DER SPIEGEL Jahrgang 1999 Heft 44

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DER SPIEGEL Jahrgang 1999 Heft 44
Werbeseite
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DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN
Hausmitteilung
1. November 1999
Betr.: Titel, Big Brother, SPIEGEL ONLINE
J
eder Handgriff hat im deutschen Gesundheitssystem
seinen Preis, und weil das so ist, verschlingt das Geschäft mit der Krankheit immer mehr Geld – allein in diesem Jahr rund 550 Milliarden Mark. Wochenlang haben die
SPIEGEL-Redakteure Jan Fleischhauer, 37, und Alexander
Jung, 33, den bürokratischen Wildwuchs des angeblich
besten Gesundheitswesens der Welt durchforstet. Am Ende
erkannte Fleischhauer: „Das System selbst hängt am Tropf
und wird ohne radikale Therapie bald kollabieren.“ Die
jetzt anstehende Reform des Gesundheitswesens jedenfalls kuriert allenfalls an Symptomen. Das mag mit an den
SPIEGEL 38/1999
beiden Protagonisten des rot-grünen Reformprojektes liegen. „Ministerin Andrea Fischer und SPD-Sozialexperte
Rudolf Dreßler können einfach nicht miteinander“, sagt SPIEGEL-Autor HansJoachim Noack, 59. Sein Kollege Hans Halter, 61, selbst Arzt, liefert für den Titel
Beispiele aus dem medizinischen Alltag; Wissenschaftsredakteur Harro Albrecht,
38, ebenfalls Mediziner und vor einigen Jahren als Krankenhausarzt in England tätig,
nutzt seine Erfahrungen für einen europäischen Vergleich. SPIEGEL-Korrespondentin Michaela Schießl, 37, beschreibt den amerikanischen Weg. Es ist das zweite
SPIEGEL-Titelstück zu diesem Thema innerhalb kurzer Zeit, und zweimal stand
auch die in Danzig geborene Magdalena Strahl, 26, Modell – in Heft 38/1999 für neue
Erkenntnisse bei der Gesundheitsvorsorge, diesmal als Opfer in den Klauen des Medizinkartells (Seite 32).
eorge Orwells Roman „1984“
hat SPIEGEL-Redakteur Claus
Christian Malzahn, 36, im Schulunterricht gelesen – jetzt holte er
das vergilbte Stück über den „Big Brother“ aus gegebenem Anlass wieder
hervor: In den Niederlanden besuchte Malzahn eine gleichnamige RealityShow, bei der sich ein paar junge Leute rund um die Uhr von 24 Kameras
filmen lassen. Anders als in Orwells Roemer, Malzahn
Diktatur tun sie dies aber freiwillig
und gegen Bezahlung. Die täglich eine halbe Stunde lang ausgestrahlte TV-Show „Big
Brother“ ist ein Quotenknüller. SPIEGEL-Mann Malzahn durfte sich in dem mit Stacheldraht, Sichtblenden und von Wachleuten gesicherten Komplex der Aufnahmestudios umsehen und mit Produktionsleiter Paul Roemer sprechen, der die Kameras
dirigiert. „Mit der guten alten Fernsehwelt von Rudi Carrell hat diese Show so viel
zu tun wie ein Sofa mit einem Nagelbett“, beschreibt Malzahn den bizarren Gipfel
des Voyeurismus.Vorbereitungen für eine deutsche Ausgabe laufen bereits (Seite 136).
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as Internet entwickelt sich explosionsartig – auch als journalistisches Medium. Fünf Jahre nach seinem Start erreicht SPIEGEL ONLINE mehr als 1,14 Millionen User pro Monat. Mit einem
Plus von 252 000 Anwendern gewann die SPIEGEL-Tochter laut „Allensbacher
Computer- und Telekommunikationsanalyse ’99“ im Vergleich zum Vorjahr mehr
neue Nutzer als jede andere Online-Ausgabe von Zeitschriften. „Im kommenden
Jahr werden Nachrichten von SPIEGEL ONLINE auch per Handy zu empfangen
sein“, verspricht ONLINE-Chef Hans-Dieter Degler.
Im Internet: www.spiegel.de
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C. v. FLYMEN / HOLLANDSE HOOGTE
G
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In diesem Heft
Titel
Gesundheitssystem vor dem Infarkt ................ 32
Kostentreiber Krankenhaus ............................. 40
Wer hat in Europa das beste
Gesundheitswesen?.......................................... 47
Die amerikanische Zwei-Klassen-Medizin ....... 54
Gesundheitsministerin Andrea Fischer und
SPD-Gesundheitsexperte Rudolf Dreßler
liefern sich ein Dauer-Duell ............................. 58
Kampf um den linken Weg
Seiten 22, 28, 160
Kommentar
Rudolf Augstein: Er kuscht .............................. 24
Wende und Ende des SED-Staates (6)
„Rücktritt ist Fortschritt“ –
Millionenprotest gegen Krenz ..................... 91
Porträt: Markus Wolf – der Mann
mit tausend Gesichtern............................... 104
Analyse: Zensur ohne Zensor.................... 108
Wirtschaft
Trends: Schnelles Aus für das
AKW Obrigheim? / Springer & Jacobi-Gründer
kritisiert die Phantasienamen
der Fusionskonzerne ...................................... 113
Geld: Analysten setzen auf Handy-Aktien /
Wer profitiert vom Weihnachtsgeschäft
im Internet?.................................................... 115
Wirtschaftspolitik: Die machtlosen
Berater im System Schröder........................... 116
Ein Ex-Lafontaine-Berater über das Chaos
im Regierungsapparat..................................... 118
Autoindustrie: Boomender Handel
mit gefälschten Ersatzteilen............................ 120
Asien: Immobilienkrise in Schanghai............. 122
HypoVereinsbank: Der tiefe Fall
des Eberhard Martini ..................................... 124
Biotechnik: Forscher drängen
ins Management ............................................. 126
Risikokapital: Deutsche Bank beteiligt
sich am Formel-1-Imperium............................ 130
Fischer, Schröder
Regierung: Experten ohne Einfluss
Wirtschaftsbosse rebellieren gegen die Berliner Wirtschafts- und Finanzpolitik. Sie wissen: Die Regierung kann auf exzellente Berater zurückgreifen – aber sie tut es kaum.
Männer wie Staatssekretär Tacke, einst Krisenmanager in Niedersachsen, und Staatssekretär Mosdorf, Internet-Experte und Stratege, liefern Konzepte, die keiner nutzt.
Schlag gegen die Korruption
6
Seite 78
Ein globales Abkommen verunsichert deutsche Unternehmen.
Bisher durften sie hohe Schmiergelder zahlen, um Geschäfte im
Ausland zu machen. Künftig müssen Manager auch daheim mit
Strafe rechnen, wenn sie – wie
Thyssen beim Panzer-Export –
schmutzige Tricks anwenden.
Thyssen-Panzer „Fuchs“
Der Tod eines Schnulzensängers
BISCHOFF
Medien
Trends: Die internen Quotenvorgaben
der ARD / Verona Feldbusch und
die „Bild“-Auflage ......................................... 133
Fernsehen: Sensationelle Erfolgsquote
für „Arche Noah“ / Start der umstrittenen
Polit-Satire „Wie war ich, Doris?“ .................. 134
Niederlande: Die „Big Brother“Fernsehshow macht die Holländer
zu einem Volk von Voyeuren.......................... 136
Journalisten: Die Watergate-Enthüller
in der Kritik ................................................... 140
Zeitschriften: Der neue Markt mit Blättern
für Computerspiele ........................................ 145
Seite 116
BMVG
100 Tage im Herbst
AP
Deutschland
Panorama: Bezahlter Beamten-Protest /
Wem gehört Schindlers Liste? .......................... 17
Regierung: Der Bruch wird sichtbar ............... 22
Umfrage: Die Meinung der SPD-Mitglieder
über Gerhard Schröder
und die Zukunft der Regierung........................ 28
CSU: Wie Edmund Stoiber als
Zukunfts-Kanzler durch Amerika tourt ........... 62
Zwangsarbeiter: Druck auf
zahlungsunwillige Firmen ................................ 64
Naturschutz: Aufruhr am Wattenmeer ........... 68
Gewalttäter: Raue Sitten unter
Amateur-Fußballern......................................... 72
Schmiergelder: Abkommen gegen Korruption
verunsichert deutsche Unternehmen ................ 78
Tiere: Wildschwein-Plage in Berlin.................. 84
Gesundheit: Hepatitis-Opfer kämpft
gegen Blutindustrie.......................................... 88
Urteile: Haftung für Jahr-2000-Fehler ............ 110
RAF: Spur nach Italien .................................... 111
Was ist sozialdemokratisch? Die
Sozialistische Internationale streitet über den richtigen Weg ins
nächste Jahrhundert. Traditionalisten wie in Frankreich stehen
gegen das Dritte-Weg-Duo Gerhard
Schröder und Tony Blair. Linke
Rede, rechtes Handeln scheint derzeit die Devise zu sein. Der Kanzler hat damit, nach einer EmnidUmfrage für den SPIEGEL unter
SPD-Mitgliedern, seine Partei unerwartet geschlossen hinter sich
gebracht. Seine rot-grüne Regierung aber steht nach dem heftigen
Panzerkampf mit Joschka Fischer
so zerrüttet wie noch nie da.
Schlagerstar Gildo (1995)
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Seite 150
Tiefbraune Haut, lakritzschwarze Haare,
tadelloser Anzug – 40 Jahre lang versuchte Rex Gildo, sein Image als schöner
Frauenschwarm zu konservieren. Nach
Gildos tödlichem Fenstersturz kritisieren
nun Kollegen die Gnadenlosigkeit des
Showgeschäfts. Der frühe Erfolg des
Schlagersängers („Fiesta Mexicana“) verblasste, die Plattenverkäufe schrumpften,
Gildo musste bei Betriebsfeiern und
Stadtfesten auftreten. Schlagzeilen machte er zuletzt vor allem mit persönlichen
Krisen und Misserfolgen.
Gesellschaft
Szene: Modemacher setzen auf
wattierte Abendroben / Sachbuch über
die Regeln des guten Gesprächs ..................... 149
Stars: Der Todessturz des Sängers
Rex Gildo und das Schlagergeschäft............... 150
Fortpflanzung: Ein US-Fotograf offeriert
Eizellen von schönen Models ......................... 154
SPL / AGENTUR FOCUS
Die Geheimnisse
der Osterinsel Seite 218
Sport
Fechten: Emil Becks rüde Methoden ............ 204
Staatsanwaltschaft ermittelt in
Tauberbischofsheim wegen Betrugs
und Urkundenfälschung................................. 206
Wissenschaft • Technik
Seiten 204, 206
Prisma: Weltkarte der Artenvielfalt /
Kunstnase riecht Bakterien ............................ 215
Ethnologie: Rätseltexte und Sexrituale –
geheimnisvolle Hochkultur der Osterinsel ..... 218
Medizin: Blutdruckmittel als Pille
für den Mann ................................................. 226
Debatte: Teilchenforscher Hans Graßmann
über den Ausverkauf der modernen Physik .... 232
Umwelt: Großbrände in Chinas
Kohleflözen.................................................... 238
Automobile: Der neue Lamborghini Diablo... 246
Computer: Droht zu Silvester
der Atomkrieg aus Versehen?......................... 248
HORSTMÜLLER (li.); MÜLLER-ELSNER / AG. FOCUS (re.)
Beck, Fechterinnen Fichtel, Funkenhauser, Bau
Panorama: Neue Großmachtpläne
aus Belorussland / Nordkoreas C-Waffen....... 157
Sozialdemokratie: Showdown zwischen
Europas Erneuerern und Traditionalisten....... 160
Frankreichs Europaminister
Pierre Moscovici über den Richtungsstreit ..... 164
SPIEGEL-Gespräch mit Anthony Giddens
über seine Vision einer
modernen Sozialdemokratie .......................... 168
Tschetschenien: Feldzug gegen Zivilisten .... 174
USA: Geisterflug in den Tod ........................... 176
Balkan: Hombachs unmögliche Mission ........ 180
Schweiz: Rechter Volkstribun untergräbt
Parteienkonsens ............................................. 182
Rumänien: Leprakolonie am Donaudelta ...... 183
Kroatien: Tudjmans Stern verblasst ............... 194
Malta: Der zaudernde EU-Kandidat.............. 198
Steinskulpturen auf der Osterinsel
Risse im Fechtimperium
Die Erfolge seines Fechtzentrums in Tauberbischofsheim zogen Politiker an und spülten Fördergelder in die Kasse. Doch jetzt kommen skandalöse Details aus dem Sportimperium des Emil Beck ans Licht:
Über Jahre hat der Trainer seine
Sportler schikaniert und unter
Druck gesetzt. Obendrein wird
wegen Betrugs und Urkundenfälschung ermittelt.
Ausland
Sie errichteten monumentale Steinfiguren, feierten obskure Kultfeste
und entwickelten ein eigenes Schriftsystem – abgeschottet vom Rest der
Welt, schufen die Bewohner der
Osterinsel ein fernes Fantasia. Jetzt
glaubt ein Bremer Sprachforscher,
die Rätselschrift der im letzten Jahrhundert untergegangenen Hochkultur im Südpazifik entziffert zu
haben. Handeln die aus Strichmännchen zusammengesetzten Geheimtexte von rauschenden Sexritualen?
Wurden auf einem ZeremonienFelsen die geschlechtsreifen Mädchen des Inselvolks zwangsweise entjungfert?
Kultur
Irrwege der modernen Physik
Szene: Kuriose Attacke auf Kunstwerk in
London / Johnny Depp spielt Kokain-Dealer .. 253
Autoren: Tagebücher aus der Nazi-Zeit
machen Furore ............................................... 256
Schilderungen einer Freiburger Jüdin ............ 260
Sprache: Interview mit dem
Schimpfwort-Experten Hans-Martin Gauger
über die Kunst des Fluchens in Europa .......... 263
Geschichte: Wie Bayernkönig Ludwig II.
seine Geld- und Liebesnöte beklagte ............. 266
Schriftsteller: Die Exil-Kubanerin Daína
Chaviano und ihr Roman „Havanna Blues“ ... 272
Bestseller ..................................................... 273
Film: Pedro Almodóvars Melodram
„Alles über meine Mutter“ ............................ 274
Kino: Frankreich im Jeanne-d’Arc-Fieber ........ 276
Pop: Interview mit den Rock-Veteranen
Crosby, Stills und Young über
die Wiederkehr ihrer legendären Band .......... 278
Seite 232
Die Chaostheorie verbreitet in vielen bunten Büchern nur Inhaltloses; das Hamburger Großforschungszentrum Desy produziert nur irrelevante und uninteressante
Ergebnisse – mit diesen Thesen provoziert der deutsche Physiker Hans Graßmann,
selbst Mitentdecker des Top-Quarks, in einem Beitrag für den SPIEGEL.
Seite 266
Er schätzte Wagner-Musik, wohlgebaute Männerkörper und
üppig ausstaffierte Schlösser. Bayernkönig Ludwig II. war
ein triebhafter Verehrer des Schönen und deswegen stets
in Geld- und Liebesnöten. Das Ausmaß seiner Pein belegen Briefe, die nun versteigert werden – Skandalstoff für Royalisten.
König Ludwig II.
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AKG
Ludwigs Lust-Postillen
Briefe ................................................................ 8
Impressum............................................... 14, 284
Leserservice ................................................. 284
Chronik.......................................................... 285
Register ........................................................ 286
Personalien................................................... 288
Hohlspiegel/Rückspiegel ............................ 290
7
Briefe
„Wer eine handfeste, www-freie
Bildung in den Kernfächern
genossen hat und nicht allzu
verkrampft auf das Wort
Computer reagiert, kommt auch
spielend im Cyberspace klar
und schafft es, das Übermaß an
Informationen zu filtern.“
Markus Schlobohm aus Kiel zum Titel „Kinder im Netz“
SPIEGEL-Titel 42/1999
Hort der Ausbeutung
Nr. 42/1999, Titel: Kinder im Netz
Man muss kein wertkonservativer Fortschrittsfeind sein, um die Vereinnahmung
von Teilen insbesondere der heutigen Jugend und die Art und Weise, wie sie mit
oder ohne Begeisterung „auf Linie“ („online“), auf den Kurs des technisch-ökonomisch dominierten Zeitgeistes konditioniert wird, zu den größten Gefahren für
unsere westliche Kultur und Zivilisation
und für ein gesundes zwischenmenschliches Miteinander in unserer Gesellschaft
zu rechnen.
Dr. Ronald Kroczek
Viele Pädagogen gehören in Deutschland
mit zum Konservativsten, was dieses Land
zu bieten hat. Im Bereich Medienpädagogik wird auch von professionellen
Pädagogen immer wieder mit dem gesunden Menschenverstand argumentiert. So
werden Süchte, die Ursachen von Gewalt,
Unruhe, motorische Störungen pauschal
den Medien zugeschrieben. Die audiovisuellen und interaktiven Medien sind
der potenzielle mächtige Gegner vieler
Pädagogen. Bei näherer Betrachtung der
Ausbildung von Pädagogen fällt auf, dass
der Anteil von Medienpädagogik in der
Ausbildung verschwindend gering ausgefallen ist, falls es überhaupt einen Anteil
gab. Dies grundlegend zu ändern dürfte
eine der Bildungsaufgaben des nächsten
Jahrhunderts ein.
Melzingen (Nieders.)
Pädagogen und Psychologen sollten nicht
unschuldigen Kindern ihre Naivität und
damit auch ihre Kreativität und ihre Kindheit entreißen, sondern vielmehr in einer
Selbststudie die verhaltensverändernden
Wirkungen der audiovisuellen Medien am
eigenen Leibe beobachten.
Herdecke (Nrdrh.-Westf.) Benjamin Schubert
Der tiefere Sinn des Internet ist die totale
Kommerzialisierung. Selbst das Letzte, das
man bisher noch ziemlich kostenlos und
ohne zeitliches Limit haben konnte wie:
Das Cyber-Team
Wollte Karl Marx die heutige
gesellschaftliche Realität beschreiben, er müsste das Internet als einen Hort der Ausbeutung wenig wissender Menschen durch wenige wissende Schulkinder am Computer
Menschen entlarven. Allerdings Unerwünschte Personen einfach wegbeamen
wird dabei nicht etwa die Arbeitskraft der Mitbürger rücksichtslos als Leute sehen, mit ihnen sprechen und
Ware vereinnahmt, sondern deren Seele. mehr … das alles wird jetzt in kleinlichen
Clifford Stoll sei Dank, dass er uns die- Zeiteinheiten abgerechnet. Der eigentliche
sen faustischen Zusammenhang deutlich Knackpunkt, warum der Umgang mit dem
macht.
Computer so bestechend ist: Auf jeden einHann. Münden
Helmut Strunz
zelnen Schritt folgt sofort das Feedback.
Und das kann der User umgehend beeinIch habe mich über Mediennutzung und flussen. Man kann unerwünschte Perso-wirkung in meinen Veröffentlichungen nen und Infos einfach wegbeamen – wie in
keinesfalls in der Diktion von Propheten den Science-Fiction-Movies oder früher
geäußert, sondern Fakten aus empirischen in den Märchen. Das Argument, das DenForschungen dargestellt beziehungsweise ken in größeren Zusammenhängen ginge
mich mit diesen kritisch auseinander verloren, zieht auch nicht: Wem hatte
gesetzt. Dass es schon längst größere Grup- das bis zum Erscheinen des Internet ge-
Vor 50 Jahren der spiegel vom 3. November 1949
Bonn und Frankfurt buhlen um den Regierungssitz Heikles Thema.
12 Todeskandidaten hoffen in der Festung Landsberg noch auf Gnade
Hat es Misshandlungen während des Verfahrens gegeben? Amerikas
Marinechef ging in der „Schlacht um das Pentagon“ über Bord
Die Luftwaffe siegte beim Kompetenzgerangel. „Bund der Steuerzahler“ gegründet Streng föderalistisch und Finger weg von der Politik.
Der norwegische Nobelpreisträger Knut Hamsun schildert
die Jahre 1945 bis 1948: „Auf überwucherten Pfaden“.
Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de
Michael Kobbeloer
Das „Cyberland“ ist eine von Jugendlichen
für Jugendliche gemachte virtuelle Welt im
8
Prof. Dr. Werner Glogauer
Universität Augsburg
Werner Mainz
Die Thesen von Clifford Stoll treffen genau
den Punkt. Computer und Fernsehen als
vorherrschender Lebensinhalt stehlen Lebenszeit. Ein spielerischer Lerneffekt ist
zwar zu erwarten, aber nur in Bezug auf
den noch perfekteren Umgang mit der
Technik, die längst zum Selbstzweck verkommen ist. Ein Leben oder Lernen findet
vor den Screens nicht statt.
Witten
Berlin
Augsburg
Titel: Der britische Film-Aristokrat Alexander Korda
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GAMMA / STUDIO X
Merzenich (Nrdrh.-Westf.)
Internet. Die Aufgabe unseres Seminars ist
es, das Cyberland aktiv und passiv zu nutzen und auszubauen beziehungsweise
Räume zu gestalten. Wir denken nicht, dass
von uns erstellte und genutzte Räume wie
die Kuschelhöhle, der Hexenraum oder die
Gruft unsere Internet-User, in diesem Fall
die Jugendlichen, psychisch gefährden. Die beste Seite an dem
Projekt ist, dass wir, die Jugendlichen, selbst bestimmen
können, wie das Cyberland aussieht und dass es auch in Zukunft von Jugendlichen organisiert und verwaltet wird.
pen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen gibt, die durch entsprechende
Medieneinflüsse „hörgeschädigt, sehbehindert, gewalttätig, psychomotorisch unterentwickelt“ und anderweitig geschädigt
sind, darüber kann sich jeder, der nur will,
in entsprechenden Veröffentlichungen informieren.
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Briefe
nutzt? Trotz Erkennens der tollsten Zusammenhänge ist in den letzten Jahrtausenden alles Unheil dieser Welt geschehen.
Aber nicht nur das Unheil.
Isernhagen (Nieders.)
Hervorragende Ergebnisse
Nr. 42/1999, Medizin:
Kassen sollen für umstrittene Krebstherapie zahlen
Regin Reuschel
Das Lamentieren der Krankenkassen über
die Kosten der Tumorvakzine ist höchst
unverständlich, da beim Nierenkrebs erweislich unwirksame Strahlen- und Chemotherapien bezahlt werden, obwohl diese Methoden weitaus kostspieliger sind, da
Es wurden keine Alternativen zum üblichen Umherklicken aufgezeigt. Es gibt
nämlich sehr wohl Projekte, die einen Gegenpol zu Ballerspielen und Klickibunti
schaffen können.
Frank Rosengart
Wenn Internet als Lernobjekt und Lernsubjekt breit an Schulen eingeführt wird,
bekommen wir nicht nur Computerfreaks,
die sich als megalomane Nichtskönner profilieren, sondern wir bekommen auch achtelgebildete Klickfreaks, die die Maus für
ein Lebewesen und den Bildschirm für
ihren Lebens-Interaktionspartner halten.
Lernen heißt sich verändern und nicht ein
von einem viertelgebildeten Programmierer vorgedachtes Programm abnudeln können. Im Internet kann man nichts lernen!
Denken und Intelligenz ist gefragt, nicht
dumpfes Tastaturbedienen, Bildschirmglotzen und affenartiges Nachvollziehen
sinnloser Operationen. Computer schaffen
eine Kunstwelt, die genauso rudimentär
ist wie künstliche Intelligenz gegenüber
menschlicher Intelligenz.
Kelkheim (Hessen)
Henning Pawlik
Mit Clifford Stoll endlich auch eine kritische Stimme gegen die Bertelsman(n)ie!
Nur: Die Interaktivität der Programme als
Lüge zu entlarven und die Okkupation der
Phantasie als Gleichschaltung zu erkennen
trifft nicht den Kern. Weit wichtiger ist die
Erziehung zur Folgenlosigkeit des eigenen
Handelns am Schirm – Klick: Löschen,
Klick: Neues Spiel – das permanente NichtVerantwortlichsein.
Bielefeld
Heinrich Bauersfeld
Das Denken in Zusammenhängen nach einem Ursache-Wirkung-Prinzip wird immer
mehr in den Hintergrund gedrängt. Ein
möglicher Ansatz, dem entgegenzuwirken,
wäre eine Neuausrichtung der Medienerziehung in der Schule. Schwerpunkt dabei
sollte nicht die Anwendung der Neuen Medien sein, sondern die historische Entstehung der Medien, ihr Einfluss auf die Meinungsbildung und Auswirkungen auf die
Gesellschaft. Mit einer solchen Grundlage
würde ein ganz neuer Bezug im Internet
hergestellt.
Thornbury (England)
12
Laboruntersuchung in der Urologie
Lamentierende Krankenkassen
sie in der Regel das Zehnfache einer
ASI-Therapie kosten. Es konnte zu den in
die Rechtsstreitigkeiten mündenden Leistungsablehnungen durch die Krankenkassen nur kommen, weil die Krankenkassen
die Versicherten im Unklaren darüber gelassen haben, dass autologe Tumorvakzine
als verordnungs- und verkehrsfähige Arzneimittel auf Kassenrezept verschrieben
werden können.
Bad Schwartau (Schl.-Holst.) Joachim Ludewig
Boris Ludewig
Rechtsanwälte
Die Befürchtung „renommierter deutscher
Krebsärzte“ und Krankenkassen, das berichtete Urteil des LSG Celle könnte zweifelhaften Therapiemethoden Tür und Tor
öffnen, ist unbegründet. In einer Studie an
Brustkrebspatientinnen waren über fünf
Jahre nach Operation und ASI-Nachbehandlung nur 5 von 32 Patientinnen verstorben, während in einer Kontrollgruppe
mit ähnlichem Risiko 16 von 31 Patientinnen verstarben. Basierend auf den hervorragenden Ergebnissen der ersten klinischen
Studie wird nun eine größere Studie europaweit an 600 Patientinnen durchgeführt.
Heidelberg
Marcus Rheker
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Dr. Thorsten Ahlert
Rot und rüstig
Jesko Horaczek
Internet-User werden von Mr. Stoll in das
Licht kontaktgestörter Techno-Zombies
gerückt, die den PC dazu missbrauchen,
das eigene Gehirn abzuschalten. Wie
schnell Lerneffekte via Net und moderner
Technik entstehen können, beobachten wir
täglich.
Frankfurt am Main
N. MICHALKE
Berlin
Nr. 42/1999, PDS:
Der unaufhaltsame Aufstieg der SED-Nachfolger
Nur keine Angst: Die Prozentrechnungen
täuschen, weil sie die zweitstärkste Partei,
die Nichtwähler, einfach fortlassen. In absoluten Zahlen und im Vergleich mit der
letzten Wahl, nämlich zum Bundestag vor
einem Jahr, sieht alles anders aus. In den
drei neuen Ländern hat die PDS ein Fünf-
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tel ihrer Wähler verloren, in Berlin gerade
mal 13 000 Stimmen dazugewonnen – die
CDU mit 175000 fast 14-mal mehr! Die SPD
hat sich in Berlin dramatisch halbiert, von
ihrem Verlust gingen aber maximal nur 3
Prozent zur PDS, die gerade mal 11,5 Prozent aller Wahlberechtigten für sich gewinnen konnte. Im Funktionärsghetto des Bezirks Marzahn und einem der beiden Mitte-Wahlkreise, dem Regierungswohnviertel
der SED, erlebte die PDS ihren Rekord: Sie
gewann dort freilich nicht einmal die Hälfte der Wahlberechtigten. Für Jungwähler
war die PDS, die sich als ,,rot, radikal, rüstig“ vorgestellt hatte, nun wirklich nicht attraktiv, weshalb sie beim nächsten Mal laut
einem Bundesvize für die Legalisierung von
Hasch werben will.
Berlin-Charlottenburg
Jürgen Rüdiger
Defekt an der Ölpumpe
Nr. 43/1999, Zeitungen:
Der neue Berlin-Teil der „FAZ“
DPA
Es freut mich, dass Andreas Lebert die neuen Berliner Seiten der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ gefallen. Jedoch erfindet
er in seinem Artikel ein paar Dinge, die
der Richtigstellung bedürfen. Die Behauptung, ich hätte für die Berliner Seiten das
„FAZ“-Magazin sterben lassen, ist unwahr.
Die Schließung des „FAZ“-Magazins hat
mit der Gründung der Berliner Seiten
nichts zu tun. Vielleicht können ja in der
Wochenzeitung „Die Zeit“, deren Redaktion „Leben“ Andreas Lebert betreut, einzelne Herausgeber Zeitungsteile nach Belieben öffnen oder schließen. In der
„Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ geht
das nicht. Lebert schreibt, er habe irgendwo zwischen Restaurant Borchardt und dem
S-Bahnhof Friedrichstraße
gehört, es sei wegen einer
Glosse von mir über den
Feuilletonchef der „Berliner Zeitung“ mit der
Redaktion der Berliner
Seiten zu einem Streit gekommen und der Drucktermin verpasst worden,
so dass die Ausgabe vom
Schirrmacher
30. September nicht erscheinen konnte. Kein Wort ist wahr. Weder habe ich je eine solche Glosse geschrieben noch angeboten. Noch gab es
Streit, noch ist der Andrucktermin verpasst
worden. Der liegt für die Berliner Seiten
bei Mitternacht. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die Redakteure der Berliner
Seiten schon auf dem großen Fest von Andreas Lebert und der „Zeit“. Die Berliner
Seiten vom 30. September konnten, wie
den Berliner Lesern mitgeteilt, wegen eines
Defekts an der Ölpumpe in der Druckerei
in Potsdam nicht erscheinen.
Frankfurt am Main
Dr. Frank Schirrmacher
Herausgeber der „FAZ“
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Briefe
heit, RAF, USA: Clemens Höges; für 100 Tage im Herbst:
Jochen Bölsche; für Fernsehen, Szene, Stars, Fortpflanzung,
Autoren, Sprache, Geschichte, Bestseller, Kino, Pop: Wolfgang
Höbel; für Niederlande, Panorama Ausland, Sozialdemokratie,
Tschetschenien, Schweiz, Rumänien, Kroatien, Europa: Dr. Olaf
Ihlau; für Fechten: Alfred Weinzierl; für Prisma, Ethnologie,
Medizin, Debatte, Umwelt, Automobile, Computer: Olaf Stampf;
für die übrigen Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Register,
Hohlspiegel: Petra Kleinau; für Personalien, Rückspiegel: Gudrun
Patricia Pott; für Titelbild: Thomas Bonnie; für Layout: Rainer Sennewald; für Hausmitteilung: Hans-Ulrich Stoldt; Chef vom Dienst:
Thomas Schäfer (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg)
TITELFOTO: Monika Zucht
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Münster
Prof. Dr. Hanko Bommert
Fachbereich Psychologie Uni Münster
Matthias Matussek mag Frauen nicht. Ganz
besonders aber gehen ihm die Erfolgreichen auf die Nerven. Jedoch, die Demontage von Sabine Christiansen ging daneben. Eigentor! Zu viel gequältes Aufjaulen
eines Missgünstigen, der den Erfolg einer
Kollegin kaum verkraftet. Matussek kann
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Pforzheim
Heide Bentner
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen.
Einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe ist eine Postkarte der Firma Deutsche Telekom, Bonn, beigeklebt. In
einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe liegen Beilagen der Firmen Akademische Arbeitsgemeinschaft,
Mannheim, Handelsblatt/WiWo, Düsseldorf, FED EX,
Kelsterbach, und Hewlett Packard, Böblingen, bei.
ACTION PRESS
J. MODROW
und Überwälzung es drehen und wenden, wie er will: Sabine
von sechs Milliarden Christiansen macht ihre Sache gut. Sehr
Mark zusätzlicher gut sogar.
Pensionslasten auf Amriswil (Schweiz)
Julia Onken
den Bund. Ab 2000
übernimmt der Bund Ich hätte mich an dem Gespräch nicht beaußerdem weitere teiligt, wenn ich gewusst hätte, dass es nur
2,5 Milliarden Mark das Feigenblatt für eine Anti-Christiansenpro Jahr. H. G. Bern- Aktion ist. So weit, so schlecht: Häme als
rath ist jetzt als Ge- Gesellschaftsspiel, man lernt dazu und ist
neralbevollmächtig- gewarnt.
ter der Deutschen Mainz
Ruprecht Eser
Post AG eingekauft.
„Halb 12“-Moderator
Wenn er nun dank
politischer Kontakte Um in der ihr vertrauten Fliegersprache
sicherstellt, dass der zu bleiben: Frau Christiansen fühlt sich in
Post-Vorstand so wei- ihrer Sendung jeden Sonntagabend wie
termachen darf wie eine Chefpilotin im Cockpit, entpuppt sich
Briefzentrum (in Hamburg): Aktienoptionen für den Vorstand?
bisher – und Hans aber leider für die hoch überlegenen Gäste
Eichel fleißig wegschaut – und sogar noch rasch als überfordertes Bodenpersonal.
eine Verlängerung des Briefmonopols er- Neuss
Frank-Michael Rall
Rote Zahlen
reicht, ist der Senior sicher sein Geld wert.
Nr. 42/1999, Post: Gefahr für den Börsengang
Mögliche Aktienoptionen winken für den Die einzige in Deutschland vorzeigbare
Vergleicht man die Zahlen von 1995 mit Vorstand, aber für künftige Aktionäre und Talkshow ist die von Sabine Christiansen.
den Zahlen von 1998 und berücksichtigt die Beschäftigten sieht die Welt leider nicht Ihr breit gestreuter Erfolg wird durch
Millionen von Zuschauern jeden Sonntagdabei die Steuerersparnis von mindestens so rosig aus.
abend bestätigt. Diese widerliche Neidmas1,5 Milliarden Mark, dann zeigt sich, dass Stuttgart
Monika Schäfer
turbation ist zum Kotzen. Von so viel Breidie Deutsche Post AG ihr Ergebnis nicht
tenwirkung, wie sie Sabine Christiansen
um 1,1 Milliarden Mark verbessert, sonerzielt, kann ein Printjournalist eben nur
dern um 315 Millionen Mark verschlechtert
Gequältes
Aufjaulen
träumen.
hat. Bisher hat es die Deutsche Post AG
Nr. 42/1999, Talkshows: Wie Oskar Lafontaine die
nicht geschafft, den Paketdienst aus den Christiansen-Runde beherrschte; SPIEGEL-Gespräch Berlin
Dr. Detlef R. Peters
mit Sabine Christiansen und Ruprecht Eser
roten Zahlen herauszubringen. Weitere
rote Zahlen sind durch die vielen ZukäuSelten habe ich einen so treffenden Artikel
fe von Unternehmen und den Erwerb von Die Plaudertasche Sabine Christiansen im SPIEGEL gelesen wie die Beschreibung
Beteiligungen an Unternehmen im Aus- sollte ihre Ansprüche herunterschrauben: der Christiansen-Talkshow mit dem Erzland zu befürchten. Von einem Börsengang Ihre Polit-Talker gehen eben nicht über die Egomanen Lafontaine. Solchen Personen
der Deutschen Post AG im nächsten Jahr gestanzten Antworten hinaus, die man in- sollte die Möglichkeit, sich immer wieder
kann wohl nicht die Rede sein.
und auswendig kennt. Vielleicht wär’s ja in Szene zu setzen, verwehrt werden. Zuanders, wenn die Frau ihre Sendung
Offenbach
Wilhelm Hübner
nicht nur zur Selbstdarstellung nutDVPT – Deutscher Verband für Post
zen, sondern ihre Gäste schlicht und
und Telekommunikation e. V.
einfach ausreden lassen würde.
Wieso ist der Börsengang der Post extrem Kirchdorf (Bayern)
Heinz Mettig
gefährdet? Der Vorstandsvorsitzende hat
doch alles getan, um aus einem „staubigen Gute Interviews oder Moderationen
Beamtenapparat“ ein dynamisches Unter- setzen ausreichende handwerkliche
nehmen zu machen: Verkauf des milliar- Kompetenzen voraus. Bevor Moderadenschweren Familiensilbers, Reduzierung toren aber Kurse in Vulgärpsycholoder Mitarbeiter von 308 500 (1995) auf gie besuchen, sollten sie es zunächst
243 000 (1999), Schließung von Filialen, einmal mit zwei Grundregeln versuPreiserhöhung im Monopolbereich Brief, chen: Fragen mit dem Ziel des Informationsgewinns und nicht zur Eigen- Moderatorin Christiansen, Buchautor Lafontaine
profilierung zu stellen, ferner sich auf Nichts als gestanzte Antworten
die Antworten der Gesprächspartner
VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama,
zu konzentrieren anstatt schon gedank- mal noch in einer Sendung, die oft genug
Regierung, Umfrage, Zwangsarbeiter, Urteile: Michael Schmidtlich die nächste Frage vorzubereiten und von der an sich sympathischen Sabine
Klingenberg; für Titelgeschichte, Trends, Geld, Wirtschaftspolitik,
Autoindustrie, Asien, HypoVereinsbank, Biotechnik, Risikodamit Ansatzpunkte zum Nachhaken zu Christiansen peinlich unjournalistisch nur
kapital, Journalisten, Zeitschriften, Chronik: Gabor Steingart; für
verpassen.
moderiert statt geleitet wird.
CSU, Naturschutz, Gewalttäter, Schmiergelder, Tiere, Gesund-
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Deutschland
M. DARCHINGER
Panorama
Großkundgebung des Öffentlichen Dienstes in Berlin
BEAMTE
Protest auf Spesen
D
emonstrieren lohnt sich: Für den Beamtenprotest gegen die
Sparpolitik der Bundesregierung am 19. Oktober in Berlin
hat der Deutsche Beamtenbund (DBB) seinen Mitgliedern nicht
nur eine kostenlose Anreise geboten, demonstrationswillige
Beamte wurden auch mit einem „Tagegeld“ von 50 Mark geködert. Geboten wurden die Spesen nicht nur DBB-Mitgliedern,
sondern auch deren mitreisenden Angehörigen. Damit gebe
der Beamtenbund lediglich Beitragsgelder an seine Mitglieder
zurück, rechtfertigt Beamtenbund-Sprecher Rüdiger von Woikowsky die Prämie. An der Protestaktion in Berlin, zu der
außer dem DBB auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB)
gen, mit dem das Ziel, den CO2-Ausstoß
bis 2005 um ein Viertel zu senken, doch
noch erreicht werden kann. Dazu fordern
beide Fraktionen den „Abbau ökologisch
kontraproduktiver Subventionen“. Der
Anteil der Klima schonenden Kraft-Wärme-Kopplung soll deutlich erhöht, der
Anteil erneuerbarer Energien bis 2010
verdoppelt werden. Außerdem müsse die
Bundesregierung eine „klimafreundli-
KLIMAPOLITIK
Goldene Worte
M. SCHARNBERG / VISUM
N
ach Gerhard Schröders überraschender Ankündigung auf der Klimakonferenz in Bonn, schon bis Mitte nächsten
Jahres eine „umfassende nationale Minderungsstrategie für die Treibhausgase“
vorzulegen, wollen SPD und Grüne am
kommenden Freitag im Bundestag wesentliche Eckpunkte fixieren. In einem
gemeinsamen Antragsentwurf fordern
die Regierungsfraktionen die „zügige Ratifizierung“ des Kyoto-Protokolls, damit
die darin enthaltenen Pflichten zur Reduzierung der Klimagase bald wirksam
werden.
Spätestens im Mai müsse die Bundesregierung ein Klimaschutzprogramm vorle-
aufgerufen hatte, nahmen am 19. Oktober mehr als 50 000 Mitarbeiter des Öffentlichen Dienstes teil. Der DGB hat nach eigenen Angaben keinen Protestlohn gezahlt.
Geradezu luxuriöse Bedingungen bot hingegen der Landesbund Bremen des DBB: Er charterte einen Airbus A 320. Eine
Anfahrt per Bus, schrieb der Landesvorsitzende Thomas Stitz
vor der Demonstration an seinen Vorstand, sei „einfach zu zeitaufwendig“. Der Rückflug solle erst gegen 20 Uhr erfolgen:
„Somit wäre noch ein kurzes Shopping in Berlin möglich.“
Nach „Rücksprache mit der Bundesgeschäftsstelle“, versprach
Stitz, gebe es sogar höhere Tagegelder, die von den Teilnehmern
aber gegen die Flugkosten aufgerechnet werden müssten.
Wie viel Geld der DBB insgesamt ausgezahlt hat, konnte Beamtenbund-Sprecher Woikowsky nicht sagen. Von den Demonstranten hätten aber „viele“ kein Geld haben wollen: Die
seien „aus Idealismus gekommen“.
che“ Verkehrspolitik entwerfen, mit
„Verkehrsvermeidung“ als oberstem
Ziel. Nach einer auf der Konferenz vorgestellten britischen Studie stoßen Pkw,
Lkw und Flugzeuge durch Zunahme des
Verkehrs im Jahr 2010 fast 40 Prozent
mehr Treibhausgase aus als 1990.
Schröders Rede wird besonders im Umweltministerium hoch erfreut zur Kenntnis genommen („Der will jetzt Action sehen“). Trittins Fachbeamte
waren bislang regelmäßig
vom Wirtschafts- und dem
Verkehrs- und Bauministerium hingehalten worden.
„Die Rede“, freut sich ein
Ministerialrat, „ist für uns
Gold wert.“
Autoverkehr (in Hamburg)
17
Panorama
KIRCHE
Machtkämpfe
im Vatikan
Ü
REUTERS
ber dunkle Machenschaften im Vatikan berichtet ein Enthüllungsbuch,
das in dieser Woche auf Deutsch erscheint. Um die italienische Originalausgabe hatte es bereits so viel Wirbel gegeben, dass der Berliner Aufbau-Verlag
sich schon auf rechtliche Schritte des
Vatikans einstellt. Verfasst hat das Werk
eine anonyme Gruppe von Vatikan-Insidern. Einzig bekannt gewordener Autor
der Textsammlung mit dem Titel „Wir klagen an. Zwanzig römische Prälaten über
die dunklen Seiten des Vatikan“ ist der
Ex-Abteilungsleiter der Ostkirchen-Kongregation, Monsignore Luigi Marinelli, der
mehr als 35 Jahre im Vatikan tätig war. Die
Autoren berichten von Erpressung und
Vetternwirtschaft im Umfeld des Papstes,
von Machtdenken und Seilschaften unter
Kardinälen und Bischöfen. Marinelli plä- Ernennungszeremonie für Kardinäle auf dem Petersplatz (1998).
diert deswegen für eine Reform der Kurie.
Das oberste römische Kirchengericht „Sacra Rota“ hat ihn mitt- halb eine zivile Verleumdungsklage des Vatikans. Auf der Buchlerweile vorgeladen und ihm untersagt, das Buch weiterzuver- messe in Frankfurt fanden die ersten Vorabexemplare bereits
breiten und in andere Sprachen zu übersetzen. In der Regel wird reißenden Absatz: Sie wurden fast alle geklaut. Auch „eine
die Rota nur auf Anordnung des Papstes tätig. Zivilrechtlich hat Nonne“, so ein Verlagsangestellter, ließ das Buch verschämt
sie keine Autorität. Betroffene Klerusangehörige verlangen des- unter ihrem Obergewand mitgehen.
Vom Sparen verschont
D
er rot-grünen Koalition droht ein
weiterer Konflikt: Teile der Grünen-Fraktion wollen Kürzungen bei der
Inneren Sicherheit und bei den Geheimdiensten durchsetzen. Trotz des
Spargebots will Finanzminister Hans
Eichel die Etats von Bundesgrenzschutz
und Bundeskriminalamt im Jahr 2000
um 2,5 bis 3,5 Prozent ansteigen lassen.
Die Grünen erbost besonders, dass
auch für das Bundesamt für Verfassungsschutz ein Zuwachs von 3,57 Prozent vorgesehen ist. Das hatte es nicht
einmal in der Kohl-Ära gegeben. Innenminister Otto Schily (SPD) nennt die
Zuwächse in diesen Bereichen den
„wichtigsten Punkt“ seines Haushaltsplans.
Auch der Bundesnachrichtendienst soll
finanziell profitieren: Den rund 1000
Mitarbeitern, die in den kommenden
Jahren aus München in die Hauptstadt umziehen, sind die besonders üppigen finanziellen Leistungen entsprechend den Gesetzen zum Bonn-BerlinUmzug zugesagt worden. In einem An18
trag an seinen Grünen-Fraktionsvorstand hat der Bundestagsabgeordnete
Christian Ströbele gefordert, die Etats
der Sicherheitsbehörden deutlich zu reduzieren. Der Fraktionsarbeitskreis
Recht und Innen hat dem bereits zugestimmt.
ASYLBEWERBER
Kurz halten
M
M. DARCHINGER
INNERE SICHERHEIT
Schily
d e r
s p i e g e l
4 4 / 1 9 9 9
it drastischen Worten kritisiert der
baden-württembergische Städtetag, dass Asylbewerber, die länger als
drei Jahre in Deutschland leben, vom 1.
Juni 2000 an rund 20 Prozent mehr
Geld bekommen. Dies sei eine „Subvention des organisierten Menschenhandels aus Steuertöpfen“ und
bringe nur mehr Kapital in das illegale
Schleusergeschäft. Gleichzeitig werde
es lukrativer, eine Ausreise hinauszuschieben, fürchtet Städtetagssprecher
Manfred Stehle. Landesinnenminister
Thomas Schäuble (CDU) will auf der
Innenministerkonferenz Mitte November die Erhöhung stoppen. Dabei hatte
der Bundestag genau diese Regelung
1997 mit den Stimmen der CDU beschlossen: Damals wurden die Leistungen für Asylbewerber in den ersten drei
Jahren ihres Aufenthaltes unter den Sozialhilfesatz gesenkt – mit dem Argument, in dieser Zeit bestehe ein „geringer Bedarf“. Nach 36 Monaten sollte
wieder der höhere Satz gelten, um eine
bessere Integration zu ermöglichen.
Deutschland
BUNDESWEHR
Frauen an die Waffen
Professorin Juliane
Kokott, 42, Expertin für
Europarecht und
deutsches Verfassungsrecht, über die
Gleichberechtigung in
den Streitkräften
SPIEGEL: Der Europäische Gerichtshof
A. GRIESCH / AG. ANNE HAMANN
(EuGH) hat im Fall einer britischen Klägerin entschieden, dass Frauen auch in
den Streitkräften prinzipiell mit den
Männern gleich zu behandeln sind. Betrifft das auch die Bundeswehr?
Kokott: Ja. Die zentralen Aussagen dieses Urteils gelten auch für die deutschen Streitkräfte. Ausnahmen von der
Gleichbehandlung sind nur möglich,
wenn das Geschlecht „unabdingbare
Voraussetzung“ für eine Tätigkeit ist.
Dies ist nach dem Urteil aber ganz eng
auszulegen.
SPIEGEL: Noch steht der Fall der deutschen Bundeswehr-Bewerberin Tanja
Kreil beim EuGH zur Entscheidung an.
Was gilt bis dahin?
Kokott: Die deutsche Regelung, die
Frauen generell vom „Dienst mit der
Waffe“ ausschließt, ist kaum zu halten.
Der Gesetzgeber tut gut daran, sich
jetzt schon darauf vorzubereiten.
SPIEGEL: Im Grundgesetz steht aber,
Frauen dürfen „auf keinen Fall“ Dienst
mit der Waffe leisten.
Kokott: Es war schon immer fraglich, ob
das auch für Frauen gilt, die sich freiwillig melden, wenn auch die deutschen
Gerichte das bisher so gesehen haben.
Europäisches Recht hat hier aber jedenfalls Vorrang vor innerstaatlichem
Recht, auch vor der Verfassung.
SPIEGEL: Muss also nicht einmal das
Grundgesetz geändert werden?
Kokott: Eigentlich nicht. Natürlich werden es Frauen schwer haben, sich schon
jetzt, ohne Änderung der Gesetze, für
kämpfende Truppen zu bewerben –
aber sie haben das Recht auf ihrer Seite.
SPIEGEL: Die Wehrpflicht gilt nur für
Männer – müsste sie zur Gleichbehandlung nun auch für Frauen gelten?
Kokott: Nach europäischem Recht ist es
durchaus problematisch, dass nur Männer zum Wehrdienst gezwungen werden. Allerdings hat die europäische
Gleichbehandlungsrichtlinie eher frauenfördernde Ziele. Der Vorteil,
dass Frauen nicht zum Bund
müssen, wird ja in der Regel
immer noch dadurch ausgeglichen, dass sie es bei der Karriere schwerer haben.
SPIEGEL: Könnte die Wehrpflicht
ganz abgeschafft werden?
Kokott: Natürlich, verfassungsrechtlich spricht da einiges
dafür: Denn die Gewissensprüfung für Verweigerer ist ebenso
heikel wie die Tatsache, dass ja
gar nicht alle Männer zum
Wehrdienst herangezogen werden. Bei einer Berufsarmee
hätte man diese Probleme
nicht.
Bundeswehr-Sanitäterinnen bei einer Übung
D I ÄT E N
Pranger für Grüne
D
ie grünen Kandidaten für die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen
im Mai kommenden Jahres müssen sich
einer peinlichen Prozedur unterziehen.
Jeder der 77 Bewerber musste vor der
Kandidatenvorstellung schriftlich erklären, ob er im Fall einer Wahl bis zu
2100 Mark im Monat aus seinen Diäten
an die Partei abführen werde. Für die 24
Politiker, die bisher schon im Landtag
sitzen, wurde zusätzlich eine Liste erstellt, die über den bisherigen „Stand
d e r
der Sonderbeitragszahlungen“ Auskunft
gibt. Die Listen wurden bei den Kandidatenanhörungen in Essen und Düsseldorf öffentlich ausgehängt. Besonders
schlecht schnitt dabei der Fraktionssprecher Roland Appel ab – sein Erfüllungsgrad liegt bei null Prozent. Er gibt
an, für fünf Personen sorgen zu müssen
und sich auch einen auf 1500 Mark reduzierten Spendenbetrag nicht leisten
zu können. Seit Monaten versuche er
mit der Diätenkommission seiner Partei, eine gerechte Lösung zu finden. Als
Salär erhält ein Abgeordneter 8875
Mark plus steuerfreie 2306 Mark allgemeine Kostenpauschale.
s p i e g e l
4 4 / 1 9 9 9
19
Panorama
Deutschland
20
mmer mehr deutet darauf hin, dass
Oskar Schindlers berühmte Liste mit
den Namen von Juden, die er vor dem
Holocaust rettete, seiner Witwe Emilie,
92, zusteht. Neue Indizien dafür liefert
ausgerechnet Annemarie Staehr,
Schindlers letzte Gefährtin. Sie
hatte einen Koffer Schindlers mit
den Listen nach seinem Tod im
Oktober 1974 an sich genommen,
ihr Sohn hat das Material jetzt der
„Stuttgarter Zeitung“ übergeben.
Derzeit werden die Dokumente
im Koblenzer Bundesarchiv auf
Mikrofilm kopiert.
Die 1988 verstorbene Staehr
schrieb im Dezember 1974 an eine
Schindler-Nichte, der „liebe
Oskar“ habe zwar nach einer
Operation noch 16 Tage gelebt,
sei aber nach der Narkose nicht
Schindler-Foto, Namenslisten
mehr „richtig zum Bewusstsein“
Nachlass – und damit den Erben. Untergekommen. Damit scheint ausgeschloslagen über den tatsächlichen Willen
sen, dass Schindler den Koffer nach
Schindlers sind offenbar schwer beizudem Eingriff an Staehr verschenkt hat.
bringen. In Staehrs Brief heißt es: „In
Schindler, so die Freundin, habe daran
seiner Wohnung, an einem genau begeglaubt, dass ihm die „an sich harmloschriebenen Platz, sollte ich nach allen
se Operation“ Besserung bringen werVerfügungen suchen und ausführen –
de; sogar „Pläne für danach“ habe er
aber dieser Platz war leer.“
geschmiedet. Solange die „Stuttgarter
gericht keinen Bestand hätte. Thierses
Verwaltung erwägt nun, das Hausverbot
gegen die beiden Ex-Spitzel auszudehnen und ihnen damit den Zugang zu
ihrem Arbeitsplatz zu untersagen.
Gysi
V E R FA S S U N G S S C H U T Z
Thierse
SPITZEL
Gysi kontra Thierse
D
er PDS-Fraktionschef legt sich mit
Parlamentspräsident Wolfgang
Thierse (SPD) an. In einem Brief an
Thierse lehnt es Gregor Gysi ab, zwei
umstrittene Fraktionsmitarbeiter zu entlassen. Die beiden waren 1998 wegen
„geheimdienstlicher Agententätigkeit für
eine fremde Macht“ auf Bewährung verurteilt worden. Deswegen hatte Thierse
im Oktober deren Entlassung verlangt
und verfügt, dass die beiden nicht mehr
den Bundestag, sondern nur noch PDSFraktionsräume in einer Außenstelle betreten dürfen. Die PDS argumentiert,
dass eine Kündigung vor einem Arbeitsd e r
s p i e g e l
4 4 / 1 9 9 9
Anonyme Faxe
E
in hochrangiger Beamter des Bundesamtes für Verfassungsschutz
(BfV) hat Klage gegen die Bundesregierung eingereicht. Der Leitende Regierungsdirektor war von BfV-Präsident
Peter Frisch im Januar 1999 zum Bundesverwaltungsamt abgeschoben worden. Der langjährige Leiter des Sicherheitsreferats wird von Frisch bezichtigt,
anonyme Telefaxe an Spitzenpolitiker
geschickt zu haben, in denen ihm vorgeworfen wird, private Feiern und den
Umbau seines Hauses aus Amtsmitteln
bezahlt zu haben. Frisch bestreitet solche Vorwürfe, sein Ex-Untergebener dementiert, Verfasser der Faxe zu sein.
Der will mit der Klage erreichen, dass
er ins Bundesamt zurückkehren darf.
DPA
uf die Frage, was ein nackter
Mann, ein Kleiderschrank,
ein paar Pinguine und die evangelische Kirche gemeinsam
haben, fällt wahrscheinlich niemandem etwas halbwegs Sinnvolles ein – außer Pfarrer Werner
Rohrer von der Evangeliumskirchengemeinde in Berlin-Reinickendorf.
Der startet nämlich am Reformationstag eine Plakatkampagne, und in der steht ein nackter
Mann im Kleiderschrank und
wirbt für die christliche Eheberatung: „Willkommen in der Kirche“. Auf einem anderen Motiv
illustrieren besagte Pinguine den
Satz „Einen Frack braucht niemand im Gottesdienst zu tragen“.
Nun sind in der Tat viele Gottesdienste so leer, das sie ohne weiteres in einem handelsüblichen
Kleiderschrank stattfinden könnten – und wenn die Gemeinde
ein bisschen zusammenrückt,
könnte auch der eine oder andere Ehebrecher noch Unterschlupf
finden.
Trotzdem: Muss das sein? Und
welche frohen Botschaften blühen uns Christenmenschen dann
noch? Das Plakat mit einer Domina, dazu der Spruch: „Mal wieder niederknien? – Bei uns ist es
billiger. Ihre Kirche“?
In Hamburg hängt derzeit ein
Plakat, auf dem eine Nonne ihren
nackten Po zeigt. Und was sagt
uns die Nonne? „Einen Frack
braucht niemand im Gottesdienst
zu tragen“?
Nein, die Hamburger Nonne
wirbt für eine Sexmesse.
I
M. URBAN
A
Koffer für die Witwe?
M. DARCHINGER
Gütiger Himmel
Zeitung“ keine anders lautenden Belege vorlegt, gilt es daher auch als unwahrscheinlich, dass Schindler den Koffer schon vor dem Eingriff an Staehr
verschenkt hat.
Wenn Schindler zu Lebzeiten seine Dokumente aber gar nicht verschenkt hätte, dann gehörte die Liste nach Einschätzung von Rechtsexperten zum
SCHINDLERS LISTE
Am Rande
Werbeseite
Werbeseite
AP
ACTION PRESS
Deutschland
Rot-grüne Konfliktthemen Umwelt, Waffenlieferungen, Ausländer, Auslandseinsätze der Bundeswehr, Atomkraft*: Wie viel Prinzipien verträgt
REGIERUNG
Panzerschlacht im Kanzleramt
Nach einem Jahr ist die rot-grüne Koalition an der Spitze zerrüttet. Kanzler Schröder zwingt
dem grünen Vize Fischer beim Panzergeschäft mit der Türkei seinen harten Kurs auf.
Weitere Zumutungen stehen den Grünen bevor: beim Export von Waffen und Atomanlagen.
A
ls der Außenminister eintraf, befasste sich das Kabinett gerade mit
dem Thema Straßenbau. Kanzler
Gerhard Schröder, von Joschka Fischer leise begrüßt, konnte das unter Normalität
verbuchen. Denn inzwischen ist es fast üblich, dass der Langläufer Fischer in Berlin
zu spät kommt: Das verschaffe ihm jeweils
einen Sonderauftritt im Fernsehen, spotten
Ministerkollegen.
Am Mittwoch vergangener Woche aber
wollte Fischer genau das Gegenteil erreichen. Der verspätete grüne Vizekanzler
musste nicht vor Fotografen und Kameraleuten mit seinem Freund und Kanzler
Schröder demonstrativ schön tun.
Zwischen den Anführern der rot-grünen
Koalition stehen die Zeichen auf Sturm.
Gewiss, ein Panzer macht noch kein Debakel. Aber der Streit um die Lieferung
von 1000 Tanks vom Typ „Leopard 2“ an
die Türkei beschädigt das regierende Bündnis von Sozialdemokraten und Grünen
schon jetzt stärker als jeder andere Konflikt
zuvor.
Genau ein Jahr nach Amtsantritt ist –
obwohl sich konjunkturell ein zager Silberstreif zeigt – ein vorzeitiges Scheitern
der Regierung Schröder-Fischer wahrscheinlicher als ein neuer Anfang.
Wieder einmal hat sich die Koalition fahrlässig in eine selbstverschuldete Krise verrannt. Zunächst gab ein halböffentliches
Machtwort das andere. Dann entluden sich
Wut und Frust von Kanzler und Vizekanzler – beide Medienstars an der Spitze von
zwei Parteien im freien Fall der Wählergunst
– am Montag vergangener Woche in einem
Schreiduell. Fischer erregt: „Dann gehen
wir eben im Dissens auseinander.“ Schröder
brüllend: „Ihr wollt die Kapitulation.“
22
Formal rettete sich die Koalitionsrunde
im Kanzleramt mit einem vagen Kompromiss über die Zeit. Bei der Lieferung des
Testpanzers, die gegen die Stimme des
Außenministers beschlossen worden war,
bleibt es. Doch soll der „Vorbereitungsausschuss“ des Bundessicherheitsrates unter Beteiligung von Experten aus beiden
Fraktionen die Richtlinien für den Export
von Kriegswaffen „unter Berücksichtigung
der tatsächlichen und überprüfbaren Fortschritte in der Menschenrechtslage“ noch
einmal überarbeiten, bevor über die Lieferung der 1000 Panzer entschieden wird.
In der Sache aber machten Kanzler und
Vizekanzler schon jetzt unmissverständlich
deutlich, dass sie über ein grundsätzliches Ja
(Schröder) oder Nein (Fischer) nicht wirklich mit sich reden lassen wollen.
Mit der Panzerschlacht im Kanzleramt
drängen die Lebenslügen der Koalition ans
Licht der Öffentlichkeit. Politisch geht es
um das Selbstverständnis der Berliner Republik in der Außenpolitik und darum, wer
deren Richtlinien bestimmt, der Kanzler
oder der Außenminister.
Symbolisch steht der Konflikt – festgemacht an den Reizwörtern „Waffen“ und
„Türkei“ – für die Frage, wie viel Moral
und Prinzipien die propagierte Normalität
einer deutschen Bundesregierung zulässt,
die nicht gegen die Wirtschaft gerichtet und
nicht von der Vergangenheit dominiert
werden soll.
Vor allem geht es einmal mehr darum,
wer in der ersten regierenden Nachkriegsgeneration das Sagen haben soll – nach der
* Oben: Stau vor Hannover, Leopard-Panzer auf dem
Truppenübungsplatz Klietz, Asylbewerber im Lager
Kronberg, Soldaten im Kosovo, Atomkraftwerk in der
Ukraine; unten: auf dem EU-Gipfel Anfang Juni in Köln.
d e r
s p i e g e l
4 4 / 1 9 9 9
sozialdemokratischen Zwillingsbruderschaft Oskar und Gerd ist nun die Kosovo-kriegsgehärtete Männerfreundschaft
Schröder und Fischer zerbrochen.
Die Frage, wer in dieser Koalition „Koch
und wer Kellner ist“ (Schröder), hatten der
Kanzler und Fischer bisher
immer nur spöttisch abgehandelt. Fischer leistete
keinen Widerstand, wenn
Schröder den grünen Umweltminister Jürgen Trittin
demütigte. Am Montag aber
wurde es ernst. Plötzlich erlebten die Grünen in der Koalitionsrunde einen Außenminister, wie sie ihn sich lange gewünscht hatten.
Aufgebracht hatte Fischer
hingenommen, wie Schröder
seine Bedenken gegen den
Leopard-Export öffentlich als
„weit hergeholt“ verhöhnte.
