2/2007

Transcription

2/2007
Zentrum
für politischpolitisch-ökonomische
und ethische Bil
Bildung
ethik-report
Nr. 2 März 2007
Informationen und Rezensi
Rezensionen
zu ethischen Themen aus TagesTagespresse, Fachzeit
Fachzeitschriften, Gremien
und von Fachtagun
Fachtagungen
herausgegeben
von Mitgliedern des Zent
Zentrums für
poli
politischtisch-ökonomische und ethische
Bildung
Editorial
•
Themenüberblick
Presse- und Literaturspiegel
•
•
•
•
Sterbehilfedebatte in Europa
Unregelmäßigkeiten bei Sterbehilfeorganisation
Einsames Sterben in der Großstadt
Internationale Richtlinien für
Stammzellforscher
Rezension
Leibnizstraße 3
88250 Weingarten
Tel.: 0751/501-8293
E-Mail:www.ph-weingarten.de/zpe
•
Matthias Möhring-Hesse (Hrsg.):
Streit um die Gerechtigkeit. Themen und Kontroversen im gegenwärtigen
Gerechtigkeitsdiskurs.
Schwalbach 2005
Dokumentation
•
Peter Dabrock: Was ist überhaupt
Selbstbestimmung? In: Frankfurter Rundschau vom 15.02.07
2
Editorial
Liebe Leserin, lieber Leser,
in der Märzausgabe des ethik-reports geht
onalen Stammzellforschung hat sich eine
es um sechs bio- und sozialethische The-
Gruppe von namhaften Stammzellfor-
menschwerpunkte: Die Sterbehil
Sterbehi l fedebatte
schern entschlossen, ihren Kolleginnen
in Europa hat sich in den letzten Mona-
und Kollegen internationale Richtli
Richtli nien
ten vor allem im Zusammenhang mit Ge-
für
setzesänderungsvorhaben in den verschie-
Diese sehen ein Klonverbot für Menschen
denen Ländern intensiviert. Zur Diskussion
und Mischwesen sowie bessere Selbstkon-
stehen die ethischen und rechtlichen Fra-
trollverfahren vor.
Stammzellforscher
vorzuschlagen.
gen nach der Legitimation von aktiver
Sterbehilfe und assistierter Selbsttötung.
Der Rezensionsteil thematisiert den Streit
Wir schildern anhand einiger, z.T. spekta-
um die Gerechtigkeit.
Gerechtigkeit Der mit gleichlau-
kulärer Fälle den Diskussionsstand in eini-
tendem Titel von dem Frankfurter Ethiker
gen Ländern Europas. In dieser Diskussion
Matthias Möhring-Hesse herausgegebene
spielen zunehmend auch die UnregelmäUnregelmä-
Sammelband gibt eine gute Übersicht über
ßigkeiten bei Sterbehilfeorganisatio
Sterbehilfeorganisati on en,
en ,
aktuelle Themen und Kontroversen im
wie sie am Beispiel der Schweizer „Digni-
gegenwärtigen Gerechtigkeitsdiskurs.
tas“ zu Tage traten, eine Rolle. Wir geben
die von ehemaligen Mitarbeitern dieser
Der Dokumentationsteil widmet sich der
Organisation erhobenen Vorwürfe wieder
Frage: Was ist überhaupt SelbstbestimSelbstbestim-
als Beispiel für die prekäre Praxis organi-
mung? In einem bemerkenswerten Text
sierter Tötungshilfen. Häufiger Anlass für
erörtert der Marburger Theologe und Phi-
suizidale gesellschaftliche Trends ist die
losoph Peter Dabrock das Problem, ob und
Einsamkeit. Einige Aufsehen erregende
wie bei Demenzkranken der vor ihrer
Fälle geben Anlass, über das einsame
Krankheit für den Fall der Lebensbedro-
Sterben in Großstädten nachzudenken
hung geäußerte Wille in Übereinstimmung
und Abhilfemöglichkeiten zu suchen. Nach
zu bringen ist mit den Äußerungen im Fall
etlichen forschungsethisch höchst proble-
der akuten Demenzerkrankung. Soll bzw.
matischen Vorgehensweisen in der embry-
darf der Arzt die frühere Willensäußerung
3
höher gewichten als den durch bestimmte
Lebenszeichen bekundeten Lebenswillen
Für die Redaktion:
des Demenzkranken? Soll bzw. darf er lebenserhaltende Maßnahmen weiterführen
Hans-Martin Brüll
oder beenden? Weil der Artikel eine e-
und
thisch qualifizierte Äußerung zur aktuell
Siegbert Peetz
anstehenden Bundestagsdebatte darstellt,
haben wir ihn eingefügt.
PressePresse- und Literatur
Literaturspiegel
Sterbehilfedebatte in Europa
umfrage 53 % der Befragten für die AbIn verschiedenen Ländern Europas ent-
schaltung der Beatmungsmaschine aus,
steht aufgrund spektakulärer Einzelfälle
25 % sind dagegen. Geringer ist die Zu-
ein Änderungsdruck auf die Parlamente,
stimmung für ein Abschalten bei Patien-
die Sterbehilfe gesetzlich neu zu regeln.
ten, die bewusstlos sind und ihren Willen
nicht mehr äußern können. 41 % befür-
Polen
worten den Abbruch lebenserhaltender
Maßnahmen, 38 % sprechen sich dage-
Der 32-jährige Janusz Switaj ist seit sei-
gen aus. Der Fall Switaj hat eine große
nem 18. Lebensjahr wegen eines Motor-
Resonanz gefunden, weil der Betroffene
radunfalles gelähmt und hat gerichtlich
im Fernsehen und auf seiner Homepage
beantragt, seine Beatmungsmaschine ab-
(www.switaj.eu) trotz vielfältiger Hilfs-
zuschalten, die ihn bis dato leben lässt. Er
und Spendenangebote von prominenten
organisierte landesweit eine Volksab-
Polinnen und Polen weiterhin öffentlich
stimmung für das Recht auf Sterbehilfe.
sein Recht auf seinen selbst veranlassten
Zurzeit ist in Polen die aktive Sterbehilfe
Tod fordert. Im Mai wird entschieden
verboten und wird mit einer Haftstrafe
sein, ob Switaj mit seiner Volksabstim-
von bis zu fünf Jahren geahndet. Im Fall
mung Erfolg hat und das polnische Par-
Switaj sprachen sich in einer Meinungs
4
lament in Sterbehilfefragen neu ent-
tendem Recht auch künstliche Ernährung
scheiden muss.
ablehnen.
Zugleich verlangen die Unterschreiber des
Frankreich
Offenen Briefes die Einstellung des Verfahrens gegen ihre Kollegen in Perigueux.
