzentrale an Bord das Sagen
ÜberdruckRettungsboot
Fluchtweg
zum ÜberdruckRettungsboot
Kammer 1:
• Ein- und Ausschleusen
von bis zu sechs Personen
• Wohn-, Schlaf- und
Sanitärbereich
Kammer 3: Wohnund Schlafbereich
für sechs Taucher
Kammer 2: Wohnund Schlafbereich
für sechs Taucher
IIllustration: Drägerwerk AG & Co. KGaA
Tauchkugeln
Leben unter Druck
Kammer 4/5:
• Übergang zu
Tauchkugeln
• Sanitärbereich für
Kammer 2 und 3
Aus Schlaf- und Wohnkammern, Sanitär­
bereich, Tauchkugeln und ÜberdruckRettungsboot besteht das System, in dem
Sättigungstaucher leben – wenn sie
nicht gerade tief im Meer arbeiten
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13
Fok u s SÄT T IGUN GSTAUCH E N
Bei Arbeiten mit historischem Gerät lässt sich
Tauchgeschichte realistisch erleben
> An einem warmen Sommertag liegt die
120 Meter lange und 23,45 Meter breite
Seven Havila am Ausrüstungskai im norwegischen Stavanger. Trennschleifer kreischen, überall wird gearbeitet. Es ist Zeit
für die Re-Zertifizierung nach den strengen norwegischen Regeln, die je nach
System jährliche oder sogar halbjährliche Prüfungsintervalle vorschreiben. Die
Quartiere der Taucher sind in dieser Zeit
gespenstisch leer. Dafür herrscht Hochbetrieb in der Tauchzentrale, wo gerade alle Abläufe geprüft werden. „Drücke,
Mischungsverhältnisse, Temperaturen
und andere Parameter wurden früher von
Hand an den Ventilen eingestellt“, erklärt
Schichtleiter Alexander. Heute braucht es
dafür nur einen Mausklick.
Mit der Tiefe steigt der Druck
Peter Alexander (hier bei einem Probelauf) behält den Überblick, wenn
die T­ aucher im Einsatz sind. Der Schotte ist Schichtleiter auf der Seven Havila,
und hat früher selbst als Sättigungstaucher gearbeitet
14
Am Grundgedanken des Sättigungstauchens habe sich nichts geändert, sagt
der britische Experte. Bei diesem Verfahren, das ausschließlich in der Welt der
Berufstaucher angewendet wird, leben
und arbeiten die Taucher auf Dauer unter
jenem Druck, der an ihrem Einsatzort
herrscht. Dabei gilt die Faustformel, dass
mit jeweils zehn Meter Wassertiefe der
Druck um 1 bar zunimmt. Herrscht also
bei zehn Metern unter der Oberfläche der
doppelte Druck wie über dem Meer, sind
es bei 100 Metern bereits über 10 bar und
bei 300 Metern sogar mehr als 30 bar. Die
Rekordtiefe für Sättigungstaucher liegt
bei 534 Metern, sie wurde bereits in den
1980er-Jahren erreicht. Und bei Versuchen in einer Druckkammer erreichte
ein Taucher sogar eine simulierte Tiefe
von mehr als 700 Metern.
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
Helmtaucher des 21. Jahr­hunderts: Neil Wark arbeitet
als Sättigungs­taucher für
Subsea 7. Der Spezialist ist vor
allem bei Projekten der
Öl- und Gasindustrie gefragt.
Moderne Gastechnik­von
Dräger sichert seine Einsätze
FotoS: Drägerwerk AG & Co. KGaA (4); Hav yard Global Solutions AS (1)
Bei solchem Druck überhaupt zu atmen
fordert den menschlichen Körper. Noch
kritischer sind schnelle Druckwechsel.
Schon beim Auftauchen aus geringen
Tiefen sind Dekompressionspausen notwendig, in denen der im Gewebe gelöste
Stickstoff vom Blutkreislauf wieder aus
dem Körper transportiert wird.
Eine regelmäßige Dekompression ist
beim Sättigungstauchen aber nicht möglich. „Bei mehrstündiger Arbeit in großen Tiefen muss für den Druckausgleich
bis zu eine Stunde je Meter eingerechnet werden“, erklärt Neil Wark. Deshalb
leben die Taucher über mehrere Wochen
in einer Atmosphäre, die dem Druck an
der Arbeitsstelle unter Wasser entspricht.
Sie atmen dabei spezielle Gasgemische,
die vor allem aus Heliox (Helium und
Sauerstoff) bestehen. Damit werden die
Auswirkungen der Stickstoffnarkose bei
größeren Tauchtiefen vermieden – der
sogenannte Tiefenrausch.
99 Prozent Wiedergewinnung
Hochdruck herrscht nicht nur im Wohnund Schlafquartier, sondern auch in den
beiden Tauchkugeln. Mit ihnen gelangen die Taucher aus ihrem „hyperbaren
Wohnbereich“ zum Einsatzort und können dort aussteigen. Die Seven Havila ist
auch mit zwei Überdruck-Rettungsbooten ausgestattet, auf denen die Taucher
bei einem Unglück oder Brand in Sicherheit gebracht werden können.
Der Einsatz des stark flüchtigen Heliums als Atemgas stellt hohe Ansprüche
an die Technik an Bord des Tauchschiffs.
Das Edelgas ist so teuer, dass es nach Gebrauch nicht einfach an die Atmosphäre >
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
Tauchgeschichte atmen
Wenn die Aktiven der britischen Historical Diving Society (HDS) bei Hafenfesten
auftreten, hält das Publikum den Atem an: Dann steigen die ehrenamtlichen
Tauchhistoriker in Anzüge, die vor vielen Jahrzehnten gefertigt wurden. Sie stülpen
sich schwere Metallhelme mit kreisrunden Sichtscheiben über, um schließlich
im Wasser zu verschwinden. Es ist nicht allein die Technik, die diese Menschen
fasziniert – Helmtaucher gibt es heute schließlich auch unter den Berufstauchern.
Vielmehr begeistert der Brückenschlag zwischen
damaliger Technik und ihrem heutigen Einsatz
unter realen Bedingungen. Das besondere Flair
dieser gelebten Geschichte weiß auch die Film­
industrie zu schätzen: „Fernsehen und Filmindus­trie
fragen häufig nach Unterstützung bei historischen
Produktionen“, berichtet Mike Fardell, Geschäfts­
führer der HDS.
Die Gesellschaft wurde 1990 gegründet und
hat heute rund 200 Mitglieder in Großbritannien
sowie 100 weitere in aller Welt. Tauchgeschichliche
Vereinigungen, sagt Fardell, gebe es auch in
Austra­lien, Dänemark, Deutschland, Finnland,
Frankreich, Italien, Kanada, Norwegen, Polen,
Vorreiter: Kreislauftauch­
gerät von Dräger aus
Spanien, Russland, Schweden, Slowenien,
dem Jahr 1912, das mit
Tschechien
und den USA.
Helm getragen wurde
Historisches Tauchen ist weder auf eine
spezi­fische Technik noch auf eine bestimmte Epoche
festgelegt. „Unsere Mitglieder be­schäf­tigen sich
mit der kompletten Geschichte des Tauchens –
vom Schwimmen unter Wasser mit angehaltener Luft über frühe technische Hilfsmittel bis hin
zu ak­tu­ellen Entwicklungen.“ Einen Traum hat
sich die Gesellschaft mit ihrem Museum in Gosport
(Hampshire, Südengland; rund 90 Kilometer
westlich von Brighton) erfüllt, das 2011 in einer
viktorianischen Hafenbefestigung eröffnet
wurde. Betreut wird es von Mitgliedern der HDS,
die einen Hintergrund als Militär-, Berufsoder Freizeittaucher haben.
Forschung: Dräger machte
www.thehds.com
schon 1914 Langzeit-Tauchtests bei 9 bar möglich
www.divingmuseum.co.uk
15
Präzises Gasmanagement ist entscheidend für die Sicherheit
der Taucher – und den effizienten Einsatz von Ressourcen
> abgegeben wird. „Vielmehr strömt das
vom Taucher verbrauchte Gasgemisch
zurück in die Anlage, wo es zu 99 Prozent wiedergewonnen wird“, sagt Dräger-Experte Per-Arne Spreemann.
An der Nabelschnur des
Mutterschiffs
Versorgt werden die Taucher während
ihrer Einsätze über ein mehrere Hundert Meter langes Leitungsbündel, die
sogenannte „Nabelschnur“ (Umbilical). Hier laufen unter anderem Leitungen für Atemluft und Rückluft, elektrische Energie und Kommunikation, aber
auch der Schlauch für das Warmwasser,
mit dem die Anzüge der Taucher in der
eisigen Tiefe temperiert werden. Dieser
vieladrige Strang läuft durch die Tauchschächte im Schiffsboden (sogenannte
Moonpools mit 4,80 Meter Durchmesser, durch die die Kugeln direkt aus dem
Rumpf ins Wasser gelassen werden) in
die Tiefe zur jeweiligen Tauchkugel. Mit
dieser „Bell“ ist wiederum jeder Taucher
durch sein eigenes, rund 30 Meter langes Umbilical verbunden. Darüber hinaus sind Tauchkugel und Helmtaucheranzug mit Atemgasreserven für Notfälle
ausgestattet. Denn Vertrauen heißt für
die Taucher nicht nur, sich vorbehaltlos auf die anderen Menschen an Bord
verlassen zu können. Vertrauen bedeutet auch, dass die lebenswichtige Technik redundant und maximal zuverlässig
ausgelegt ist.
Peter Thomas
Interview: GTÜM-Präsidentin
Dr. Karin Hasmiller über Standards
in der Tauchmedizin
www.draeger.com/391/tauchen
16
Leben in der Röhre: Die Druckkammern, in denen die Taucher mehrere Wochen lang
leben, sind ein Herzstück auf dem norwegischen Spezialschiff Seven Havila
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
SÄT T I GU N GSTAU CHE N Fo k u s
FotoS: Drägerwerk AG & Co. KGaA (2); Hav yard Global Solutions AS (2)
Foto : privat
„Für Kampfschwimmer ist das
Tauchen Mittel zum Zweck“
Verschiedene Gase werden durch
das Leitungsnetz an Bord des
Schiffes transportiert. Große Drucktanks dienen dafür als Speicher,
gesteuert wird die Anlage mit moderner Computertechnik
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
Jens Höner, Oberleutnant zur See, hat als Ausbilder
Minentaucher und Kampfschwimmer geschult.
Mit dem Drägerheft sprach der Offizier über die
Taucher­einheiten der Bundeswehr.
Herr Höner, in welchen Funktionen setzt die Bundeswehr Taucher ein?
Taucher gibt es vor allem in der Marine, aber auch im Heer – Pioniertaucher, die in
Percha am Starnberger See ausgebildet werden. Dazu kommen die Taucher­einheiten
der Marine: Schwimmtaucher, Schiffstaucher, Minentaucher und Kampfschwimmer.
Was sind die typischen Einsatzgebiete der verschiedenen
Marine-Einheiten?
Schwimmtaucher sind Taucher in Zweitverwendung. Das heißt, sie fahren in anderer
Funktion auf den Booten und Schiffen der Marine, werden bei Bedarf aber auch
für leichte Reparaturen oder Schiffsbodenuntersuchungen ein­gesetzt. Dagegen sind
Schiffstaucher ausgesprochene Spezialisten, die für Bergung, Reparatur und
Instandhaltung unter Wasser eingesetzt werden – auch in Häfen. Sie arbeiten für
gewöhnlich mit Luftversorgung von der Oberfläche und unter Wasser mit hy­drau­
lischen Werkzeugen sowie verschiedenen technischen Verfahren vom Brennschweißen
bis zum Bohren. Minentaucher beseitigen Kampfmittel aller Art unter Wasser,
aber auch an Land – sie wurden beispielsweise in Afghanistan eingesetzt. Das sind
in allen Bereichen der Munition ausgebildete Feuerwerker, die auch Objekte aus
den beiden Weltkriegen bergen und unschädlich machen können. Für die Kampf­
schwimmer ist das Tauchen Mittel zum Zweck, nämlich für die An- und Rückfahrt
zu ihrem Einsatzort. Zu ihren Aufgaben gehören beispielsweise Aufklärung, AntiPiraten-Einsätze und auch Land­einsätze – teils in Kooperation mit dem Kommando
Spezialkräfte (KSK).
Welche Qualifikation muss man haben, um bei der Marine
als Taucher zu arbeiten?
Sie brauchen zunächst keine fachliche Vorbildung, sondern müssen die körperlichen
Voraussetzungen für das Tauchen mitbringen. Dazu werden Taucheranwärter zunächst im Schifffahrtsmedizinischen Institut der Marine auf ihre TUKV (Taucher-,
U-Boot- und Kampfschwimmer-Verwendungsfähigkeit) geprüft. Hier wird auch
die Sauerstoff­verträglichkeit von potenziellen Trägern von Kreislaufgeräten getestet.
Über die Zulassung zur Ausbildung entscheidet vorab der abgelegte Sporttest.
Schiffstechnische Taucher haben im Rahmen ihrer Ausbildung die Möglichkeit, eine
Prüfung zum Berufstaucher vor der Industrie- und Handelskammer abzulegen.
17
Br auer eien Premium-B ie re
Flohzirkus in Premium-Qualität
Das Reinheitsgebot von 1516 hat deutsche Biere groß gemacht. Aus nichts als Hopfen, Hefe, Malz
und Wasser dürfen sie gebraut werden. Und doch lassen sich Regionen und Marken herausschmecken.
Es sind die Details, die den Unterschied ausmachen – auch bei Warsteiner.
Lagerung in luftiger Höhe:
Jeder der insgesamt 148 Brauerei­
tanks ist 24 Meter hoch und hat
ein Fassungs­vermögen von rund
320.000 Litern. Na dann: Prost!
18
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
Frühwarnsystem im
Miniaturformat: Wasserflöhe arbeiten in
Warstein mit am deutschen Reinheitsgebot
O
ft sind es die kleinen Dinge,
die eine große Wirkung entfalten können. Gestatten: Daphnia magna Straus! Überlebenskünstler.
Wenn der nur wenige Millimeter große Wasserfloh von Räubern angegriffen wird, wachsen ihm in Windeseile
ein „Helm“, ein langer Schwanz und
Nackenzähne. Damit ist er in vielen Fällen zu groß, um gefressen zu werden.
Auslöser für die Schutzreaktion sind
Signalstoffe, die ihre Angreifer beim
Fressen absondern. Doch die kleinen
Krebstiere können noch mehr. Auf manche Substanzen, Pestizide etwa, reagieren sie empfindlich. Das macht sie zu
einem Frühwarnsystem im Miniaturformat. Ihre feinen Antennen stehen
deshalb seit einigen Jahren im Dienst
der Warsteiner Brauerei, einer der
ältesten und größten Privatbrauereien
Deutschlands.
„Gerstenmalz und Hopfen sind wichtige
Zutaten für ein Premium-Pils. Die Qualität des Wassers wird dabei oft unterschätzt – für uns ist sie lebenswichtig“,
sagt Frank Homann, Leiter Qualitäts­
sicherung bei Warsteiner. Homann
ist Diplom-Braumeister und ein alter
Hase. Er weiß, wie aufwendig es ist, ein
schmackhaftes Bier zu brauen. Und er
weiß, wie „Eine Königin unter den Bieren“ (so verrät es das Warsteiner-Etikett)
schmecken muss: „Vollmundig, feinherb,
zugleich etwas würzig.“ Auch die helle,
goldgelbe Farbe spielt eine Rolle: „Das
Auge schmeckt und trinkt immer mit!“
Biologische Vortester:
klein, aber oho
Damit die Wasserqualität den hohen
Erwartungen entspricht, präsentiert
Homann seinen ganzen Stolz: ein Daphnien-Toximeter. Was entfernt an einen
FotoS: Warsteiner Gruppe (2), Shut terstock
Brauer aus dem Sauerland
Die Warsteiner Brauerei ist seit der Gründung 1753
in Familienbesitz – mittlerweile in neunter Generation.
Neben der Brauerei gehören mehr als 100 Unternehmen zur Warsteiner Gruppe, die weltweit rund 2.300
Mitarbeiter beschäftigt. Das Flaggschiff, Warsteiner
Premium Verum, wird in mehr als 60 Länder exportiert.
Das Auslandsgeschäft beruht auf eigenen Vertriebs­
organi­sationen und Ko­ope­rationen mit interna­tionalen
Partnerbrauereien. In einigen Ländern wird Warsteiner
in Lizenz hergestellt. Mobile Dräger Gasmesstechnik
(Dräger X-am 2000 + 7000) unterstützt den Produktions­prozess – wenn etwa die Brautanks alkalisch gereinigt werden und vorher frei von CO2 sein müssen.
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
Warsteiner
Premium
Verum –
eine der
beliebtesten
deutschen
Biermarken
Flohzirkus erinnert, hat einen ernsten
Hintergrund. Das Toximeter besteht aus
einem Behälter, kaum größer als ein
durchschnittliches Aquarium, den zwei
Pumpen ständig mit frischem Quellwasser durchfluten. Die Wasserflöhe schwimmen in einer kleinen Glaskü­vette vor dem
Auge einer hochauflösenden Videokamera. Schon bei Spuren von Verunreinigungen ändern die normalerweise ausgeglichenen Tierchen ihr Bewegungsmuster
und reagieren hektisch, was eine automatische Bilderkennung sofort registriert.
Sobald sich die Bewegungsintensität oder
Schwimmhöhe der biologischen Vortester
ändert, schlägt das Gerät Alarm. Wie sensibel die Apparatur ist, erklärt Homann
anhand eines Vergleichs: „Wenn man zehn
Liter einer Substanz im 135 Mio. Kubikmeter Wasser fassenden Möhnesee auflöst,
können die Daphnien darauf noch reagieren und eine Kontamination anzeigen.“
Dreimal die Woche nehmen interne
Kontrolleure Proben an den brauereieigenen Wasserquellen. Diese speisen
bis zu fünf Reservoirs auf dem über 80
Hektar großen Firmengelände – zusammen rund 25.000 Kubikmeter Wasser.