Als der Kanzler in der Krisenrunde auf den Koalitionsvertrag pochte und darauf
verwies, dass der „Menschenrechtsstatus“ als „zusätzliches Entscheidungskriterium“ nur für den Rüstungsexport außerhalb der Nato
vorgesehen sei, nicht aber für
das Nato-Mitglied Türkei,
hielt der Vizekanzler dagegen.
Immer sei die Türkei „ein
Sonderfall“ gewesen. Er werde jedenfalls dem Rüstungsexport nicht zustimmen, soPartner Schröder, Fischer*
„Ihr wollt die Kapitulation“
S. BOLESCH / DAS FOTOARCHIV (li.); P. HLOBIL ( re.)
M. DARRYL HIRTHE
die propagierte Normalität der Bundesregierung?
spätere Exportgenehmigung von den EUBeitrittsgrundsätzen „abhängig“ machen zu
wollen. Denn damit wären alle Exportchancen verspielt. Wer könnte in absehbarer Zeit von der Türkei eine „Garantie“ für
Rechtsstaat und Demokratie erwarten?
In Schröders Verständnis hatten sich die
Grünen mit der Forderung einmal mehr
als Traumtänzer enttarnt, die noch immer,
so ein Kanzlerberater, „dem Nirwana der
Illusionen“ einer Oppositionspartei nachhängen. Er glaubt überdies, dass Fischer
und seine Leute die Panzer-Frage benutzen
wollten, um den psychologischen Schock
des Kosovo-Krieges zu lindern – denn die
Teilnahme daran unter rot-grünem Regiment quält noch immer die grüne Seele.
Listig versuchte Schröder zunächst, Fischer mit dessen eigenen Waffen zu schlagen: Die Grünen müssten sich in der Re-
gierung „auf die Realität“ einlassen, stichelte er – eine Mahnung, die der Obergrüne oft genug an die Adresse seiner Partei gerichtet hatte.
Der empfand das Argument aber als
tückisch. „Du meinst, es geht um Realpolitik“, brauste Fischer auf. „Da täuschst du
dich.“ Schnörkellos gab er zu Protokoll:
„Du triffst die falsche Entscheidung.“ Schröder: „Wohin willst du das treiben lassen?
Willst du die Koalition kaputtmachen?“
Fischer: „Bist du verrückt?! Du weißt
doch, dass ich den Erfolg will. Aber ich
habe eine Fraktion. Wenn es da keine
Mehrheit gibt, dann habe ich ein Problem
und die Koalition auch.“
Nachhilfe, so Fischer, brauche er im
Übrigen nicht. „Du tust so, als ob ich ein
Fundamentalist wäre.“ Spitz empfahl er:
„Da musst du mit Heidi reden.“ Die Ent-
R. UNKEL
lange Ankara die Kriterien der Europäischen Union für einen Beitritt nicht erfüllt
habe: „Garantie für Demokratie und
rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der
Menschenrechte sowie die Achtung und
der Schutz von Minderheiten“.
Aber gegen die Kurden in ihren bergigen
Rückzugsgebieten, belehrte Verteidigungsminister Rudolf Scharping die Grünen, seien die Panzer doch gar nicht einsatzfähig.
Die grüne Fraktionssprecherin Kerstin
Müller hatte den Koalitionsvertrag ebenfalls anders gelesen als der Kanzler. Er
schreibe die Menschenrechte als „Leitlinie
für die gesamte internationale Politik der
Bundesregierung“ fest. Sie kam mit ihrer
Argumentation nicht weit. „Drittes Semester Jura“, fuhr Schröder dazwischen.
Der Kanzler explodierte vollends, als die
Fischer-Truppe dennoch darauf bestand, die
Kommentar
Er kuscht
RUDOLF AUGSTEIN
E
ine Lüge folgt der anderen.
Manch interessierter Zeitgenosse wird kaum wahrgenommen
haben, dass die Berliner Regierung einen Bundessicherheitsrat hat. Der ist
aber doch wohl mit Fachleuten bestückt? Mitnichten.
Ein Grüner sitzt drin, die restlichen
Mitglieder vertreten SPD-Interessen –
in der Regel Leute, denen Rüstungsfragen fremd sind. Ein Scheingremium
also, dazu bestimmt, arglosen Gemütern Ehrfurcht einzuflößen.
Der Retter und Heiland der SPD, der
ehemalige Verkehrsminister und künftige Generalsekretär Franz Müntefering, als Organisator berühmt, musste
die Sache als einer der Ersten vernebeln: Im Fernsehen ließ er verlauten,
die Entsendung eines Testpanzers vom
Typ „Leo 2“ bedeute an und für sich
gar nichts. (Und was sollte die Welt
wohl auch denken, wenn das größer
gewordene Deutschland nicht einmal
einen Testpanzer hätte?)
Es wird so getan, als sei der Testpanzer für eine Weltausstellung bestimmt, die Expo in Hannover etwa.
Sicher ist, der Testpanzer wird nicht in
die Türkei verschifft, um als Schaustück
zu dienen, sondern um ein handfestes
Milliardengeschäft einzufahren.
In zwei Jahren will man 1000 solcher
Panzer an die Türkei verkaufen. Es geht
um 6000 Arbeitsplätze, und das ist
ehrenwert. Freilich widerspricht es allen
deutschen Beteuerungen, in Kriegs- und
Krisengebiete keine Waffen zu liefern.
Natürlich musste der im Geheimen
tagende Bundessicherheitsrat nun über
den Türöffner Testpanzer befinden, und
wie stimmte diese hochgemute Institution wohl diesmal ab? Im Einklang mit
dem Kanzler natürlich. Das Auffallende an dem Ergebnis: Bundesaußenminister Joschka Fischer und Heidemarie
Wieczorek-Zeul stimmten zwar dagegen, jedoch ohne Erfolg.
Um vor seiner Partei das Gesicht zu
wahren, drängte Fischer dann darauf,
die Waffenexportregeln nachträglich zu
verschärfen. Man beachte das Wort
nachträglich.
Eine Verschärfung der künftigen
Richtlinien für den Waffenexport war
bereits im Sommer abgelehnt worden,
und zwar deshalb, weil der Kanzler
darauf drängte. Man zeigte sich wieder
exportfreudig.
24
Wie bei der EU-Altautoverordnung
muckten die Grünen viel zu wenig auf.
Der ehemalige Pazifist Joschka im Bundessicherheitsrat: Flau, flau.
Die Lieferung von sechs Minensuchbooten an die Türkei kam sogar mit dem
Votum Fischers zustande, wohl seinem
Vorgänger Hans-Dietrich Genscher folgend: „Alles was schwimmt, geht.“ Abstimmungsergebnis im Bundessicherheitsrat: vier zu eins. Einzige Gegenstimme: die unverdrossene rote Heidi.
Man kann diese Deals nicht besser
ausdrücken, als Heribert Prantl es in
der „Süddeutschen Zeitung“ getan hat:
„Panzer als aktive Sterbehilfe für die
Grünen“. Ja, genauso ist es.
Prantl erinnert an die wüsten Proteste der Grünen gegen den damaligen
Außenminister Klaus Kinkel, als ein
Foto veröffentlicht wurde, auf dem ein
aus Deutschland stammender Panzer
einen Kurden zu Tode schleifte. Das
Außenministerium tat so, als zeige es
die humanitäre Verbringung eines toten
Kurden zum Friedhof.
Nun ist, wenn es um die Vernichtung
der Grünen geht, Kinkels Nachfolger,
Außenminister Joschka Fischer, nicht
weit. Der hat heute stets einen Nagel
zur Hand, um den Sargdeckel über den
Bündnisgrünen zu schließen. Dass er
selbst mit im Sarg liegen würde, kommt
ihm nicht in den Sinn. Er ist ja Weltpolitiker geworden und hat die Macht
geschmeckt. Die Grünen ihrer Substanz völlig zu berauben und zu einer
leeren Parteienhülse zu machen, dient
Wendehals Fischer offenbar als Einstiegskarte in die große Welt.
Die „Bild“-Zeitung, die, wie bekannt, nie lügt, schrieb: „Fischer kuscht
und schweigt.“ Tatsächlich, der grüne
Außenminister ist ein Rattenfänger, von
dem man nicht weiß, in welches Rattenloch er seine grünen Kinder führen will.
Einer Partei, der ich als zahlende
Karteileiche noch immer angehöre,
habe ich vor vielen Jahren einmal das
Sterbeglöckchen geläutet. Vorsichtig
geworden, sage ich nun, die Bündnisgrünen sind nur noch ein orientierungsloser „Haufe“, und im nächsten
Bundestag werden lediglich noch die
CDU, die SPD und die PDS sitzen.
Das türkische Militär, mit Friedfertigkeit bestens vertraut, wird seine
Säbel in der Waffenkammer abgeben.
d e r
s p i e g e l
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wicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul hatte im Bundessicherheitsrat
nicht nur den Export des Panzers, sondern
auch den von Minensuchbooten abgelehnt.
Bis kurz vor Mitternacht dauerte die Sitzung. „Mit Druck und Gedröhne“ (so ein
Teilnehmer) versuchte Schröder den kleinen Partner noch kleiner zu kriegen.
Schließlich fiel das Machtwort: „Es muss
sein. Ich nehme das auf meine Kappe. Es
geht gar nicht anders.“
Mit schneidender Kälte ließ SPD-Fraktionschef Peter Struck bei der nächtlichen
Verkündung der Ergebnisse die Grünen
dann auch öffentlich ihre Ohnmacht
spüren, ganz im Sinne des Kanzlers. Einstimmigkeit der Beschlüsse im Bundessicherheitsrat? „Darüber wurde nicht gesprochen.“ Das Parlament beteiligen?
„Nein, eindeutig Sache der Exekutive.“
Seine koalitionsbedrohliche Brisanz bezieht der Konflikt aus der Tatsache, dass die
Kontrahenten, zumal die Spitzenleute, sich
nach einer Serie verlorener Wahlen schwach
und geschlagen fühlen und entsprechend
gereizt und nervös reagieren. Selbsterhaltungsreflexe schalten Reflexion aus. Es war
kein Zufall, dass sich Jürgen Trittin, der von
Schröder inzwischen schon gewohnheitsmäßig traktierte Umweltminister der Grünen, in der Schreirunde am Montag zu Wort
meldete und meinte: „Das ist in Art und
Ton jetzt nicht angemessen.“
Trittin kennt Schröders Stil aus Niedersachsen. Den hat der Regierungschef ohne
Nuancierung auf die Bundespolitik übertragen. Wenn der Kanzler in Konflikt liegt
mit der SPD, dann reagiert er den Grünen
gegenüber mit Machtworten. So war es im
Dezember vergangenen Jahres, als es um
den Atomausstieg ging, und so war es bei
der Altauto-Verordnung im Juni. Damals
hatte es Trittin getroffen.
Jetzt, glauben die Grünen, kriegen sie
Schröders Zorn über Scharping und Walter
Riester zu spüren, und Fischer zudem des
Kanzlers Neid auf die hohen Popularitätswerte des Obergrünen. Dem Außenminister
ist nicht verborgen geblieben, dass Michael
Steiner, Schröders außenpolitischer Berater, ihm in einem Hintergrundgespräch
„chaotische Politik“ vorgeworfen hat. Und
Fischer glaubt nicht, dass sich Steiner, der
ihm gegenüber eingeräumt hat, sich „unheimlich“ bei den Waffenlieferungen zu
fühlen, ungeschützt vorwagt.
Fischer ist aus vielen Gründen irritiert.
Zum einem kriegt er jetzt aus der eigenen
Partei die Frage zu hören, ob er sich rechtzeitig und entschieden genug dem LeopardExport widersetzt habe. Zum anderen
ärgert ihn, dass in den Reihen des Koalitionspartners die Schadenfreude groß ist.
Vor allem Verteidigungsminister Scharping,
mit dem Fischer Seite an Seite im KosovoKrieg stand, verfolgt sichtlich amüsiert, wie
Schröder den Kabinettsdarling drangsaliert.
Die Grünen rätseln allerdings über das
Ziel des Kanzler-Crashkurses. Schließlich
E. BAILLY
Deutschland
R. UNKEL
Alternative Aktivisten 1981*
Prominente Grüne 1999*
Grüne Politiker: Die Hälfte der Wähler ist weg
hat Schröder nach seinen eigenen Worten
keine Alternative zur rot-grünen Koalition.
Intern gab er klipp und klar zu verstehen:
„Nur mit dieser Koalition, jede andere nur
ohne mich.“
Die Sorge, dass der desolate Zustand der
Regierung beide Parteien bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen noch tiefer ins Desaster
stürzt, plagt alle Beteiligten. Seit Regierungsantritt hat die SPD katastrophale Verluste zu beklagen. Den Grünen ist fast die
Hälfte ihrer Wähler abhanden gekommen.
* Oben: Auf der Bundesversammlung in Offenbach; unten: Fraktionsspitze Müller, Schlauch, Umweltminister
Trittin während einer Kabinettssitzung Anfang März.
Die Regierungsbeteiligung hat die einst
alternative Partei in eine Existenzkrise gestürzt. Deshalb ist immer auch politisches
Überleben gemeint, wenn Joschka Fischer
von Prinzipien und Werten redet.
Dass die Zeit der Zumutungen noch
längst nicht vorbei ist, wissen die Grünen.
Sie hegen den Verdacht, der Kanzler sei
bereit, Rüstungsexporte wie Frankreich
und Großbritannien ohne hohe moralische
Anwandlungen und historische Skrupel
ganz an nationalen Interessen auszurichten.
Noch nicht entschieden ist neben dem
Panzer-Export in die Türkei die Lieferung
von „Fuchs“-Transportpanzern, „Tiger“Helikoptern, Granatwerfern, Gewehren
d e r
s p i e g e l
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und Munition. „Offen“ ist Schröder, nach
dem Eindruck des Partners und trotz aller
Dementis, auch für einen Leopard-Export
nach Saudi-Arabien, den der damalige
Außenminister Hans-Dietrich Genscher
zweimal, unter Helmut Schmidt und unter
Helmut Kohl, verhinderte.
Vergangene Woche wurde zudem publik, dass die Bundeswehr dem türkischen
Militär beim Aufbau eines Chemiewaffenlabors geholfen hat. Das Labor versetze
die Türkei lediglich „in die Lage“, so die
Erklärung aus Scharpings Ressort, „sich
auf die Abwehr von C-Angriffen einzustellen“.
Noch in diesem Monat wird voraussichtlich der nächste Konflikt mit hoher
Symbolkraft die Rot-Grünen wieder einholen: der Streit um „K2R4“.
Unter diesem Kürzel firmieren die zwei
Atomkraftwerke sowjetischer Bauart, die
das deutsch-französische Konsortium Siemens-Framatone in der Ukraine fertig stellen will. Die Regierung in Kiew fordert,
dass die G-7-Staaten 1,8 Milliarden Dollar
vorstrecken. An dem Kredit wäre die Bundesrepublik mit 450 Millionen Dollar beteiligt. „Wir können da nicht mit dem Kopf
durch die Wand“, erklärt Michaele Hustedt, energiepolitische Sprecherin der
Grünen, „aber wir kämpfen weiter.“
Die Basis lässt Entschuldigungen aus der
Hauptstadt nicht länger gelten. Beim Länderrat in Magdeburg, dem kleinen Grünen-Parteitag, ging der Hauptvorwurf am
vorvorvergangenen Wochenende an die
Adresse der Berliner Regierung – aus den
unterschiedlichsten Gründen. Die Fraktion
lasse das Engagement für soziale Gerechtigkeit vermissen, beklagte ein Teil der Kritiker. Anderen dagegen ist sie „nicht neoliberal genug“. Die Partei werde gänzlich
ihr Profil verlieren, befürchtet die Düsseldorfer Umweltministerin Bärbel Höhn,
„wenn wir noch normaler werden“.
Noch immer aber leiden viele Friedensfreunde – das sehen die Schröder-Leute
richtig – vor allem an dem Kosovo-Trauma.
„Ohne Kosovo“, sagt auch Trittin, „sind
die Wählerverluste nicht zu erklären.“
Bei allem Verständnis für die Verteidigung der Menschenrechte wirkt sogar die
Osttimor-Expedition der Bundeswehr jetzt
verwirrend. Wollen wir jetzt überall dabei
sein?, fragen skeptisch viele Grüne. Wollen
die Deutschen etwa eine neue Rolle in der
Welt übernehmen?
In einem Brief des Kreisverbandes Bielefeld konnte der Außenminister lesen, dass
die Zeit für Zumutungen vorbei sei – und
diese Auffassung ist unter den Grünen weit
verbreitet. Kosovo, das Sparpaket, den
Streit um den Atomausstieg, alles hätten sie
mit einiger Geduld ertragen, schrieben die
Bielefelder. Aber: „Wir werden eine Panzerlieferung an die Türkei nicht rechtfertigen. Verlasst Euch nicht mehr auf uns.“
Horand Knaup, Jürgen Leinemann,
Paul Lersch
25
Werbeseite
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Werbeseite
Umfrage
SPIEGEL-Umfrage unter SPD-Mitgliedern über die Zufriedenheit mit dem Parteichef und die Zukunft der Regierung
D
DPA
as Herz der Partei schlägt viel- sammeln – im Einzelnen reagieren sie
leicht links, aber nicht mehr für durchaus skeptisch auf ihn. „Mangelnde
Oskar: Gerhard Schröder ist bei Glaubwürdigkeit“ des Kanzlers geben 53
seinen Genossen weit angesehener und Prozent der Mitglieder als eine der Hauptbeliebter, als der kühle Empfang bei Be- ursachen für die Niederlagen bei den Landtriebsräten, auf Gewerkschaftstagen oder tagswahlen der vergangenen Monate an.
Parteiversammlungen erwarten lässt. Das
Besonders die Parteijugend wirft Schröbelegt eine Umfrage für den SPIEGEL, der die Glaubwürdigkeitslücke vor. Drei
in der erstmals nach dem Regierungs- von vier Genossen unter 30 begründen daantritt die Meinung in der SPD erforscht mit die Wahlniederlagen – ein Trend, der
wurde. Das Emnid-Institut befragte in sich auch in den schlechten Ergebnissen
persönlichen Interviews 760 Mitglieder, der SPD bei Jungwählern widerspiegelt.
die repräsentativ für die 760 000 GenosDer Rivale Lafontaine, einst der Liebling
sen sind.
der Partei, hat seinen Kredit verspielt. Mit
Für 55 Prozent von ihseinem Buch, davon sind
nen verkörpert nach dem
63 Prozent der befragten
Abgang Lafontaines der
Sozialdemokraten überParteivorsitzende Schrözeugt, habe er der SPD
der überzeugend die sogroßen Schaden zugezialdemokratischen Werfügt. Weitere 23 Prozent
te. Erstaunlicherweise sind
meinen, er habe der Pares die eher traditionellen
tei zumindest „etwas“ geSchichten – Arbeiter, Anschadet. Vor allem die Älgestellte sowie Rentner
teren unter den Mitglieund Pensionäre –, die den
dern sowie die Arbeiter
Parteichef keineswegs als
und Beamten fürchten
Genossen der Bosse senach der publikumswirkhen.Aber auch 67 Prozent
sam inszenierten Buchjener SPD-Mitglieder, die
veröffentlichung um das
sich selbst zur neuen MitAnsehen der Partei.
te zählen, glauben, dass
Es ist in erster Linie die
der Vorsitzende ein guter
Form, die Widerspruch
Sozialdemokrat ist.
hervorruft. In der Sache
SPD-Parteitag (in Bonn)
dagegen gibt eine große
Statussymbole wie teu- Keine Probleme mit Zigarren
Mehrheit dem scharfzünre Kleidung und dicke Zigarren irritieren die Basis keineswegs so, gigen Kritiker Recht: Fast drei Viertel der
wie Schröders Image-Berater neuerdings SPD-Mitglieder finden Lafontaines Einfürchten. Fast zwei Drittel aller SPD-Mit- wände gegen den Regierungskurs ganz
glieder stören sich nicht an Havannas und oder zumindest teilweise richtig.
Am stärksten lehnen Beamte, Rentner
Brioni-Anzügen. Von den Sozialdemokraten aus jenen Jahrgängen, die Kriegsende und Mitglieder der neuen Mitte seine Theund Wirtschaftswunder noch selbst erlebt sen über die angeblich falsche Politik der
haben, zeigen sogar drei Viertel Verständ- Regierung Schröder ab. Skeptisch zeigen
nis für das Bedürfnis des Kanzlers nach sich aber auch die Bezieher kleiner und
Wohlstandsattributen. Arbeiter sehen mittlerer Einkommen – also gerade jene,
Schröders Hang zum Luxus allerdings kri- die laut Lafontaine die Verlierer des Schrötischer als der Durchschnitt der Parteibasis der-Kurses sein sollen.
oder gar die Selbständigen.
Die Sozialdemokratie teilt sich nach ihSchröders Versuche, auf die Partei zuzu- rer Selbsteinschätzung recht gleichmäßig je
gehen – durch stärkere Betonung des The- zu einem Drittel in Traditionalisten, neue
mas soziale Gerechtigkeit und eine organi- Mitte und keiner Richtung zugehörige Mitsatorische Verstärkung der Parteiführung –, glieder. Oft weisen die Flügel nur geringe
scheinen sich zu lohnen: Immerhin drei Meinungsdifferenzen auf. Deutlicher werViertel aller Mitglieder gestehen ihm zu, den die Unterschiede, wenn man die Bedass er sich um die Zustimmung seiner Par- fragten nach Alter, Berufsgruppe oder Eintei bemühe. Nur jeder Fünfte meint, Schrö- kommen unterteilt.
der möge die SPD nicht.
Während beispielsweise zwei Drittel der
So solidarisch sich die Genossen im All- SPD-Mitglieder mit einem Einkommen ungemeinen hinter ihrem Vorsitzenden ver- ter 1500 Mark nicht das Sparpaket, son28
d e r
s p i e g e l
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Schädlicher Autor
„Hat Oskar Lafontaine mit seinem
Buch ,Das Herz
schlägt links‘
Ihrer Ansicht
nach der SPD
geschadet?“
ja
etwas
63
23
nein
14
Lafontaines Eigentor
„Hat Oskar Lafontaine sich selber damit geschadet, dass er ausgerechnet in
Zeitungen publiziert hat, die zum
Axel-Springer-Konzern gehören?“
ja
nein
70
29
Richtige Kritik
„Hat Oskar Lafontaine mit
seiner vorgetragenen Kritik
am Regierungskurs Recht?“
ja
teilweise
16
56
nein
28
D PA / L B N
Der Kanzler der Genossen
Bleiberecht für Oskar
„Sollte Oskar Lafontaine Ihrer
Meinung nach aus der SPD
ausgeschlossen werden?“
ja
nein
28
71
Umfrage für den SPIEGEL vom 13.
bis 21. Oktober, 760 befragte SPDMitglieder, alle Angaben in Prozent,
an 100 fehlende Prozent: keine Angabe
Altersgruppen
34
30
36
30
37
40
32
42
23
26
37
17
47
25
25
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39
27
30
53
27
21
35
29
57
45
36
21
41
28
23
47
42
48
24
Umfrage für den SPIEGEL vom 13. bis 21. Oktober; 760 befragte SPD-Mitglieder;
alle Angaben in Prozent, an 100 fehlende Prozent: keine Angabe
Berufsgruppen
33
trifft eher nicht zu
54
15
60
43
32
44
33
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64
46
38
48
57
68
55
67
45
trifft
eher zu
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30
21
17
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trifft eher zu
71
75
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79
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16
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22
13
13
20
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29
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trifft eher zu
25
36
39
18
27
75
trifft eher nicht zu
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59
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66
trifft überhaupt nicht/eher nicht zu
45
trifft eher zu
34
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36
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44
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54
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64
60
75
56
trifft sehr/eher zu
39
trifft überhaupt nicht zu
ne
21
trifft sehr/eher zu
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Ein sozialdemokratischer Kanzler sollte
nicht teure Zigarren
rauchen und teure
modische Anzüge
tragen
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trifft sehr/eher zu
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trifft überhaupt
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Ein sozialdemokratischer Kanzler hätte
die Bundeswehr
nicht in den KosovoKrieg schicken
dürfen
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um Zustimmung
der Partei
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34
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10
trifft sehr zu
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Gerhard Schröder
verkörpert nicht
die sozialdemokratischen Werte
Partei-Flügel
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Wie sozialdemokratisch ist Schröder?
„Was halten Sie von Gerhard Schröder
als Parteivorsitzenden?“
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weder noch
17
tra
neue Mitte
Berufsgruppen
18 bis 29 30 bis 44 45 bis 59 60 Jahre
Jahre
Jahre
Jahre
und älter
Befragte SPD-Mitglieder
Traditionalist
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Starke Flügel
„In den öffentlichen Diskussionen ist
immer wieder zu hören, dass es innerhalb der SPD unterschiedliche Flügel
gibt. Halten Sie sich eher für einen
‚Traditionalisten‘ oder einen Vertreter
der ‚neuen Mitte‘?“
23
55
trifft eher nicht zu
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66
trifft überhaupt nicht/eher nicht zu
s p i e g e l
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29
Umfrage
dern eine generelle Reformunwilligkeit der
Deutschen für die Wahlniederlagen der
SPD verantwortlich machen, urteilen fast
ebenso viele Bezieher mittlerer und höherer Einkommen genau umgekehrt: Die
schlechten Wahlergebnisse seien die Quittung für den Sparkurs der Regierung; reformunwillig aber seien die Deutschen
nicht.
Zu einem Kanzler Schröder gibt es für
die Sozialdemokraten keine wirkliche Altenative. Kein anderer Kandidat könnte
derzeit auf Anhieb mit einer Mehrheit in
nur 28 Prozent seinen Ausschluss aus der
SPD. Ein denkbarer Nachfolger Schröders
aber wäre er nur noch für 12 Prozent.
Doch vorerst glaubt die Mehrheit der
SPD-Mitglieder, dass der Kanzler sich im
Amt hält. 68 Prozent sind überzeugt, dass
die rot-grüne Regierung die gesamte Legislaturperiode überdauert. Skeptischer
sehen das allerdings die neueren Mitglieder
der SPD. Von denen, die noch keine
fünf Jahre in der Partei sind, glaubt gut jeder zweite, dass die Koalition vor 2002
platzt.
Susanne Fischer
der Partei rechnen, wenn Schröder abtreten müsste.
Die größte Zustimmung findet mit 37
Prozent Rudolf Scharping; besonders die
Beamten (55 Prozent) können sich den Verteidigungsminister gut im Kanzleramt vorstellen. Für einen Kanzler Franz Müntefering dagegen mögen sich nur 24 Prozent
der SPD-Mitglieder erwärmen.
Lafontaine hat keine Chance mehr, dass
ihn die Partei in der Not als Kanzler ruft.
Zwar befürworten nach der öffentlichen
Abrechnung des ehemaligen Parteichefs
Ersatz für den Kanzler
Stabile Koalition
Parteiflügel
„Glauben Sie, dass die
rot-grüne Regierung
bis 2002 durchhält?“
tra
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ell
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„Wenn Gerhard Schröder nicht mehr
Kanzler wäre, wer könnte ihn ersetzen?“
Rudolf
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37
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Oskar Lafontaine
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Umfrage für den SPIEGEL vom 13.
bis 21. Oktober, 760 befragte SPDMitglieder, alle Angaben in Prozent,
an 100 fehlende Prozent: keine Angabe
Schuld an den Schlappen
Altersgruppen
„Bei den letzten Landtagswahlen hat die SPD teils deutliche
Verluste hinnehmen müssen. Schuld an den Niederlagen war...
...der Sparkurs der 20
Regierung“ trifft sehr zu
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trifft überhaupt nicht zu
. ..die mangelnde Glaubwürdigkeit
des Kanzlers“
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57
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22
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...die Reformunwilligkeit
der Deutschen“
62
trifft sehr/eher zu
trifft überhaupt nicht/eher nicht zu
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trifft überhaupt nicht zu
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trifft sehr/eher zu
trifft eher nicht zu
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Jahre
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Jahre
trifft überhaupt nicht/eher nicht zu
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trifft sehr zu
18 bis 29
Jahre
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trifft eher
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trifft überhaupt nicht zu
. ..der Rücktritt Oskar Lafontaines
von allen Ämtern“
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trifft überhaupt nicht/eher nicht zu
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trifft sehr/eher zu
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60
trifft überhaupt nicht/eher nicht zu
Werbeseite
Werbeseite
Titel
Operation im
Kernspintomographen
System ohne Steuerung
T. PFLAUM / PLUS 49 / VISUM
Das deutsche Gesundheitssystem steht vor dem Infarkt – es ist unflexibel, uneffektiv,
unbezahlbar. Ärzten, Klinikbetreibern und der Pharmaindustrie gerät das
Wohl der Patienten mehr und mehr aus dem Blickfeld. Eine Totalreform ist überfällig.
E
s gibt zwei Sorten von Gesundheitsministern: die reformeifrigen Neulinge mit dem großen Plan – und die
im Dienst Zermürbten, die am Ende nur
froh waren, wenn sie wieder aus dem Amt
scheiden konnten.
Ehemalige wie Horst Seehofer, der wie
kaum ein anderer die Begehrlichkeit des
deutschen Gesundheitsunwesens kennt,
blicken ohne jede Nostalgie zurück. All
seine Gesetze zur Kostendämpfung, das
weiß er heute, bewirkten im Normalfall
nichts, im besten Fall brachten sie einen
Zeitaufschub. „Und deshalb weiß ich genau“, sagt er, „Frau Fischer wird scheitern,
wie auch ich gescheitert bin.“
Andrea Fischer, der Neuling, verbreitet
noch jene Ich-pack-das-Stimmung, mit der
auch Seehofer gestartet war. Und selbstverständlich hat sie das getan, was all ihre
Vorgänger auf dem Posten des Gesundheitsministers ebenfalls getan haben.
Sie durchforstete in endlosen Nachtsitzungen riesige Aktenberge, versuchte sich
dabei das Vokabular eines Experten anzueignen, für den Geld nicht mehr Geld
heißt, sondern „Sonderentgelt“, „Fallpauschale“ oder „Leistungskomplexgebühr“.
Sie hat all die professionellen Helfer um
32
Rat gebeten, die in den diversen Beiräten
und Sachverständigenkommissionen seit
Jahren jede Windung des Gesundheitswesens seziert haben. Und natürlich hat sie
auch die ganze Schar der „Leistungserbringer“ zum Gespräch geladen, wie sich
die Ärzte, Krankenhauslobbyisten oder
Pharmahersteller vornehm nennen.
Das Ergebnis der Fleißarbeit umfasst 347
Seiten, heißt „Gesundheitsreform 2000“
und soll nun mit Hilfe von über 200 Änderungen und Ergänzungen bestehender Paragrafen ein System ins Gleichgewicht
bringen, dessen Kosten seit Jahren ins Maßlose wachsen. Zentraler Baustein ist ein so
genanntes Globalbudget, das die Ausgaben
für die nächsten Jahre von Staats wegen
festlegt und alle im Gesundheitswesen Beschäftigten zur strikten Einhaltung verpflichtet.
Es geht nicht nur um Sparsamkeit, es
geht auch um die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Denn jede zusätzliche Beitragsmark treibt die Lohnkosten in die
Höhe und damit die Zahl der Arbeitslosen,
was wiederum das Fundament der Beitragszahler ausdünnt – und die Übriggebliebenen noch stärker belastet. Eine
Spirale ist in Gang gekommen, deren und e r
s p i e g e l
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heilvolle Wirkung heute niemand mehr
bestreitet.
Das Ziel ist also klar, die Aufregung
dennoch gewaltig. Kaum ein Wochenende,
an dem sich nicht irgendwo in der Republik
die Standesvertreter der Gesundheitsberufe samt ihrer Helferheere zu einer
Demonstration versammeln und Transparente hochhalten, auf denen sich „Herzinfarkt“ auf „Sarg“ reimt und „Therapie“
auf „nie“.
Von „umstürzlerischen Planungen“
spricht die Kassenärztliche Vereinigung, vor
einem „Marsch in die Zwei-Klassen-Medi-
Teure Gesundheit
140
130
120
Leistungsausgaben
der gesetzlichen
Krankenversicherung
110
1982=100
1983
1984
1985
19
986
240
Auswirkung der
zweiten SeehoferReform
230
220
210
Auswirkung der
Seehofer-Reform
M. LINKE / LAIF
Klinikum Aachen: Das große Geld fließt automatisch
zin“ warnt der Verband der Krankenhausärzte. Die Verbitterung ist so groß,
dass die Mediziner ihre Praxen mittlerweile zu regelrechten Propagandazentralen
aufgerüstet haben. An der Eingangstür
Unterschriftenlisten, an den WänAuswirkung der
den des WarteBlüm-Reform zur
zimmers Plakate
Kostendämpfung
mit dem Konterim Gesundheits-
200
1998 verschlangen die Leistungsausgaben
der gesetzlichen Krankenversicherung
234,1 Milliarden Mark, davon für
180
170
Krankenhausbehandlung
160
wesen
85,1
150
sonstige
Leistungen 16,6
Kuren 4,8
Krankengeld 13,8
21,2
Zahnersatz,
zahnärztliche
Behandlung
zum Vergleich Bruttoinlandsprodukt
51,6
Arznei-, Heilund Hilfsmittel
40,8
ärztliche
Behandlung
ab 1992 Gesamtdeutschland
1987
1988
1989
1990
1991
d e r
1992
s p i e g e l
1993
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1994
1995
1996
1997
1998
33
Titel
SKOTT
So viel Fatalismus war nie. Ist das der was die Gegner sofort als „Zwei-Klassenfei eines Patienten, der so aussieht, als ob
er einem Schlägerkommando in die Quere Frust der Gescheiterten? Oder tut sich aus- Medizin“ diffamieren?
gerechnet im Gesundheitswesen, jenem
Oder soll man im Gegenteil, nach engligekommen ist.
Noch gibt sich Fischer zuversichtlich, Teil des Staates, der den Menschen mehr schem Vorbild, das Regelsystem ausweidass sie und ihre Kabinettskollegen der ra- als alles andere bedeutet, eine Kluft zwi- ten, indem jede medizinische Leistung nur
biaten Ärztekampagne widerstehen kön- schen dem Möglichen und dem Nötigen noch streng nach gesetzlich festgeschrienen, dass ihr Gesetzeswerk nicht nur, wie auf, die unüberbrückbar ist? Für die Poli- benen Normen vergeben wird, um so wegeplant, in der kommenden Woche das Par- tiker zumindest stellen sich die Fragen nigstens für stabile Preise zu sorgen? „Ralament passiert, sondern auch, einiger- existenziell: Wie viel Sanierungsarbeit tionierung“ werden die anderen rufen und
maßen intakt, den Vermittlungsausschuss verträgt die empörte Wählerschaft? Ist ein auf überfüllte Wartezimmer, verstörte Patienten und den einen oder anderen
im Bundesrat.
rätselhaften Todesfall verweisen.
Andere sind da pessimistischer.
Die Bürger stehen dem Treiben
„Ich habe diesen Feldversuch schon
ratlos gegenüber. Was sollen sie von
hinter mir“, sagt jener Mann, den
dem Getöse der organisierten Ärzsie einst den „Drachentöter“ nannteschaft halten, dem zufolge eine
ten. Und der nun mitleidig, ja gerastrenge Ausgabenbegrenzung das
dezu mitfühlend auf die BemühunWohl der Kranken gefährdet? Was
gen seiner Nachfolgerin blickt.
ist dran an dem Gegenargument der
Sechs Jahre lang war der CSUGesundheitsministerin, Geld sei geAbgeordnete Seehofer Gesundnug vorhanden, es müsse nur besser
heitsminister in Bonn, viele meinen,
und effizienter eingesetzt werden?
der erfolgreichste, den die Republik
Wie lässt sich dem scheinbar selbstje hatte. Die besonders aufrühreritätigen Wachstum des Gesundheitsschen Zahnärzte hat er besiegt, den
wesens Einhalt gebieten und damit
Kosten für Arzthonorare und Klidem stetig steigenden Kostendruck?
nikbetten einen Deckel verpasst und
Denn dass da irgendwas nicht
sogar der Pharmaindustrie ein paar
stimmt, dass Anspruch und WirkMilliarden abgenommen. Nur kurz
lichkeit sich inzwischen kaum
hielt die Wirkung, dann sprengte Ärzte-Karikatur: „Radikal-Kur“
kölner stadt-anzeiger
mehr berühren, spüren viele. Keider aufgestaute Druck in den Ausgabentöpfen die sorgsam verschraubten Erfolg beim Begrenzen, Deckeln, Budge- ne andere Nation in Europa gibt heute,
Deckel wieder davon, erst bei den Arznei- tieren überhaupt möglich – und, wenn ja, gemessen an der Wirtschaftsleistung, mehr
Geld für Gesundheit aus, rund 550 Milmitteln, dann in den Krankenhäusern und nur um den Preis des Machtverlusts?
Denn die Rezepte, die da im Angebot liarden Mark werden es voraussichtlich in
schließlich auch bei den Praxen.
Heute steht für den braven Katholiken sind, schrecken alle derart ab, dass eine auf diesem Jahr sein. Doch glaubt man den
fest: „Wir können so viel reglementieren breite Zustimmung angewiesene Parteien- Ärzten, reicht diese Summe hinten und
und budgetieren, wie wir wollen, es wird demokratie sich kaum trauen darf, sie zu vorne nicht.
Die angebliche Leistungsbilanz liest sich
nichts nutzen, unser Gesundheitswesen debattieren. Soll man wirklich, wie Seewird davon allenfalls schlechter und hofer nun leise vorschlägt, konsequent auf wie eine konzertierte Aktion wider die
marktwirtschaftliche Steuerung setzen, Volksgesundheit: Deutsche werden dopteurer.“
Geteilte Macht
Akteure im deutschen Gesundheitswesen
Bundesministerium
für Gesundheit
schafft zwar die gesetzlichen
Rahmenbedingungen, hat aber
keine wirksamen Instrumente
zur Durchsetzung von
Kostensenkungen.
Bundesärztekammer
Gesetzliche
Krankenkassen
2200 Kliniken
Von 50,6 Millionen Versicherten
und den Arbeitgebern wurden
1998 243 Mrd. Mark
an die gesetzlichen Krankenkassen gezahlt.
Apotheken
stellten den
gesetzlichen
Krankenkassen
1998 für
Arzneimittel
33,4 Mrd. Mark
in Rechnung.
Private Krankenversicherungen
112700
7,2 Millionen Mitglieder
zahlten 1998 Beiträge in
Höhe von
33,5 Mrd. Mark.
niedergelassene
Ärzte
51988
34
Kassenärztliche
und kassenzahnärztliche Bundesvereinigung
Die örtlichen Organisationen sorgen für
die Honorarverteilung
der Kassenärzte,
1998 insgesamt
56 Mrd. Mark.
niedergelassene
Zahnärzte
Heilberufe
Masseur, Logopäde,
Diätassistentin ...,
über 80 Heilberufe
arbeiten im Gesundheitswesen.
rechnen direkt mit den
Krankenkassen über
Fall- oder Tagespauschalen ab. Die gesetzlichen Krankenkassen
zahlten 1998
85 Mrd. Mark.
357 700 Mitglieder
in 17 Landesärztekammern. Kümmert
sich um die Standesethik und sorgt für
die Lobbyarbeit.
Pharmaindustrie
Umsatz 1998:
31,9 Mrd. Mark.
800 Millionen verordnete
Packungen rechneten
die Krankenkassen ab.
Derzeit sind rund 40000
verschiedene Medikamente auf dem Markt.
Patienten
550 Mrd. Mark kostet in diesem Jahr die Gesundheitsversorgung der 82 Millionen Einwohner Deutschlands.
d e r
s p i e g e l
4 4 / 1 9 9 9
Quellen: BMG, KBV, ZKBV
DPA
ARIS
me, von 36 000 auf heute
112 000 nahezu verdreifacht.
π Die Krankenkassen sollen
den Kostendruck dämpfen
– und tun das Gegenteil. Ihr
Verwaltungsaufwand ist im
vergangenen Jahr schon
wieder um 5 Prozent gestiegen, auf insgesamt 13
Milliarden Mark. Ihre Angestellten, die nicht von ungefähr „Sofas“ heißen (die
Abkürzung von Sozialversicherungsfachangestellte),
kümmern sich kaum um politische Vorgaben.
π Allen Sparbemühungen und
Budgetvorgaben zum Trotz
rekrutiert die weiße Armee
immer neue Helfer und
Heiler, und die Politik lässt
sie gewähren. Erst wurden
die Freunde der Naturheilverfahren an die öffentProtestdemo gegen die Gesundheitsreform*: Die Bürger stehen dem Treiben ratlos gegenüber
lichen Geldtöpfe gelassen
und nun, seit 1. Januar, auch die Heerpelt so häufig geröntgt wie die Niederlän- Ökonomen gern etwas despektierlich geschar der freischaffenden Psychologen.
der, gehen dreimal öfter zum Arzt als die nannt wird. Das entspricht 12 Prozent alAllein in Berlin dürfen seit Anfang des
Schweden und schlucken in ihrem Leben ler Erwerbstätigen.
Allein bei den 582 gesetzlichen KranJahres 1147 Psychotherapeuten über die
zweimal so viel an Medikamenten wie ein
kenkassen sind über 145000 Menschen beKassen abrechnen. „Eine TherapiedichNorweger.
te wie in einem Woody-Allen-Film“, wie
Kein Wunder, denn die Megamaschine schäftigt, auf immerhin 10000 Angestellte
der „Tagesspiegel“ spöttisch anmerkt.
verlangt nach Opfern, die hier zu Lande Pa- bringt es inzwischen selbst die Kassenärzttienten heißen: Über 287000 Ärzte bieten liche Vereinigung, die in erster Linie die Ho- π Seit Jahren versuchen die Gesundheitspolitiker vor allem die explodierenden
ihre Dienste an; 2200 Kliniken haben Tag norarverwaltung ihrer Mitglieder besorgt.
Pharmakosten unter Kontrolle zu brinund Nacht ihre Pforten geöffnet, ebenfalls Und wo ehemals Arzt, Krankenschwester
und Apotheker reichten, biegen, indem sie zum Beispiel so genannEuropa-Rekord. In kaum eiten heute über 80 Heilberufe
te Bagatellmedikamente wie Hustennem anderen Land der Welt
ihre Dienste an.
tropfen oder Grippemittel aus dem
wartet ein so eindrucksvoller
Das große Geld für diesen
Erstattungskatalog strichen. Doch die
Gerätepark an KernspintoReparaturbetrieb fließt autoPharmaindustrie ist stets schneller: Bemographen, Linearbeschleumatisch – zu gut 90 Prozent
reits in den ersten sechs Monaten dieses
nigern, Linksherzkatheteraus SozialversicherungsbeiJahres sind die Arzneimittelausgaben um
Messplätzen auf neue kranke
trägen und Steuern, also aus
gut 12 Prozent in die Höhe geschnellt.
Kundschaft. Es gilt das MotGeldern, die dem Einzelnen
Wie krank das Gesundheitswesen in
to: Niemand ist gesund, nur
zwangsweise abverlangt wer- Wahrheit ist, zeigt sich schon bei der Inviele sind unzureichend unden und auf deren Verwen- formation über Leistungen und Preise, also
tersucht.
dung er keinen Einfluss hat. genau der Form von Transparenz, die aus
Was einst als ein Gewerbe
Dem 550-Milliarden-Markt Verbrauchern erst Kunden macht und aus
begann, das allenfalls Lindefehlt so ziemlich alles, was Versorgern Dienstleister und die deshalb
rung bei Schmerz und Siech- Reformer Seehofer
einen Markt ausmacht. Er ist für einen funktionierenden Markt unabtum versprach, hat sich zu
einer Industrie entwickelt, die für zweite wettbewerbsfeindlich, undurchsichtig und dingbar ist.
Weder der Patient noch seine Kasse verHerzen und dritte Zähne ebenso sorgt wie kundenfern. Er bestraft Qualitäts- und
für künstliche Gelenke, neue Brüste oder Kostenbewusstsein, fördert Verschwen- mögen zu sagen, welche Qualifikation sich
gerade Nasen – und deren ökonomische dung und Durchstecherei und tendiert hinter dem Arztschild verbirgt, ob der gute
Bedeutung die von Automobilbau oder wie jedes staatlich gelenkte System zu Doktor also beispielsweise beizeiten eine
einer gigantischen Fehlsteuerung seiner Fortbildung besucht hat (wie dies bei LuftEnergiewirtschaft weit übersteigt.
hansa-Piloten selbstverständlich ist) oder
Der Anteil der Gesundheitsfürsorge an Mittel.
Langsam beginnt sich auch unter den ob er noch immer auf Grundlage seines in
der gesamten Volkswirtschaft ist in den
vergangenen Jahren beständig gestiegen, Patienten herumzusprechen, was Gesund- Studententagen erworbenen Wissens laboseit 1970 von 6,3 auf nunmehr 10,7 Pro- heitsökonomen längst in aller Deutlich- riert (was die Standesordnung ausdrücklich
zent. Damit liegt die Bundesrepublik – keit nachgewiesen haben: Das deutsche gestattet).
Gesundheitswesen hat sich gründlich
Bis heute fehlt eine Übersicht aller im
nach den USA – weltweit an der Spitze.
Und auch als Jobmaschine ist das Ge- übersteuert, ihm droht der Infarkt. Die Handel erhältlichen Arzneimittel, deren
schäft mit der Gesundheit längst konkur- Liste der Unzulänglichkeiten und Wi- genaue Zahl deshalb nicht einmal das zuständige Bundesamt angeben kann (sie
renzlos. Rund 4,2 Millionen Menschen ar- dersprüche ist lang:
beiten heute im medizinisch-industriellen π Immer mehr Mediziner buhlen um die wird auf etwa 40 000 geschätzt), geschweiPatienten, allein die Zahl der niederge- ge denn, welche etwas taugen. Den ApoKomplex, wie der Gesundheitssektor von
lassenen Ärzte hat sich seit 1977, dem thekern wiederum ist es verwehrt, PreisGeburtsjahr des Begriffs Ärzteschwem- nachlässe zu gewähren, und weil sie keine
* Am 22. September in Berlin.
d e r
s p i e g e l
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35
Titel
Spanien
Großbritannien
Deutschland
Italien
Frankreich
Serevent
Antiasthmatikum, Dosierspray, 120 Sprühstöße
Frankreich
Spanien
Deutschland
Großbritannien
Österreich
36
Deutschland
Frankreich
Österreich
Großbritannien
63,24 Mark
78,05 Mark
84,99 Mark
86,37 Mark
97,07 Mark
d e r
11,79 Mark
12,20 Mark*
16,21 Mark
21,28 Mark
*Packungsgröße
umgerechnet
Filialen oder gar Ketten besitzen dürfen,
sind auch Großhandelsrabatte weitgehend
ausgeschlossen.
Selbst den Krankenkassen, die doch
miteinander konkurrieren sollen, ist Wettbewerb untersagt. Weder dürfen sie sich
bei den angebotenen Leistungen nennenswert unterscheiden noch direkt
miteinander messen. „Aus wettbewerbsrechtlichen Gründen dürfen wir keine
Beitragsvergleiche anstellen“, heißt es in
einer Broschüre der Betriebskrankenkasse Zollern-Alb, dabei wäre gerade dieser
Vergleich für die Versicherten aufschlussreich: Der Beitragssatz der schwäbischen
Kasse liegt derzeit bei 11,9 Prozent, mithin
3 Prozentpunkte niedriger als etwa bei der
Berliner AOK, einer der teuersten Assekuranzen.
Und wofür die Beiträge der Versicherten, die der Arbeitgeber automatisch an
die Kassen abführt, überhaupt verwendet
werden, bleibt ebenfalls undurchsichtig.
Regelmäßig moniert der Sachverständigenrat, der den Gesundheitsminister bei
allen Gesetzesvorhaben beraten soll, den
völligen Mangel „aussagekräftiger Indikatoren“, die zwingend notwendig wären,
um „die äußerst komplexen Prozesse und
Ergebnisse gesundheitlicher Leistungserstellung repräsentativ und entscheidungsrelevant abzubilden“.
Schmerzmittel, 20 Tabletten
Antirheumatikum, 100-Gramm-Tube
17,38 Mark*
24,80 Mark*
26,73 Mark
30,10 Mark
30,80 Mark
*Packungsgröße
Aspirin
Voltaren Emulgel
Magen-Darm-Mittel, 50 Tabletten
umgerechnet
Frankreich
Spanien
Österreich
Deutschland
Italien
4,46 Mark
4,59 Mark
5,00 Mark
7,45 Mark
8,08 Mark
Nicht einmal zur einfachsten Form der leiden, dass nicht zu wenig geschnitten, geLeistungskontrolle, der Rechnungsstellung, spritzt und kuriert wird, sondern zu viel.
konnte sich das Kartell der Kassierer bisErst kürzlich hat die Deutsche Röntgenlang durchringen. Nach wie vor haben ge- gesellschaft sachlich-kühl vermeldet, dass
setzlich Versicherte keine Ahnung, wie viel auf gut die Hälfte der jährlich 100 Millioihre Behandlung eigentlich kostet, abge- nen Röntgenuntersuchungen verzichtet
rechnet wird zwischen dem behandelnden werden könnte, ohne dass den Patienten irArzt, seiner Standesorganisation und der gendein Schaden entstünde. Für 20 ProKrankenkasse. Und weil der die entspre- zent der aufwendigen Gefäßerweiterungen
chenden Daten lediglich auf Anfrage ge- lässt sich bei näherer Betrachtung kein trifliefert werden und auch dann nur in kom- tiger Grund erkennen. Von den derzeit im
primierter Form, kann niemand beurtei- Klinikbetrieb besonders beliebten Eierlen, ob der Arzt tatsächlich dreimal den stock- oder Eileiteroperationen gilt jede
Verband gewechselt hat, wie von ihm an- vierte als überflüssig, von den Blinddarmgegeben – oder nur einmal, ob
er wirklich ein Ultraschallgerät
eingesetzt hat – oder doch nur
seine Hände.
Aufwand und Ertrag stehen
schon lange nicht mehr in einem
vertretbaren Verhältnis. Allen
verfügbaren Studien zufolge lassen die hohen Gesundheitskosten keinen direkten Zusammenhang mit den messbaren
Zahlen der Volksgesundheit erkennen. Weder werden die
Deutschen älter als ihre Nachbarn, die zum Teil deutlich weniger in ihr Gesundheitswesen
investieren, noch ist ihr Wohlbefinden erkennbar höher.
Auch beim Krankenstand belegen die Bundesbürger mit 16
Fehltagen pro Jahr einen Spitzenplatz unter den Industrienationen. Und gemessen an harten medizinischen Indikatoren
wie Säuglings- und Müttersterblichkeit, postoperativen
Komplikationen oder Lebenserwartung bei Krebsbehandlung
liegen sie im internationalen
Vergleich bestenfalls im Mittelfeld.
Tatsächlich drängt sich schon
nach einem flüchtigen Blick in
die medizinischen Fachzeitschriften und Bulletins der Eindruck auf, dass die Deutschen
nicht an einer Unter-, sondern
eher an einer Überversorgung
Operation per Roboter
s p i e g e l
M. MATZEL / DAS FOTOARCHIV
Tagamet
4 4 / 1 9 9 9
Cilest
Verhütungsmittel, 63 Tabletten
Großbritannien
Italien
Deutschland
Frankreich
Österreich
19,39 Mark
23,94 Mark*
26,38 Mark
49,71 Mark
51,78 Mark
*Packungsgröße
umgerechnet
überhaupt vertragen“, sagt Norbert Klusen, Chef der Hamburger Techniker Krankenkasse.
Dass Kosten und Nutzen gerade im
Gesundheitswesen eklatant auseinander
klaffen, dafür hat auch die zahlende Kundschaft mittlerweile ein ausgeprägtes Gespür. Nur 13 Prozent fühlen sich im Krankheitsfall „sehr gut versorgt“, 57 Prozent
„eher gut“, doch immerhin 23 Prozent
„eher schlecht“ und 7 Prozent sogar „sehr
schlecht“. Vor vier Jahren betrug die Zahl
derer, die mehrheitlich zufrieden oder gar
sehr zufrieden sind, noch 91 Prozent.
So uneinig sich die Fachleute in der Therapie des maladen Gesundheitssystems
auch sind, so einig zeigen sie sich in der
Diagnose der Ursachen seiner Fehlfunktionen. Im Gegensatz zu jedem anderen
Wirtschaftsbereich gilt im Gesundheitswesen nicht das Prinzip von Angebot und
Nachfrage, nicht einmal theoretisch. Ausgerechnet im milliardenschweren Medizinbetrieb ist der entscheidende Steuerungsmechanismus des Wirtschaftslebens,
der Preis, außer Kraft gesetzt.
Wer einmal seinen Beitrag in die Krankenversicherung entrichtet hat, kann fortan
jede Leistung unbegrenzt in Anspruch nehmen, auf Wunsch auch mehrfach. Eine fabelhafte Ausgangslage, auf die sich die
weiße Zunft ihrerseits kostentreibend ein-
B. NIMTSCH / DAS FOTOARCHIV
operationen bei Frauen sogar jede dritte.
„Medizinisch nicht indiziert“ heißt es dazu
in den entsprechenden Klinikstudien, die
Nebenwirkungen gibt es gratis dazu.
Und dass von den jährlich 800 Millionen verordneten Medikamentenpackungen nach Durchsicht des Beipackzettels
schätzungsweise 20 Prozent unangebrochen bleiben, mithin Arzneimittel für vier
Milliarden Mark im Müll landen, ist aus
Sicht der Profis nur von Segen für die Allgemeinbevölkerung: „Ich wundere mich
manchmal, wie gesund unsere Patienten
sein müssen, dass sie all die Medikamente
Landarzt (auf der Insel Hiddensee)
Jeder Handgriff wird in Rechnung gestellt
gestellt hat, schließlich ist zwar das Preisregulativ außer Kraft gesetzt, nicht aber
der Erwerbstrieb der „Leistungserbringer“.
Was liegt näher, als einer Schwangeren
außer regelmäßigem Ultraschall auch eine Fruchtwasserentnahme zu empfehlen?
„Z. A.“ (zum Ausschluss von) oder „V. a.“
(Verdacht auf), diese Kürzel auf der Krankenakte rechtfertigen heutzutage fast jeden
Aufwand: von der ausführlichen Laboruntersuchung über EKG und EEG bis
hin zur wöchentlichen Röntgenkontrolle
und, bei besonders empfindsamen Seelen,
auch zu psychotherapeutischen Sitzungen
oder homöopathischer Schüttelmedizin.
„Z. A.“ können natürlich noch diverse
Fachkollegen herangezogen werden, der
Internist, der Kardiologe, der Hals-NasenOhren-Spezialist, die sich dann gern revanchieren. Solche Ringüberweisungen
sind zwar verboten, in der Regel aber
kaum zu erkennen, es sei denn, man stellt
sich so dreist an wie jüngst ein Berliner
Allgemeinmediziner, der mit zwei Kollegen
der Einfachheit halber nur die Überweisungsformulare tauschte, Diagnose inklusive. Gerichtsnotorisch wurde dieses Verfahren, als der Doktor einen bevorstehen37
Titel
dienten, waren den Medizinern prompt zu
vergüten.
Die finanziellen Folgen der nun einsetzenden Dauerkonjunktur des Medizinbetriebs ließen nicht lange auf sich warten.
Beliefen sich die Ausgaben der Krankenkassen 1960 noch auf vergleichsweise bescheidene 9 Milliarden Mark, schnellten
sie bis Mitte der Siebziger auf 61 Milliarden
Mark steil in die Höhe.
Und nicht nur die Zahl der Medizinstudenten begann rapide zu steigen, was angesichts der verlockenden Aussicht auf
einen Job, der die Vorzüge einer freiberuf-
Derjenige hingegen, der die Differenzialdiagnostik beherrscht, Krankheitsbilder
also genau zu deuten und damit auch zu
behandeln weiß, minimiert durch Effizienz
automatisch sein Einkommen. Ein Prinzip,
an dem sich bis heute nichts geändert hat.
Und weil die Einzelleistungsvergütung
das klärende Wort oder die klassische Abklopfmethode weitaus schlechter stellt als
den Befund mittels Elektrokardiogramm,
Sonographie oder Röntgengerät, gleichen
heute selbst mittelprächtige Landarztpraxen ausgewachsenen Hochtechnologiezentren. Von allen Zulieferindustrien des
Medizinbetriebs verzeichnet keine
so heftige Umsatzsprünge wie das
Die falsche Therapie
Spezialgewerbe der Großgeräte287 032
hersteller.
Allein zwischen 1988 und 1992
Viele Ärzte bewirken . . .
stiegen die erstattungspflichtigen
Zahl der berufstätigen
Ausgaben für Sonographie um 85,
Ärzte in Deutschland
die für Kernspintomographie um
sage und schreibe 434 Prozent – die
1990
1992
1994
1996
1998
teuren Apparate müssen schließlich
237 750
ausgelastet werden.
Da trifft es sich gut, dass mit
. . . noch kein langes Leben
neuen Geräten und DiagnosetechLebenserwartung
Ärzte auf je 10 000 Einwohner Männer Frauen
niken auch neue Volkskrankheiten
auftauchen, die Osteoporose etwa,
Spanien
41,0 74,6 82,0
auch Knochenschwund genannt.
Deutschland
34,1
74,1 80,3
Insgesamt 30 Millionen Mark geChefarzt-Visite im Krankenhaus (in Hannover)
ben die Kassen pro Jahr für die
Wie eine Lizenz zum Gelddrucken
Frankreich
29,2
74,6 82,3
Knochendichtemessung aus, ein
aufwendiges, nur leider ziemlich
Krankenhausmanagement auf die Füße treNiederlande
25,6
75,2 80,6
nutzloses Verfahren. Da es bisher
ten, wenn er sich doch jederzeit bei den
keine wirksame Therapie gibt, werBeitragszahlern schadlos halten kann? Und
USA
23,1
72,7 79,4
den die meisten Patienten mit der
welches Interesse sollte ein Patient haben,
Japan 16,5
77,2 83,8
Aufforderung nach Hause geseine Versicherung zu schonen, wenn für
Quelle: Bundesschickt, künftig drei Gläser Milch
all seine Ansprüche stets die Allgemeinärztekammer,
Großbritannien 15,1 OECD
74,3 79,4
zu trinken.
heit geradestehen muss?
Mitunter steckt der Grund für
Den Grundstein für das heutige Gedie unvermutete Zunahme Besorgsundheitssystem legte der Deutsche Reichstag im Juni 1883 mit seinem „Gesetz be- lichen Tätigkeit mit denen einer quasi be- nis erregender Massenbefunde, ganz protreffend die Krankenversicherung“, der er- amtenrechtlichen kombiniert, noch leicht fan, im Einheitlichen Bewertungsmaßstab
sten Sozialreform, die Reichskanzler Otto einsehbar war. Auch das Einzelhonorar (EBM), der Abrechnungsbibel der Medizivon Bismarck auf den Weg brachte. Ge- verdreifachte sich binnen eines Jahrzehnts ner. So hat sich die Zahl der Frauen, bei dedacht war zunächst an eine Grundabsi- von 66 526 Mark (1965) auf 213 104 Mark nen eine Risikoschwangerschaft diagnosticherung gegen schwere Krankheiten und (1975); nimmt man die Kosten hinzu, die ziert wurde, in Deutschland deutlich erBeschwernisse, entsprechend moderat wa- jeder Doktor durch Verschreibungen, La- höht – und zwar just seit dem Tag, an dem
ren die Beiträge. Knapp drei Prozent des borstudien oder die Konsultation von im Honorarschlüssel eine entsprechende
Bruttolohns mussten die Versicherten in Kollegen verursacht, liegen die jährlichen Abrechnungsziffer auftauchte.
Auf Betreiben der Fachärzte wurde jene
die neu gegründeten Ortskrankenkassen Ausgaben pro Kassenarzt heute bei durchZiffer, die für eine Kniespiegelung gilt,
einzahlen, ein Drittel der Kosten trugen schnittlich einer Million Mark.
die Arbeitgeber.
Als besonders verhängnisvoll erwies sich per EBM besser gestellt – Zunahme der
Schnell wuchs der Kreis der Versicher- dabei im Rückblick die 1955 auf Druck der Arthroskopie binnen eines Jahres: 84 Proten, nach den Arbeitern wurden auch An- Ärzteschaft ebenfalls eingeführte Einzel- zent. Und dass selbst eher handwerklich
gestellte zugelassen, dann alle Familienan- leistungsvergütung. Hatten die Ärzte bis orientierte Berufsstände wie die Orthopägehörigen, und mit zunehmender Mitglie- dato pro Patient und Quartal gegen Vorla- den neuerdings gehäuft eine gründliche
derzahl stiegen die Kassen zu mächtigen ge des Krankenscheins eine Pauschale be- Aussprache in Rechnung stellen, lässt sich
Organisationen auf, denen die Ärzte zu- kommen, einen Fixbetrag, der alle Be- nach Ansicht der Experten nur so erklären,
nächst keine wirklich starke Lobby entge- handlungsschritte abgalt, konnten sie nun dass auch die Vergütung der so genannten
genzusetzen hatten.
jeden einzelnen Handgriff in Rechnung sprechenden Ziffern angehoben wurde.