2.134 Ärzte und Pflegekräfte haben in
Dort hatten eine Ärztin und eine Kran-
einem Offenen Brief bekannt, aktive
kenschwester einer an Bauchspeicheldrü-
Sterbehilfe geleistet zu haben. Sie hätten
senkrebs erkrankten Frau ein tödliches
Situationen erlebt, in denen das physische
Präparat verabreicht. Die Patientin war
und psychische Leid der Patienten uner-
im Endstadium ihrer Krankheit und ist an
träglich geworden sei. Sie hätten deshalb
der Injektion auf eigenen Wunsch gestor-
todbringende Medikamente gereicht, um
ben.
das grausame Leiden abzukürzen. Im Einklang mit ihrem Gewissen und auf
Italien
Wunsch der Patienten hätten sie diesen
mit Medikamenten geholfen, in Würde zu
Ausgangspunkt für die aktuelle Sterbehil-
sterben.
fediskussion in Italien war der Fall des
Die Unterzeichner fordern eine Reform
Muskeldystrophie-Patienten
des Sterbehilfegesetzes in Frankreich und
Welby. Dieser bat schon seit Monaten um
ähnliche gesetzliche Regeln wie in den
die Abschaltung des Beatmungsgerätes
Niederlanden und Belgien. Dort ist aktive
durch den behandelnden Anästhesisten.
Sterbehilfe und die Beihilfe zur Selbsttö-
Dieser kam der Bitte nach und führte so
tung unter bestimmten Bedingungen ge-
den Tod des 60-jährigen Patienten her-
setzlich erlaubt. Das Gesetz zur Sterbehil-
bei. Das Verhalten des Arztes führte zu
fe war in Frankreich erst 2005 verab-
einer landesweiten Debatte um die Zuläs-
schiedet worden. Es verbietet die aktive
sigkeit der aktiven Sterbehilfe. Vor allem
Sterbehilfe und enthält präzise Regeln für
unter Anästhesisten wurde der Fall disku-
Fälle mit einer unheilbaren Krankheit.
tiert. So kritisierte der Präsident des ita-
Ärzten ist es danach erlaubt, die Behand-
lienischen Anästhesistenverbandes Vin-
lung Todkranker einzustellen oder so zu
cenzo
begrenzen, wie es vom Patienten ge-
Wunsch nach Tötung
wünscht ist. Patienten können laut gel-
gründe oft in unzureichenden Maßnah-
Carpino
seinen
Pergiorgio
Kollegen.
Der
– so Carpino –
5
men gegen das Leiden. Auch bei Patien-
Die zuständige Regierung von Andalusien
tenverfügungen müsse es dem Arzt aus
gab den Ärzten Anfang März die Erlaub-
Gewissensgründen möglich sein, dem To-
nis, den lebenserhaltenden Beatmungsap-
deswillen des Patienten zu widersprechen.
parat abzustellen. Sie tat dies gegen das
Man könne von Medizinern „nicht zur
bestehende Gesetz, das die aktive Sterbe-
gleichen Zeit verlangen, alles Mögliche
hilfe in Spanien verbietet. Die andalusi-
für die Rettung menschlichen Lebens zu
sche Regierung stützt sich in ihrer Ent-
tun und sie zu beenden, indem man die
scheidung auf zwei Gutachten, deren Ver-
Geräte abschalte.
fasser im Abstellen des Beatmungsgerätes
keine aktive Sterbehilfe erkennen konn-
Spanien
ten. Der Kranken stehe das vom Gesetz
her gestützte Recht zu, eine medizinische
Im Mittelpunkt der spanischen Sterbehil-
Behandlung abzulehnen.
fedebatte stand das Schicksal der an un-
Der Fall Echevarria löste eine heftige De-
heilbarem Muskelschwund leidenden In-
batte in Spanien aus. Der Rechtsphilosoph
maculada Echevarria. Sie ist seit 20 Jah-
Jose
ren wegen ihrer Krankheit bettlägerig.
meint: „Wenn Echevarria das Gerät von
Zuletzt konnte sie wegen der Lähmungen
Anfang an abgelehnt hätte, wäre sie ge-
nur noch mit schwacher Stimme reden
storben, ohne dass jemand protestiert
sowie ihre Fingerspitzen und ihre Ge-
hätte“. Die Biochemikerin Natalia Lopez
sichtsmuskeln bewegen. Die Lähmungen
Moratalla hält dagegen: „Der Fall Eche-
erschwerten vor allem ihre Atmung, so
varria ist reine und knallharte Euthana-
dass sie auf ein Beatmungsgerät ange-
sie.“ Diese Auffassung vertritt auch die
wiesen war. Seit Oktober 2006 forderte
katholische Kirche. Der Primas der katho-
sie öffentlich, sterben zu dürfen: „Es ist
lischen Kirche, Kardinal Antonio Caniza-
ungerecht, so leben zu müssen“, lautete
res, sieht im Verhalten der Ärzte eine
ihre Begründung. Sie musste aufgrund
illegale Handlung und wertet diese als
ihrer Krankheit ihren einzigen Sohn mit
einen „Anschlag auf die Würde und das
acht Monaten zur Adoption freigegeben,
Leben“. Die Position der Kirche führte
ihr Mann war bei einem Verkehrsunfall
dazu, dass Echevarria zum Sterben in ein
gestorben.
nicht-kirchliches
werden
Miguel
Serrano
Ruiz-Calderon
Krankenhaus
musste. Im vorherigen
verlegt
San-
6
Raffael-Krankenhaus, das dem katholi-
kennen sich darin offen für den begleite-
schen Orden San Juan de Dios gehört,
ten Freitod. Alle suchen Sterbehilfe bei
waren die Ärzte zunächst bereit, dem
der „Dignitas“, einer Sterbehilfeorganisa-
Todeswunsch der Patientin zu entspre-
tion in der Schweiz. Einige hatten im No-
chen. Allerdings mussten die Ärzte einen
vember 2006 noch vor, mit deren Hilfe in
Rückzieher machen, weil die Ordenslei-
der Schweiz zu sterben, einige sind be-
tung in Rom untersagte, die Geräte abzu-
reits in Zürich gestorben. Die Betroffenen
stellen.
sind zwischen 32 und 82 Jahre alt. So
unterschiedlich ihre Krankheiten und Le-
Deutschland
bensläufe sind, sie eint der Wunsch, sich
selbst zu töten und dabei die Hilfe Dritter
Noch in diesem Frühjahr soll auf Wunsch
in Anspruch zu nehmen. Was sind ihre
der Bundesjustizministerin Zypries und
Motive? Fast alle berichten vom Ende
der Fraktionsvorsitzenden aller Parteien
ihrer Kräfte. („Ich bin jetzt an einem
ein neues Gesetz beschlossen werden, das
Punkt, wo ich einfach nicht mehr kann…“
die Rechtsverbindlichkeit von Patienten-
(Anke Holiet, gestorben am 13.11.06 in
verfügungen näher regeln soll. Wir be-
Zürich). Auch sprechen betroffene Men-
richteten in unserer letzten Ausgabe über
schen davon, weitere krankheitsbedingte
die drei parteiübergreifenden Gruppenan-
Einschränkungen nicht akzeptieren zu
träge. Im Mittelpunkt der Diskussion
wollen. („Noch kann ich selbständig at-
steht die Frage, ob Patientenverfügungen
men und aufrecht sitzen. Ständig liegen
für alle Menschen mit einem schweren
wäre nicht mehr tolerabel für mich.“ Ste-
Leiden gelten oder ob sie sich ausschließ-
fan Guhl) Ängste vor einer unsteuerbaren
lich auf kranke Menschen in Todesnähe
Verschlechterung des Zustandes spielen
beziehen sollen.