Genug, um den Tagesbedarf einer Stadt
mit mehr als 150.000 Einwohnern zu
decken. Die Reservoirs wiederum werden täglich kontrolliert. Ein Teil des
sehr weichen Wassers (Härtegrad 1) entspringt der Kaiserquelle im Naturpark
Arnsberger Wald, oberhalb der Brauerei. Von dort aus wird es über ein sieben
Kilometer langes Leitungsnetz herangeführt. Welchen Anteil es am typischen
Warsteiner-Geschmack hat, dürfte nur
wenigen Pils-Freunden bekannt sein. >
19
Br auer eien Premium-B ie re
Nach der Gärung ist
ein hoch­wer­tiges Bier
so schnell wie ­möglich
herunterzukühlen
> „Unser Bier ist heller und bekömmlicher
als andere“, sagt Peter Himmelsbach,
Geschäftsführer Technik. Viele verbinden mit einer dunkleren Bierfarbe einen
höheren Gehalt an Stammwürze, dem
Zuckeranteil vor der Gärung. „Tatsächlich hat unser Bier den eindeutig höchsten Stammwürzegehalt. Und das trotz
seiner hellen Farbe“, ist sich Himmelsbach sicher. „Pro Hekto­liter verwenden
wir 300 bis 700 Gramm mehr Malz als
andere Hersteller.“
Überhaupt spielt Wasser in der Bierproduktion eine gewichtige Rolle. Für
einen Liter Gerstensaft braucht es fast
viermal so viel Wasser. Streng genommen: 3,6 Liter. Insgesamt verbraucht
man im nordrhein-westfälischen Warstein so rund 1,1 Millio­nen Kubikmeter
Wasser pro Jahr. Das sind 4.300 Kubikmeter pro Tag, einschließlich der für
den Brauprozess benötigten Mengen.
Das klingt womöglich verschwenderisch. Doch Himmelsbach bezweifelt,
dass sich der Verbrauch weiter reduzieren lässt: „Nach dem jetzigen Stand
von Wissenschaft und Technik haben
wir alle Möglichkeiten ausgeschöpft.“
20
Wollte die Brauerei noch mehr sparen,
müsste sie gegen einen ihrer wich­
tigsten Grundsätze verstoßen. „Weitere Sparmaßnahmen gingen zulasten
der Bierqualität. Das können wir uns
nicht leisten!“
Während das teure Marktsegment vieler lokal gebrauter Biere relativ krisenfest ist, brechen die mittleren Preisklassen weg. Davon profitieren Unternehmen
wie die bayerische Oettinger-Brauerei –
mit über sechs Millionen Hektolitern
Deutschlands größter Produzent, zudem
mit einer aggressiven Preispolitik ausgestattet. Warsteiner-Geschäftsführer Himmelsbach sieht sein Bier als PremiumProdukt im oberen Preissegment. Rund
13 Euro koste eine Kiste Warsteiner Premium Verum im Handel. Alle Preise da­runter seien „Zugpferde des Handels“.
Rohhopfen aus der Hallertau
Das deutsche Reinheitsgebot stört sich
nicht an solchen Angeboten. Auch
wenn verschiedene Bierverordnungen
das Gebot von 1516 etwas modifiziert
haben. Die vier Grundbestandteile –
Wasser, Hefe, Malz und Hopfen – beeindruckt das wenig. Wirklich traditionell,
mit eigener Mälzerei und Natur­hopfen,
arbeiten nur noch wenige Brauereien.
Viele ersetzen die rohen Hopfendolden durch leichter und etwas exakter
zu dosierende Hopfenpellets, die ohne
Stiel vermahlen und gepresst werden.
Die Warsteiner Brauerei verwendet
zur Hopfung ihres Warsteiner Premium
Verum ausschließlich Hopfenextrakt –
für einen gleich bleibenden Geschmack.
„Unseren Rohhopfen kaufen wir in der
Hallertau, einem zentral in Bayern gelegenen Anbaugebiet“, erklärt Peter Himmelsbach. Während der Hopfenernte sind
speziell ausgebildete Mitarbeiter vor Ort.
Chargen, die besonders geeignet erscheinen, werden als Muster nach Warstein
geschickt: an das haus­eigene Forschungslabor. Nach eingehender Untersuchung
werden die jewei­ligen Erntechargen dann
eingekauft und der Hopfen in Veredelungsanlagen extrahiert.
Dazu wird er zunächst zerkleinert
und die einzelnen Bestandteile mit
natürlichem flüssigen CO2 („Kohlensäure“) oder Bio-Ethanol („Trinkalkohol“) aus den nicht zerkleinerten Hopfendolden herausgelöst. Das CO2 bzw.
Ethanol wird rückstandslos verdampft,
bis der haltbare und in seinem Gehalt
an wirksamer Alphasäure gut zu dosierende Hopfenextrakt übrig bleibt. Kohlensäure und Ethanol werden danach
wieder verflüssigt und gelangen zurück
in die Extraktion.
Nach der Gärung ist ein hochwertiges Bier so schnell wie möglich herunterzukühlen. Warsteiner Premium Verum
wird innerhalb von acht Stunden auf
etwa minus 1 °C abgekühlt. Dazu wird
es im Durchfluss gekühlt und in einen
zweiten Tank umgelagert. Bei einer
Temperatur von minus 1 °C bis minus
2 °C reift es dort drei bis vier Wochen.
Anschließend wird es filtriert, abgefüllt
und für den Versand bereitgestellt.
Täglich verlassen rund 200 Lkw die
rund 13.000 Quadratmeter große Ladehalle. In drei Schichten (von Sonntag bis Freitag – jeweils bis 22.00 Uhr)
wird hier gearbeitet. Eine Besonderheit:
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
„Wir wissen erst mit Ankunft der Lkw,
welche Kunden welche Produkte wün­
schen“, sagt Uwe Salvey, Leiter Logis­
tik der Warsteiner Gruppe. Und doch
steht kein Lkw im Schnitt länger als
45 Minuten auf dem Firmengelände, bis
er sich voll beladen auf den Weg zum
Kunden machen. „Andere Brauerei­
en arbeiten mit Voranmeldungen und
haben Ab­fertigungszeiten von bis zu vier
Stunden – einschließlich der Wartezei­
ten. Insofern haben wir unsere Abläufe
deutlich optimiert!“
Schaltzentrale Sudhaus: Von hier aus wird der Produktionsprozess gesteuert
Von der Straße auf die Schiene
FotoS: Warsteiner Gruppe, Drägerwerk AG & Co. KGaA
Schon am Vormittag trinken speziell geschulte Mitarbeiter ihr erstes Pils.
Streng beruflich. Ohne ihre Freigabe verlässt keine Flasche die Brauerei.
Rechts: Einer von drei Räumen für Rückstellproben
Täglich verlassen rund 200 Lkw die 12.640 Quadratmeter große Ladehalle.
In drei Schichten wird hier gearbeitet
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
Und noch etwas ist anders in Warstein.
Die Züge auf dem brauereieigenen
Gleisanschluss. Dreimal wöchentlich
gehen von hier aus die für den Getränke­
transport optimierten Container nach
Berlin, München und in das italienische­
Bussolonga, nahe Verona. „Wir sind
europaweit die einzige Brauerei mit
einem eigenen Containerterminal, die
die Bahn in diesem Umfang für sich ent­
deckt hat“, sagt Salvey. Mittlerweile wer­
den rund zehn Prozent der Transporte
über die Schiene abgewickelt.
Mitunter macht dem Logistik-Exper­
ten die fehlende Flexibilität im Bahnver­
kehr zu schaffen: „Man muss die Stre­
cken ein Jahr im Voraus anmieten – und
falls doch einmal Züge ausfallen, entste­
hen hohe Kosten.“ Auch deshalb wird
der Lkw-Transport wohl weiter dominie­
ren. Sicher ist für Uwe Salvey vor allem
eines: „Warsteiner ist keine Spedition.
Wir sind und bleiben eine Brauerei –
wenn auch mit einer sehr ausgefeilten
Logistik.“
Björn Wölke
21
OFF
OFF
OFF
OFF
ON
ON
ON
ON
OFF
ON
OFF
ON
OFF
ON
Die Last der Entscheidungen
Wohin man blickt, überall werden schnelle und oft lebenswichtige Entscheidungen verlangt.
Knappe Ressourcen machen die Lage noch unübersichtlicher. Die Ethik bietet Grundlagen
und Anregungen, die richtigen Entscheidungen zu treffen.
D
er Flug ging nach Atlanta, in den
Süden der USA. Der KardiologenKongress war zu Ende. Nach der
Landung würden sich die Ärzte zerstreuen. Doch noch war die Kabine halb von
Herzspezialisten besetzt. Kaum ein Außenstehender hätte das gleich erkannt, als
nach einer Stunde der filmreife Ausruf
kam: „Ist ein Doktor an Bord?“ Schweigen. Köpfe, die sich zwischen Schultern
zurückzogen. Verstohlene Blicke. Wer würde der Freiwillige sein, wo man doch so
viel las, über absurde Prozesse und astro­
nomische Schadenersatzforderungen?
Geholfen haben die Ärzte dann doch.
22
Einer machte den Anfang. Der Flug liegt
Jahre zurück, der Schutz williger Helfer
an Bord vor Anwaltseifer wurde verbessert.
Das Problem ist geblieben: Ein Mensch ist
in Not, viele stehen herum, keiner wird
initiativ. „Bystander Apathy“ nennen Psychologen diese Lähmung der Mitmenschlichkeit. Wer handelt, geht ein Risiko ein.
Und es sind ja noch genug andere da! Ethisches Urteilen scheint hier einfach: Wir
spüren, dass Passivität anrüchig ist.
Praxis, Moral und Ethik
Moral ohne Handelnde gibt es nicht.
Die Ethik stellt die Frage, wie man sein
Handeln moralisch rechtfertigen kann.
Wer in einem helfenden Beruf arbeitet,
hat diese Verantwortungsbereitschaft für
sich akzeptiert. Jeder Arzt, jede Krankenschwester, jeder Feuerwehrmann, jeder
Polizist, jeder Sicherheitsingenieur – sie
alle wissen: Einige Tage sind Schicksalstage. Dann gilt es, nicht allein das Vorgeschriebene, sondern das Richtige zu tun.
Manchmal ist das Richtige leicht zu
erkennen – es zu tun ist die Schwierigkeit. Die Beharrlichkeit des Üblichen,
Vorschriften und Hierarchien stehen im
Weg. Bei Ignaz Semmelweis war das so.
Vor gut 150 Jahren bewies der Wiener
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
H E L F E N DE BE RU FE E T H IK
Geburtshelfer, dass Händedesinfektion
bei medizinischem Personal die Sterblichkeit von Wöchnerinnen um gut 80
Prozent senkte. Also forderte er die Handwäsche mit Chlorwasser konsequent ein
und stieß auf wütende Ablehnung in der
Ärzteschaft. Man trieb ihn aus Wien.
Viele Frauen starben am Hochmut von
Macht und Gewohnheit.
Bild: Stut tmann/toonpool.com
Die Tragödie der Intoleranz
Eine solche Zurückweisung des objektiv
(und moralisch) Richtigen, das ein Handelnder erkannt hat, heißt heute „Semmelweis-Effekt“. Trotz seiner Prominenz
ist der Fall theoretisch unkompliziert.
Semmelweis hatte schlicht recht: Ob eine
Infektionsgefahr existiert oder nicht, ist
keine Frage von Meinungen. Es gibt keinen moralischen Grund, alternative Standpunkte zu tolerieren. Wer sich vor der OP
nicht die Hände desinfiziert, handelt intolerant, unprofessionell und zudem unmoralisch. Der Mut, den es fordert, jene zu
ermahnen, die falsch handeln, ist oft noch
größer als der Mut zum eigenen Tun. Die
Ethik verlangt ihn dennoch.
Ethikkommissionen, Ethikräte und
Ethikbeauftragte gab es zu Lebzeiten Semmelweis’ noch nicht. Mittlerweile sind
sie allgegenwärtig. Was etwa der Deutsche Ethikrat heute debattiert, ist vielfach
komplex, uneindeutig und inmitten widersprüchlicher Welt- und Menschenbilder zu
klären: vorgeburtliche Diagnostik, genetische Optimierung des Menschen, der Zeitpunkt des tatsächlichen Lebensendes oder
der Grad möglicher Selbstbestimmung in
jeder Lebenslage. Typisch für diese Fragestellungen ist, dass es keine sich aufdrän-
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
genden, „einfach nur richtigen“ Antworten gibt. Was jeweils zu tun ist, lässt sich
nur noch durch das Abstecken von Räumen des Erlaubten ausdrücken. Die Notwendigkeit eigenen Entscheidens können
sich Ärzte, Angehörige, werdende Eltern
oder Patienten nicht entziehen. Professionelle Ethiker geben ihnen für den Alltag
einen Kompass in die Hand, das Steuer
ergreifen sie nicht.
Es mag sein, dass Ethiker-Diskussionen manchmal akademisch oder
gar spitzfindig wirken. Notwendig sind
sie dennoch. Eine Fortschrittsgesellschaft braucht öffentliches Nachdenken
über ihren Umgang mit dem Machbaren. Bleibt es aus, können Versäumnisse schwerwiegende Folgen haben. So
geschah es in Japan, einem Land mit
einer traditionell weniger offenen Streitkultur als in Deutschland oder den USA.
Ohne dass es zuvor eine Verständigung
über ethische und medizinische Richtlinien und Standards gab, entschloss sich >
Was ist Ethik?
Deskriptive Ethik ist die systematische Beschreibung moralischen Handelns. Deshalb
gibt es Ethikräte und -kommissionen. Sie dokumentieren, wie tugendhaftes Handeln
nach zeitgemäßem Verständnis aussieht. Oder sie erläutern Regeln, wie es aussehen
sollte (präskriptive Ethik). Die Haltung, die Handelnde im Alltag leitet, ist ihr Ethos:
mitunter auch ein formales Berufsethos, das eine Ärztekammer formuliert hat.
Ethos ist die griechische Wurzel der „ethischen Begriffsfamilie“. Das Wort
be­zeich­nete zunächst den Ort, an dem man ist. Später das, was wir heute meinen:
den moralischen Standpunkt. Jeder (gesunde) Mensch ist in der Lage, moralisch
zu ur­­tei­len – wir verachten Feigheit, preisen Fairness. Doch reicht diese instinktive
Gabe aus, um über die komplexen Probleme einer Welt mit sieben Milliarden
Menschen und fast 200 Nationen zu befinden? Wer dem Moralismus entkommen
will, muss be­greifen, warum es heute nicht eine Ethik gibt, sondern eine Vielfalt
von Perspek­tiven. Handeln lässt sich damit rechtfertigen, dass man Vorgeschriebenes exakt befolgt, gemäß der Gesetzesethik. Die Pflichtenethik fragt, ob die Tat
richtig war: Kann man verlangen, dass andere sich ebenso verhalten?
Es gibt drei Grundkonzepte, das Handeln ethisch zu beurteilen. Die Gesinnungs­­
ethik fragt nach der Absicht: Sie akzeptiert, wenn etwas gut gemeint, aber total
missglückt ist. Die Verantwortungsethik lässt den Handelnden die Konsequenzen
seiner Taten selbst tragen. Als freies, moralisches Subjekt hat er es sich gegebenenfalls selbst zuzuschreiben, wenn er tief in der Tinte sitzt. Die Erfolgsethik misst
die Tat am Ergebnis. Deshalb ist sie in der Unternehmensethik und jüngst auch in
der medi­zi­nischen Ethik populär: „Outcome gut, alles gut.“ Früher hätte man gesagt:
„Der Zweck heiligt die Mittel.“
23
Manche Tage sind
Schicksalstage: Dann gilt
es, nicht allein das
Vorgeschriebene, sondern
das Richtige zu tun
> 1968 der Chirurg Juro Wada aus Sapporo, einem 18-jährigen Patienten das Herz
eines ertrunkenen Studenten zu verpflanzen. Nur acht Monate waren vergangen,
seit die revolutionäre Operation weltweit zum ersten Mal durchgeführt worden war. Der Patient starb 83 Tage später,
gegen den Arzt ermittelte der Staatsanwalt
wegen Mordverdachts. 1970 wurde Wada
zwar freigesprochen, doch die Empörung
war so groß, dass bis zur nächsten Herzverpflanzung drei Jahrzehnte vergingen.
Erst im Februar 1999 war es so weit.
Keine therapeutische Alternative
Wada hätte gute Argumente für sein
Vorgehen anführen können. Er erkannte einen revolutionären Fortschritt in
der Chirurgie. Für seinen Patienten,
dessen Herzklappen am Ende ihrer
Leistungskraft angelangt waren, gab
es damals keine therapeutische Alternative. Der Organspender war eindeutig hirntot. Doch Wada überforderte
24
die Gesellschaft, in der er lebte: Kaum
jemand hätte 1968 das Konzept des Hirntods verstanden, geschweige denn akzeptiert. Starke religiöse Vorbehalte, viele
davon tief in Japans Shinto-Philosophie
verwurzelt, standen der Verpflanzung
von Körperteilen eines Toten entgegen.
Auch die Tatsache, dass konkurrierende
Schulen der Medizin die Öffentlichkeit
aufpeitschen würden, hätte ein Ethikrat
vermutlich vorhergesehen.
Obwohl Wada etwas tat, was bei den
Kardiologen im Flugzeug als uneingeschränkt gut erscheint – entschlossen handeln, einen Todgeweihten retten –, drängt
sich der Eindruck auf, dass er mehr
Schlechtes als Rechtes bewirkte. Durch
den Schock, den er der Öffentlichkeit versetzte, mag er viele Japaner um die Chance gebracht haben, eine Transplantation
zu erhalten. Der Vorreiter des Fortschritts
koppelte sein Land so für 31 Jahre vom
Fortschritt ab. Eine ethische Lesart, die
so argumentiert, nennt man konsequen-
zialistisch: Ihre Vertreter schauen nicht
darauf, ob der Handelnde gute Absichten
hatte. Für sie zählt das Ergebnis, das erst
einmal errechnet werden muss. Denn
nicht nur Wada, sein Patient und der
Organspender sind in die Abwägung einzubeziehen, sondern auch zahllose andere, deren Leben Wadas Tat beeinflusst hat.
Was zählt, ist die gute Absicht
Der aufrechnende Ansatz erscheint vielen im Gesundheitswesen heute plausibel – umso mehr, je weiter er vom täglichen Handwerk der Medizin entfernt ist.
Denn die Bilanzen von Kosten und Nutzen wirken wie Geschwister, die auch im
Krankenhaus immer stärker ins Blickfeld gerückt sind. Ein Übriges tut die
wachsende Popularität evidenzbasierter Therapien. Auch sie werden nach
„outcome“ bewertet, also praktisch vom
Ergebnis her gesehen „rückwärts“ beurteilt. Dies widerspricht der Tradition, die
in Deutschland lange dominierte. In der
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
H E L F E N DE BE RU FE E T H IK
Pflichtethik Immanuel Kants ist vor allem
die gute Absicht, die den Handelnden leitet, entscheidend. Hätte Wada in fester
Überzeugung und nach Abwägung aller
bekannten Tatsachen nur Gutes gewollt,
wäre es gerechtfertigt, unabhängig von
„Fernwirkungen“.
Bild: The Cartoon Bank; Foto : PICTURE ALLIANCE/JOKER
Sind Bilanzen moralisch?