So schafft sich das Angebot seine eigene
Stolz verkündete die Kassenärztliche stellen. Die Approbation glich damit einer
Nachfrage, „ökonomische Indikation“ nenVereinigung ihre Gründung im Jahre 1933, Lizenz zum Gelddrucken.
doch erst 1955 gelang der Ärzte-GenosNur langsam dämmerte den politisch nen die Fachleute diese Form der Heilsenschaft mit dem so genannten Sicher- Verantwortlichen, welche absurden Effek- kunst, und nicht einmal Ärzte behaupten,
stellungsauftrag der entscheidende Durch- te gerade diese Neuregelung zeitigte. So das alles zum Wohle des Patienten gebruch: Alle Leistungen, die der „bedarfs- verdient der Doktor am meisten, der sei- schähe. Befragt, welcher der von ihnen so
gerechten Versorgung“ der Bevölkerung nen Patienten förmlich auf den Kopf stellt. eifrig angepriesenen Therapien sie sich selH. CHRISTOPH / DAS FOTOARCHIV
den Praxisumzug versehentlich per Computerbrief auch dem Teil seiner Kunden
annoncierte, der seine Praxis nie von innen
gesehen hatte.
Das Risiko, bei der „Optimierung“ seiner Abrechnung aufzufliegen, wie die
Manipulation in der Fachsprache heißt, ist
gering, denn es gibt keine wirksamen Sanktionen. Was kümmert einen Klinikdirektor, dass im Schnitt 20 Prozent seiner Betten fehlbelegt sind, wenn seine Finanziers,
die Krankenkassen, per Gesetz zur Übernahme aller Kosten verpflichtet sind? Warum wiederum soll ein Kassenchef dem
38
d e r
s p i e g e l
4 4 / 1 9 9 9
Werbeseite
Werbeseite
Titel
„Radikale Normalisierung“
Wie sich Krankenhäuser auf den beginnenden Wettbewerb um Patienten einstellen.
40
C. AUGUSTIN / ACTION PRESS
R
outineeingriffe im Krankenhaus
von heute: Herzschrittmacher werden implantiert, künstliche Hüftgelenke eingesetzt, Kopfschmerzen per
Computertomograf untersucht.
In Kliniken geht es inzwischen wie in
Hightech-Zentren zu, die Methoden zur
Diagnose und Therapie werden immer
aufwendiger. Je mehr Medizintechnik im
Einsatz ist, desto steiler steigt die Nachfrage nach ihr. Denn automatisch wächst
die Zahl der Nebenbefunde, die aufgeklärt sein wollen – wer einmal anfängt zu
untersuchen, der findet auch etwas.
Kein Wunder, dass die Behandlung im
Krankenhaus der bei weitem größte Posten in der Bilanz der gesetzlichen Krankenversicherung ist. Die Ausgaben haben
sich seit 1980 von 25,5 Milliarden auf 85,1
Milliarden Mark mehr als verdreifacht.
Mit 66 Betten pro 10 000 Einwohner
verfügen Deutschlands Kliniken über so
viel Kapazität wie fast nirgendwo sonst
auf der Welt. Jedes Jahr erhöhten sie ihre
Etats und hoben die Pflegesätze an
gemäß dem Gesetz, das der amerikanische Gesundheitsökonom Milton Roemer schon 1959 aufgestellt hat: „A built
bed is a filled bed and a billed bed“ („Ein
gebautes Bett ist ein belegtes Bett und ein
abgerechnetes Bett“).
Bislang zahlten die Kassen anstandslos
jeden Preis für den Fortschritt. Seit etwa
einem Jahrhundert hätten Krankenhäuser im Grunde immer unter den gleichen
Verhältnissen gearbeitet, sagt Heinz Lohmann, Vorstandssprecher des Landesbetriebs Krankenhäuser (LBK) in Hamburg:
„wie in einem Naturschutzpark“.
Nun aber beobachtet Lohmann, wie
in der Branche eine „radikale Normalisierung“ beginnt: Krankenhäuser konkurrieren um Patienten, weil nicht mehr
alles, was medizinisch machbar ist, auch
finanzierbar sei. Wie andere ehemals
staatsnahe Bereiche, Telekommunikation oder Energieversorgung, breche nun
der Krankenhaussektor auf in eine zunächst reglementierte Marktwirtschaft,
glaubt Lohmann: „Es wird einen Ausleseprozess geben.“
Bis 2010, schätzt der Manager, werden
20 bis 30 Prozent der Kliniken in
Deutschland nicht mehr existieren: „Kein
Mensch kann das alte System bewahren.“
Vor gut vier Jahren hat Lohmann begonnen, sein Unternehmen – mit über
13 000 Beschäftigten, die 400 000 Patienten im Jahr versorgen, größter Arbeitgeber Hamburgs und größter Gesundheits-
Gesundheitsmanager Lohmann
Teurer, nicht besser
Kosten bei Herzkranken in Mark
Herztransplantation
Operation: 109 173 Mark,
Medikamente/Untersuchungen: 43 962 Mark
jährlich
548 793
Konservative
Behandlung
Kleinere operative Eingriffe, Medikamente,
Untersuchungen
153 135
165 500
16 550
Quelle: UKE, Hamburg
1
2
3
4
5
6
7
8
9 10 Jahre
betrieb bundesweit – auf Wettbewerb zu
trimmen. Damals standen 100 Millionen
Mark Verlust in den Büchern der LBK.
Die Kassen hielten sich erstmals strikt
an die Budgetierung, die der damalige
Gesundheitsminister Horst Seehofer eingeführt hatte. Das Budget des LBK war
um neun Prozent gekürzt worden, dessen Ausgaben aber waren um sechs Prozent gestiegen. Lohmann setzte einen
schmerzhaften Prozess in Gang. 2000 Arbeitsplätze wurden abgebaut, zwei Kliniken fusionierten, eine wurde geschlossen. In der Folge schrumpfte das Defizit,
im kommenden Jahr soll der Haushalt
wieder ausgeglichen sein.
Helfen bei der Schrumpfkur wird ein
neues Abrechnungssystem. Mit „Diagnostic Related Groups“ (DRG) will Lohmann
herausfinden, wie wettbewerbsfähig jede einzelne Dienstleistung seiner Krankenhäuser ist. Dazu werden alle
Leistungen in 641 einzelne Diagnose-FallGruppen unterteilt und Durchschnittswerte der Behandlung ermittelt. Sie
kennzeichnen unter anderem die durchgeführte Operation oder das Alter und
Geschlecht des Patienten.
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4 4 / 1 9 9 9
Damit wird es möglich, den Aufwand
für jeden einzelnen Fall zu bestimmen, er
wird ins Verhältnis gesetzt mit dem Aufwand für einen Durchschnittspatienten,
der den Wert „1,00“ zugeordnet bekommt. Bei dem New Yorker Hospital,
das als Vorbild diente, wird zum Beispiel
eine Blinddarmoperation mit 0,81 bewertet, während die langwierige Leukämie-Behandlung 11,7 Punkten entspricht.
Nun kann Lohmann verfolgen, wie
weit jedes seiner acht Krankenhäuser von
diesen Werten abweicht und damit ihre
Leistung vergleichen. „Wir haben damit
ein Benchmark-System im eigenen Unternehmen“, sagt Lohmann.
Die meisten Kliniken in Deutschland
sind noch nicht so weit. Die stationären
Behandlungen werden nach wie vor
überwiegend über Pflegesätze abgerechnet, die sich nach den anfallenden Kosten
orientieren, nicht nach der Leistung. Damit verpuffte bislang der von Seehofer
erhoffte Spareffekt durch so genannte
Fallpauschalen und Sonderentgelte.
Wenn ein Krankenhaus hier Verluste erzielt, kann es sie wieder ausgleichen: Es
muss nur den Pflegesatz anheben.
Lohmann schwebt daher vor, das
DRG-Verfahren nicht nur im Hamburger
Landesbetrieb, sondern bundesweit zum
Einsatz zu bringen. Bei Gesundheitsministerin Andrea Fischer habe diese Umstellung höchste Priorität, sagt er. So könne man herausfinden, wie wirtschaftlich
jedes Krankenhaus arbeitet.
Dann werden wohl überraschende Ergebnisse ans Tageslicht kommen. Herzchirurgen des Universitätskrankenhauses
Eppendorf in Hamburg (UKE) haben
kürzlich ihre Erfahrungen mit unterschiedlichen Behandlungsmethoden der
Patienten ausgewertet, die seit 1983 zur
Herztransplantation vorgestellt wurden
und nicht einen sofortigen Eingriff
benötigten, um zu überleben. Ergebnis:
UKE-Patienten, die konservativ, also mit
Medikamenten oder konventionellen
chirurgischen Maßnahmen behandelt
wurden, hatten eine vergleichbare Lebenserwartung wie Patienten, denen ein
neues Herz transplantiert wurde. Die
Prognose für die nur mit Medikamenten
behandelten Patienten sei „tendenziell
sogar besser“.
Der Unterschied zwischen beiden Methoden: Nach zehn Jahren kostet die Medikamenten-Behandlung 165 500 Mark,
die Transplantation dagegen 548 793
Mark – das sind 232 Prozent mehr.
Globale Konzerne
Pharma-Umsatz 1998 in Milliarden Dollar
15,5
1.
Merck & Co.
2.
Glaxo Wellcome
13,3
3.
Astra Zeneca
12,8
4.
Pfizer
11,8
5.
Bristol Meyers Squibb
11,4
6.
Novartis
11,1
7.
Roche
9,9
12.
Hoechst
16.
Bayer
7,8
4,8
S. ELLERINGMANN / BILDERBERG
Wirkstoffe enthalten, dafür
aber den Vorteil haben, als
Originalpräparate aus der so
genannten Festpreisbindung
entlassen zu sein.
Ganze Bataillone von Pharmareferenten sind damit beschäftigt, dem Absatz vor Ort
aufzuhelfen, und nicht immer
belassen es die Außendienstler bei guten Worten. Mal
werden den Medizinern ReiMedizinische Forschung*: Kostenschub durch Fortschritt sen spendiert, wenn sie ein
neues Produkt an den Patienüber 7000 Einzelbestimmungen verab- ten bringen, mal locken Prämien für so geschiedet, darunter so wohlklingende wie nannte Qualitätsstudien.
Und schon haben die Ärzte ein neues
das „Gerechtigkeitsfestigungsgesetz“ oder,
zuletzt im Dezember vergangenen Jahres, Betätigungsfeld ausgemacht, das Kompendas „Gesetz zur Stärkung der Solidarität in sation für entgangene Gewinne verspricht:
die von Ministerin Fischer als besonders
der gesetzlichen Krankenversicherung“.
Doch so schnell sich das Gesetzesrad förderungswürdig erkannte Vorsorgeunterauch drehte, das Beharrungsvermögen des suchung. „Lichtblick: freie Fahrt für PrävenSystems war stärker. Entweder wurden die tion“, verkündet die deutsche „Medical
ministeriellen Anordnungen trickreich um- Tribune“ frohgemut und listet sogleich all
die „Check-ups“ auf, die von den Kassen
gangen – oder einfach ignoriert.
So erwies sich die von Seehofer erlasse- „außerhalb der gedeckelten Gesamtvergüne Großgeräteverordnung als reine „Luft- tung zu bezahlen sind“: „Krebsvorsorge,
nummer“, wie der Initiator freimütig ein- Schwangerschaftsvorsorge, alle Kindervorräumt. Keinerlei Wirkung zeigte die Andro- sorgen sowie die Schutzimpfungen“.
Ohnehin weist jede Ausgabenbegrenhung eines empfindlichen Regresses für
Ärzte, die zu viele Rezepte ausstellen; An- zung einen grundsätzlichen Mangel auf:
fang des Jahres sah sich Andrea Fischer zu So führt das Budget zwar zunächst dazu,
einer Generalamnestie genötigt. Und als dass sich die Betroffenen nur noch unterdie Krankenkassendirektoren für eklatan- einander um einen möglichst großen Teil
tes Missmanagement per Gesetz in Haf- vom Kuchen balgen; es tritt eine Art
tung genommen werden sollten, schlossen Hamsterradeffekt ein, wie er derzeit bedie auf Kosten der Versicherten einfach sonders gut bei den niedergelassenen Ärzten zu beobachten ist. Da jede Mehrarbeit
entsprechende Zusatzversicherungen ab.
Auch die Pharmaindustrie hat längst ge- die Menge der zu vergütenden Leistungen
lernt, flexibel auf staatliche Preisregulatio- vergrößert, die auszuschüttende Gesamtnen zu reagieren: Da werden kurzerhand summe aber stabil ist, sinkt der Punktwert
die Packungsgrößen geändert oder neue des einzelnen Handgriffs immer weiter
Arzneimittel auf den Markt gebracht, die ab, und dies umso stärker, je mehr sich
lediglich Variationen längst bekannter die Ärzte bemühen, den Einnahmeverlust
durch weitere Arbeit aufzuPharmafabrik (in Leverkusen): Milliarden für den Müll
fangen.
Gerade dieser Verteilungskampf aber, der ja der eigentliche Grund für die heftigen Proteste der Ärzteschaft ist, hat auch für das
Gesamtsystem höchst unangenehme Folgen. So veranlasst der anhaltende Preisverfall die Ärzte nicht nur,
möglichst viele Patienten unter Einsatz von möglichst viel
Technik durch ihre Praxen zu
schleusen – eine von allen
Gesundheitspolitikern zu
Recht beklagte Form der Rationalisierung, die der Qualität der Gesundheitsversorgung nachweisbar schadet.
Die Sprechstunde nach
Stoppuhr treibt auch das
DPA
ber unterziehen würden, waren die Doktoren deutlich reserviert. Bei einer gutartigen Prostatawucherung zum Beispiel
würden lediglich knapp 40 Prozent der Mediziner das Gewebe bei sich selbst entfernen lassen, normale Patienten hingegen
werden zu über 80 Prozent operiert.
Begünstigt wird die Vielgeschäftigkeit
(„Polypragmasie“) durch den Umstand,
dass jede langfristige Beobachtung und Bewertung neuartiger Behandlungsmethoden
fehlt. Für einen Großteil der gängigen Therapieverfahren existiert bis heute kein
Nachweis ihrer Wirksamkeit.
Seit Jahren schlagen Experten deshalb
vor, Leitlinien zu entwickeln, die ein sachgerechtes und stufenweises Vorgehen vorschreiben. Doch bislang sind all diese
Vorschläge am Verweis auf die „Therapiefreiheit“ gescheitert, auch wenn entsprechende Modelle wie etwa in der
Schweiz zeigen, dass sich bei einer solchen
Leitlinien-Medizin die Qualität der Behandlung eindeutig verbessert.
All dies haben die politisch Verantwortlichen natürlich erkannt, und so ist die Geschichte der Kostenexplosion im Gesundheitswesen auch eine Geschichte der
Kostendämpfung. Seit der seinerzeit zuständige SPD-Sozialminister Herbert Ehrenberg 1977 dieses Wort erfand, hat der
Deutsche Bundestag rund 50 Gesetze und
* Bioreaktor zur Erforschung der
künstlichen Leber.
41
Werbeseite
Werbeseite
Titel
Kostentreiber Kasse: Insgesamt geben die 582 Krankenversicherungen 13 Milliarden Mark jährlich für die Verwaltung aus
Kaufmännische Krankenkasse KKH
Deutsche Angestellten-Krankenkasse
Barmer Ersatzkasse
Innungskrankenkasse Hamburg
Betriebskrankenkasse der Stadt Hamburg
FOTOS: D. KRUSE
Techniker Krankenkasse
Arzneimittelbudget in die Höhe. Je weniger Zeit ein Arzt nämlich seinem Patienten
widmen kann, desto eher ist er geneigt,
den Rezeptblock zu zücken. Die Verschreibung dient ihm gewissermaßen als
Leistungsnachweis, mit einem dann nur
schwer korrigierbaren Gewöhnungseffekt
beim Kunden.
Statt Anreize zu setzen, sich kostenbewusst zu verhalten, verstärken Budgets
also nur die Verschwendungssucht. Und
weil kein Gesundheitsminister den Versicherten einen Verzicht auf neue Heilmethoden zumuten kann, sah sich noch jeder
Amtsinhaber nach kurzer Zeit gezwungen,
Geld nachzuschießen und neue Ausgabentöpfe zu eröffnen – „Ausdeckelung“
heißt dafür das Fachwort.
So zweifelhaft die bisherigen Bemühungen der Politik sind, das malade System
mit immer neuen Vorschriften, Gesetzen
und Verordnungen stabilisieren zu wollen,
so unbestritten ist auch die Pflicht des Gesetzgebers, endlich vorausschauend und
entschieden zu handeln.
Es sind vor allem zwei Entwicklungen,
die eine grundlegende Neuorientierung in
der Gesundheitspolitik erzwingen werden,
wenn die Beiträge zur Krankenversicherung nicht schon bald auf 20 oder gar 25
Prozent des Bruttolohns steigen sollen: der
demografische Wandel, also die Tatsache,
dass den Jungen immer mehr Alte gegenüberstehen, und der medizinisch-technische Fortschritt.
Welche zusätzlichen Belastungen gerade
die Überalterung der Gesellschaft für die
gesetzliche Krankenversicherung bringen
wird, hat der Trierer Wirtschaftsprofessor
Eckhard Knappe im Detail erforscht. So
wird die Zahl der 20- bis 60-Jährigen bis
zum Jahr 2040 voraussichtlich von heute
46,7 Millionen auf 36,2 Millionen sinken,
die Zahl der Rentner aber, die im Schnitt
nur den halben Beitragssatz eines Aktiven
entrichten, auf Grund stetig steigender Lebenserwartung um gut 5 Millionen zunehmen. Ein Doppeleffekt, der das ohnehin
angeschlagene System dann vollends aus
der Balance bringt.
Verschärft wird diese Krise noch, weil
ältere Menschen nicht nur weniger einzahlen als jüngere, sondern auch weitaus
höhere Kosten verursachen. Aller Erfahrung nach nimmt der Bedarf an medizinischer Betreuung ab dem 40. Lebensjahr
kontinuierlich zu, vor allem die Neigung
zu chronischen und damit behandlungsintensiven Leiden steigt mit dem Alter. Ein
80-Jähriger verbraucht im Jahr Gesund-
heitsleistungen im Wert von rund 7000
Mark, mithin sechsmal so viel wie ein Jugendlicher.
Die Behandlungskosten der Rentner
erhöhen sich zudem laufend, weil die medizinische Eingriffsschwelle stetig sinkt.
Heute werden auch Gebrechen und Abnutzungen, die noch vor einer Generation
als lästige, aber eben unvermeidliche Begleiterscheinungen des Alters galten, aufwendig diagnostiziert und therapiert –
selbst wenn eine Heilung kaum in Aussicht
steht. Versicherungstechnisch gesehen ist
das Alter, ebenso wie Schwangerschaft und
Geburt, keine natürliche Lebensphase
mehr, sondern eine Krankheit.
Die Publizistin und Ärztin Heidi Schüller hat am Beispiel ihres Vaters eindrucksvoll gezeigt, wie aus einem etwas altersschwachen, aber doch rüstigen Rentner bei
genauer Begutachtung ein Todkranker wird. Das gelegentliche
IWGKnacken in den Gelenken – klares
Prognose 17,5
Preis der
Zeichen von „Arthrose“; der nächt2030
Gesundheit
liche Harndrang – „Prostataadenom mit Miktionsstörung“; der
Durchschnittliche Beitragssätze zur
Hang zu längeren VerschnaufGesetzlichen Krankenversicherung
pausen – eindeutiges Indiz für
in Prozent des Bruttolohns,
„Herzinsuffizienz“ und „Belas13,5
Arbeitgeber- und
tungsdyspnoe“.
Arbeitnehmeranteil
12,8
Welchen zusätzlichen KostenOstdeutschland
schub der medizinische Fortschritt
13,9
11,4
auslösen wird, das ist unter den Forschern noch umstritten. Nur dass
ein wirksames Aids-Medikament
oder eine neue Krebstherapie die
Versicherungen auf einen Schlag
8,2
mit einem zweistelligen Milliardenbetrag belasten und damit je1970
1980
1990
1999
des Budget sprengen werden, das
d e r
s p i e g e l
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43
Titel
S. ELLERINGMANN / BILDERBERG
Auch für den Krankenhausbetrieb raten Gesundheitsökonomen zu einer Umstellung der
Honorarstruktur. Statt wie bislang nur gut 20 Prozent der Eingriffe über Pauschalen abzurechnen, sollten künftig, so ihr
Vorschlag, alle im Zusammenhang mit einer Operation anfallenden Leistungen gebündelt
und mit einem Gesamthonorar
vergütet werden. Vorzug dieser
Lösung: Erstmals wäre die Kostenstruktur transparent und
leicht vergleichbar; die Ärzte
wären gehalten, effizienter und
vor allem sauberer zu arbeiten.
Bislang nämlich bedeutet auch
jede Komplikation für das Hospital einen geldwerten Vorteil.
Vor allem aber muss die Politik mehr Wettbewerb zulassen,
also dafür sorgen, dass die Krankenkassen
endlich in der Lage sind, ihrem gesetzlichen Auftrag nachzukommen, die ihnen
anvertrauten Gelder „ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich“ einzusetzen.
Warum beispielsweise, so fragen sich die
Wissenschaftler, wird dem einzelnen Versicherungsunternehmen nicht endlich das
Recht zuerkannt, dem Kunden eine Liste
ausgewählter Ärzte an die Hand zu geben,
mit denen zuvor Sonderverträge geschlossen wurden? Die Idee dabei ist simpel: Die
Vertragsärzte verpflichten sich auf die Einhaltung bestimmter Standards und erklären sich zudem bereit, alle Abrechnungen laufend kontrollieren zu lassen; der
Patient wird an den eingesparten Kosten
über einen Bonus beteiligt.
Solch ein „Einkaufsmodell“ lässt sich
selbstverständlich auf die Klinikwirtschaft
übertragen und würde dort, davon sind die
Fachleute überzeugt, ebenfalls segensreich
wirken. Bislang nämlich müssen die Krankenkassen alle Verträge „gemeinsam und
einheitlich“ abschließen, eine Regelung,
die dazu führt, dass es auch auf das Votum
der Kassen ankommt, denen zum Beispiel
der gewerkschaftliche Organisationsgrad
einer Klinik bedeutsamer erscheint als
effizientes Management.
Und dass gerade bei der Wirtschaftlichkeit gewaltige Unterschiede zwischen den
einzelnen Krankenhäusern bestehen, können die agileren unter den Krankenkassen, die Innungen oder die Techniker, anhand eines mittlerweile ziemlich ausgefeilten Controllings gut erkennen – nur
genützt hat ihnen diese Erkenntnis bislang
wenig. Im Zweifel kann der Klinikdirektor
immer auf ein paar Freunde auf der Gegenseite setzen, die er aus dem Sportclub
oder dem örtlichen Parteiverein kennt.
Wie paradox mitunter die politischen
Vorgaben sind, zeigt auch der so genannte
Risikostrukturausgleich. Gedacht war dieses Finanzinstrument zunächst, um die unterschiedlichen Kosten der Kassen auf
Entspannungstherapie: Das Angebot schafft sich eine eigene Nachfrage
ist heute schon sicher. Und wenn, wie Ex- erwünschten Nebenwirkungen auf dem
perten vermuten, demnächst genetisch ver- Arbeitsmarkt zu minimieren.
Als Nächstes wäre zu fragen, welche
änderte Schweineherzen in den Menschen
eingesetzt werden können, ohne Ab- Steuerungsinstrumente geeignet sind, für
stoßungsreaktionen hervorzurufen, dann einen besseren Einsatz der Mittel zu sorgibt es in Deutschland nicht 500, sondern gen. Denn solange die Politik keine Anreipro Jahr 10 000 Herztransplantationen, ze setzt, wird sich auch an der irrwitzigen
Überproduktion nichts ändern.
Kosten pro Fall derzeit 500 000 Mark.
Zu prüfen ist beispielsweise, ob anstelle
Keine Frage also: Eine Reformdebatte
ist überfällig – über den gezielteren Ein- der Punktwerttabellen nicht künftig wieder
satz der Mittel und effizientere Kontrol- eine Art Fallpauschale gelten sollte, wie
len, über das richtige Verhältnis markt- sie vor Einführung der Einzelleistungsverwirtschaftlicher Elemente und staatlicher gütung existierte, ein Vorschlag, den der
Regularien, über eine moderne Gesund- ehemalige Berliner Ärztekammerpräsident
Ellis Huber mehrfach gemacht hat. Für die
heitspolitik also.
Womöglich wird auf Anhieb nicht der Mediziner hätte diese Regelung den Vorgroße Wurf gelingen, vielleicht werden teil, dass sie verlässlich kalkulieren könnPolitiker, Bürger und all die am Gesund- ten und nicht erst nach Monaten wissen,
heitswesen Beteiligten einen mühsamen, wie viel sie verdient haben. Und endlich
manchmal auch frustrierenden Weg der entfiele der Anreiz, aus der Sprechstunde
kleinen Schritte gehen. Reformvorschläge ein Geschäft mit der Krankheit zu machen.
jedenfalls gibt es zuhauf, sie müssen
nur endlich aus den ExpertenzirDie häufigsten Erkrankungen
keln und Fachdebatten den Weg
Arbeitsunfähigkeit nach Krankheitsarten
vors große Publikum finden.
1998 in Prozent
So wäre zunächst darüber zu reA U SFA L LTAG E
den, wie viel den Deutschen ihre
ERKRANKUNG
Gesundheit künftig wert ist. Soll
14,3
auch weiterhin das Prinzip der BeiAtemwege
24,7
tragssatzstabilität gelten, was eine
Rationierung besonders teurer
Leistungen auf Dauer wohl unum26,8
gänglich macht? Oder sind die BürMuskel/
19,1
Gelenk/
ger nicht vielleicht sogar bereit,
Knochen
mehr Geld für ein Gut zu investie7,4
ren, das Umfragen zufolge selbst
Verdauung 12,8
vor „Sicherheit“ und „Wohlstand“
15,6
rangiert – vorausgesetzt, sie gewinVerletzung/
nen den Eindruck, dass mit ihren
Unfall 12,4
8,0
Beiträgen auch vernünftig gewirtHerz/Kreislauf
5,0
5,3
schaftet wird?
Psyche
2,8
Und wenn dem so ist, muss man
dann nicht endlich zur Kenntnis
22,6
Sonstige 23,2
nehmen, was die Fachleute seit Jahren fordern: nämlich den Beitrag
zur Krankenversicherung vom
Quelle: Wissenschaftliches Institut der Ortskrankenkassen
Lohn zu entkoppeln, um so die un44
d e r
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Werbeseite
Werbeseite
Titel
DPA
Grund ihrer Mitgliederstruktur auszuglei- genbeteiligungen oder den so genannten chend günstiger. Es ist ja ohnehin ein weit
chen. Die reichere Kasse, die viele junge Selbstbehalt, wie ihn die privaten Versi- verbreiteter Irrglaube, dass sich VersicheVersicherte hat („gute Risiken“), muss der cherungen seit Jahren erfolgreich anbie- rungssysteme für den Kunden immer lohärmeren, zu deren Patientenstamm über- ten: Bis zu 1000 Mark an Arztkosten trägt nen. Die Ökonomen unterscheiden zwidurchschnittlich viele Alte und Kinderrei- der Patient selbst, gegen entsprechend schen unvorhergesehenen Risiken, gegen
che zählen („schlechte Risiken“), finan- günstigere Prämien, erst dann zahlt die die ein Versicherungsschutz dringend geboten ist, und so genannten planbaren
ziell beistehen.
Versicherung.
In der Praxis ist der Strukturfonds zu
Gerade die rot-grüne Regierung hat es Operationen, also Kosten, die in jedem Fall
einer Umverteilungsmaschine ausgeartet sich zum Ziel gesetzt, die Selbstbestim- auf einen zukommen und damit überund bestraft die Sparsamen. Wer clever mungsrechte des Patienten zu stärken. schaubar sind. Der Zahnersatz ist eine solwirtschaftet, indem er beispielsweise die Warum die Autonomierechte nicht erwei- che planbare Operation, und weil auch die
Verwaltungskosten senkt oder ein moder- tern, den mündigen Bürger also auch die Assekuranzen wissen, dass der Schadensnes Vertragscontrolling aufbaut, muss mitt- Entscheidung treffen lassen, welchen Kran- fall mit nahezu hundertprozentiger Silerweile einen Großteil seiner Überschüs- kenversicherungstyp er für angemessen cherheit eintritt, müssen die Beiträge die
erwartete Schadenssumme abdecken, zuse abführen.
hält?
Und auch die Gesundheitspolitiker beWie ein solches Stufenmodell aussehen züglich Verwaltungsgebühr. Woraus folgt:
trachten den Finanzausgleich als einen könnte, hat der Sachverständigenrat für Wer beizeiten das Geld zurücklegt, fährt finanziell gesehen auf keinen
großen Verschiebebahnhof.
Fall schlechter, meist sogar
So will Gesundheitsministedeutlich besser.
rin Fischer nun die Not leiSelbstbeteiligungssysteme
denden Ost-AOK mit zusind bei jenen Bürgern, desätzlich 1,3 Milliarden Mark
nen sie bislang offeriert wuralimentieren lassen – ein
den, durchaus beliebt: Von
Koppelgeschäft, das ihr die
den neuen Kunden der priZustimmung der Ostländer
vaten Krankenversicherung
im Bundesrat sichern soll.
schließen über 90 Prozent
Am Ende freilich werden
einen entsprechenden Verdie politisch Verantwortlitrag ab – und das, obwohl
chen nicht umhinkommen,
der Arbeitnehmer, der einen
auch die Patienten in die
Teil des Kostenrisikos selbst
Pflicht zu nehmen. Gerade
trägt, einen geringeren Kranweil die Segnungen der
kenkassenzuschuss vom ArSpitzenmedizin weiterhin jebeitgeber erhält.
dermann zur Verfügung steUnd auch mit dem Stuhen sollen, bedarf es einer Säuglinge auf der Entbindungsstation*: Besonders förderungswürdig
fenmodell haben die PrivatUnterscheidung zwischen
dem, was die Bürger selbst tragen können, die konzertierte Aktion im Gesundheits- versicherungen gute Erfahrungen gemacht.
und dem, was nur solidarisch zu finanzie- wesen anschaulich beschrieben. Die Basis Viele wählen bei entsprechendem Angeren ist.
ist demnach eine Pflichtversicherung, die bot den so genannten Elementartarif. Sie
Keine Frage, dass diese Grenze gerade der gesamten Bevölkerung auferlegt, sich sparen dabei 30 Prozent des normalen Beiim Gesundheitswesen besonders schwie- gegen alle ernsthaften Erkrankungen ab- tragssatzes und verzichten dafür auf gänrig zu ziehen ist. In keinem Markt fällt es zusichern, die den Schutz einer Solidar- gige Versicherungsleistungen wie Psychotherapie, Brille oder die Behandlung bei eiden Verbrauchern naturgemäß so schwer, kasse unabdingbar machen.
die Notwendigkeit empfohlener LeistunHinzu kämen mehrere Aufbaustufen, nem Heilpraktiker.
Gerade weil die Medizin am Beginn eigen zu bewerten. Selbst den strengen Be- mit Zusatzleistungen wie Kuren oder Masfürwortern des Wettbewerbs ist klar, dass sagen, die zudem die Möglichkeit einer ner Entwicklung steht, die ganz neue Techzwischen Praxis und Autowerkstatt ein ge- kleineren oder größeren Selbstbeteiligung niken und Heilungsmöglichkeiten eröffnet,
waltiger Unterschied besteht, dass man bieten und gesunde Lebensführung hono- braucht das Land eine neue Gesundheitssehr wohl auf den Wechsel des Vergasers rieren. Dies heißt ja nicht, dass der Einzel- politik. Die Zeit, da alles bezahlbar war,
verzichten kann, weil in diesem Monat nun ne auf gefährliche Sportarten oder den was technisch machbar ist, gehört der Vermal das Geld fehlt, nicht aber auf den Ein- übermäßigen Genuss von Alkohol ver- gangenheit an. Die Gesellschaft – und auch
bau einer neuen Niere.
zichten müsste, er kann nur nicht länger er- jeder Einzelne – muss sich entscheiden.
Doch ebenso klar ist: Eine Reform, die warten, dass die erhöhten Kosten, die aus Wie viel Risiko trägt die Allgemeinheit?
diesen Namen auch verdient, muss das Ge- seinem Lebenswandel erwachsen, von der Was ist uns unsere Gesundheit wert? Und
sundheitsbewusstsein der Bürger stärken Solidargemeinschaft automatisch kom- ist das Machbare auch tatsächlich das Wünschenswerte?
und sie dazu anhalten, nicht mit jeder pensiert werden.
Einen nutzlosen Streit über „WirtKleinstbeschwerde zum Arzt zu laufen,
Der Vorteil dieses „Zwiebelmodells“
nicht bei jedem Unwohlsein Pille oder liegt auf der Hand. Er baut nicht nur der schaftlichkeitsreserven“, „Globalbudget“
Spritze zu verlangen.
„Nulltarif-Illusion“ vor, wie Ökonomen oder „Zwei-Klassen-Medizin“ jedenfalls
Zudem lässt sich ja fragen, ob alle die weit verbreitete Annahme nennen, dass kann sich das Land am allerwenigsten
Venensalben, Einlagen oder Stützstrümp- alle Gesundheitsgüter scheinbar kostenlos leisten. Gerade von einer rot-grünen Refe, wie heute üblich, überwiegend von zu haben sind. Erstmals hätten es die Ver- gierung darf die Republik mehr Mut zur
der Allgemeinheit zu zahlen sind, ja so- sicherten auch in der Hand, ihr Gesund- Debatte erwarten. Es gilt – auch und vielgar teure Behandlungsmethoden, von heitsbudget selbst zu steuern. Wer das leicht gerade in der Gesundheitspolitik –
denen sich bestenfalls sagen lässt, dass Rundum-Sorglos-Paket wünscht, zahlt den jener Satz von Willy Brandt, mit dem er
sie die Gesundheit nicht ernsthaft be- normalen Beitragssatz; wer mit weniger den Wahlkampf 1972 siegreich bestand:
einträchtigen.
auszukommen glaubt, steht sich entspre- Wer morgen sicher leben will, muss heute
für Reformen kämpfen.
Die entsprechenden Instrumente sind
bekannt und gut erprobt: Zuzahlungen, Ei- * Im Elisabethkrankenhaus in Leipzig.
Jan Fleischhauer, Alexander Jung
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Tee und Keks im Wartezimmer
Deutsche Medizin ist teuer, britische günstiger,
Schweizer und Schweden leben länger. Wer aber hat das beste Gesundheitssystem?
W
REX FEATURES
ürde ein Schweizer
mit Herzinfarkt ins
britische Maidstone
Hospital eingeliefert, erlitte er
womöglich gleich eine zweite
Herzattacke. Kinder weinen,
Frauen stöhnen, Ärzte reanimieren geräuschvoll einen kollabierten Lastwagenfahrer.
Schutz vor der beängstigenden Geräuschkulisse zwischen einem Dutzend Patienten aller Fachdisziplinen bieten allein ein paar luftige
Vorhänge. Im „Accident &
Emergency“-Department am
Rande der Landeshauptstadt
von Kent, südöstlich von London, geht es zu wie in einer
amerikanischen Notarztserie.
800 Kilometer südlich, in
Zürich, kann der kardiale Notfallpatient dagegen das ruhige
Wunder der Hochleistungsmedizin erleben. Vermutet
schon der Hausarzt einen Notfalleinsatz in Großbritannien: „Mit begrenzten Mitteln exzellente Medizin“
Herzinfarkt, wird der Patient
im speziell eingerichteten „Kardiomobil“, Diagnose zweifelsfrei fest, rollt er direkt den Schränken. Kein Mangel soll im „besten Gesundheitssystem der Welt“, wie
der „Rettungssanität mit Notarzt“, ins durch zur Intensivstation.
Zehn Minuten für die Aufnahme, nach manche Eidgenossen es nennen, die Gestädtische Waidspital transportiert. Über
den gepflegten Flur gleitet der Patient auf weiteren fünf Minuten baumeln alle not- danken trüben.
Wer in Maidstone, Zürich oder Stockseiner Trage vorbei an Ein- und Zweibett- wendigen Infusionen am Arm des Patienzimmern in den Schockraum. Steht die ten. Alles, was gut und teuer ist, steht in holm aufs Krankenlager muss, macht
höchst unterschiedliche Erfahrungen. Und
was Schweizer oder Deutsche rebellieren
ließe, wird von britischen Patienten scheinbar gelassen ertragen. Geduldig warten sie,
Großer Aufwand, großes Wohlbefinden?
eine Schwester reicht Tee und Keks, daGesundheitsausgaben in
Veränderung
Zufriedenheit der Bürger mit
zwischen wirbeln Ärzte und machen das
Prozent des Bruttoinlandsgegenüber
dem jeweiligen GesundheitsBeste aus den knapp bemessenen Resprodukts 1997
1980 in Prozent
system in Prozent
sourcen.
Deutschland
Möglicherweise erst Stunden später wird
66,0
10,7 +21,6
der Patient in Maidstone nach der AkutFrankreich
65,1
9,6
+26,3
versorgung aus seinem Lazarett erlöst, findet auf der Coronary Care Unit, einer InSchweden
67,3
8,6
–8,5
tensivstation nur für Infarkt-Patienten, die
ersehnte Ruhe. Um den Herzinfarkt-MessNiederlande
72,8
8,5
+7,6
wert „Troponin“, im Waidspital hoch geDänemark
86,4
8,0
–14,0
schätzt, wissen die britischen Ärzte zwar,
aber solche diagnostischen Spezialitäten
Belgien
70,1
7,6
+16,9
galten hier bislang als unerschwinglich.
Sollte für den schwierigen Kasus eine
Italien
16,3
7,6
+8,6
aufwendige Herzkatheterbehandlung notwendig werden, müsste der Patient nach
Finnland
86,4
7,4
+13,8
London, ins 60 Kilometer entfernte
Großbritannien
48,1
6,8
+21,4
„St. Thomas’s“-Hospital.
Stefan Christen, 37, Leiter der KardioQuelle: OECD
logie im Zürcher Waidspital, empfindet
d e r
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47
Titel
Mitleid für die „armen Teufel“ im König- dass jeder zweite britische Bürger mit dem
reich. „Aber mit ihren sehr begrenzten Gebotenen prinzipiell zufrieden ist. In
Mitteln“, sagt er anerkennend, „machen Griechenland und Italien dagegen halten
acht von zehn Bewohnern das eigene Heilsie eine exzellente Medizin.“
Nichts ist schwieriger als ein Vergleich wesen für schlecht, zahlen aber gleichder Gesundheitssysteme. Hat jeder das wohl mehr. Eine Gemeinsamkeit hat das
Recht auf einen „Zustand vollkommenen Komitee gefunden, die das auffällige Nordphysischen, psychischen und sozialen Süd-Frustgefälle erklärt: In Staaten, in deWohlbefindens“, wie es der Genfer Welt- nen eine Sozialversicherung Bismarckscher
gesundheitsorganisation WHO vorschwebt? Prägung die Grundbedürfnisse befriedigt,
Hängt das Glück am vollständigen Gebiss, wie Frankreich, Deutschland oder die
prompter Versorgung, teurem Hightech- Schweiz, konzentriert sich das ZufriedenGerät oder zuvorkommendem Personal? heitsniveau im Mittelfeld.
Wie steht es mit den Risikofaktoren? Wie viel wird getrunken, geraucht, gearbeitet, und wie gesund wohnen
die Menschen?
Mehr Geld jedenfalls beschert nicht zwingend ein
längeres Leben. Betrug der
Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt 1997 in der Schweiz
10,0 und in Deutschland 10,7
Prozent, waren es in Finnland nur 7,4 Prozent. Während aber 1996 in Deutschland im Schnitt fünf Säuglinge auf tausend Lebendgeburten starben, waren es
in Finnland nur vier. Und hat
das finnische Kind überlebt,
darf es wie ein deutsches
gleichermaßen auf rund 77
Jahre Lebenszeit hoffen, das
Schweizer Neugeborene lebt
im Schnitt sogar noch zwei
Jahre länger.
Im Vereinigten Königreich
arbeitet man, das ist offenkundig, unter ärmlichen Be- Rettungsfahrzeuge in Zürich: Alles, was gut und teuer ist
dingungen. 1997 wurden nur
In der Schweiz beispielsweise, mit ei6,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für
Gesundheitsleistungen ausgegeben. Der nem Versicherungsmodell ähnlich dem
Lebenserwartung schadet dies kaum: Nur deutschen, wurde vor drei Jahren die Kopf0,3 Jahre büßt ein Brite gegenüber einem prämie eingeführt. Ob arm oder reich, geDeutschen ein – eine Abweichung, die man sund oder krank, jeder bezahlt dasselbe,
unbesehen eher den Ernährungsgewohn- und jeder darf die Krankenkasse wechseln.
Nur um die 250 Franken muss der Verheiten zuschreiben kann.
Doch diese Fakten hindern deutsche sicherte für die Grundleistungen berappen
Ärzte nicht daran, im 50 Jahre alten staat- – allerdings auch jedes weitere Familienlichen britischen National Health Service mitglied. Dass die Prämien pro Person
(NHS) das Reich des Bösen zu wähnen, für deutsche Verhältnisse vergleichsweise
eine sozialistische Plan-Medizin mit ein- gering anmuten, liegt an speziellen Eigengeschränkter Arztwahl, jahrelangen War- arten des Systems: Krankenhausbehandtezeiten, haarsträubenden Rationierungen, lungen werden zur Hälfte vom Bund subrudimentärer Zahnversorgung und brö- ventioniert, Patienten tragen je nach Tarif
ckelnder Bausubstanz (SPIEGEL 37/1999). jährlich begrenzte Eigenleistungen, ErUnter der Knute des NHS degeneriere, so wachsene müssen für Zahnbehandlungen
die gängige Meinung, der Doktor zur Exe- selbst bezahlen.
In steuerfinanzierten Sozial- und Gekutive übergeordneter Instanzen. Innovative Eigeninitiative verdorre ohne finan- sundheitssystemen wie Dänemark oder
zielle Anreize zur Beamtenmentalität. Von Großbritannien ist die Zufriedenheitssegensreicher Therapiefreiheit deutscher spannbreite nach oben und unten sehr viel
größer: Das nach NHS-Vorbild konstruierFasson keine Spur.
Gleichwohl zeigt das „Eurobarometer“ te dänische Modell begeistert die Kundder vereinigten europäischen Ärztevertre- schaft, während Italien, das 1978 das sotungen Committee of European Doctors, ziale Krankenversicherungssystem durch
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den Nationalen Gesundheitsdienst SSN ablöste, die eigenen Landsleute offenbar nicht
überzeugt.
Dabei ist „Sozialstaat“ nicht gleichbedeutend mit unbegrenzter, freier Medizinversorgung. Das zeigt das Beispiel Schweden. Vor zwei Jahren machte Frank Ulrich
Montgomery, der Präsident der Hamburger
Ärztekammer, damit Bekanntschaft. Montgomery, verheiratet mit einer schwedischen
Ärztin, musste in Schweden mit seinen
beiden Kindern, die unter Scharlach litten,
zum niedergelassenen Kollegen. Zweimal
verlangte der behandelnde
Mediziner 130 Kronen, umgerechnet 30 Mark. In einem
Wohlfahrtsstaat mit angeblicher „Vollversorgung zum
Nulltarif“ habe er das nicht
erwartet.
Die Höhe des Obolus
wird von den Kommunen
festgesetzt und muss, bis zu
einer variablen Obergrenze
um 2000 Kronen pro Jahr,
bei jedem Besuch bezahlt
werden. Der direkte Besuch
eines Facharztes ist teurer,
als wenn der Patient zunächst den Hausarzt aufsucht.
Die Tatsache, dass dieses
System seit Jahren funktioniert – und in den letzten
zehn Jahren sogar rückläufige Gesundheitsausgaben im
Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt verzeichnete –,
zeige, so Montgomery, dass
man die Restriktionen den
Menschen begreiflich machen kann. Was den deutschen Ärztefunktionär aber
besonders beeindruckte, war die Kompetenz der Mediziner und die „großartige apparative Ausstattung“. „Das sah appetitlich
aus“, sagt Montgomery, „da habe ich mich
fast für deutsche Praxen geschämt.“
Das muss deutsche Doktoren schmerzen. Denn immer wenn es bei Diskussionen hier zu Lande um Gesundheitsreformen geht, verteidigen die Funktionäre das
„hohe Versorgungsniveau im deutschen
Gesundheitswesen“.
In Wahrheit wird viel Geld für überflüssige Untersuchungen ausgegeben. Übergründlich sind die Kardiologen etwa bei
teuren Herzkatheteruntersuchungen. 4647
Eingriffe auf eine Million Einwohner zählte im vergangenen Jahr der „10. Bericht
des Krankenhausausschusses der Arbeitsgemeinschaft der Obersten Gesundheitsbehörden der Länder“. In Schweden, keineswegs Land des epidemischen Herzversagens, waren es nur halb so viel.
Auch die Deutsche Röntgengesellschaft
musste auf ihrem Jahreskongress im Mai
unnützen und strahlenbelastenden Diagnostik-Einsatz einräumen. Auf die Hälf-
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te der 100 Millionen Röntgenuntersuchungen pro Jahr könne verzichtet werden, ohne die Qualität
ärztlichen Handelns einzuschränken – und nebenbei würden 800
Millionen Mark eingespart. Da
aber jeder approbierte Arzt mit
kurzer Zusatzausbildung röntgen
dürfe, sei dies eben schwer zu verhindern.
Wenn in solchem Zusammenhang
über Richtlinien und Kassenaufsicht
zur Qualitätssicherung debattiert
wird, winden sich die Ärztefunktionäre. Auf dem 102. Ärztetag im
Juni bestanden sie weiterhin auf
dem Mediziner, der „in beruflicher
Unabhängigkeit nach medizinischen
Kriterien frei entscheiden könne“.
Verbindliche Leitlinien, wie Andrea
Fischers Reformentwurf es vorsieht,
produzierten nur „gegängelte Ärzte“. Dies führe, heißt es drohend in
der Entschließung zum Ärztetag,
zwangsläufig zu „gegängelten Patienten“.
In anderen europäischen Ländern, allen voran Großbritannien,
hat man längst akzeptiert, dass
angesichts von 25 000 Fachzeitschriften umfassende Kenntnis il- Ärztefunktionär Montgomery: „Fast geschämt“
lusorisch ist. „Klinische Freiheit“,
so fasste es ein britischer Kardiologe nal Institute for Clinical Evidence“. Nice
knapp zusammen, könne im besten Fall soll nicht nur bewerten, ob ein medizinials Deckmantel für Ignoranz gelten, im sches Verfahren nutzt, sondern auch, ob es
schlimmsten als Entschuldigung für kosteneffizient arbeitet.
Quacksalberei.
Auch der schwedische Ärztefunktionär
Als Wegweiser durch die Informations- Anders Milton hält eine größere Uniformassen, auch für den Durchschnittsarzt, mität, Konsequenz des in der normabietet sich die Evidence-Based Medicine len Betriebswirtschaftslehre so genannten
(EBM) an. Die an der McMasters-Univer- Benchmarking, in der Behandlung für
sität in Kanada entwickelte Methode setzt möglich. In 75 Prozent der Fälle handele es
auf die konsequente Anwendung statisti- sich um die immer gleichen Dauerbrenscher Methoden. EBMler sichten akribisch ner. Bei Bluthochdruck, Rückenbeschwerauch abgelegene wissenschaftliche Infor- den und Fettstoffwechselstörungen müsse
mationen und bereiten sie in so genannten doch eine weitgehend vereinheitlichte
Cochrane Collaborations für die prakti- Therapie möglich sein. Außerdem sei nicht
sche Arbeit von Ärzten auf.
alles sinnvoll, was machbar ist. „Bei
Der Nutzwert von Vorsorgeuntersu- 80 Prozent aller 80-Jährigen ist die Auchungen steht genauso auf dem Prüfstand genlinse eingetrübt, aber sie haben kaum
wie gewohnheitsmäßige Blutuntersuchun- Probleme damit“, sagt Milton und fragt:
gen. Immer wieder fragen sich die Ärzte: „Sollen wir alle operieren?“
Halten die Verfahren wirklich das, was sie
Auch Stefan Christen und seine Kollegen
versprechen?
im Waidspital haben Gefallen an der pragAuf diese Weise entlarvte im vergange- matischen englischen Methode gefunden.
nen Jahr die Londoner Cochrane Injuries Nicht blinder Aktionismus steuert mehr
Group am Institute of Child Health den ihr Handeln, sondern VergleichsprogramGebrauch von Eiweißlösungen auf Inten- me, mit denen die Briten das meiste aus
sivstationen als gefährlich. Obwohl seit dem wenigen holen. Vor allem verhindere
über 50 Jahren eingesetzt, war den Prakti- die Methode eins, sagt Kardiologe Chriskern offenbar entgangen, dass mehr Men- ten: „Teure Routine.“
schen durch die „Albumin“-Lösungen verMittlerweile wird auch im Waidspital auf
starben als überlebten.
das standardmäßige, aber oft überflüssige
Im Mangelsystem Großbritannien geht Röntgenbild vom Brustkorb verzichtet,
inzwischen nichts mehr ohne EBM. Be- ebenso wie auf Rundumuntersuchungen
sonders unter Kostengesichtspunkten will des Blutbilds. „Jede Maßnahme wird überder National Health Service das gesamte legt entschieden“, sagt Christen, „das geht
Gesundheitswesen mit EBM durchdringen. inzwischen so weit, dass es schon peneNeueste Erfindung ist „Nice“, das „Natio- trant ist.“
Harro Albrecht
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TEUTOPRESS
Titel
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LIAISON / GAMMA / STUDIO X
Titel
„Betty Ford“-Luxusklinik bei Palm Springs (Kalifornien): Nur ein gesunder Kunde ist ein guter Kunde
teufelt wie die Phalanx der Krankenkassen. Das System der „managed care“, das
in den vergangenen zehn Jahren die traditionelle Krankenversicherung weitgehend
verdrängt hat, steht unter dringendem Versich mehr für Profite zu interessieDie amerikanische Idee, Kostendämpfung im Gesundheitswesen dacht,
ren als für Patienten.
mit marktwirtschaftlichen Mitteln zu erreichen, scheitert
Während die Kunden immer mehr
Eigenanteil für immer weniger Leistung
am Profitstreben von Pharmaindustrie und Krankenkassen.
bezahlen müssen, treiben die Macher der
Uniklinik Las Vegas, vier Uhr nachts. großen börsennotierten Health Mainteabitha Walrond aus der Bronx war
19 Jahre alt und hatte keine Erfahrung Eine Frau wird mit Magenbluten eingelie- nance Organizations (HMOs) mit brutalen
mit Kindern, als ihr Sohn Tyler auf fert. Sie ist krankenversichert. Dennoch Einsparungen und Beitragserhöhungen den
die Welt kam. Doch dass der Neugebore- weigert sich der herbeigerufene Spezialist, Kurs ihrer Unternehmen nach oben. 1996
ne trotz Stillens nicht an Gewicht zunahm, ohne das Okay der Kasse zu operieren. verdiente die oberste Garde der Kassenbeunruhigte sie. Zweimal trug sie ihn zum Über eine Stunde lang versucht er, die Ver- manager durchschnittlich zehn Millionen
Arzt, zweimal wurde sie abgewiesen: Der sicherung zu bewegen. Der Frau wird in- Dollar Jahresgehalt.
Mittlerweile sind die Privatkassen so
Versicherungsnachweis für den Kleinen sei zwischen die vierte Blutinfusion verpasst.
noch nicht angekommen, sagte man der Als ihr Zustand sich lebensgefährlich ver- teuer, dass viele sich diesen Luxus nicht
schlechtert, droht der Arzt, die Presse zu mehr leisten können. 1998 mussten 44,3
Sozialhilfeempfängerin.
Millionen Amerikaner ganz auf KrankenZwei Monate später verhungerte der verständigen. Die Kasse gibt nach.
Horrorgeschichten von abgewimmelten versorgung verzichten, eine Million mehr
Säugling, keine fünf Pfund schwer, im Taxi auf dem Weg zur Notaufnahme. Eine Kranken und verweigerten Medikamenten als 1997. Im Land der Hightech-Industrie
frühere Brustverkleinerung seiner Mutter sind in den USA Alltagsgespräch. Nur die sind 16,3 Prozent der Bevölkerung unverhatte das Stillen beeinträchtigt. Sie wurde Tabakindustrie wird derzeit ähnlich ver- sichert.
Dabei waren die ersten
im Mai wegen fahrlässiger Tötung verurHMOs in den sechziger Jahteilt.
ren angetreten mit dem hehMatthew Cerniglia aus Sterling in Virgiren Ziel einer besseren, bilnia war zwölf Jahre alt, als ein aggressiver
ligeren Medizin für alle.
Krebs festgestellt wurde. Die StandardKleine Gruppen schlossen
behandlung dafür ist eine elfmonatige
sich damals zu gemeinnütChemotherapie. Doch die Nebenwirkunzigen Organisationen zugen würden den geschwächten Jungen umsammen, denen Patienten
bringen, sagten die Ärzte. Seine einzige
beitreten konnten. Die MitÜberlebenschance: eine kurze hoch doglieder bezahlen einen Jahsierte Chemotherapie und eine Stammzelresbeitrag. Die Health Mainlen-Transplantation.
tenance Organizations ihDiese teure Behandlung sei in seinem
rerseits stellt Ärzte gegen
Gesundheitsplan allerdings nicht vorgeseein Festgehalt an.
hen, teilte Matthews Krankenversicherer
Anders als bei herkömmHealthKeepers mit. Präsidentin Ellen Harlichen Kassen schränken
rison schrieb: Es handele sich um „eine
HMOs die freie Wahl von
reine Vertragsangelegenheit“.
Gesundheitsreformerin Clinton: Vorstoß gescheitert
Geld oder Leben
AP
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Ärzten, Medikamenten und Dienstleistun- daten von der PBM gespeichert werden.
gen ein. Der Weg zum teuren Facharzt Fortan kann die Firma kontrollieren, beführt nur über einen Allgemeinarzt. Das obachten und eingreifen. Ein Agent besenkt unnötige Kosten und ermöglicht auch sucht dann den überraschten Arzt, um mit
Ärmeren, die sich bislang keine Versiche- ihm die Behandlung eines Patienten zu
rung leisten konnten, einen Schutz.
diskutieren oder ein neues Medikament
Der Durchbruch für dieses Modell kam vorzuschlagen.
Ende der achtziger Jahre. Diejenigen UnSo sinnvoll das sein kann im Einzelfall,
ternehmen, die in den USA die Kranken- als Nebenwirkung bleibt das Orwellsche
versicherung für ihre Angestellten bereit- Gefühl der totalen Überwachung. Zumal
stellen, flohen vor den hohen Kosten der die intimen Daten auch den Arbeitgebern
Hightech-Medizin zu den günstigen Health zugänglich gemacht werden. Mehrere MitMaintenance Organizations.
arbeiter, so wurde etwa der GeschäftsDer plötzliche Ansturm
rief die großen Versicherungsgesellschaften auf den
Plan. Aus den Non-ProfitOrganisationen wurden in
Windeseile profitorientierte
Unternehmensgiganten, die
sich mehr ihren Investoren
verpflichtet fühlen als ihren
Patienten.
Knapp sieben Jahre nachdem Hillary Clintons Vorstoß für eine gesetzliche
Krankenversicherung für
alle scheiterte, ist weniger
als die Hälfte der 180 Millionen Privatkassen-Kunden Notfallabteilung in US-Klinik: Alltäglicher Horror
zufrieden mit der jetzigen
Lösung. Eine staatliche Grundversorgung führung von Motorola gemeldet, nehmen
existiert nur für die 39 Millionen Menschen regelmäßig Antidepressiva ein. Die HMO
über 65 (Medicare) und die knapp 36 Mil- empfehle ein spezielles Pflichtprogramm
lionen Sozialschwachen (Medicaid).
für die Betroffenen.
Die im Grunde positive KostendämpDie Geschäftsführung von Motorola
fung der Kassen nahm mit zunehmender wollte die Namen der Betroffenen nicht
Konkurrenz groteske Züge an. Teure Pati- wissen. Im Prinzip jedoch sind die so erenten werden möglichst abgeschoben, nur langten Personendaten dem Arbeitgeber
ein gesunder Kunde ist ein guter Kunde. frei zugänglich.
Das Verweigern von Leistungen wurde
Die Sparmethoden der Kassen ließ vor
zum beliebtesten Sparinstrument. Hospi- drei Wochen das US-Repräsentantenhaus
talaufenthalte verkürzten sich dramatisch, reagieren. Mehrere republikanische Abmanche HMOs schicken niedergekomme- geordnete stimmten mit den Demokraten
ne Frauen bereits nach acht Stunden wie- für ein neues Patientenrecht. Darin wird
der nach Hause. Ärzte erhalten Prämien, Notwehr festgeschrieben: Patienten dürwenn sie Patienten nicht behandeln. Auf fen in Zukunft ihre HMO verklagen, wenn
keinen Fall sollen sie ihren Patienten von diese ihnen notwendige Leistungen vorkostspieligen Therapien erzählen.
enthält.
Viele Patienten misstrauen bereits ihren
Denn obgleich die Vereinigten Staaten
zwangsverordneten Ärzten und weichen das medizinisch fortgeschrittenste Land
auf Mischmodelle aus, die die HMO-Ver- der Welt sind, liegt die Gesundheit von USsorgung etwa mit freier Arztwahl koppeln Bürgern durchschnittlich unterhalb des Le– natürlich gegen kräftige Zuzahlung.
vels anderer Industriestaaten. Nur AmeriDabei sind die Ärzte den HMOs ähnlich kaner, die sich die teure Vollversicherung
ausgeliefert wie die Patienten. Verschreibt leisten können, genießen die beste Kranein Arzt zu viel teure Medizin, wird er zur kenversorgung der Welt.
Rede gestellt. Fällt er als WiederhoIn diesem Jahr rechnen US-Unternehlungstäter auf, ist sein Job gefährdet.
men mit einer Kostensteigerung für ihre
Geradezu gespenstisch aber mutet an, Krankenversicherung von neun Prozent,
wie die HMOs die Medikamentenkosten nach einer über sechsprozentigen Erdämpfen. Sie beauftragen Kontrollfirmen, höhung im vergangenen Jahr. Die Patienso genannte Pharmacy Benefit Manage- ten sind auf „ihre“ Kasse allesamt nicht
ment Companies (PBM). Diese Agenturen gut zu sprechen.
sammeln, über die computerisierten MitAls Helen Hunt im Oscar-gekrönten
gliederkarten, Daten über deren Medi- Film: „Besser geht’s nicht“ ihre HMO als
kamentenkonsum. Wer per Karte seine profitgierige Organisation beschimpfte, gab
Arznei abholt, muss weniger Eigenanteil es in den Kinos des Landes stehende Ovazahlen – nicht ahnend, dass die Rezept- tionen.
Michaela Schießl
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C. NACKE
Titel
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Titel
ARIS
Gesundheitspolitiker Fischer, Dreßler: „Verdammt noch mal, ich bin hier die Chefin“
Frau Fischer und „die Firma“
Die grüne Gesundheitsministerin und ihr roter Schattenmann, der SPD-Sozialexperte Rudolf
Dreßler, befehden einander mit wachsendem Misstrauen. Von Hans-Joachim Noack
A
uf einer Fachtagung von Spitzenkräften aus der Pharmaindustrie,
die ins feine Berliner Hotel Adlon
eingeladen haben, schlägt sie sich besser als
erwartet. Allen zur geplanten „Gesundheitsreform 2000“ formulierten Einwürfen
begegnet die zuständige Ministerin Andrea
Fischer mit halbwegs plausiblen Antworten
– nur einmal muss sie passen.
Sichtlich verlegen zupft die 39-jährige
Grüne am gebauschten Halstuch und ordnet fahrig die zur Widerspenstigkeit neigenden Locken. Die scheinbar beiläufig
eingestreute Anmerkung eines Disputanten
macht ihr arg zu schaffen.
Was sie davon halte, wie sich der sozialdemokratische Gesundheitsexperte Rudolf
Dreßler neuerdings zu Wort melde? Der
hatte per Interview kurzerhand empfohlen, die von der CDU/CSU angekündigte
Blockade des umstrittenen Gesetzes auf
ziemlich ungewöhnliche Weise zu konterkarieren: Die Koalition soll nach seiner
Vorstellung „parallel“ einen Entwurf erarbeiten, der im Bundesrat keine Zustimmung benötigt.
58
Andrea Fischer drohen die Gesichtszüge zu entgleisen, aber dann fängt sie sich.
Wortreich redet die Politikerin so lange
über den spannenden Kernpunkt der News
hinweg, bis die Frage irgendwie in Vergessenheit gerät.