eine Rolle. („Irgendwann müsste ich dann
Begleitet wird der parlamentarische Pro-
wieder ins Krankenhaus, und das endet
zess von einer gesellschaftlichen Diskussi-
dann unschön. Da habe ich so einen
on, die vor allem von Befürwortern einer
Schiss vor.“ Werner Volz, gestorben am
möglichst liberalen Lösung angeführt
3.07.06 in Zürich).Unerträgliche Schmer-
wird. Der STERN hatte bereits im Novem-
zen sind oft der Ausgangspunkt für den
ber 2006 Testimonien von zwölf schwer
Todeswunsch. („Meine Schmerzen sind
kranken Menschen abgedruckt. Sie be-
kaum noch zu ertragen. Medikamente
7
wirken nicht.“ Ernst B.) Die Selbsttötung
Leben beenden", mahnte der Mainzer
als letzter Ausdruck von Freiheit spielt bei
Bischof und Vorsitzende der Deutschen
einigen Patienten eine Rolle. („Ich bin ein
Bischofskonferenz. Hier verlaufe bei allen
extrem freiheitsliebender Mensch […] Zu
differenzierten Erfahrungen im Raum von
dieser Freiheit gehört für mich auch, das
Leben und Tod eine grundsätzliche Gren-
Ende selbst bestimmen zu können.“ Hilke
ze. Lehmann mahnte, Hilfen, Wege und
Addo) Auf die Hilfe anderer angewiesen
Mittel in ethisch vertretbarer Weise ein-
zu sein, nicht mehr nützlich zu sein, sind
zusetzen, da man sonst den Druck in
die Hauptmotive einiger Schwerkranker
Richtung aktiver Sterbehilfe kaum auf-
für eine assistierte Selbsttötung („Wenn
halten könne. Der Bischof rief dazu auf,
ich nicht mehr lesen kann. Und wenn ich
der Frage nach dem Leiden nicht auszu-
meinen Darm gar nicht mehr entleeren
weichen. Der Mut zur Erkenntnis des Lei-
kann und auf die Hilfe anderer angewie-
dens schließe auch die Teilnahme und das
sen bin. Dann ist Schluss.“ (Ingrid Schir-
Mit-Leiden ein. Der Christ dürfe nie das
ling) „Aber ich will nicht jahrelang hilflos
Leid rhetorisch abschwächen, so Leh-
in einem Pflegeheim liegen, wie ein Baby
mann. Die letzte und im Grunde einzige
versorgt werden und für die Gesellschaft
Antwort auf das Leiden der Welt könne
kein nützliches Mitglied mehr sein. So ein
der Christ nur geben, wenn er auf Jesus
Ende wünsche ich mir nicht.“ Irmgard
und auf das Kreuz zeige. Auch Gott habe
Christians)
in Jesus Christus das menschliche Leid
Gegenüber der vom Stern und von der
nicht verklärt, sondern "als der völlig
Gesellschaft für Humanes Sterben in
Schuldlose hat er das Unvermeidliche
Gang gesetzte Medienkampagne zuguns-
übernommen und bis zum bitteren Ende
ten der Freigabe des assistierten Suizids
durchlitten".
werden kritische Stimmen laut. Zuletzt
wandte sich Kardinal Lehmann gegen die
Quellen:
deutlich wahrnehmbare Tendenz zur aktiven Sterbehilfe. Diese müsse in jeder
Oliver Link: Lasst uns sterben. In: STERN
Form verboten bleiben. Gleichzeitig wür-
vom 23.11.06, 28-40.
digte er die Hospizarbeit und die Palliativmedizin. "Wir dürfen mit vielen Mit-
N.N.: Gegen aktive Sterbehilfe. In: KNA
teln das Leid lindern, aber nicht aktiv das
vom 15.03.07
8
N.N.: Italiens Anästhesisten gegen SterN.N.: Spanien: Unheilbare Kranke durfte
behilfe. In: Ärzteblatt vom 27.02.07
sterben. In: Die Zeit vom 15.03.07
N.N.: Spitzenpolitiker in Frankreich deHans-Hagen Bremer: Schluss mit der
Heuchelei. Porträt des französischen Arztes Denis Labayle. In: Der Tagesspiegel
vom 09.03.07
battieren um Sterbehilfe. In: KNA vom
15.03.07
N.N.: Volksabstimmung über Sterbehilfe
N.N.: Französische Mediziner an Sterbehilfe
beteiligt.
In:
Ärzteblatt
vom
in Polen. In: Nachrichtendienst oe24 vom
02.03.07
08.03.07
Unregelmäßigkeiten bei Sterbehilfeorganisa
Sterbehilfeorganisation
Zwei ehemalige Mitarbeiter der Schweizer
ger
Sterbehilfeorganisation „Dignitas“ erheben
„Dignitas“-Aussteiger, der Theologiestu-
schwere Vorwürfe gegen die Gepflogen-
dent Ignaz Reutinger, berichtet von hohen
heiten der Organisation im Zusammen-
Summen, die von Todeswilligen an den
hang mit deren Verhalten bei der Sterbe-
„Dignitas“-Chef Minelli in bar gezahlt
hilfe. Kritisiert wird die kurze Zeit zwi-
wurden.
schen dem Verschreiben der tödlichen
Diese Summen, die Rede ist von über
Substanzen durch einen Schweizer Arzt
10.000 €, sind höher als die von Minelli
und der Nachricht über die vollzogene
angegebenen. Er spricht von 3.500 € pro
Selbsttötung. Meist seien es nur drei
Sterbefall. Minelli bestreitet zwar die Hö-
Stunden. Diese Tatsache widerspricht der
he der Summen, bestätigt aber gleichzeitig
Eigenwerbung der „Dignitas“. Die ehema-
gegenüber dem Schweizer Fernsehen, dass
lige Stellvertreterin des „Dignitas“-Chefs
er das Bargeld der Todeswilligen persön-
Ludwig A. Minelli, Soraya Wernli, behaup-
lich zur Bank bringe. Die Zürcher Staats-
tet – bisher unwidersprochen -, dass Tö-
anwaltschaft hat Ermittlungen gegen Mi-
tungshandlungen von Dritten durchge-
nelli aufgenommen.