Keine der beiden Perspektiven ist „ethischer“ als die andere. Denn auch freimütige Ausgaben öffentlichen Geldes – durch
überflüssige Operationen, SondersignalFahrten, Tauchgänge oder Rettungsflüge
– wären moralisch nicht zu billigen. Dennoch fühlt sich das permanente Bilanzziehen eigenartig an. Es ist, als wäre
bei jedem Notfall ein unsichtbarer Dritter zugegen, der einem über die Schulter schaut und etwas in den Taschenrechner tippt. Und das wiederum bringt
uns zuweilen in Beklemmungen. Sie
sind authentische moralische Impulse
und zwingen uns, die Diskussion unserer
Zeit engagiert zu führen: Wie kann Ökonomie moralisch betrieben werden, und
wie kann Moral ökonomisch sein?
Der Theologe Michael Fischer, der
lange über Krankenhäuser forschte,
formulierte seine Erkenntnis so: „Ethik
entsteht nicht in der dünnen Luft der
Theorie, sondern ihr Ort ist die stickige Atmosphäre konkreter Konflikte.“
Regeln und Konsense leiten uns in der
täglichen Praxis, doch mit unserem
Handeln ins Reine kommen müssen
wir noch immer selbst. Die Geschichte lehrt, dass uns nicht nur geschickte
Hände gewachsen sind, sondern auch
ein reges Gewissen.
Silke Umbach
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
Regulierter Markt für Organe
Darf es einen Markt für menschliche Organe geben? Manch einer meint: „Natürlich
nicht! Es geht nur um gerechte Verteilung.“ Nicht der Reiche oder Bestvernetzte solle
„erfolgreich bieten“. Der Bedürftigste müsse eine neue Niere, Leber oder Bauch­
speicheldrüse erhalten. Wirtschaftsethiker meinen: Egal welche „Währung“ im Spiel
ist, es handelt sich immer um einen Markt. Jede Art von Tauschgut reicht, um
ihn hervorzubringen – selbst moralische Ansprüche. Der vom Tod Bedrohte auf der
Warteliste hat jeden Anreiz zu be­den­ken, was er „zu bieten“ hätte, um in der Rang­
folge aufzurücken, weil ein knappes Gut zu verteilen ist. Die grundlegende Ursache
der moralischen Zwickmühlen im Organ-Verteilungssystem liegt im Mangel selbst:
Gäbe es einen Überschuss an legitim gewonnenen Spenderorganen, ent­stünden
weder Verteilungsdilemma noch Praktiken außerhalb gesetzlicher Regelungen.
In gewöhnlichen Märkten wird ein zu geringes Angebot durch steigende Preise
reguliert. Transplantationen würden gerade so teuer, dass alle angebotenen Organe
von den ausreichend begüterten Em­pfängern gekauft würden. Doch die „Kunden“
haben keine Wahl, sie brauchen das „Produkt“. Unbedingt. Kaufkraft scheidet also
als Vergabekriterium aus. Da jeder Kranke die gleiche Menschenwürde besitzt
(also ideell gleich vermögend ist), können sich die Marktteilnehmer nicht überbieten.
Im so regulierten Markt entspricht der Grad der Bedürftigkeit dem Gebot auf ein
Organ an der Eurotransplant-„Börse“. Genau hier ist auch die Schwachstelle, an der
diagnostische Falschmünzerei auftreten kann.
Das Verteilsystem entspricht ökonomisch einer Lebensmittelkarte, die Kindern
mehr Milch und Bergleuten mehr Kalorien zuteilt. In manchen Ländern hat man
aus dieser Einsicht stärkere marktsteuernde Anreize geschaffen: In Spanien etwa
stimmt einer Organentnahme zu, wer nicht ausdrücklich widerspricht. In Israel
steigt auf der Warteliste höher, wer selbst bereit ist zu spenden. In Singapur steigt
ab, wer es nicht ist.
Leben und Tod:
In Deutsch­­land ist die
Zustim­mung
zur Organspende hoch.
Dennoch hat
nur knapp
jeder vierte
Bürger einen
Organspende­aus­weis
ausgefüllt
25
W er k feuer w ehr Au to mo b il in du st rie
Brandschutz für
Golf und Käfer
Die Werkfeuerwehr von Volkswagen in Wolfsburg ist
rund um die Uhr einsatzbereit, ihre technische Ausstattung
auf die besonderen Bedingungen des Standorts abgestimmt.
Die kleinsten Fahrzeuge sind am häufigsten im Einsatz.
18.000 Feuerlöscher
Vier Mitarbeiter sind allein für die mehreren Tausend Brandmelder, Sprinkler
und Kohlendioxid-Löschanlagen zuständig. „Die Kollegen warten die Anlagen,
reparieren sie und begleiten auch die
VdS-Prüfungen“, sagt Justingen. Hinzu
kommen 18.000 Feuerlöscher verschiedener Bauart, die alle zwei Jahre gewartet
­werden müssen. In der Werkstatt herrscht
regelmäßig Hochbetrieb. „Feuerlöscher
sind auch in der Brandschutzausbildung
der Mitarbeiter wichtig – mehr als 1.000
VW-Werker durchlaufen diesen Lehrgang
26
jährlich“, sagt Frank Maiwald, Wachabteilungsleiter der Werkfeuerwehr. Für die
neuen Auszubildenden ist der Kurs vorgeschrieben – so lernt jeder von ihnen die
Werkfeuerwehr persönlich kennen.
Eine Stadt für sich
Dass die Brandschützer meist mit Transportern vom Typ T4 und T5 der eigenen
Marke zum Einsatz fahren, hat auch taktische Gründe. Rund ein Viertel des sechs
Quadratkilometer großen Areals in Wolfsburg besteht aus Werkshallen. Dort werden die meisten Alarme ausgelöst. Die Hallen sind oft so groß, dass der Anmarsch
vom Tor zum Einsatzort kostbare Minuten kosten kann. „Mit den Transportern
können wir bis zu der Stelle fahren, an
der der Alarm ausgelöst wurde“, erklärt
Wachabteilungsleiter Maiwald. Die Kleinlöschfahrzeuge KLF1 und KLF2 sowie das
Kleintanklöschfahrzeug KTLF mit 100
Liter Wasservorrat und Hochdrucklöschanlage haben die Brandschützer für den
individuellen Bedarf entwickelt und bauen
lassen. Im Vergleich zu den gigantischen
Vierachsern der Werkfeuerwehren großer
Chemiewerke und Raffinerien wirken diese Sonderkonstruktionen fast filigran. In
der Fahrzeughalle stehen allerdings auch
Ungetüme wie der 30-Meter-Teleskopmast,
der Wechsel­lader mit aufgesatteltem Großlüfter zur Ent­rau­chung von Hallen und
das Industrie­tanklöschfahrzeug 20/45.
Die Technik ist so vielfältig wie ihr
Einsatzort, denn das VW-Stammwerk mit
seinen rund 50.000 Mitarbeitern ist das
FotoS: Drägerwerk AG & Co. KGaA
E
in gellendes Signal, dann die Bandansage: „Voralarm“! Die Männer
der VW-Werkfeuerwehr laufen in
die Fahrzeughalle der Feuerwache und
springen in ihre Schutzkleidung. Die Zentrale gibt über Lautsprecher erste Details
zum Notruf durch. Die Brandschützer sitzen auf, Rolltore fahren nach oben, dann
rücken die Fahrzeuge mit Blaulicht und
Sondersignal aus. Drei rote VW-Transporter, aufgebaut und ausgerüstet nach besonderen Bedürfnissen der Werkfeuerwehr,
besetzt mit einer neunköpfigen Löschgruppe. In nur wenigen Minuten erreichen sie jeden Punkt – egal ob in einer Halle oder im Freien. Mehr als 70 Mitarbeiter
stellen in drei Wacheinheiten den abwehrenden Brandschutz sicher. „Organisatorischer und anlagentechnischer Brandschutz gehören ebenfalls zu unserem
Verantwortungsbereich“, erklärt Immo
Justingen, Leiter Brandschutz bei VW.
Bei Feuer dreimal die Fünf:
Vor allem die Notrufnummer
555, statt der üblichen 112,
unterscheidet die Autos
der Werkfeuerwehr auf den
ersten Blick von Fahrzeugen
öffentlicher Wehren
größte Automobilwerk der Welt. Es erinnert in seiner Struktur an eine Stadt. Produktion oder Lackiererei haben ebenso
spezifische Risiken wie das eigene Kraftwerk, die Verwaltung oder Forschung
und Entwicklung. Und dann ist da ja
noch die Autostadt – einen dreistelligen
Millionen-Euro-Betrag haben die Wolfsburger investiert und auf einer Freifläche neben dem Kraftwerk eine (weitere) Stadt geschaffen, die sich einzig dem
Konzern und seiner Markenvielfalt (von
Skoda bis Lamborghini) widmet. So treffen Tradition und Moderne aufeinander.
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
Au to m o b i l i n d u st ri e W er k feu er w ehr
Die Werkfeuerwehr sichert den Brandschutz für den feuerroten Ur-Käfer VW
3 (V1) von 1936 in der Auto-Ausstellung
im ZeitHaus ebenso wie für die Produktion des neuen Golf VII und die Arbeit an
den Volkswagen-Modellen von übermorgen im Entwicklungszentrum.
Manchmal spielt bei der Werkfeuer­
wehr sogar die Musik. Dann nämlich,
wenn die Mitarbeiter die Brandwache
bei großen Veranstaltungen in der Autostadt übernehmen. Da schiebt man
auch mal Dienst, während die Kultband
„Kraftwerk“ im alten Kraftwerk spielt, >
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
Werkfeuerwehr von VW
„Die entscheidenden Herausforderungen für die
Arbeit der Werkfeuerwehr von Volkswagen in Wolfsburg
ergeben sich aus der baulichen Situation des Werks
und aus der laufenden Produktion“, sagt Immo Justingen,
Leiter Brandschutz bei VW. So verlangt die zum Teil
Immo Justingen,
Leiter Brandnoch aus den 1940er-Jahren stammende Bausubstanz mit
schutz bei VW
Hallentiefen von bis zu 300 Metern nach besonderen
Einsatzmitteln. Außerdem muss die Werk­feuerwehr Schritt halten mit der
sich ständig weiterentwickelnden Produk­tionstechnik. Der Arbeitsschwerpunkt liegt auf dem Rettungsdienst. Im vergangenen Jahr standen 3.300
Rettungs- und Krankentransporte rund 200 Einsätzen zur Brandbekämpfung
und technischen Hilfeleistung gegenüber.
27
W er k feuer w ehr Au to mo b il in du st rie
Persönliche Schutzaus­­rüs­tung auf Industrie­niveau:
gasdichte Chemikalienschutzanzüge im Lager der
VW-Werkfeuerwehr
In der Leitzentrale gehen die Notrufe ein –
vor allem medizinische Notfälle
Die Wartung von 18.000 Feuerlöschern
gehört zum Alltag einiger Feuerwehrleute
> das heute zur Hälfte als Raum für Veranstaltungen genutzt wird. Der denkmalgeschützte Bau am Mittellandkanal mit
seinen charakteristischen Schloten gab
auch den Anstoß für die Gründung einer
Spezialeinheit innerhalb der Werkfeuerwehr – die Höhenrettung.
Schwerpunkt Rettungsdienst
Der nächste Alarm: ein medizinischer
Notfall. Angefordert wird ein mit zwei
Kräften besetzter Krankentransportwagen (KTW). Drei dieser Fahrzeuge hat
die Feuerwehr im Einsatz, der Rettungsdienst macht rund zwei Drittel aller Einsätze aus. Der KTW trifft sich im Rendezvous-Verfahren mit dem Einsatzfahrzeug
28
des Gesundheitsdienstes, das mit Notarzt
und zwei Rettungsassistenten besetzt ist.
Auch einen Rettungswagen besetzt die
Feuerwehr bei Bedarf. Manchmal wird
auch der öffentliche Rettungsdienst ins
Werk bestellt. Dann lotst die Feuerwehr
die Kollegen durch die Straßen und Gassen der Anlage. „So gut wie wir kennt
sich hier niemand aus“, sagt Frank Maiwald. „Die präzise Ortskenntnis gehört
für uns zum A und O.“
Ein schrilles Pfeifen dringt durch die
Atemschutzwerkstatt im ersten Stock.
Die Experten für Atemschutz und Messtechnik kümmern sich nicht nur um
die Ausrüstung der Werkfeuerwehr, sondern auch um die Gasmesstechnik der
Frischluft für den Tank: In der Atemschutzwerkstatt werden Pressluftflaschen befüllt
VW-eigenen Versorgungsbetriebe und
des Kraftwerks. Neben Mehrgasmessgeräten (Dräger X-am 5000, 5600 und
7000) sind auch Eingasmessgeräte (Dräger Pac-Serie) in Gebrauch. Prüf- und
Wartungsarbeiten in den Werkstätten
prägen außerhalb von Einsätzen und
Schulungen den Alltag der Werkfeuerwehr. Zu den Werkstätten gehört auch
ein Bereich für Feuerlöschschläuche.
Dass in den Hallen jeden Tag 4.000 Autos
der Typen Golf, Golf Plus, Tiguan und
Touran gebaut werden, merken sie vor
allem daran, wie viel Betrieb im Werk
herrscht. Am Wochenende, wenn es
besonders ruhig scheint, gibt es mitunter die ­meisten Alarme. Denn dann wird
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Au to m o b i l i n d u st ri e W er k feu er w ehr
„Wichtig für eine
schnelle und effiziente
Gefahrenabwehr“
Raimund Bücher, Leiter Werkfeuerwehr der
Henkel AG & Co. KGaA und Vorsitzender des
Bundesverbands Betrieblicher Brandschutz, Werkfeuerwehrverband Deutschland e.V., über die Rolle
von Werkfeuerwehren in Unternehmen.
FotoS: Drägerwerk AG & Co. KGaA, Volkswagen AG (1)
Gasmesstechnik
muss regelmäßig
geprüft und
kalibriert werden
Die Werkfeuerwehr hat den Überblick.
Im Hintergrund: das alte Kraftwerk
gebaut und repariert – typischer Anlass
für das Auslösen eines Brandmelders.
Das Werk schläft nie
Auch wenn die Bänder außerhalb der
Schichten still stehen, die Werkfeuerwehr
ist immer einsatzbereit: Jede Schicht
beginnt um 7.30 Uhr und dauert 24 Stunden – so geht das 365 Tage im Jahr. Am
Wochenende, wenn die Beriebsrestaurants
auf dem Werksgelände schließen, wird in
der Truppe gekocht. Jede Wachabteilung
hat ihren eigenen Küchenchef. „Hier lernt
man nicht nur Feuer zu löschen und Menschen zu retten, sondern auch eine Roulade richtig zuzubereiten“, sagt einer, dem
es zu schmecken scheint. Peter Thomas
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
Herr Bücher, welche Rolle spielen Werkfeuerwehren
für den betrieblichen Brandschutz?
Niemand kennt die spezifischen Gegebenheiten eines Betriebs so gut wie die
Werkfeuerwehr. Mit ihrer speziellen Ausbildung und Ausrüstung, aber auch mit ihrer
detaillierten Ortskenntnis ist sie immens wichtig für eine schnelle und effiziente
Gefahrenabwehr. Über die reine Einsatztätigkeit geht die Arbeit der Werkfeuerwehren
im vorbeugenden Bereich und im Gefahrenabwehr- und Krisenmanagement weit
hinaus. Dazu gehört auch, dass Unterbrechungen nach einem Ereignis bis zum Wieder­
anlauf des Betriebs möglichst kurz gehalten werden. Werkfeuerwehren leisten
so einen erheblichen Beitrag zur Wertschöpfung von Unternehmen.
In Deutschland gibt es rund 25.000 Feuerwehren –
das ist ein dichtes Netz für den öffentlichen Brandschutz.
Wie viele Werkfeuerwehren gibt es im Vergleich dazu?
In der Bundesrepublik arbeiten derzeit 845 Werkfeuerwehren mit insgesamt
32.915 Aktiven, davon 7.115 hauptberufliche Feuerwehrleute. Dazu kommen noch
einmal rund 300 Betriebsfeuerwehren. Für den Beruf des Werkfeuerwehrmanns
gibt es seit 2009 eine dreijährige Ausbildung. Zudem besteht die Möglichkeit, sich
nach einer Grundausbildung in einer einjährigen Ausbildung zum Werkfeuer­
wehrtechniker oder Industriemeister Brandschutz fortzubilden.
Was unterscheidet die verschiedenen Werkfeuerwehren voneinander?
Einige sind mit hauptberuflichen, andere mit nebenberuflichen Kräften
besetzt. Entscheidend ist, ob einem Betrieb von der Aufsichtsbehörde angeordnet
wird, eine Werkfeuerwehr zu unterhalten, oder ob das freiwillig geschieht.
Angeord­nete Werk­feuerwehren müssen in Ausbildung, Ausstattung und Auftritt
den Anforderungen genügen, die an eine öffentliche Feuerwehr gestellt werden.
Einige Bundesländer kennen in ihren Feuerschutzgesetzen darüber hinaus auch
Betriebs­feuerwehren. Diese sind vielfach dadurch entstanden, dass Unternehmen
selbst etwas für den Schutz ihrer Anlagen tun wollen. Beide Feuerwehren leisten
wichtige Dienste im betrieblichen Brandschutz. Neben der Orga­nisa­tionsform
ist natürlich auch entscheidend, in welcher Branche die nicht-öffentlichen Feuerwehren arbeiten. Denn eine Produktion in der Chemieindustrie unterscheidet
sich von einem Stahlwerk, Flughafen oder der Elektroindustrie.
Hängt von solchen Kriterien auch ab, ob ein Unternehmen
eine Werkfeuerwehr aufstellen muss oder nicht?
Ja, hier geben vor allem die spezifischen Risiken, aber auch die Größe des Betriebs
den Ausschlag. Üblicherweise heißt es in den entsprechenden Gesetzes­texten
sinngemäß: „Werkfeuerwehren sind staatlich angeordnete oder anerkannte Feuer­weh­
ren. Die Aufsichtsbehörden verpflichten nach Anhörung der Gemeinde Betriebe
oder Einrichtungen, eine Werkfeuerwehr aufzustellen, wenn die Gefahr eines Brands
oder einer Explosion besonders groß ist – oder wenn in einem Schadensfall eine
große Anzahl von Personen gefährdet werden könnte.“
29
IN FOGR AFIK
UN T ER WA S S E R
Faszination Meer
71 Prozent der Erdoberfläche sind von Wasser bedeckt. Von deren Volumen wiederum zählt man
rund 70 Prozent zur TIEFSEE . So heißen die Bereiche der Ozeane, die mehr als 800 Meter unter der
Meeresoberfläche liegen. Der Mensch kann nur mit aufwendigen technischen Hilfsmitteln in diese
kalte, weitgehend lichtlose Zone vordringen. Dagegen gelingt es einigen Säugetieren, mehrere Hundert
Meter tief zu tauchen. Hier treffen sie auf zahlreiche Fische und andere Tiere.