Erst nach der Konferenz lässt sie ihrem
mühsam gebändigten Groll freien Lauf:
„Ich fass es nicht.“
Kann man derart mit einer wichtigen
Novelle umgehen, die vorweg bei den chronisch entnervten Arzneimittelproduzenten
eh schon den härtesten Widerstand herausfordert? Wie viel Glaubwürdigkeit
bleibt da noch, wenn bereits die Schlüsselfigur der Mehrheitspartei im regierenden
Bündnis öffentlich hinausposaunte „Ersatzstrategien“ feilbietet?
Zwischen der grünen Ressortchefin und
ihrem roten Partner auf einem Sektor, der
in der Bundesrepublik mit überschlägig
500 Milliarden Mark mehr Geld bewegt, als
die Etats aller Ministerien ausmachen, häufen sich die Unstimmigkeiten. Das komplizierte Gesamtkunstwerk, dessen Verabschiedung die imagegeschädigte Berliner
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Koalition dringend nötig hat, wird von
wachsendem Argwohn umstellt.
Mitunter flüchten sie sich noch in das
bekannte Erklärungsmuster, eine auf Personalien fixierte Journaille habe halt ihren
Spaß an solchen Geschichten. „Hier die
unerfahrene Frau, da der alte Kämpfer“,
analysiert die Ministerin, eine im behaupteten Rollenspiel „wunderbar idealtypische Besetzung“.
Und der stellvertretende Vorsitzende der
SPD-Fraktion, Rudolf Dreßler, der in seiner Partei für den „Bereich Gesundheit
und Pflege“ verantwortlich zeichnet, stößt
ins selbe Horn. Natürlich geht es ihm strikt
um die Sache – „Fischer, Meier, Müller“,
fügt er dann allerdings so grimmig hinzu,
dass die Distanz zum Problem wird, „interessiert mich nicht“.
Die Sache gebietet ein Mindestmaß an
Gleichklang, und gewiss wäre der zu den
ehrgeizigsten Rot-Grün-Projekten zählende Entwurf kaum das Papier wert, auf dem
er gedruckt ist, gäbe es schon bei den viel
zitierten Essentials grobe Differenzen. Für
beide Politiker scheint in Sonderheit das
zierter Job ziemlich versauert wird. Nicht
nur der starke Mann des großen Bündnispartners saß der Gesundheitsministerin
vom Start weg im Nacken – Andrea Fischer stand zugleich unter verschärfter Beobachtung ihres mächtigen Namensvetters
Joschka F.: Der hielt sie schlichtweg für zu
weinerlich.
Kein Spaß, sich angesichts solcher Umstände in eine Materie einzuüben, die im
jahrzehntelangen Hickhack um geeignete
Lösungsansätze schon ganz andere Kaliber verschliss. Wo immer die Nachfolgerin
des vergleichsweise robusten, aber am
Ende ebenso gestrandeten Horst Seehofer
in den ersten Monaten auftrat, spürte sie
Andrea Fischer, eine hoch impulsive
Frohnatur, der auf Grund gelegentlicher,
von Tränen begleiteter Wutausbrüche der
Spitzname „Vulkan“ anhaftet, scheint sich
tatsächlich freigeschwommen zu haben.
„Verdammt noch mal, ich bin hier die Chefin!“, prustet sie munter drauflos, als sie
von einem Vorstoß Dreßlers erfährt, das
aus Sicht der Ärzte skandalöse Globalbudget zu entschärfen.
Was die beiden trennt, sind zunächst
einmal Stilfragen. Um den Menschen ein
Mammutgesetz von erheblicher Wirkungskraft nahe zu bringen, bedarf es nach dem
Verständnis des jüngsten Mitglieds im Krisen-Kabinett Schröder einer zielstrebigen
A. SCHOELZEL
berühmte Globalbudget, das die gesetzlichen Kassen vor dem denkbaren Kollaps
schützen soll, ebenso außer Frage zu stehen wie die geforderte Krankenhaus-Umfinanzierung.
Als sakrosankt gilt darüber hinaus – folgt
man ihren Beschwörungen – die latent gefährdete Beitragsstabilität. Um den Kostenrahmen zu sichern, möchten Fischer
und Dreßler stattdessen „Ressourcen“ in
zweistelliger Milliardenhöhe erschließen,
die im gegenwärtigen System angeblich
noch vorhanden sind.
Doch selbst wenn es denn zuträfe, dass
das ungleiche Gespann programmatisch
näher beieinander stünde, als es aussieht,
bleiben die im Psychischen wurzelnden
Brüche. Die verschlungenen politischen
Biografien der grünen Aufsteigerin und ihres sozialdemokratischen Schattenmanns
erweisen sich als kaum kompatibel.
Dass der 58-jährige Wuppertaler Rudolf
Dreßler in einer von der SPD geführten
Regierung ins Kabinett eintreten würde,
gehörte bei seiner Vita eigentlich zu den sicheren Tipps – aber die Verhältnisse waren
nicht so. Der „Modernisierer“ Gerhard
Schröder mochte dem ungeliebten, weil
eher den „Traditionalisten“ verbundenen
Parteifreund weder das Arbeitsministerium anvertrauen noch das Gesundheitsressort.
Berufen wurde statt seiner eine in Berlin lebende junge Dame aus dem sauerländischen Arnsberg, die sich als Talent in
Renten- und Steuerfragen entpuppt hatte.
Für den altgedienten Sozi, dem selbst konservativ geprägte Geister hervorragendes
Know-how bestätigen, fast schon eine Katastrophe.
Charaktere aus weniger hartem Holz
hätten den Bettel wohl hingeschmissen –
doch der zähe Genosse, obschon er seit
zwei Jahren an den Folgen eines grässlichen Verkehrsunfalls laboriert, dachte nicht
daran. Das Political Animal auf dem Feld
des Sozialen fühlte sich zwar gleich in doppelter Weise verletzt, aber es verharrte im
angestammten Revier.
In der Bundestagsfraktion (und am Anfang noch mit kräftiger Unterstützung
seines später desertierten Parteichefs
Oskar Lafontaine) laufen wie eh und je
alle Fäden bei ihm zusammen. Erst was
von Rudolf Dreßler „quer geschrieben“
worden ist, sagt ein Insider anerkennend,
trägt den „unerlässlichen sozialdemokratischen TÜV-Stempel“.
Doch zugleich werfen ihm Kritiker vor,
er vermenge die erlittenen Kränkungen mit
seinen inhaltlichen Offerten. Den nimmermüden Kärrner, der sich rühmt, seit 1982
„mehr ins Gesetzblatt gebracht zu haben
als die Hälfte der Minister des Kabinetts
Helmut Kohl“, treiben erkennbar auch andere Gelüste.
Auf alle Fälle glaubt er es besser zu können als „diese Frau“, jene Newcomerin aus
der Ökopartei, der ihr ohnehin kompli-
Grünen-Delegierte Fischer (1989): Vorliebe für komplexe Systeme
eine Skepsis, die sich in ihrem Inneren zu
einem einzigen, das labile Selbstgefühl peinigenden Satz verdichtete: „Ah, da ist sie
ja, die dumme Nuss.“
Hinzu kam, dass ihre Couleur in der Gesundheitspolitik nur vage Vorstellungen anzubieten hatte, während die SPD aus einem im Laufe der Oppositionszeit erarbeiteten beträchtlichen Fundus schöpfte.
Wie sehr der aktuelle Entwurf, etwa bei der
ins Auge gefassten Krankenhaus-Reform
oder der Neuordnung des Medikamentenmarkts, eine „sozialdemokratische Handschrift“ trägt, will die grüne Ministerin gar
nicht verhehlen.
Aber nach einer Phase, in der ihr „der
Boden unter den Füßen schwankte“, gewann sie auch selbst an Kontur. Zug um
Zug nahm die ehemalige Offsetdruckerin
und diplomierte Volkswirtin von einem
schwierigen Haus Besitz, dem sie sich
längst gewachsen fühlt. Ihre Vorliebe – was
sie hinlänglich ja schon auf dem Rentensektor bewies – gilt den „Funktionsweisen
komplexer Systeme“.
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Sympathiewerbung – und sie verhält sich
entsprechend. Kaum eine Woche geht dahin, in der sich die kontaktfreudige Grüne
nicht mehrmals einem möglichst großen
Publikum stellt.
Auf dem Bädertag in Bad Saarow wie im
Kulturzentrum der anatolischen Aleviten
in ihrem Berliner Wahlbezirk Kreuzberg
präsentiert sich eine wacker um Vermittlung bemühte Frau von solider Bandbreite. Ihre meistens von leisen Tönen begleiteten Auftritte strahlen fast durchgehend
eine in der Politik seltene Mütterlichkeit
aus, doch sie kann auch hinlangen.
Der „Gegenspieler“ („Frankfurter Allgemeine“) Rudolf Dreßler, der im medizinisch-industriellen Komplex nahezu jeden
der Lobbyisten persönlich kennt, kungelt
lieber. „Sozialpolitik“, weiß er, „ist vermintes Gelände“, und wer denn im Namen
„der Firma“ – gemeint: der SPD – ein ordentliches Gesetz abzuliefern gedenke,
müsse das mit allen Beteiligten versuchen.
Nein, über die Ministerin „als solche“
von ihm keine Stellungnahme. Nur einmal
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Titel
B. WOLFGARTEN / MELDE PRESS
ist er ihr, wie die „taz“ rügte, „in den ja auch die amtierende GesundheitsminisRücken gefallen“, aber den Vorwurf hält er terin für sich in Anspruch.
für „Kokolores“. Die Grüne hatte nach ein
Sie habe nie behauptet, sagt Andrea Fipaar Verbalinjurien der erbosten Ärzte den scher betont salopp, „dass ich hier ’ne JahrAbbruch der Gespräche verfügt – der in hundertreform hinkriege“. Den objektiven
zwei Jahrzehnten kampferprobte Sozi er- Sachzwang gibt es nach Auffassung der unhob dagegen Widerspruch.
dogmatischen Grünen nicht („ … alles PoAlles bloß Scharmützel, die im Wesent- litik“), weshalb sie lediglich „die Weichen
lichen die unter Stress übliche Reizbarkeit richtig zu stellen“ beabsichtigt.
spiegeln, doch den harten Kern kaum
Von Glaubenskrieg zwischen den Koaliberühren? Die Zweifel daran, dass Fischer tionären keine Spur – freilich, wo das meisund Dreßler manchen Missklängen zum te verhandelbar ist, wächst zugleich das
Trotz noch am gleichen Strang ziehen, Misstrauen. Fischers Leute mutmaßen, der
nähren sie zunehmend selber.
sozialdemokratische Rivale könnte angeDas Ziel der rot-grüsichts der herrschenden
nen Regierung, in der
Mehrheitsverhältnisse der
erodierenden gesetzliUnion so weit entgegenchen Krankenversichekommen, dass er der eirung das Solidarprinzip
genen Partei peu à peu
neu zu verankern, verdas Wasser abgräbt.
treten die beiden ProtaDie von der Ministerin
gonisten gleichermaßen –
bis zuletzt zäh verteidignur um welchen Preis?
te Linie, den Ärzten für
Ihre Mitarbeiter bezichden Fall gravierender
tigen die jeweils andere
Budgetüberschreitungen
Seite, „Neben- und Hinkollektive Haftung auftergedanken“ zu hegen.
zuerlegen, hat Dreßler
Denn die schönen Tabereits unterlaufen –
ge, als der Bundeskanzler
doch ansonsten wittert er
noch im Juni dieses Jahseinerseits Gefahren. Er
res in helles Entzücken
lässt streuen, die bei den
geriet („Ein wirklich groEckpunkten des Gesetßer Wurf, den Frau Fizes weniger involvierten
scher da vorgelegt hat“), Ärzte-Demo*: „Vermintes Gelände“ Grünen seien verführbar
sind einstweilen verflogenug, mit der Opposigen. Spätestens seit die Vorsitzenden der tion anzubändeln. Scheitere die Reform,
Christenunion nach ihrer Siegesserie bei gibt der rote Stratege vorgeblich an die
den Landtagswahlen kraftstrotzend Fun- Adresse der Parteichristen zu Protokoll,
damentalopposition ankündigten, reicht es trage „die SPD“ keinerlei Verantwortung.
bestenfalls zum Kompromiss.
Andrea Fischer glaubt, dass sie in ihrem
Und den scheint die grüne Ministerin Gewerbe hinreichend bewandert ist, um
ebenso zu wollen wie der rote Sozialpapst. diesen Halbsatz auf sich beziehen zu dürDass Gerhard Schröder ein in den Grund- fen: „Der Beginn einer Dolchstoßlegenzügen SPD-eigenes Konzept demonstrativ de“, entfährt es ihr empört.
der Kabinettsdame des Bündnispartners
Ganz so leicht allerdings will sie es dem
gutschrieb, soll er selbst mit sich ausma- trickreichen „Übervater“ – ein Begriff, den
chen. Dreßler geht es zuvörderst darum, sie mit ironischem Unterton aus der Presseiner an „tornadomäßigem Identitätsver- se übernimmt – nun doch nicht machen.
lust“ leidenden Partei die verbliebene Wer in einem Gemeinschaftswerk die RolRestsubstanz zu retten.
le des Spiritus Rector für sich reklamiert,
So spricht der Linke, der sich mit eini- soll gefälligst Flagge zeigen, statt schon vor
gem Recht insbesondere als eine Art Ober- der Abstimmung die parteipolitischen Anexperte empfindet. Vor Internisten in der teile zu zergliedern.
Heimatstadt Wuppertal ruft er so einUngewohnt bescheiden sagt der Abgedrucksvoll seine Fachkenntnisse ab, dass ordnete Rudolf Dreßler, er rede ja nur „im
die aufgebrachten Ärzte bald verstummen. Namen der Firma“. Wenn sich die OpposiPassagenweise freihändig aus der Koali- tion denn dazu bereit erklärt, wird die
tionsvereinbarung zu zitieren – etwa „Sei- Stunde der Wahrheit nach seiner Prognote 24, vierter Spiegelstrich, den Missbrauch se im Vermittlungsausschuss schlagen – ein
der Patienten-Chipkarte betreffend“ – be- Gremium, in dem die „Süddeutsche Zeireitet ihm keinerlei Schwierigkeiten.
tung“ den Genossen zum „heimlichen
Der vermeintliche Ideologe, ein Etikett, Gesundheitsminister“ aufsteigen sieht. Die
das er bei seiner schon früher vorgeführten allgemeine Erwartung, das vorgelegte FiBeweglichkeit in der Rentenfrage oder der scher-Konzept sei dort chancenlos, komPflegeversicherung „empirisch widerleg- mentiert er lakonisch: „Kann so sein, muss
ten Quatsch“ nennt, sucht pragmatische aber nicht.“
Lösungen. Aber diesen Maßstab nimmt
Die reale Ressortchefin hält noch keineswegs für entschieden, ob er zu dieser
* Am 22. September in Berlin.
Runde überhaupt Zugang hat.
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Werbeseite
CSU
Welch ein
Vergnügen
Innenpolitisch angeschlagen, reist
Bayerns Ministerpräsident Stoiber
in die USA – und gibt sich dort wie
der Kanzlerkandidat der Union.
D
D. DRENNER
er Mann ist richtig stolz. Es sei
„schon beeindruckend“, findet der
CSU-Vorsitzende, wie gut seine
Gesprächspartner über den Freistaat im
fernen Deutschland und dessen „vorbildliche Politik“ informiert seien. Außerdem
habe man ihn, den Nachfolger des auch in
den USA legendären Franz Josef Strauß,
„sehr, sehr herzlich“ in Washington aufgenommen.
Mit besonderer Begeisterung erzählt der
bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber, 58, am vorvergangenen Donnerstag
kurz vor dem Abflug aus der US-Hauptstadt in Richtung Spartanburg im US-Staat
South Carolina von seiner Begegnung mit
Notenbankchef Alan Greenspan, dem
mächtigsten Wirtschaftslenker der Welt.
Der habe ihn „auf unser Steuermodell angesprochen“ und zu verstehen gegeben,
solch drastische Tarifsenkungen, wie von
der CSU vorgeschlagen, seien „das, was
Deutschland braucht“.
Es ist Stoibers erster Besuch in den USA
als Ministerpräsident – und sein dritter
überhaupt. 1991 war er als bayerischer
Innenminister hier, um über Kriminalität
zu diskutieren. Und einmal kam er, vor
über 20 Jahren, als Funktionär der Jungen Union.
W. HEIDER-SAWALL / AGENTUR FOCUS
Amerika-Bewunderer Stoiber (in Washington): Elf Termine in 36 Stunden
USA-Besucher Stoiber (in Houston)
Diplomatischer als daheim
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Elf Gesprächstermine absolvierte der
CSU-Mann jetzt allein während 36 Stunden seines Washington-Aufenthalts, welch
ein Vergnügen. Denn die Kratzer am
Image, die ihm die Millionenverluste der
Landeswohnungs- und Städtebaugesellschaft Bayern GmbH (LWS) beigefügt haben, interessieren in den USA niemanden.
Hier kann Stoiber noch wie ein Mann
mit Zukunft auftreten. Als möglichen
Kanzlerkandidaten der Opposition für das
Jahr 2002 hatten ihn Beamte der deutschen
Botschaft gewünschten Gesprächspartnern
schmackhaft gemacht. Mit Erfolg.
Handelsminister William Daley, die stellvertretenden Minister für Finanzen und
Verteidigung, Stuart Eizenstat und John
Hamre, Außenstaatssekretär Thomas
Pickering sowie der Sprecher des Repräsentantenhauses Dennis Hastert und gar
noch der republikanische Mehrheitsführer
im Senat Trent Lott nahmen sich Zeit für
den Gast aus München. Das ist nach Washingtoner Usancen sehr viel der Ehre für
einen Provinzpolitiker. „Ein beachtliches
Programm“, wie auch Stoiber findet.
Mit Genugtuung wird in seiner Delegation verbreitet, CDU-Chef Wolfgang
Schäuble habe seine geplante WashingtonReise absagen müssen, weil er auf amerikanischer Seite keine angemessenen Gesprächspartner gefunden habe.
Prompt gibt sich Stoiber diplomatischer
und korrekter als daheim. Beim einzigen
Thema, das US-Journalisten an Stoiber
wirklich interessiert, seine Meinung über
den österreichischen Rechtsaußen Jörg
Haider, findet der Bayer in der Fremde
ganz andere Töne.
Haider sei „für mich kein akzeptabler
Politiker“, gibt der Gast aus München zu
Protokoll. Der FPÖ-Chef habe sich „absolut disqualifiziert“ durch seine „Agitation
gegen Ausländer“. Die umstrittene Empfehlung an die ÖVP, eine Koalition mit der
FPÖ einzugehen, wiederholt Stoiber nicht.
Stoiber will sich dem Freund und Bündnispartner, egal ob Demokraten oder Republikaner, vor allem als Antreiber der
„notwendigen Erneuerung Deutschlands“
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präsentieren. Er, so Stoibers Botschaft, sei
in Germany der Mann der Zukunft, nicht
der Noch-Kanzler Gerhard Schröder.
Immer und überall spricht Stoiber von
der Globalisierung, dem weltweiten Wettbewerb. Einmal, nach einer Besichtigung
des BMW-Werks in Spartanburg, fasst der
CSU-Mann seine Ziele zusammen: Er wolle „mein Land vorbereiten für das 21. Jahrhundert, das andere Anforderungen haben
wird als das gegenwärtige“ – „mein Land“
meint dabei offenkundig nicht nur Bayern.
Dass „die Anderen“ das nicht können,
macht Stoiber allen klar. Schröder und
Freunde seien „viel zu altbacken“ und hingen „dem alten Denken“ nach, so der
CSU-Mann nach Gesprächen mit den
Chefs der Software-Riesen Sun und Oracle
im Silicon Valley. „Nicht mehr nur Oktoberfest, Lederhosen und König Ludwig“
verbänden Amerikaner mit Bayern, sondern „Hightech und attraktive Standortbedingungen“. Auch darum hätten sich 450
US-Firmen inzwischen dort angesiedelt.
Wo immer er auch hinkommt, in den
aus seiner Sicht vorbildlich auf die Globalisierung eingestellten USA erblickt Stoiber
Bilder aus einem wirtschaftlich blühenden
Land, hört Zahlen von traumhaftem
Wachstum und niedriger Arbeitslosigkeit.
Die Schattenseiten des Systems, Armut,
Rassismus, Kriminalität, oft nur wenige Kilometer von Stoibers Zielen entfernt, sieht
er nicht. Dafür fehlt die Zeit.
Natürlich will Stoiber, wie er sagt, „keine amerikanischen Verhältnisse“. Aber
darauf hinweisen, dass „unser Sozialsystem in einer globalisierten Welt dringend
verändert werden muss“, das darf man
wohl schon. Oder feststellen, dass „uns die
Amerikaner auslachen wegen unserer sozialen Standards“.
Die „Förderung und Forderung unserer
Eliten“, predigt der CSU-Mann im Silicon
Valley, sei notwendig, „damit wir uns künftig das Sozialsystem noch leisten können,
das wir uns leisten wollen“. Welche sozialen Standards sich sein globalisiertes Land
konkret noch leisten soll, darüber schweigt
Stoiber.
Wolfgang Krach
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Unterhändler Eizenstat, Lambsdorff*: Angebot von sechs Milliarden Mark
Z WA N G S A R B E I T E R
Knickern und knausern
Nur wenige Konzerne wollen bisher die Opfer
von Sklavenarbeit in der Nazi-Zeit entschädigen. Nun machen
sie Druck auf die zahlungsunwillige Konkurrenz.
* Oben: am 7. Oktober in Washington; unten: am 5. und
6. Oktober in der „New York Times“.
64
Denn obwohl sich nach Angaben des
Washingtoner Opferanwalts Michael Hausfeld mindestens 2000 deutsche Firmen und
Betriebe als Sklavenhalter der NS-Kriegswirtschaft betätigten, haben sich dem vermeintlichen „Gesamtanliegen der deutschen Wirtschaft“ (Gentz) bislang nur 35
Unternehmen angeschlossen. 16 von ihnen
geben sich öffentlich zu erkennen: Allianz,
BASF, Bayer, BMW, Commerzbank, DaimlerChrysler, Degussa-Hüls, Deutsche Bank,
Deutz, Dresdner Bank, Hoechst, RAG, Siemens, VEBA, Thyssen-Krupp und Volks-
REUTERS
S
eit vier Monaten bettelt der Finanzchef von DaimlerChrysler in fremden Vorstandsetagen um Geld. Manfred Gentz appelliert als Sprecher der
„Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft“ für ehemalige Zwangsarbeiter an
Moral und Verantwortung und sendet
per Post die eindringliche „Bitte um aktive Teilnahme“ am Milliardenfonds.
Doch die Kollegen Vorstände geben
nichts. Porsche-Chef Wendelin Wiedeking
ließ ausrichten, sein Unternehmen sehe sich
keinesfalls in der Nachfolge jenes Konstruktionsbüros, das unter dem Namen Porsche KG Zwangsarbeiter beschäftigte – das
Porsche aber ansonsten gern als „Grundstein“ für das heutige Unternehmen preist.
Babcock Borsig, MAN oder Schering vertrösteten Gentz mit dem Hinweis, die Sache
erst einmal gründlich prüfen zu müssen.
Die deutsche Wirtschaft ist im Begriff,
ihr weltweites Ansehen nachhaltig zu ruinieren. Viele Firmen ducken, tricksen, argumentieren sich aus der Verantwortung.
Längst hat sich der Ruf deutscher Unternehmen als unhistorische Knauser verselbständigt – selbst wenn doch noch eine
Einigung zu Stande kommt.
Anzeigenkampagne*: Schlechte Publicity
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wagen. Die 19 anderen Firmen hingegen
bestehen auf Anonymität oder sind – wie
der Automobilzulieferer Bosch – allenfalls
zu einer vagen Zusage bereit: Man erwäge, sich zu beteiligen.
Viele Unternehmen, die nachweislich bis
Kriegsende Zwangsarbeiter beschäftigt
hatten, äußern sich gar nicht erst – wie
etwa der Energieversorger RWE, der Pharmahersteller Merck oder die Kleiderfirma
Hugo Boss.
Das Gros der deutschen Wirtschaft will
eine Entschädigung offenbar verschleppen,
bis die letzten der im Durchschnitt schon
fast 80 Jahre alten ehemaligen Zwangsarbeiter verstorben sind. Jene Unternehmen, die sich – etwa wegen eines hohen
Exportanteils – schlechte Publicity im Ausland nicht länger leisten können, machen
nun gegen die knickerigen Konkurrenten
mobil.
Am selben Tag, an dem Porsche vor dem
Stuttgarter Landgericht einen Vergleich mit
einem ehemaligen Zwangsarbeiter ablehnte – am Mittwoch vor drei Wochen –, ging
beispielsweise VW-Vorstandsmitglied Klaus
Kocks in die Offensive. Die Industrie solle
endlich konkrete Zusagen machen, erregte
er sich und stellte namentlich die chemische Industrie an den Pranger, die sich bislang „wenig großzügig“ gezeigt habe.
Dass es ausgerechnet der VW-Mann war,
der sich lautstark zu Wort meldete, ist kein
Zufall. Kocks unterhält ausgezeichnete Beziehungen zum ehemaligen VW-Aufsichtsratsmitglied Gerhard Schröder. Der Kanzler hatte intern angekündigt, er wolle jetzt
den Druck auf Drückeberger erhöhen.
Zu spüren bekommen das auch Bahn
und Post. In Gesprächen drängt die Regierung die ehemals staatlichen Betriebe
dazu, ihren hinhaltenden Widerstand aufzugeben und sich am Fonds zu beteiligen.
Eigentlich wollte der Kanzler schon zum
1. September, dem 60. Jahrestag des deutschen Einfalls in Polen, die ersten Opfer
entschädigen. Zur nächsten Verhandlungsrunde Mitte November in Bonn haben die
Deutschen die wohl letzte Chance, eine
einvernehmliche Lösung zu finden. Beim
Treffen in Washington mit seinem amerikanischen Pendant Stuart
Eizenstat Anfang dieses
Monats hatte der deutsche
Unterhändler Otto Graf
Lambsdorff sechs Milliarden
Mark angeboten: Vier Milliarden sollen die Unternehmen, zwei Milliarden
der Bund zahlen. In Wirklichkeit trägt der Steuerzahler noch zwei Milliarden
mehr. Denn die Unternehmen können ihre Beteiligung etwa zur Hälfte als
Betriebsausgaben von der
Steuer absetzen. Daran wird
auch der SPD-Bundestagsabgeordnete Wilfried PenREUTERS
DPA
Deutschland
W. v. BRAUCHITSCH
ner nichts ändern, der dies abschaffen
möchte.
Die Offerte von sechs Milliarden Mark
stimmt hinten und vorn nicht. Denn die
bisherigen Fonds-Mitglieder halten die
Summe für zu hoch: „Mit den derzeit beteiligten Firmen ist das nicht zu stemmen“,
sagt Wolfgang Gibowski von der Stiftung.
Andererseits reicht der Betrag nicht für
eine anständige Entschädigung aller noch
Überlebenden. Bereits im Juli hatte der
Historiker Lutz Niethammer von der Universität Jena Lambsdorff vorgerechnet,
worum es wirklich geht: zehn Milliarden
Mark. Damit könnten 232 000 ehemalige
KZ-Insassen mit jeweils 15 000 Mark und
weitere 643 000 Industriezwangsarbeiter
mit 10 000 Mark entschädigt werden.
Moralische Argumente fördern die Zahlungsbereitschaft der Konzerne kaum –
eher schon wirtschaftliche. „Die Verwundbarkeit auf dem US-Markt steht in
direktem Zusammenhang mit der Bereitschaft, in die Tasche zu greifen“, bestätigt
ein Sprecher des Chemiekonzerns Bayer.
Porsche-Chef Wiedeking
Verantwortung bestritten
Die Folge: Ein Exportgigant wie Bayer
will zahlen, der Bundesverband mittelständische Wirtschaft („keine konkreten
Fälle bekannt“) hingegen vorerst nicht.
Doch auch wer sich verantwortlich bekennt, verklausuliert dies zwischen vielen
Wenn und Aber. Bevor Geld fließt, so fordern beispielsweise die Vertreter von Continental, Hochtief,Varta, Bahlsen oder Gerresheimer Glas, müsse zunächst die Rechtslage geklärt werden, etwa ob eine Beteiligung am Stiftungsfonds vor Entschädigungsklagen in den USA schützt.
Immerhin hat US-Präsident Bill Clinton
ein „Statement of Interest“ angeboten: Sollte es zu einer zufrieden stellenden Entschädigung kommen, will er weitere Prozesse gegen Zwangsarbeiterfirmen abschmettern lassen mit dem Hinweis, sie störten das außenpolitische Interesse der USA.
Doch wirklich helfen wird auch Clintons Erklärung den zögerlichen Zahlern aus Deutschland im Zweifelsfall
nicht, weiß der Unterhändler Lambsdorff:
„Für die Gerichte ist sie unverbindlich.“
Alexander Neubacher
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10 km
DÄNEMARK
H. TEUFEL
Walschutzgebiet
Sylt
DEUTSCHLAND
Föhr
Amrum
Pellworm
Touristenattraktion Wattenmeer: Tabuzonen in der Matschecke
NAT U R S C H U T Z
Neue Nationalparkgrenze
Deichen oder weichen
Alte Nationalparkgrenze
Die Kieler Regierung hat den „Nationalpark Wattenmeer“
vergrößert – gegen massiven Widerstand der Friesen. Nun hofft
die CDU bei der Landtagswahl auf ein Debakel von Rot-Grün.
F
Husum
Tönning
Nationalpark
SchleswigHolsteinisches
Wattenmeer
M. ZAPF
ür Postkarten-Fotografen wäre der Deutschlands Matschecke verschiedene noch meistens von der Ostsee kamen, dieMann genau richtig: Vollbart, stahl- Zonen, die für den Menschen tabu sind ser „Pfütze“ (Friesen-Hohn).
Höhepunkt der Proteste war Ende Aublaue Augen und unter dem Woll- oder, so fürchten zumindest die Einheimipullover ein Brustkorb wie ein Fass. Seit 27 schen, ganz schnell tabu werden könnten. gust die bislang größte Fischkutter-DeDie Gesetzesnovelle hat an der Westküs- monstration. 150 bunte Kutter tuckerten
Jahren tuckert Jürgen Sörns, 44, mit seinem
Kutter „Theodor Storm“ durch das schles- te einen Sturm der Entrüstung entfacht. durch den Nord-Ostsee-Kanal gen Kiel, um
wig-holsteinische Wattenmeer, zwischen Drei Jahre lang wurde gestritten und ge- direkt vor Landtag und Staatskanzlei gegen
Halligen und Inseln, zwischen Sandbän- zetert. Ministerpräsidentin Heide Simonis die Pläne zu demonstrieren. Zwischen den
ken und Küste. Immer hin und her und (SPD) und ihr grüner Umweltminister Masten flatterten Transparente („Stoppt
immer auf der Jagd nach Crangon cran- Rainder Steenblock mussten sich mit Eiern den Öko-Wahn“, „Alles Rainder Blödgon, der Nordseegarnele, im Volksmund: bewerfen lassen. Entlang der gesamten sinn“), die grüne Fraktionschefin Irene
Küste zwischen Elbmündung und däni- Fröhlich wurde als „blöde Schlampe“ tituKrabbe.
Das Tierchen ist nicht nur schwer zu pu- scher Grenze wurden Mahnfeuer entfacht, liert.
Nur wenige Monate vor der Landtagslen, sondern auch äußerst sensibel: „Die in Tönning brannten Strohpuppen mit Nakönnen beispielsweise keinen Schnee ab“, mensschildern „Heide“ und „Rainder“. wahl, der „Schicksalswahl“ (Steenblock)
sagt Fischer Sörns, und sein Helfer Harry Überall stritten die Bürger mit Umwelt- im Norden, die als Weichenstellung für die
Rogalli, 51, wiegt schweigend den Kopf. So schützern und Beamten, die dann auch Wahl in Nordrhein-Westfalen gilt, nahm
die CDU unter ihrem Spitzenkanditreiben die Krabbenschwärme heute
daten Volker Rühe den Kampf ums
hier und morgen dort. Die Fischer halWatt dankbar auf.
ten mit: „Wir sind ja so was von flexiDer Zugereiste Rühe, der hinterm
bel. Da, wo die sind, da fahr’n wir
Deich bei Tönning seine neue Heimat
hin.“
gefunden haben will, kündigte prompt
Aber nicht mehr lange: Wenige Moan, die Novelle sofort nach seinem
nate vor der Landtagswahl am 27. FeWahlsieg zu kassieren. Der Ex-Verteibruar verabschiedete die rot-grüne
digungsminister wird nicht müde, von
Mehrheit jetzt im Kieler Landtag ein
Hallig zu Hallig zu touren und in ramneues Gesetz für den „Nationalpark
melvollen Gemeindesälen seine BotSchleswig-Holsteinisches Wattenschaft zu verkünden. Auf der Insel
meer“. Geschützt werden sollen unter
Pellworm blieb er sogar über Nacht,
anderem die Schweinswale, eine etwa
was CDU-Bürgermeister Jürgen Fedeinen Meter lange Delfin-Art.
dersen, 55, als besondere Ehre sieht:
Die Wahl vor Augen, den Wal im
„Jau, das war schon super.“
Kopf, bestimmten die Koalitionäre für Partner Simonis, Steenblock: Strohpuppen brannten
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M. AUGUST
Der Streit um das Wattenmeer wurde in
den Augen der Friesen zum Symbol für
eine Politik, die über die Köpfe der Menschen hinweggeht.
Künftig reicht Deutschlands größter Nationalpark bis an die Drei-Seemeilen-Grenze. Er wird damit um 60 Prozent vergrößert. Westlich von Amrum und Sylt
wird zudem das erste europäische Walschutzgebiet eingerichtet. Hier ist lediglich
das Fischen mit großen, engmaschigen
Schleppnetzen verboten, wie es nur die
Dänen und Holländer betreiben.
Südlich des Hindenburgdamms gen Sylt
wird es jedoch eine Nullnutzungszone geben, die etwa so groß ist wie die Inseln
Föhr und Amrum zusammen. Hier soll die
Natur ohne jeden menschlichen Einfluss
gedeihen. Die zentralen Schutzzonen für
Seevögel werden zudem zusammengefasst
und vergrößert. Damit sind sie während
der Mauserzeit für die Fischerei gesperrt.
Grund genug für Krabbenfischer Sörns,
um in Kiel bei der Kutter-Demo seinem
Ärger Luft zu machen. Er sieht durch den
Nationalpark seine Existenz bedroht. Die
Schutzzone sei außerdem der „allergrößte Quatsch“: Er habe in 27 Jahren „höchstens“ zehn Wale gesehen.
Das Misstrauen sitzt tief an der Westküste. „Die Verselbständigung des Naturschutzes und der Wissenschaft macht hier
Angst“, sagt Rüdiger Kock, 36, Geschäftsführer des holländischen Krabbenmultis
Heiploeg in Husum. Wenn die Fischer aus
dem Watt vertrieben würden, müssten sie
auf hoher See gegen die Hightech-Kon-
CDU-Kandidat Rühe*
Kampf ums Watt
kurrenz aus Holland und Dänemark anschippern. „Und das überleben die nicht.“
Der Streit um den Nationalpark dreht
sich weniger um die Frage, wie man das
Wattenmeer schützen soll. Was die Landesregierung nun beschlossen hat, wird die
Krabbenfischer auch keineswegs in den
Bankrott treiben. Stattdessen geht es vor
allem um die Frage, wer bestimmt, wie man
schützen kann – die Einheimischen oder
die Obrigkeit von der Ostküste?
Noch halten sich die Friesen für die alleinigen Kenner des weltweit einzigartigen
Ökosystems hinter ihren Deichen. Hans* Im August auf dem Weg nach Pellworm.
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Deutschland
* Oben: Ende August im Nord-OstseeKanal auf dem Weg nach Kiel; unten: beim
Abkochen von Krabben.
70
Fischer Rogalli*: Furcht um die Existenz
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Tatsächlich hat Umweltminister Steenblock ein Problem mit seinen Wählern.
Spätestens seit er den brennenden Holzfrachter „Pallas“ hilflos ins Watt treiben
ließ – eine wesentlich derbere Umweltsünde als die Krabbenfischerei –, gilt
er als politisch schwer angeschlagen.
Schon als er beim umstrittenen Bau der
Ostseeautobahn A 20 durch das Wakenitztal bei Lübeck vor der SPD einknickte, zog er sich den Unmut der grünen
Basis zu.
Als ebenso schwach beurteilen Umweltschützer und Beamte aus dem eigenen Haus die Performance in Sachen Nationalpark: „Man möchte ihn immer trösten“, sagt ein Beamter mitleidsvoll. Da
kommt die Wattenmeer-Novelle gerade
recht, um die aufgebrachte grüne Klientel
zu befrieden.
Gegen solch angeschlagene Gegner hat
die CDU leichtes Spiel, den Widerstand
der Westküste zu mobilisieren. „Naturschutz eignet sich offenbar als wunderbarer Prügelknabe“, sagt Wattenmeer-Experte Rösner. „Eine sachliche Debatte war
in dieser emotionalisierten Atmosphäre
überhaupt nicht mehr möglich.“
Dass der Nationalpark auch große Möglichkeiten für den Tourismus berge, sei
überhaupt nicht mehr vermittelbar gewesen, sagt Helmut Grimm, 58, vom Nationalpark-Amt in Tönning: „Hier herrschen
Ängste vor Veränderung. Der Park stellt
doch eine große Chance für die Region da.
Das kann man doch vermarkten!“
Dass das funktioniert, zeigt das „Multimar Wattforum“ in Tönning, das Heide Simonis Anfang Juni eröffnete. Inzwischen
FOTOS: V. KOHLBECHER / LAIF
W. STECHE / VISUM
benskampf. „Wer nicht deichen will, muss weichen“ ist
zum Grundsatz friesischer
Existenz geworden.
Dieser uralte Kampf zwischen Mensch und Meer
lässt keinen Platz für die Erkenntnisse von Umweltschützern, Biologen oder
Ministerialen. Wenn WWFBiologe Rösner beruhigend
sagt, die küstennahe Kutterfischerei sei doch „genau
das, was wir wollen“, weil
sie nachhaltig sei und keinen ökologischen Schaden
anrichte, glaubt ihm das niemand mehr.
Zwischen 1996 und 1999
fanden 15 öffentliche Anhörungen und mehr als 200
Informationsveranstaltungen
der Landesregierung statt.
Auch als Steenblock ein
Stück nachgab und sich von
der Ausdehnung der Schutzzone auf Strände und Dünen
verabschiedete – was ihm unter anderem Rücktrittsforderungen der Umweltschutzverbände einbrachte –, ließen
die Friesen nicht locker.
Neue Tourismuskonzepte
und Naturschutz, Nachhaltigkeit oder gar Biosphäre
sind an der Westküste kein
Thema mehr. „Rot-grün
wird es hier nicht mehr
schaffen“, sagt MuschelfiKutter-Demonstration*: „Das überleben die nicht“
scher Wagner.
Der Husumer CDU-Landrat Olaf BasUlrich Rösner, 41, vom Husumer „Projektbüro Wattenmeer“ der Umweltstiftung tian, 47, der von der Zeitschrift „natur“
WWF hält dagegen: „Ein Nationalpark ist schon den „Hammer des Monats“ für sein
eine Angelegenheit von nationaler Bedeu- Engagement gegen die Windkraft verlietung. Das kann man nicht einer Region hen bekam, macht hoch erfreut Stimmung
gegen die Gesetzesnovelle: „Man fühlt
überlassen.“
Seit Jahrhunderten leben die Nordfrie- sich von der Landesregierung gelinkt.“
sen gegen das Meer an. Meterhohe Deiche Weder sei die Erweiterung ausreichend
sollen vor der unbeherrschbaren Kraft der begründet worden, noch gebe es genügend
Nordsee schützen, mit Entwässerungen ho- Argumente für ein Nullnutzungsgebiet:
len sich Bauern Hektar für Hektar verlo- „Das ist eine reine Prestige-Fläche“, poltert Bastian in Anspielung auf die flaue
renes Land zurück.
Dort, wo heute Ebbe und Flut wechseln, Bilanz von vier Jahren grüner Umweltwo der Wattschlick Zugvögel und Touris- politik in Kiel.
ten anzieht und wo Schafe auf
Deichen grasen, war immerhin
einst Festland: Vor allem die katastrophalen Sturmfluten von
1362 und 1634 hatten ganze
Landstriche mit sich gerissen.
„Die Leute hier sind stolz auf
ihre Deiche, das versteht kaum
einer“, beschreibt Muschelfischer Paul Wagner, 57, aus Wyk
auf Föhr den ständigen Überle-
Krabbenfischer Sörns
„Allergrößter Quatsch“
haben rund 80 000 Besucher die Aquarien
und Multimedia-Simulationen des Wattenmeers bestaunt. Draußen hinterm Deich
sollen Wattführer den Touristen das Geheimnis von Ebbe und Flut erklären.
Krabbenfischer wie Jürgen Sörns haben
davon allerdings erst mal wenig: „Nur
wenn Volker Rühe einhält, was er versprochen hat, können wir bis zur Rente fischen“, sagt er und hofft auf die Wahl –
wenn auch ein bisschen zaghaft. Schließlich
ist Rühe ja kein Einheimischer, zudem
„eben auch nur Politiker“. Florian Gless
Werbeseite
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J. GÜNTHER
linquent mit vier Wochen Jugendarrest
noch gut bedient – die Mindeststrafe bei einer solchen „Unverschämtheit“, wie Richterin Maria Biesel den schweigenden Türken in der Urteilsbegründung wissen ließ.
„Zustände wie in Wildwest“ beklagt
mittlerweile Reinhold Wolfinger, stellvertretender Rechtswart im hessischen Fußballkreis Friedberg, eine „massive Zunahme der Gewalt“ der Duisburger Spruchkammer-Vorsitzende Gerd Cotta. Sein
Bochumer Kollege Achim Rendelsmann
verhandelt pro Saison inzwischen 20
Spielabbrüche – „früher waren es zwei
oder drei“. Und Berlins oberster Fußballjurist Franz-Peter Mertens notierte in der
vergangenen Spielzeit sogar 92 Partien, die
es nicht bis in die 90. Minute schafften –
9 mehr als 1997/98. Ob in Städten mit 20
Prozent Arbeitslosigkeit oder in Dörfern
mit Heile-Welt-Struktur, landauf landab
Auseinandersetzung in der Kreisliga*: „Klar, dass die Jungs sich wehren“
wird am Wochenende geprügelt, als gehe es
am Ball ums nackte Überleben:
G E WA LT TÄT E R
π Da legte etwa der Torwart des Voerder
Kreisligisten Yesilyurt Möllen den
Schiedsrichter beim Stand von 1:7 mit
der Faust flach, bohrte ihm anschließend
wuchtig die Fußspitze in den Unterleib
und beeindruckte später vor Cottas
Auf den Fußballplätzen der Amateurligen
Spruchkammer mit anatomischer Feinnehmen Pöbeleien und Prügeleien rapide zu,
gliederung: Er habe dem Pfeifenmann
keineswegs in den Unterleib, sondern
immer mehr Spiele enden vor Gericht.
nur in den Bauch getreten.
enn sein Gedächtnis nicht trügt – länderquote. Nach einer noch unveröffent- π In der Superaltliga Bochum für gereifte
Herren ab 50 drosch ein Frührentner von
wofür so ein Kurzkoma schon mal lichten Studie der Universität Paderborn,
Rot-Weiß Stiepel seinem Gegenspieler
sorgen kann –, dann lief gerade die Sport-Urteile in Duisburg, Münster und
den Fußballschuh so stramm ins Gesicht,
die 62. Spielminute, als es dem Schiedsrich- Wuppertal ausgewertet hat, machen die
dass sein Opfer mit einem Jochbeinter Karl-Heinz Mundinger zuerst die Spra- Ausländerteams in den dortigen Kreisligen
nur 10 bis 30 Prozent aus. Ihr Anteil an
Trümmerbruch wochenlang im Kranche, dann die Trillerpfeife verschlug.
kenhaus lag.
„Du Schwein“, pöbelte ihn Kreisliga- Spruchkammer-Verfahren erreicht dagegen
Kicker Nihat S. vom Türkischen Sportver- 40 bis 70 Prozent. Für die Paderborner π Ebenfalls in Bochum wunderte sich der
Spruchkammer-Vorsitzende Rendelsein Waldkirch an. Und während ein ande- Sportwissenschaftler Marie-Luise Klein und
mann eines Tages, warum die Zeugen für
rer TSV-Spieler dem Schiri noch sein Wort Jürgen Kothy steht fest: Auch wenn die
einen Spielabbruch gegen den FC Kosodrauf gab, dass er ihn erst beim Abpfiff in meisten Begegnungen immer noch friedva II die Verhandlung schwänzten. Kein
28 Minuten „totmachen“ werde, beschloss lich enden, hat die Zahl und Schärfe der
Wunder, wie sich herausstellte – die Zeuder Sportkamerad S., die geplante Rest- „interethnischen Konflikte im Fußball begen hatten vorher Anrufe bekommen: Relaufzeit des Referees sofort auf Null zu unruhigend“ zugenommen. Das Klima bei
den ist Sterben, Schweigen ist Gold.
verkürzen. „Plötzlich bekam ich einen den Amateuren sei dadurch „stark belasBeim Deutschen Fußball-Bund gibt es
Schlag ans Kinn, dann war Nacht“, erin- tet“, und das nicht nur in den Metropolen,
nerte sich Mundinger in der Spielverlän- sondern auch auf dem Land. Als Ursachen trotzdem keine Strategie gegen die Gewalt
– dort verweist man auf die
gerung – die fand jetzt vor dem Waldkir- orteten die Sozialforscher
„Männlichkeitsrituale“, die
Zuständigkeit der Regiocher Amtsgericht statt.
nal- und Landesverbände
Wie in der südbadischen Kleinstadt en- in Verbindung mit „Gefür die Amateurklassen. So
den inzwischen immer mehr Fußballspie- fühlen nationaler Selbstbedoktert jede Fußball-Prole aus den unteren Amateurklassen im Ge- hauptung“ geradezu „exvinz auf ihre Art an den
richtssaal. Was vor zweieinhalb Jahren plosiv“ wirkten.
In Waldkirch kam der
Problemen herum. Der
noch als Spezialproblem des MultikultiVerband Mittelrhein in
Schmelztiegels Berlin Schlagzeilen mach- Mann in Schwarz noch
Köln etwa versucht es mit
te (SPIEGEL 11/1997), hat sich zu einem glimpflich davon: „Wenn
einer Postkartenaktion
bundesweiten Hauen und Stechen ausge- der mich an der Schläfe
„Der Gewalt die Rote Karwachsen. Kein Wochenende, an dem nicht trifft, bin ich tot“, ahnt
te“ und einer „Hennefer
irgendwo in der Republik Partien abge- Karl-Heinz Mundinger. So
Erklärung“. Die Unterbrochen werden, in denen es statt um Kön- blieb es bei zehn Tagen
zeichner verpflichten sich
nen und Kraft um Kopf und Kragen geht. Breikost, weil sein Mund
damit, Rasenrüpeln im BeAuffällig oft mit im Clinch: Ausländer- nach dem Bruch des linken
darfsfall ihre Missbilligung
vereine oder deutsche Clubs mit hoher Aus- Kiefergelenkfortsatzes verdrahtet werden musste.
kundzutun.
Unbelastet von jeder Reue,
In Berlin fuhr der Ver* Bei der Partie VfR Bockenheim – Sportfreunde 04
war der 20 Jahre alte De- Prügel-Opfer Mundinger
band in der vergangenen
Frankfurt am vergangenen Sonntag.
„Zustände wie in Wildwest“
T. BARTH / ZEITENSPIEGEL
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Deutschland
Polizei mit zwei Mannschaftswagen zu einer Massenschlägerei anrücken musste.
„Die Vereine sind froh um jeden Trainer,
den sie bekommen“, beschreibt der hessische Oberliga-Spieler und Jugendtrainer
Boris Zielinski das Dilemma, „da kann
man sich nicht noch den Luxus der Auswahl leisten.“
Der Sportfreunde-Vorsitzende Erhard
Heeg, der den Ausländeranteil in seinem Verein aus dem Frankfurter Gallusviertel auf 75 Prozent
schätzt, hält die Hand über
Team und Trainer. „Die
Zuschauer hatten uns
damals als Kanaken und
Ausländerschweine beschimpft, da ist klar, dass
die Jungs sich wehren.“
Zwar beobachtet auch
Heeg, dass seit Balkankrieg
und Kurdenkonflikt mehr
Aggressivität im Spiel ist;
bei neun von zehn GewaltExzessen, glaubt der OberSportfreund, komme der
Auslöser aber von der
Außenlinie.
Vorgestellte Plakataktion „Seid fair zueinander“
„Nazi-Schwein“ oder
„Bimbo“: Egal wer zuerst
Hass zwischen Ausländern
und Deutschen sät – sobald
die Nationalität auf dem
Platz zu Schimpf und
Schande wird, „werden die
üblichen Stufen der Eskalationstreppe mit einem Satz
übersprungen“, berichtet
die Sportwissenschaftlerin
Angelika Ribler von der
Sportjugend Hessen.
Ribler ist Projektleiterin
für ein Modell der Sportjugend des Hessischen FußInnensenator Eckart Werthebach, Verbandspräsident Otto Höhne
ballverbandes und des Landessportbundes, das den
Berliner Anti-Gewalt-Hearing: Brachiale Ballermänner
Täter-Opfer-Ausgleich aus
In anderen Verbänden sieht man die dem Jugendstrafrecht auf den Fußball
Lage weniger dramatisch: Peter Cyran, Ge- übertragen will. Nach einem Jahr Vorbeschäftsführer des Württembergischen Fuß- reitung hat vor zwei Wochen der erste von
ballverbandes, will die 11 000 Sportge- zwölf eigens ausgebildeten „Mediatoren“
richtsfälle pro Saison an der Zahl von mit der praktischen Arbeit begonnen. „Wir
474 000 Mitgliedern im Südwesten gemes- wollen das Gerappel auf den Sportplätzen
sen wissen – dieses Verhältnis findet er in den Griff kriegen“, sagt Ribler; nach
noch nicht „Furcht erregend“. Doch Hand- Ausschreitungen sollen die Schlichter
greiflichkeiten, gibt Cyran zu, nähmen rechtzeitig zum Rückspiel die Gegner ausauch in seinen Stadien zu; der Fußball sei söhnen.
Der Wille ist löblich, doch der Glaube
eben ein Spiegelbild der Gesellschaft.
Selbst in den Jugendklassen kann Ger- fehlt anderenorts schon lange. Was haben
hard Müller, Vorsitzender des Schieds- sie in Bochum nicht alles versucht – Sitrichterausschusses in Berlin, keine ge- zungen mit allen ausländischen Vereinen,
pflegteren Sitten mehr ausmachen. Im und sogar den Ausländerbeauftragten hahessischen Hanau musste bereits ein ben sie eingeschaltet. Und was hat es geF-Jugendspiel für Knirpse bis zu acht Jah- nutzt? Auf die Frage, was man noch maren nach einem wilden Handgemenge chen kann, fällt dem Spruchkammer-Vorsitzenden Rendelsmann nur ein, dass ihm
abgepfiffen werden.
Der A-Jugend-Trainer der Sportfreunde dazu nichts mehr einfällt. Bis ihm endlich
04 Frankfurt verließ vor drei Jahren sogar doch noch ein Wort über die Lippen
in Handschellen den Platz, nachdem die kommt: „Ohnmacht“. Jürgen Dahlkamp
FOTOS: C. DITSCH / VERSION
Woche für ein „Anti-Gewalt-Hearing“ Prominenz von Hertha, Tennis Borussia und
Senatsmannschaft auf. In den Fußballbezirken der Hauptstadt sollen künftig eine
Plakataktion und Sozialarbeiter den
Sportsgeist vor brachialen Ballermännern
retten.Von Strafen allein erwartet man sich
dagegen keine Besserung, seit 1998 nicht
mal der Ausschluss der berüchtigtsten Tretertruppe FC Jugoslavija abschreckende
Wirkung hatte.
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Deutschland
SCHMIERGELDER
Rückkehr zur Ehrlichkeit?
AFP / DPA
Mit einem neuen Abkommen, das Bestechung im Ausland unter Strafe stellt,
haben die Industrieländer einen globalen Feldzug gegen die
Korruption begonnen. In deutschen Konzernzentralen herrscht Alarmstimmung.
Staudamm in Lesotho: Zwei Millionen Dollar für den Projektleiter
C. STACHE
gierung seit Monaten für einen
Feldzug mobilisiert, der die internationale Geschäftswelt irritiert:
Die Aufdeckung und Verfolgung
von grenzüberschreitender Korruption soll zur Waffe im globalen
Wettbewerb werden.
Von der Öffentlichkeit bislang
kaum wahrgenommen, haben sich
seit dem 15. Februar dieses Jahres
im internationalen Geschäftsverkehr die Spielregeln grundlegend
verändert. An dem Tag trat eine
Airbus-Produktion*: Zocken um große Aufträge
Konvention in Kraft, mit der sich
ie Aufforderung zur Denunziation die Mitgliedstaaten der OECD, des Clubs
ist unmissverständlich. „Wenn Sie der Wohlstandsnationen, verpflichtet haeine Beschwerde über Bestechung ben, künftig die Bestechung von Amtsträim Ausland haben, lassen Sie es uns wis- gern und vom Staat beauftragter Privatfirsen“, lockt die Website des US-Wirt- men nicht mehr nur zu Hause, sondern
schaftsministeriums und verweist auf das auch im Ausland mit harten Strafen zu be„einfach zu handhabende“ elektronische legen. Auch dürfen Schmiergelder steuerFormular, das sofort per Mausklick ver- lich nicht mehr als Betriebskosten anerfügbar ist. Die Experten der jüngst einge- kannt werden.
„Dieses Abkommen“, so preist der Basrichteten „Bestechungs-Hotline“, so versichert die amerikanische Behörde, „wer- ler Rechtsprofessor und Leiter der zuständen baldigst und angemessen reagieren“. digen OECD-Projektgruppe, Mark Pieth,
Das ungewöhnliche Internet-Angebot ist „ist der ganze große Durchbruch.“ Wer
Teil einer Kampagne, mit der die US-Re- künftig im internationalen Geschäft noch
besteche, „riskiert, dass er mit der An* In Hamburg-Finkenwerder.
wendung des neuen Rechts vom Markt ge-
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fegt wird“. Pieth: „Da hat ein weltweiter
Umdenkungsprozess begonnen.“
Vor allem deutsche Manager, aber auch
Ermittler und Finanzbeamte werden ganz
gewaltig umdenken müssen. Jahrzehntelang haben die Deutschen ordentlich mitgeschmiert und zugleich mit einer Mischung aus Mitleid und Hochmut auf die
korrupten Staaten geschaut.
„Man muss sehen, dass es Weltgegenden gibt, in denen es zum normalen Usus
gehört, dass Geschenke verteilt und Zuwendungen gemacht werden. Sie bekommen dort keinen Auftrag, wenn Sie sich
nicht an diese Gepflogenheiten halten“,
rechtfertigte etwa Arnold Willemsen vom
Bundesverband der Deutschen Industrie
(BDI) die Praxis. Ohne Schmiergelder
„läuft in vielen Ländern keine Zollabwicklung, keine Planungsgenehmigung und
keine Visa-Erteilung“, assistierte der Vertreter des Deutschen Industrie- und Handelstages, Jürgen Möllering.
Darum hatte die Kohl-Regierung jahrelang die Forderung abgelehnt, wenigstens
die steuerliche Absetzbarkeit der so genannten nützlichen Aufwendungen, Steuer-Chiffre für Bestechung, abzuschaffen.
Ein „steuerliches Abzugsverbot“, mahnte
das Wirtschaftsministerium, würde „deut-
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Deutschland
AFP / DPA
di-Arabien im Jahr 1991.
Noch bevor der Vertrag über
das dreistellige MillionenMark-Geschäft überhaupt
unterschrieben war, trafen
sich Thyssen-Manager mit
Vertretern des Finanzamts
Duisburg-Hamborn.
Die „Erteilung der Aufträge“ müsse „gegen starken internationalen Wettbewerb“
durchgesetzt werden, vermerkt das Protokoll. Dies
setze „nicht unbeträchtliche Provisionszahlungen“
voraus: „Rund 40 Prozent
der Gesamtauftragssumme“
müssten an „mehrere Firmen und Personen“ verteilt
werden. Das war auch
Schreibers Aufgabe. Die HerUnterzeichnung des OECD-Abkommens gegen Korruption*: „Wer jetzt besticht, wird vom Markt gefegt“
ren vom Finanzamt hatten
Deutschen Finanzbehörden ist das keine Einwände – schließlich waren die
sche Unternehmen bis hin zur Gefährdung
Zocken mit großem Geld um große Auf- „Empfänger keine im Inland steuerpflichtivon Arbeitsplätzen benachteiligen“.
Wenig überraschend war daher die Stel- träge durchaus geläufig. So auch im Fall des gen natürlichen oder juristischen Personen“.
Die Schreiber-Affäre belegt auch, wie naiv
lung, welche die Anti-Korruptions-Orga- von Schreiber vermittelten Verkaufs von
nisation Transparency International (TI) 36 Panzern von Thyssen Henschel an Sau- die Vorstellung war, trotz schmutziger Geschäfte in Übersee bleibe die Heimat sauber.
in ihrem neuesten Bericht Deutschland auf
Die Staatsanwaltschaft ist überzeugt, dass
dem globalen Korruptionsmarkt zuwies.
Hitliste der Korruption
Strauß-Sohn Max Josef sowie Thyssen-MaPer Umfrage bei Wirtschaftsführern und
Nach einem von Transparency International
nager an Schreibers Geschäften mitverdienRegierungsbeamten in den Schwellenlänentwickelten Punktesystem von 0 (durchgängig
ten. „Kick-back“ nennen Fahnder solche
dern des Südens ließ TI ermitteln, wer am
korrupte Geschäftspraktiken) bis 10 (korrekte
Rückflüsse, deren Existenz in diesem Fall
häufigsten schmiert. Demnach rangiert
Geschäftspraktiken) wurden Unternehmen aus
alle Beschuldigten jedoch bestreiten.
Deutschland in Europa gleich hinter
19 führenden Exportländern bewertet.
Heute würde Airbus- oder Thyssen-ObeFrankreich, Spanien und Italien (siehe
Die Durchschnittswerte:
ren wegen Auslandsbestechung wohl der
Grafik).
PLATZ
Prozess gemacht. Und Schreiber könnte
Wie üblich üppige Provisionszahlungen
1 China
3,1
Provisionen nicht mehr einklagen: Das
für die Akquise von Auslandsaufträgen bei
Oberlandesgericht Hamm entschied im
der deutschen Industrie bislang waren,
2 Südkorea
3,4
Juni, finanzielle Vereinbarungen mit
zeigt der Fall Karlheinz Schreiber. Die ArSchmiergeldboten seien sittenwidrig.
beitsweise des Intimus des verstorbenen
3 Taiwan
3,5
Dass die neuen Gesetze greifen, dafür
bayerischen Ministerpräsidenten Franz Jo4 Italien
3,7
dürfte schon der Zorn von Konkurrenzunsef Strauß, gegen den die Staatsanwaltternehmen sorgen, die sich durch korrupschaft Augsburg Haftbefehl erlassen hat,
5 Malaysia
3,9
te Praktiken ihrer Wettbewerber benachgilt als typisch.
teiligt sehen. Denn das OECD-Abkommen
Zumeist machen sich die Industrie-Ma6 Japan
5,1
verschafft allen beteiligten Staaten die
nager nicht selbst die Finger schmutzig,
7 Frankreich
5,2
Möglichkeit, mittels gezielter Hinweise in
sondern schalten Vermittler ein. Als solden Heimatstaaten der belasteten Firmen
cher fädelte Schreiber nach Überzeugung
8 Spanien
5,3
Ermittlungsverfahren zu erzwingen.
der Augsburger Staatsanwälte unter ande9 Singapur
5,7
Dieser Mechanismus werde demnächst
rem Geschäfte für den Airbus- und den
in vielen Staaten eine Welle von Verfahren
Thyssen-Konzern in Kanada, Saudi-Arabi10 Deutschland
6,2
auslösen, prophezeit OECD-Experte Pieth.
en und Thailand ein. Zweistellige MillioDie US-Kampagne jedenfalls scheint ernensummen sollen geflossen sein, um lu10 USA
6,2
folgreich zu laufen. „Wir haben inzwischen
krative Aufträge an Land zu ziehen. In
11 Belgien
6,8
über zahlreiche Fälle verwertbare HinweiThailand sahnte nach Erkenntnissen der
se erhalten“, bestätigt Peter Clark, VizeErmittler ein ehemaliger Sonderberater des
12 Großbritannien
7,2
Chef des Betrugsdezernats im US-Justizthailändischen Kabinetts ab, weil er beim
ministerium. „In mehreren Staaten“ werKauf von 17 Airbus-Maschinen für die Luft13 Niederlande
7,4
de man demnächst um Ermittlungen und
waffe und die staatliche Fluggesellschaft
14 Schweiz
7,7
Rechtshilfe nachsuchen.