Betäubung
führt werden. In zwei Fällen habe ein Arzt
das todbringende Barbiturat nach vorheri-
Quelle:
gespritzt.
Der
zweite
9
N.N. Sterbekosten. Vorwürfe gegen die
Züricher Sterbehilfeorganisation „Dignitas“. In Frankfurter Allgemeine Zeitung
vom 14.02.07
Einsames Sterben
Sterben in den Groß
Großstädten
Zu spät entdeckte Tote in Stuttgart und
wesen. Zu dieser und vergleichbaren Si-
die ZDF-Serie „2030 – der Aufstand der
tuationen kommt es vor allem in Groß-
Alten“ waren Anlässe für zwei Interviews
städten, wenn verschiedene Signale in der
zur Problematik der Einsamkeit im Alter –
Umgebung der Toten nicht wahr- oder
vor allem in Großstädten. Besonders krass
ernst genommen werden: ein überquellen-
machte der Tod eines 79-jährigen alten
der Briefkasten, längere Rechnungsrück-
Mannes aus Polen in Stuttgart-Rot auf
stände, das Unterbleiben von Arzt- oder
dieses gesellschaftliche Problem aufmerk-
Behördenbesuchen oder der ausbleibende
sam. Es dauerte 15 Monate, bis er in sei-
Einkauf im Stammgeschäft. Selbst dann,
ner Sozialwohnung der städtischen Woh-
wenn Behörden oder Vermietern eine feh-
nungsbaugesellschaft aufgefunden wurde.
lende Präsenz von alten Menschen gemel-
Der Stuttgarter Sozialamtsleiter Walter
det wird, dürfen sie nur bedingt die Woh-
Tattermusch stellt in einem Interview der
nung des Betroffenen aufsuchen oder die-
Stuttgarter Zeitung fest, dass man einsa-
se gar aufbrechen. Ein fremdes Endringen
mes Sterben in einer Großstadt nicht ver-
in die Privatsphäre des Einzelnen ist ge-
hindern könne. Auch der für die Woh-
setzlich stark geschützt, kann aber gleich-
nungsgesellschaft „SWSG“ zuständige So-
zeitig die Vereinsamung fördern. Ein Kon-
zialarbeiter Peter Steudler konstatiert, dass
trollbesuch wird - so Steudler - meist von
auch die „SWSG“, in deren Sozialwohnung
den Betroffenen abgelehnt. Der Vereinsa-
der Verstorbene 17 Jahre gelebt hatte, es
mung
letztlich nicht verhindern könne, dass
Steudler durch verschiedene Maßnahmen
Menschen in ihren Wohnungen einsam
abgeholfen werden: Mieter können über
sterben. Allerdings seien die Umstände im
die Kasse der Wohnungsbaugesellschaft
vorliegenden Fall menschenunwürdig ge-
ihre Miete selbst einzahlen. Bei Nichter-
könnte
laut
Tattermusch
und
10
scheinen wird durch Sozialarbeiter nach-
meinde zu organisieren. Da die Verwandt-
geschaut. Einige Wohnungsgesellschaften
schaft aufgrund der Mobilität der Gesell-
stellen Pförtner und Sozialarbeiter ein, die
schaft nicht (mehr) im näheren Umkreis
einen engen Kontakt zu den Mietern pfle-
wohnt, sind alte Menschen verstärkt auf
gen. Auf freiwilliger Basis können Mieter
fremde Hilfe im näheren Umkreis ange-
in anderen Projekten wöchentlich eine
wiesen. In einem Projekt „Seniorennetz-
Karte als Lebenszeichen abgeben oder sich
werk“ werden Bedürfnisse der Senioren
in Telefonketten einklinken. In jedem Fall
erhoben und an verschiedenen Orten Initi-
ist Eigenverantwortung stärker gefragt,
ativen von und für Senioren zum Zweck
wenn es darum gehrt, ein rechtzeitiges
von deren besserer Vernetzung ins Leben
Auffinden bei plötzlich eintretendem Tod
gerufen. Entscheidend dabei ist, dass trag-
zu
architektonisch
fähige Beziehungen vor Ort entstehen,
muss sich nach Auffassung beider einiges
damit Anonymität durchbrochen werden
verändern. So seien zunehmend wohnge-
kann. Schwarz sieht in dieser bürger-
meinschaftsfähige Wohnungen für die
schaftlichen Vernetzung auch ein Mittel
älter werdende Gesellschaft zu bauen.
gegen die Tendenz zur Befürwortung von
Auf den Gemeinschaftsbezug als Prophyla-
aktiver Sterbehilfe. „Es gilt nicht, den
xe gegen die Vereinsamung im Alter setzt
Sterbewillen alter Menschen zu fördern,
auch Philipp Schwarz vom Forum Katholi-
sondern ihren Lebenswillen und zwar
sche Sozialarbeit. Nach seiner Auffassung
durch menschliche Berührung und Zuwen-
gilt es Unterstützung im Nahbereich in
dung“, lautet sein Fazit.
ermöglichen.
Auch
Gruppen, Nachbarschaft und Kirchenge-
Internationale Richtlinien für Stammzellfor
Stammzellforschung
Angesichts des Klonfälschungsskandals in
schaft für Stammzellforschung (ISSCR)
Südkorea und grundlegender ethischer
ruft alle Forscher, die mit menschlichen
Bedenken gegen die Stammzellforschung
Embryonen arbeiten, dazu auf, sich selbst
in der Bevölkerung haben sich führende
auf diverse Standards zu verpflichten.
Stammzellforscher zu ethischen Standards
Nach diesen Standards ist es verboten,
verpflichtet. Die Internationale Gesell-
Menschen zu klonen. Das Erzeugen von
11
Mischwesen zwischen Tier und Mensch ist
Quelle:
zu begrenzen. Eingeschränkt werden soll
N.N.: Grenzen fürs Land der grenzenlosen
auch die finanzielle Entlohnung von Ei-
Möglichkeiten. In: Stern vom 01.02.07
zellspenderinnen. Gänzlich untersagt werden alle Eingriffe, die aus wissenschaftlicher Sicht nicht nötig sind.
Kernstück der Ethikregelungen ist die Errichtung eines übergeordneten Aufsichtsgremiums für die Arbeit mit menschlichen
embryonalen Stammzellen. Das Gremium
dient der Selbstkontrolle, vor allem für
eine Reihe von strittigen Versuchen, die in
den Richtlinien aufgeführt sind. Die ISSCR
fordert eine internationale Datenbank für
Quellen:
Beate-Maria Link: „Das Riesenproblem
heißt Einsamkeit“. Das Ein Interview mit
Philipp Schwarz vom Forum Katholische
Sozialarbeit über Leben im Alter. In: Katholisches Sonntagsblatt vom 16.02.07
N.N.: „In einer Großstadt kann man einsames sterben nicht verhindern“. Zwei
vergessene Tote in kurzer Zeit: der Sozialamtsleiter Walter Tattermusch und der
Sozialarbeiter Peter Steudler fordern mehr
Eigenverantwortung. In: Stuttgarter Zeitung vom 19.02.07
alle menschlichen Stammzelllinien, die
nach den ethischen Standards erzeugt
wurden. Zudem verpflichten sich die Wissenschaftler, ihre Materialien sämtlich
anderen Forschern zugänglich zu machen.