Pottwal
Fangzahn
Dieser Meeressäuger kann im
Extremfall Tauchtiefen von 3.000
Metern erreichen. Er gilt als einziges Säugetier, das fast anderthalb
Stunden unter Wasser bleiben
kann, ohne atmen zu müssen.
Lebensraum: in allen
Ozeanen, 500–5.000 Meter
Tiefe. Besondere Kennzeichen: besitzt riesige, bis
18 Zentimeter lange Zähne,
weshalb er sein Maul nicht
völlig schließen kann.
Fußballfisch
Lebensraum: Atlantischer
Ozean, 200–1.000 Meter
Tiefe. Besondere Kenn zeichen: kugelförmiger
Anglerfisch mit einer warzigen Haut, die mit kleinen Stacheln besetzt ist.
Tiefseekrabbe
Lebensraum: Japan, in
einer Tiefe von ca. 250
Metern. Besondere Kennzeichen: ein stacheliger
Bodenbewohner. Die
Tiefseekrabbe ist bisher
kaum erforscht.
Schwarzer
Drachenfisch
See-Elefant
Lebensraum: alle Ozeane
außer Südpolarmeer, in
50–3.500 Meter Tiefe.
Besondere Kennzeichen:
Leuchtorgane unter den Augen senden rotes Licht aus.
Diese größte Robbenart der Welt
kann bis zu 1.500 Meter tief tauchen.
Das schafft der See-Elefant, weil
er je Kilogramm Körpergewicht
fünfmal mehr Sauerstoff speichern
kann als der Mensch.
Die Vermessung der Tiefsee
Die freie Wassersäule des Meeres wird in fünf Bereiche
aufgeteilt. Die oberen 200 Meter stellen das lichtreiche
Epipelagial dar, in dem die meiste Biomasse der Meere
produziert wird. Erst im Mesopelagial, das von 200 bis
1.000 Meter Wassertiefe reicht, beginnt die eigentliche
Tiefsee. Weil nur noch geringe Mengen Licht bis in
diese Tiefe kommen, gibt es hier keine auf Photosynthese
angewiesenen Pflanzen mehr. Von 1.000 bis 4.000 Meter
Wassertiefe reicht das Bathypelagial, das nur noch spezialisierte Tieftauchboote erreichen. Die beiden tiefsten
Zonen sind das Abyssopelagial (4.000 bis 6.000 Meter)
mit Temperaturen nahe am Gefrierpunkt und das
Hadopelagial unter 6.000 Meter, zu dem auch die tiefsten
Punkte der Tiefseegräben zählen. Aber auch hier, rund
11.000 Meter unter der Meeresoberfläche, leben noch Tiere.
Rücken
Epipelagial: 0–200 m
Mesopelagial: 200–1.000 m
Bathypelagial: 1.000–4.000 m
Abyssopelagial: 4.000–6.000 m
Tiefseegraben
Hadopelagial: 6.000–11.000 m
Taucher mit Kreislaufgerät
Kreislaufgeräte waren die erste zuverlässige Technik
für das Gerätetauchen ohne externe Luftzufuhr
über einen Schlauch. Die ausgeatmete Luft wird durch
einen Atemkalk-Filter von Kohlendioxid befreit, dann
führt das Gerät so viel frischen Sauerstoff zu, wiezuvor
veratmet wurde. Schließlich kann der Taucher das
aufbereitete Gasgemisch wieder atmen.
Taucher mit Druckluftgerät
Presslufttauchgeräte arbeiten mit auf bis zu 300 Bar
komprimierter Luft, die in Rückentanks mitgeführt
wird. Zwei hintereinander geschaltete Druckminderer
stellen dem Taucher die Luft mit einem Druck zur
Verfügung, der knapp über dem tiefenabhängigen
Umgebungsdruck liegt. Die Tauchtiefe mit Pressluft liegt bei etwa 50 Meter.
Kaiserpinguin
Bis zu 500 Meter erreicht
dieser in der Antarktis lebende
Vogel bei seinen Tauchgängen – und bleibt dabei bis zu
20 Minuten unter Wasser.
Apnoetaucher
Das Freitauchen ohne technische Hilfsmittel ist die
ursprünglichste Form des Tauchens. Sportler versuchen,
mit einem Atemzug möglichst tief zu tauchen, indem
sie sich durch Gewichte nach unten ziehen lassen.
Rekordtiefen liegen bei rund 200 Metern. Neben den
Tieftauchwettbewerben gibt es auch die Disziplin
des Streckentauchens ohne technische Hilfsmittel.
Sättigungstaucher
Diese Sonderform des Helmtauchens wird für lange
Einsätze bei großen Tauchtiefen eingesetzt. Der
Taucher lebt dabei für mehrere Tage unter erhöhtem
Druck, unter Wasser wie an Land. Der Tiefenrekord
für Sättigungstaucher im Einsatz liegt bei 534 Metern.
Oft übernehmen Sättigungstaucher Konstruktionsund Wartungsarbeiten an Bohrinseln oder Pipelines.
Panzertauchanzug
FOTOS: SENCKENBERG FORSCHUNGSINSTITUT UND NATURMUSEUM,
SVEN TRÄNKER; GET T Y IMAGES (2); PHOTOSHOT; ILLUSTRATIONEN: PICFOUR
Panzertauchanzüge sind eine hybride Technik, die
Elemente von Tauchanzug und Unterseeboot verbindet.
Denn ein Druckausgleich mit der Umgebung findet
im Innern des Anzugs nicht statt, obwohl dieser den Bewegungen des Tauchers folgt. Mit ihnen können ohne
langwierige Kompressions- und Dekompressionszeiten
Arbeiten in bis zu 600 Meter Tiefe ausgeführt werden.
14
1
3
15
2
13
5
7
12
4
6
10
8
18
16
17
9
11
19
1. Einatemschlauch, 2. Mundstück, 3. Ausatemschlauch, 4. Ausatembeutel,
5. Überdruckventil, 6. Atemkalkbehälter, 7. Atembeutel, 8. Sauerstoffflasche, 9. Sauerstoffventil, 10. Sauerstoff-Manometer, 11. Nitrox-Leitung,
12. Rückschlagventil, 13. Dosiereinheit, 14. Lungenautomat, 15. Handrad
zur Einstellung des Lungenautomaten, 16. Nitrox-Flasche, 17. Nitrox-Ventil,
18. Nitrox-Manometer, 19. Nitrox-Anschlussleitung
Dräger-Kreislaufgerät (LAR 5000)
Während Drucklufttauchgeräte stets frisches
Atemgas zur Verfügung
stellen, regenerieren
Kreislaufgeräte das veratmete Gasgemisch
kontinuierlich. Der ausgeatmeten Luft wird
frisches O 2 zugefügt.
Anschließend entfernt
ein Atemkalkfilter das
CO 2 , und das Atemgas
wird in die Gegenlunge
geleitet, aus welcher
der Taucher atmet. Wird
tiefer als 10 m getaucht,
kann Atemgas aus einem
zweiten Tank mit Mischgas zugefügt werden.
Wer taucht wie tief?
50 m
Mensch mit Druckluftgerät
600 m
Amerikanisches U-Boot
der Ohio-Klasse
Mensch im Panzertauchanzug
923 m
Tieftauchkugel Bathysphere
200 m
4.000 m
11.000 m
Tieftauchboot FNRS-2
Forschungs-U-Boot
Deepsea Challenger
R e t t un g sdiens t Ko h l e nsto f f mo n oxid
Auf leisen Sohlen
Geruchlos, farblos, geschmacklos: Kohlenstoffmonoxid ist ein tückisches Gas.
In hoher Konzentration kann es tödlich sein. Auch professionelle Einsatzkräfte sind davor
nicht gefeit – doch sie können sich schützen.
Risiko Kohlenstoffmonoxid
Patientin wie Rettungskräfte hatten Glück
im Unglück. Doch zeigt der Fall die be­
sonderen Gefahren, die durch das un­
sichtbare Gas drohen. Während die Feuer­
wehr mit entsprechender Mess- und
Atemschutztech­nik ausgerüstet ist, trifft
es den Rettungsdienst oft unvorberei­tet. Er
droht selbst zum Opfer zu werden. CO ent­
steht durch eine unvollständige Verbren­
nung von Kohlenstoffverbindungen. Das
kann nicht nur bei Durchlauferhitzern
passieren (siehe auch S. 35). „Einmal
eingeatmet, gelangt das Kohlenmonoxid
über die Lunge in den Blutkreislauf, wo
es sich 325-mal leichter als Sauerstoff mit
dem Eisenanteil des Hämoglobins verbin­
det – und so den lebenswichtigen Sauer­
stofftransport im Blut blockiert“, erläutert
Dr. Dieter Sebald, Chefarzt der Berufsret­
tung in der österreichischen Hauptstadt.
32
Eine Gesundheitsgefährdung kann bereits
bei Konzentrationen von etwa 100 ppm
(siehe auch Drägerheft 389, Seite 46–47)
auftreten. Ab 150 ppm drohen Kopfschmer­
zen, Schwindel, Müdigkeit und Brechreiz,
ab 300 ppm Bewusstlosigkeit. Die mittlere
tödliche Dosis liegt bei einer Belastung von
über einer Stunde bei rund 1.500 ppm. Ab
40.000 ppm kann schon eine zweiminü­tige
Exposition zum Tod führen.
Grund genug für die Wiener Rettungs­kräfte, die Situation genauer zu analy­
sieren. Ausgestattet mit Dräger Gas­
warngeräten (PAC 3500) begaben sie
sich im Februar 2010 in ihre Einsätze
und dokumentierten sie ein Jahr lang.
„Der Nachweis von CO war früher eher
ein Zufallsbefund und erfolgte im Zweifel
im Krankenhaus – also viel zu spät“, erin­
nert sich Lehrsanitäter Schrattenbacher.
„Im Einsatz war man auf seine Erfah­
rung angewiesen. Beschlagene Fenster
können ein CO-Indikator sein, aber eben
auch viele andere Ursachen haben. >
Retter in Gefahr
Kohlenstoffmonoxid (CO) bringt Einsatzkräfte von Feuerwehr und
Rettungsdienst häufiger in Gefahr, als bisher angenommen. Das zeigt
eine Studie der Berufsfeuerwehr Wiesbaden, bei der Brandschützer
und Mitarbeiter des Rettungsdienstes ständig Eingasmessgeräte mit
sich trugen. Die Detektoren meldeten während der Einsätze mehr als
30 Mal eine gefährlich hohe CO-Konzentration, die so nicht zu vermuten war. Das Risiko einer CO-Intoxikation erwies sich als besonders
hoch bei Alarmen wegen medizinischer Notfälle.
Eindeutige Empfehlungen: Rettungskräfte sollten mit CO-Warnern
ausgestattet sein, so die Schlussfolgerung der Studie: „Grundsätzlich ist
das Tragen von CO-Warnern im Rettungsdienst und bei Krankentransporten zu empfehlen. Es sollte mindestens ein Gerät pro Rettungsmittel
aus Arbeitsschutzgründen vorgehalten und der Besatzung zur Verfügung gestellt werden“, betonen die hessischen Brandschützer. Mehrfach
konnte durch den Einsatz der Geräte Schlimmeres verhindert werden.
So zum Beispiel bei einem Gasunfall in einem Mehrfamilienhaus. Als der
Rettungsdienst zu einer Person gerufen wurde, die über Unwohlsein
klagte, schlug der CO-Warner an. Die umgehend alarmierte Feuerwehr
evakuierte 40 Menschen, von denen mehr als die Hälfte bereits eine
CO-Vergiftung hatte. Die Studie hat unterstrichen, wie wichtig die Ausstat­tung von Rettungsdienst und Feuerwehr mit dieser Technik ist. „Die
Organisationen haben damit begonnen, ihre Einsatzkräfte auszustatten“,
sagt Rüdiger Weich, Manager bei Dräger. „Das Thema ist sehr aktuell!“
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
FotoS: MEV/F1online, Drägerwerk AG & Co. KGaA
E
in zunächst unspektakulärer
­Rou­tineeinsatz war es, der Georg
Schrattenbacher zum Nachdenken
brachte. Der Lehrsanitäter im Rettungs­
dienst der Wiener Berufsrettung wurde
alarmiert, um eine junge Frau medizinisch
zu versorgen. Spärlich bekleidet und sicht­
lich verwirrt öffnete sie die Wohnungstür.
Doch der Zustand der Angetrunkenen ließ
sich nicht allein auf Alkoholkonsum zurück­
führen. Die Untersuchung im Kranken­
haus ergab eine Kohlenstoffmonoxid(CO)Vergiftung. Ursache für den CO-Austritt in
den eigenen vier Wänden war ein defekter
Durchlauferhitzer. Schrattenbacher und
seine Kollegen wurden ebenfalls unter­
sucht. Auch bei ihnen wurde eine leichte
CO-Intoxikation festgestellt.
Immer dabei:
Ein­gas­messgeräte
begleiten die
Wiener Rettungs­
kräfte bei ihren
Einsätzen – und
warnen im
Notfall vor CO
Schwer einzuschätzen: Bei medizinischen Notfällen mit unklarem Hintergrund kann eine Kohlenstoffmonoxidvergiftung vorliegen
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
33
> I­ nsofern ließen sich keine geeigneten
Vorsichtsmaßnahmen treffen.“
Die systematische Auswertung der COBelastungen im Einsatz ergab ein klares
Bild: Häufigkeit und individuelle Belastung der Rettungskräfte waren deutlich
höher, als bisher angenommen. 38 Fälle
von CO-Exposition wurden nachgewiesen – nur in sieben davon war vorher mit
dieser Gefahr gerechnet worden. „Selbstschutz steht ganz oben auf unserer Prioritätenliste, denn nur gesunde Retter
können wirkungsvoll helfen“, sagt Rettungsdienstleiter Dr. Jochen Haidvogel. „Wir mussten also dringend etwas
unternehmen, um die Gesundheit der
­Mitarbeiter zu gewährleisten.“ Weitere Gaswarner wurden angeschafft und
die Vorgehensweise der Rettungsteams
den neuen Erkenntnissen angepasst.
Dem CO auf der Spur
„Die Dräger-Geräte werden nun standardmäßig am Rucksack getragen. Dort
stören sie die Abläufe nicht, sind aber
immer dabei“, beschreibt Haidvogel die
­ebenso einfache wie effektive Lösung. Zudem wurden verschiedene Alarmgrenzen
definiert: Alarmgrenze 1 liegt bei einer
maximalen Arbeitsplatzkonzentration von
30 ppm, Alarmgrenze 2 bei 60 ppm.
Crash-Rettung bei erhöhten Werten
Schlägt ein Gerät an, wird sofort die Feuerwehr alarmiert. Das weitere Vorgehen
hängt dann von den jeweiligen Umständen
ab. „Ist die erste Alarmgrenze überschritten, sorgen wir zunächst für eine ausreichende Frischluftzufuhr und bringen
verletzte Personen in Sicherheit“, sagt Schrattenbacher. Ab einer Belastung von 60
ppm wird der Einsatzort sofort geräumt –
Die zuverlässige Detektion von Kohlenstoffmonoxid stand bereits am Anfang
der Entwicklung moderner Prüfröhrchen: Das erste entsprechende Patent wurde
1919 an die Amerikaner Lamb und Hoover vergeben, die Bimsstein mit einem
Gemisch aus Iodpentoxid und Schwefelsäure präparierten und in Glasröhrchen
füllten. Dieses „Hoolamite“ gilt als erstes chemisches Verfahren zum Nachweis
von Kohlenstoff­monoxid. Mit Dräger-Röhrchen ließ sich CO dann nicht nur nachweisen, sondern auch zuverlässig messen. Zu den klassischen Arbeitsweisen
der Dräger-Röhrchen gehört bis heute die Reaktion von Iodpentoxid unter sauren
Bedingungen mit Kohlenstoffmonoxid. Nach diesem Prinzip arbeiten die aktuellen Prüfröhrchen Kohlenstoffmonoxid 2/a, 5/c, 8/a, 10/b und 0,3%/b (Bestellnummern 67 33 051, CH 25 601, CH 19 701, CH 20 601 und CH 29 901).
Elektronische Messgeräte, die mit elektrochemischen Sensoren arbeiten, erlauben
schnelle und präzise Messungen der CO-Konzentration in der Umgebungsluft.
Tragbare Eingasmessgeräte sind eine gute Lösung für kontinuierliche personenbezogene Messungen (siehe auch S. 56).
34
und eine „Crash-Rettung“ durchgeführt,
bei der auf eine umfassende Diagnostik
verzichtet wird und die Rettung aus der
Gefahrenzone im Vordergrund steht. „Ob
das überhaupt möglich ist, liegt im Ermessen der Einsatzkräfte. Lange gesucht wird
aber nicht, das muss dann gegebenenfalls
die Feuerwehr übernehmen.“ Für Schrattenbacher gehören Eingasmessgeräte zum
Standard in der Notfallmedizin: „Seit Einführung der kleinen Lebensretter wurde
kein Kollege mehr durch CO verletzt.“
Das Gas ist auch deshalb so tückisch,
weil es leichter als Luft ist und sich unbemerkt auf andere Räume oder Wohnungen ausbreiten kann. Häufig werden
weitere Menschen abseits der eigentlichen Gefahrenstelle bewusstlos aufgefunden. Dabei funktioniert die Zusammenarbeit der Wiener Berufsrettung mit
Polizei und Feuerwehr reibungslos. „Wir
haben klar verteilte Kompetenzen und
professionelle Strukturen“, sagt Rettungsdienstleiter Haidvogel. „Innerhalb von
rund zehn Minuten sind wir am Einsatz­
ort. Das ist ein sehr guter Wert!“
Damit auch weiter alles so gut läuft,
werden die Wiener Rettungskräfte nicht
nur individuell, sondern auch taktisch geschult. Übungen der Berufsrettung gibt es
beinahe monatlich. Und alle zwei Monate
findet eine Großübung statt, in die auch andere Organisationen eingebunden werden.
„Wir sind froh, dass die Stadt Wien großen
Wert darauf legt, einen professionellen Rettungsdienst zu stellen“, sagt Haidvogel.