Thai Airways hilfreich war.
Die neue Lage versetzt denn auch viele
Für den deutschen Fiskus waren solche
15 Österreich
7,8
deutsche Spitzenmanager in AlarmstimPraktiken bislang nie ein Problem. Die
16 Kanada
8,1
mung. Auf Wirtschaftsrecht spezialisierte
Schmiergelder wurden ja stets auf die RechAnwaltskanzleien verzeichnen einen Aufnungen geschlagen, so dass sich „im Inland
16 Australien
8,1
tragsboom. Oft quälen die Konzerne Sünkeine Ergebnisminderung“ ergebe, befand
den der Vergangenheit.
das Bundesamt für Finanzen noch 1994.
18 Schweden
8,3
Selbst für schon vor Jahren unterschrieQuelle: Transparency International e.V., Berlin 1999
* Am 17. Dezember 1997 in Paris.
bene Verträge werden jetzt noch Schmier80
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Deutschland
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Rieger, „wer verliert schon gern wegen
Korruption einen Auftrag?“
Anders als früher hat sich denn auch der
BDI mittlerweile dem Konzept gegen die
Korruption verschrieben. Er sei da, so
Hauptgeschäftsführer Ludolf-Georg von
Wartenberg, „voll engagiert“. Gemeinsam
mit Franz, Rieger und weiteren zwölf Industrieführern hatte er 1997 einen Appell
für einen schnellen Abschluss des OECDAbkommens unterzeichnet. Der Druck der
Industrie, gepaart mit der zunehmenden
Zahl von Korruptionsfällen im Inland, ließ
auch die Bundesregierung einschwenken.
Dass es zu dieser Wende kam, ist ganz
wesentlich das Verdienst einer Organisation, die inzwischen weltweiten Ruhm erlangt hat: Transparency International. Deren Vorsitzender Peter Eigen, früher Weltbankdirektor für Ostafrika, hatte TI 1993
gegründet, weil er nicht länger mit ansehen wollte, wie
der wirtschaftliche Fortschritt der Entwicklungsländer im Korruptionssumpf
versackte.
Mittlerweile ist TI eine
einflussreiche Lobby mit Filialen in 77 Ländern. In
Deutschland zählen neben
Siemens inzwischen auch
ABB, Bosch, der Bauriese
Philipp Holzmann und die
Lufthansa zu den Förderern.
Zumindest in der Theorie ist
die Wirtschaft auf Linie.
Ob das auf Dauer funktioniert, mahnt TI-Chef Eigen, „darüber entscheidet
die Geschäftspraxis der international tätigen Unternehmen“. Um diesen den
Umstieg zu erleichtern, wollen TI-Gruppen demnächst versuchen, Großprojekte
in aller Welt mit einem „Integritätspakt“
korruptionsfest zu machen. Dabei sollen
die konkurrierenden Firmen vorab einen
zivilrechtlichen Vertrag schließen, der jedes Unternehmen schadenersatzpflichtig
macht, das irregulärer Praktiken überführt
wird. „Das Risiko, erwischt zu werden,
wird damit untragbar“, glaubt TI-Fachmann Michael Wiehen, „das schafft Sicherheit.“ Beim Bau einer international
ausgeschriebenen U-Bahn-Linie in Buenos
Aires soll das Modell jetzt erstmals vollständig umgesetzt werden.
Eigentlich sollte der Testfall schon vergangenes Jahr in Deutschland stattfinden:
TI wollte den Bau des neuen Großflughafens in Berlin-Schönefeld nach dem gleichen Muster absichern. Die Landesregierungen von Berlin und Brandenburg lehnten empört ab – so etwas sei „nicht nötig“.
Das war ein Irrtum. Das Ausschreibungsverfahren droht wegen zahlreicher
Dirty Tricks zu platzen, die Staatsanwaltschaft ermittelt.
ARIS
gelder fällig. Noch ist völlig ungeklärt, ob Zürcher Bankriesen UBS. Von diesem
in solchen Altfällen straflos weiter gezahlt Konto (Nummer: 942/7675) sollen rund
werden darf, weil die „Unrechtsvereinba- 20 Millionen Franken an spanische Regierung“ bereits vor Inkrafttreten des Ab- rungsbeamte geflossen sein. Noch schwekommens getroffen wurde. Die Unterneh- rer wiegt, dass nach Perraudins Erkenntmen fürchten Staatsanwälte, die aus jeder nissen der Gesamtumsatz auf dem Konto
neuen Zahlung eine neue Tat konstruieren. über 600 Millionen Franken beträgt. Nach
Dieser Falle ist der Baukonzern Züblin Perraudins Meinung sei dort wohl die
vielleicht nur knapp entgangen. Das Stutt- „Kriegskasse“ des Konzerns geführt worgarter Unternehmen baut gemeinsam mit den, es handele sich um ein „Korruptieinem Dutzend weiterer Firmen im süd- onskonto“. Wofür das Geld verwendet
afrikanischen Bergstaat Lesotho eine Ket- wurde, darüber wahrt das Siemens-Mate von Staudämmen für die Wasserversor- nagement jedoch eisernes Schweigen, der
gung von Johannesburg. Ende Juli wurde Konzern mag dazu keine Stellung nehder staatliche Projektleiter angeklagt, bis men.
1998 rund zwei Millionen Dollar SchmierDas ist riskant. Denn die Führung
geld kassiert zu haben, großenteils über schwarzer Kassen kann auch jenseits des
Schweizer Konten. Dabei sollen 819 862 Strafrechts teuer werden – am KapitalMark von Züblin überwiesen worden sein. markt. Das erfuhr zuletzt der italienische
Züblin-Chef Manfred Nußbaumer de- Mischkonzern Montedison. Vor drei Jahren
mentiert. Weil in diesem
Jahr kein Schmiergeld mehr
floss, von wem auch immer, braucht er die Nachfrage deutscher Staatsanwälte diesmal noch nicht zu
fürchten.
Die Finanzämter sind für
künftige Fälle jedoch angewiesen, vor allem nach überhöhten Provisionszahlungen
zu fahnden, in denen sich
Schmiergelder verstecken
können. „Für die deutsche
Industrie wird es jetzt sehr
ernst“, sagt der SPD-Bundestagsabgeordnete Frank
Hofmann, ein ehemaliger
Kriminaloberrat aus dem
Bundeskriminalamt. „Die
müssen zurück zum System Anti-Korruptionsstreiter Eigen: „Das Risiko wird untragbar“
des ehrlichen Kaufmanns.“
Das ist aber gar nicht so einfach. Beim wurde bekannt, dass die Firma 270 MillioWeltkonzern Siemens etwa gehen im nen Dollar Bestechungsgelder abgezweigt
Schnitt pro Arbeitstag Aufträge im Wert haben soll, die in den Konzernbilanzen als
von einer halben Milliarde Mark ein. „Die Kredite verzeichnet waren. Daraufhin
Umstände der Auftragsvergabe können wir eröffnete die US-Börsenaufsicht ein bis
gar nicht zentral kontrollieren, das müs- heute anhängiges Verfahren wegen Besen wir an Mitarbeiter vor Ort delegieren“, trugs- und Bilanzfälschungsverdachts. Der
sagt Bernd Stecher, Leiter der Zentralab- Kurs der in New York notierten Montediteilung für Auslandsbeziehungen in der son-Werte brach ein.
Münchner Konzernzentrale.
Trotz der Risiken verbinden viele InduZu diesem Zweck hat Siemens „Verhal- strielle die neuen Anti-Korruptionsregeln
tensgrundsätze“ zum Bestandteil der Ar- aber auch mit großen Hoffnungen. „Wir
beitsverträge gemacht. „Kein Mitarbeiter sind froh, dass die Konvention endlich in
darf sich oder Dritten unberechtigt Vortei- Kraft ist“, meint Hermann Franz, Ex-Aufle verschaffen oder anderen gewähren“, sichtsratschef von Siemens und graue Emiheißt es da. Die über 5000 leitenden An- nenz des Konzerns. „Nun haben wir die
gestellten mussten zudem ein „Revers“ un- Chance, dass in vielen Ländern gleichzeiterschreiben, wonach ihnen bei Anwen- tig gegen Korruption vorgegangen wird“,
dung korrupter Praktiken Haftungspflicht ergänzt Chefstratege Stecher.
und Kündigung drohen.
„Jetzt wächst endlich der Mut, nein zu
Das war wohl nicht immer so: Im sagen, wenn Schmiergeld gefordert wird“,
Zusammenhang mit dem Korruptions- hofft auch Harald Rieger, Vorstandsmitskandal um die mit Siemens-Technik er- glied beim Frankfurter MG-Konzern, desrichtete spanische Expresszugstrecke Ma- sen Tochtergesellschaft Lurgi beim Bau von
drid–Sevilla stieß der Genfer Untersu- Raffinerien oder Stahlwerken weltweit um
chungsrichter Paul Perraudin auf ein ge- Milliardenaufträge ringt. „Die Unternehtarntes Nummernkonto von Siemens beim men waren ja selbst die Leidtragenden“, so
Georg Mascolo, Harald Schumann
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FOTOS: ULLSTEIN BILDERDIENST
Deutschland
Berliner Wildschweine (in Wannsee): „Ich befinde mich nicht in Afrika, wo ich mit wilden Tieren leben muss“
Galopp
in die Rabatten
Futtermangel im Wald treibt
Wildschweine in
Rotten nach Berlin. Sie verwüsten Gärten,
Fußballplätze und Friedhöfe.
D
ie Stadt, in der die Menschen wohnen, ist dem Gesetz nach „befriedetes Gebiet“, hier „ruht die Jagd“.
Niemand weiß das besser als die Wildschweine von Berlin.
In Horden, fachkundig Rotten genannt,
fallen die schwarzen Borstentiere derzeit in
die Hauptstadt ein. Denn dort, das haben
die hoch begabten Paarhufer offenbar
schnell gemerkt, lebt sich’s wie im Paradies.
Der Jäger, seit dem Aussterben des deutschen Wolfs einziger natürlicher Feind des
„Sus scrofa“, darf ihm hier nur mit Ausnahmegenehmigung auf die Schwarte
rücken. Auch Polizisten ist lediglich im
Notfall, „bei Gefahr in Verzug“, gestattet,
auf die Borstentiere anzulegen. Von Rechts
wegen gelten Wildschweine in der Stadt
als „herrenlos“. Sie haben freie Bahn –
und wissen das zu nutzen.
„Eine Spur der Verwüstung“ hätten die
Tiere durch seinen Bezirk gezogen, zürnt
der CDU-Bürgermeister von Zehlendorf,
Klaus Eichstädt, 59, und spricht von einer
„Zuständigkeitslücke“, die geschlossen
werden müsse.
Eichstädt, sonst ein besonnener Mann,
ist mit seiner Geduld am Ende und hat
jetzt zu „Mord und Totschlag“ („Frankfurter Allgemeine“) aufgerufen. Er kämpft
84
dafür, dass ein „Mobiles Einsatzkommando“ der Polizei, eine „schnelle Eingreiftruppe“ mit „Jagdscheinen und Gewehren“, in der Stadt Streife geht und das
Borstenvieh zur Strecke bringt.
Ein Überangebot an Eicheln hatte vergangenes Jahr zu einer Geburtenexplosion
bei den Sauen geführt. Der extrem heiße
Berliner Sommer dieses Jahres trocknete
jedoch den Wald aus und trieb die Keiler
und Bachen mitsamt Anhang, Frischlinge
genannt, massenhaft in die Stadt.
Beliebtestes Ziel in Berlin sind die waldnahen Villengebiete mit aufwendigen Gartenanlagen zwischen Grunewald und Wannsee. Nirgendwo sonst finden die Allesfresser
ein so delikates Nahrungsangebot.
Im Schweinsgalopp geht es bevorzugt
nachts in die Rabatten, wo sich die Tiere,
Berlin-Mitte. Bei ihm suchen Opfer nächtlicher Randalen Hilfe.
Auch die Polizei nimmt fast täglich Beschwerden über vagabundierende Saubanden entgegen. Denn nach einem Besuch
der bis zu 1,80 Meter langen und 200 Kilogramm schweren Schweine sehen Obstgärten, Kleingartenkolonien und Komposthaufen wie Kriegsschauplätze aus.
Dahin ist dann nicht nur der ideelle Wert
des liebevoll gehegten Gartens. Nach Paragraf 37 des Landesjagdgesetzes gibt es
nach einer Schweineinvasion auch keinen
Schadensersatz.
Lediglich wenn wie kürzlich in Wannsee
und Spandau Schweine in Villen-Pools ertrinken, birgt die Feuerwehr kostenlos die
Kadaver. Das ist dann, so steht es im Gesetz, „höhere Gewalt“.
Auf der Suche nach Engerlingen,
Mäusen und Würmern in der Erde
schändete ein Trupp Schwarzkittel jüngst gar rund 200 Gräber
auf dem Onkel-Tom-Friedhof in
Zehlendorf. Ein andermal tobten
die Schweine über den Übungsplatz des Fußball-Zweitligisten
Tennis Borussia am Olympiastadion.
Kurz darauf trat die BorstenKorona bei der Bundesliga an und
durchpflügte das Trainingsfeld von
Hertha BSC.
Wie kaum eine andere Spezies
Hertha-BSC-Übungsplatz: Randalierende Saubanden gehören Wildsauen zu den Wendegewinnern. Zu Mauerzeiten gab
vor Vergnügen grunzend, mit Blumen- es auch für Ostschweine kein Durchkomzwiebeln, Schnecken und Gemüsen voll men in den goldenen Westen.
fressen. Zäune sind kein Hindernis, auch
Heute überqueren die exzellenten
geschlossene Behälter vermögen die Sau- Schwimmer mitunter in Kohorten von
en zu knacken.
Brandenburg aus die Havel, stoppen kurz
„Berlins beliebteste Mülltonnen, gefüllt für ein Picknick im Park der Sommerresimit Bioabfällen aus Küche und Garten, ste- denz Friedrich Wilhelms III. auf der ehehen in Heiligensee“, ermittelte Förster Hu- mals West-Berliner Pfaueninsel, 1821 anbert Wehner, 29, von der Jagdbehörde in gelegt von Peter Joseph Lenné („Betreten
U. WINKLER / BERLINER KURIER
TIERE
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der Rasenflächen verboten!“), um dann
gestärkt zum Sturm auf Berlin anzutreten.
Manche Eltern, die der Idylle wegen an
den Stadtrand zogen, lassen heute ihre Kinder nicht mehr allein auf den Spielplatz
ziehen. Berufstätige wagen sich morgens
nicht ins Auto, weil es von grunzenden
Wildschweinen umzingelt ist.
Hundebesitzer wie die Wannseerin Eva
Abel, 62, fürchten um das Leben ihrer
Getreuen. Als Abels Schäferhund „Baron“ sein Frauchen tapfer vor der Verfolgung durch eine Wildsau schützen wollte,
wurde er von einem bulligen Keiler aufgespießt, durch die Luft geschleudert
und schwer am Hinterlauf verletzt. Notoperation.
„Ich befinde mich nicht in Afrika, wo
ich mit wilden Tieren leben muss“, fordert
die Tierärztin Martina Rauch-Ernst, 38, aus
Heiligensee den Senat in einem Schreiben
„eindringlich“ zum Handeln auf.
Normalerweise ist das Schwarzwild mit
dem großen Kopf und den kurzen Beinen
menschenscheu und durch Lärm leicht zu
vertreiben. Doch gibt es immer weniger
echte Wildschweine.
Viele der Sauen sind bereits in der Stadt
geboren und folgen statt dem Rhythmus
der Natur der Pausenglocke der Berliner
Schulen. Dort lagern sie, ganz auf die FünfTage-Woche eingerichtet, von montags bis
freitags und betteln bei den Kindern um
Fütterung, beobachtete der Berliner Forstamtsleiter Roland Grund. Wie an ein Grunewalder Pausenbrot zu kommen ist und
sich andere Nahrungsquellen erschließen
lassen, wird dann in den Schweinefamilien
von Generation zu Generation weitergegeben, fand der Gießener Wildbiologe
Karl Kugelschafter heraus.
Fast blind, aber mit einem hervorragenden Geruchssinn ausgestattet, unterscheiden die Tiere instinktsicher Freund und
Feind. Während der unbewaffnete Vorortbewohner sofort als harmlos ausgemacht
wird, mag er lärmen, pfeifen, schreien,
könnten Schweine den todbringenden Jäger „am Schritt“ erkennen, behauptet
CDU-Mann Eichstädt.
So erobern die cleveren Wildsauen immer weitere Teile der Stadt. Eine Rotte
residiert inzwischen permanent in der so
genannten Fließwiese im urbanen Charlottenburg. Eine andere flaniert tagsüber
öfter durchs Haupttor des Spandauer
Friedhofs „In den Kisseln“, um dort Blumengebinde zu speisen.
Obwohl offenkundig eine Plage mit
großer Zerstörungskraft, haben auch die
Schweine eine Lobby. In Zehlendorf werden die Tiere – trotz Androhung eines Bußgeldes von bis zu 10 000 Mark – gern von
alten Damen gefüttert. Und unlängst bildete sich gar eine Menschenkette, um einer Rotte, die exekutiert werden sollte,
das Leben zu retten. Als der Förster
zur Tat schreiten wollte, war keine Sau
mehr da.
Susanne Koelbl
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Deutschland
Beerdigung
inklusive
Eine Patientin, durch
Blutpräparate mit Hepatitis C
infiziert, verklagt die Firma
Hoechst. Die Branche fürchtet
eine Prozesslawine.
F
ür gewöhnlich reagieren Unternehmen unnachgiebig, wenn sie durch
ein mangelhaftes Produkt ihres Hauses öffentlich ins Gerede kommen – besonders dann, wenn Leib und Leben der
Konsumenten bedroht sind.
So war es auch bei Hoechst: Der Frankfurter Pharma-Riese antwortete zunächst
reflexartig, als ihm eine junge Frau vor
zwei Jahren vorwarf, verseuchtes Blut verkauft zu haben; weil sie an Hepatitis C erkrankt ist, forderte die Patientin 200 000
Mark Schmerzensgeld. Umgehend konterte der Chemiemulti, jeder Anspruch entfalle, weil das Risiko einer Infizierung nicht
vermeidbar gewesen sei.
Inzwischen liegt eine Klage der Frau
bei Gericht, und die Rechtsvertreter von
Hoechst sind unerwartet zurückhaltend geworden. Ein ums andere Mal halten sie
vom Richter gesetzte Fristen nicht ein und
riskieren somit, dass ihre Argumente vom
Gericht wegen Verspätung nicht berücksichtigt werden.
Für diese Nachlässigkeit könne es eine
Erklärung geben, meint Christoph Kremer,
der Frankfurter Anwalt der infizierten
Frau: „Die fürchten ein Urteil, das meiner
Mandantin in der Sache Recht gibt.“
Tausende von Patienten haben sich in den achtziger Jahren durch Spenderblut oder
Blutkonserven verschiedener
Hersteller mit den todbringenden Hepatitis-C-Viren angesteckt. Die meisten ergaben
sich still ihrem Schicksal.
Doch seit bekannt geworden
ist, dass die Industrie möglicherweise fahrlässig verseuchte Blutprodukte in Verkehr gebracht hat (SPIEGEL 33/1999),
begehren viele Opfer auf.
Immer mehr Infizierte wollen gegen die Firmen klagen.
Die Blutbranche fürchtet deshalb eine Prozessflut. Am
Ende könnte sie mit Forderungen auf Schadenersatz und
Schmerzensgeld in dreistelliger Millionenhöhe konfrontiert werden.
Der Prozess, der zur Zeit
vor der 22. Zivilkammer des
Landgerichts Frankfurt läuft, Gefrorene Blutkonserve, Hoechst-Zentrale in Frankfurt:
hat Pilotfunktion. Die heute
30-jährige Hessin leidet an dem so geDie Haftpflichtversicherung der Behnannten Willebrand-Jürgens-Syndrom: Bei ringwerke zahlte der jungen Frau in einem
akuten Verletzungen treten als Folge dieser außergerichtlichen Vergleich 75 000 Mark,
Gerinnungsstörung unstillbare Blutungen Beerdingungskosten inklusive. Dieser Deal
auf, sie braucht dann Gerinnungspräparate. folgte zentral geführten Verhandlungen der
Im Sommer 1984 stürzte das damals 15- Deutschen Hämophiliegesellschaft (DHG):
jährige Mädchen im Schwimmbad. Es erlitt Alle HIV-infizierten Bluter in Deutschland
einen Bluterguss am Hintern. Bei der Be- wurden Ende der achtziger Jahre auf diehandlung in der Universitätsklinik erhielt se Weise abgefunden.
die Verletzte in den folgenden Tagen PlasDoch die Heranwachsende litt zusemakonzentrate der Behringwerke, einer hends darunter, dass sie sich bei der Blutdamaligen Hoechst-Tochter.
transfusion nicht nur mit HIV, sondern
Schon einige Tage danach stiegen die auch noch mit Hepatitis C infiziert hatte.
Leberwerte des Teenagers dramatisch an, Wegen ihrer angegriffenen Leber konnte
das Mädchen musste wieder ins Kranken- sie einige Medikamente, die der Aids-Prohaus. Die Ärzte stellten fest, dass sie sich phylaxe dienen, nicht einnehmen. Die Abmit HIV und Hepatitis C infiziert hatte.
iturientin schloss zwar die Schule mit dem
SIPA PRESS
GESUNDHEIT
DPA
Bummelei mit System?
besten Noten-Durchschnitt ihres Jahrgangs
ab, aber auf die Uni wollte sie nicht mehr
– zu kurz erschien ihre Lebenserwartung.
Irgendwann aber fasste die junge Frau
wieder Lebensmut – und verklagte im September 1998 Hoechst auf Schadenersatz
und Schmerzensgeld.
Der Richter gab den Hoechst-Juristen
zunächst fünf Wochen Zeit zur Erwiderung. Er verlängerte die Frist auf Wunsch
des Pharmakonzerns noch zweimal, doch
ließ die Frankfurter Hoechst-Kanzlei Boesebeck-Droste auch den letzten Termin
ohne Angabe von Gründen verstreichen.
Erst drei Tage vor dem ersten Verhandlungstag am 8. März dieses Jahres und über
sechs Wochen nach der letzten Fristset-
zung reichte die Firma einen Schriftsatz
ein. Richter Stefan Ostermann rügte die
Versäumnisse und meinte, der Prozess könne für Hoechst allein aus diesem Grunde
verloren gehen.
Der Anwalt der klagenden Frau vermutet Strategie hinter der Bummelei: Verliert
Hoechst nun in Frankfurt, müsste der Konzern nur an die kranke Hessin zahlen.Würde das Unternehmen hingegen ein reguläres Urteil kassieren, könnten sich andere
Hepatitis-Infizierte darauf berufen.
Weil es sich um ein laufendes Verfahren
handele, wollte Hoechst gegenüber dem
SPIEGEL keine Stellung zu dem Fall abgeben. Hoechst-Sprecher Carsten Tilger:
„Wir weisen jedoch die Vermutung, eine
Prozessverzögerung anzustreben, entschieden von uns.“
Müsste die Firma in Frankfurt ein Präzedenzurteil hinnehmen, dürfte es für die
Branche teuer werden. Zwischen 200 000
und 400 000 Träger des Hepatitis-C-Virus
gibt es in Deutschland. Die genaue Zahl
kennt niemand, da viele nichts von ihrer
Infektion wissen. Die Krankheit bricht bisweilen erst 10 bis 20 Jahre nach der VirusInfektion aus. Viele Opfer haben sich durch
Bluttransfusionen oder Blutprodukte angesteckt.
Die „Arbeitsgemeinschaft Plasmaderivate herstellender Unternehmen“ rechtfertigte sich, „allen Beteiligten und Betroffenen“ sei die Gefahr verseuchter Produkte bekannt gewesen. Es habe aber letztlich keine sicheren Tests gegeben, um das
Spenderblut von Viren freizuhalten. Und
„der überragende Nutzen“ der Behandlung habe die „unvermeidbaren Risiken
der Therapie bei weitem“ übertroffen. Erst
1990 seien sichere Untersuchungen der
Blutprodukte möglich geworden.
„Und nun stellt sich plötzlich heraus,
dass die uns womöglich die ganze Zeit be-
logen haben“, schimpft Egon Stachel aus
Baunatal-Rengershausen, der sich 1980 bei
einer Nierenstein-Operation infiziert hat.
Der CSU-Bundestagsabgeordnete Gerhard
Scheu fand bei Recherchen für seine juristische Doktorarbeit heraus, dass der Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer bereits im November 1976 einen
so genannten ALT-Test als Standard bei
Gerinnungspräparaten verbindlich vorgeschrieben hatte. Mit diesem Verfahren hätte sich schon vor mehr als 20 Jahren feststellen lassen, ob ein Blutspender an den
Symptomen einer leberschädigenden
Krankheit leide; die Gefahr, gesammeltes
Blut mit Viren zu kontaminieren, hätte auf
diese Weise wesentlich vermindert werden
können. Die Plasmahersteller kritisieren
indes bis heute die „große Ungenauigkeit
der ALT-Testung“, sie hätten damit „keinen
Sicherheitsgewinn“ erreichen können.
Seit Scheus Ergebnisse bekannt geworden sind, fordert die DHG von der Pharmaindustrie vehement Entschädigungen
für die rund 3000 infizierten Bluter – bisher vergeblich. Der Hamburger Anwalt
Jürgen Schacht bereitet deshalb Musterklagen gegen Unternehmen wie die Leverkusener Bayer AG vor.
Schacht prüft zudem, ob er in geeigneten Fällen die Klage mit Hilfe von USKollegen auch in Kalifornien einreichen
kann. Das könnte Erfolg haben, weil der
Bundesgerichtshof in der so genannnten
Apfelschorf-Entscheidung zur Produkthaftung festgestellt hat, dass Geschädigte
nach dem internationalen Privatrecht auswählen können, wo sie vor Gericht ziehen
wollen.
Der Vorteil eines Abstechers in die Vereinigten Staaten: Amerikanische Gerichte
sprechen Opfern fehlerhafter Produkte wesentlich höhere Entschädigungen zu als
deutsche.
Carolin Emcke, Udo Ludwig
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SPIEGEL-Serie über Wende und Ende des SED-Staates (6)
Die Woche vom 30. 10. 1989 bis zum 5. 11. 1989
»Rücktritt ist Fortschritt«
R. SUCCO / ACTION PRESS
Mit halbherzigen Reformversprechungen und Rücktritten will
die SED das Volk besänftigen, mit Stasi-Hilfe eine Großdemonstration
umdrehen – vergebens. Fast eine Million Menschen
fordern auf dem Berliner Alexanderplatz: „Der SED den Laufpass“.
Massendemonstration auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989
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100 TAGE IM HERBST: »RÜCKTRITT IST FORTSCHRITT«
CHRONIK
»Politik zum Weglaufen«
Montag, 30. Oktober 1989
Halle
Fasziniert verfolgt Michael Beleites, 25, die
Rundfunk-Nachrichten: Endlich hat das
Thema Umweltschutz die Straßen erreicht, auf denen an diesem Montag
hunderttausende von DDR-Bürgern demonstrieren.
„Sägt die Bonzen ab, nicht die Bäume“,
„Öko-Daten ohne Filter“, „Leipzigs Luft
ohne Schwefelduft“, „In Elbe, Mulde,
Pleiße gehen Abwässer visafrei auf Reise“
– überall mischen sich Umweltschutzparolen in die Forderungen nach Meinungs- und Reisefreiheit.
Gelegentlich kam Hilfe aus dem Westen.
Zwar versuchten Stasi-Einflussagenten wie
der grüne Bundestagsabgeordnete Dirk
Schneider beharrlich, die Öko-Partei auf
SED-Kurs zu trimmen*. Umweltkämpfer
wie Petra Kelly aber zeigten sich solidarisch mit der ökologischen Opposition im
Osten. Grünen-Geschäftsführer Eberhard
Walde ließ sogar Druckmaschinen und
Geigerzähler, getarnt als Diplomatengepäck, in die DDR schmuggeln.
Doch nun, durch die Montagsdemonstrationen, gewinnt die grüne Bewegung
an Schubkraft, kommen tabuisierte The* Hubertus Knabe: „Die unterwanderte Republik. Stasi im Westen“. Propyläen, Berlin; 590 Seiten; 49,90 Mark.
men außerhalb der Kirchenzirkel zur Sprache – von der Verschmutzung der Elbe bis
zum Waldsterben im Erzgebirge.
„Der Morgen“, die Zeitung der Blockpartei LDPD, prescht vor und veröffentlicht bislang strikt geheim gehaltene Umweltdaten: Alljährlich werden fast fünf Millionen Tonnen Schwefeldioxid und fast
eine Million Tonnen Stickoxide in den
Himmel über der DDR geblasen.
Die Umweltbewegung im Osten
Deutschlands, so scheint es an diesem Tag,
ist nicht mehr zu stoppen, die Gründung einer grünen Partei in der DDR nur noch
eine Frage der Zeit.
Parole der ersten Öko-Demo in Halle:
„Lasst Taten folgen, wir sind dabei.“
Ost-Berlin
Im Bezirk Halle, der mit Umweltschmutz meistbelasteten Region Deutschlands, demonstrieren 50 000 Menschen für
saubere Luft und sauberes Wasser – zur
Freude von Öko-Pionieren wie Beleites.
Auf verlorenem Posten hatte der Tierpräparator lange Zeit gegen die Umweltvergiftung durch den Uranabbau der Sowjetisch-Deutschen Aktiengesellschaft
Wismut gekämpft; allein durch WismutEmissionen starben nach Expertenschätzung binnen 40 Jahren mehr als 5000
Menschen.
Vier Jahrzehnte lang war Umweltschutz
ein Fall für die Stasi gewesen, galten ÖkoKämpfer wie Beleites als Spione und Saboteure. Nur unter dem Schutz der Kirche
konnten Samisdat-Zeitschriften wie die
„Umweltblätter“ oder die „Arche Nova“
erscheinen, die über die verseuchte Luft in
Bitterfeld oder über die Devisengeschäfte
der DDR-Führung mit westlichem Giftmüll
berichteten.
Umweltschützer Beleites in Wismut (r.),
Stasi-Observationsfotos von Beleites (o.)
Über 5000 Tote durch Uran-Abbau
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P. BIALOBRZESKI / LAIF
Das Ende kommt um 21.35 Uhr, plötzlich,
aber nicht unerwartet. „Guten Abend, meine Zuschauerinnen und Zuschauer, liebe
JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO
A. VOSSBERG / PLUS 49 / VISUM
Genossinnen und Genossen“, verkündet der bebrillte
Bärbeiß auf dem Bildschirm,
„diese Sendung wird nach
fast 30 Jahren die kürzeste
sein, nämlich die letzte.“
Nie zuvor bei einer der
1519 Folgen seines „Schwarzen Kanals“ konnte sich
Karl-Eduard von Schnitzler,
71, des Beifalls seiner Zuschauer so sicher sein wie
an diesem Abend. Denn
kein anderer Ost-Berliner
Journalist ist im Volk so
verhasst wie der DDRChefkommentator, den sie
überall „Karl-Eduard von Zurückgetretener Schnitzler (bei seiner letzten Sendung), Gewerkschafter Tisch: „Unsre Erde ist eckig“
Schni...“ nennen – dem
Spottwort zufolge schalten alle ab, wenn am frühen Abend diesen Spruch skandiert
Jetzt, zwei Tage nach dem „ungeheuren
eine Schnitzler-Sendung angesagt wird.
haben, ahnten nicht, dass, was eben noch Satz“, so Simon, kippt die Stimmung unter
Groteske Schwarzmalerei über den Wes- Forderung war, binnen Stunden Fakt wer- den Funktionären: „Die Berichte über die
ten, devote Hofberichterstattung über den den sollte – und zugleich Auftakt einer Wo- Unruhen in den Bezirken reißen nicht ab“,
Osten – für das Volk verkörpert der adlige che der Rücktritte.
eine „Explosion“ droht – ein ArbeiteraufAgitator die Erzübel des sogenannten Jourstand.
nalismus in der DDR: Propaganda statt BeMehrere Vorsitzende von Zentralvorrichterstattung, Zensur statt freier Aus- Dienstag, 31. Oktober 1989
ständen suchen Tisch in dessen Amtsräusprache (siehe Analyse Seite 102).
men auf, die ständig von der Volkspolizei
In den Wochen vor der Wende zeigte Ost-Berlin
bewacht werden. „Du musst erklären, dass
sich der Polemiker, ganz wie sein Förderer Helle Aufregung herrscht in der Zentrale du zurücktrittst, Harry, sonst ist die
Honecker, außer Stande, die Zeichen der des Freien Deutschen Gewerkschaftsbun- Empörung nicht mehr zu bremsen“, forZeit zu erkennen. Als er dem Publikum des (FDGB). Meterweise quellen Protest- dert IG-Bau-Holz-Chef Lothar Lindner.
weismachen wollte, der anschwellende Telexe aus den Fernschreibern.
Tisch, fassungslos, blickt in die Runde:
Bürgerprotest („Großangriff auf die DDR“)
Die Basis in den Betrieben empört sich „Meint ihr das wirklich?“ Alles nickt.
sei vom Westfernsehen gesteuert, wurde seit Tagen über verheerende Auftritte von
„Tisch wendet sich ab. Schluchzen erder Hetzer zum Hatzobjekt Nummer eins. Harry Tisch, 62, dem Vorsitzenden der par- schüttert ihn. Lothar Lindner umarmt ihn
„Schnitzlers Visage bringt alle in Rage“, teitreuen Scheingewerkschaft. Wochenlang tröstend“, beschreibt Simon das „un„Schnitzler in die Muppet-Show“, hatte der Funktionär auf die Unruhe im rühmliche Ende“ eines „Kapitels Gewerk„Schnitzler in den Tagebau“, „Schnitzler Lande ähnlich taub reagiert wie Honecker; schaftsgeschichte in der DDR“.
weg von Bild und Ton, er besudelt die dann plötzlich warf er den VertrauensleuNach ein paar Minuten hat Tisch sich
Nation“ – auf das Stakkato der Demo- ten seiner Gewerkschaft vor, sie seien all- gefangen. Mannhaft diktiert er seinem
Sprüche kann die SED-Spitze nur noch zu lange den Vorgaben der Partei gefolgt. Chefredakteur den ersten Satz einer Presdefensiv reagieren.
„Massenproteste werden angekündigt, seerklärung in den Block: „Harry Tisch hat
Die Volksnäheren unter den Parteigrößen Streiks“, notiert Günter Simon, Chefre- mitgeteilt, er werde auf der Sitzung des
haben ohnehin seit längerem geahnt, dass dakteur des FDGB-Blattes „Tribüne“, an FDGB-Bundesvorstandes am Donnerstag
der Schnitzlersche Journalismus der SED diesem „stürmischen“ Vormittag.
seinen Rücktritt erklären.“
mehr schadet als nützt – wie es von andeDie Meldung geht über die Sender – und
Erst am Wochenende hat Tisch eine blarer Warte Wolf Biermann formulierte:
mable Diskussion in der zunehmend auf- inspiriert sogleich Wortwitzbolde zu einem
müpfigen TV-Sendung „Elf99“ absolviert – neuen Transparent-Text für die nächste
Hey, Schnitzler, du elender Sudel-Ede
„eine Katastrophe“, wie selbst hauptamt- Demo: „Krenz zu Tisch!“
Sogar, wenn du sagst, die Erde ist rund
liche Funktionäre urteilen. Simon: „ReDann weiß jedes Kind: Unsre Erde ist eckig
dakteure, die eine Nachricht für unsere Karl-Marx-Stadt
Du bist ein gekaufter verkommener Hund …
Montag-Ausgabe über die Sendung schrei- Exakt zwei Monate ist es her, da waren
In Dresden hat Oberbürgermeister Wolf- ben wollten, erklären sich außer Stande, sich die Stasi-Gewaltigen noch sicher, das
richtige Rezept für den Umgang mit der
gang Berghofer kurz vor der letzten Sen- den Auftrag zu erfüllen.“
Am Sonntagabend im FDGB-Präsidium Opposition zu kennen.
dung zornigen Protestlern versprochen, er
Am 31. August, bei einer Dienstbesprewerde deren Forderung „Schnitzler weg“ hat Simon den Rücktritt von Tisch geforans DDR-Fernsehen weiterleiten. Bei ei- dert. Begründung: Der Vorsitzende be- chung, berichtete Generalleutnant Siegnem „Sonntagsgespräch“ mit 20 000 Teil- handele den FDGB „wie sein Privateigen- fried Gehlert, 64, welche Mittel er in Karlnehmern vor dem „Roten Rathaus“ in Ost- tum“; ihm fehle es an „moralischer Stär- Marx-Stadt bevorzugt, um das Neue FoBerlin am Vorabend von Schnitzlers letz- ke“; er sei unfähig, für „Eigenständigkeit rum, „diese Banditen, wie man so schön
sagt, in die Furche zu ducken“.
tem Auftritt hatte auch SED-Bezirkschef der Gewerkschaften“ zu sorgen.
Doch der Redakteur fand keine UnterDem Forum-Mitgründer Rolf Henrich,
Günter Schabowski den Kanal voll: „Ich
bin sicher, dass Karl-Eduard diese Stim- stützung. Arrogant setzte sich Tisch noch einem mit Berufsverbot belegten Rechtsmungslage nicht verborgen geblieben ist, einmal über die Massenproteste hinweg: anwalt und Ex-SED-Mitglied, werde die
dass er ein kluger Mann ist und daraus „Es wird zwar so sein, dass einige hun- Stasi mit Hilfe bestellter Störer in Kürze in
derttausend Gewerkschafter austreten, Zwickau denselben Empfang bereiten wie
Konsequenzen zieht.“
„Schwarzer Kanal, heut’ zum letzten aber bei 9,6 Millionen Mitgliedern ist das neulich einem „so genannten Liedermacher“ aus Berlin. Gehlert:
Mal“: Die Leipziger Demonstranten, die zu verkraften.“
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100 TAGE IM HERBST: »RÜCKTRITT IST FORTSCHRITT«
Am selben Tag unterzeichnet der amtsmüde Stasi-Minister einen Befehl an die
Chefs der Kreisdienststellen: Alle „operativen Unterlagen“ seien unverzüglich in
Sicherheit zu bringen – „in Stahlblechbzw. Panzerschränken“.
Nun, acht Wochen später, hocken die
Stasi-Oberen selbst in der Furche.
Als am Vormittag das SED-Politbüro zusammentritt, liegt Krenz und Genossen ein
Geheimbericht der Sicherheitsorgane zur
Beratung vor, der das alarmierende Wort
„Ausnahmezustand“ enthält – und das Eingeständnis, dass die bisher verfolgten Strategien gescheitert
sind:
Moskau
Mittwoch, 1. November 1989
Moskau
Wuschelig schamponiert und braun gebrannt tritt Egon Krenz vor die internationale Presse. Mit strahlendem Lächeln
versucht er den Journalisten weiszumachen, dass zwischen ihm und Gorbatschow
pure Harmonie herrscht.
In Wahrheit musste Krenz dem
Kremlchef berichten, über eine Anerkennung des Neuen Forum sei „noch nicht
entschieden“ worden. Daraufhin hat Gorbatschow laut Protokoll die Zögerlichkeit
Ost-Berlins gerügt: Die Partei dürfe „solchen Problemen nicht ausweichen“, sie
müsse „mit diesen Kräften arbeiten“.
Der Journalistenfrage, ob die DDR freie
Wahlen mit alternativen Kandidaturen gestatten werde, weicht Krenz aus: „Selbst
wenn ich andere Gedanken hätte... Aber
ich habe keine anderen Gedanken...“ Auch
in diesem Punkt differieren die Positionen
der Gesprächspartner. Zuvor bereits hat
KPdSU-Sprecher Nikolai Schischlin Fragen von Journalisten zur Zukunft der DDR
beantwortet.
DPA
Schneeregen fegt über die Piste, als die Interflug-Sondermaschine mit Egon Krenz
abends in Moskau landet. Eine Sil-Limousine bringt ihn in ein Gästehaus auf den Leninbergen, wo sich Krenz auf sein Gespräch mit Gorbatschow vorbereiten will.
Der SED-Chef, der die Sowjetunion als seine „zweite HeiWenn es nicht gelingt, den
mat“ bezeichnet, hat viele BeFührungsanspruch unserer Parkannte in Moskau. Einer von ihtei durch Führungsqualität innen, ein hochrangiger KGBnerhalb der Partei und im Volk
Mann, sucht ihn zu später Stunzu beweisen, sind Eskalationen
de im Gästehaus auf und bittet
nicht zu vermeiden ... Wenn es
ihn zu einem nächtlichen Spanicht gelingt, den Masseneinfluss
ziergang durch den Park der
mit politischen Mitteln zurückResidenz.
zudrängen, ist ein möglicher
Dort eröffnet der Besucher –
Ausnahmezustand nicht auszudessen Namen Krenz auch zehn
Anwalt Henrich
schließen.
Jahre später noch geheim halDass der Versuch, die Opposition in ten wird – dem Staatsgast: „Ihre FreunScheindialoge zu verwickeln und einzu- de, Genosse Krenz, möchten Sie davor Schischlin: „Niemand kann sagen, was geschläfern, fehlgeschlagen ist, entnehmen bewahren, morgen ins offene Messer zu schehen wird. Aber ich bin sicher, dass diese Lage geändert werden sollte und geändie Politbürokraten einem zweiten Papier. laufen.“
Das Dossier berichtet über eine Tagung
Gorbatschow, warnt der Namenlose, ste- dert werden wird.“
am 27. Oktober, bei der die SED-Bezirks- he unter wirtschaftlichem Druck und sei Frage: „Wie wird es geändert werden?“
fürsten Niederschmetterndes zu Protokoll dabei, sich mit Bonn zu arrangieren – auf
gegeben haben. „In den Betrieben fängt Kosten der DDR.
Schischlin: „Durch das Recht zur Wahl.“
die Partei an zu wackeln“, lautet die Hi„Die Sowjetunion“, zitiert Krenz seinen
obsbotschaft aus Schwerin. „Die durchge- KGB-Freund, „erlebt die schwierigste Lage
Während des vierstündigen Gesprächs
führten Foren entwickeln sich zu Ge- seit der Oktoberrevolution ... Um wieder mit Gorbatschow quälen Krenz – wie er
richtsverhandlungen“, meldet der Statt- auf die Beine zu kommen, brauchen wir später bekunden wird – nagende Zweifel
halter aus Neubrandenburg. Und aus Dres- reiche Freunde ... Genosse Krenz, seien an der Loyalität des mächtigen Bündden rapportiert Hans Modrow: „So, wie Sie wachsam. Die Gefahren für die DDR nispartners, „der letztlich über Sein und
gegenwärtig die Lage ist, können wir die sind groß.“
Nicht-Sein der DDR entscheidet“.
Weiterentwicklung des Neuen Forums
Um 3 Uhr morgens legt sich Krenz zur
Vorsichtig erkundigt sich Krenz nach der
nicht aufhalten.“
Ruhe. „Schlafen“, notiert er, „kann ich in künftigen Rolle der DDR in dem von GorIm Politbüro versucht Schabowski an dieser Nacht kaum.“
batschow propagierten „gesamteuropäidiesem Vormittag, Krenz zu radikalen Reformen zu bewegen. Er müsse mehr
„Gags“ bringen, fordert der Berliner Bezirkschef: große und kleine Geschenke ans
ungeduldige Volk, beispielsweise „ein neues Auto versprechen“ – so etwas müsse
„jeden zweiten Tag kommen“.
Doch das Politbüro zeigt sich, wie der
Magdeburger SED-Bezirkschef Werner
Eberlein rügt, „nicht im Stande, politische
Entscheidungen zu treffen“.
Ein Beschluss über den Umgang mit dem
Neuen Forum wird vertagt, ebenso eine
kritische Vorlage der FDJ. Volkskammerpräsident Horst Sindermann, 74, kann das
klein Gedruckte nicht lesen, andere ärgern
sich über den forschen Ton.
Immerhin: Um dem „Erneuerungsprozess nicht länger im Weg zu stehen“, kündigen fünf Altgenossen zwischen 73 und 81
Jahren ihren baldigen Rücktritt aus dem
Politbüro an – darunter mit Anzeichen tiefer Resignation auch Erich Mielke.
Staatsgast Krenz, Gastgeber Gorbatschow: „Dies ist der Judaskuss“
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Durch Trampeln und Pfeifen der gesellschaftlichen Kräfte musste er sein Programm, was er für zwei Stunden geplant
hatte, nach 10 Minuten abbrechen, weil
niemand mehr zugehört hatte.
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100 TAGE IM HERBST: »RÜCKTRITT IST FORTSCHRITT«
schen Haus“: „Die DDR ist ein Kind der
Sowjetunion. Es ist für uns wichtig zu wissen, ob ihr zu eurer Vaterschaft steht.“
Die Reaktion seines Gesprächspartners
hält Krenz mit den Worten fest:
Als übersetzt wird, beobachte ich mein
Gegenüber. Er ist nachdenklich. Er spricht
leise einen Satz vor sich hin, so als würde
er mit sich selbst reden. Ich glaube, es ist
ein russisches Sprichwort, das sinngemäß
heißt: Wie lang sich die Schnur auch windet, es kommt doch ein Ende. In meinen
Notizen steht dahinter ein Fragezeichen.
Setzt Gorbatschow auf eine Wiedervereinigung Deutschlands? Der KP-Chef
weicht aus und verweist auf die angeblich
skeptischen Amerikaner – was den Argwohn von Krenz verstärkt: „Interessant,
denke ich, sie reden mit den USA über die
deutsche Einheit, nicht aber mit der DDR.“
Als Krenz zurückfliegt, ist gewiss: Von
den sowjetischen Freunden kann er weder
eine militärische Beistandsgarantie für den
Fall eines Volksaufstandes noch irgendwelche ökonomische Hilfe zur Restabilisierung der Macht erwarten.
Gorbatschows Versprechen, die Staaten
des ehemaligen Ostblocks dürften ihren
„eigenen Weg“ gehen, hat der Sprecher
des Außenministeriums, Gennadij Gerassimow, soeben auf eine bündige Formel gebracht: „Wir schauen, schauen sehr genau,
aber wir mischen uns nicht ein.“
Diese neue Moskauer „Doktrin“ könne, so Gerassimow, auch als „Frank-Sinatra-Doktrin“ bezeichnet werden – nach
dessen Erfolgssong „I did it my way“.
Schon am Vormittag, als Gorbatschow
den Gast aus Ost-Berlin mit dem traditionellen Bruderkuss begrüßte, hatten sich
Krenz-Begleiter überzeugt gezeigt: „Dies
ist der Judaskuss.“
Ost-Berlin
Der Anrufer gibt sich geheimnisvoll. Der
Mann stellt sich als Bauarbeiter vor und rät
den Redakteuren der SED-eigenen „Berliner Zeitung“: „Schaut euch mal an, was im
Ketschendorfer Weg 59 in Biesdorf geschieht.“
Reporter Hans Erdmann fährt an den
Berliner Stadtrand und notiert:
der „Berliner Zeitung“ – und löst eine Lawine aus. Was vor einem Jahr nur Geraune verursacht hätte, bringt landauf, landab
die Volksseele zum Kochen.
Kleine Gewerkschafts- und SED-Mitglieder, die selbst hinter grauen, bröckelnden Fassaden leben und für jede Tüte Dübel Schlange stehen müssen, geben wegen
der Vorzugsbehandlung des Arbeiterführers zu Abertausenden ihre Mitgliedsbücher zurück. Andere stellen die Beitragszahlung ein.
„Ich habe in meinem Leben immer einfach, normal gelebt“ – die Erklärung, mit
der Nennstiel auf die bislang beispiellose
journalistische Enthüllung reagiert, facht
den Zorn der Leser weiter an.
Am Abend wird der Gewerkschaftsboss
zum Rücktritt gezwungen – erstes Opfer
der von Tag zu Tag mutiger agierenden
Presse. In den folgenden Wochen werden
DDR-Medien zwischen Rügen und Suhl
dutzendweise ähnliche Fälle von Funktionärshabgier aufdecken.
Donnerstag, 2. November 1989
Warschau
Bei seinem Antrittsbesuch in Polen wird
Krenz auf dem Warschauer Flughafen von
„guten Freunden“ empfangen. Wenig später, auf Schloss Belvedere, teilt der kommunistische Staatspräsident Wojciech Jaruzelski dem Genossen aus Ost-Berlin Tröstliches mit.
Die Staaten Westeuropas seien ebenso
wie Polen strikt gegen eine Wiedervereinigung Deutschlands, versichert der Präsident dem tief verunsicherten Krenz. Ein
Stenograf hält Jaruzelskis Worte fest:
In meinen Gesprächen mit Cossiga, Andreotti, Mitterrand und Thatcher sagten
sie auch, dass (eine Wiedervereinigung)
überhaupt nicht möglich sei. Frau That-
cher erklärte in einem Vier-Augen-Gespräch, eine Wiedervereinigung sei absolut
unannehmbar. Man dürfe keinen Anschluss
zulassen, sonst würde die BRD auch noch
Österreich schlucken. Das wäre eine reale
Kriegsgefahr. Öffentlich geben sie das
natürlich nicht zu, aber sie sind sich dessen
bewusst, was das bedeuten würde.
Im Übrigen ist der Staatsbesuch wenig
geeignet, Krenz optimistisch zu stimmen.
Gestern, im Gespräch mit Gorbatschow,
hat der SED-Führer seine Angst eingestanden, dass sich nach einer Zulassung
des Neuen Forum in der DDR „etwas Ähnliches wie die Solidarnosƒ“ entwickelt, das
Bündnis zwischen Arbeitern und Bürgerrechtlern. Nun verspricht er sich von den
polnischen Genossen guten Rat für die OstBerliner Regierungspolitik. Doch die Warschauer haben nur Warnungen parat.
Die Partei hat es mit dem Kriegsrecht
versucht – und ist gescheitert. Mit Panzern,
sagt Jaruzelski, hätten die Kommunisten
geglaubt, „den Deckel auf dem Topf halten
zu können, aber die Arbeiterklasse stand in
der ersten Reihe gegen uns“.
Dann hat sich die Partei mit der Opposition an einen Runden Tisch gesetzt – und
durch ungeschicktes Taktieren die zu lange
als Satelliten missachteten Blockparteien
gegen sich aufgebracht.Auf diese Weise hätten die Kommunisten, so Parteichef Mieczyslaw Rakowski zu Krenz, „die Quittung für
unsere früheren Sünden“ bekommen.
Am Ende habe die Partei nach langem
Zögern freie Wahlen zugelassen – und
haushoch verloren. Nun könne sie froh
sein, sagt Juruzelski, dass ihr wenigstens
„ein Kontrollpaket Aktien“, ein Rest von
Einfluss, geblieben sei: die „Beteiligung an
der Regierung, die Sicherheitsorgane und
die Armee und das Amt des Präsidenten“.
Schließlich gibt Rakowski dem Gast die
Warnung vor drei gefährlichen Fehlern mit
auf den Weg nach Berlin: Gefängnisstrafen
Auf der Baustelle eröffnen Bauarbeiter
dem Journalisten, das Domizil im Grünen
sei ein Objekt der „FDJ-Initiative“; die
Maurer seien dafür eigens vom U-BahnBetriebswerk Friedrichsfelde abgezogen
worden. Bauherr sei Gerhard Nennstiel,
43, Vorsitzender der Ost-IG Metall.
Erdmanns Bericht über den korrupten
Gewerkschaftsbonzen erscheint auf Seite 3
96
C. HIRES / GAMMA / STUDIO X
Da steht ein Eigenheim kurz vor seiner
Vollendung: Zwei Etagen mit reichlich 200
Quadratmeter Wohnfläche, zehn Räume,
Gasheizanlage, Bäder und Duschen, die
Fenster sind BRD-Import, ein zweistöckiger Wintergarten ist im Entstehen.
Staatsgast Krenz, Gastgeber Jaruzelski: „Deckel auf dem Topf halten“
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100 TAGE IM HERBST: »RÜCKTRITT IST FORTSCHRITT«
ordner. Unterbrochen wurde das bürokratische Einerlei einmal im Jahr durch eine
skurrile Faschingsfeier, bei der sich Mielkes
Offiziere als Staatsfeinde verkleideten –
als Bischöfe, Pazifisten und Hooligans.
An diesem Tag ist alles anders. In der
Zwingburg an der Normannenstraße
herrscht Endzeitstimmung: Trotz massiver
Stasi-Einmischung droht die für morgen
angekündigte Großdemonstration auf dem
Alexanderplatz außer Kontrolle zu geraten. Ein Marsch auf die Geheimdienstzentrale ist nicht auszuschließen.
Im Ministerium geht im Wortsinne das
Licht aus. Die MfS-Spitze befiehlt den
P/F/H
stärkten nur den „Märtyrer-Mythos“ von
Oppositionellen; „Privilegien“ für die Regierenden „reizten die Menschen in besonderer Weise“; „was man legalisieren
darf und was nicht“, müsse rechtzeitig entschieden werden.
Beiden Gesprächspartnern ist klar: Genau diese Fehler sind in der DDR bereits
begangen worden – unter der Verantwortung oder Mitverantwortung von Krenz.
Am Ost-Berliner Flughafen Schönefeld
wird der Rückkehrer von ZK-Sicherheitschef Wolfgang Herger erwartet. Welche
Schlussfolgerungen die beiden auf der
Rückfahrt in die Stadt ziehen, offenbart
tion mit den Ordnungshütern bedacht –
sich ängstigen, die Angelegenheit könnte
ihnen über den Kopf wachsen.
Manch einer würde aus Angst vor der eigenen Courage die Kundgebung am liebsten wieder absagen.
„In einer Beratung der Gewerkschaftsvertrauensleute der Theaterschaffenden Berlin“ ist laut Stasi-Notiz daher „festgelegt“
worden, „eine weitere Bekanntmachung
größeren Stils – z. B. in Massenmedien – zu
unterbinden, weil sonst die Teilnehmerzahl
zu hoch ansteigen könnte ... Einige Organisatoren brachten die Befürchtung zum Ausdruck, die Teilnehmerzahl könnte 500000
Demonstranten erreichen, falls die Werbung
dafür nicht gestoppt werde“.
Doch die Mobilisierung haben zu diesem
Zeitpunkt längst andere in die Hand genommen. „Die Absicht zur Durchführung
der Demonstration“, meldet die StasiHauptabteilung XX, „ist republikweit popularisiert worden, vornehmlich in Künstler- und Kirchenkreisen.“
In der Zentrale macht sich die Angst
breit, die bevorstehende – möglicherweise entscheidende – Machtprobe mit der
Opposition könne mit einem Sturm auf
die Mauer oder auf die Normannenstraße
enden. Um gegen „mögliche Angriffe“ auf
ihr Quartier gewappnet zu sein, lässt die
Stasi Waffenkammern und Munitionsräume sichern. Zugleich wird „die schnelle
Verlagerung operativ bedeutsamer Materialien und Unterlagen“ vorbereitet.
Herger später einem Historiker: „Jetzt half
nur noch Modrow, den Gorbatschow sehr
gelobt hatte, als Ministerpräsident.“
Freitag, 3. November 1989
Ost-Berlin
Seit 40 Jahren wuchert im Ost-Berliner
Stadtteil Lichtenberg ein gargantueskes
Parallel-Universum. Um Platz zu schaffen für seine Zentrale des Schreckens, hat
Erich Mielke einen ganzen Stadtteil mit
Beschlag belegt.
In dem grauen Konglomerat aus Hochhäusern und Flachbauten, Kliniken und
Kantinen, Archiven und Werkstätten arbeiten 25 000 Hauptamtliche – allesamt mit
militärischem Rang; die Küchenfrauen im
Ministerium für Staatssicherheit etwa sind
Feldwebel.
Jahrzehntelang ging in „der Firma“ alles seinen sozialistischen Gang. Der „Genosse Armeegeneral“ hortete Gastgeschenke, vom bulgarischen Zinnteller bis
zum mongolischen Krummsäbel, und sammelte Orden (insgesamt 274); Tüftler montierten Geheimkameras in Gießkannen
und Wanzen in Handtaschen; Führungsoffiziere füllten Regale mit Spitzelberichten,
im Laufe der Zeit 122 Kilometer Akten98
Tschekisten, sich einzuigeln: „Bei Dunkelheit sind die Arbeitsräume zu verdunkeln.“
Wochenlang hatte die Geheimpolizei geglaubt, die Veranstalter des geplanten
„Meetings“ im Griff zu haben. Als völlig
unkalkulierbar gilt neuerdings jedoch das
Verhalten des Fußvolks, das, wie Spitzel
aus allen Ecken der Republik melden, zu
zehntausenden nach Berlin strömen will.
Vergebens haben sich SED und Stasi
bemüht, den Zulauf aus der Provinz zu
drosseln. Noch am 31. Oktober schrieb
Mielke an seine Dunkelmänner:
Durch Dialogangebote und andere gesellschaftliche Möglichkeiten in den Wohnorten, Arbeits- und Unterrichtsstätten soll
gezielt einer Teilnahme von Personen, Arbeits- und Schulkollektiven an dieser Demonstration bzw. an dem Meeting in der
Hauptstadt entgegengewirkt werden.
Doch der greise Minister hat die Sogkraft der Veranstaltung unterschätzt.
Bereits einen Tag nach dem Mielke-Brief
notierte Stasi-Leutnant Edgar Hasse im
Anschluss an eine Dienstbesprechung:
„Demo am 4. 11. scheint nicht mehr überschaubar ... Sache kann nicht mehr gestoppt werden.“ So gewaltig ist der erwartete Ansturm, dass selbst die Veranstalter
– in rotpreußischer Disziplin um Kooperad e r
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Geschenkesammlung im Mielke-Büro: „Arbeitsräume verdunkeln“
SED-Politikerin Honecker
Gemüter besänftigen
Ihre Waffen sollen die Sicherheitskräfte
nicht einsetzen dürfen. „Die Anwendung
der Schusswaffe im Zusammenhang mit
möglichen Demonstrationen ist grundsätzlich verboten“, hat der Verteidigungsrat
angeordnet.
Um das Schlimmste zu verhindern, mobilisiert die Berliner SED tausende bewährter Anhänger, die darin erfahren sind,
ihrer Partei als Claqueure zu dienen und
Störer aus dem Weg zu rempeln. Es sei
veranlasst, halten die Geheimdienstler
fest, dass „gesellschaftliche Kräfte in Abstimmung mit der Partei wirkungsvoll zum
Einsatz gebracht werden“.
Die wichtigste Aufgabe hat an diesem Tag SED-Generalsekretär Egon Krenz
zu erfüllen. Er soll am Vorabend der Großkundgebung die Gemüter der Bürger be-
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100 TAGE IM HERBST: »RÜCKTRITT IST FORTSCHRITT«
Als der Morgen graut, hat die Stasi ihre
Vorbereitungen für die mit Bangen erwartete Kundgebung auf dem Alex abge-
R. SUCCO / ACTION PRESS
Sonnabend, 4. November 1989
Ost-Berlin
Krenz sitzt unterdessen, hochgradig nervös, im Arbeitszimmer von Innenminister
Dickel. Mit Stoph sowie Stasi-Minister
Mielke und Verteidigungsminister Keßler
verfolgt er per Monitor das Geschehen.
Für den Fall, dass es zu dem befürchteten Grenzdurchbruch am Brandenburger
Tor kommt, sind ein heißer Draht zu Gorbatschow und Standleitungen zur Sowjetarmee in Wünsdorf und zur KGB-Zentrale in Karlshorst geschaltet.
Trotz feuchtkalten Wetters haben sich
auf dem Alex nicht – wie von der Stasi befürchtet – 500 000 Menschen versammelt,
sondern fast eine Million. Und viele tragen
nicht die staatstreuen Parolen, die zuvor
zwischen Veranstaltern und Volkspolizei
abgesprochen worden waren, sondern Plakate mit jener Mischung aus Biss und Witz,
die aus Leipzig und anderswo bekannt ist:
„Kein Artenschutz für Wendehälse“,
„Trittbrettfahrer, zurücktreten!“
Die Kundgebung leitet Henning Schaller vom Maxim-Gorki-Theater, ein von der
Stasi als „politisch-negativ“ eingeschätzter Mann – der klammheimliche Versuch
der Geheimpolizei, „Einfluss“ auf die
„Festlegung des Moderators“ zu nehmen,
ist fehlgeschlagen.
Wie zum Hohn lassen die Organisatoren
den Protestbarden Kurt Demmler singen:
Irgendeiner ist immer dabei
von der ganz leisen Polizei.
Irgendeiner macht immer ’n Strick
und wenn du’s nicht bist, bin’s ick.