Die Fachzeitschriften für Stammzellforschung werden zudem gebeten, nur solche
Forschungsergebnisse zu veröffentlichen,
die den ethischen Standards des ISSCR
genügen.
Die ethischen Richtlinien wurden von 27
Forschern, Ethikern und Juristen aus 14
Ländern erarbeitet. Beteiligt waren u.a.
der
deutsche
Stammzellforscher
Hans
Schöler und der Miterschaffer des Klonschafes „Dolly“, der Schotte Ian Wilmut.
Infos zum Forum Katholische Seniorenarbeit:
Christine Czeloth-Walter
Jahnstraße 30
70597 Stuttgart
Tel.: 0711/9791282
Mail: [email protected]
Net:
www.forum-katholischeseniorenarbeit.de
12
Rezension
Matthias MöhringMöhring-Hesse(Hrsg.): Streit um die Gerech
Gerechtigkeit. Themen und
Kontroversen im gegenwärtigen Gerechtigkeitsdis
Gerechtigkeitsdiskurs. Schwalbach 2005
Der Streit über die Gerechtigkeit führt zu
schen Verständnis von Gerechtigkeit, stellt
einer Vervielfältigung der Gerechtigkeits-
deren Kritik vor und entwickelt dagegen
begriffe, der Gerechtigkeitstheorien sowie
sein eigenes Konzept einer „Moral gleicher
der gerechtigkeitsrelevanten Themen. Die-
Achtung“, zeigt aber auch die Grenzen
se Feststellung des Herausgebers Matthias
seines eigenen Ansatzes auf.
Möhring-Hesse in der Einleitung zum
Ob mit der Chancengleichheit mehr Ge-
kleinen Sammelband „Streit um Gerech-
rechtigkeit erzielt werden kann, themati-
tigkeit“ ist der Auftakt eines lesenswerten
siert der Artikel von Walter Pfannkuche.
Überblickes zu Themen und Kontroversen
Chancengleichheit bietet zwar eine gewis-
im gegenwärtigen Gerechtigkeitsdiskurs.
se Kompensation für soziale Ungleichhei-
Zunächst bereiten die beiden Autoren Ste-
ten, allerdings bleibt nach Meinung des
fan Liebig und Bodo Lippl das empirische
Verfassers offen, was denn genau mit dem
Feld, das aktuelle Forschungsergebnisse zu
Begriff Chancengleichheit jeweils gemeint
den Einstellungen der Deutschen gegen-
ist. Pfannkuche spricht sich für eine „faire
über Gerechtigkeitsfragen vorstellt und
Chancengleichheit“ aus, die aber nur Sinn
erläutert. Das Hauptergebnis: Die Bundes-
im Rahmen einer gerechten Gesellschaft
deutschen
mache.
akzeptieren
immer
stärker
marktliberale Gerechtigkeitsvorstellungen,
Die Frage, ob die Gleichstellung der Ge-
die egalitaristischen treten demgegenüber
schlechter zu mehr Gerechtigkeit führt,
immer stärker in den Hintergrund. Dass es
wird von Christa Schnabl bearbeitet. Sie
zunehmend zu größeren sozialen Un-
kritisiert, dass in der feministischen Theo-
gleichheiten kommt, wird eher fatalistisch
rie die positiven und korrektiven Elemente
hingenommen. Der Glaube an die Gerech-
der Geschlechterdifferenz zu wenig Be-
tigkeit schwindet, so das Fazit der beiden
rücksichtigung gefunden hätten. Sie plä-
Autoren.
diert daher für eine Sozialethik, die Ge-
Bernd Ladwig beschreibt in seinem Beitrag
rechtigkeit auf Gleichheit und Differenz
diese Abwendung von einem egalitaristi-
bezieht.
13
Den Verschiebungen in der Gerechtigkeits-
zweiten als gleichwertiges Gesellschafts-
theorie widmen sich die Beiträge von
ziel neben der Verteilungsgerechtigkeit,
Matthias Möhring-Hesse, Hermann-Josef
und in der dritten wird Anerkennung
Große Kracht, Mattias Iser und Burkhard
selbst zum Inbegriff von Gerechtigkeit. In
Liebsch. Möhring-Hesse versucht eine
seiner Kritik an diesen drei Konzepten un-
Vermittlung zwischen zwei Parteien im
terscheidet er zwei Formen der Anerken-
Gerechtigkeitsstreit. Ist die Grundlage der
nung: Anerkennung als Bedürfnis und als
Gerechtigkeit das „Richtige“ im Rahmen
Status. Im ersten geht es um die psychi-
einer Sollensethik, oder soll sich Gerech-
schen Bedingungen der Möglichkeit von
tigkeit am „Guten“, d.h. an der Vorstel-
Autonomie, im zweiten Begriff geht es um
lung vom erfüllten Leben in einer guten
den Schutz aller Menschen als gleichbe-
Gesellschaft orientieren? Bei aller Sympa-
rechtigter Subjekte und ihrer Lebensinte-
thie für die Partei des „Richtigen“, erkennt
ressen vor Schädigungen und Verletzun-
er auch deren Schwäche, dass sich nämlich
gen. Anerkennung ist dann mehr als Ge-
alles und jedes an einem bedingungslosen,
rechtigkeit und eröffnet die Perspektive
kulturenthobenen
einer „anständigen Gesellschaft“.
Sollen
festmachen
könnte. Der Frage, inwieweit „Gerechtig-
Burkhard Liebsch weist in seinem Beitrag
keit“ vom „Gemeinwohl“ als sozialethi-
auf den Zusammenhang von Ungerechtig-
schem Leitbegriff abgelöst werden soll, ist
keit und Gerechtigkeit hin. Solange Men-
der Beitrag von Große Kracht gewidmet.
schen
Er hält den Gemeinwohlbegriff nur für
verlangen sie umso mehr nach Gerechtig-
bedingt tauglich, „Gerechtigkeit“ als Leit-
keit und provozieren so die Frage nach
norm abzulösen. In ihm steckt zwar eine
einer besseren Gesellschaft. Allerdings
kritische Kraft gegenüber einseitigen libe-
besteht hier die Gefahr der Überforderung,
ralen
eine
und es bedarf bestimmter Regeln, die die
überzeugende Theorie des Gemeinwohls sei
Gerechtigkeit vor der Selbstgerechtigkeit
allerdings noch nicht in Sicht. Das Ver-
schützen.