„Das ist vielleicht kein gewinnbringendes
Geschäft, aber wir arbeiten in einem professionellen Umfeld – mit vielen Möglichkeiten.“ Herbert Glass
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
FotoS: Drägerwerk AG & Co. KGaA; Illustration: PICFOUR
Lehrsanitäter Georg
Schrattenbacher (links)
von der Wiener Berufs­
rettung (in der Mitte die
Fassade der Rettungs­
zentrale im 3. Bezirk) und
Rettungsdienstleiter
Dr. Jochen Haidvogel
KO H L E N STO F F MO N OX I D
R E T T U N G SD IENS T
Das tückische Gas
Gefahr durch CO: Die Consumer Product Safety Commission
der Vereinigten Staaten von Amerika warnt vor Kohlenstoffmonoxid (CO) als einem „tödlich giftigen, farblosen, geruchlosen
Gas“, an dem in den USA jährlich mehr als 170 Menschen
sterben – zusätzlich zu den tödlich verlaufenden Rauchgasvergiftungen, bei denen CO fast immer eine entscheidende Rolle
spielt. CO kann bei der unvollständigen Verbrennung von Kohlenwasserstoffen entstehen, wie sie für Schwelbrände typisch
ist. Aber auch defekte Öl- und Gasheizungen sowie Gasthermen
erzeugen Kohlenmonoxid, ebenso Holz- und Kohleöfen oder
Grills mit offenem Feuer. Schließlich können sich durch den
Betrieb von Verbrennungsmotoren in geschlossenen Räumen
und das Entzünden von Wasserpfeifen in schlecht belüfteten
Räumen kritische CO-Mengen in der Atemluft anreichern.
So wirkt CO: Wird CO eingeatmet, bindet es sich mit einer
mehr als 300-fach höheren Affinität als Sauerstoff an das
Hämoglobin im Blut. So wird die Sauerstoffversorgung der
körpereigenen Zellen – je nach CO-Konzentration und Einwirkzeit – mehr oder weniger stark eingeschränkt. Die Auswirkungen reichen bis zum Tod durch Ersticken. Als tödlich
gelten Konzentrationen von 1.500 ppm (das entspricht einem
Volumenanteil von 0,15 Prozent in der Umgebungsluft) über
60 Minuten hinweg bis zu 40.000 ppm bei einer Einwirkzeit von
zwei Minuten. Zum Vergleich: Als Arbeitsplatzgrenzwert gelten
30 ppm Kohlenmonoxid (Technische Regeln für Gefahrstoffe,
Arbeitsplatzgrenzwerte – TRGS 900, Stand 2012).
Die akute CO-Konzentration im Blut lässt sich mit der SiebenWellen-Pulsoxymetrie messen. Das betrifft Patienten ebenso
wie Einsatzkräfte: In den USA rät die NFPA-Norm 1584 (Stand
2008) zu einer Überprüfung der CO-Sättigung, wenn kritische
Werte in der Umgebungsluft gemessen wurden oder Feuerwehrleute über bestimmte Symptome klagen. So kann noch am
Einsatzort mit einer Behandlung begonnen werden. Die Gabe von
reinem Sauerstoff bis hin zur Intubation oder einer Überdrucktherapie gelten dabei als wichtigste Therapieformen.
Schwindel und Übelkeit, aber auch Kopfschmerzen,
Konzentrationsschwäche und Herzrhythmusstörungen können
Symptome einer CO-Vergiftung sein. Oft werden diese
Anzeichen jedoch als Infekt, Missbrauch von Alkohol und
Drogen oder neurologische Ausfallerscheinung gedeutet.
Blockierte Schornsteinöffnung
Verstopfter
Schornstein
Falsch installierte Dunstabzugshaube
Verstopfter
Kamin mit
Holz- oder
Gasfeuer
Wäschetrockner
Autoabgase: aus
direkt ans Haus
grenzender Garage
Defekter Propangaskühlschrank
Defektes tragbares
Heizgerät
Betrieb von Grillgeräten in
geschlossenen Räumen
Leck am Abzug
der Zentralheizung
Beschädigter
Wärmetauscher
Korrosion oder andere Schäden an
Belüftung des Warmwasserbereiters
DRÄGERHEFT 391 | 3 / 2012
Mögliche Quellen für die
Entstehung von CO im Haus
35
F euer w ehr T r ain in g
Durchblick mit
moderner Technik:
Brandbekämpfung
36 40-Fuß-Container
im
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
T r a i n i n g Feu er w ehr
Flashover im Nadelwald
Durch realitätsnahes Training lassen sich im Einsatz auch schwierige Situationen beherrschen. Eine
Realbrandausbildung in Schweden bietet Feuerwehrleuten hierfür gute Voraussetzungen.
A
FotoS: Åke Ericson
n diesem Morgen entfacht Maik
Klein eine Feuersbrunst nach der
anderen. Mit geübter Hand dreht
der Ausbilder am Swedish Rescue Training
Centre (SRTC) in Skövde am Gasventil. In
der Tiefe des Containers lodern Flammen.
Eine Weile tanzen sie noch im Rauch, der
zur stählernen Decke dringt. Dann walzen
sie in breiter Front heran, schlagen meterweit aus Fenstern und Flügeltür. Klein hat
seinen Angriffstrupp in Stellung gebracht.
Der Real-Life-Simulator „Macken“ ist eine
Übungsanlage mit zwei 40-Fuß-Standardcontainern. Sie wird unter anderem mit
Flüssiggas befeuert. In ihr lassen sich
Brände simulieren, die auch erfahrene
Feuerwehrleute an ihre Grenzen bringen.
„Sicherheit ist oberstes Gebot“, mahnt
Klein und mustert die aus Deutschland
und Österreich angereisten Kameraden.
Im Container entstehen im Deckenbereich
Temperaturen von bis zu 800 Grad Celsius.
Wer da einen kühlen Kopf bewahren will,
sollte eine möglichst bodennahe Haltung
einnehmen. Jeweils zwei Feuerwehrleute werden in die Gefahrenzone geschickt.
Streng nach Vorschrift geht dort ihr Blick
nach oben. Bei der Verbrennung von Flüssiggas entstehen große Mengen von Brandgasen, die sich unter der Decke sammeln.
Am Verhalten des Rauchs, an seiner Farbe
und „Konsistenz“ erkennen geübte Brandbekämpfer die Vorboten eines sogenannten
Flashover (Feuerübersprung).
Wenn Wasser zum
Problem wird
Dieses gefährliche Phänomen der Rauchgasdurchzündung lässt sich in großen
Räumen nur mit der richtigen Lösch-
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
Ausbilder Maik Klein bespricht die
Taktik für den nächsten Übungseinsatz
technik beherrschen. „Zu viel Wasser wird zum Problem“, weiß Ausbilder
Klein. „Der Wasserdampf dehnt sich rasend schnell aus, trübt die Sicht und
erzeugt selbst in Bodennähe Temperaturen, die man ohne Schutzkleidung
kaum überlebt.“ Dagegen hilft die Strahlrohrtechnik. Die hat die Gruppe – erst
als Solist, dann mit Partner und angepasst an das Raumvolumen – am Vortag
bereits erschöpfend geübt. Eine kompliziert anmutende Choreografie, die Klein
immer wieder in Erinnerung ruft: „Wir
beginnen mit einem breiten Strahlbild,
fangen die Flammen über uns ein, versuchen dann mit einer Acht-Bewegung,
möglichst das ganze Volumen der Brandgase abzudecken und verjüngen gleichzeitig das Strahlbild, um Tiefe zu bekommen.“ Plötzlich geht ein Raunen durch
die Gruppe. Die Feuerwalze ist diesmal
besonders weit über die am Hohlstrahlrohr arbeitenden Kollegen hinweggerollt.
In sicherer Distanz zum Inferno
steht Guido Deutloff. Er ist Ausbilder an
der Feuerwehr- und Katastrophenschutzschule Rheinland-Pfalz. Deutloff hat im
Laufe seiner fast 25-jährigen Feuerwehrerfahrung einige Innenangriffe bei
Vollbrand durchgeführt. Die Schweden
mit ihrer Realbrandausbildung haben
den Profi dennoch beeindruckt. „Solche
Flammengrößen, hervorgerufen durch
die Flüssigphase des Brennstoffs, können
wir in Deutschland schon wegen der Vorschriften nicht erzeugen“, bedauert Deutloff. Zwar haben sie in Koblenz ein eigenes gasbefeuertes Brandhaus, doch das
liegt in einem Wohngebiet. „Wenn wir mit
dem Martinshorn fahren, hagelt es gleich
Beschwerden wegen Ruhestörung. Doch
um realitätsnah zu üben, muss auch mal
eine Rauchwolke entstehen dürfen!“
Kuchen und Pizza aus
dem Brandcontainer?
„Und die richtige Hitze“, ergänzt Ola
Johansson. „Wir haben in unseren Brandcontainern Kuchen und Pizza gebacken“,
scherzt der Schwede. Mit seiner sonoren
Stimme, dem breiten Kreuz und Händen
wie Baggerschaufeln strahlt der Geschäftsführer des SRTC eine souveräne Ruhe aus.
Es wirkt, als könnte ihn in diesem Leben
nur noch wenig erschüttern. Johansson
kennt die Nöte der Kameraden. Bevor er
2001 als Ausbilder an die damals noch
unter staatlicher Regie betriebene Feuerwehrschule wechselte, arbeitete er sieben
Jahre als Ambulanzfahrer und Truppführer bei der Feuerwehr. „Von der Initialzündung bis zum voll entwickelten Zimmerbrand dauert es je nach Bauart etwa sechs
bis zehn Minuten. Nicht immer sind wir
rechtzeitig am Einsatzort angekommen.“
Innenangriffe gegen massive Flammenfronten, wie sie im mittelschwedi- >
37
> schen Skövde bevorzugt geübt werden,
sind nicht der Alltag. „Die meisten Feuerwehrleute haben nur wenige solcher
Einsätze in ihrem Leben“, sagt Johansson. Umso wichtiger sei das Training,
damit das richtige Verhalten im Ernstfall auch abgerufen werden kann. „Wir
schaffen zunächst ein grundlegendes Verständnis dafür, wie ein Feuer entsteht“,
erläutert er das mehrstufige Ausbildungskonzept. Die verschiedenen Phasen im
Brandverlauf eines Feuers – von der Initialzündung über die Absonderung von
Pyrolyse­gasen bis hin zur Durchzündung
der Rauchschicht – zeigen die Ausbilder
in einem Container, den sie „das Labor“
nennen. Hier werden Holzplatten eingehängt und entzündet, die gleichwohl
nur einen Bruchteil der Brandlast simulieren, die bei einem gewöhnlichen Zimmerbrand durch Einrichtungsgegenstände wie Möbel, Elektrogeräte und Gardinen
anfallen würde. Ebenso anschaulich wird
hier der sogenannte „Backdraft“ demonstriert. Dabei schafft ein fast erloschener
Schwelbrand bei Abkühlung des Brandraums einen Unterdruck. Wird ein Fenster geöffnet, entzündet sich das brennbare
Gasgemisch durch die Zufuhr des angesaugten Sauerstoffs. Bei dieser Rauchgasexplosion fährt die glutheiße Flammenkugel mit Urgewalt aus dem Container.
Verständnis wecken für das Strahlbild: „Die Flammen einfangen“
Flammenfront: praktische Erfahrung in realistischer Umgebung
Möglichst viel
praktische Erfahrung
Wo andere notgedrungen ihre Vorstellungskraft bemühen, setzen die SRTCAusbilder auf möglichst viel praktische
Erfahrung in realistischer Umgebung –
und darauf, dass die Kursteilnehmer
38
Eine Übungspuppe wird aus dem verrauchten Container gerettet
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
T r a i n i n g Feu er w ehr
Von der Initialzündung bis zum vollständigen
Zimmerbrand dauert es sechs bis zehn Minuten
die Folgen ihres Handelns begreifen.
„Übungscontainer sind heute in aller Welt
bekannt und lassen sich ohne Aufwand
installieren“, sagt Ola Johansson. Und
doch sind allein die Vielzahl der Container
sowie die damit verbundenen Trainingsszenarien im SRTC außergewöhnlich. Kaffee- und Verschnaufpause im Schatten von
„Luleåhuset“. Bei dieser Übungsanlage
sind die Container zu einem stattlichen
Gebäude aufgestapelt. Maik Klein präpariert jeweils eine Brandstelle auf den beiden Etagen. Eine viertel Ladung genügt –
schon quillt schwarzer Rauch aus dem
gemauerten Treppenhaus. Klein gibt den
Angriffstrupps wertvolle Tipps für den Einsatz des Überdruckbelüfters, der in Schweden standardmäßig auf den Fahrzeugen
mitgeführt wird.
FotoS: Åke Ericson
Härtetest für Mensch
und Material
Wie alle Kursteilnehmer trägt Guido
Deutloff bei seinem Einsatz im schwer
verrauchten „Luleåhuset“ eine Dräger
FPS 7000 Atemschutzmaske und den
dazu passenden Dräger PSS 7000 Pressluftatmer. „Die Maske sitzt angenehm,
schließt dicht ab und passt sich gut dem
Gesicht an.“ Deutloff lobt das verbesserte Sichtfeld. Auch der Pressluftatmer soll
den Geräteträger möglichst wenig belasten. „Verglichen mit den Stahlflaschen,
die wir früher hatten, sind moderne Kompositbehälter viel leichter.“
Mittagessen und ein letzter Flaschenwechsel. Zum Abschluss wird eine
Feuerprobe angesetzt. Die weitläufige
Anlage aus gestapelten Containern mit
stählernen Treppen und Stegen hat 15
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
feststoffbefeuerbare Brandräume und
dient – je nach Einsatz-Szenario – als
Schiff oder Hotel. Das taktische Vorgehen zur Suche von Vermissten und
die Zusammenarbeit von gleich zwei
Angriffstrupps unter Hitze und Rauch
sind die Trainingsziele. In Schweden
sind Wärmebildkameras als Hilfsmittel
für die schnelle Menschenrettung weit
verbreitet. „Wir benutzen die Videomitschnitte auch, wenn wir Brandstiftung
vermuten und der Polizei Material an
die Hand geben wollen, wie es im Brandraum zu einem gewissen Zeitpunkt ausgesehen hat“, sagt Ausbilder Klein.
Karl Paul kam schon als Teenager
zur Feuerwehr. Heute ist der 46-Jährige Ausbilder an der Landesfeuerwehrschule Salzburg in Österreich und verantwortlich für Atem- und Körperschutz.
Er orientiert sich an diesem Nachmittag
mit einer Dräger UCF 6000 Wärmebildkamera im dichten Rauch. Für ihn sind
die Geräte eine bedeutende technische
Innovation, die dem Geräteträger für
den Innenangriff an die Hand gegeben
wurde. „Das schnelle Eindringen in die
Räume ist heute Devise. Und der Trupp,
der reingeht, sollte auch etwas sehen
können.“ Die Geräte und ihre Akkus seien kleiner und handlicher geworden. Am
Ende eines langen Tages sitzt Karl Paul
ermattet neben den Übungspuppen und
gönnt sich einen Schluck aus der Wasserflasche. Der Österreicher ist mit der taktischen Leistung seines Trupps zufrieden. „Die Sicht war null. Aber wir sind
gut zusammengeblieben, haben den
Löschschlauch um viele Ecken geführt –
da hat sich nichts gestaut.“ Die Teil­
nehmer sind sich einig, dass sie das
Training in Schweden um einige Erfahrungen bereichert hat. Jedes Feuer ist
anders. Doch wer aus Rauch und Flammen „lesen“ kann, wer die Hitze einer
Flammenfront erlebt hat, kann Verhaltensmuster abrufen, die ihm helfen,
auch extreme Einsätze zu beherrschen.
Moderne Technik ist hilfreich. Eine Verständigung auf einheitliche Standards
bei Ausbildung und Training in ganz
Europa wäre es auch. Alexander Budde
Swedish Rescue Training Centre (SRTC)
Das SRTC wird seit 2009 unter privater Regie betrieben. Für die Ausbildung und
das Training in den Bereichen Menschenrettung, Brandbekämpfung und Führung
werden Übungsanlagen vorgehalten, die mit Holz, Gas oder kombiniert befeuert
werden können. Persönliche Schutzausrüstung sowie Fahrzeuge werden den Kurs­teilnehmern gestellt. Die Experten des SRTC beraten auch Unternehmen aus der
Chemieindustrie beim Umgang mit Gefahrgut. „Wir können Leckagen mit scharfer
Säure und echtem Ammoniak nachstellen“, sagt Ola Johansson bei einer Führung
durch das 125 Hektar große Areal. Bei Bedarf werden auch geschminkte Darsteller
aufgeboten, die Verletzte mimen. www.srtc.se
39
M ed i z in Tour is m u s T h ail and
Der globale Patient
Die medizinische Versorgung in Deutschland hat einen guten Ruf – aus aller Welt kommen
Patienten. Das ist in den USA, Frankreich oder Großbritannien nicht anders. Und auch vor Asien macht
der Medizintourismus nicht halt. Ein Beispiel für diese Entwicklung ist das Bangkok Hospital.
Hoher Betreuungsschlüssel, hotelähnlicher Service, professionelle medizinische Hilfe: Dafür reist dieser Schlaganfall-Patient von weit her an
40
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
Von 100 auf
600 Betten
in 40 Jahren:
Das Bangkok
Hospital war
die erste
Privatklinik
Thailands
E
in Muezzin ruft im arabischen
Teil des Bangkok Hospital über
Lautsprecher zum Gebet. Patienten und Angehörige aus dem Nahen
Osten räkeln sich auf dunkelbraunen
Ledersofas. Eine Wand trennt sie vom
Eingangsbereich. „Arabische Patienten
mögen es gerne etwas privater“, sagt
Ralf Krewer. Der deutsche Mittvierziger – groß, hager, kurze Haare – ist seit
zwölf Jahren für das internationale
Management an der 600-Betten-Privatklinik zuständig. Ausländische Patienten sind seine Domäne. Sie sollen sich
hier wohlfühlen.
„Oben im siebten Stock“, erzählt
Krewer, „sind die Gebetsräume so groß,
dass wir auch das Freitagsgebet abhalten
können. Um 12 Uhr kommt ein Imam
aus einer der umliegenden Moscheen.“
Bis vor Kurzem habe hier noch ein Beduinenzelt gestanden. Das Bangkok Hospital im Huai-Kwang-Distrikt – unweit der
Innenstadt – könnte in jeder westlichen
Metropole stehen. Die Böden sind mit
Marmor gefliest, der Empfangsbereich
ist hell und offen. Auch technisch gesehen ist die Privatklinik auf dem neuesten Stand.
FotoS: Nick Nostitz
Wirkungsvolle
Mund-zu-Mund-Propaganda
Begonnen hat alles 1972 mit einer
Handvoll Ärzten, Apothekern und drei
Dutzend Krankenschwestern. Heute
ist man mit 13 Niederlassungen in
Thailand eine der größten Privatkliniken Südostasiens. Rund ein Fünftel der
Patienten sind Medizintouristen, viele
aus dem Nahen Osten. Daran hat Ralf
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
Krewer jahrelang gearbeitet. Dutzende Male ist er in die Region gereist, hat
versucht, die Ministerien der einzelnen
Staaten von einer Zusammenarbeit zu
überzeugen. „Das hat anfangs überhaupt nicht geklappt“, sagt er. Dann
hat sein Team einen lokalen Berater
eingestellt, der Krewer mit Mitgliedern
der Oberschicht bekannt gemacht hat.