Das DDR-Fernsehen überträgt live. So
sind Abermillionen Zeuge, wie der StasiPensionär Markus Wolf (siehe Porträt Seite 100) mehr Buhrufe als Beifall erntet: Ihn
hat Schallers listige Regie unmittelbar nach
Kundgebungsredner Heym,
Kundgebung auf dem Alexanderplatz
„Als habe einer die Fenster aufgestoßen“
J. WITT / SIPA PRESS
schlossen. In konspirativen „Objekten und
Wohnungen mit Telefonanschluss“ entlang
der Demonstrationsstrecke liegen befehlsgemäß hunderte von Stasi-Leuten auf der
Lauer. Vom Marx-Engels-Platz bis zur
Grenze haben bewaffnete Geheimpolizisten Posten bezogen.
Die Befehlslage ist klar: Geschossen werden darf während der Demonstration
nicht, und auch Festnahmen sollen möglichst unterbleiben. Gewaltanwendung,
„der jeweiligen polizeilichen Situation angemessen“, ist nur außerhalb des „Sichtbereiches von Kameras und Fotoapparaten“ erlaubt.
Als gegen neun Uhr die ersten Demonstranten auftauchen, unternehmen StasiMänner in Räuberzivil noch den hoffnungslosen Versuch, sie wieder nach Hause zu schicken: Nach der jüngsten KrenzRede sei die Kundgebung doch überflüssig,
argumentieren sie.
Unterdessen wartet Bärbel Bohley am
Grenzübergang Friedrichstraße vergebens
auf die Einreise von Wolf Biermann, den
sie zur Demonstration eingeladen hat. Der
Liedermacher wird von den Grenzern
nicht durchgelassen – und spricht Journalisten ins Mikrofon: „Vor 25 Jahren wurde
ich verboten, ausgeulbrichtet, 1976 in den
Westen ausgehoneckert und jetzt ausgekrenzt.“
sänftigen, die allerorten „Rücktritt ist Fortschritt“ rufen.
In einer abendlichen TV-Ansprache verkündet Krenz ein Bündel von Demissionsankündigungen und Reformversprechen.
Bereits tags zuvor waren diverse Abdankungen publik geworden – von Bildungsministerin Margot Honecker, den
Blockpartei-Vorsitzenden Gerald Götting
(CDU) und Heinrich Homann (NDPD) sowie zwei SED-Bezirkschefs. Nun gibt
Krenz die am Dienstag im Politbüro abgesprochene Demission der Seniorenriege
bekannt, darunter, neben Mielke, auch
Hermann Axen (Außenpolitik) und Kurt
Hager (Ideologie).
Am kommenden Montag soll zudem,
wie Krenz mit Willi Stoph vereinbart hat,
der gesamte Ministerrat zurücktreten.
Über diesen Termin und die geplante
Nachfolgeregelung informiert der SEDChef den Sowjetbotschafter Kotschemassow: „Ich werde dem ZK vorschlagen,
Hans Modrow als Kandidaten für den neuen Ministerpräsidenten zu nominieren.“
Um den Volkszorn zu dämpfen und um
eine erneute Besetzung der Prager Botschaft zu vermeiden, gibt die Regierung
überdies eine erstaunliche Entscheidung
bekannt: Die DDR gestattet ihren Bürgern,
vorerst – bis zum Inkrafttreten des geplanten neuen Reiserechts im Dezember –
die Republik via ∏SSR gen Westen zu verlassen, ohne jegliche Formalitäten.
Kaum jemandem erschließt sich zu diesem Zeitpunkt die politische Tragweite des
Beschlusses.
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100 TAGE IM HERBST: »RÜCKTRITT IST FORTSCHRITT«
Sonntag, 5. November 1989
Ost-Berlin
Die Fenster der Stasi-Wohnung über dem
Fleischerladen an der Plesser Straße 8 bleiben heute abend dunkel – die Geheimpolizei hat ihre Agenten auf der anderen
heimpolizei konspiriert, spielen Vertreter
der von der Stasi infiltrierten Öko-Gruppen und des SED-nahen Kulturbundes auf
Zeit. Die Versammlung löst sich auf.
Enttäuscht fährt Jordan mit seinem Trabi nach Hause. Zur Gründung einer grünen
Partei wird es – spät, zu spät – erst am 24.
November kommen, zu einem Zeitpunkt,
zu dem das Thema Wiedervereinigung die
Umweltproblematik wieder in den Hintergrund gedrängt hat.
Um 22 Uhr verschließt Hilse die Pforten
seines Gotteshauses. Gegenüber, in der
konspirativen Wohnung, auf deren Balkon
„die Herren von der Firma“ an warmen
Sommerabenden gern ein paar Runden
Skat spielten, ist noch immer alles dunkel.
Straßenseite platziert, mitten im Beobachtungsobjekt, dem rotbraunen Ziegelbau
der Treptower Bekenntniskirche.
Gegen 19.30 Uhr versammeln sich in
dem Gotteshaus rund 300 Menschen. Pfarrer Werner Hilse, 55, Betreuer von Ausreisewilligen, Homosexuellen und Umweltschützern, hat neben dem Taufbecken an
der Stirnwand (Aufschrift: „Eine feste Burg
ist unserer Gott“) einen Tisch aufbauen
lassen. Dahinter verliest der bärtige Carlo
Jordan, 38, Mit-Initiator der Ost-Berliner
„Umweltbibliothek“, einen Aufruf zur
„Gründung einer Grünen Partei“.
Doch der Vorschlag wird zerredet.
Energisch und eloquent versucht der Vertreter des Demokratischen Aufbruchs,
Rechtsanwalt Wolfgang Schnur, eine formale Parteigründung zu verhindern.
Ähnlich wie der Anwalt, der unter dem
Decknamen „IM Torsten“ mit der Ge-
Prag
„Eure Politik ist zum Weglaufen“ – die Zukunftsangst, die der Demonstrationsspruch
einfängt, hat auch der Liberalisierer Krenz den DDR-Bürgern
nicht nehmen können.
Seit Jahresbeginn hat der Arbeiter-und-Bauern-Staat rund
180 000 Menschen verloren,
mehr als ein Prozent der Bevölkerung. Und die Absetzbewegung hält weiter an.
Über Ungarns grüne Grenze
haben 50 000 DDR-Bürger die
Flucht ergriffen. Bis Silvester
sind sämtliche InterflugMaschinen auf den Stecken
Berlin–Budapest und Dresden–Budapest ausgebucht; zu
haben sind nur noch RückGrünen-Treffen in Treptow: Die Stasi spielt auf Zeit
flüge.
Seit Krenz vor zwei Tagen die ∏SSRGrenze geöffnet hat, ist die Ausreisebewegung zur Stampede geworden: Binnen 48
Stunden sind mehr als 20 000 Menschen in
den Westen gereist.
Allmählich erst erschließen sich den Beobachtern die Dimensionen des Wandels.
Der Kommentator der West-Berliner „Tageszeitung“ schreibt für die Montagsausgabe seines Blattes:
T. HEIMANN
Demmlers umjubeltem Auftritt aufs Podium geschickt.
Günter Schabowski macht die letzten
Partei-Hoffnungen zunichte, auf die
Demo „stimulierend im progressiven Sinne einwirken zu können“ (SED-Bezirksvize Helmut Müller im geheimen Vorbereitungsgespräch). Dem beflissenen Wendehals – „Wir lernen unverdrossen“ –
müssen die Veranstalter beispringen gegen
die überbordenden Zurufe: „Aufhören,
aufhören!“
Den richtigen Ton treffen hingegen Redner wie der Liberaldemokrat Gerlach („Es
geht jetzt um den Rücktritt der Regierung“) oder Stefan Heym: „Es ist“, ruft
der Schriftsteller, „als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der
Stagnation, nach all den Jahren der Dumpfheit und des Miefs, des Phrasengewäschs
und bürokratischer Willkür.“ Die Schauspielerin Steffi Spira zitiert am Ende Bert
Brecht: „So wie es ist, bleibt es nicht ... Aus
Niemals wird: Heute noch!“
Dem werden Historiker später wenig
hinzuzufügen haben. „Der 4. November
ist ein Markstein“, urteilt der Wende-Chronist Stefan Wolle: „Von nun an geht nichts
mehr zurück.“
Die Mauer ist gefallen ... Seit Freitagnacht kann sich ein DDR-Bürger
aus Karl-Marx-Stadt in seinen Trabi
setzen und nach München fahren ... Der
Wind, der aus dem Osten kommt, hat eine
solche Wucht bekommen, dass die historischen Relikte, die da vorbeiwirbeln,
kaum noch Aufmerksamkeit erregen …
Es ist die erstaunlichste, die unvorstellbarste Revolution, die man sich denken
kann.
DPA
Unvorstellbar, in der Tat. So unvorstellbar, dass keinem Kommentator in den Sinn
kommt, die Mauer könnte drei Tage nach
Erscheinen dieses Textes wirklich brechen.
DDR-Bürger auf Westkurs (bei Schirnding): „Die Mauer ist gefallen“
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Jochen Bölsche;
Hans Halter, Sebastian Knauer,
Norbert F. Pötzl, Irina Repke,
Cordt Schnibben, Peter Wensierski
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100 TAGE IM HERBST: »RÜCKTRITT IST FORTSCHRITT«
perfekt wie früher. Den auflagenträchtigen
Vorwurf etwa, der verstorbene SPD-Politiker Herbert Wehner sei ein DDR-EinPORTRÄT
flussagent gewesen, musste er 1997 umgehend korrigieren: Wehner habe „nie und in
keiner Weise“ im Dienste Ost-Berlins gestanden.
Immer häufiger verstrickt sich der Altmeister der Camouflage in dem Wust aus
Lebenslügen und Legenden, mit denen er
seine eigene Biografie kaschiert, die vor
allem eines beweist: wie weit sich einer
von den humanitär-marxistischen Idealen
seiner Jugend entfernen kann.
„Mut, Mut und nochmals Mut“ hatte
ls der ehemalige Spionagechef die seine einstigen Offiziere appelliert: „Wir
mikrofonbestückte Rednertribüne schweigen.“ Bald aber zeigte er sich selbst ihm sein Vater gepredigt, der aus Naziauf dem Ost-Berliner Alexander- in immer neuen Interviews und Büchern, Deutschland nach Moskau emigrierte Arzt
platz verließ, blieb ihm „tatsächlich die für die ihm teils sechsstellige Honorare ge- und Schriftsteller Friedrich Wolf. Doch
Spucke weg“ – er brachte „keinen weite- boten wurden, so red- und schreibselig wie selbst nachdem viele von „Mischas“ Lehkein anderer Würdenträger der verflosse- rern und Freundeseltern stalinistischen
ren Satz mehr heraus“.
Säuberungen zum Opfer gefallen waren,
Mit schrillen Pfeifkonzerten und erreg- nen DDR.
Dabei beherrscht der einstige „Spiona- bewahrte sich der begeisterte Jungkomten Zwischenrufen („Aufhören!“, „Aufhängen!“) hatten am 4. November 1989 gechef im geheimen Krieg“ (Wolf-Buch- munist (Jahrgang 1923) den Glauben an
hunderttausende von Demonstranten den titel 1997) die „Kunst der Verstellung“ den Massenmörder Stalin, der „fast ein
Versuch des Spitzenkommunisten Markus (Wolf-Buchtitel 1998) keineswegs mehr so Halbgott“ seiner Jugendjahre war.
Der im Gulag-Staat antrai(„Mischa“) Wolf vereitelt, sich
nierte „Verdrängungsmechanach Jahrzehnten im Dienste
nismus“ (Wolf) bewährte sich,
der Staatssicherheit an die
nachdem der KominternSpitze der Reformer zu schumSchüler, im Mai 1945 im Gemeln. Für Wolf war der Tag
folge der „Gruppe Ulbricht“
eine „Zäsur“.
nach Berlin beordert, mit 29
Der einstige Leiter der
Jahren Spionagechef der DDR
„Hauptverwaltung Aufklägeworden war. Nicht ein einzirung“ (HVA) im MfS, Autor
ges Mal während seiner Blitzeines gerade erschienenen Bukarriere – Generalleutnant,
ches mit später, verhaltener
Generalmajor, Generaloberst
Stalin-Kritik, hatte allen Erns– bewies der Spitzenmann des
tes geglaubt, die Massen würSpitzelamtes so etwas wie
den in dem pensionierten
Zivilcourage.
Tschekisten nun plötzlich nur
Natürlich durchschaute Ostnoch den „Hoffnungsträger“
Berlins „Vorzeige-Intelligenzsehen – einen Mann, den der
ler“ (Wolf), dass die Ursachen
„Weg vom Stasi-General zum
des blutig niedergewalzten
Fürsprecher von Glasnost und
Volksaufstandes vom 17. Juni
Perestroika“ geläutert hat.
1953 „im Innern lagen“. DenAuf dem Alex begriff der
noch galt jahrzehntelang für
MfS-Veteran: Der Pritschenihn wie für den letzten dumpwagen, der als Rednertribüne
fen Politruk die Parteiparole:
diente, war ihm zur „Richt„Keine Fehlerdiskussion, das
statt“ geworden; die „Verantnutzt die andere Seite!“
wortung für die VergangenNatürlich hat der Stellverheit“ würde ihn einholen.
treter jenes Mielke, der MeuSeit jenem Tag übt sich der
chelmorde, Psychoterror und
einstige Mielke-Vize, der ein
Todesurteile gegen AndersdenDritteljahrhundert lang das
kende befahl, „Repressionen
„Schwert der Partei“ geführt
und Opfer wahrgenommen“,
hat, vorwiegend in Selbstverund er hat auch gewusst, „dass
teidigung. Getrieben von
es Tote gab“. Doch obgleich er
Rechtfertigungszwang
und
beispielsweise in den SiebziDarstellungsdrang, zog der
gern „entsetzt über die Unter„Mann ohne Gesicht“ – von
drückung“ von Intellektuellen
dem es jahrzehntelang, bis zu
durch das MfS gewesen sein
einem SPIEGEL-Titelbild im
will, sah er „keine Möglichkeit,
Jahre 1979, kein aktuelles Foto
etwas dagegen zu tun“ – Wolf
gab – in den Neunzigern von
reagierte mit „Rückzug in die
Talkshow zu Talkshow.
eigene Nische“, die HVA.
Nach der Wende hatte der
Von seiner sauberen Nische
Mystery-Man des deutschaus nutzte der Spionagechef
deutschen Agentenkrieges an Redner Wolf am 4. November 1989: „Aufhören! Aufhängen!“
»Mut, Mut
und nochmals Mut«
Markus Wolf: Wie der „Mann ohne Gesicht“
zum Mann mit den tausend Gesichtern wurde
AFP / DPA
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mit Hilfe von „Romeos“
Dagegen sei es „schon
die Vereinsamung Bontoll“ gewesen, verrät er
ner Sekretärinnen aus;
im „Playboy“-Interview,
mit gefälschten Brie„mit Westpapieren in der
fen und verfälschten TeTasche frei reisen zu könlefon-Abhörprotokollen
nen und in einer guten
setzte er westdeutsche
Bar den Martini zu schütPolit-Prominenz unter
teln oder zu rühren“.
Druck; mit elektroniWenn der Gourmet zu
schen Wanzen startete
Hause im grauen Staer Lauschangriffe auf
cheldrahtstaat dringend
Politiker wie Egon Bahr;
Granatapfelsirup benöper Abgeordnetenkauf
tigte, besorgte ihm ein
hielt er 1972 den EntKollege vom KGB die
spannungskanzler Willy
Rarität mal eben „als
Brandt im Amt, die Ent- SPIEGEL-Titel 10/1979
Freundschaftsdienst aus
tarnung des HVA-Spions
Aserbaidschan“.
Günter Guillaume schließlich löste 1974
Dass Mielke den kulinarischen Marxisden Sturz des Staatsmanns aus.
ten 1986 in den Ruhestand schickte, erDem Publikum präsentiert sich der Viel- klärte Wolf seinem Publikum lange Zeit
schreiber und Vielredner seit Jahren als mit Differenzen über Gorbatschows Politik
Mann mit tausend Gesichtern.
sowie mit eigenen Buchplänen. Den wohl
Mal spielt er, vor Pathos vibrierend, den wichtigsten Grund behielt er für sich:
Moralapostel, der „Ehrlichkeit“ als seine Nachdem Wolf seine zweite Ehefrau zu
Lieblingstugend und „Doppelzüngigkeit“ Gunsten von deren bester Freundin verals den unverzeihlichsten aller Charakter- lassen hatte, geriet die Verflossene am bulmängel bezeichnet. Versteht er sich als Re- garischen Strand ausgerechnet an einen
volutionär? Wolf: „Ja, weil ich ohne Rück- V-Mann des BND. Mielke tobte.
sicht auf mein persönliches Leben für das
Nach dem Ende der DDR sah sich der
eintrete, was ich für gut und richtig halte. Mann, dessen Metier der Verrat war, selbst
Und weil ich konsequent bin.“
schmählich im Stich gelassen – von GorMal gibt er den Widerständler, der das batschow: „Er hat uns einfach verraten.“
„stalinistisch geprägte Sicherheitsdenken“ Seit seiner Rückkehr aus Moskau, wo der
seiner DDR „innerlich nie geteilt“ und bei- „halbe Russe“ (Wolf über Wolf) zeitweise
spielsweise die Ausbürgerung Wolf Bier- Asyl gefunden hatte, spielt er seine vermanns 1976 „schon damals nicht für rich- mutlich letzte Rolle – als Opfer der Bontig gehalten“ hat. Dennoch sah Wolf ner „Siegerjustiz“.
während seiner 34-jährigen Dienstzeit keiSein Lamento über „regelrechte Hene „Möglichkeit, dagegen zu opponieren“ xenjagden“ könnte glatt vergessen ma– allenfalls ein wenig: Wenn Mielke „auf chen, dass Wolf dank Haftverschonung und
den Genossen Stalin ein dreifaches mi- Bewährung insgesamt gerade mal elf Tage
litärisches Hurra“ ausbringen ließ, will der in Haft war – und das unter BedingunNischenmann in der schneeweißen Gala- gen, die er selbst „eine Wucht“ nennt. Im
uniform stets stumm in der Runde gestanden haben, „mit versteinerter Miene“.
Immer häufiger verstrickt sich
Mal wiederum präsentiert sich Wolf, im
Gespräch mit der New Yorker Zeitschrift
der Altmeister der Camouflage
„Tikkun“, als glühender Freund Israels, der
väterlicherseits einer „langen Linie von
in den Lebenslügen und
Rabbis“ entstamme und der sein „vorranLegenden, mit denen er seine
giges Ziel“ stets im Kampf gegen deutsche
Nazis und Neonazis gesehen habe. AllerBiografie kaschiert.
dings: Konfrontiert mit dem Vorwurf, die
DDR habe heimlich arabischen Anti-IsraelTerroristen Unterschlupf gewährt, muss er Anstaltskino gab’s James Bond, in der Aneinräumen, er könne „dies nicht völlig von staltsbücherei „3-mal John le Carré“, dazu
der Hand weisen“. Dass im kommunisti- auf speziellen Wunsch Nescafé, Früchteschen Osteuropa zeitweise „ziemlich hefti- würfel und Gesichtssalbe: „Was will man
ger Antisemitismus“ herrschte, ist „Ost- noch?“
deutschlands jüdischem Meisterspion“
Kein Vergleich mit dem „Gelben Elend“
(„Tikkun“) auch „erst später bewusst“ ge- in Bautzen – sein West-Knast wirke wie
worden – dann aber „hat man es ver- ein „modernes Krankenhaus“, schrieb der
drängt“: „Sicher hatten wir Scheuklappen.“ Häftling seiner dritten Ehefrau aus dem
Am besten gefiel sich Wolf offenbar in Gefängnis im hessischen Weiterstadt:
der Rolle des Welt- und Lebemannes, als „Selbst die hohen Zäune haben ein moroter James Bond zwischen Budapest und dernes Design.“
Havanna, Stockholm und Sansibar: „Die
Allerdings, so mäkelte der Ästhet, „die
Arbeit am Schreibtisch hat mir nie be- Mauern mit den Wachtürmen wenihagt.“
ger“.
Jochen Bölsche
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100 TAGE IM HERBST: »RÜCKTRITT IST FORTSCHRITT«
ANALYSE
»Das sagen wir natürlich so nicht«
DDR-Presse: Als der SED-Staat fast schon am Ende war,
zielte die „schärfste Waffe der Partei“ auf die Regierenden
I
hren Zeitungen haben DDR-Bürger nie
geglaubt. Vier Jahrzehnte lang wurden
über das SED-Organ „Neues Deutschland (ND)“ vorwiegend Witze gerissen –
nach dem Muster:
Was ist ein Sechstel der Erde? Sowjetmacht. Ein Drittel der Produktion?
Schund. Ein Hundertstel der Wahrheit?
„ND“.
lach als Vizevorsitzender des Staatsrates
angekündigt hatte. Gleichsam über Nacht
wechselte der Ton.
Aus der Chemnitzer „Freien Presse“
etwa verschwanden Wendungen wie „Die
Rädelsführer brüllten …“ (9. Oktober).
Stattdessen hieß es wenig später: „Tausende Bürger formierten sich“ (11. November).
Aus Plauen wurde Unerhörtes gemeldet: das Eingeständnis eines Volkspolizeiführers, bei den Demonstrationen zum
40. Jahrestag der Republik seien zwei Drittel der „Zugeführten“ unschuldig verhaftet und dann auch noch „entwürdigend“
behandelt worden. Was seit 40 Jahren jeder wusste, wagte nun auch die Dresdner
„Union“ zu drucken: Die öffentliche Meinung im Lande stehe „oft genug im Gegensatz zu der veröffentlichten Meinung“.
Zwar fehlte es in diesen Wochen nicht an
Durchhalteparolen. Die populäre „Neue
Keine andere Berufsgruppe
ist so umfassend kontrolliert
worden wie die akribisch ausgewählten 8500
Journalisten des Landes.
JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO
DDR-Redakteure waren nicht ihren Lesern verpflichtet, sondern laut „Journalisten-Handbuch“ in erster Linie „Mitkämpfer in der Nationalen Front des demokratischen Deutschland unter Führung
der Partei der Arbeiterklasse“. Für die
Presse galt der Leninsche Kampfauftrag,
„schärfste Waffe der Partei“ zu sein.
Ob „Aktuelle Kamera“, „ND“ oder ein
ganzer Schwarm von Parteibezirkszeitungen – mit ermüdender Regelmäßigkeit versorgten die Medien das Volk mit dem richtigen Standpunkt. Spartenblätter von „Pramo“ (Praktische Mode) bis „Sowjetfrau“
hüllten es in Biedersinn.
Im Wendeherbst 1989 sackte die Glaubwürdigkeit der gleichgeschalteten Medien,
die weder über Fluchtgründe noch über
Demonstrationen berichten durften, auf
einen Tiefpunkt ab. Das Kürzel „ND“ war
nur noch Gegenstand verächtlicher Wortspiele: „Na Du? Noch da? Na denn.“
„ND“-Kommentare wie jener, die DDR
müsse Ausreisern „keine Träne nachweinen“, verstärkten die Flucht- und Protestwelle noch. Im Volk herrsche der „Eindruck, dass die Zeitungen nur für die Partei- und Staatsführung gemacht würden“,
berichtete das Ministerium des Inneren am
5. Oktober über die Stimmung im Lande.
Knapp drei Wochen später, nach dem
Amtsantritt und den „Dialog“-Versprechungen von Egon Krenz, wurde den Medien erstmals gestattet, über Demonstrationen zu berichten; verschweigen ließen
sich die Proteste zu diesem Zeitpunkt ohnehin nicht mehr.
Als auf einmal die Sprachregelungen
von den alten Männern im Politbüro ausblieben, verfielen die leitenden Befehlsempfänger in den Redaktionen in Sprachlosigkeit. „Der alte Chefredakteur knackte ab, war handlungsunfähig“, erinnert sich
Wolfgang Spickermann vom „ND“.
So richtete sich in den folgenden Wochen die „Waffe der Partei“ mehr und
mehr gegen die Regierenden selbst. Wahrheitsgemäße Berichte über den Protest
fachten den Protest noch an – und verhalfen der Wende zu jener Dynamik, die
schließlich den SED-Staat hinwegfegte.
Zuerst merkten die Zeitungsleser in der
Provinz, was das „Aufbrechen von Verkrustungen“ bedeutete, das Manfred Ger-
DDR-Reporter in Wandlitz (Dezember 1989): Täglich kippten Tabus
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Berliner Illustrierte“ druckte den Appell
des Anwalts Gregor Gysi, „Anarchie und
Chaos“ nicht nachzugeben. Gegen die Anfechtung durch trügerische Verlockungen
aus dem Westen, so riet die „Wochenpost“,
helfe „nur eins: Klassenstandpunkt“.
Doch die meisten Medien ergriffen
schließlich Partei für den Protest.
Leipziger Demonstranten etwa können
es kaum glauben – aber es ist das Ostfernsehen, das in der Menge Unmutsstimmen
einholt: „Das sind ja unsere eigenen.“ Auf
einmal müssen sich Parteigrößen vor Mikrofon und Kamera für ihren Volvo und
sonstige West-Attribute rechtfertigen, und
das TV-Magazin „Elf 99“ fragt SED-Generalsekretär Krenz nach dessen Trinkgewohnheiten und filmt in einem Wandlitzer
Privilegierten-Laden.
Täglich kippen Tabus. Sogar die Verteilung einer Ladung Bananen auf den
Fluren des Fernsehzentrums Adlershof –
Etablierte schleppen ganze Stauden ab –
wird gesendet. Ende Oktober ist der
„Schwarze Kanal“ ebenso vom Schirm
verschwunden wie das SED-Abzeichen
(„Bonbon“) vom Revers der Nachrichtensprecher.
Fast jeder Tag bringt Medien-News. Da
gelobt Günter Pötschke, Generaldirektor
des Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienstes (ADN), „nie wieder die Selbstherrlichkeit Einzelner“ durchschlagen zu
lassen. Und das „ND“ verblüfft durch das
Eingeständnis, seine Leser mit Erfundenem betrogen zu haben.
Die meisten Altgenossen trifft das Medienbeben völlig unvermittelt. Denn wohl
keine andere Berufsgruppe ist so umfassend kontrolliert worden wie die akribisch
ausgewählten und geschulten 8500 Journalisten des Landes.
Deren Chefredakteure mussten sich allwöchentlich zu „Argumentationssitzungen“ in der SED-Zentrale einfinden. Dort
vergatterte sie Heinz Geggel, der von 1973
bis zum Schluss die ZK-Abteilung Agitation leitete. Der Oberpropagandist (Branchenschmäh: „Dr. Geggels“) diktierte die
Linie der Berichterstattung manchmal bis
in einzelne Formulierungen. Eine seiner
Lieblingsfloskeln: „Das sagen wir natürlich so nicht.“
Für die großen Parteiblätter in der
Hauptstadt und in den Bezirken blieben
keinerlei Freiräume. 42 hauptamtliche und
rund 350 Inoffizielle Mitarbeiter der Stasi
hielten Wacht, dass niemand aus der Reihe tanzte. Sogar Setzfehler standen unter
Subversionsverdacht. 1981 wurde eine Ausgabe der Hallenser CDU-Zeitung „Neuer
Weg“ eingestampft: Sie hatte sich verdruckt, beim Sowjetparteitag seien „8
Rentner“ (statt Redner) aufgetreten.
Der Form nach stimmte das HoneckerWort „Wir hatten keine Zensur“ – einer
Zensur bedurfte es auf Grund der Willfährigkeit der Medien gar nicht erst. Journalisten im Osten seien „Täter und Opfer
zugleich“ gewesen, urteilt der Berliner
Medienexperte und Buchautor Gunter
Holzweißig („Zensur ohne Zensor“).
Die stromlinienförmige Presse habe „zur
geistigen Kastration“ der Republik beigetragen, räumte nach der Wende PolitbüroMitglied Günter Schabowski ein. Er muss
es wissen: Als „ND“-Chefredakteur hat er
selbst lange genug mitgeschnippelt.
Nicht weniger als über solche Selbstbezichtigungen oberster SED-Chargen staunte die plötzlich gewendete Branche über
sich selbst. Seine Leute seien immer besser
gewesen als ihr Programm, erklärte sich
ein Ost-Berliner TV-Chef den jähen Wandel: „Denen ist immer durch den Kopf gegangen, was sie machen könnten, wenn …
Und nun können sie.“
Christian Habbe
Im nächsten Heft
Mauerfall aus Versehen? – Opposition unter
der Bettdecke – Krenz macht mobil – Volksfest
um Mitternacht – „Lenin spricht“
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URTEILE
Grätsche zum
Jahreswechsel
Für Jahr-2000-Fehler in der
Software müssen die Hersteller
haften – so entschied
erstmals ein deutsches Gericht.
C. EISLER / TRANSIT
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IFA
D
ie Kleinstadt Schkeuditz bei Leipzig in den Morgenstunden des
1. Januar 2000. Draußen herrscht
Frost, doch im „Technischen Zentrum“ an
der Frankfurter Straße, dem Rechenzentrum der Deutschen Bank, wird Wärme
zum Problem.
Die Klimaanlage ist ausgefallen, und die
Großrechner, mit denen die Bank ihren ge- Neujahrs-Feuerwerk im Frankfurter Bankenviertel: Fehler im System
samten Zahlungsverkehr in
gab es noch keinen Präzedenzfall“, so
Berlin und den neuen Ländern
Holzmann-Sprecher Semar.
besorgt, laufen heiß. VergeDen gibt es jetzt. Denn das Landgericht
bens versuchen die Techniker,
Leipzig nahm den Hersteller in die Pflicht,
die komplizierte Anlage zu reobwohl dieser keine Garantie übernomparieren. Nach einigen Stunmen hatte. Die mangelnde Jahr-2000-Fähigden schalten sich die überkeit sei ein Fehler, befanden die Richter, für
hitzten Großrechner automaden der Hersteller einstehen müsse. Zwar
tisch ab. Ein Horrorszenario
sei die Jahr-2000-Tauglichkeit bei Vertragsfür jeden Bankmanager.
abschluss von ABB nicht ausdrücklich
Das System ist nicht „Jahrzugesichert worden. Dass dies hier zur
2000-fest“, hatte der Herstel„Soll-Beschaffenheit“ der Anlage gehöre,
ler der Klimaanlage, die ABBergebe sich aber „aus den Umständen“,
Gebäudeautomation GmbH,
nämlich der üblichen Nutzungsdauer der
schon am 23. Oktober 1998 beSoftware, dem Vertragszweck und dem
dauernd mitgeteilt. Wechsle
Projektvolumen.
das Datum von 1999 auf 2000,
Wichtig war somit, dass es nicht um einwürden Teile der Elektronik Bank-Rechenzentrum*: „Anspruch auf Nachbesserung“
fache PC-Software ging, sondern um Hausnur die beiden letzten Stellen
registrieren – teils wähnt sich die Anlage im sich auf die Jahr-2000-Haftung spezialisiert technik, die „mit enormen AnschaffungsJahr 1900, teils im Jahr 2000.
hat. Allein in Deutschland werden nach kosten verbunden“ war. Da die Software
Unter dem Jahrtausendproblem leiden Schätzungen von Experten etwa 150 Mil- folglich länger als bis Ende 1999 genutzt
vor allem ältere Computersysteme. Mit er- liarden Mark ausgegeben, um Computer werden sollte, durfte Holzmann bereits bei
heblichem Arbeitsaufwand müssen sie auf und elektronische Systeme gegen den Mil- Vertragsabschluss im Jahr 1993 „die Jahr2000-Festigkeit der erworbenen Software
die neue Zeitrechnung umgestellt werden lennium-Crash zu wappnen.
– 131 595 Mark verlangten beispielsweise
Wenn die Elektronik versagt, drohen erwarten“. ABB wandte ein, dass sich der
die ABB-Techniker für das Update der enorme Folgeschäden. „Wir haften gegen- Fehler erst zum Jahrtausendwechsel und
870 000 Mark teuren Anlage im Rechen- über der Deutschen Bank für die Funk- damit nach der vereinbarten Gewährleiszentrum der Deutschen Bank.
tionsfähigkeit des Gebäudes“, sagt Ger- tungszeit auswirken werde. Das Gericht
Bauherr des Bankkomplexes war die hard Semar, Sprecher der Holzmann-AG, ließ das nicht gelten: Der Fehler stecke
Philipp Holzmann AG mit Sitz in Frank- „und dieses Risiko mussten wir abwälzen.“ schon jetzt im System. Es genüge, dass „der
furt. Dort sah man jedoch nicht ein, Auch die Ausgaben für die Behebung sol- Mangel vor Fristablauf geltend gemacht
warum die Gebäudetechniker für einen cher Jahr-2000-Fehler hätten sich womög- wird“. Deshalb habe ABB die nötige UmProgrammfehler auch noch Geld bekom- lich schnell summiert – das „Technische stellung kostenlos zu übernehmen.
„Die tragenden Gedanken des Urteils
men sollten, und klagte. „Dass die Haus- Zentrum“ in Schkeuditz ist nicht das
technik an Neujahr die Grätsche macht, einzige Gebäude des Konzerns mit ABB- sind auch auf andere Fälle übertragbar“,
meint Rechtsanwalt Bartsch: „Für Jahrhatten wir ja schriftlich“, sagt Holzmann- Technik.
Anwalt Andreas Bruse aus Leipzig.
Nach der Einreichung der Klage auf 2000-Festigkeit wird nicht erst gehaftet,
Vor dem Landgericht Leipzig erwirkte kostenlose Reparatur der umfangreichen wenn es für die Vorsorge zu spät ist.“
Für ABB hatte der Rechtsstreit um die
Bruse nun das erste rechtskräftige Urteil System- und Applikationssoftware erzum Jahr-2000-Problem. Die Leipziger Rich- mäßigte ABB sein Reparaturangebot Technik im Schkeuditzer Rechenzentrum
ter gaben dem Kläger in vollem Umfang prompt auf knapp 40 000 Mark. Die Holz- doch noch ein Gutes: Man einigte sich
Recht und sprachen ihm einen kostenlosen mann-Verantwortlichen beschlossen den- darauf, bei der Nachbesserung der fehler„Anspruch auf Nachbesserung“ zu.
noch, den Fall durchzufechten. „Immerhin haften Software auch gleich den veralteten
Leitrechner auszutauschen – gegen Be„Ein Urteil mit Signalwirkung“, sagt der
zahlung.
Karlsruher Anwalt Michael Bartsch, der * In Schkeuditz bei Leipzig.
Dietmar Hipp
RAF
Mysteriöses
Treffen
AP
Bei Mord-Ermittlungen
verfolgen Italiens Terrorfahnder
eine deutsche Spur. Sie belegt,
dass Linksextremisten über die
Alpen hinweg kooperieren.
D
FOTOS: VIENNAREPORT
as 3000-Seelen-Dorf Giano, 40 Ki- Totenfeier für Terroropfer D’Antona: „Die RAF war stärker als wir“
lometer von Perugia entfernt, liegt
einsam im Hügelland der italieni- Mai dieses Jahres in der römischen Via Sa- bislang wenig Spuren. Kölner Verfassungsschen Region Umbrien, ein verschlafenes laria getötet worden. Terrorspezialisten gab schützer meldeten sogar „Zweifel“ an, ob
Nest. Doch Ende August, mitten im träg- der Mord Rätsel auf – war er doch der er- Meyer und Klump überhaupt „zum Kreis
sten Ferienmonat, herrschte dort plötzlich ste seit elf Jahren. Bekannt dazu hatte sich der Illegalen“ gehörten.
Am 6. Juli fiel italienischen Grenzschüthektisches Treiben.
die „Kämpfende Kommunistische Partei“,
Carabinieri und Polizisten in Zivil ob- eine Neugruppierung aus den Resten der zern bei einer Routinekontrolle im „Eurostar“-Zug von Wien nach Mailand ein
servierten Touristen, bauten Straßensper- altterroristischen Roten Brigaden.
ren und kontrollierten Pässe. Eine Frau
Der Anschlag auf D’Antona weckte in unvollständiges Bekennerschreiben zum
wies sich als Monica Arini aus.
Italien sofort alte Ängste. In der „bleiernen Mordfall D’Antona in die Hände. Da keiner
Drei Wochen später wurde bei einer Zeit“ vor 20 Jahren, als sich brutale Gewalt der sechs Reisenden im Abteil etwas mit
wilden Schießerei in Wien ein Deutscher mit einer verquasten Linksideologie ex- dem Papier zu tun haben wollte, wurden
getötet – Horst Ludwig Meyer, 43, gelern- plosiv mischte, gab es hunderte von Toten. alle gründlich kontrolliert. Eine der Anter Starkstromelektriker. Er trug einen geAls öffentlich über eine Kooperation von wesenden war Andrea S., 49, eine umtriestohlenen italienischen Pass auf den Na- Rotbrigadisten und übrig gebliebenen bige Schweizer Linksaktivistin.
Ende August stieß die italienische Polimen Francesco Spinola bei sich und eine RAF-Terroristen spekuliert wurde, wiegelitalienische Pistole mit ausgefräster Se- te Regierungschef Massimo D’Alema noch zei ein zweites Mal auf die Frau – als Teilriennummer, Marke Beretta, Kaliber 7,65. ab. Er schloss die „ausländische Spur“ aus. nehmerin jenes mysteriösen Treffens euDie Frau, die bis zum Schluss bei ihm Doch die ist nun plötzlich ganz heiß – und ropäischer Radikaler in Giano, wo auch
blieb und mit festgenommen wurde, war ruft Erinnerungen an die Hochzeit des Ter- eine Monica Arini kontrolliert worden war.
Um ein mögliches Netz durchleuchten
Meyers Lebensgefährtin Andrea Klump, rorismus wach.
42. Sie hatte einen falschen Fahrschein in
Den ersten Kontakt hatte Anfang der zu können, filzten Sondereinheiten von
der Tasche, dazu 100 Schilling – und einen siebziger Jahre der Mailänder Verleger Carabinieri und Polizei am 19. Oktober
italienischen Ausweis. Name:
Giangiacomo Feltrinelli ge- rund 50 Wohnungen und Büros in mehreMonica Arini.
knüpft. Damals, so der ehe- ren italienischen Städten. Sie entdeckten
Beide wurden seit 1985
malige Rotbrigadist Valerio nicht nur Dokumente, die sich mit dem
steckbrieflich als mutmaßliMorucci, sei „die RAF stär- D’Antona-Anschlag befassen – sie stellten
che Terroristen der Roten Arker als wir“ gewesen. Ihre auch fest, dass zu den regelmäßigen Besumee Fraktion (RAF) gesucht.
„Abstraktheit“ allerdings chern eines autonomen Jugendzentrums
Bei ihrer Festnahme sagte
habe die „revolutionäre Ent- in Rom zwei Leute gehörten, mit deren
Klump alias Arini nur einen
wicklung“ gefährdet, RAF Papieren Meyer und Klump reisten: Franeinzigen Satz: „Ihr tut euren
und Rote Brigaden habe cesco Spinola und Monica Arini. Die beiJob – und ich tue meinen.“
schließlich fast „feindlicher den echten Italiener hatten ihre Ausweise
als gestohlen gemeldet.
Seitdem schweigt die DeutKonkurrenzneid“ entzweit.
Bislang haben die italienischen Fahnder
sche beharrlich auf Fragen
Erst nach dem so genannnach ihrer Vergangenheit.
ten Deutschen Herbst 1977, diese Spuren weder der BundesanwaltDoch: Italienische Terrorder die RAF aufsplitterte, ka- schaft noch dem Bundeskriminalamt gefahnder sind auf ihre Spur ge- Klump alias „Arini“
men sich die Reste der bei- meldet, dessen Experten derzeit in Wien
stoßen. Die Ermittlungen beden Terrorgruppen wieder beschlagnahmte Unterlagen mit den vorstätigen Hinweise, es gebe
näher. Morucci stellte „selbst handenen Asservaten aller ungeklärten
enge Verbindungen zwischen
Personalausweise für die RAF-Morde vergleichen. Den Ermittlern
versprengten Extremisten auf
RAF“ her – „einer war für geht es vor allem um die „Sicherung mobeiden Seiten der Alpen.
Christian Klar bestimmt“, der lekulargenetisch auswertbarer Spuren“.
„Vielleicht“, spekuliert ein hoher SiDie Beamten vermuten,
wegen terroristischer Morde
dass im umbrischen Giano
immer noch im Gefängnis cherheitsbeamter, „öffnet sich ja doch noch
ein Treffen europäischer
sitzt. Der RAF-Deckname für ein Reißverschluss.“ Vergangenen DonLinksradikaler stattfand, an
die Rotbrigadisten: „Stiefel“. nerstag war im Wiener Landesgericht der
dem auch ihre eigentlichen
Wo sich Meyer und Andrea Haftprüfungstermin für Klump angesetzt.
Zielpersonen teilnahmen –
Klump die ganzen Jahre auf- Sie habe signalisiert, so ein Ministerialer,
die Mörder des früheren
hielten, ist weitgehend unbe- dass sie „grundsätzlich mit einer AusliefeStaatssekretärs
Massimo
kannt. Klar ist, dass beide seit rung nach Deutschland einverstanden ist“.
D’Antona. Der einflussreiche
1996 im österreichischen UnGeorg Bönisch, Georg Mascolo,
Hans-Jürgen Schlamp
Regierungsberater war am 20. Meyer alias „Spinola“
tergrund lebten. Sonst gab es
d e r
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111
Werbeseite
Werbeseite
Wirtschaft
Trends
STROMINDUSTRIE
Aus für Obrigheim?
it einem verlockenden Angebot
versucht der Chef des Stromproduzenten Energie Baden-Württemberg
(EnBW), Gerhard Goll, der Politik den
heftig umstrittenen Einstieg des französischen Strom- und Atomgiganten
EdF in sein Unternehmen schmackhaft
zu machen. Als Gegenleistung für eine
politische Unterstützung des deutschfranzösischen Milliarden-Deals, deutete Goll bei einem Kanzler-Gespräch
an, könne er sich vorstellen, das Kernkraftwerk Obrigheim vorzeitig vom
Netz zu nehmen. Die Umsetzung der
überraschenden Offerte würde Gerhard Schröder aus einer prekären Situation retten. Denn in dem seit Monaten festgefahrenen Energie-Konsenspoker mit der Stromwirtschaft
braucht die Koalition
dringend ein Erfolgserlebnis. Das rasche Abschalten des ältesten
deutschen Atommeilers
käme da sehr gelegen.
Goll könnte eine Still-
legung von Obrigheim vor seinen Aktionären gut vertreten. Denn: Bei dem
geplanten Einstieg würden die Franzosen reichlich Atomstrom aus ihren nicht
ausgelasteten Meilern als Hochzeitsgeschenk für den Schwaben-Konzern mitbringen. Golls Bauernopfer brächte damit sogar zusätzlichen Profit: Statt mit
teurer heimischer Kernkraft könnte ein
deutsch-französischer Stromkonzern
EnBW seine Kunden mit billigerem
Franzosen-Strom beliefern. Auch Baden-Württembergs Ministerpräsident
Erwin Teufel hat als Verkäufer des
25-prozentigen EnBW-Anteils bereits
prinzipielle Zustimmung zu dem Geschäft signalisiert, zumal das Angebot
der Franzosen rund eine Milliarde
Mark über den Offerten der deutschen
Konkurrenz liegt. Allerdings will der
neue EU-Wettbewerbskommissar Mario Monti zunächst prüfen, ob die Franzosen, die ihren eigenen Markt rigoros
vor jedem Wettbewerb abschotten, zusammen mit der EnBW eine unzulässige Marktmacht ausüben.
A. KULL / VISION PHOTOS
M
Triebwerksproduktion (in Dahlewitz)
BMW
Milliarden-Desaster
im Luftfahrtgeschäft
Goll, Kernkraftwerk Obrigheim
FOTOS: P. FRISCHMUTH / ARGUS ( gr.); DPA ( kl.)
B
DEUTSCHE BAHN
Neue Millionenlast
N
ach erheblichen Mehrbelastungen durch Mineralöl-, Mehrwert- und Ökosteuern
will Finanzminister Hans Eichel nun abermals in die Kassen der Deutschen Bahn
greifen: 250 Millionen Mark soll die Bahn jährlich für den Einsatz des Bundesgrenzschutzes auf den Bahnhöfen zahlen – und sich mit weiteren 100 Millionen an der geplanten Entschädigung für ehemalige Zwangsarbeiter bei der Reichsbahn beteiligen.
Die zusätzlichen Belastungen von 350 Millionen Mark würden den gesamten Jahresgewinn aufzehren und seien deshalb „nicht mehr verkraftbar“, heißt es im Aufsichtsrat der Bahn. Die Entschädigung der Zwangsarbeiter könne ihr nicht angelastet werden, weil sie keine Rechtsnachfolgerin der Reichsbahn sei.
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eim Münchner Automobilkonzern
BMW endet der vom ehemaligen
Vorstandschef Eberhard von Kuenheim
1990 beschlossene Einstieg ins Triebwerksgeschäft mit einem MilliardenDesaster. Die 50,5-Prozent-Beteiligung
von BMW an der Gemeinschaftsfirma
mit dem Triebwerksbauer Rolls-Royce
wird den Münchnern von 1994 bis Ende
dieses Jahres einen Verlust von insgesamt 3,2 Milliarden Mark vor Steuern
einbringen. Weil ein Ende der Verluste
nicht in Sicht war und die Belastungen
durch die Sanierung der britischen Rover-Tochter ebenfalls gewaltig sind,
steigt BMW jetzt aus dem Triebwerksgeschäft aus. Der Konzern übergibt seinen Anteil an der Verlustfirma dem
Triebwerksbauer Rolls-Royce und erhält dafür 33,3 Millionen Aktien von
Rolls-Royce, die einem Wert von gerade
mal 220 Millionen Mark entsprechen.
Diese Finanzbeteiligung kann BMW jederzeit an der Börse verkaufen, wenn
der Autokonzern zusätzliche Mittel
benötigt. Mehrere Aufsichtsräte drängten schon länger auf einen Ausstieg aus
dem Triebwerksgeschäft. Kuenheim und
sein Nachfolger als Aufsichtsratsvorsitzender, Volker Doppelfeld, wehrten sich
jedoch lange dagegen. Durchgesetzt
wurde der Ausstieg jetzt vor allem vom
Großaktionär des Unternehmens, der
Familie Quandt.
113
Trends
WERBUNG
„Gigantische
Kapitalvernichtung“
114
Börsenhändler in New York
WA L L S T R E E T
Die neuen Spekulanten
H
och riskante Spekulationsfonds sind in den USA wieder im Aufwind. Erst vor
einem knappen Jahr reagierte das Weltfinanzsystem höchst labil, als der milliardenschwere HedgeFund LongTerm Capital Management (LTCM) zusammenbrach. Doch die Anleger hat das nicht gebremst: Inzwischen sind wieder über 355
Milliarden Dollar in Hedge Funds investiert, so die US-Consulting-Gruppe Cerulli Associates. Zwar meldeten Branchengrößen wie George Soros zuletzt schlechtere Ergebnisse. Viele neue Fonds sorgten aber für Aufschwung: Um im Schnitt rund
15 Prozent legten solche Fonds der Studie zufolge bis Ende August zu – fast doppelt so viel wie der US-Aktienindex Standard & Poor’s 500. Ein Grund dafür: Die
aggressiven Fondsmanager können auch auf fallende Kurse spekulieren. Während
die US-Aktien seit Monaten stark schwanken, versprechen sich nun zunehmend
auch große institutionelle Investoren bei den riskanten Hedge Funds höhere Gewinne – ihr Anteil an den Geldgebern ist inzwischen auf 25 Prozent gestiegen.
DORNIER
Satellit für Taiwan?
W
egen politischer Rücksichten der Bundesregierung
gegenüber der Volksrepublik
China fürchtet Dornier um einen
Großauftrag, den der Raumfahrtkonzern schon vor Monaten aus
Taiwan erhalten hatte. Der Bundessicherheitsrat hat keine Exportgenehmigung für einen Erdbeobachtungssatelliten (Wert:
142 Millionen Mark) erteilt, um
Peking nach der Botschaftsbombardierung in Belgrad während
des Kosovo-Krieges nicht erneut Dornier-Satellitenfabrik (in Ottobrunn)
zu verärgern. China betrachtet
das de facto souveräne Taiwan noch immer als Teil seines Herrschaftsgebiets. Eine
Genehmigung nach dem in diesen Tagen geplanten Besuch von Bundeskanzler
Schröder in Peking käme aber womöglich zu spät – denn Taiwan dringt auf zügige
Lieferung. Vertreter des französischen Dornier-Konkurrenten Matra versprachen in
Taiwan, sie könnten sofort liefern. Beim sinofranzösischen Gipfel Ende Oktober hatte Chinas Staats- und Parteichef Jiang Zemin dem Deal zugestimmt.
d e r
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AP
SPRINGER & JACOBY
SPIEGEL: Hoechst heißt bald Aventis, aus
British Steel wurde Corus, eine neue
RWE-Tochter nennt sich Avanza. Was
bringen die neuen Namen?
Jacoby: Corus klingt
komisch, British
Steel dagegen stolz
und groß. Nur wenn
Firmen nichts mehr
mit ihrer Vergangenheit zu tun haben wollen, macht
so eine Namensänderung Sinn. Sonst
ist das eine gigantische Vernichtung
von Vertrauenskapital.
SPIEGEL: Wie kommen die Firmen auf
so klangvolle PhanJacoby
tasienamen?
Jacoby: Man nimmt einen Computer
und lässt 58 Millionen Mal die Konsonanten und Vokale durcheinander wirbeln. Das Ergebnis wird dann noch bis
zum Umfallen getestet. Am Ende heißt
das dann „Opel Tigra“. Oder eben Aventis und Avanza. Nach vorn wollen sie offensichtlich alle – diese Avantgardisten.
SPIEGEL: Lohnt sich der Aufwand?
Jacoby: Fraglich. Bei Markennamen sind
uralte Kräfte im Spiel: Sie können im
Leben vieles kaufen – nur keine großen
Bäume. Die müssen wachsen. So ist es
auch mit Namen. Ein Beispiel: Miele
war 1990 im Osten die angesehenste
Hausgerätemarke, obwohl Miele dort 40
Jahre lang nicht zu kaufen war.
SPIEGEL: Welches Unternehmen würden
Sie am liebsten umbenennen?
Jacoby: Die Deutsche Bahn. Wenn ich
das höre, wird mir spontan übel: Die
sind versifft wie Viehwaggons in Usbekistan. Darum nennen sie ihren
schicken Zug jetzt „Metropolitan“ und
kleben kein DB-Logo dran.
SPIEGEL: Was halten Sie davon, eine Firma nach der hellgrauen Wandfarbe ihrer Büros, „Elephant Seven“, zu taufen?
Jacoby: Sie meinen unsere Multimediatochter? Das war meine Spontanidee:
Damals gab’s schon so viele neue Firmen mit Bits, Pixels, Bizzy-Fuzzy – das
vergisst doch jeder sofort. Ich hab dann
auf die Wand geguckt und die Farbe
„Elephant Seven“ entdeckt.
AP
Konstantin Jacoby, 46, Gründer der
Hamburger Werbeagentur Springer & Jacoby, über die Flut neuer Firmennamen
Geld
160
100
AMAZON
AOL
80
80
CD NOW
22
LAND'S END
ETOYS
120
80
70
60
18
60
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60
14
50
40
40
40
Jan.
40
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20
20
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1999
Okt.
1999
0
Jan.
Okt.
I N T E R N E T- A K T I E N
Fröhliche E-Christmas
A
ktionäre von Internet-Anbietern freuen sich schon jetzt
auf fröhliche Festtage. In dieser Weihnachtssaison, so
schätzen Experten, werden sich die Online-Verkäufe weltweit
auf zwölf Milliarden Dollar verdreifachen. Allein in den USA
wollen Umfragen zufolge 30 Millionen Menschen ihre Geschenke per Internet ordern. Von dem Online-Boom werden
vor allem die bekannten US-Konzerne profitieren. Bücher,
CDs und Spielzeug kaufen die Internet-Shopper nach einer
Analyse von Forrester Research am liebsten bei Amazon, dem
1999
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Jan.
Okt.
Jan.
Okt.
Effektivzins für Baudarlehen
mit zehnjähriger Laufzeit
in Prozent
6,4
11
7
5,6
5
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80
90
99
5,2
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Jan.
März
Mai
Juli
Sept.
4,8
HYPOTHEKEN
Bauen wird teurer
Handy-Aktien in Euro
MOTOROLA
NOKIA
100
36
32
28
24
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6,0
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BONN-SEQUENZ
ur selten gab es unter professionellen Analysten
so viel Einigkeit: Aktien der drei großen HandyHersteller Nokia, Ericsson und Motorola, so ihr Fazit, seien eine prächtige Geldanlage, denn der weltweit boomende Handy-Markt biete weiterhin gute
Wachstumschancen. Besonders beliebt bei den Experten ist der finnische Konzern Nokia. Von der
Deutschen Bank über Goldman Sachs bis hin zur
Sparkasse Norden raten die Bankexperten zum
„Kaufen“ oder „Übergewichten“ und vergeben sogar das Höchstprädikat „Strong buy“. Dabei haben
die Aktien der Handy-Spezialisten schon einen steilen Anstieg hinter sich, der selbst durch Meldungen
über schrumpfende Gewinne bei Ericsson oder die
Pleite des Satelliten-Telefondienstes Iridium, bei
dem Motorola das Sagen hat, kaum gebremst wurde.
Besonders kontinuierlich stieg das Nokia-Papier:
Seit Ende 1997 hat sich sein Kurs verfünffacht.
O
Okt.
Zinstal durchschritten
N
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Juni
weltweit größten Internet-Kaufhaus. Auch die Online-Buchhandlung Barnesandnoble.com, an der Bertelsmann zu 50
Prozent beteiligt ist, hofft auf Zuwächse. Beliebte Adressen
sind auch der Spielzeugversender Etoys und der Musikshop
CDNow. Der Versandhändler Land’s End betreibt bereits die
weltgrößte Internet-Abteilung für Bekleidung. Zu den Gewinnern des Weihnachtsgeschäfts rechnen Analysten auch das Auktionshaus eBay und den Internet-Dienst America Online. Die
Kurse etlicher Anbieter sind seit dem Sommer bereits kräftig
gestiegen, von ihren Höchstständen zumeist aber noch weit entfernt. Keineswegs werden alle Internet-Aktien anziehen, warnen Analysten, vor allem kleinere Anbieter seien oft schlecht
auf den Ansturm vorbereitet. Schon im Vorjahr kamen einige
tausend Präsente zu spät oder gar nicht beim Empfänger an.
„Strong buy“
1999
30
1999
H A N DY- A K T I E N
ERICSSON
Quelle: Datastream
Internet-Aktien in Euro
50
1999
J
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Quelle: Datastream
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S
teigende Zinsen haben in diesem Jahr die Kosten für den Hausbau
kräftig in die Höhe getrieben. Gegenüber dem Februar, als die Hypothekenzinsen auf den tiefsten Stand seit 50 Jahren gefallen waren, sind
die Kapitalkosten um zwölf Prozent gestiegen – nach einer Faustregel
verteuert eine Zinserhöhung von einem Prozent den Bau um insgesamt
acht Prozent. Mit einem Effektivzins von derzeit knapp 6,4 Prozent für
Kredite mit zehnjähriger Laufzeit sind Hypothekendarlehen allerdings
immer noch günstig; im Schnitt der letzten 30 Jahre lag der Effektivzins
bei knapp neun Prozent. Nahezu alle Experten rechnen jedoch damit,
dass Baugeld im nächsten Jahr nochmals teurer wird.
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Heribert Zitzelsberger
Der Steuerexperte
W. SCHUERING
Wirtschaft
Klaus Gretschmann
Der Währungsfachmann
Beamteter Staatssekretär
im Finanzministerium
Leiter der Abteilung Wirtschaftsund Finanzpolitik im Kanzleramt
WIRTSCHAFTSPOLITIK
„Der ruft einfach nicht an“
Nach einem Jahr an der Macht hat der Kanzler bei den Unternehmern viel an Kredit verspielt.
Dabei verfügt die Regierung über angesehene Wirtschaftsberater, doch deren
Sachverstand wird kaum genutzt. Das System Schröder läuft auf hohen Touren – im Leerlauf.
N
ach dem rot-grünen Wahlsieg waren die Wirtschaftsgrößen des
Landes zunächst neugierig, dann
schweigsam, jetzt sind sie nur noch empört.
Die Präsidenten von Industrieverband,
Handwerkskammer und Arbeitgebervereinigung attackieren den neuen Kanzler fast
täglich. Seine Steuerpolitik sei „absurd“
(BDI-Chef Hans-Olaf Henkel), zahlreiche
Gesetze gingen „zu Lasten der Wirtschaft“
(Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt), die
Regierung fahre auf „Zickzackkurs“ (Handwerkspräsident Dieter Philipp). Als am vergangenen Mittwoch SPD-Fraktionschef Peter Struck auch noch die Aufweichung des
Bankgeheimnisses forderte, schüttelten viele nur noch den Kopf. „Bild“ titulierte den
Genossen als „Schnüffel-Struck“.
Auch die eher zurückhaltenden Chefs
der Großkonzerne murren oder verweigern sich. Erst kürzlich hatte Schröder ein
Dutzend von ihnen geladen – nicht alle kamen. „Da gehe ich nicht mehr hin“, sagte
einer der Vorstandschefs. Ihm sei längst
unverständlich, welchen wirtschaftspolitischen Kurs die Regierung eigentlich verfolge. „Was soll ich also da rumsitzen?“
Manche Wirtschaftsführer geben sich
überhaupt keine Mühe mehr, ihre Verach116
tung für die Akteure in Berlin zu verbergen
– selbst wenn die dabei sind. Warum sie
sich eigentlich auf einen Ausstieg aus der
Kernenergie im Konsens mit der Regierung
einlassen sollten, fragten Ende Oktober die
Vorstandsvorsitzenden der vier größten
Energiekonzerne Wirtschaftsminister Werner Müller. „Was gibt uns die Gewähr, dass
ihr euch an euren Teil der Abmachung
haltet?“, wollten sie wissen. Müller habe,
so berichtet ein Teilnehmer, wenig zu erwidern gewusst.
Nach nur einem Jahr an der Regierung
haben Schröder und seine Truppe bei der
Wirtschaft viel an Kredit verspielt. Der
Kanzler der Wirtschaft, als der sich Schröder gern selbst sieht, ist in den Augen der
Unternehmer entzaubert. „Das Verhältnis
zwischen dem Regierungschef und der
Wirtschaft ist mittlerweile genauso zerrüttet wie am Ende der Ära Kohl“, stellt ein
Beamter im Kanzleramt resigniert fest.
Verärgert sind die Unternehmensführer vor allem, weil die Vorhaben der rotgrünen Regierungsriege, gleichgültig ob
bei der Umwelt-, Sozial- oder Steuerpolitik, für sie mittlerweile völlig unkalkulierbar sind. Sie vermissen das, was für
Investitionen unabdingbar ist: verlässlid e r
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che Rahmendaten und damit Planungssicherheit.
Die Herren der Wirtschaft verstehen
ihren Kanzler nicht mehr. Der Mann, der
ihnen als Ministerpräsident so nahe stand,
der für sie die Weser ausbaggerte und
Pipelines durchs Wattenmeer zog, versagt
in ihren Augen auf der Bundesbühne.
Wie erklären sich all die handwerklichen
Mängel, die beinahe jedem Gesetz eine
Korrekturfassung folgen lassen? Wo sind
vor allem seine Berater, fragen sich viele.
Dass der Kanzler über kenntnisreiche
Fachleute in seiner Mannschaft verfügt, ist
selbst unter Managern unbestritten.
Hat nicht erst kürzlich Bundesfinanzminister Hans Eichel mit Heribert Zitzelsberger einen der angesehensten Steuerexperten der deutschen Industrie vom
Chemieriesen Bayer abgeworben und zu
seinem Staatssekretär gemacht? Dient nicht
Alfred Tacke, in Niedersachsen industriepolitischer Tausendsassa, heute als Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium?
Dort wirkt auch Siegmar Mosdorf als
Parlamentarischer Staatssekretär, jener
Mann, der zur Globalisierung schon alles
gedacht und geschrieben hat, der mit
großem Erfolg die Enquetekommission
CH. KELLER
F. OSSENBRINK
J. H. DARCHINGER
Siegmar Mosdorf
Alfred Tacke
Der Stratege
Der Krisenmanager
Parlamentarischer Staatssekretär
im Wirtschaftsministerium
Beamteter Staatssekretär im
Wirtschaftsministerium
MELDEPRESS
des Bundestags zur Zukunft der neuen Me- Rubin startete seine politische Karriere im letzt nebenbei an der Universität Regensdien leitete. Und selbst im Kanzleramt sitzt Beraterkränzchen des Weißen Hauses. Er burg lehrte, wider bessere Erkenntnis ein
hoch kompliziertes Unternehmensteuerdoch mit Klaus Gretschmann ein öko- kam von der Wall Street.
Der Politikbetrieb in Deutschland tut recht basteln.
nomisches Allround-Talent, vielsprachig,
sich schwer, Seiteneinsteiger aufzunehmen.
Schröder bräuchte nur die von Lafonunideologisch und pragmatisch.