hältnis von Anerkennung und Gerechtig-
Im Schlussteil des Buches geht es um ver-
keit durchleuchtet Iser. Er stellt drei un-
schiedene gerechtigkeitsrelevante Themen:
terschiedliche Konzepte hierzu vor. In der
Auf die globale Bedeutung von Gerechtig-
ersten Konzeption gilt Anerkennung als
keit weisen Matthias Möhring-Hesse und
ein geringerwertiges Anspruchsziel, in der
Bernhard Emunds hin. Bei der Realisierung
Gerechtigkeitsvorstellungen,
Ungerechtigkeiten
wahrnehmen,
14
von gerechten Verhältnissen kommt ange-
werden fair in die Diskussion eingebracht.
sichts der extremen Armut den Entwick-
Ein Blick in die
lungsländern die erste Verantwortung zu.
zeigt auch, dass eine neue Generation von
Die Mitverantwortung der reichen Länder
Sozialethikern angetreten ist auf der Su-
besteht darin, die Förderung der Entwick-
che nach neuen, theoretisch firmen Ant-
lungsländer
ermöglichen.
worten auf Herausforderungen der Gesell-
Hans-Richard Reuter betont den Zu-
schaft, die sich angesichts zunehmender
kunftsaspekt von Gerechtigkeit, indem er
sozialer Ungleichheiten die Gerechtigkeits-
die intergenerationelle Gerechtigkeit the-
frage immer wieder wird stellen müssen.
politisch
zu
matisiert. „Grundlinien einer Theorie ‚starker’ Nachhaltigkeit“ sind das Thema von
Konrad Ott. Er widmet sich in seinem Beitrag ebenfalls Fragen der intergenerationellen Gerechtigkeit mit einem besonderen
Akzent auf der Verteilung natürlicher Ressourcen zwischen der jetzigen und künftigen Generation. „Stark“ wird die Nachhaltigkeit durch die Maßgabe, dass der jetzige Naturbestand im Interesse künftiger
Generationen
(mindestens)
konstant
gehalten werden soll.
Mit dem vorliegenden Sammelband wird
ein ansprechendes Kaleidoskop auf der
Höhe der aktuellen sozialethischen Reflexion geboten. Wie ein roter Faden zieht
sich durch alle Beiträge die Frage nach
dem Verhältnis von Gleichheit und Gerechtigkeit hindurch. Wiewohl die meisten
Autoren vorwiegend egalitäre Positionen
beziehen, kommen die Gegenargumente
zugunsten einer stärkeren Tolerierung sozialer Ungleichheiten nicht zu kurz und
Hans-Martin Brüll
angefügte Autorenliste
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Dokumentation
Peter Dabrock
Was ist überhaupt Selbstbe
Selbstbe stimmung?
stimmung?
In Deutschland leben 1,2 Millionen Demenz
Demenzkranke,
kranke, und ihre Zahl wird steigen. Sie
können sich nicht mehr in der für uns ge
gewohnten Weise äußern. Aber sie können auf
andere Art ausdrücken, was sie wollen. Politiker, die nun Patientenverfügun
Patientenverfügun gen per
Gesetz
Gesetz stärken möchten, müssen das be
berücksichtigen.
Nennen wir sie weiterhin Margo - wie in
der offensichtlich das Wort des Theologen
der Fachwelt üblich, die ihren Fall so kon-
Dietrich Bonhoeffer greift: "Verantwor-
trovers diskutiert: Margo ist dement,
tung ist die Bereitschaft zur Schuldüber-
macht aber trotz dieser Krankheit einen
nahme". Soll man Margos Vorausverfü-
lebensglücklichen Eindruck. Nun bekommt
gung aus den Zeiten voller Einsichts- und
die als so zufrieden beschriebene Margo
Geschäftsfähigkeit folgen und die demen-
eine Lungenentzündung. Vermutlich wird
te Person in den fast sicheren Tod schi-
sie diese Infektion gut überstehen, wenn
cken, oder sieht man in der gegenwärtigen
ihr ein einfaches Antibiotikum verabreicht
Lebenszufriedenheit der verwirrten Margo
wird. Andernfalls würde Margo sterben. In
auch einen Ausdruck von Lebenswillen,
den Tagen vor ihrer Demenz hat Margo
dem Vorrang vor der Patientenverfügung
eine Patientenverfügung abgefasst. Darin
zu geben ist?
hat sie nach einem dokumentierten Beratungsgespräch mit ihrer Ärztin festgelegt,
dass im Falle von Demenz bei Lebensbedrohung durch eine zusätzliche Erkrankung oder Verletzung keine lebenserhaltenden Maßnahmen eingeleitet werden
dürfen. Ärzte und Pflegende werden vor
eine dramatische Entscheidung gestellt, in
Auch der Lebensschutz gilt nicht absoabsolut
Keineswegs sollte man diesen Konfliktfall
als Arbeitsbeschaffung für Aufmerksamkeit suchende Ethiker abtun. Der demo-
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grafische Wandel bringt eine erwartete
tung der Evangelischen Kirche in Deutsch-
Verdopplung von Demenzkranken in den
land, der Gesetzentwurf des Abgeordneten
nächsten 25 Jahren auf dann etwa zwei
Rene Röspel (SPD) und die Grundsatzer-
Millionen mit sich. Sieben Millionen Men-
wägungen von Wolfgang Bosbach (CDU)
schen, die nach Schätzung der Hospizstif-
sprechen sich, bei allen Unterschieden im
tung eine Patientenverfügung abgefasst
Detail, für eine Reichweitenbeschränkung
haben,
solcher
verlangen
dafür
schon
heute
Rechtssicherheit.
Patientenverfügungen
auf
die
Sterbephase oder zumindest den Zustand
irreversiblen Verlustes der Bewusstseinsfä-
In seiner Stellungnahme zu Patientenverfügungen hat der Nationale Ethikrat in
der berühmt-berüchtigten Empfehlung 13
eine klare Position zum Fall Margo eingenommen: Wenn eine Patientin die Demenzsituation in der Vorausverfügung
antizipiert hat, dann ist unter Beachtung
weiterer formaler Voraussetzungen der
Patientenverfügung Vorrang gegenüber wie es so verräterisch heißt - "Anzeichen
von Lebenswillen" einzuräumen. In der
Flut von Stellungnahmen und Gesetzentwürfen, die in Deutschland zur nun anstehenden gesetzlichen Regelung vorliegen,
schlagen
sich
Rheinland-Pfalz,
die
Bioethikkommission
die
als
Kutzer-
Kommission bekannt gewordene Expertengruppe des Bundesministeriums für Justiz
und die Gesetzentwürfe der FDP wie des
Abgeordneten Stünker (SPD) auf die Seite
des Nationalen Ethikrates. Die Enquetekommission der letzten Legislaturperiode,
die Kammer für Öffentliche Verantwor-
higkeit aus.