Die hätten daraufhin angefangen, jüngere Leute nach Bangkok zu schicken.
„Die kamen mit glühenden Berichten
zurück. Danach hat das Geschäft mit
Patienten aus der Region mehr und
mehr zugenommen.“
Äthiopien ist vielleicht seine größte
Erfolgsgeschichte. Als er vor wenigen
Jahren dem Management davon erzählt
hat, dass es dort einen Markt an Medizintouristen gäbe, hat niemand so recht
daran geglaubt. Irgendwann ließ sich
der Vorstandsvorsitzende überzeugen:
Krewer durfte nach Äthiopien fliegen –
dort jedoch nicht mehr als 1.000 Dollar
für Werbung ausgeben. Im Gegenzug
sollte das Krankenhaus innerhalb von
drei Monaten rund 100.000 US-Dollar
an Patienten aus Äthiopien verdienen.
„Nach drei Monaten waren es 160.000
US-Dollar.“ Heute kommen jeden
Monat zwischen 600 und 800 Patienten
aus Äthiopien. Krewer ist ein zurückhaltender Typ. Er prahlt nicht mit seinen
Erfolgen. In Momenten wie diesen gibt
er zu: „Natürlich bin ich auch ein bisschen stolz!“
Neben einer großen Abteilung für
arabische Patienten gibt es im Bangkok
Hospital auch Bereiche für Japaner: mit
Personal und Ärzten, die Japanisch spre-
chen. Gegenüber dem Schalter für Patienten aus Bangladesch hängen Bauplanen. Hier wird demnächst eine eigene
Abteilung für Patienten aus Burma eröffnet. „Manche Nationalitäten brauchen
ein bisschen mehr Service als andere“,
hat Krewer beobachtet. Bangladescher
seien sehr servicebewusst und schätzten es, wenn man sie begleitet. Europäer hingegen seien selbstständiger.
Auch die Spezialisierungen der Abteilungen seien landestypischen Erfordernissen angepasst. „Japaner essen viel
rohen Fisch und haben dadurch häufiger Probleme mit dem Magen. Daher
werden bei ihnen im Check-up andere
Sachen untersucht als bei Patienten aus
anderen Ländern.“
Günstig und (fast)
wie im Hotel
Krewer hat Chinesisch, Vietnamesisch
und asiatische Politik studiert. Mitte der
1990er-Jahre stellte er für ein französisches Unternehmen in China Bushaltestellen mit Werbung auf. Wenig später
ist er dann seiner Frau, einer Engländerin, nach Thailand gefolgt. In einer
englischsprachigen Tageszeitung las er,
dass das Bangkok Hospital einen Europäer mit mehreren Sprachkenntnissen
suchte. So kam er dazu, Patienten aus
aller Welt nach Bangkok zu holen.
Dabei ist das Phänomen Medizintourismus eine relativ neue Erscheinung.
Vor etwas mehr als zehn Jahren begannen die ersten Europäer und Amerikaner, für medizinische Behandlungen
ins Ausland zu reisen. Anfangs lockten
Privatkliniken in Mexiko, Tschechien >
41
M ed i z in Tour is m u s T h ail and
Patienten suchen sich gerne ein schönes
Fleckchen Erde zur Genesung aus
> oder der Türkei mit günstigen Zahnbehandlungen oder ästhetisch-plastischen
Eingriffen. Mittlerweile bieten Medizintouristen Aussichten auf ein Milliardengeschäft. Nach den Gründen muss man
nicht lange suchen: Günstige Preise
und ein hotelähnlicher Service geben
den Ausschlag. Allein in Thailand lassen
sich jedes Jahr mehr als zwei Millionen
Ausländer medizinisch behandeln. Viele Privatkliniken in Asien bieten dabei
einen Service, von dem viele gesetzlich
Versicherte in Deutschland nur träumen können: Ärzte, zum Beispiel, die
lange Jahre in Top-Einrichtungen in
Europa und den USA gearbeitet haben.
Auch Einzelbettzimmer sind die Regel.
Doch eine medizinische Behandlung im Ausland birgt auch Risiken.
Im Internet lassen sich seriöse von
fragwürdigen Angeboten oft nur schwer
unterscheiden. Gerade bei plastischen
Eingriffen hat es in der Vergangenheit
Fälle von üblem Pfusch gegeben. Viele Ärzte an Krankenhäusern im Ausland verfügen zudem nicht über eine
Berufshaftpflichtversicherung. Sollte
es zu Behandlungsfehlern kommen,
können Medizintouristen in aller Regel
nur in den Ländern klagen, in denen
die Operation durchgeführt wurde. In
vielen Staaten stehen die Chancen eher
schlecht, bei einer Klage gegen etablierte Krankenhäuser recht zu bekommen.
Freundlich und offen: der Empfangsbereich des Bangkok Hospital
Zertifizierungen stellen
hohen Standard sicher
Auch Ralf Krewer räumt ein, dass die
Dinge nicht immer planmäßig verlaufen: „Von 10.000 Operationen gehen mit-
42
Eine Ecke der Besinnung, aus der Thailands König Bhumibol Adulyadej grüßt
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
FotoS: Nick Nostitz
Konsequente
Maßnahmen
zur Qualitätssicherung:
Ralf Krewer
leitet das
internationale
Management
am Bangkok
Hospital
unter eine oder zwei schief, das ist rela­
tiv normal. Allerdings haben wir sehr
konsequente Maßnahmen zur Qualitäts­
sicherung.“ Das Bangkok Hospital lasse
sich beispielsweise regelmäßig von der
Joint Commission International (JCI)
zertifizieren, einer Non-Profit-Organisa­
tion aus den USA, die Gesundheitsdienst­
leistungen weltweit prüft. Zudem hätten
sowohl das Krankenhaus als auch sämt­
liche behandelnden Ärzte Berufshaft­
pflichtversicherungen abgeschlossen.
Was aber, wenn eines Tages etwas
gründlich schiefgeht und sich ein
Rechtsstreit anbahnt? Das Kranken­
haus, das sich auf ein Gerichtsverfah­
ren einließe, wäre schlecht beraten,
antwortet Krewer offen. Man würde
das wohl außergerichtlich regeln. Wenn
man einen guten Ruf zu verlieren hätte,
könne man sich so etwas nicht leisten.
Generell gelte am Bangkok Hospital das
Angebot, Behandlungsfehler kostenlos
zu beheben. „Wenn etwa einer unserer
deutschen Patienten überzeugt ist, dass
einem unserer Ärzte ein Behandlungs­
fehler unterlaufen sei, muss er sich das
in Deutschland von einem anerkannten
Krankenhaus oder Facharzt bestätigen
lassen.“ Das Bangkok Hospital werde
den Patienten dann kostenlos einfliegen
und den Behandlungsfehler beheben –
oder für die Behandlung in Deutsch­
land aufkommen.
Mohammed Ahmed Salah könnte
man als zufriedenen Patienten bezeich­
nen. Der 57-Jährige sitzt im internatio­
nalen Flügel des Bangkok Hospital auf
einem Bett und kann seinen Enthu­
siasmus kaum bremsen. Sein Kran­
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
kenzimmer geht über in ein kleines
Wohnzimmer, in dem ein großer Flach­
bildfernseher an der Wand hängt. Eine
Pantry-Küche grenzt an das Badezim­
mer. Läge nicht ein Geruch von Desin­
fektionsmitteln in der Luft, könnte sich
das Zimmer auch in einem beliebigen
Fünf-Sterne-Hotel befinden.
Wenn Patienten zu
Konsumenten werden
Salah stammt aus dem Jemen, lebt aber
in Saudi-Arabien. Vor 18 Monaten hat­
te er einen schweren Schlaganfall. Fast
drei Wochen lag er im Koma. Als er aus
diesem erwachte, konnte er nicht mehr
gehen. „Mein Arzt hat mir gesagt, dass
man dagegen nichts machen könne –
außer Physiotherapie.“ Salah suchte im
Internet nach Kliniken im Ausland. Er
fand ein Rehazentrum in der Slowakei.
Mit der Behandlung war er nicht zufrie­
den. Also versuchte er es in einer Pri­
vatklinik in Manila. Ein anderer Pati­
ent hat ihm dort gesagt, dass er für
seine Erkrankung am falschen Ort sei.
Er solle nach Thailand fliegen. Weni­
ge Wochen später stand Salah auf dem
Flughafen in Bangkok, wo bereits ein
Mitarbeiter des Bangkok Hospital auf
ihn wartete. „Als ich hier ankam, war
ich sehr überrascht“, erzählt Salah. Das
Verhältnis von Qualität zu Preis stimme
in Thailand, betont er.
Damit spricht er Ralf Krewer aus
dem Herzen. Er glaubt, dass der klas­
sische Grund, für eine medizinische
Behandlung ins Ausland zu gehen,
die mangelnde Versorgung im eige­
nen Land, immer mehr in den Hinter­
grund dränge. Aus dem Patient ist ein
Konsument geworden. „Hinzu kommt,
dass man sich auch gerne ein schönes
Fleckchen Erde aussucht, wo man sich
behandeln lässt“, sagt Krewer. Da stehe
Thailand im Vergleich zu anderen Län­
dern ausgezeichnet da.
Das Geschäft mit Patienten aus
Deutschland laufe im Bangkok Hospi­
tal langsam an, erzählt er dann. Es sei
geplant, zwei „Testprodukte“ in den
deutschsprachigen Ländern und in
Skandinavien anzubieten: künstliche
Hüftgelenke und Vorsorgeuntersuchun­
gen. „Das ist medizinisch gesehen viel­
leicht keine ,Raketentechnologie‘, wird
aber stark nachgefragt.“ Krewer ist
dafür im Gespräch mit privaten Kran­
kenversicherungen, einer großen Hotel­
gruppe und verschiedenen Reiseanbie­
tern. Jedoch sei die rechtliche Lage in
Deutschland noch immer unklar. Gin­
ge bei einer Herzoperation etwas schief,
könnte ein Patient den Reiseanbieter auf
Schadenersatz verklagen. Dessen unge­
achtet möchte Krewer immer mehr
deutsche Medizintouristen nach Thai­
land holen. In fünf Jahren sollen sich
4.000 bis 5.000 Patienten am Bangkok
Hospital und an den Partnerkliniken
behandeln lassen.
Das Einzige, was aus seiner Sicht
gegen den Medizintourismus spreche,
sei der CO2-Ausstoß. „Ich bin ja ein wenig
ökologisch angehaucht, und die Vielflie­
gerei wirkt sich nicht gerade positiv auf
die Umweltbilanz aus“, sagt Krewer.
Hat er wegen dieses Widerspruchs ein
schlechtes Gewissen? „Vielleicht, zumin­
dest ein bisschen.“ Sascha Zastiral
43
S t r a S Sen v er k ehr In t e rlo ckS
Letzte Ausfahrt
für Promillesünder
W
enn Patrick van Vugt in sein
Auto steigt, legt er nicht nur
den Sicherheitsgurt an, sondern greift auch ganz selbstverständlich zum Dräger Interlock XT. Ein kräftiger Atemstoß in das Mundstück, und
schon kann er den Motor starten. Für
den Dräger-Manager ist das eine freiwillige Selbstkontrolle und – nun ja – auch
ein wenig Promotion für ein Produkt,
das nützt und schützt. Für die mehr als
1.000 Niederländer, die auch mit dieser
atemalkoholgesteuerten Wegfahrsperre
im Auto unterwegs sind, ist das jedoch
eine richterliche Anordnung. Denn sie
wurden stark alkoholisiert von der Polizei aufgegriffen.
Die neue Ära begann am 1. Dezember
2011. An diesem Tag startete nach vier
Jahren gesetzlicher und technischer Vorbereitung ein ehrgeiziges und in Europa bislang einmaliges Programm, um
die Zahl der Alkoholopfer im Straßenverkehr nachhaltig zu reduzieren. Bereits
2008 wurde eine Pilotstudie mit 80 Freiwilligen durchgeführt, nachdem ein
Kabinettsbeschluss forderte, in den Niederlanden eine atemalkoholgesteuerte
Wegfahrsperre einzuführen. Die Maß-
44
nahme soll zweierlei: den Promillesünder am Autofahren hindern und langfristig eine Verhaltensänderung bewirken.
„Jeder fünfte Unfall geschieht unter
Alkoholeinfluss, das akzeptieren wir
nicht mehr“, sagt Desirée Schaap, Projektmanagerin für das Interlock-Programm im niederländischen Verkehrsministerium. „Nach vier Jahren harter
Arbeit freuen wir uns über den Start
des Programms und darüber, dass es so
erfolgreich läuft.“ Die aktuellen Zahlen steuert Ramon Gouweleeuw bei, der
in der Kraftfahrzeugbehörde RDW für
die Zertifizierung von Sicherheitssystemen zuständig ist: „Gestern haben wir
das tausendste Auto mit einem InterlockSystem ausgestattet. Damit haben wir,
neun Monate nach Einführung des Programms, nicht gerechnet.“
Bis zu 75 Prozent
weniger Rückfälle
Atemalkoholgesteuerte Wegfahrsperren
sind nicht neu. Es gibt sie in Europa, in
den USA, Kanada und Australien. Das niederländische Modell ist anders. Es will
den Promillesünder nicht nur davon
abhalten, sich ein weiteres Mal betrun-
Foto : Miquel Gonzalez
Weltweit wird das Fahren unter Alkohol sanktioniert.
Die Niederländer setzen dabei nicht nur auf Strafe, sondern
auch auf Kontrolle und Rehabilitation. Wer mit
mehr als 1,3 Promille erwischt wird, darf den Führerschein
behalten – unter bestimmten Bedingungen.
ken hinters Lenkrad zu setzen, sondern
ihn langfristig erziehen: zu einem verantwortungsvolleren Menschen, der
auch später, ohne Interlock, zwischen
Trinken und Autofahren unterscheiden
kann. „Das Institut für Sicherheitsforschung hat verschiedene Studien über
den Erfolg von Wegfahrsperren verglichen. Sie zeigen, dass es nach dem Absolvieren von Alkohol-Interlock-Programmen bis zu 75 Prozent weniger Rückfälle
in das alte, schädigende Verhalten gibt“,
erklärt Desirée Schaap. Allerdings zeigen
Studien aus den USA auch, dass nach vier
bis sechs Jahren die Rückfallquote wieder ansteigt, wenn man sich allein auf
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
I n t e rlo ckS S t r a S Sen v er k ehr
So wichtig wie
der Zündschlüssel:
Erst nach erfolg­
reichem Atemtest
mit dem Interlock
XT (rechts) kann
es losgehen!
das Gerät verlässt und keine flankierenden Maßnahmen stattfinden.
Die Niederländer verabschiedeten
deshalb am 4. Juni 2010 ein Gesetz zur
Einführung des Alcohol Interlock Program (AIP). Es ist zum einen an strenge Sicherheits- und Datenschutzbestimmungen gekoppelt, zum anderen
müssen die Teilnehmer fachlich geleitete Gruppensitzungen besuchen. Hier
lernen sie den Umgang mit Alkohol im
Straßenverkehr. Das Besondere, im Vergleich zu ähnlichen Programmen in
anderen Ländern, ist, dass die Daten
aus dem Gerät sofort ausgewertet werden und der Fahrer dadurch ein schnel-
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
les Feedback erhält. „Man kann besser
lernen, wenn man im richtigen Moment
auf den Fehler hingewiesen wird“, findet Desirée Schaap.
Nach einer Strafe wegen Fahrens
unter Alkoholeinfluss und einem möglichen mehrmonatigen Führerscheinentzug beginnt für den Alkoholsünder,
der mit Blutwerten zwischen 1,3 und
1,8 Promille erwischt wurde, ein zweijähriges und streng überwachtes AIP.
Zunächst wird er aber zur Kasse gebeten: für das Fahren unter Einfluss von
Alkohol, regelmäßige Teilnahmen an
Gruppensitzungen und monatliche
Leasingbeträge für das Gerät. Außer-
dem muss ein neuer Führerschein ausgestellt werden, der ihn als AIP-Teilnehmer ausweist. Alles in allem werden so
schnell ein paar Tausend Euro fällig.
Auto fahren
unter Aufsicht
Wer die letzte Chance nicht ergreift, verliert automatisch den Führerschein –
für fünf Jahre. Ist das Gerät eingebaut,
beginnt das behördlich überwachte
Autofahren. Vor jedem Motorstart muss
man dann pusten. Liegt der Atemalkoholgehalt unter 0,2 Promille, funktioniert die Zündung – darüber nicht. Die
Messergebnisse werden in einer Einheit >
45
> unter dem Armaturenbrett gespeichert.
Alle sechs bis sieben Wochen werden die
Daten in einer Werkstatt ausgelesen und
sofort zur Auswertung an die Kraftfahrzeugbehörde geschickt. Die Rückmeldung lässt nicht lange auf sich warten.
Nach etwa einer Woche bekommt der
Fahrer eine Nachricht von der Führerscheinstelle, ob sein Fahrverhalten richtig war oder ob er in kürzeren Abständen
zur Kontrolle kommen muss.
Viel Aufwand für die
Datensicherheit
Das klingt alles ganz einfach, doch der
Weg dorthin war steinig. „Der Aufwand
war immens“, lässt Patrick van Vugt
durchblicken. Der Knackpunkt lag in den
strengen niederländischen Datensicherheitsbestimmungen. Neben den international gültigen Anforderungen der europäischen Norm für Alkohol-Interlocks
müssen weitere nach einem „Protection
Profile“ erfüllt werden. Das wurde von
der Kraftfahrzeugbehörde RDW entwickelt und enthält Vorschriften zur Datensicherheit und -übertragung, aber auch
zum Schutz vor Manipulation der Geräte.
„Wir nutzen die Daten, um weittragende Entscheidungen für den Teilnehmer zu fällen – im Zweifel darüber, ob er
seinen Führerschein abgeben muss oder
in dem Programm bleiben darf. Dabei
müssen wir uns hundertprozentig auf
korrekte Daten verlassen können“, sagt
Ramon Gouweleeuw. Deshalb wurde ein
zentrales Datenregister bei der RDW eingerichtet und nicht, wie in anderen Ländern, eine Datenspeicherung über einen
Hersteller vorgenommen. Im sogenann-
46
FotoS: Miquel Gonzalez
S t r a S Sen v er k ehr In t e rlo ckS
„1.000 InterlockSysteme in neun
Monaten – damit
haben wir nicht
gerechnet!“
„Wir freuen uns
über den Start
des Programms.