Schröder scheint es gleichgültig, welchen Das Problem: Die meisten Ministerialbe- taine verordnete Spreizung der Tarife zu
Fundus an Fähigkeiten und Erfahrungen amten empfinden die Externen als Stören- widerrufen. Dann wäre ein Steuersystem
er für sich und seine Politik nutzbar ma- friede, die Karriereposten verstopfen. Die aus einem Guss möglich, mit niedrigen
chen könnte. Die Berater haben kaum was Politiker lassen sich gelegentlich beraten, Sätzen für Unternehmen und Privatleute.
Dann könnte Zitzelsberger, wie er es sich
zu tun, am allerwenigsten arbeiten sie für entscheiden wollen sie ganz allein.
im kleinen Kreis des Öfteren
Schröder. Das letzte längere Vierwünscht, steuerpolitisch das „ganz
augengespräch, so Staatssekretär
große Rad drehen“: ein einfaches
Tacke gegenüber Vertrauten, fand
System, niedrige Sätze und eine
kurz nach der Wahl statt.
„ganz erhebliche Entlastung“.
Andere Regierungschefs verDas Drehen großer Räder war
trauten ihren Männern in der
in Niedersachsen das Markenzeizweiten Reihe mehr an und trauchen Alfred Tackes. Als Staatsten denen auch mehr zu – nicht
sekretär im Wirtschaftsministezuletzt Schröders Amtsvorgänger
rium fungierte er als Schröders
Helmut Kohl.
Allzweckwaffe. Wo immer es
Der hielt sich mit seinem Wirtklemmte, beherzt griff Tacke ins
schaftsabteilungsleiter und späteRäderwerk der Wirtschaft ein.
ren Staatssekretär im WirtschaftsDas gehorchte nicht immer den
ministerium Johannes Ludewig eiRegeln der reinen Lehre, war für
nen regelrechten Hof-Ökonomen.
ihn und seinen Mentor aber höchst
Der kleine Mann mit Schnauzer Kabinettssitzung: Verachtung für die Akteure in Berlin
erfolgreich. Sein größter Coup war
bestimmte zeitweilig den ökonoDie Experten können zuweilen nicht die vorübergehende Verstaatlichung der
mischen Kurs der Kohl-Regierung, den Aufmehr tun, als Schlimmeres zu verhindern. Preussag Stahl AG. Eine Aktion, die Schröbau Ost managte er fast im Alleingang.
Auch die Clinton-Administration hätte So ergeht es derzeit Staatssekretär Zitzels- der den Wahlsieg bei den Landtagswahlen
ohne brillante Zuarbeiter in der zweiten berger mit der geplanten Unternehmen- und damit die Kanzlerkandidatur sicherte.
In Berlin ist Zupacker Tacke abgetaucht.
Reihe ihr Wirtschafts- und Job-Wunder steuerreform. Die krankt noch immer an
nicht zu Stande gebracht. Clintons jetziger den ideologischen Vorgaben des früheren Er äußert sich nicht mehr in der ÖffentFinanzminister Larry Summers begann als Finanzministers Oskar Lafontaine. Nur die lichkeit, anders als sein Vorgänger Ludewig.
wirtschaftspolitischer Berater. Er gilt als Steuersätze für Unternehmen sollten sin- Das Gleiche gilt für den mehrfachen Buchebenso arrogant wie genial, unbestritten ken, nicht die für normale Steuerpflichtige. autor Mosdorf. In seinem jüngsten Werk,
So muss Zitzelsberger, der vor seiner das er zusammen mit dem grünen Vordenaber, dass er ein exzellenter Wirtschaftswissenschaftler ist. Er war der jüngste Har- Zeit in der Industrie schon Referatsleiter ker Hubert Kleinert verfasst hat, beschreibt
vard-Professor in der Geschichte der Elite- im Finanzministerium war, in seiner Frei- er präzise, an was es in Deutschland manUniversität. Auch Summers Vorgänger Bob zeit promovierte und habilitierte und zu- gelt: an unternehmerischem Wagemut,
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117
Wirtschaft
weshalb er Freiheit für Innovationen und
größere Akzeptanz gegenüber den neuen
Technologien fordert.
Während Kanzler Schröder Worthülsen
wie die „digitale Revolution“ in seine Reden einflicht, um sich zeitgemäß zu geben,
Wie Ex-Lafontaine-Berater Wolfgang Filc das alltägliche
war Mosdorf einer der ersten Politiker in
Deutschland, der die wirtschaftliche Macht
Chaos im rot-grünen Regierungsalltag erlebt hat
und die Möglichkeiten des Internet erkannte. Im Alleingang konzipierte er zuür den Wirtschaftsprofessor aus
Auch mit dessen Staatssekretär Heidem noch zu Oppositionszeiten ein ÖkoTrier war es ein Ausflug in die ner Flassbeck seien keine tief schürsteuer-System, aus dem sich Vertreter aller
ganz große Welt. Fünf Monate fenden Gespräche zu Stande gekomParteien anschließend bedienten.
lang, von Dezember 1998 bis Mai 1999, men, erinnert sich Filc: „Sie sind an
Heute nutzt Schröder Mosdorfs Expersaß der Akademiker Wolfgang Filc als den Fingern einer Hand abzuzählen“.
tise nur wenig. Seit Monaten schon sucht
Ministerialdirektor im Bundesfinanz- Makroökonom Flassbeck habe sich
der Kanzler keinen Rat und keine Auskunft
ministerium. Als hochrangiges Mitglied ganz auf die große Linie konzentriert
mehr. „Der ruft einfach nicht an“, beklageiner Beratergruppe rund um den da- und nicht wissen wollen, warum Wechte sich der Staatssekretär bei Vertrauten.
maligen Finanzminister Oskar Lafon- selkurse schwanken können.
Schröder beschädigte ihn auch noch: Erst
taine sollte der Ökonom das WeltImmerhin reichte es einmal, am Ranbrachte er Mosdorf als neuen Verkehrsmifinanzsystem neu ordnen.
de einer internationalen Finanzkonfenister ins Gespräch, dann entVon dem Rollenwechsel war der Seischied er sich doch lieber für
teneinsteiger offenbar so fasziniert,
den Traditionalisten und saardass er die Erinnerungen an seine Kurzländischen Wahlverlierer Reinkarriere als Buch verarbeitete**. Er
hard Klimmt – aus taktischen
schildert Banales („In Bonn stand ich
Gründen.
um 7.00 Uhr auf, aß eine Scheibe
Das Problem der Berater ist
Brot“), Persönliches („In meinem Benicht allein, dass Schröder ihnen
rufsleben war ich gewohnt, in jeder
nicht zuhört. Auch untereinanGruppe zumindest zu den ersten Drei
der sind sie nur unzureichend
zu gehören“) und Geheimnisvolles
vernetzt. Niemand kanalisiert
(„Im Finanzministerium war zumindest
Ideen, keiner verteilt Aufträge,
ein U-Boot tätig, das gegen den Finicht einmal die drängendsten
nanzminister arbeitete“).
Vorhaben werden koordiniert.
Vor allem aber enthüllt der wackere
Stattdessen geben sich die
Streiter für politisch korrekte WechselÖkonomen dem Stress des Takurse Alltagsszenen aus der Chefetage Minister Lafontaine*: „Da passte wenig zusammen“
gesgeschäfts hin. Mosdorf verdes Ministeriums – und da geht es oftritt seinen Minister bei Verbandstagen und
fenbar zu wie in einem schlecht orga- renz, zu einem abendlichen Bier mit
im Bundestag, Gretschmann fliegt als Shernisierten Kaninchenzüchterverein.
Lafontaine und Flassbeck, was den isopa des Kanzlers um den Erdball. Für kon„Da passte wenig zusammen“, resü- lierten Wissenschaftler versöhnte: Er
zeptionelles Arbeiten findet er kaum Zeit,
miert der Ex-Abteilungsleiter für In- fühlte sich „im Banne der Persönlichvielleicht mal auf dem Rücksitz seines
ternationale Finanz- und Währungsbe- keit von Oskar Lafontaine“.
Dienstwagens oder im Flugzeug.
ziehungen: „Keiner wusste von dem
Mit dem Bundeskanzleramt hatte
Zitzelsberger ist, wie vergangene Woanderen, es gab keine gegenseitige In- Filc wenige, aber drastische Erlebnisse.
che auf dem Steuerberatertag in Dresden,
formation zwischen den Abteilungen, So sei eines seiner Papiere zur Wähimmer wieder damit beschäftigt, die HinAbstimmungen auf höherer Ebene fan- rungspolitik dort stark verändert
terlassenschaft von Lafontaine und dessen
den kaum statt.“ So habe es in seiner worden, als Übeltäter machte er den
Gefolge zu beseitigen. In Dresden kündigDienstzeit gerade mal eine Bespre- volkswirtschaftlichen Leiter Klaus
te er an, das Steuerbereinigungsgesetz für
chung zwischen den Abteilungsleitern Gretschmann aus. Ein Mitarbeiter des
das nächste Jahr werde Maßnahmen, die
gegeben, und die fand ohne Staats- Spitzenbeamten habe ihm barsch erLafontaine ins Steuergesetz schreiben ließ,
sekretär und Minister statt.
klärt, es gebe keinen Konsens zwischen
wieder rückgängig machen.
Der Neu-Ministeriale freute sich an- Kanzleramt und Finanzminister in
Der Unmut in der Wirtschaft wächst
fangs über eine grenzenlose Freiheit: Währungsfragen. „Der in der Hierarderweil weiter. Selbst Schröders Freunde
„Ich konnte bei konzeptionellen Fra- chie nachrangig eingeordnete Beamte“
aus der Autoindustrie, die den bekennengen machen, was ich wollte. Der Mi- habe ihm übers Telefon zugeschrien,
den Automann noch am längsten geschont
nister fragte nicht ein einziges Mal da- „dass jede Kooperation in Wähhaben, gehen auf Distanz. „Wir können
nach.“ Es habe mit Lafontaine keine rungsfragen zwischen Ländern immer
auf den weltweiten Märkten nur erfolginhaltlichen Gespräche gegeben – nur zu Lasten Deutschlands gehe“ und
reich sein, wenn die Rahmenbedingungen
„hierfür blieb dem Minister wohl kei- dass dem Kanzler „die ganze Richtung
stimmen“, ermahnte BMW-Chef Joachim
ne Zeit“. Ausgerechnet auf einem nicht passt“.
Milberg bei der Eröffnung der Berliner
Schlüsselgebiet seiner Politik hat sich
Nach Lafontaines Flucht war es auch
Konzernrepräsentanz den anwesenden
Lafontaine demnach für Konkretes we- um Helfer Filc geschehen. Zum ersten
Kanzler.
nig interessiert.
Mal durfte der Professor jetzt das Büro
Auch ein anderer ehemaliger Schröderdes Ministers betreten: Der neue Amts* Mit Wim Duisenberg (l.) am 15. Januar.
Fan
ist mehr als enttäuscht. „Meine Erchef
Hans
Eichel
teilte
ihm
im
Sie** Wolfgang Filc: „Mitgegangen, mitgehangen – Mit
wartungen sind Erwartungen geblieben“,
Lafontaine im Finanzministerium“. Eichborn Verlag, ben-Minuten-Gespräch die Entlassung
sagt Unternehmensberater Roland Berger,
Hans-Jürgen Jakobs
Berlin/Frankfurt am Main; 208 Seiten; 24,80 Mark. mit.
„Schröder hat manches anders, aber nichts
besser gemacht.“
Christian Reiermann
Das Geisterschiff
ARGUM
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Wirtschaft
Autohersteller und Zulieferer
registrieren einen Boom im
Handel mit gefälschten Ersatzteilen. Die Plagiate sind
billig – und oft lebensgefährlich.
S
ein Gesicht ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. „Keine Fotos“,
insistiert Steffen Dörner. Der 56Jährige sorgt sich um seine körperliche
Unversehrtheit, sollte sein Bild in der Presse erscheinen. „Ich bin oft in Osteuropa
unterwegs“, sagt er, „da kann schnell mal
was passieren.“
Dörner ist für die Kölner Ford-Werke
AG auf der Jagd nach Produkt- und Markenpiraten. Denn die produzieren nicht
nur gefälschte Boss-Anzüge und RolexUhren, sondern immer häufiger auch
Autoersatzteile – Fußmatten und Felgen,
Bremsanlagen und Blinker, Kotflügel und
Kraftstoff-Filter. Jedes zehnte Ersatzteil in
der Europäischen Union ist inzwischen
eine Fälschung, schätzt der Verband der
Automobilindustrie. Produktpiraten bereiten den großen deutschen Fahrzeugherstellern jährliche Umsatzverluste zwischen jeweils 40 und 100 Millionen Mark,
so der Verband.
„Sprunghaft“ habe das Phänomen in
den vergangenen Jahren zugenommen,
sagt auch Gerhard Voth, Chef der Patentabteilung beim Zulieferer Mann und
Hummel. Ford richtete als erster Automobilhersteller eine eigene Ermittlergruppe
gegen Teilefälscher ein.
Es geht den Konzernen nicht allein ums
entgangene Geschäft: Gefälschte Teile bergen vor allem enorme Risiken für die
Autofahrer und damit fürs Image der Hersteller. „Autos mit eingebauten Plagiaten
sind tickende Zeitbomben auf unseren
Straßen“, sagt Opel-Manager Gerd Roth.
Es gibt nach seinen Angaben Motorhauben ohne Sollbruchstellen, „die schieben
sich bei einem Auffahrunfall in den Innenraum“. Auch Windschutzscheiben aus
Fensterglas seien auf dem deutschen
Markt. „Da fliegen bei einem Unfall die
Splitter wie Dolche nach innen.“
Selbst nachgemachte Fußmatten seien
gefährlich, sagt Ford-Mann Dörner: „Sind
sie nicht aus dem richtigen Material, können sie unter das Bremspedal rutschen.“
Bei Fälschern beliebt sind vor allem alle
Komponenten der Bremsanlage. In der
Asservatenkammer der Zentralstelle Gewerblicher Rechtsschutz in München, die
republikweit die Beschlagnahme von Piratenprodukten an den Grenzen koordi120
A. PENTOS
Da fliegen
die Splitter
Fast immer sitzen die Produktpiraten im Ausland, hauptsächlich in Osteuropa und
Asien. Dort sind die Fälschungen wesentlich weiter verbreitet
als hier zu Lande. Ein Zulieferer
schätzt, dass ihn Plagiate in einigen Ländern um die Hälfte
des Umsatzes bringen.
In Deutschland würden
die Piratenteile überwiegend
über „Ameisenkanäle“ vertrieben, sagt Manfred Lotze vom
Düsseldorfer Detektiv-Institut
Kocks: „Plagiate werden meist
als Überproduktion ausgegeben
und über persönliche Kontakte,
telefonisch oder per Zeitungsinserat angeboten.“
Verkauft werden sie dann in
Hinterhofwerkstätten und auf
Flohmärkten. Immer wenn außerhalb von Vertragswerkstätten vermeintliche Originalteile
Plagiatsfahnder Brormann: Enorme Risiken
mit den Markenzeichen der
niert, finden sich derzeit mehrere Porsche- Autohersteller angeboten würden, solle
Bremsbeläge, die nicht von Porsche stam- man misstrauisch werden. „Aber auch
men – „drei Vollbremsungen, und die sind seriöse Händler sind nicht vollständig dahinüber“, sagt Rolf Brormann, Vize-Chef vor gefeit, auf Fälscher reinzufallen“, sagt
Doris Möller, Vorstandsmitglied des Akder Zentralstelle.
Über Unfälle durch gefälschte Ersatz- tionskreises der Deutschen Wirtschaft geteile gibt es keine Statistiken – weil bei der gen Produkt- und Markenpiraterie.
Für das Kölner Zollkriminalamt sind
Unfallforschung nicht danach gesucht werde, meint Ralf Scheibach, Leiter der VDA- gefälschte Ersatzteile „längst keine EinRechtsabteilung beim Automobilverband. zelfälle mehr“, so Behördensprecher
Nicht die Technik, sondern menschliches Leonhard Bierl. Im vergangenen DeVersagen werde in der Regel für einen zember beschlagnahmte der Zoll im
Crash verantwortlich gemacht. Scheibach: Hamburger Hafen 7500 Felgen aus der
„Wie soll ein Polizeibeamter vor Ort auch Türkei, die das Opel-Zeichen trugen. Im
erkennen, dass ein Plagiat der Grund für Januar fingen dieselben Ermittler vier
Container mit nachgebauten Generaleinen Unfall war?“
Prominentestes Opfer von Produktfäl- Motors-Schalldämpfern ab, einen Monat
schern ist wahrscheinlich Formel-1-Pilot später an der tschechischen Grenze eiMika Häkkinen. Im vergangenen Jahr war nen Sattelzug mit gefälschten Fußmatten
der Finne beim Großen Preis von San Ma- des US-Konzerns.
Der Zoll findet nach eigener Einschätrino in Runde 17 ausgeschieden – Getriebeschaden, verursacht durch ein minder- zung nur einen Bruchteil der tatsächlich
wertiges Kugellager. Das Teil, erklärte geschmuggelten Plagiate. Die Beamten
McLaren später vor der Presse, sei einem können an den Grenzen bloß zwei bis
Zulieferer vermutlich von Produktfäl- drei Prozent aller Einfuhren „beschauen“.
schern in Asien untergeschoben worden. Und sie haben es oft schwer, Original und
Bis heute konnte der Rennstall die Her- Fälschung zu unterscheiden. Ford benutzt deshalb seit Jahren Etiketten, bei
kunft des Kugellagers nicht aufklären.
denen das Firmenlogo unter
UV-Licht sichtbar wird, DaimlerChrysler seit kurzem Verpackungen, die mit Hologrammen gekennzeichnet sind.
Ab und zu staunen die Konzerne allerdings über die hervorragende Qualität der Plagiate. Ein Produktpirat, der in
der Türkei Mercedes-Sterne
gefertigt hatte, sei von DaimlerChrysler „einfach umgedreht“ worden, berichtet ein
Branchenkenner. „Der war so
gut, dass er offizieller Lieferant
wurde.“
Plagiatsopfer Porsche: Gefährliche Bremsbeläge
Olaf Storbeck
A. LINDLAHR / AUTO BILD
AU T O I N D U S T R I E
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Wirtschaft
ASIEN
Chinas Größenwahn
So viel Leerstand war nie: In Schanghai purzeln die Preise für
Immobilien ins Bodenlose. Viele Investoren haben sich verhoben.
A
ls der alte Mann 1992 zum letzten
Mal in den Süden seines Reiches
reiste, hatte er Revolutionäres im
Sinn. KP-Patriarch Deng Xiaoping, damals
88, wollte die ineffektive Planwirtschaft
mit den scharfen Zutaten des Kapitalismus würzen.
So entstanden in den Provinzen Kanton, Fujian und Hainan Sonderwirtschaftszonen, die ausländische Unternehmen mit großzügigen Steuernachlässen
anlockten. Allenthalben wuchsen neue
Stadtviertel, aus Reis- und Gemüsefeldern
erhoben sich Auto- und Startbahnen, aus
kleinen Fischerhäfen wurden Containerterminals für Ozeanriesen. Die Wirtschaft
im Süden Chinas wuchs seither jedes Jahr
zeitweise um über 15 Prozent.
Für Schanghai, die alte Handelsstadt am
Huangpu, hatte der Alte eine besondere
Direktive: „spürbare Änderungen jedes
Jahr, entscheidende alle drei Jahre“.
Die Stadtväter nahmen sich seine Worte zu Herzen. Kaum eine chinesische Metropole hat sich in den vergangenen Jahren
so heftig gewandelt wie die „Stadt über
Der Absturz
Vermietungsindex der Firma CB Richard
Ellis (Büroflächen in Schanghai)
INDEX: 1993 = 100
140
100
60
20
1990 91 92 93 94 95 96 97 98 99
dem Meer“, wie Schanghai auf Chinesisch heißt.
Jeder fünfte Baukran der Welt, verkündete Bürgermeister Xu Kuangdi jüngst
stolz, dreht sich mittlerweile in seiner Metropole. Vor allem am Ostufer des Huangpu, im einst als rückständig verachteten
Stadtteil Pudong, stehen nun modernste
Fabriken und Werkhallen. Krupp-Thyssen
baut derzeit für 1,4 Milliarden Dollar ein
Stahlwerk, die Messegesellschaften von
Hannover, Düsseldorf und München
planen ein großes Ausstellungsgelände.
Breite Avenuen, Parks, Golfplätze und
Villenanlagen kommen demnächst hinzu;
sie sollen Pudong zum „Tor für den riesigen China-Markt“ machen.
Doch der Traum wird allmählich zum
Alptraum – die Stadt hat sich übernommen. Zahlreiche neue Bürotürme sind derzeit nur zur Hälfte besetzt, andere stehen
ganz leer. Ein Merkmal der Stadt ist in diesen Tagen das chinesische Zeichen „Zu“,
das in langen Bannern von den Häusern
hängt: „Zu vermieten“.
Zwei Millionen Quadratmeter, so schätzen Immobilienhändler, liegen derzeit in
Pudong brach, Tendenz steigend. Japanische Investoren verschoben deshalb bis vor
kurzem ihren 676-Millionen-Dollar-Plan,
das „Schanghai Weltfinanz-Zentrum“ zu
bauen. Der Platz, auf dem der zweithöchste Kasten der Welt (460 Meter) ragen sollte, liegt brach.
Schanghais Mieten, einst mit die höchsten der Welt, purzeln in die Tiefe. Ein deutsches Unternehmen muss im Merchants
Tower von Pudong anstatt der ursprünglich
geforderten 1,10 Dollar pro Quadratmeter
und Tag nur noch 39 Cent bezahlen.
„Es gibt eine Menge nutzloser Gebäude
mit niedriger Qualität in Pudong“, sagt
Sam Crispin von der Schanghaier Filiale
der US-Maklerfirma FPD Savills. Seine
düstere Prognose: „Viele werden wohl
noch eine lange Zeit leer bleiben.“
GAMMA / STUDIO X
Investoren-Alptraum Schanghai: „Spürbare Veränderungen jedes Jahr, entscheidende alle drei Jahre“
Die Verluste japanischer, thailändischer
und Hongkonger Unternehmen dürften
täglich in die Millionen gehen. Manche
versuchen bereits, die Immobilien wieder
loszuschlagen. Die meisten leer stehenden
Projekte gehören allerdings einheimischen
Bauherren. Peking zwang viele Betriebe,
Banken, Provinzregierungen und Ministerien, sich in Pudong anzusiedeln: So sollten
ausländische Investoren angelockt werden.
Nicht nur in Pudong zeigt sich, dass die
Chinesen in den vergangenen Jahren zu
schnell und zu groß geplant haben: In der
Sonderwirtschaftszone Shenzhen vor den
Toren Hongkongs reicht der bereits fertige
Platz für die nächsten drei Jahre aus. Und
in der Hauptstadt Peking „schneiden sich
Bauherren und Eigentümer gegenseitig die
Kehle durch“, um Mieter abzuschleppen,
berichtete die von der Stadtregierung finanzierte Zeitschrift „Business Beijing“.
Sinnfälliges Beispiel für den Ehrgeiz der
Pekinger, ihre Stadt mit prestigeträchtigen,
aber womöglich überflüssigen Projekten
zu schmücken, ist der Glaspalast des Hongkonger Tycoons Li Kashing an der Straße
des Ewigen Friedens. Er durfte in Chinas
bester Lage, nicht weit vom TiananmenPlatz entfernt, das „Oriental-Plaza“ errichten: 300 000 Quadratmeter Wohn- und
Bürofläche, für die er bei dem Überangebot nach Meinung von Immobilienhändlern so leicht keine Kunden finden dürfte.
Die Immobilienkrise spiegelt die Unsicherheit über Chinas wirtschaftliche Zukunft wider. Die Symptome im Reich der
Mitte ähneln denen der asiatischen Grippe
in den Nachbarländern: wuchernde Korruption und Vetternwirtschaft, windige
Projekte, Not leidende Kredite. Chinas
Banken haben inzwischen mehr Außenstände als die maroden Geldhäuser Thailands und Südkoreas zusammen.
„Eine beträchtliche Zahl von Krediten
verschwindet wie Steine, die ins Meer geworfen werden“, sorgte sich jüngst die unter anderem von der Zentralbank herausgegebene Finanzzeitung „Jinrong Shibao“.
Die Schanghaier hoffen, dass sich ihre
Lage im 50. Jahr der Volksrepublik China,
das am 1. Oktober begann, verbessert. Auf
Pudongs neuem internationalen Flughafen, gerade erst eingeweiht, sollen neue
Investoren landen, so die Hoffnung. Gleichzeitig will die Stadtregierung durch einen
Tunnel unter dem Huangpu-Fluss das Finanzzentrum mit dem Rest der Stadt verbinden, um so die Attraktivität der Stadt
für Ausländer zu erhöhen.
Wie Eltern, die „dem Kind ein wenig zu
große Kleider kaufen, in die es später
hineinwachsen kann“, habe man in Pudong halt für die Zukunft geplant, begründet Pressesprecher Hua Xinxiang den
Bauboom.
Immobilienhändler Crispin hält dies für
wenig vernünftig: „Man kauft doch einem
Säugling nicht Schuhe der Größe 46.“
Andreas Lorenz
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N. NORDMANN
Munitioniert mit einem 132Seiten-Gutachten der Münchner Wirtschaftsprüfungsgesellschaft BDO holten die
neuen Herren zum entscheidenden Schlag gegen die alte
Hypo-Führung aus. Weil Martini und seine Mannen kein
funktionierendes Kontrollsystem für ihre Kreditrisiken
aus Immobiliengeschäften installiert hatten, so stellen es
die Prüfer fest, hätten sie drohende Verluste aus waghalsigen Grundstücksgeschäften
um 3,6 Milliarden Mark zu
niedrig bewertet. Damit, folgern die Experten, sei auch
der 97er-Bilanzabschluss der
Hypo-Bank null und nichtig.
So etwas wurde vor Martini
noch keinem anderen Bankchef bescheinigt.
Verstehen möchte oder kann Martini das
alles noch immer nicht. Wohl auch, weil
zum Verständnis gehört, dass der Bankmanager erkennt: Schuld an seinem Absturz sind nicht nur die anderen.
Bis zuletzt weigerte sich der Spross einer
Augsburger Fabrikantenfamilie, von einem
Wirtschaftsblatt einst als „Deutschlands
unkonventionellster Banker“ gefeiert, zuzugeben, dass er Fehler gemacht hatte.
Stattdessen beschimpfte er öffentlich sei-
Ehemalige Hypo-Zentrale (in München): Berauscht von den eigenen Großtaten
H Y P OV E R E I N S BA N K
Opfer oder Täter?
Der Sturz des Eberhard Martini: Der zurückgetretene
HypoVereinsbank-Aufseher will die Schuld nicht allein auf sich
nehmen. Hypo-Kontrolleure hätten die Schummelei gedeckt.
124
Hypo-Bank mit seinen Aufsichtsratskollegen der fusionierten HypoVereinsbank die
neuesten Zahlen des Kreditinstituts diskutieren. Danach
freute Martini sich schon auf
das Essen mit den Aktionärsvertretern, das traditionell der
Münchner Edelgastronom Käfer auffährt. „Das habe ich
bei der Hypo-Bank so eingeführt“, bekannte der Feinschmecker einst stolz.
Doch statt mit seinen Kollegen zu plaudern und zu tafeln, saß Martini einsam und
verbittert im 21. Stock des
Münchner Hypo-Hochhauses. Dort hatte ihm sein Auf- Martini-Gegner Schmidt: Abrechnung im ersten Stock
sichtsratschef Kurt Viermetz
24 Stunden vorher eröffnet, dass er sein nen Rivalen und Vorstandsvorsitzenden
Kontrollmandat bei der Bank niederlegen Albrecht Schmidt: „So ein Mann kann keimüsse. Andernfalls, drohte Viermetz sei- ne Bank führen.“
nem Freund aus alten Augsburger Zeiten,
Die Konkurrenz zu Schmidt begann
werde er auf der Hauptversammlung am schon vor vielen Jahren. Erfüllt von dem
17. Dezember seine Entlassung fordern.
Wunsch, die benachbarte Vereinsbank zu
Als Martini erfuhr, dass auch sechs an- überrunden, ließen sich Martini und seine
dere ehemalige Hypo-Topmanager abtreten Mitarbeiter Anfang der neunziger Jahre
würden, willigte der einst so kampfeslusti- auf Geschäfte ein, die ihre Kollegen am
ge Bayer ein. Voller Groll musste er später nahe gelegenen Tucherpark lieber nicht anam Bildschirm mit ansehen, wie Viermetz fassten.
und Albrecht Schmidt, Chef der HypoVerWährend Schmidt und seine Berater
einsbank, 20 Stockwerke tiefer mit ihm und konservativ Anteile an der Allianz und
seinen Ex-Kollegen abrechneten.
Münchener Rück erwarben, investierten
REUTERS
S
o haben ihn nur wenige erlebt. Leicht
abgemagert und um Haltung bemüht,
nahm Eberhard Martini am vergangenen Dienstag zusammen mit seiner Frau
ein bescheidenes Abendessen ein. Statt des
einst so geliebten Bordeaux begnügte sich
der Banker mit einer Flasche Bier (Augustiner Edelstoff), die passte besser zu
seiner Stimmung.
Wenig war zu sehen von dem Selbstbewusstsein, von dem Martini, 64, einst nur
so strotzte, als er noch Chef der bayerischen Hypo-Bank war. Ein Mann, der es
wie kaum ein anderer Bankmanager verstand, seine Macht auch nach außen zu demonstrieren. Dessen Zigarren stets ein bisschen länger und dicker waren. Und der,
wenn er prominente Wirtschaftsbosse zu
einem Glas Wein einlud, nur die feinsten
Tropfen bestellte.
Der ehemalige Bankenpräsident war einer, der sich wohl fühlte in der Geldszene,
einer, dessen Wort galt. Und jetzt? Jetzt
wird Martini von ehemaligen Kollegen so
rüde und gnadenlos öffentlich hingerichtet,
wie vor ihm noch kein anderer deutscher
Bankführer. „Was ist der Unterschied zwischen der ‚Titanic‘ und der Hypo-Bank?“,
heißt ein eingängiger Banker-Scherz. Die
Antwort: „Auf der ‚Titanic‘ war der Martini besser.“
Dabei sollte der vergangene Dienstag für
Eberhard Martini ein richtig schöner Tag
werden.Vormittags wollte der Ex-Chef der
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Wirtschaft
F. HELLER / ARGUM
Martini und seine Mannen in Brauereibe- lianz gelegen, der noch knapp 25 Prozent
teiligungen und den Fleischkonzern März, an der Hypo-Bank hielt. Zumindest hätten
dessen skandalumwitterter Firmengründer zwei der Allianz nahe stehende AufsichtsJosef März einst eng verbandelt war mit räte – darunter ein ehemaliger Allianzdem ehemaligen DDR-Devisenbeschaffer Finanzchef – Bedenken geäußert, ein solcher Ausreißer bei den Abschreibungen
Alexander Schalck-Golodkowski.
Trotz dreistelliger Millionenbeträge, die könnte angesichts der bevorstehenden Fusie auf ihre maroden Beteiligungen ab- sion mit der Vereinsbank einen schlechschreiben mussten, hielten die Hypo-Ban- ten Eindruck machen. Ein Allianzsprecher,
ker an ihrem Expansionskurs fest – und nach Rücksprache mit dem Vorstand: „Uns
hatten damit teilweise sogar Erfolg. Im- ist ein solcher Vorgang bis heute nicht
merhin waren es die experimentierfreudi- bekannt.“
Auch die Experten der Wirtschaftsprügen Bayern, die 1994 als erste deutsche
Großbank einen Billigableger gründeten, fungsgesellschaft Wedit hätten Zweifel gedie Direktanlagebank. Das Aldi-Institut, habt, ob ein so hoher Betrag von den Fidas den Münchnern Anlaufverluste von 50 nanzbehörden anerkannt werde, so MartiMillionen bescherte, ist inzwischen gut ni im kleinen Kreis. Nach guter bayerischer
zwei Milliarden Mark wert und soll dem- Sitte einigte man sich schließlich auf einen
Kompromiss, der Martini
nächst an die Börse geheute belastet, ihm damals
bracht werden.
aber nicht ganz unrecht
Auch waren die Hypowar. 1,5 Milliarden Mark
Banker die ersten, die
wurden abgeschrieben, der
nach der Wende in OstRest der Immobilien blieb
deutschland Selbstbedieals Wert in den Büchern.
nungsfilialen errichteten.
Die Nonchalance, mit
„Wir waren die Kreatider er solche Konflikte jahven“, sagt ein Ex-Hyporelang geregelt hatte, wurVorstand, „die Vereinsde dem Banker nun zum
banker galten dagegen als
Verhängnis. Martini hoffte
brav und stocksolide.“
offenbar bis zuletzt, das
Berauscht von den eivon seinem Widersacher
genen Großtaten, setzten
Schmidt offenbarte 3,5Martini und seine Kollegen
Milliarden-Loch mit raffizu ihrem bis dahin größten
nierter Bilanzkosmetik kaCoup an und verhoben sich
schieren zu können, wenn
dabei kräftig. Für zwei- Aufsichtsrat Martini (1998)
nur alle mitzögen.
stellige Milliardenbeträge
Umso entsetzter reagierte der Ex-Bankkauften die Hypo-Manager im großen Stil
unbebaute Grundstücke und Geschäfts- Chef, als er jetzt das Gutachten der Prühäuser auf. Doch die Bürobrachen erwiesen fer in den Händen hielt.
Der gläubige Katholik hatte allen Ernssich zum größten Teil als gigantische Fehltes gehofft, die Bilanzexperten würden
spekulation.
Martini weigerte sich lange, zu lange, ihm und seinen Kollegen darin endlich die
das drohende Desaster wahrzuhaben. Um lang ersehnte Absolution erteilen. StattDetails der Bilanzenstellung und Risiko- dessen besiegelten sie das Ende seiner Karkontrolle habe er sich nie gekümmert, riere.
Martini versteht die Bankenwelt, in der
rechtfertigte er sich gegenüber Vertrauten.
Sein Terrain waren Empfänge und Gala- er jahrelang eine zentrale Rolle spielte,
veranstaltungen, wo der Lebemensch selbst nicht mehr. Und die Bankenwelt versteht
ihn nicht mehr.
seine Kritiker für sich einnahm.
Nach wie vor glaubt Martini, dass er seiMulmig wurde es Martini offenbar erst,
als seine eigenen Immobilienexperten im- ne rund ein Dutzend Aufsichtsratsmandamer massiver drängten, die Grundstücke te, die er noch ausübt, auch in Zukunft
und die darauf ausgereichten Kredite ab- behalten kann, darunter Posten bei der
zuschreiben. Doch auch das konnte einen Spaten-Franziskaner-Brauerei oder dem
Mann wie Martini nicht erschüttern. Die Bankhaus Maffei. Die Chefaufseher der
wollten die Projekte doch nur bewusst run- Firmen überlegen dagegen längst, wie sie
terreden, um bei einem späteren Verkauf ihn elegant loswerden können.
Selbst sein Vorstandsbüro am Arabellabesser dazustehen, glaubte er zunächst.
Im Herbst 1997 dämmerte Martini und park inklusive Fahrer und Sekretärin nutzt
seinem Finanzchef Werner Münstermann, Martini weiterhin, als wäre nichts gewedass die Probleme durch Aussitzen nicht sen. Den täglichen Spießrutenlauf in den
lösbar waren. Deshalb schlugen sie dem 21. Stock will der tief gestürzte Ex-Banker
Aufsichtsrat vor, Verlustobjekte im Jahres- offenbar bewusst in Kauf nehmen. Schließabschluss um rund 2,2 Milliarden Mark ab- lich läuft sein Vorstandsvertrag, der noch
nach seinem Wechsel in den Aufsichtsrat
zuwerten.
Dass es so weit nicht kam, so stellt es verlängert wurde, bis Mai nächsten Jahres.
Martini heute im kleinen Kreis dar, habe Und den will Martini auskosten – bis zum
vor allem am damaligen Großaktionär Al- letzten Tag.
Dinah Deckstein
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Wirtschaft
LIAISON / GAMMA / STUDIO X
Lehrverpflichtung und des Publikationsdrucks abgestreift und sich in die oberen
Ränge großer Unternehmen aufgeschwungen. Nun sind sie Entscheider mit Millionen-Budgets, großzügigen Hightech-Labors und großen Stabsabteilungen.
Statt mühselig aus Projektgeldern ein
Ticket für die Touristenklasse zusammenzukratzen, reisen die neuen Pharma-Fürsten nun mit dem Firmenjet zu den Kongressen. Und statt einer mageren Professorenvergütung streichen sie Aktienoptionen und Bonuszahlungen ein. Der US-Genetiker Craig Venter etwa kann sich endlich ein nettes Spielzeug leisten: eine
25-Meter-Rennjacht, die er „Sorcerer“ genannt hat, Hexer.
Ihre Ex-Kollegen an den Universitäten
beneiden diese neue Generation von Biologen, Biochemikern und Medizinern. Nur
Idealisten beklagen deren Sündenfall vom
unabhängigen Freigeist zum Handlanger
Genforscher Venter: Aktienoptionen statt magerem Professorengehalt
J. STRICKLAND / BLACK STAR
BIOTECHNIK
Professor mit Profit
Universitäten werden für viele US-Biotech-Forscher als
Arbeitgeber immer unattraktiver: Im PharmaGeschäft gibt es weniger Bürokratie – und deutlich mehr Geld.
126
Exzentriker mit Stabsabteilung
der profitgierigen Pharma-Industrie. Neben Spitzenleuten wie Venter und Roses
gilt es, deren Erben, risikofreudige Jungforscher, aus den akademischen Hinterstübchen nach vorn an die kapitalistische
Front zu locken, wo Shareholder-Value
wichtiger ist als der Abgabetermin der
Doktorarbeit.
Die Industrie steckt immer
mehr Geld in die amerikaniMikrobiologe Rosenow: 1000 Dollar täglich fürs Labor
schen Universitätslabors, in
diesem Jahr werden es schätzungsweise 2,2 Milliarden
Dollar sein. Wer den Unterschied zwischen der Großzügigkeit der Konzerne und
dem Betteln um öffentliche
Gelder erlebt hat, dem fällt
es leicht, sich nach der Ausbildung bei einer Biotech-Firma im Silicon Valley zu verdingen, anstatt sich jahrelang
für die Habilitation im Elfenbeinturm einzumauern.
„Hier dürfte ich, wenn
nötig, jeden Tag tausend
Dollar für Laborausstattung
Er gehört zu einem neuen Forscher-Typ,
der immer häufiger vor allem in den USA
anzutreffen ist: Chimären aus Unternehmergeist und wissenschaftlichem Ehrgeiz.
Nach einem mühseligen Dauermarsch
durch die Universitätsbürokratie haben er
und die anderen Wissenschaftsmanager die
Fesseln der öffentlichen Fördermittel, der
A. FREEBERG
M
anager weltweit operierender
Konzerne tragen keine Slipper.
„Internationale Direktoren“ von
Pharma-Multis schleichen sich auch nicht
ins Büro eines Vizepräsidenten und laden
ihm ihr eigenes grinsendes Gesicht als Bildschirmschoner auf den Computer. Und
es kommt in der angelsächsischen Unternehmenskultur wohl eher selten vor,
dass einer der Bosse seinen schwarzen
Chauffeur auf ein Bierchen in die Kneipe
entführt.
Aber Allen Roses ist eben von Haus aus
kein Manager. Die Chefs des Pharma-Konzerns GlaxoWellcome haben den 56-jährigen Amerikaner vor zwei Jahren aus einem
Universitätslabor in North Carolina rekrutiert – er ist Wissenschaftler. Als solcher
darf er exzentrisch sein. Sein zukünftiger
Boss James Niedel wollte ohnehin kein
Mauerblümchen für den Job.
So haben die Briten den Alzheimer-Spezialisten in ihre US-Niederlassung nahe
seiner alten Arbeitsstätte gesteckt und
dafür gesorgt, dass es ihm gut geht. „I’m
happy!“, findet Roses und lacht sein verrücktes Lachen.
Alzheimer-Spezialist Roses
Werbeseite
Werbeseite
Wirtschaft
ausgeben“, schwärmt Carsten Rosenow.
Der 36-jährige Chemiker und Mikrobiologe aus Berlin arbeitet bei der BiotechFirma Affymetrix im kalifornischen Santa Clara.
Ob es ergonomische Pipetten sind oder
eine neue Tischzentrifuge – solchen Kleinkram bestellen Rosenow und seine Kollegen mit einer Leichtigkeit wie ihre armen
Brüder und Schwestern an den Unis höchstens die Pizza zum Lunch.
Andere Jungforscher gründen selber ein
Gentech-Start-up. Und für viele lohnt sich
auch eine Zwischenlösung: an der Universität bleiben, nebenher aber in der eigenen
Firma das Wissen versilbern. So eine Doppelrolle spielt etwa Richard Wurtman, ein
Pharmakologe am Massachusetts Institute
of Technology (MIT) und, in seinem anderen Leben, Mitgründer und Direktor der
Firma Interneuron Pharmaceuticals.
Der Trend zur profitablen Ausbeutung
des eigenen Wissens begann schon mit den
ersten Gentech-Firmengründungen vor
rund 20 Jahren. Aber noch lange glich die
Gentechnologie einem halbblinden Stochern im Erbgut. Erst seit Ende der achtziger Jahre revolutionierten bahnbrechende Erkenntnisse, schnellere Computer und
immer ausgefeiltere Labortechniken das
Forschungsfeld und verwandelten es in
eine Verheißung vor allem für die Pharma-Industrie.
Der Schlüssel zu einer Zukunft ohne Altern und Kranksein, so heißt das Credo, liege in der DNS. Der Zellkern berge die
Goldadern des nächsten Jahrtausends.
Wer sich jetzt das Wissen um die Gene
sichert, die Claims sorgsam absteckt, der
beherrscht morgen die Märkte, glauben die
Manager bei Bayer in Leverkusen ebenso
wie die von Bristol-Myers Squibb in New
York und GlaxoWellcome in London. Die
britische Firma steckt in diesem Jahr 1,3
Milliarden Pfund in Forschung und Entwicklung.
Niemand vermag auszurechnen, wie viele Milliarden ein Medikament gegen Alzheimer – allein in den USA leiden vier Millionen Menschen unter der Krankheit –
oder gar, das ist der eitelste Traum, eine
Jungbrunnen-Arznei einfahren würde.
„Das Wissen um die menschlichen Gene“,
prophezeit Craig Venter, „wird eine der
stärksten Antriebskräfte der Weltwirtschaft.“
Geld plus Gehirn – die Industrie braucht
für ihre genetische Großoffensive die Forscher wie einst die Minenbesitzer die Goldschürfer. Ein solches Investment in „Humankapital“ lohnt sich: Das von Roses geleitete Glaxo-Team hat gerade erst mit einer schnellen neuen Methode Gene für
drei Geißeln der Menschheit gefunden: Migräne, Diabetes und Schuppenflechte.
Roses war leicht aus der Universität zu
locken. An einem Abend im Mai 1997 entschied er sich innerhalb von 15 Minuten für
den Job bei GlaxoWellcome und hat es
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seitdem nie bereut. „Ich habe dort innerhalb von einem Jahr soviel geschafft wie
vorher in 20 Jahren an der Uni“, sagt er.
„Was hat das für einen Sinn, zwei Jahre
an Anträgen für öffentliche Fördermittel
zu schreiben, nur um am Ende eine Absage zu bekommen?“ Das sei Universitätsalltag, nicht etwa die Ausnahme. „Ich will
in diesem Leben ein Mittel gegen Alzheimer finden“, verkündet Roses, „und das
kann ich bei einer Pharma-Firma besser
und schneller als irgendwo sonst.“
Dass sie nun ihre Forschungsergebnisse
nur noch eingeschränkt veröffentlichen
dürfen, ihr geistiges Eigentum komplett abtreten müssen an ihre privaten Sponsoren,
stört weder große Pharma-Funktionäre wie
Roses noch Jungforscher wie Rosenow.
Angriffen von Kritikern, die eine Gefahr
in der Kommerzialisierung der Grundlagenforschung sehen, begegnet Roses gern
mit der Naivität des Gutmenschen: „Ich
will den Alzheimer-Patienten helfen, was
ist denn daran schlecht?“
Außerhalb ihrer schönen neuen Welt
wird die Debatte um die Folgen ihres Tuns
immer lauter. Es lässt sich nicht wegdiskutieren, dass Profitstreben oft als natürlicher Feind der traditionellen wissenschaftlichen Unabhängigkeit auftritt. Interessenskonflikte sind bei diesem Balanceakt programmiert.
So stand Allen Roses’ Name unter dem
Papier einer unabhängigen Expertenkommission, die genetische Tests zur Alzheimerdiagnose beurteilen sollte. Die Fachleute hatten darin das Verfahren einer bestimmten Silicon-Valley-Firma favorisiert.
Später kam heraus, dass Roses dieses Unternehmen nicht nur berät, sondern auch
Lizenzgebühren für ebendiesen Test kassiert, da er auf seinen Ergebnissen basiert.
Und wie könne es sein, fragen die Ethiker, dass Stücke menschlicher DNS etwa
einer Firma gehören? Oder das Erbgut gefährlicher Krankheitserreger im Privatbesitz ist?
Fast ein Drittel aller weltweit auftretenden Infektionen mit dem KrankenhausKeim Staphylococcus aureus lässt sich mit
den meisten gängigen Antibiotika nicht
mehr behandeln. Die Bakterien-DNS, fordern Gesundheitspolitiker und Mediziner,
müsste der internationalen Forschergemeinde zugänglich sein, damit diese so
schnell wie möglich den weltweiten Kampf
gegen eine drohende Seuche aufnehmen
kann.
Doch börsennotierte Unternehmen, sagt
die Sprecherin von Incyte Pharmaceuticals
im Silicon Valley, einem der Besitzer der
Staphylokokken-Infos, seien nun einmal in
erster Linie ihren Investoren verpflichtet.
Wissenschaftsmanager Craig Venter spricht
gänzlich unverblümt über seine Arbeit am
Erbgut: „Dies ist kein Akt der Nächstenliebe, das ist Business, Geschäft an vorderster Front von Forschung und Medizin.“
Rafaela von Bredow
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Werbeseite
Ecclestone war so beeindruckt von dem
Deal, dass er die WestLB als Ratgeber auf
die Suche nach Großinvestoren schickte.
„Nach der erfolgreichen Platzierung standen plötzlich jede Menge strategischer Investoren bereit“, sagt Andrew Gardner, Direktor im Londoner Anleiheteam der WestLB. Amerikanische Risikokapitalgeber wie
KKR und Doughty Hanson zeigten sich interessiert. Auch die Fondsgesellschaft Warburg Pincus, die kürzlich mit 40 Prozent
beim irischen Rennstall Jordan eingestiegen
ist, war im Rennen. Selbst Ron Dennis, Manager von McLaren, prüfte das Angebot.
Schließlich setzte sich die DeutscheBank-Tochter Morgan Grenfell Private
Equity durch. Ein Sprecher des DeutscheBank-Chefs Rolf Breuer legt Wert auf die
Feststellung, dass sie selbst kein Geld in
Ecclestones Imperium stecken wird. Hinter
dem Deal stehen institutionelle Großanleger, die mit einem Teil ihres Kapitals bereit
sind, auch höhere Risiken einzugehen.
Die Deutsche-Bank-Tochter mit Sitz in
Rennsport-Manager Ecclestone, Fahrer Eddie Irvine: Jede Menge Investoren
London hat für solche Großinvestoren inseine Aktiengesellschaft umzuwandeln, gesamt 1,8 Milliarden Dollar in 46 UnterR I S I K O K A P I TA L
scheiterte. Der ehemalige Brüsseler Wett- nehmensbeteiligungen gesteckt. Dabei habewerbskommissar Karel Van Miert hatte ben die britischen Fondsmanager der Deut15 Verstöße gegen das Kartellrecht bei der schen Bank offensichtlich ein Faible für
Vermarktung des Motorsports moniert, die röhrende Motoren. Am Formel-1-Rennstall
sich Ecclestone für 15 Jahre vom Automo- Arrows haben sie sich mit 50 Prozent
bil-Weltverband hat übertragen lassen. Der beteiligt. Beim italienischen Motorradhersteller Piaggio sind sie gerade eingeBörsengang wurde abgeblasen.
Selbst eine Unternehmensanleihe ließ stiegen, während sie sich bei dem MotorFormel-1-Boss Bernie Ecclestone
sich nicht so ohne weiteres unters Volk radbauer Ducati nach Sanierung und
macht Kasse: Die Deutsche
bringen. Ecclestone wollte gut zwei Mil- Börsengang schon wieder aus dem UnterBank steigt in sein Imperium ein. liarden Dollar auf dem Kapitalmarkt auf- nehmen verabschieden.
So soll das auch bei Ecclestones Unternehmen. Die Rückzahlung des Geldes war
ach eigener Einschätzung ist Ber- den Investoren jedoch zu unsicher. Schließ- nehmen funktionieren. Weitere Motornie Ecclestone, 69, ein bescheide- lich gelang es der WestLB zusammen mit sportfans wie der italienische Modefabriner Mann. „Ich brauche nur mein Morgan Stanley Dean Witter, im Mai eine kant Benetton wollen Anteile übernehSteak, meinen Hubschrauber und meinen Anleihe in Höhe von 1,4 Milliarden Dollar men. Um den angestrebten Börsengang
Lear-Jet“, sagt der Herrscher über den For- mit deutlich verkürzter Laufzeit und sehr vorzubereiten, schickt die Deutsche Bank
mel-1-Zirkus.
hohen Zinsversprechen auf dem interna- zwei Manager, die Ecclestone im Vorstand
In Zukunft könnte sich der exzentrische tionalen Kapitalmarkt zu platzieren. Das kontrollieren sollen.
„Die Formel 1“, sagt Scott
Brite bei seinen Reisen zu den Autorennen Geld kassierten Stiftungen, die
Lanphere, einer der neuen
in Kanada, Brasilien oder Japan auch eine Ecclestone für seine beiden Bankchef Breuer
Vorstände bei Ecclestone, „ist
Boeing 747 leisten. Die Morgan Grenfell Töchter und seine Frau Slavica
der führende Markenname in
Private Equity, eine Fondstochter der Deut- eingerichtet hat, ein Ex-Model
der Welt des Sports.“ Die Banschen Bank, hat ihm für 325 Millionen aus Jugoslawien, das gern mit
ker wollen ihn deshalb auch für
Dollar 12,5 Prozent an Ecclestones For- hohen Absätzen und monströandere Produkte einsetzen, ihn
mula One Administration abgekauft. Zu- sen Sonnenbrillen durchs Fahim E-Commerce-Geschäft via
sätzlich erwarb sie die Option, für weitere rerlager stolziert.
Internet nutzen und das wenig
925 Millionen Dollar ihren Anteil an der
entwickelte Lizenz- und MerFirma auf 50 Prozent aufzustocken.
chandising ausbauen.
Endlich hat der ehemalige GebrauchtBevor irgendwelche Dividenwagenhändler und wenig talentierte Rennden fließen, muss die Anleihe
fahrer sein persönliches Ziel erreicht: Die
von 1,4 Milliarden Dollar inWelt der Hochfinanz liegt ihm zu Füßen.
klusive Zinsen zurückgezahlt
„Der macht jetzt richtig Kasse“, sagt ein
werden. Einschließlich dieses
Rennstallbesitzer.
Fremdkapitals hat die DeutEcclestone hat die Formel 1 nach Olymsche Bank den Wert von Ecclepia und Fußball-WM zum größten Sportstones Imperium auf über sieEvent der Welt gemacht. Seit zwei Jahren
ben Milliarden Mark taxiert.
ist er von der Idee besessen, den GrandEs scheint so, als habe der
Prix-Zirkus an die Börse zu bringen. Doch
ehemalige Gebrauchtwagender erste Versuch der amerikanischen Inhändler gut verhandelt.
vestmentbank Salomon Smith Barney, das
wild verflochtene Firmenkonglomerat in Deutsche-Bank-Zentrale: Kein eigenes Geld
Christoph Pauly
Ein Faible
für Motoren
M.-S. UNGER
N
T. RAUPACH
A. TILL / ATP
Wirtschaft
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Trends
Medien
„BILD“-ZEITUNG
Kurzer Höhepunkt
GERDES / THOMAS & THOMAS
D
as von der „Bild“-Zeitung veröffentlichte „geheime Tagebuch“ der
Verona Feldbusch hat anscheinend nicht
allzu viele Zusatzkäufer gebracht, obwohl der Werbeaufwand für die Aktion
in der Branche auf etwa vier Millionen
Mark geschätzt wird. In der Woche voll
zweifelhafter Enthüllungen („Lucky
toastete ihr ein Nutella-Brot“) zeigte
die Auflage kaum Ausschläge. Mit einer
Ausnahme: Am zweiten Tag, als sich das
„deutsche Sex-Symbol des 21. Jahrhunderts“ nur mit weißer Unterwäsche auf
der Titelseite räkelte, griffen rund
150 000 Käufer mehr als sonst zu dem
Boulevardblatt aus dem Springer-Verlag
(Auflage: circa 4,6 Millionen). Ein kurzer Höhepunkt: Als Verona in den Ta-
„Tatort“-Folge (mit Dominic Raacke, Stefan Jürgens)
FERNSEHEN
ARD macht Quotendruck
eil sich die Konkurrenz der TVSender verschärft, verordnet sich
die ARD (Vorsitzender: Peter Voß) neue
Quotenvorgaben. Die jetzt definierten Anforderungen sollen die
„Sendeplatzprofile“ von 1994
ersetzen. So erwarten die
ARD-Programmchefs für den
„Tatort“ am Sonntag sechs bis
sieben Millionen Zuschauer (20
bis 25 Prozent Marktanteil), am
Dienstagabend um 20.15 Uhr
sind vier bis fünf Millionen
Zuschauer (14 bis 16 Prozent)
vorgesehen. Quotenschwache
Sendungen würden nach den Voß
neuen Vorgaben konsequent
aus dem Programm fliegen. Für die Sendezeit am Mittwochabend ist festgelegt,
dass jede fünfte Sendung keine Zu-
schauerquote bringen muss: „Sie ist für
besondere Produktionen freigegeben“,
heißt es in einem ARD-Protokoll.Vor allem Unterhaltungschef Henning Röhl
will mit harten Maßnahmen
die Reichweiten anheben. Als
Hauptschwäche hat er den
Donnerstagabend ausgemacht,
wo die ARD künftig mehr 90Minuten-Shows gegen SerienKonkurrenz wie „Der Clown“
(RTL) oder „Kommissar Rex“
(Sat 1) setzen will. Da müsse,
so Röhl, eine „Strukturdiskussion“ einsetzen. Die ARD, die
1998 noch TV-Marktführer war,
liegt derzeit (Januar bis September 1999) mit 14,4 Prozent Marktanteil hinter RTL (15 Prozent) – und
muss das ZDF fürchten (13,1 Prozent).
Feldbusch
J. GIRIBAS
W
gen darauf von der Titelseite verschwand, schrumpfte auch die „Bild“Auflage wieder auf Normalmaß. Echte
Verona-Fans wussten sich immerhin damit zu helfen, dass sie die freizügigen
Werbeplakate aus den Schaukästen
klauten, in denen für das Tagebuch geworben wurde.
DEUTSCHE TELEKOM
Schneller Verkauf
der Kabelnetze
m Milliarden-Poker um den Verkauf
des TV-Kabelnetzes will sich TelekomChef Ron Sommer noch in diesem Jahr
von drei der insgesamt neun regionalen
TV-Kabelgesellschaften trennen. Neben
dem Bereich Nordrhein-Westfalen sollen nach derzeitiger Planung auch die
Regionen Hessen und Bayern noch vor
W. v. BRAUCHITSCH
I
Sommer
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dem Jahreswechsel veräußert werden.
Grund für die plötzliche Eile bei der
Telekom ist die Sorge um eine ausgeglichene Bilanz. Nachdem Umsatz und
Ergebnis durch die heftige Preisschlacht
im Festnetzgeschäft drastisch zurückgegangen sind, braucht Sommer die
Sondererlöse aus dem Verkauf des TVKabels, um eine mit den Vorjahren vergleichbare Dividende ausschütten zu
können. Insgesamt rechnet die Telekom
beim Verkauf des TV-Kabels mit seinen
rund 18 Millionen Teilnehmern mit einem Erlös von über 25 Milliarden Mark.
133
Medien
S AT I R E
V
orvergangene Woche: RTL kam,
sendete – und die Konkurrenten
erstarrten zu Salzsäulen. Die Rede
ist von „Arche Noah – Das größte
Abenteuer der Menschheit“. Wenn
es nach den Kritiken gegangen wäre,
hätte der zweiteilige US-Film
„Schnarche Noah“ heißen müssen:
„Biblischer US-Kitsch“ („Tagesspiegel“), „mit Abstand schlechtestes
Fernsehspiel der letzten zehn Jahre“
(„SZ“).
Es geht aber nicht nach den Kritiken. Der computeranimierte Holzkasten sammelte am vorletzten
Sonntag 8,80 Millionen Zuschauer,
einen Tag später gar 9,21 Millionen,
28,6 Prozent aller an jenem Montag
Fernsehenden. Die Konkurrenz ging
in der Sintflut baden. Abendlandswarte könnten sich nun animiert
fühlen, das Publikum zu
beschimpfen. Warum krebst ein
Qualitätsprodukt
wie die Verfilmung von Klemperers Tagebüchern bei schwachen zweieinhalb
Millionen Zuschauern, während so
ein Kinderkram mit Infantil-Dialogen (Gott: „Alles oder nichts, Noah“)
abräumt?
Doch heiliger Zorn wider das Heilige hilft nichts. Das Numinose hat
im Medium Konjunktur. Der ARDTatort „Apokalyptische Reiter“, in
dem die von Dürer entworfenen
Schreckgestalten aus der Offenbarung für Grusel sorgten, war am Arche-Sonntag die einzige Sendung, die
sich neben der RTL-Bibel-Verfilmung
behaupten konnte: mit Gott zur
Quote.
Die Entkirchlichung sorgt dafür,
dass religiöse Symbole und Geschichten zur frei verfügbaren
Ware für die Erzählmaschinen des
Fernsehens werden. Heiligenfiguren,
Beichtstühle, Mönchskutten, liturgischer Singsang gehören zu unverzichtbaren Fernsehzutaten. Den Zölibat muss der Papst schon deswegen
aufrechterhalten, damit die TV-Movies in libertinären Zeiten noch von
geknebelten Trieben fabulieren können. Fliege hat schon lange erkannt,
dass „der alte Gangster da oben“ ein
Quotenhelfer hier unten ist.Wann eigentlich wird Mutter Beimer gebenedeit gen Himmel fahren?
„Kein Schmuddelkram“
Rüdiger Jung, Autor der kommende
Woche ausgestrahlten RTL-ComedySerie „Wie war ich, Doris?“, über die
Kritik des Bundeskanzlers
SPIEGEL: Naddel musste ihre Witze auf
Anweisung der RTL-2-Aufseher einstellen – befürchten Sie Ähnliches?
Jung: Ich fand die Witze auch unter aller
Kanone. So etwas würde ich nicht machen.
SPIEGEL: Können Sie verstehen, dass sich
Bundeskanzler Schröder Witze über sein
Privatleben in Ihrer Sendung verbittet?
Jung: Nein. Er weiß überhaupt nicht,
was wir machen, und hat auch nie nachgefragt. Er hat offenbar gemerkt, dass er
falsch beraten wurde und daraufhin
versucht, sich anders zu geben. In dieser Zeit wurde bekannt, dass wir eine
Satire planten. Anstoß genommen hat
Schröder allein wegen des Titels,
der zeigen soll, dass jemand aus
purer Eitelkeit über seine Wirkung
nachdenkt. Die harsche Reaktion
zeigt für mich den hohen Grad der
Verunsicherung.
SPIEGEL: Haben Sie nach der Reaktion des Kanzlers noch etwas verändert?
Jung: Nein, das ganze Drehbuch
lag ja schon vor. Wir haben nur auf
politische Aktualität hin umgeschrieben.
SPIEGEL: Und das Private?
Szene aus „Wie war ich, Doris?“
ZEITGESCHICHTE
Tunneldurchblick
A
m 14. September 1962, ein Jahr
nach der Errichtung der Mauer, gelang 29 Menschen durch einen 135 Meter langen Tunnel die Flucht aus OstBerlin in den Westen. 41 Studenten aus
West-Berlin hatten ihn gegraben, und
Tunnel unter der Mauer
134
jahrzehntelang hielt sich das Gerücht,
die CIA habe das Unternehmen finanziert. Die spannende filmische Rekonstruktion des Tunnelbaus – sie ist an
diesem Samstag um 20.15 Uhr auf Südwest III zu sehen – räumt mit dieser Legende auf. Der Geheimdienst
war allerdings wohl informiert,
denn wegen eines Wasserrohrbruchs hatten sich die Tunnelbauer an West-Berliner Behörden gewandt, und so dürfte die
CIA von der Sache Wind bekommen haben. Das Doku-Drama (Regie: Marcus Vetter) befragte die ehemaligen Buddelarbeiter und benutzt Aufnahmen der NBC. Zwei der Tunnelbauer hatten die Filmrechte
damals für 50 000 Mark an die
US-Gesellschaft verkauft.