Jenseits solcher Abzählreigen - wer unterstützt wen? - sollte man sich aber vor
allem Rechenschaft darüber ablegen, welche ethischen Kriterien die Urteilsbildung
prägen sollten. Hinter den jeweiligen Optionen verbergen sich oft konkurrierende
Menschen-
und
Gesellschaftsbilder.
Schaut man in die Fachliteratur, werden
immer wieder Selbstbestimmung, aber
auch Fürsorge, Lebensschutz und Menschenwürde erwähnt. Deren Verhältnis
zueinander bleibt jedoch oft unklar. "Irgendwie" - so lautet die subkutane Botschaft - ist alles zu bedenken. Dabei sollte
vor dem Hintergrund der modernen, Pluralität regulierenden und gestaltenden Kulturen von Verfassungsrecht, allgemeiner
Ethik und öffentlichem Vernunftgebrauch
klar sein, welches ethische Kriterium zuvörderst zu beachten ist: die Selbstbestimmung.
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In der normativen Bewertung von Margos
Positionen berufen sich auf den Men-
Fall geht es primär nicht um die Fürsorge-
schenwürde-Schutz. Ja, wir empfänden es
Dimension. So wünschenswert Fürsorge
geradezu als klassischen Ausdruck einer
gegenüber einer Dementen oder einem
Verletzung der Menschenwürde, wenn ein
Sterbenden ist, so sehr darf dieses Kriteri-
echtes Selbstbestimmungsrecht von Staats
um guten Lebens nicht ein so fundamen-
wegen nicht geachtet oder geschützt wür-
tales Anrecht wie das der Selbstbestim-
de. So sehr also Menschenwürde Selbstbe-
mung aufheben. Auch der Lebensschutz
stimmung grundiert, so sehr muss sie sich
gilt nicht absolut. Das verdeutlichen nicht
daran bewähren, echte Selbstbestimmung
nur die konfliktethischen Fälle von Solda-
zu schützen.
teneinsatz, finalem Rettungsschutz oder in
ganz anderer Hinsicht der Schwangerschaftskonflikt, sondern schon die als
sinnlos erachtete medizinische Intervention. Opinio communis der Ethik und des
Verfassungsrechtes ist, dass das konditionale Gut Leben an der Menschenwürde
gebrochen werden kann: Eine aufgezwungene Lebensverlängerung stellt beispielsweise eine Missachtung der Selbstbestimmung, des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und damit der Menschenwürde dar.
Warum dann aber nicht - wie üblich, mag
man denken - gleich die Menschenwürde
als hinreichend unterscheidendes Kriterium postulieren? Der Rückgriff auf das
zuhöchst zu achtende und zu schützende
Gut unterscheidet an dieser Stelle ethisch
nicht präzise genug. Ob der Vorrang der
Patientenverfügung oder der Anzeichen
von Lebenswillen behauptet wird, beide
Entgegen einer primär auf Lebensschutz
setzenden Position muss deshalb festgehalten werden: Selbstbestimmung ist
das entscheidende ethische Kriterium in
der Frage der Reichweite von Patientenverfügungen. Aber auch eine einseitige,
Selbstbestimmung nur mit souveräner
Autonomie
identifizierende
Auffassung
muss sich die Frage stellen lassen: Was ist
überhaupt Selbstbestimmung? Nur die
Vorausverfügung einer philosophisch als
selbstbewusst bezeichneten, juristisch als
geschäfts- oder einsichtsfähig erachteten
Person? Oder müssen auch Margos "Anzeichen von Lebenswillen" als völlig legitimer Ausdruck von Selbstbestimmung
geachtet werden? Dann aber wird die Frage nach der vorrangig zu schützenden
Form von Selbstbestimmung vertrackter.
Sie lautet dann: Hat eine vorausverfügte,
kognitiv komplexe Selbstbestimmung einen Vorrang vor einer aktuellen, aber we-
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niger komplexen Form? Der Streit um die
Da war der Wunsch der Vater des GeGe-
Reichweite
dankens
danken s
von
Patientenverfügungen
erweist sich damit als ein Streit um die
Semantik
von
Selbstbestimmung.
Die zweite Position, die der nicht verlängerbaren Autonomie, wird prominent von
In diesem Streit um Selbstbestimmung
Rebecca Dresser, immerhin Mitglied im
lassen sich typisierend drei Positionen
Bioethikrat des amerikanischen Präsiden-
erkennen: Die ersten beiden wurden inten-
ten, vertreten. Ihre Ansicht kann prägnant
siv und extensiv vor allem in der analyti-
mit dem Hauptsatz der Verdachtsherme-
schen Philosophie diskutiert. Die erste
neutik charakterisiert werden: "Da war der
Position, nennen wir sie die der verlänger-
Wunsch der Vater des Gedankens." Hier
baren Autonomie, geht davon aus, dass
wird nämlich behauptet: Margo könne als
sich im Menschen höhere und niedere
autonome Persönlichkeit gar nicht ab-
Sphären von kommunizierbaren Intentio-
schätzen, was eine demente Margo emp-
nen finden. Ob man diese höhere Sphäre
fände und wolle. Folglich müsse von zwei
Selbstbewusstsein,
oder
unterschiedlichen Personen ausgegangen
critical interests nennt, sie haben Vorrang
werden. Es zähle nur der Wille der aktuel-
vor den niedrigeren, egal ob diese als
len, zweiten Person Margo. Zwar ist die
nicht-selbstbewusstes Streben, personale
Vermutung richtig, dass man in gesunden
Persistenz oder experiental interests be-
Tagen schwerlich voraussehen kann, wie
zeichnet werden. Die anthropologisch und
man sich in kranken oder behinderten
moralisch höher zu bewertenden Aus-
wieder erfindet, aber deswegen gleich die
drucksäußerungen strahlen auf solche
Identität der Person zu leugnen, geht in
Zeiten aus, in denen die Person nur noch
jeder Hinsicht zu weit. Sämtliche Voraus-
über die niedrigeren verfügt. Entsprechend
verfügungen und Verträge, die auf Zu-
genießen Patientenverfügungen, zumin-
kunft hin ausgerichtet sind, verlören ihre
dest die, in denen die Demenz-Situation
Grundlage. Während die erste Position
antizipiert wurde, einen Vorrang vor An-
sich nicht in solche absurden Konsequen-
zeichen von Lebenswillen. Margos Patien-
zen verstrickt, verbreitet sie doch ein hoch
tenverfügung obsiegt über ihr aktuelles
problematisches
Lebensglück.
Aktuelle Äußerungen dementer Personen
Persönlichkeit
Lebensqualitätsurteil:
sind auf Grund geringerer kognitiver
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Komplexität von geringerer moralischer
wortenden und kommunikativen Charakter
und rechtlicher Bedeutung als Vorausver-
menschlicher Existenz bereits eine hinrei-
fügungen komplexerer Art.
chende und zu schützende Würdigung.