Und, dass es so
erfolgreich läuft“
Ramon Gouweleeuw, zertifiziert
Sicherheitssysteme bei der niederländischen
Kraftfahrzeugbehörde RDW
Desirée Schaap, Projektmanagerin im niederländischen
Verkehrsministerium
ten Privacy Act ist festgelegt, dass nur
­diejenigen Zugriff auf die Daten haben,
die dazu gesetzlich legitimiert sind.
Um die nötige Zertifizierung und
Zulassung der Kraftfahrzeugbehörde zu erlangen, mussten die Entwickler von Dräger die Software ihres bestehenden Interlock-Systems grundlegend
überarbeiten. Die Daten werden nach
dem Download in der Werkstatt auf
eine kleine Reise geschickt. Zunächst
gelangen sie verschlüsselt zu D-Safe,
dem Rechner von Dräger, wo sie in das
von RDW geforderte Format konvertiert werden. Neu verschlüsselt – und
auf D-Safe gelöscht – werden sie auf
den Zentralrechner von RDW übertragen, auf den die Führerscheinbehörde
Zugriff hat. Das System läuft einwandfrei. „Am Anfang haben uns die Daten-
mengen Probleme bereitet“, erinnert
sich Patrick van Vugt. „Die Kommunikation zwischen den Rechnern dauerte
zu lange, und manche Kunden waren
irritiert. Aber nach ein paar Anpassungen konnten wir das schnell beheben.“
Nicht jeder AIP-Teilnehmer ist
begeistert, wenn er zwei Jahre lang am
Gängelband einer Behörde Auto fahren
darf. Da liegt es nahe, nach Schlupflöchern zu suchen, um die strengen Auflagen zu umgehen. Schon bei der Entwicklung des Geräts musste deshalb
auf mögliche Manipulationen geachtet
werden. Das Dräger Interlock XT lässt
sich nicht öffnen, und alle Drähte sind
so verlötet, dass Manipulationen daran sofort erkennbar sind. Damit nicht
mit einem Luftballon oder einer Luftpumpe in das Mundstück gepustet wird,
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
Das Dräger Interlock XT
Mit dem Interlock XT vermarktet Dräger die zweite Gerätegeneration, die auf der
Grundlage einer über 50-jährigen Erfahrung bei der Messung von Atemalkoholkonzen­­tra­tionen entwickelt wurde. Das Gerät nutzt einen elektrochemischen Sensor,
der auch bei polizeilichen Alkoholkontrollen zum Einsatz kommt und mit hoher
Genauigkeit den Alkoholgehalt der Atemprobe bestimmt. Das Gesamtsystem zeichnet
sich durch eine hohe Zuverlässigkeit auch bei niedrigen Temperaturen und hoher
Luftfeuch­tigkeit sowie eine robuste Mechanik aus. Derzeit ist es als einziges in allen
europäischen Trunkenheitsfahrerprogrammen zugelassen. Durch seinen Einsatz lassen
sich alkohol­bedingte Unfälle vermeiden und Verhaltensänderungen herbeiführen.
muss der Fahrer eine bestimmte Technik anwenden: erst kräftig reinpusten,
dann kurz ansaugen.
Schutz vor Manipulation
„Natürlich können wir nicht alle Manipulationen verhindern“, sagt Ramon Gouweleeuw. „Wir setzen ein gewisses Maß an
Verantwortungsbewusstsein vo­raus – dass
man zum Beispiel keine andere Person
pusten lässt.“ Das Verantwortungsbewusstsein wird noch geschärft: Da eine direkte
Kontrolle durch eine Kamera datenschutzrechtlich nicht möglich ist, finden nach
dem Zufallsprinzip Nachkontrollen statt.
Der Fahrer kann sich also nie sicher sein,
ob er nicht noch einmal zum Pusten aufgefordert wird. Enthält sein Atem dann zu
viel Alkohol, muss er das Auto stehen lassen. Zu viele nicht bestandene Nachkontrollen werden konsequent geahndet: Das
Programm wird abgebrochen, und der
Führerschein ist für fünf Jahre weg.
Vincent Broeksema erlebt hautnah,
wie es den Programmteilnehmern ergeht:
„Bis jetzt haben wir keine Manipulationen an den Geräten gesehen. Die Teilnehmer setzen das auch nicht leichtfertig
aufs Spiel, denn sie sind froh, dass sie weiter Auto fahren können“, sagt der junge
Chef einer der 50 Vertragswerkstätten, die
für den Einbau und Betrieb der Interlocks
in den Niederlanden zuständig ist. Bisher
haben seine Mitarbeiter 100 Interlocks installiert. „Jede Woche kommen zwei, drei
neue hinzu.“ Regina Naumann
Information:
Gesellschaftsdroge Alkohol –
oft ein Tabuthema
www.draeger.com/391/alkohol
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
Das Interlock-System liefert Daten, die gelegentlich über Schicksale entscheiden
können. Regelmäßige Wartung und Kontrolle aller Funktionen, wie hier durch Dennis
Weber in einer Werkstatt im niederländischen Nootdorp, sind daher unabdingbar
Links: Die Kalibrierung mit Prüfgas stellt eine zuverlässige Atemalkoholmessung
sicher. In einem Alkohol-Interlock-Programm wird das Gerät jedes Mal kalibriert,
wenn in der Werkstatt die Daten ausgelesen werden. Rechts: Gerrit Grefelman
(links) von Dräger diskutiert mit Werkstattbesitzer Vincent Broeksema über seine
Erfahrungen bei Einbau und Wartung des Dräger Interlock-Systems
47
Was Thomas Graf hier
im Griff hat, ist die
Mischereinheit des Perseus
A500, die er prüft
Pro d u k t i o n S c hu lt er blic k
Maßarbeit in Serie
Die Fertigung eines Anästhesiegeräts ist Maßarbeit – fast alle werden in
kundenspezifischen Versionen hergestellt. Doch in einem Punkt gleichen sie sich:
Umfangreiche und ausführliche Tests sind Bestandteil des Fertigungsprozesses.
FotoS: Drägerwerk AG & Co. KGaA
D
iese 20-Liter-Glasflasche ist die
Lunge? „Na ja“, sagt Ludovic
Vieillemard, „für unser neues
Anästhesiegerät ist der Unterschied zur
menschlichen Lunge beim abschließenden Systemtest nicht sehr groß!“ Der
Franzose leitet bei Dräger die Einführung der Serienproduktion des Perseus
A500. Quirlig führt er durch die Produktionshalle, in der in Lübeck seit März 2012
dieser Anästhesie-Arbeitsplatz produziert
wird – mit dem das Unternehmen wieder mal den Stand der Technik definiert.
Technik, die hier startet.
Der Startschuss für ein solch komplexes und individuelles Produkt fiel
natürlich eher. „Wir planen die einzelnen Schritte von der Entwicklung bis zur
Produktion in einem ‚Cross Functional
Team‘, kurz CFT“, sagt der diplomierte
Maschinenbauer, der vorher unter anderem bei Renault gearbeitet hat, um gleich
die Erklärung für CFT nachzuschieben:
„In diesem Team kommen vom Produktmanagement über Service, Forschung
Eine spezielle Wolle simuliert
bei den Tests das Verhalten der
menschlichen Lunge
und Entwicklung, Einkauf und Qualitätssicherung bis hin zur Produktion alle Projektleiter regelmäßig zusammen, um ihre
Bedürfnisse einzubringen.“ Sechs sorgfältig definierte Meilensteine muss die-
Reduzierter Narkosemittelverbrauch
Die wesentlichen Funktionseinheiten eines Narkosegeräts sind die
Mischer­einheit für das Frischgas, das Beatmungsmodul inklusive Rückatem­system, CO2-Absorber, Narkosegasabsaugung sowie Atembeutel und
-schläuche. Die Dosie­rung der Anästhetika erfolgt über klassische Narkosemittel-Verdampfer (sogenannte „Vapore“; siehe auch Drägerheft 381.1;
S. 36), deren neuartige optische Schnittstelle unter anderem Daten für die
Prognose des am Display angezeigten Narkoseverlaufs liefert. Führt der
Anästhesist die Narkose etwa im Minimal-Flow-Bereich durch, kann er den
Verbrauch von teuren Narkosemitteln deutlich reduzieren. Dem System wird
dann nur so viel Narkosemittel zugeführt, wie der Patient zwingend benötigt.
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
ser Prozess passieren. Sie werden auch
„Gates“ oder „Tore“ genannt. Nur die Produkte, die all diese Anforderungen erfüllen, durchlaufen schließlich auch das letzte Tor zum Versand – um auf Paletten in
alle Welt verschickt zu werden. Nach Gate
3 verlässt ein Projekt das, was Vieillemard
die „papierlastige Phase“ nennt.
Beim Perseus A500 ist die letzte Phase dieses Prozesses erreicht: die Serienfertigung. „Zunächst produzieren wir
den Teil des Anästhesiegeräts, der für alle
­späteren Varianten gleich ist“, erläutert
Vieillemard und öffnet die Tür eines Klimaschranks. Darin altert gerade künstlich (bei Temperaturwechseln zwischen
5 und 55 Grad Celsius) die Mischereinheit – eine von zwei zentralen Baugruppen, aus denen das Anästhesiegerät
besteht. Die zweite ist die Basiseinheit
(siehe auch Drägerheft 390; S. 56).
Hohe Investitionen in
Qualitätssicherung
„Hier haben wir einen der teuersten
Prüfplätze des gesamten Unternehmens“, schließt Vieillemard wieder die
Tür mit dem Sichtfenster. Erstmals in
der Produktion von Anästhesiegeräten
erweitert Dräger den klassischen Funktionstest um einen Stresstest der Komponenten. Der ist dem Systemtest des
Produkts vorgelagert. „Das beschleunigt die Produktion und erhöht gleichzeitig die Qualität und Zuverlässigkeit“,
zeichnet Vieillemard eine Art Badewanne auf einen Zettel. „Wenn etwas kaputtgehen sollte, dann am ehesten in den ersten Wochen. Danach ist lange Zeit Ruhe.
Und erst nach Jahren störungsfreien >
49
Bei Investitionen in die Qualitätssicherung
gibt es wenige Diskussionen
> Betriebs steigt die Ausfallwahrscheinlichkeit von Komponenten wieder an.“
Deswegen laufen an jeder Station
ausgeklügelte Verfahren, in denen die
erste kritische Betriebszeit wie im Zeitraffer getestet wird. Die Geräte werden
regelrecht gestresst: hohe Temperaturschwankungen, schroffe Wechsel von
Betriebseinstellungen, häufiges Ein- und
Ausschalten mit Spannungsspitzen und
Dauerbetrieb. Das künstliche Altern ist
ein komplexer Fertigungsprozess, der in
den vergangenen Jahrzehnten immer
weiter perfektioniert wurde. Es reicht
nicht aus, einfach die Temperatur zu
erhöhen, damit die Tage proportional
dazu schrumpfen. „Das wäre zu banal“,
sagt Vieillemard und verweist auf die langen Versuchsreihen, die genau zu den
Stressprofilen führen, mit denen sich die
Betriebsdauer zuverlässig zusammenzieht. „Es sind ja nicht nur die hohen
Temperaturgradienten in den Klimaschränken. Genauso wichtig ist die von
uns entwickelte Software, mit der wir in
vier Stunden und mehr als 200 Testzyklen gleich mehrere Tage eines normalen Gerätebetriebs simulieren können.“
Am Band: Jeder Mitarbeiter in der Montage trägt ein Armband, das mit „Erde“
verbunden ist. Das sichert elektronische Bauteile vor statischer Aufladung
Nach jedem Vorgang meldet sich das
Modul mit einem spezifischen Code: ob
alles in Ordnung ist, oder ein vorgesehener Wert nicht erreicht wurde. Und in die­sem Fall? „Dann kühlen wir es auf 20 Grad­
Celsius herunter, untersuchen, woran es
liegt, und beseitigen die Ursache – anschließend schicken wir es wieder auf unseren
Hindernisparcours“, sagt Vieillemard.
50
Fotos: Drägerwerk AG & Co. KGaA
RFID-Technologie für
noch mehr Sicherheit
Ergonomie wird großgeschrieben – auch bei der Montage vom Anästhesiegerät.
Nur so lässt sich ein durchgehend hohes Qualitätsniveau sichern
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Pro d u k t i o n S c hu lt er blic k
Ludovic
Vieillemard
in der Pro­
duktions­
halle, in der
Anästhesie­
geräte ge­fer­
tigt werden
Musste er die Investition in Klima­schränke
& Co. betriebswirtschaftlich begründen?
Was für eine Frage, denn: „Bei Investitionen, die unsere Qualität verbessern, führen wir wenige Diskussionen!“
Rund 30 zeichnungsgebundene Teile weist die Mischereinheit auf; Teile,
die so speziell sind, dass sie zumeist ausschließlich für diesen Zweck gefertigt
werden. Die Basiseinheit enthält sogar
die fünffache Menge, das Gesamtgerät
ein Vielfaches mehr. Entsprechend aufwendig sind hier Montage und Prüfung.
In die Produktion gibt die noch nicht
montierte Abdeckplatte den Blick frei
auf eine Vielzahl von Platinen, Modulen
und Steuerungen. Sie zeigen die Herausforderungen, Mechanik und Elektronik
zu einem lebenserhaltenden System zu
kombinieren. Jeder Fehler – ob in der
Entwicklung, während der Herstellung
oder Endmontage – wäre später eine
potenzielle Gefahrenquelle. „Hier sitzen
die RFID-Module“, zeigt Vieillemard beispielhaft auf kleine Platinen. „Sie sorgen
beispielsweise dafür, dass die sogenannte Wasserfalle zur Sicherheit der Patienten rechtzeitig vor Ablauf ihrer Schutzund Filterfunktion ausgetauscht wird.“
Zum Abschluss ein
Ultramarathon
Bei der Prüfung der Basiseinheit kommen die 20 Liter fassenden Glasflaschen
als „künstliche Lunge“ ins Spiel: „Die
kupferfarbene Spezialwolle darin bietet
für den Atemkreislauf einen ähnlichen
mechanischen und thermischen Widerstand wie das Lungengewebe“, erläutert
Ludovic Vieillemard.
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
Am Ende der Montagelinien steht
schließlich der Perseus A500 nach
Kundenspezifikation zur Auslieferung
bereit. Nun folgt noch ein abschlie­
ßender Systemtest – ein zehntägiger
Dauerlauf, mit Atembeutel und angeschlossenem Atemschlauch-Set. „Ein
echter Marathon“, sagt Ludovic Vieille­
mard und zieht im Weitergehen an
einem Band die Tür zum Versand auf.
Das kennt man aber! „Nicht ganz“,
entgegnet der Franzose und zeigt auf
die spezielle Form einer tiefergelegten
Palette, dank derer das Anästhesiegerät auch versandfertig noch unter einer
Höhe von 1,60 Meter bleibt. „Sonst
wären die Versandkosten gleich deutlich höher.“ Und so wird gerade dort
eingespart, wo es ohne Einbußen an
Qualität und Sicherheit möglich ist –
bis zuletzt.
Nils Schiffhauer
Video: Test auf Herz und Nieren –
Produkte, die das Dräger Test­Center
durchlaufen, müssen harte Prüfun­gen über sich ergehen lassen.
www.draeger.com/391/testcenter
Optische Bildverarbeitung und Infrarot
Unter den vielen Innovationen, die Dräger zum ersten Mal bei einem Anästhesiegerät
einsetzt, fällt die optische Schnittstelle zwischen Perseus A500 und den Narkose­
mittel-Verdampfern („Vapore“) auf. „Bei dieser Entwicklung haben wir uns überlegt“,
sagt der verant­wortliche Projektleiter Claus Bunke, „wie man die klassischen und
betriebs­erprobten vollmechanischen Vapore datentechnisch integrieren kann.“ So schied
beispielsweise eine Anbindung an Bluetooth aus, weil sie eine Stromversorgung der
Vapore erfordert hätte. Daraufhin entwickelte man eine optische Lösung: In unmittelbarer
Nähe jedes Vapors stecken hinter einer roten Glasscheibe eine Leuchtdiode und
eine Kamera. Die Leuchtdiode strahlt im Infrarotbereich in Richtung Vapor, die Kamera
nimmt dieses Bild auf, das eine nachgeschaltete Software auswertet. „Wir haben uns
für das fürs menschliche Auge unsichtbare Infrarot entschieden, weil das langwellige Licht
niemanden stört und auch Fremdlicht die Kamera nicht irritieren kann“, sagt Bunke.
Drei verschiedene Informationen liest die optische Schnittstelle aus:
Den Typ des Narkosemittels – wobei der Füllstutzen des Vapors immer
u
nur ein bestimmtes Narkosemittel aufnimmt
Die Position des Handrads – und damit die im Frischgas eingestellte
u
Narkosemittelkonzentration
u Den Füllstand – sobald eine minimale Füllmenge unterschritten wird
51
Au sbl ic k Sch ich tarb e i t
22:00
02:00
Die 24-Stunden-Gesellschaft denkt um
Rund um die Uhr – von Lebensmitteln bis Dienstleistungen – alles zu bekommen ist für
viele selbstverständlich geworden. Möglich machen es die Millionen Menschen, die bereit sind,
rund um die Uhr zu arbeiten. Schichtarbeit ist ein Preis für Luxus, aber auch ein Opfer.
Sie abzuschaffen ist undenkbar, sie angenehmer zu gestalten ein Ziel: auch in Deutschland.
V
on der alten Villa, deren Efeu­
ranken bis unter das Spitzdach
reichen,­läuft Andreas Gattermann
fünf Minuten zum neuen Produktions­
center. Sein ganzer Stolz. Stahl und Glas,
voll klimatisiert. Der Weg in den Neubau
im niedersächsischen Städtchen Aer­
zen im Weserbergland führt an einem
Bach vorbei. Gattermann zeigt auf die
Fo­rellen. Sie schwimmen stromaufwärts,
die ganze­Zeit, wie ein Spiel. Unterbro­
chen einzig­von der Nacht, in der sie sich
zum Schlafen in ihre Nischen zurückzie­
hen, während die Gabelstapler der Aer­
zener Maschinenfabrik über die kleine
Brücke rollen.
Der Grießbach teilt das Fabrikgelän­
de des Familienunternehmens in Alt und
52
Neu. Alt, das sind die Gebäude aus den
Anfangszeiten Mitte des 19. Jahrhunderts.
Die große Halle, 2008 erbaut, könnte in
China, Indien oder Polen stehen. „Doch
wir haben uns entschieden, hierzublei­
ben“, sagt Werksleiter Gattermann nicht
ohne Stolz. Allerdings: „Es geht nicht
ohne Schicht- und Nachtarbeit. Wer in
dieser Arbeitswelt mithalten will, kann
es sich kaum leisten, seine Maschinen
nachts auszustellen.“
Mancherorts gehen die
Lichter nie aus
Den meisten Unternehmen im Produk­
tionsbereich gehe es ähnlich, bestätigt
Frank Lennings vom Institut für ange­
wandte Arbeitswissenschaft e. V., das im
Auftrag der Verbände der Metall- und
Elektroindustrie forscht: „Arbeit, die
in Deutschland bleibt, ist in der Regel
mit teuren Maschinen verbunden. Die
Wettbewerbsfähigkeit der Arbeitsplätze
erfordert lange Betriebszeiten. Es gilt
der betriebswirtschaftliche Grundsatz:
Je länger die tägliche Nutzungszeit der
Produktionseinrichtungen, desto günsti­
ger. Allerdings arbeitet nur etwa ein Drit­
tel aller Schichtarbeitnehmer im verar­
beitenden Gewerbe.“ Für sie und alle
anderen heißt das: ein Leben führen, das
sich nach einem ständig wechselnden
Schichtplan richtet. Zum Dienst fahren,
wenn andere Familien Abendbrot essen,
arbeiten, während der neue Film im Kino
startet, sich konzentrieren, wenn ande­
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
FotoS: plainpicture; PantherMedia; a-location
06:00
re sich ausruhen – und schlafen, wenn
scheinbar der Rest des Landes den normalen Berufsalltag lebt.
Diesen Alltag gibt es schon längst
nicht mehr überall. Das zeigt sich an den
24-Stunden-Tankstellen ebenso wie den
Flughäfen, Bahnhöfen und nicht zuletzt
auch Krankenhäusern, bei der Polizei
oder Feuerwehr. „Wir haben uns daran
gewöhnt, rund um die Uhr alles zu bekommen. Das hat seinen Preis“, sagt Lennings.
Mit Einführung des elektrischen Lichts
erschloss man sich die Nacht als nahtlose Erweiterung des Tages. Rund 16 Prozent aller deutschen Arbeitnehmer arbeiten heute im Schichtdienst – damit liegt
Deutschland im europäischen Vergleich
im Mittelfeld. Das Feld wird angeführt von
Kroatien und Slowenien mit über 30 Prozent. Früh- und Spätdienst, mit Nacht oder
ohne, nur werktags oder auch sieben Tage
die Woche. Pakete wollen befördert, Güter
verschifft, Feuer gelöscht, Gäste bedient,
Patienten versorgt, Passagiere geflogen
und Kundenwünsche erfüllt werden. Mancherorts gehen die Lichter nie aus. Wer
nicht aus dem Fenster schaut oder keins
in der Nähe hat, lebt Tage und Nächte, die
nur von der inneren Uhr und den großen
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
Zeigern an der Wand bestimmt werden. In
einer der ältesten Produktionshallen auf
dem 18 Hektar großen Fabrikgelände in
Aerzen werden die Maschinen hergestellt,
die individuelle Kundenwünsche erfüllen:
riesige Gebläse zur Belüftung von Biogasanlagen etwa, tonnenschwer, gusseisern.
Millionenteure, roboterähnliche Maschinen beherbergen im Backsteingebäude
nebenan einen Menschen, der Arbeiten
steuert, für die früher vielleicht zehn seiner Kollegen nötig gewesen wären. Die
Räume erzählen eine Geschichte, sie lassen die Historie der alten Fabrik lebendig werden, die den Sprung in die Moderne geschafft hat, ohne sich selbst dabei
untreu zu werden. Es riecht nach Schmiermittel, und es sieht nach Arbeit aus. Aber
die Böden sind so sauber wie die Geländer,
Türgriffe und Fenster, durch die an diesem
Nachmittag die Sonne scheint.
Nicht jeder Mensch ist für
den Schichtdienst gemacht
„Die Mitarbeiter müssen sich um zehn
Uhr ebenso konzentrieren wie um 15
Uhr nachmittags oder zwei Uhr morgens“, sagt Gattermann, der die Problematik der Nachtarbeit kennt. Er legt Wert >
Tipps für
Schichtarbeiter
Nachts leichte Kost zu sich nehmen
u
Power Naps von wenigen
u
Minuten erhöhen gegen 2 Uhr
die Konzentra­tionsfähigkeit
u Sofern planbar: Konzentrations­
intensive Tätigkeiten zwischen
zwei und fünf Uhr morgens vermeiden
Licht mit einer Helligkeit über
u
2.000 Lux verwenden
Zusätzliche Lichtduschen
u
machen wach
Nach der Nachtschicht den
u
Körper nicht in den Tages-Modus
bringen: Sonnenlicht und Tätigkeiten
des normalen Alltags vermeiden
u Zum besseren Einschlafen
am Tag: Raum herunterkühlen, Füße
und Hände warm halten
Nach dem letzten Nachtdienst
u
sollte die Tagschlafphase kürzer sein
u Nach der Frühschicht keinen
aus­gedehnten Mittagsschlaf halten;
abends früher ins Bett gehen
Schlafhygiene beachten:
u
im Bett nicht arbeiten, fernsehen
oder essen
53
Au sbl ic k Sch ich tarb e i t
Arbeit, die in Deutschland bleibt, ist
oft schwere Arbeit: In Aerzen werden
individuelle Kundenwünsche erfüllt
> auf Kontakt zu seinen Schichtarbeitern,
kennt theoretisch jeden, praktisch viele.
Ein Computer wertet für ihn täglich den
Produktionsstand aus. Sind die Maschinen ausgelastet? Welcher Arbeitsplatz ist
im Soll, wo hakt es? Wer dauerhaft nachts
Fehler macht, fällt irgendwann auf.
„Nicht jeder Mensch ist für den Schichtdienst gemacht“, weiß Gattermann. Er
selbst sei es auch nicht. Doch: „Wer einen
einschlägigen Beruf wie etwa Zerspanungsmechaniker erlernt, der weiß, was
in unserem Land höchstwahrscheinlich
auf ihn zukommt.“
Chronobiologische Prozesse
steuern den Menschen
Frank Brenscheidt von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin
bestätigt: „Es gibt Menschen, die größere Schwierigkeiten mit der Schichtarbeit
haben.“ Die biologische Uhr von Morgentypen, sogenannten Lerchen, widerspricht
der Nachtarbeit derart, dass eine Anpassung auch für kurze Phasen nur schwer
möglich ist und auch zu Erkrankungen
führen kann. „Wichtig sind natürlich
arbeitsmedizinische Untersuchungen“,
sagt Brenscheidt. Er rät, sich darüber
hinaus alle paar Jahre durchchecken zu
lassen, „am besten, bevor ein Krankheitssymptom auftritt“. Die Symp­tome reichen
von Magen- und Darmproblemen, da die
54
Drehkolbengebläse für Biogasanlagen etwa
sind derzeit gefragt. Das Unternehmen reagiert
flexibel auf die Nachfrage
Organe in der Nacht nicht auf Verdauung
programmiert sind, über Ein- und Durchschlafstörungen bis hin zu ernsthaften
Herz- und Kreislauf­erkrankungen. „Der
Effekt tritt in der Regel nicht sofort ein“,
erklärt Brenscheidt. Erst nach 15 Jahren
kämen bei den meisten die Beschwerden.
„Der Mensch lebt nach einem zirkadianen Rhythmus, der mit der Nachtarbeit gestört wird“, erklärt Gundula Grzesik
vom Zeitbüro FOM, einem vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales geförderten Projekt der Hochschule für Ökonomie
und Management. Das bedeute: Nachts
zu arbeiten sei für den Körper besonders
anstrengend. „In der Nacht soll er sich
erholen. Und das kann er nicht, wenn er
arbeiten muss.“ In Tausenden von Jahren,
die der Mensch in Abhängigkeit von der
Sonne verbracht hat, hat sich seine innere
Uhr auf einen 24-Stunden-Rhythmus ein­
gestellt. Bestimmte biologische Prozesse laufen ab, ohne dass sich daran etwas
ändern lässt. Die im Hypothalamus gelegene innere Uhr gibt diesen Rhythmus
vor, Hormone steuern Müdigkeit und
Wachsein. Ständige Nahrungsaufnahme
innerhalb der eigentlich dadurch programmierten Ruhephase führt zu einer De-­
synchronisation. Die aber hat nicht etwa
den positiven Nutzen, dass der Mensch
von nun an ein Nachtwesen wird – er wird
schlichtweg durcheinandergebracht.
Die wissenschaftlichen Erkenntnisse
gelangen langsam in die Köpfe der Entscheider, Personaler, Dienststellenleiter und letztlich auch der Arbeitnehmer
– beschleunigt von arbeitswissenschaftlichen Instituten und Unfallkassen, die eine
Häufung von Unfällen im Nachtdienst
mangels Konzentrationsfähigkeit befürchten. Ein Paradigmenwechsel zeichnet sich
ab. „Noch vor zehn Jahren setzte jeder
häuslebauende Schichtarbeiter auf seine Nachtzulage – auf Kosten der eigenen
Gesundheit und zum Wohle der Kredittilgung“, sagt Frank Lennings. Heute seien
es vor allem junge Väter, die gegen die klassischen Schichtmodelle opponieren, weil
ihnen die Zeit mit der Familie fehlt und
sie die bei ungünstigen Schichtkonstellationen mitunter wochenlang nicht sehen.
Mit ihnen machen Betriebsräte mobil, und
auch Unternehmen werden aktiv: Sie sorgen sich wegen des Fachkräftemangels um
ihren Ruf und um die Gesundheit ihrer
Mitarbeiter. „Unsere immer älter werdende Gesellschaft versucht, die immer älter
werdenden Arbeitnehmer gesund zu halten“, sagt Gundula Grzesik vom Zeitbüro.
Auch den Mitarbeitern der Aerzener
Maschinenfabrik wird der Schichtdienst
so angenehm wie möglich gemacht. In
der alten Villa sitzt der Betriebsarzt, es
gibt Beratungen, Empfehlungen und einige Heiligtümer: Am Wochenende stehen
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
FotoS: Aerzener Maschinenfabrik
„Wer in dieser Arbeitswelt
mithalten will, kann es sich
kaum leisten, seine Maschinen
nachts auszustellen“
Tradition trifft Moderne: die
neue Produktionshalle der
Aerzener Maschinenfabrik
die Maschinen still. Gearbeitet wird 35
Stunden in der Woche in Wechselschicht,
Überstunden gehen auf ein Arbeitszeit­
konto, von dem bei geringerem Auftrags­
volumen oder je nach privatem Bedarf
Stunden abgezogen werden können. In
produktionsstarken Zeiten, wenn der
Samstag doch mal hinzugezogen werden
muss, werden die Schichten angepasst
und Mitarbeiter eingestellt, anstatt auf
Überstunden zu setzen – sehr zur Zufrie­
denheit der Arbeitnehmer.
Ideen, um Schichtarbeiter zu
entlasten, gibt es viele
Doch in vielen Betrieben laufen Umstellun­
gen innerhalb des Schichtbetriebs nur
schwierig an. „Viele Arbeitnehmer tun
sich mit der Umstellung schwer. Sie haben
sich daran gewöhnt, beispielsweise sieben
Nachtschichten hintereinander zu leisten“,­
weiß Grzesik. Sie hätten ihr soziales­Leben
darauf abgestimmt und fühlten sich nun
durch neue Schichtpläne mit schnellem
Schichtwechsel verwirrt. „Unsere Bot­
schaft ist: Sie müssen sich darauf einlas­
sen. Am Anfang ist das oft schwierig.“
Ideen zur Entlastung der Schichtar­
beiter gibt es viele. Die Firma Hydro in
Hamburg gewährt ihren ältesten Mit­
arbeitern sogenannte „Opa-Tage“. Wer
mit 55 Jahren und älter oft nachts arbei­
ten muss, darf bei Lohnfortzahlung im
Drägerheft 391 | 3 / 2 012
Jahr drei Nachtschichten streichen, mit
57 bekommt man sechs geschenkt. Ande­
re lassen ihre Mitarbeiter alle zwei Jah­
re neu entscheiden, wie viel sie arbeiten
möchten – 15 oder 35 Stunden. Einer der
Vorreiter in der Gestaltung des Schicht­
dienstes ist der Weißblechhersteller Rassel­
stein, der schon seit Ende der 1980er-Jah­
re auf kurz rotierende Schichtpläne setzt.
Zwei Tage früh, zwei Tage spät, zwei Tage
nachts und anschließend vier Tage frei –
ein Vorzeigemodell. „Unsere Empfehlung
ist, möglichst wenige Nachtschichten auf­
einanderfolgen zu lassen“, bestätigt Frank
Brenscheidt. Je schneller das Schlafdefi­
zit aufgeholt werden könne, desto besser.
Wenn in Aerzen am Morgen die Sonne
wieder durch die Fabrikfenster scheint,
machen sich um sechs Uhr die Nachtar­
beiter auf den Heimweg, über den Grieß­
bach, vorbei an den Forellen. Möglichst
wenig Reize und Licht dabei aufneh­
men, um den Körper nicht zu sehr in
den Tagesmodus zu bringen, Jalousien
runter, Ohrenstöpsel rein. „In aller Kon­
sequenz macht das kaum ein Mitarbei­
ter“, befürchtet Werksleiter Gattermann.
„Ich zumindest habe morgens noch kei­
nen Mitarbeiter mit Sonnenbrille vom
Hof gehen sehen.“ Isabell Spilker
Weiterführende Informationen
www.zeitbuero.fom.de
u
Schlaftrainer für Schichtarbeiter:
u
schlaftrainer.de/leitfaden.html
Bundesanstalt für Arbeitsschutz
u
und Arbeitsmedizin: www.baua.de
Download: „Schichtarbeit: Rechtslage,
u
gesundheitliche Risiken und Präventionsmöglichkeiten“: publikationen.dguv.de/dguv/
pdf/10002/iag-schicht-1.2012.pdf
Prof. Dr. Ulrike Hellert, „Nacht- und Schicht­
u
arbeit modern gestalten“, Lit-Verlag, 19,90 Euro
IMPRESSUM
Herausgeber: Drägerwerk AG & Co. KGaA,
Unternehmenskommunikation
Anschrift der Redaktion: Moislinger Allee 53–55,
23558 Lübeck / [email protected],
www.draeger.com
Chefredaktion: Björn Wölke,
Tel. +49 451 882 20 09, Fax +49 451 882 39 44
Redaktionelle Beratung:
Nils Schiffhauer (V. i. S. d. P.)
Art Direktion, Gestaltung, Bildredaktion
und Koordination: Redaktion 4 GmbH, Hamburg
Druck: Lehmann Offsetdruck GmbH
ISSN 1869-7275
Sachnummer: 90 70 320
Die Beiträge im Drägerheft
informieren über Produkte und deren
Anwendungs­möglichkeiten im
Allgemeinen. Sie haben nicht die
Bedeutung, bestimmte Eigen­schaften der Produkte oder deren
Eignung für einen konkreten
Einsatzzweck zuzusichern. Alle
Fachkräfte werden aufge­fordert, ausschließlich ihre durch Aus- und Fortbildung
erworbenen Kenntnisse und praktischen Erfahrungen anzuwenden. Die Ansichten, Meinungen und Äußerungen der namentlich genannten Personen sowie
der externen Autoren, die in den Texten zum Ausdruck
kommen, entsprechen nicht notwendigerweise der
Auffassung der Dräger­werk AG & Co. KGaA. Es handelt
sich ausschließlich um die Meinung der jeweil­­igen
Personen. Nicht alle Produkte, die in dieser Zeitschrift
genannt wer­­den, sind weltweit erhältlich. Ausstattungs­­
pakete können sich von Land zu Land unter­­schei­den.
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© Drägerwerk AG & Co. KGaA, 2012. Alle Rechte
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mechanisch, durch Fotokopie, Aufnahme oder andere
Art übertragen werden.
Die Dräger Safety AG & Co. KGaA, Lübeck, ist
Hersteller folgender Produkte: PAC 7000 (S. 3, 56),
LAR 5000 (S. 12, 31) + 7000 (S. 12), X-am 2000
(S. 19), 5000 (S. 28), 5600 (S. 28) + 7000 (S. 19, 28),
PAC 3500 (S. 32), Dräger-Röhrchen (S. 34), FPS
7000 + PSS 7000 + UCF 6000 (alle S. 39), Interlock
XT (S. 44). Die Dräger Medical GmbH, Lübeck,
ist Hersteller des Perseus A 500 (S. 49 ff.).
www.draeger.com
55
EIN BL IC K
PAC 7 000
3
2
6
4
5
10
9
9
8
11
7
5
1
Als Teil der persönlichen Schutzausrüstung warnt dieses Eingasmessgerät, wenn die atmosphärische Konzentration eines bestimmten Gases die eingestellte Schwelle überschritten hat. Das
mit widerstandsfähigem Gummi armierte zweischalige Gehäuse 1
beherbergt eine doppelseitig bestückte Platine 2 . Auf die Platine
wird der gewünschte Sensor 3 gesteckt – etwa zur Detek tion
von Kohlenstoffmonoxid (siehe auch S. 32 ff.) .
Ein auswechselbarer Filter 4 erlaubt den Gaszutritt von vorne
und oben. Das ist wichtig, wenn das Gerät zum Beispiel versehentlich in die Hemdtasche rutscht. So diffundiert die Außenluft
auf kürzestem Weg zum schnell ansprechenden elektrochemischen Sensor. Dieser verändert seinen elektrischen Widerstand
entsprechend der Konzentration des zu messenden Gases. Wird
die eingestellte Konzentration überschritten, warnen zwei Leuchtdioden 5 auf der Vorderseite optisch, eine elek trische Hupe 6
56
mit mehr als 90 dBA in 30 Zentimeter Entfernung akustisch und
ein Vibrationsmotor – kräftiger als jener im Mobiltelefon – fühlbar.
Gesteuert werden alle Funktionen durch einen Mikroprozessor.
Das Pac 7000 bietet zudem die Speicherung aller wichtigen
Daten, die sich über die Infrarotschnittstelle 7 auslesen lassen.
Die Batterie 8 hat eine Lebensdauer von rund 5.500 Betriebsstunden. Ohne potenzialbelegte Kontakte nach außen eignet
sich das Pac 7000 auch für den Einsatz in explosionsgefährdeter
Atmosphäre. Ein Druckausgleichsventil sorgt automatisch dafür, dass auch innerhalb des Geräts der jeweilige atmosphärische Druck herrscht. Bedient wird das hier abgebildete Eingasmessgerät über zwei Tasten 9 . Die Kontrolle von Bedienung
und Messung erfolgt über das kontraststarke LCD-Feld 10 . Das
Pac 7000 lässt sich mittels Krokodilclip 11 sicher an der Kleidung befestigen.
DRÄGERHEFT 391 | 3 / 2012
FOTOS: DRÄGERWERK AG & CO. KGAA
Feine Nase detektiert gefährliche Gase