Eine
Alternative
im
Verständnis
von
Selbstbestimmung bietet eine dritte Position. Sie sieht Selbstbestimmung nicht nur
genealogisch, sondern auch in ihrer Geltung bleibend begründet in Relationen
und Kommunikationen. Offenheit von und
auf andere hin, Sozialität, Verletzlichkeit
und Passivität gehören konstitutiv in dieses Selbstbestimmungskonzept. Vertreten
wird es zum einen von christlicher Anth-
Diesen Ansatz bestätigt die Leibphänomenologie, wenn sie leibliche Selbstbestimmungsformen auch unterhalb kognitiver
Reflexionen kennt. Solche Ausdrucksformen leiblichen Selbstseins finden sich in
unterschiedlichen Phasen und Situationen
des Lebens ganz selbstverständlich unterschiedlich: beim Kind anders als beim älteren Menschen, beim Schachspiel anders
als beim ritualisierten Gesang.
ropologie. Nach ihr erschließt die Recht-
Die Kommunikationswege haben sich
fertigung des gottlosen Sünders den Sinn
verscho
versch oben
der Menschenschöpfung. Danach gründet
die Auszeichnung des Menschen nicht in
Schließlich zeigen jüngste, auch metho-
irgendwelchen Eigenschaften, sondern in
disch belastbare empirische Ergebnisse aus
der ungeschuldeten Wahl Gottes: "Du
der Gerontologie, allen voran die Arbeiten
darfst sein!" Selbstbestimmung heißt im
aus dem Institut von Andreas Kruse in
christlichen Kontext daher zunächst: als
Heidelberg, dass eine demente Person als
Person, so wie man ist, Antwort auf das
eine selbstbestimmungsfähige Person an-
Von-Gott-Angesprochensein sein zu dür-
sprechbar ist. Allerdings haben sich die
fen. Deshalb rechnet eine theologische
Kommunikationswege
Anthropologie damit, dass es weit jenseits
von eher kognitiven hin zu eher affektiven
des biologisch oder sozial standardisierten
oder leiblichen Ausdrucksweisen. Diese
Normalitätsspektrums Formen der Selbst-
Personen dann auf die ihnen eigentümli-
bestimmung gibt. Umgekehrt heißt dies:
chen Ausdrucksweisen anzusprechen, er-
Selbstbestimmung muss nicht einfach mit
scheint nicht nur ihnen angemessen, son-
souveräner Selbstgesetzgebung identifi-
dern auch als ein Gebot der Menschen-
ziert werden, sondern erfährt in dem ant-
würde. Auf Margos Fall bezogen bedeutet
verschoben:
weg
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dies: Margo eignet auch im Stadium der
der Deutung leiblicher Willensäußerungen
Demenz Selbstbestimmung. Selbstbestim-
die Interpretation, ob ein Lebenswille vor-
mung darf gerade in solchen Fällen, in
liegt, oft unsicher. Um also im Zweifelsfall
denen es um Leben und Tod geht, nicht
einerseits vorsichtsorientiert dem Lebens-
nur mit juristischer Einsichtsfähigkeit i-
schutz Genüge zu tun, um andererseits
dentifiziert werden. Die allgemeine Regel
aber auch das grundsätzliche Recht, Pati-
in der Medizin, dass aktuelle Willensäuße-
entenverfügungen als Akt von Selbstbe-
rungen vorausverfügten unbedingt vorzu-
stimmung zu achten, nicht zu konterkarie-
ziehen sind, wenn sie jene aufheben, muss
ren, schlagen Dieter Birnbacher und ich
hier gelten.
trotz unterschiedlicher ethischer Ansätze
gemeinsam eine Verfahrenslösung vor, die
Gegenüber den beiden ersten Positionen
hat die These, dass bei Dementen kein
Verlust, sondern eine Transformation von
Selbstbestimmung
stattgefunden
hat,
mehrere Vorteile: Der grundlegenden Passivität und Sozialität im Selbstbestimmungsbegriff wird Rechnung getragen.
Abwertende Lebensqualitätsurteile über
das Leben und die Ausdrucksintensität von
Behinderten werden vermieden. Patientenverfügungen werden nicht einfach grundsätzlich ausgehebelt. Gelten diese doch
solange als Ausdruck von Selbstbestimmung, wie keine anderen leiblichen Ausdrucksgesten gegenteilige Anzeichen von
Lebenswillen vermitteln.
beiden Anliegen Rechnung trägt. Diese
Intention wird dann erfüllt, wenn zum
einen grundsätzlich die Patientenverfügung als verbindlicher Wille geachtet wird,
ihre Aufhebung also die Beweislast zu
tragen hat. Zum anderen muss bei allen
am Fall beteiligten Personen - Betreuenden, Angehörigen, dem Ärzte- und Pflegeteam - einhellig jeder Zweifel ausgeräumt
sein, dass noch Anzeichen von Lebenswillen vorliegen könnten. Kann darüber keine
Einigkeit erzielt werden, sollte das Vormundschaftsgericht
angerufen
werden.
Dass in einem solchen Fall jede verantwortliche Entscheidung die Bereitschaft
zur Schuldübernahme beinhaltet, braucht
nicht - erst Recht nicht im Glauben - geleugnet zu werden.
Ein Vorschlag, das Problem zu lö
lösen
Das vorgeschlagene Verfahren dürfte die
Dennoch bleibt trotz der Fortschritte in
verbleibende Spannung bei Entscheidun-
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gen unter Bedingungen der Endlichkeit
jedoch weitgehend beachten. Es baut weder so hohe Verfahrenshürden auf, dass
das Rechtsinstitut der Patientenverfügung,
das so viele wünschen, gänzlich ins Leere
laufen würde, noch redet es einem Mechanismus das Wort, der die Sondersituation einer Demenzerkrankung unberücksichtigt ließe. In jedem Fall wird die anstehende Gesetzgebung offenbaren, wie
sehr unsere Gesellschaft das Selbstbestimmungsrecht von Dementen und überhaupt von so genannten geistig Behinderten achtet und schützt.
Quelle:
Peter Dabrock: Was ist überhaupt Selbstbestimmung? In: Frankfurter Rundschau
vom 15.02.07
Der dokumentierte Text ist eine Kurzfassung eines Artikels, der Mitte Mai 2007
im Heft 02/2007 der Zeitschrift für medizinische Ethik erscheinen wird.
Zum Autor:
Peter Dabrock, Theologe und Philosoph, ist
Juniorprofessor für Sozialethik am Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps- Universität Marburg. Er ist außerdem Mitglied der Zentralen Ethikkommission
bei
der
Bundesärztekammer.
Zahlreiche Veröffentlichungen zu bioethischen Themen u. a. 2004: Menschenwürde
und Lebensschutz. Herausforderungen
theologischer Bioethik.