SDR
Göttliche Quote
Jung: Doris SchröderKöpf ist First Lady, die
an seiner Seite steht.
Aber es geht nicht um
private Details.
SPIEGEL: Obwohl alles
in der Satire erlaubt
ist?
Jung: Ich würde keinen Schmuddelkram
Jung
machen, keine privaten Details auspacken. Da gibt es für
mich eine klare Grenze.
SPIEGEL: Rechnen Sie mit weiterer Kritik des Kanzlers?
Jung: Nein. Jahrzehntelang gab es politisches Kabarett in Deutschland. Es ist
doch in Ordnung, wenn die Mächtigen
der Republik aufs Korn genommen werden. Ich mache ja nichts Schlimmes.
SPIEGEL: Werden Sie nach den sechs Folgen weitere Fortsetzungen schreiben?
Jung: Warum sollte es nächstes Jahr
nicht weitergehen, wenn es ein Erfolg
wird?
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Fernsehen
Vorschau
III nach 9
Freitag, 22.00 Uhr, Nord III
25 Jahre talkt es jetzt aus Bremen.
Und die Stadtmusikanten haben
Recht: Etwas Besseres als den Tod
haben wir in der Sendung immer
gefunden.
Einschalten
Schindlers Liste
Montag, 20.15 Uhr, Pro Sieben
Der Holocaust als Darstellung mit allen Mitteln Hollywoods: Die meisten
überzeugte Steven Spielbergs DreiStunden-Film.
Schimanski – Sehnsucht
Sonntag, 20.15 Uhr, ARD
Dienstag, 20.15 Uhr, Sat 1
Brandanschläge auf Wiener Museen –
Kunsthistorikerin Lena (Natalia Wörner) begutachtet nicht nur die Schadenshöhe, sondern erkennt zusammen mit einem Polizeimann (Heino
Ferch), dass der Bösewicht seine neuen Taten in Bildmontagen ankündigt.
Regisseur Curt Faudon beweist, dass
in einem guten TV-Movie Spannung
ohne Geballer auskommen kann.
Liebe ist stärker als der Tod
Mittwoch, 20.15 Uhr, RTL
Regisseur Dominique Othenin-Girard
ist immer für einen kleinen Skandal
gut. Vor zwei Jahren scheuchte er
mit seinem Movie „Die heilige Hure“
– eine Dozentin für Priester wird
Domina – nicht nur konservative
Gemüter auf, sogar RTL verschob aus
Vorsicht zunächst die Ausstrahlung.
Auch diesem neuen Film geht der
Ruch des Skandals voraus, ein
„BamS“-Leser empörte sich, ohne
das Stück zu kennen, über „Sex
mit Toten“. Tatsächlich: Die Chirur-
Karven, Bettermann in „Liebe ist ...“
gin Judith (Ursula Karven) koitiert
mit ihrem hirntoten Freund (Bernhard
Bettermann), um ein Kind von ihm zu
empfangen. Doch ein Festival der
Obszönität ist dieser Film durchaus
nicht, vielmehr ein konsequent sentimentalisches
Melodram, das mit Gefühlen, Symbolen und
schönen Bildern nur so
um sich wirft, um Eros zu
feiern. Da nervt zwar
manche penetrante Wiederholung der Stilmittel
(aufflatternde Tauben),
aber nie wirkt der warmherzig-naive Film abgefeimt. Und selten wurde
Hirnchirurgie so farbig,
fast schön ins Bild gesetzt.
George (mit Martin Bruhn r.) in „Schimanski – Sehnsucht“
Ausschalten
Nach dem Fall
Dienstag, 23.05 Uhr, Südwest III
Um diesen Film von Frauke Sandig
und dem amerikanischen Regisseur
und Kameramann Eric Black über das
Ex-Stasi-Offizier Hagen Koch
Verschwinden der Berliner Mauer kann
es einem Leid tun, denn er enthält
durchaus witzige Details. Da sieht der
Zuschauer zum Beispiel englische
Homöopathen, die allen Ernstes Mauerbröckchen zu Mitteln wider Depressionen und Asthma verarbeiten. Und wirklich komisch wirken
die Warnungen durchgeknallter
Esoteriker, das für neue Bauten
wieder verwendete Mauermaterial
würde „dunkle Energien“ in der
Stadt verbreiten. Auch die Erinnerungen eines bayerischen Abbruchunternehmers verfehlen ihre Wirkung nicht, wenn er erzählt, wie er
mit seinen Maschinen die ersten
Mauerblöcke zermahlte und den
umstehenden DDR-Grenzern zur
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Feier des Anlasses auf seinem Akkordeon vorspielte. Doch leider beschränkt sich die Dokumentation
nicht auf die Sammlung konkreter
Spuren der nahezu verschwundenen
Mauer, sondern versucht den gesamten Komplex deutscher Spaltung
und deutscher Einheit zu erfassen. Da
reflektiert ein evangelischer Pfarrer,
eine Psychotherapeutin geht den
Spuren des Teilungsbauwerks in der
Seele nach, ein Ex-Stasi-Offizier präsentiert sich als Mauer-Kulturpfleger,
der amerikanische Historiker Brian
Ladd erinnert sich weitschweifig und
erzählt am Ende ein Märchen – das
Thema ufert aus, und der mit kunstvollen Bildern arbeitende Film übernimmt sich.
135
WDR
Der Feuerteufel –
Flammen des Todes
Männertreu gegen Frauenlist – das
Sponti-Raubein (Götz George) tritt
mindestens dreimal die Türen ein, um
einem liebeswunden Knacki-Riesen
(beeindruckend: Veit Stübner) zur Erkenntnis der ewigen Schlange Weib
(Renée Soutendijk) zu verhelfen.
Duisburg, Suff und machomarkige
Sprache, dazu die Rückkehr des Schimi-Kumpels Hänschen (Chiem van
Houweninge) – Hansjörg Thurn
(Buch) und Hajo Gies (Regie) lassen
die wunderbare Prärie des alten 68er
Cowboys wieder erstehen. Ach, Thanner, könntest du noch dabei sein.
Medien
NIEDERLANDE
Big Brothers
kleiner Bruder
In Holland treiben die Enkel Rudi Carells
das Fernsehen an die Geschmacksgrenze: Von 24 Kameras
beobachtet, leben junge Leute 100 Tage ohne
Intimsphäre und von der Außenwelt abgeschottet zusammen.
W
strahlend und fährt zärtlich mit der rechten Hand über die Mattscheibe.
Die Figuren, die da auf den Bildschirmen
zu sehen sind – nette, junge Menschen mit
blendend weißen Zähnen und harmlosen
Ansichten –, hat er zwar nicht erschaffen,
schließlich ist der Sprössling einer alteingesessenen Amsterdamer Schauspielerfamilie nicht Dr. Frankenstein. Trotzdem sind
sie seine Geschöpfe. Denn er hat diese
Bildschirmwesen unter 2500 Bewerbern
ausgesucht und berühmt gemacht.
Paul Roemer ist so etwas wie Big Brothers kleiner Bruder. Er dirigiert 24 versteckte Kameras, die auf die Bewohner des
Bungalows gerichtet sind und pausenlos
aufnehmen, was sich in dem von der
Außenwelt abgeschnittenen Gelände gerade tut. Nasepopeln, Essen, Schlafen, Sex,
die Zigarette danach oder das Gähnen am
Frühstückstisch – nichts bleibt für Roemers
elektronische Augen unsichtbar.
Fernsehproduzent Roemer: „Bestimmte Szenen
Der smarte Enddreißiger und seine 107
Mitarbeiter, darunter auch ein Psychologe,
verdichten die Geschehnisse täglich zu einer halben Stunde Programm. Der zur
RTL-Gruppe gehörende Fernsehsender
„Veronica“ sendet das Handlungsextrakt
täglich zur Prime Time um acht Uhr. Die
Zuschauerquoten sind sensationell.
FOTOS: HOLLANDSE HOOGTE
ie ein gestresster Papa, der von
schlechtem Gewissen geplagt zu
spät nach Hause kommt und
sofort ins Kinderzimmer hetzt, stolpert
Paul Roemer in den Monitorraum. Weil
er seit Tagen mit Fernsehmanagern in
der Medienstadt Hilversum verhandelt,
bleibt ihm im Moment viel zu wenig
Zeit für seine Schützlinge, obwohl er weiß,
dass „sie gestern sehr nervös und gereizt
waren“.
Der TV-Produzent steht in der Kommandozentrale seines Studios in Almere
bei Amsterdam. Vor ihm flackern 24 Fernsehgeräte. Jedes zeigt einen anderen Ausschnitt aus einer Wohnung, die aussieht
wie aus einem Ikea-Katalog.
Auf dem Breitbildschirm sind ein paar
junge Leute zu sehen, die sich in einem
Zimmer mit rosa Teppichen auf gelben Sofas lümmeln und lachen. Roemer ist glücklich. „Jetzt sind sie wieder relaxt“, sagt er
„Big Brother“-Haus im niederländischen Almere: Mit Stacheldraht abgesichert wie ein deutsches Sträflingslager
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im Badezimmer, die bringen wir nicht“
Bis zu 1,8 Millionen Menschen schauen
sich täglich an, wie Bart und Sabine miteinander ins Bett hüpfen, wie Ruud seinen Tischnachbarn knuddelt oder Mona
ihr wieherndes Lachen ausschüttet. Der
Marktanteil bei den von der Werbeindustrie besonders geschätzten konsumfreudigen 20- bis 44-jährigen Zuschauern liege
bei viel versprechenden 60 Prozent, brüstet
sich Roemer.
Die Sendung, die Roemer mit dem niederländischen TV-Produzenten John de
Mol entwickelt hat, gehört schon nach
fünf Wochen Sendezeit zu den erfolgreichsten Projekten, die das europäische
Fernsehen je hervorgebracht hat. De Mol
und Roemer, die geistigen Enkel Rudi
Carells, rollen gerade den Markt auf. Dabei gibt es in ihrer Show nicht einmal ein
Drehbuch.
Die Helden von „Big Brother“ sind
„ganz normale Menschen“, darunter eine
Kellnerin, eine Hausfrau, ein Masseur, ein
ehemaliger Zeitsoldat und ein Autoverkäufer. Alle paar Wochen müssen die Bewohner dem Fernsehpublikum vorschlagen, wer die Wohngemeinschaft verlassen
sollte. Die Entscheidung fällt dann der Zuschauer per Ted-Anruf. Zum Schluss kann
es nur einen geben: Wer am Morgen des
1. Januar als Letzter übrig ist, kassiert rund
220 000 Mark, teilen verboten.
Der Erfolg der „Big Brother“-Produktion ist rätselhaft. Auf den ersten Blick passiert in dem Containerhaus nicht mehr als
bei den Zuschauern zu Hause. Meistens
sitzen die Bewohner rauchend am Wohnzimmertisch und produzieren unbrauchbaren Wort- und Bildmüll.
Da sie das Haus nicht verlassen dürfen,
werden sie von einer Off-Stimme mit Aufgaben und Fragen beschäftigt. Beispielsweise: „Wie lautet die Postleitzahl von Rotterdam?“ Fernsehen und Radio sind im
Bungalow verboten, die Bewohner sollen
sich ganz und gar ihresgleichen widmen.
Bei Bart und Sabine endete die Wohnsymbiose sogar auf der Drahtpritsche. Im
Containerhaus bildeten die beiden plötzlich ein Liebespaar, die eifersüchtigen Mitbewohner setzten die Separatisten sofort
auf die Rausschmiss-Liste. Das Publikum
feuerte Sabine, die einer Wohngenossin unter vier Augen vor laufender Kamera und
damit den ganzen Niederlanden anvertraut
hatte, „das mit Bart“ sei keine allzu ernste
Sache.
„Sie hat ihn nur benutzt und ihm was
vorgespielt!“, erklärt Roemer Hände reibend, „Bart hingegen hat sich richtig verliebt.“ Mit der unverhofften Love-Story
WG-Bewohnerin Sabine (l.)
Vom Publikum gefeuert
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ging die Quote noch mal in die Höhe. Ganz
Holland weiß nun, dass der 22-jährige Macho bei der properen Sabine längst abgemeldet ist – nur Bart, gemein gemein, weiß
es noch nicht.
Behauptungen, die Reality-Show sei
eine kalkulierte Fälschung, widerspricht
Roemer energisch: „Barts Tränen beim Abschied von Sabine waren echt.“ In dieser
Authentizitätsgarantie liegt offenbar das
Geheimnis des Erfolgs.
„Schauspieler machen den Leuten was
vor“, sagt Roemer, „meine Bewohner aber
spielen nicht, sondern sind, was sie sind.“
Fernsehunterhaltung soll Emotionen in die
Wohnstube bringen, und echtere Gefühle
als bei „Big Brother“ gibt es nirgendwo:
„Das spürt der Zuschauer.“
Dass zur Zeit mehr Menschen Big Brother im Fernsehen gucken als Nachrichten
aus Hollands krisengeschüttelter Ex-Kolonie Indonesien oder das Fußballspiel Ajax
Amsterdam gegen Haifa, ist dem Holländer
selbst ein bisschen unheimlich. Woran liegt
es? „Voyeurismus“, sagt Roemer. Für den
Produzenten ist der Blick durchs Schlüsselloch so normal wie Hunger oder Durst.
Das Recht aufs eigene Bild haben die
Bewohner an Roemer abgetreten. Er darf
alles ausstrahlen, was er vor die Linse bekommt. Wirklich alles? „Das mache ich
natürlich nicht“, sagt er und fügt so ernst
wie möglich hinzu: „Für einige Bewohner
ist der sexuelle Druck natürlich sehr groß.
Da gibt es dann bestimmte Szenen im Badezimmer, die bringen wir nicht.“
Extreme Charaktere hat Roemer bei der
Auswahl seiner Chargen vermieden, denn
„die sorgen bloß für Spannungen und die
Gefahr, dass die WG auseinander fliegt“.
Das wäre tatsächlich schlimm, denn „dann
hätte ich ja kein Programm mehr“, sagt er
und rückt sich die Nickelbrille zurecht.
Die Konkurrenzsender von „Veronica“
leiden zusehends unter dem Zuschauer-
magneten. Das Privatfernsehen SBS bot
deshalb jedem „Big Brother“-Mitspieler
eine Prämie von 25 000 Gulden dafür an,
das Containerhaus zu verlassen.Vergebens,
denn die Bewohner leben ja isoliert. Sie erfuhren gar nicht erst von dem nicht ganz
todernst gemeinten Angebot.
Der holländische Fernsehentertainer
Willibrord Frequin, eine Mischung aus Lou
van Burg und Rambo, versuchte sogar per
Fallschirm im Garten des Hauses zu landen. Er wollte den Sendebetrieb durcheinander bringen und eine eigene Geschichte
produzieren.
Frequin landete aber meterweit neben
dem Gelände. Nun lässt Roemer seit ein
paar Tagen das Areal mit Stacheldraht und
Sichtblenden schützen, weil immer mehr
Hallodris in die verbotene Zone eindringen
wollen. „Leider sieht der Drehort jetzt aus
wie ein deutsches Sträflingslager“ – ausnahmsweise eine Assoziation, die Roemer
nicht besonders schätzt.
Egal, Big Brother ist längst ein Selbstläufer. 17 Millionen Besucher surften bisher
auf die Website (www.Big-Brother.nl). Dort
kann man das Geschehen im Haus auf
vier Bildfenstern rund um die Uhr live
verfolgen.
Schon spekulieren die holländischen Illustrierten munter über weitere Sexaffären
im „Big Brother“-Haus, die der Sender aber
unter Verschluss halte. Der holländische
„Playboy“ verpflichtete sogleich die 21jährige Tara als Nacktmodell. Sie hatte das
Haus nach zwei Wochen freiwillig verlassen
und macht seitdem in den Talkshows Karriere – ihr gingen die Mitbewohner wegen
der übertriebenen Freundlichkeit und den
ständigen Umarmungen auf die Nerven.
Es stimme schon, dass sich die Bewohner
zu Beginn etwas „unnatürlich benahmen“,
räumt Roemer ein, doch inzwischen verhielten sich alle „wie im wirklichen Leben“. Da läuft plötzlich Maurice über den
Bildschirm. Roemers Stirn legt sich in Falten: „Bis auf den, der ist zu still und versteckt sich immer noch ein bisschen.“
Protest gegen den öffentlich übertragenen Versuch am Menschen kam nur zu
Beginn der Sendung vom niederländischen
Psychologenverband, der die Serie als inhuman und gefährlich kritisierte. Tierschützer protestierten, weil im Garten des
Hauses Hühner gehalten werden und das
Gerücht kursierte, die Bewohner würden
sie vor laufender Kamera schlachten.
Erkennbare Psycho-Defekte hat die
Show bei den Teilnehmern bisher nicht
hinterlassen. Als sie nach ihrem Rausschmiss nach fünf Wochen Dauer-WG zum
ersten Mal ihr Ebenbild auf dem Fernsehschirm erblickte, entsetzte sich Sabine nur
darüber „dass ich da so dick aussehe“.
Vor ein paar Tagen hat Roemer das Format der Sendung nach Deutschland verkauft. Von April an soll „Big Brother“ mit
deutschen Testpersonen in Köln oder Berlin produziert werden. Weitere Anfragen
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FOTOS: B. FRIEDLANDER
Medien
Szenen aus der „Big Brother“-Show
Mit dem Fallschirm in den Vorgarten
aus den USA, Frankreich, Australien und
einem halben Dutzend anderer Länder will
der Produzent noch verhandeln.
Orwells Roman „1984“ hat Roemer vor
20 Jahren als Schüler, aber nicht zur Vorbereitung der Show gelesen. Mit der Parabel auf Totalitarismus und Zensur habe seine Sendung „nichts zu tun“.
Eher damit, dass die Beobachtung durch
Kameras inzwischen ganz normal geworden ist und niemanden mehr aufregt. Roemer konstatiert das nur, er bewertet es
nicht. Vor zehn Jahren hätte man eine
Show wie „Big Brother“ noch für ScienceFiction gehalten. Heute weiß jeder Camcorder-Besitzer, was technisch alles geht. In
der Welt von Paul Roemer gibt es nicht
nur einen, sondern Millionen Big Brothers.
Wie Orwells Romanheld Winston Smith
haben die Bewohner im Bungalow trotz
aller Technik eine Ecke gefunden, in die
Big Brother nicht hineinlinsen kann. Hinter aufgehängten Handtüchern im Badezimmer, zwischen Dusche und Klo,
ertrotzten sie sich ein winziges Fleckchen Intimität. Da kommt keine Kamera
hin.
Claus Christian Malzahn
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Medien
JOURNALISTEN
Straßenschnüffler a. D.
E
wie Max und Moritz oder Clever und
Smart.
Das Land feierte die beiden als Hohe
Priester des unbestechlichen Journalismus.
Zwei Straßenschnüffler in Schlaghosen hatten es den hochnäsigen Politikreportern
gezeigt und das Land von einer korrupten
Führung befreit. Für ihre Recherchen erhielten sie den Pulitzerpreis, ihr Buch über
Watergate wurde ein Bestseller. Die Verfilmung mit Robert Redford und Dustin
Hoffmann machte die beiden Reporter zu
Popstars.
Ein Ansturm auf die Journalistenschulen begann. Die Schüler wollten dem Vorbild der zwei Männer folgen, die mit viel
Fußarbeit und Beharrlichkeit eine Regierung stürzten. Dass dies mit Hilfe eines bis
heute unbekannten Informanten – Deckname „Deep Throat“ („Tiefer Schlund“) –
geschah, machte den Mythos nur geheimnisvoller. Bob Woodward und Carl Bernstein schienen unverwundbar.
Doch nun, 25 Jahre nach Nixons Rücktritt, scheint der Denkmalschutz abgelaufen. Das neueste Buch von Woodward,
„Schatten: Fünf Präsidenten und das Erbe
von Watergate“, wird von der US-Presse
zum Anlass genommen, die Ikonen gehörig
abzutropfen.
Skandalpolitiker Nixon (1974)
„Dieser Präsident wird enthoben“
Offenbar haben etliche Kollegen die Auftritte leid, in denen die beiden Mittfünfziger beharrlich wie Kriegsveteranen das
Phänomen Watergate erklären und jedes
Gespräch auf ihre ruhmreiche Schlacht von
einst lenken.
Woodwards Buch kam da wie gerufen,
um Dampf abzulassen. Der Erfolgsjournalist unterzog alle Präsidenten seit Nixon
einer Art Watergate-Lackmustest. Alle fielen durch. Keiner habe aus Watergate
gelernt, klagt der Autor, immer noch versuchten die Herrscher des Weißen Hauses,
ihr Volk, die Berichterstatter und vor allem
ihn anzulügen.
Das war die Vorlage für heftige Kritik.
„Man muss fast Mitleid haben mit Bob
Woodward“, ätzte das „New York Times
Magazine“, „mit jedem Jahr,
das ins Land zieht, schwindet
Starreporter Woodward, Bernstein (mit Freundin): „Mit jedem Jahr schwindet der Respekt“
der Respekt vor ihm.“ Seine
aktuellen Enthüllungen seien
eher skurril, spottet das Blatt,
etwa dass Hillary Clinton in
übersinnlichem Kontakt mit
Eleanor Roosevelt stehe und
Bill böse sei, weil Tochter
Chelsea den Starr-Report
lesen wollte. „Entschuldige,
Bob, aber dieser Schmutz ist
schon ausgegraben“, höhnt
das Magazin „Fortune“. Sogar im eigenen Blatt, der
„Washington Post“, erschien
ein Verriss.
Der Spott jedoch ist nur
Vorwand. Tatsächlich geht es
um eine fundamentale Kritik an der Arbeit von Woodward und auch Bernstein,
die bereits an ihrem zweiten und letzten gemeinsamen
Buch geäußert wurde: das
Verstecken hinter anonymen
Quellen, das Konstruieren
LIAISON / GAMMA / STUDIO X
SIPA PRESS
s war früh am Morgen, als den beiden jungen Reportern klar wurde,
welcher Sache sie da auf der Spur
waren. Sie standen im Großraumbüro der
„Washington Post“ vor dem Kaffeeautomaten und verglichen ihre RechercheErgebnisse. Kein Zweifel: Sie hatten eine
schwarze Kasse aufgestöbert, kontrolliert
von Nixons Gefolgsleuten zu dem Zweck,
Opponenten der Demokraten auszuspionieren.
„O mein Gott“, sagte Carl Bernstein, damals 28 und Reporter für den Nachbarstaat
Virginia, „dieser Präsident wird des Amtes
enthoben.“ Sein Kollege Bob Woodward,
29, der sich vor dem seltsamen Einbruch im
Watergate-Gebäude dem Problem von Ratten in Hotelküchen journalistisch genähert hatte, starrte ihn an. „O mein Gott, du
hast Recht.“
An diesem Morgen im Sommer 1972
wurde Nixons Schicksal besiegelt – doch
auch das Schicksal seiner Jäger.
Denn als zwei Jahre später der Helikopter mit dem zurückgetretenen Präsidenten vom Rasen des Weißen Hauses
abhob, wurden die Watergate-Zwillinge aneinandergekettet. Woodward und Bernstein verschmolzen im kollektiven Gedächtnis zu Woodstein, so unzertrennbar
AP
Die „Watergate“-Enthüller Bob Woodward und Carl Bernstein
haben bis heute mit ihrem frühen Ruhm zu kämpfen. Nun,
25 Jahre nach Nixons Rücktritt, stehen sie selbst in der Kritik.
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Medien
einer Dramaturgie der Unterhaltung zu- verdiente Millionen als Bestsellerautor.
liebe.
Seine Reputation als Ausnahmejournalist
Adrian Havill, der 1993 ein kritisches öffnete ihm alle Türen – nur die zum ChefBuch über die Watergate-Zwillinge schrieb, redakteurszimmer blieb verschlossen. Einmisstraut Woodsteins angeblicher Armee mal hatte er eine Geschichte verantwortet,
von kleinen „tiefen Schlünden“. Er be- die den Pulitzerpreis gewann, sich dann
zweifelte in seinem Buch „Deep Truth“ aber als Fälschung herausstellte. Nun leidie Exaktheit vieler Quellen und mut- tet er ein eigens für ihn geschaffenes Entmaßte gar, dass „Deep Throat“ nur eine Er- hüllungsressort und verfügt über die besfindung im Dienste der Dramaturgie ge- ten Informanten im Land. Er hat Quellen
wesen sei. Als er das Buch recherchierte, direkt im Zentrum der Macht, die nur so
weigerte sich Woodward, mit ihm zu reden. sprudeln, wenn er ein neues Buchprojekt
„Den Journalismus hat Bob Woodward plant. Das Washingtoner Establishment
hinter sich gelassen“, glaubt die konserva- fühle sich geehrt, wenn Woodward mit ihm
tive „Washington Times“, „in den Bü- rede, glaubt das Magazin „Washington
chern, die Woodward nach Watergate Monthly“.
schrieb, waren seine Quellen sogar noch
Autor Art Levine sieht Woodward längst
geheimnisvoller als ‚Deep Throat‘.“
als Teil dieses snobistischen Washingtoner
Der Zorn entlädt sich allein auf Wood- Establishments. Nicht nur, dass er dessen
ward, weil Bernstein nicht mehr als Prü- Mitglieder beschütze, er belohne seine erstgelknabe taugt. Er tat sich nach dem klassigen Informanten mit wohlwollender
Watergate-Coup mit seiner plötzlichen Be- Berücksichtigung in seinen Büchern. „Sie
rühmtheit schwer. Den Film hat er so oft erscheinen gewöhnlich als Quellen sokragesehen, dass er die Realität und den Hol- tischer Weisheit, die ihre sturen, kurzsichlywood-Streifen nicht mehr auseinander tigen Präsidenten eindringlich drängen, die
halten konnte. Während der disziplinierte volle Wahrheit im gerade heraufziehenden
Woodward brav an die nächste Geschichte Skandal mitzuteilen.“
ging – ein Brand in einem Eckhaus –, verLevine lässt seine Kritik an Woodward
ließ seine besser schreibende Hälfte die in einer fragwürdigen Satire gipfeln. Titel:
Zeitung und arbeitete erfolgreich an sei- „Die letzten Tage des Dritten Reiches,
nem Ruf als Säufer, Partygänger und Schür- wie man es Woodward und Bernstein
zenjäger. In New York verprasste Bernstein erzählt hat.“ Dort erscheinen Reichssein Geld mit Frauen wie Bianca Jagger marschall Hermann Göring und SS-Chef
und Liz Taylor, er baute
Heinrich Himmler als
Unfälle im Vollrausch,
sympathische Menschen
heiratete die Drehbuchund besorgte Bedenkenautorin Nora Ephron, und
träger, die versuchen,
ließ sich mit großem Traihren bornierten Führer
ra wieder scheiden.
Adolf Hitler von seinem
Zehn Jahre lang schrieb
Antisemitismus abzubriner kaum noch. Auch sein
gen. Woodward als GeEngagement beim TVschichtsklitterer, so soll es
Sender ABC war wenig
scheinen.
erfolgreich. 1989 erschieBislang hat Woodward
nen seine Kindheitserinnur auf einen seiner Peinerungen – und fielen
niger reagiert. Der Medurch. Sein hoch dotierdienkritiker Steven Brill
ter Zwei-Jahres-Vertrag Woodward, Bernstein (1974)
hatte ihm in seiner Zeitmit „Time“ wurde ebenschrift „Brill’s Content“
falls nicht verlängert. Erst 1996 sollte ihm vorgeworfen, er stricke Informationen aus
wieder etwas gelingen: Sein Buch über den zweiter Hand ohne Rücksicht auf den
Papst wurde ein Verkaufsschlager.
Wahrheitsgehalt zu scheinbar authentiHeute schmückt „Vanity Fair“ sein Im- schen Dialogen um. Nur um das Buch bespressum mit dem Namen Bernstein, doch ser vermarkten zu können.
sein letzter Beitrag erschien im März 1998.
„Hollywoodisierung“ sei das: „Es ist deUm im Gespräch zu bleiben, kündigte er primierend und ein Zeichen unserer Zeit,
kürzlich ein neues Buch an – über Hillary dass einer der besten Journalisten … sich
Clinton. Fünf andere Autoren haben die mit großem kommerziellem Erfolg entgleiche Idee.
schieden hat, seine Leser lieber zu unterTatsächlich tingelt Bernstein vorwiegend halten, als ihnen die ganze Geschichte zu
im Vortragszirkus und schimpft für hohe erzählen.“
Gagen über den Niedergang des JournaDaraus entspann sich ein Zweikampf
lismus. Weil keiner mehr – so wie er sei- zwischen den beiden Journalisten, der in
nerzeit – nach der Wahrheit wühlen wolle, Washington mit großem Vergnügen ververkomme der Journalismus zu Unterhal- folgt wurde. Doch wie immer hatte Woodtungsmüll und kreiere eine Idiotenkultur, ward das letzte Wort. Brill sei von sich
zetert er von den Podien des Landes.
selbst besessen, so der Starreporter, und
Bob Woodward dagegen machte eine wisse nicht, wovon er rede.
glänzende Karriere bei der „Post“ und
Michaela Schießl
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Medien
ZEITSCHRIFTEN
Barbusige
Grazien
Ein Nürnberger Jungverleger ist
mit seinen Computer- und
Videospielmagazinen deutscher
Marktführer – jetzt macht
ihm „Computer Bild“ Konkurrenz.
W. M. WEBER
E
mu-ähnliche „Vimps“ grasen auf
grünen Auen, „Krabbenmonster“
paaren sich am Strand, und „Verms“
flattern durch die milden Lüfte. Plötzlich
verdunkelt sich der Himmel, denn der
„gigantische Kabuto“ hat sich auf die
Suche nach frischer Nahrung gemacht.
Rasch grapscht er sich ein Vimp und
verschlingt es.
Man muss schon „TAP“ sein, um Computerzeitschriften wie „PC Games“ verstehen zu können. Denn TAPs sind als
Technical Advanced Persons technisch
Fortgeschrittene und damit die erklärte
Zielgruppe des Blattes, von dem monatlich etwa 300 000 Exemplare verkauft
werden. TAPs sind typischerweise männlich, 21 Jahre alt, Angestellte oder Studenten, sie sind sportbegeistert und kaufen
gern „Energy Drinks“.
In ihrer Freizeit sitzen sie vor Computer
oder Fernseher und versuchen, in Spielen
wie „Abomination“ den Niedergang der
Zivilisation zu stoppen, während eklige
Schleimbatzen Häuser und Menschen befallen. Oder lassen in „Giants“ düstere
Riesenaffen gegen barbusige Grazien antreten.
TAPs sind es auch, die Christian Geltenpoth, 29, zum Multimillionär gemacht
haben. Denn sie lesen die Zockermagazine
(„PC Games“, „N-Zone“, „Mega Fun“),
mit denen seine Computec Media den
deutschen Markt für Computer- und
Videospielzeitschriften dominiert.
Der Nürnberger hat früh erkannt, dass
man auch als Verleger von dem Boom der
virtuellen Spiele profitieren kann. Im vergangenen Jahr wurden allein in Europa
und in den USA fast neun Milliarden
Dollar mit Computerspielen umgesetzt, in
vier Jahren sollen es über 17 Milliarden
sein, schätzen Marktforscher.
Drei Millionen Deutsche gelten in der
Branche als Hardcore-Spieler, die einen
großen Teil ihrer Freizeit darauf verwenden, Kunstfiguren wie die legendäre Abenteurerin Lara Croft auf ihren Bildschirmen
gegen fiese Doggen in Venedig oder wilde
Tiger in Indien antreten zu lassen.
Jeden Monat kommen etwa hundert
neue Spiele dazu, und auch die selbst ernannten „Profis“ unter den ComputerSpielern haben Schwierigkeiten, den
Verleger Geltenpoth: Freizeit mit Lara Croft und wilden Tigern
2,0
Spielen und lesen
Verkaufte Auflage
von ComputerspieleMagazinen
1,5
in Millionen
Quelle: IVW
1,0
0,5
1. Halbjahr
1989 1990
1995
1999
Überblick zu behalten. Zudem sind die
„Tomb Raiders“, „Command and Conquers“ und „Age of Empires“ nicht billig:
Die Software-Pakete kosten in der Regel
um die hundert Mark. „Wenn Sie da das
Falsche aussuchen, wird es teuer“, sagt
Geltenpoth, der mit seinen acht deutschen
Spielemagazinen vor allem „Kaufberatung“ anbieten will.
Er ist nicht der Einzige, der auf den Daddel-Boom setzt. Inzwischen erscheinen
13 Titel mit einer Gesamtauflage von über
1,7 Millionen Exemplaren. Auch die großen
Verlage sind auf den lukrativen Markt
aufmerksam geworden.
So verbreitet der Heinrich Bauer Verlag
seit zwei Jahren mit „Bravo-Screenfun“
(Auflage: 253 000) Tipps, wie man die Spiele überlisten kann („Dumah muss in den
Ofenraum gelockt und dort geröstet werden“) und internationale Verlage wie Future („Playstation-Fun-Magazin“) oder
IDG („Game Star“) machen dem deutschen Pionier Konkurrenz.
Doch die größte Herausforderung steht
dem Jungunternehmer noch bevor: Am
Mittwoch wird der Springer-Verlag seine
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„Computer Bild Spiele“ mit einer Startauflage von etwa einer Million in den
Markt drücken. Der Ableger von Europas
größter Computerzeitschrift soll nach dem
Willen der Hamburger Verlagsstrategen auf
Anhieb die Nummer eins werden.
„Richtig ist, dass wir Marktführer werden wollen“, tönte „Computer Bild“-Chefredakteur Harald Kuppek im Branchenblatt „Werben & Verkaufen“. Im Gegensatz
zu den meisten Magazinen, die von Spezialisten für Spezialisten gemacht würden,
will Kuppek auf die „typischen ‚Bild‘-Tugenden“ setzen: „klare, einfache Aussagen
und eine Schreibe, die auch Lesespaß vermitteln soll“.
Jedes Spiel soll aufwendig in einem eigenen Labor in München auf 36 unterschiedlichen PC getestet werden. Die erste
Ausgabe ist 256 Seiten dick, enthält eine
CD-Rom und erscheint im gleichen Format wie „Computer Bild“.
„Kuppek ist ein Sprücheklopfer, dem im
Spielemarkt jede Kompetenz fehlt“, macht
sich Geltenpoth Mut, doch Stephan Scherzer vom Konkurrenzverlag IDG sieht die
Herausforderung kritischer: „Im Anzeigenbereich wird es eng.“ Geltenpoths Mannschaft hat umgehend reagiert. Zeitgleich
mit dem Konkurrenzblatt aus Hamburg
werden die Nürnberger ihr „PC Games“ in
einem neuen Design anbieten.
Doch die Aufmerksamkeit des jungen
Chefs ist derzeit abgelenkt: In diesen Tagen wird er in den USA zwei neue Spielemagazine einführen, die er mit einer 15
Millionen Mark teuren Werbekampagne
ganz nach oben katapultieren will. Denn:
„Nur der Marktführer in den USA kann
Weltmarktführer werden.“
Selten nur noch setzt sich Geltenpoth an
den Computer, um virtuelle Monster zu jagen: „Geschäfte zu machen ist spaßiger“,
sagt er.
Konstantin von Hammerstein
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Gesellschaft
Szene
PSYCHOLOGIE
MODE
Meinungsstarkes
Europa
B
isher gingen Modemacher diesem Material aus dem Weg:
Wattierte Stoffe schienen allein für den Skisport zu taugen und für
Farmer in Alaska. Dass
der mit Daunen oder
Baumwollvlies gefüllte
Stoff nicht bloß wärmt,
sondern auch Eleganz
ausstrahlen kann, war
unbekannt. Aber dann
ließen Jean-Paul Gaultier, Helmut Lang und
Gianfranco Ferré aus
wattiertem Material lange Röcke und Abendkleider
schneidern.
Hochbeinige
Nachtschwärmerinnen sind
damit bestens gekleidet.
Auch Damen, die morgens schwer aus den Federn kommen, können
sich auf diese Winterröcke freuen. In sie
gehüllt, kann man den
Morgenschlaf verlängern, und wer nachts auf
der Tanzfläche vor Erschöpfung umfällt, fühlt
sich gleich wie zu Hause im Bett, als habe er
alles Schöne oder Enttäuschende des Abends
bloß geträumt.
Wattierter Rock von Gaultier
J. DIMMOCK
ine britische Telefongesellschaft
hielt es vor kurzem für angebracht,
Broschüren zu verschicken, in denen erklärt wird, wie man ein verständliches
und vernünftiges Gespräch führt. Wer
nun glaubt, das müsse und könne jedes
miteinander kommunizierende Paar
selbst entscheiden, der hat ein dickes
Fell oder taube Ohren. Nach Ansicht
des britischen Historikers und Rundfunk-Autors Theodore Zeldin, 66, ist die
Kunst des Gesprächs auf den Hund gekommen. Als interessantes Gespräch
lässt Zeldin dabei nur jenes gelten, das
wir „mit der Bereitschaft beginnen, aus
ihm als ein etwas anderer Mensch hervorzugehen“. Verheerend wirkt das
Vorbild der Talkshows. Hier beschränkt sich der
Wille des Einzelnen auf das Reservieren oder
Erkämpfen von
Redezeit. Statt miteinander zu sprechen, wird gegeneinander argumentiert. Statt sich
der Wahrheit anzunähern, möchte
man eine Auseinandersetzung gewinnen. Wie sooft
kommt das Schlimme aus Amerika,
während das alte
Europa noch
Zeldin
wacker um Werte
kämpft: Streitigkeiten unter Kindern,
förderte eine Untersuchung zu Tage,
hatten bei 31 Prozent der italienischen
Sprösslinge Meinungen und Ansichten
zum Gegenstand, beim amerikanischen
Nachwuchs kümmerten sich bloß
6 Prozent um solche Stilfragen. Der Rest
stritt vorwiegend um Spielzeug und andere Gegenstände, was die kleinen Italiener nur halb so häufig interessierte. Es
gibt aber auch Positives zu vermelden:
Theodore Zeldins gelehrte und witzige
BBC-Sendungen über den elenden Zustand unserer Gesprächskultur sind jetzt
auf Deutsch erschienen („Der Rede
Wert – Wie ein gutes Gespräch Ihr Leben bereichert“. Malik-Verlag, München;
120 Seiten; 24,80 Mark). Wenn man auch
nicht als ein anderer Mensch aus der
Lektüre hervorgeht, so doch mit dem
Gefühl, gut unterhalten worden zu sein.
H AU P T S TA D T
Berlins allerletzter Frauenfreund
S
H. FUCHS
E
Daunen für Nachtschwärmer
Mike W.
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ind Heteros in Berlin eine gefährdete
Spezies? Diesen Eindruck vermittelt jedenfalls ein jüngst auf den Markt gebrachtes
T-Shirt mit der Aufschrift „Last Hetero Berlin“. Wer sich damit auf die Straße traut,
kann sich auf unterschiedlichste Reaktionen
gefasst machen. „Männer schauen betreten
weg“, erzählt der T-Shirt-Schöpfer und
Graffiti-Künstler Mike W., „Frauen lächeln
mich komplizenhaft an.“ Ein anderer Träger, der in dem Hemdchen in der Brandenburger Provinz joggte, wurde von einem
kahl geschorenen Jugendlichen „Schwein“
gerufen. Das auf 1000 Stück limitierte Shirt
ist inzwischen ein heiß begehrtes Sammelobjekt – besonders bei Berliner Schwulen.
149
Sänger Gildo (im April 1997 in Schenefeld bei Hamburg): „Das muss sehr hart für ihn gewesen sein“
S TA R S
„Er kam, sang und ging wieder“
Vierzig Jahre lang trug der ewige Sonnyboy Rex Gildo unermüdlich Schlager wie „Fiesta Mexicana“
und „Speedy Gonzales“ vor – zuletzt auf Betriebsfesten in der Provinz.
Isolation, Liebeskummer und Alkohol gelten als Motive für Gildos tödlichen Fenstersturz.
V
or dem Eingang der Universitätsklinik in der Münchner Nußbaumstraße lungerten am vergangenen Dienstagnachmittag gelangweilt
rund ein Dutzend TV- und Zeitungsreporter. Manche schliefen zwischendurch in
ihren Autos, andere lehnten an den Übertragungswagen. Sie warteten auf Nachricht
von Rex Gildo: Schafft es das Herz?
Funktioniert die Lunge? Stehen seine
Überlebenschancen immer noch fünfzig zu
fünfzig?
Ansonsten blieb es vor und im Krankenhaus erstaunlich ruhig. Es lagen keine
Blumen vor der Tür, es waren keine Postsäcke voller Genesungswünsche angekommen, und kein einziger Fan bangte vor
dem Hospitaleingang um das Schicksal des
Schlagerhelden: trauriger Beleg für die Vermutung, der Hitparaden-Veteran habe zuletzt nur noch wenige Bewunderer gehabt.
150
Oben, auf der Intensivstation, lag Gildo
im Sterben. Beim Sturz aus dem Badezimmer-Fenster einer Wohnung in der Münchner Ottostraße hatte er am Wochenende
zuvor mehrere Knochenbrüche und schwere innere Verletzungen erlitten, darunter
eine Herzquetschung und einen Milzeinriss. In der Nacht, um 23.45 Uhr, versagte
das Herz, der Kreislauf brach zusammen.
Die Ärzte hatten sich vergebens bemüht.
„Verzweifelt. Einsam. Angst vorm Altern“ – so erklärte „Bild“ den Fenstersturz
von Gildo am vergangenen Montag.
Nach dem offensichtlichen Selbstmordversuch des Entertainers spekulierten Medienleute, Kollegen und Branchenkenner
über die Motive des unglücklichen Stars.
Die „Zeit“ hämte in einer Glosse: „Der
* Peggy March, Roy Black, Ireen Sheer in den achtziger
Jahren.
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Schlagerstar Gildo, Kollegen*: Gnadenloser
Gesellschaft
CMK IMAGES / ACTION PRESS
die anderen Kosten: für die tadellosen AnEs gibt Parallelen zu Roy Black, der vor
züge, für den Friseur. 200 Auftritte pro Jahr, acht Jahren allein in einer bayerischen Fisagt Gildos Manager Uwe Kanthak, habe scherhütte starb. Offizieller Befund: Herzder Sänger absolviert, Beierlein vermutet, versagen, Sohn Thorsten sprach von Selbstes seien eher 50 gewesen. Vom ironisch- mord. Berichte über Alkohol-Exzesse und
nostalgischen Schlager-Revival der vergan- Depressionen waren dem Tod Roy Blacks
genen Jahre hatte er nicht profitiert.
vorausgegangen. Der Sänger verabscheute
40 Jahre lang hatte Gildo der Öffentlich- die Schlager, mit denen er identifiziert wurkeit die immer gleiche perfekte Oberfläche de. Er hätte lieber Rock’n’Roll gesungen.
präsentiert: blaugrüne Augen, braune Haut,
Ähnliches wird nun auch von Gildo belakritzschwarze Haare, elegante Anzüge, richtet – doch das Publikum verlangte von
Zahnpasta-Lächeln. So war er angetreten, beiden Stars die immer gleichen alten Hits.
als er in den Sechzigern
Hossa, hossa. „Gildo war
und Siebzigern mit „Das
seine eigene Marionette
Ende der Liebe“, „Fiesta
geworden“, sagt sein
Mexicana“ oder „Speedy
Komponist Willy Klüter.
Gonzales“ berühmt wurGildos Kollegen, die
de; so wollten ihn die Zuwie er von Betriebsfeier
schauer sehen, wenn er in
zu Stadtfest tingeln, haden achtziger und neunben oft keine andere
ziger Jahren in FernsehWahl: Gegen Costa Corshows, bei Stadtfesten
dalis eröffnete das Amtsund Kaufhauseröffnungen
gericht Freudenstadt im
sang.
Dezember 1998 ein KonAm vorletzten Samstag
kursverfahren, weil er
war der Schlagersänger
fast drei Millionen Mark
bei der Jubiläumsfeier eiSteuerschulden hatte.
nes Möbelhauses in Bad
Werner Böhm alias GottVilbel aufgetreten. „Gildo
lieb Wendehals wurde
wirkte unfit, litt an einer
wegen SteuerhinterzieVirusinfektion und reiste
hung zu 14 Monaten auf
früher als geplant ab“,
Bewährung verurteilt; er
sagt ein Angestellter des Unglücksort in München
bekannte sich, AlkoholiGeschäfts. Es muss ein
ker zu sein.
Desaster für Gildo gewesen sein. „Der ist
Im Juni veröffentlichte Gildo sein neues
doch besoffen“, „Zieh mal an seiner Album „… sonst gar nichts“. Die VerkäuPerücke“, „Singt er oder lallt er?“, schrie fe, so Karl-Heinz Voell von der Plattendas Publikum, wie zwei Gäste berichteten. firma Koch International, hätten die ProAbends besuchte Gildo seinen Freund duktionskosten jetzt schon eingebracht,
und Privatsekretär in München. Um 20.10 obwohl „deutsche Interpreten sich eher
Uhr rief dieser den Rettungsdienst. Als langfristig verkaufen“. Genaue Zahlen will
die Sanitäter eintrafen, hatte der Sänger Voell nicht nennen. Nach dem Tod ihres
sich im Badezimmer eingeschlossen und Stars kündigte die Firma ein Doppelalbum
rief dem Notarzt zu, dass alles in Ord- mit dem Titel „Unvergesslich“ an.
nung sei. Sekunden später muss er über
An den Lizenzen seiner alten Hits verdie Badewanne zum Fenster geklettert diente Gildo wahrscheinlich nur wenig.
sein. Er stürzte acht Meter in die Tiefe und Zwar ist er auf den vielen, regelmäßig erblieb schwer verletzt auf dem Rasen liegen.
Nach Gildos Fenstersturz wurden sofort Skandalberichte aus
den vergangenen Jahren herbeizitiert: 1993 forderte ein badischer
Wäscheversand die Gage vom Sänger zurück, weil dieser betrunken
auf die Bühne getorkelt sei.
Gildo stritt die Vorwürfe ab, ließ
sich jedoch auf einen Vergleich ein.
Sein Image blieb beschädigt. Mal
erklärte er sein unsicheres Auftreten mit Cortison-Spritzen, mal mit
Schmerzmitteln, mal mit den Nebenwirkungen von Erkältungsmedikamenten. Als wieder einmal ein
Veranstalter behauptete, Gildo sei
betrunken, ließ der Schlagerstar
noch vor Ort einen polizeilichen
Alkoholtest machen. Ergebnis: 0,0
Promille. Die Gerüchte blieben.
Parodist Horn: Nostalgische Witzfigur
KASNITZ
Umgang mit den Kultfiguren
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DPA
SCHNEIDER-PRESS
deutsche Schlager ist aus dem Klofenster
gesprungen.“
Sah sich der Sänger, 60 – nach anderen
Angaben 63 –, vom Ruin bedroht? „Ich
warne davor anzunehmen, Gildo sei als reicher Mann gestorben“, sagt der Musikmanager Hans Beierlein. Für Auftritte auf Betriebsfesten und in Möbelmärkten werde
den Altstars oft nicht mehr als 5000 Mark
bezahlt. Manchmal müssten sie sogar noch
die Musikanlage mitbringen, wenn sie nicht
über schrammelige Lautsprecher singen
wollen; oft bewegten sie auch nur die Lippen zum dröhnenden Playback. Und dann
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scheinenden Schlager-Hitsammlungen mit
einem Stück vertreten – doch erhielt er,
wie in dem Geschäft üblich, nur Pfennigbeträge pro verkauftes Album.
In der Branche wussten viele von Gildos
zunehmender Verzweiflung. „Rex Gildo
erzählte mir, wie einsam und verlassen er
sich fühlt“, sagt Uwe Hübner, Moderator
der „ZDF-Hitparade“. In der Sat-1-Sendung „Akte 99“ wurde eine „langjährige
Freundin“ Gildos vorgestellt, die von früheren Suizidankündigungen berichtete.
Die Mitleidsbezeugungen und Erklärungsversuche seiner Kollegen offenbaren
nun, wie isoliert der Sänger war. Ralph Siegel, der „Fiesta Mexicana“ komponiert hatte, erklärte, er sei mit Gildo „auf liebenswerte Weise“ befreundet gewesen, habe
aber schon lange nicht mehr mit ihm zusammen gearbeitet, schließlich habe er „einen großen Stall von Künstlern“. Conny
Froboess nutzte die Gelegenheit, das
Showgeschäft zu kritisieren, „das gnadenlos mit seinen Kultfiguren umgeht, von denen es lebt“.
Gitte Haenning, mit der Gildo einst erfolgreich Duette sang, gab Belangloses wie
„Er hat sein Publikum immer geliebt“ von
sich. Costa Cordalis behauptete, der Sänger habe das Altern nicht ertragen. Bernhard Brink erklärte, Gildo habe nicht anders gekonnt, als „diesen Pseudo-Beau zu
spielen“, und müsse sehr verzweifelt gewesen sei. Die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Schlager empörte sich über „geschmacklose Profilierungsversuche einiger
Kollegen“.
„Er kam ins Studio, sang und ging wieder“, sagt Gildos Komponist und Produzent Klüter, „das war ganz merkwürdig,
da war eine Wand.“ Persönliches wurde
nie besprochen. Aber sehr liebenswürdig
und respektvoll sei der Sänger gewesen;
„zu Weihnachten“, so Klüter, „schickte er
mir einen Kaschmir-Schal“.
Das satirische Schlager-Revival, in den
vergangenen Jahren in Gang gesetzt von
singenden Komikern wie Guildo Horn und
Dieter Thomas Kuhn, widersprach der
ernsten Selbstinszenierung von Rex Gildo
und war deshalb für ihn keine ComebackChance, sondern eher eine Verhöhnung
seiner Person. „Das muss sehr hart für ihn
gewesen sein“, vermutet der Schlagersänger Jürgen Drews. Dieser müht sich
seinerseits um ironische Distanz zur
Witzfigur „Onkel Jürgen“, die er auf der
Bühne mimt.
Auf Mallorca, so Drews, habe ein aufgeheiztes Publikum zur Melodie von „Yellow
Submarine“ gegrölt: „Jürgen Drews ist
homosexuell!“ Verblüfft sei er gewesen und
dann amüsiert. „Aber was wäre wohl passiert“, sagt Drews, „wenn Rex Gildo an
meiner Stelle gewesen wäre?“
Zumindest öffentlich ging Alexander
Ludwig Hirtreiter, wie der Sänger mit bürgerlichem Namen hieß, nie auf Distanz
zum schön-schmalzigen Schlagerstar und
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Gesellschaft
Frauenschwarm Rex Gildo, als der
er 1960 mit „Sieben Wochen nach
Bombay“ bekannt wurde. Zuvor
hatte der gebürtige Münchner eine
Handelsschule besucht – sein Vater
hatte ihn dazu gezwungen. Doch Gildo wollte unbedingt ins Showgeschäft. Er überzeugte schließlich seinen Vater und machte eine Schauspiel-Ausbildung an der Münchner
Otto-Falckenberg-Schule. Außerdem
nahm er jahrelang Tanz- und Gesangsunterricht. Das zahlte sich aus:
Gildo galt als einer der besten Tänzer unter den deutschen Showstars.
Seine Theaterkarriere begann er
1956 mit „Peterchens Mondfahrt“ an
den Münchner Kammerspielen. In
„Immer wenn der Tag beginnt“ hatte er 1957 erstmals eine kleine Filmrolle. Zwei Jahre später rief er Autogrammsammler in seinen Antwortbriefen dazu auf, Filmproduzenten
und Plattenfirmen um neue GildoWerke zu bitten.
Bei der deutschen Uraufführung
von „My Fair Lady“ im Berliner
Theater des Westens übernahm er
1961 den Part des Freddy. 1962 kam
der Durchbruch: Mit „Speedy Gonzales“ landete er einen großen Hit. Pin-up-Model Gildo (1962): Erfolg in jungen Jahren
Insgesamt spielte Gildo in 30 Unterhaltungsfilmen mit, nahm Duette mit
Conny Froboess und Gitte auf („Vom
Stadtpark die Laternen“) und sang Schuberts „Winterreise“ fürs Radio.
Mehr als 25 Millionen Platten verkaufte
er. „Wer in jungen Jahren Erfolg hat“, sagt
der Manager Beierlein, habe es „später
umso schwerer“, den Abstieg vom Gipfel
des Ruhms zu überstehen. Und schnell
verdientes Geld sei schnell wieder ausgegeben.
Schon zu Anfang seiner Laufbahn bedauerte Gildo, wie schwierig es für einen
Schlagersänger sei, eine ernste Theateroder Fernsehrolle zu bekommen. Ihm jedenfalls ist es nie gelungen, und so musste
er sich beispielsweise damit begnügen, im Schlagerduo Gitte, Gildo (1963)
richtigen Leben mit Gitte das Traumpaar Inszenierte Liebesgeschichte
zu spielen. Die allerdings erklärte
einmal auf die Frage nach ihrer
besten Leistung im Showgeschäft:
„Das war meine ‚Liebesgeschichte‘
mit meinem Partner Rex Gildo. Die
hat aber kein Regisseur inszeniert,
sondern ein Pressechef.“
Gerüchte, er sei homosexuell
und führe mit seiner Kusine Marion
eine Scheinehe, haben Gildo seine
Karriere lang verfolgt – er selbst
hielt strikt am Image des sanften Heteros fest.
Der Abschied vom „Hossa, hossa“ singenden Sonnyboy hätte vermutlich das Karriere-Aus bedeutet.
„Es passiert selten, dass Musiker mit
verschiedenen Stilen erfolgreich
sind“, sagt der Komponist Klüter.
Einmal habe Gildo erzählt, seine
Fans wollten Texte auf Grönemeyeroder Westernhagen-Niveau hören.
Als ihm dann anspruchsvollere Lieder vorgelegt wurden, habe er einen
Rückzieher gemacht: Der Stoff passe nicht zu ihm.
Der Musik-Manager Manni Schulte hat Gildo oft zu Rundfunk- und
Fernsehauftritten begleitet. „Er war
einer der nettesten Künstler überhaupt, und ich kenne fast alle“, sagt
Schulte, „aber er hatte ein Problem:
Ohne sich auf den Sockel zu heben, sah er
alles durch eine rosarote Brille. Er hat nicht
ganz mitbekommen, dass die musikalische
Landschaft sich verändert hat.“
In der Hörerhitparade des SWR 4 zum
Beispiel liegt sein „Fiesta Mexicana“ auf
Platz 213. Bei einer Hamburger Schlagerparty im Mai dieses Jahres, zu der auch
Gildo als Stargast eingeladen war, erschienen statt der erwarteten 3000 Gäste nur
185. Die Veranstaltung wurde abgesagt.
Wenn jüngere Zuhörer sich über Gildo
lustig machten, erzählt Schulte, habe der
gesagt: „Lass doch denen ihren Spaß. Die
finden eben AC/DC gut.“
Offenbar hat Rex Gildo die rosarote Brille am Ende doch abgenommen.
Marianne Wellershoff
Gesellschaft
„Ron’s Angels“-Website: „Frauen wollen Schutz“
FORTPFLANZUNG
Schönheit
gegen Kasse
Ein US-Fotograf offeriert
im Internet Eizellen von hübschen
Models – und macht
mit dem Medien-Wirbel ein
prächtiges Geschäft.
154
A. SIEBMANN
L
os Angeles ist bekannt dafür, ein Ort
moderner Katastrophen zu sein, und
deshalb ist es kein Wunder, dass –
nach komplett verriegelbaren Wohnvierteln, Nasenoperationen für 12-Jährige und
neuartigen Killerbienen – letzte Woche
eine weitere Desaster-Variante auf die
Menschheit losgelassen wurde.
Ein Mann namens Ron Harris, 66, versteigert auf seiner Website „Ron’s Angels“
die Eizellen von Fotomodellen, hofft auf einen Stückpreis von mindestens 15 000
Dollar und will mit einer Provision von
zusätzlich 20 Prozent seine Konten füllen.
Allein am ersten Tag konnten Rons Engel mehr als fünf Millionen Hits verbuchen, und wem Foto und Nummer der Models nicht genügten, der konnte nach der
Zahlung von 24,95 Dollar auch noch andere zur Fortpflanzung wichtige Details
erfahren: zum Beispiel die Oberweite der
auserwählten Eizellenspenderin.
Ein Ehepaar bot sofort 42 000 Dollar,
aber Harris hat es nicht eilig, denn das
meiste Geld, so steht zu vermuten, verdient er mit den Zusatzinformationen, die
er den Neugierigen verkauft.
Schon deshalb hatte der Eizellen-Auktionator rechtzeitig zur Geschäftseröffnung
merkwürdige Evolutionstheorien verbreitet, die klangen, als hätten sie sich Charles
Darwin und „Playboy“-Chef Hugh Hef-
Models auf dem Laufsteg
„Männer wollen Sex“
ner im Vollsuff ausgedacht. „Das ist natürliche Auslese at its very best“, pries Harris
seine Plastikgesichter. „Wer am meisten
zahlt, bekommt Jugend und Schönheit.“
Leute, die in ihm einen sonnenhirnverbrannten Lifestyle-Nazi sehen, versuchte
er mit folgender Weisheit zu beruhigen:
„Ich schlage hier nicht vor, eine Super-Gesellschaft der schönen Menschen zu schaffen. Diese Website spiegelt lediglich unsere gegenwärtige Gesellschaft, in der Schönheit immer dem zuteil wird, der am meisten dafür zahlt.“ Aufklärung im Zeitalter
der Silikonkissen.
Aber Kant hin oder her – am Ende
kommt es beim Überlebenskampf der
Schönen auch auf Kleinigkeiten an: „Wenn
Sie die Chance erhöhen könnten, schöne
Kinder zu bekommen und ihnen daduch
das Leben später leichter zu machen, würden Sie das tun?“, fragt er scheinheilig und
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reproduziert damit jenes Klischee, das der
Rest der Welt insgeheim für viele Kalifornier bereithält: groß, blond, muskelbepackt
und völlig verblödet.
Auf ein Echo des aufrechten Amerika
musste der Internet-Marktschreier nicht
lange warten. Religiöse Verbände wetterten, aber am aufgebrachtesten protestierten ausgerechnet jene Agenturen und Kliniken, die seit Jahren fremde Eizellen an
fortpflanzungswillige Paare verhökern.
„Das ist Furcht erregend und schrecklich, und das Schlimmste ist, dass sicher
noch viel grauenhaftere Dinge geschehen
werden“, sagte Shelley Smith, Direktorin
des „Egg Donor Program“ in Los Angeles.
Dabei ist es in den USA seit Jahren
durchaus üblich, dass Spenderinnen ihre
Eier samt Passfoto, High-School-Abschlußnote und Stammbaum im Internet
anpreisen. Nur eben für rund 5000 Dollar
und nicht unter dem Versteigerungshammer eines Ron Harris, der dazu recht
einfache Vorstellungen von glücklichen
Partnerschaften hat: „Männer versuchen
doch nur, Frauen das zu geben, was sie
wollen, nämlich Schutz und Unterstützung,
und dafür wollen Männer im Austausch
wilden Sex.“
Wahrscheinlich nennt man so etwas kalifornische Lebenserfahrung – fest steht jedenfalls, dass Harris, bevor er zum Herrenmenschen mutierte, jahrelang für Herrenmagazine Fotos und Videos produzierte und auf einer Ranch Hengste züchtete.
Auch die Produktion des eigenen Nachwuchses betrieb er eifrig. In insgesamt vier
Ehen zeugte er drei Kinder, „aber erst
mein drittes Kind ist schön“.
Rons Engel sollen dafür sorgen, dass
solch qualvolle Versuchsreihen endgültig
der Vergangenheit angehören. Gerätselt
wird zur Zeit nur noch, in welchen Metiers die angeblichen Spenderinnen – von
ursprünglich acht sind inzwischen fünf vor
dem ersten Eisprung abgesprungen – tätig
waren, ehe sie ins Muttergewerbe gewechselt sind.
Fest steht nur, dass die bekannteste Anbieterin im ursprünglichen Gen-Pool eine
Dame namens Nicole Newman ist, die vor
ein paar Jahren in der amerikanischen Krimiserie „Homicide“ als Leiche auftrat.
Jetzt ist sie 25 Jahre alt und möchte Musik
studieren, und weil das College 28 000
Dollar kostet, will sie mit ihrem Ei einen
Ertrag von 30000 Dollar erzielen. „Auf diese Weise“, sagt sie, „muss ich nicht bei meinen Eltern anrufen und um Geld betteln.“
Vorbildlich auch, dass sie nie etwas nicht
Vorbildliches getan hat: nie geraucht, nie
getrunken, nie Drogen genommen. „Mein
einziges Laster“, sagt sie, „ist, dass ich zu
oft ins Fitness-Studio gehe.“
Da ist es doch auch völlig egal, dass –
selbst wenn die Fortpflanzung optimal verläuft – gefärbte Haare, operierte Nasen
und aufgespritzte Lippen nicht vererbbar
sind.
Thomas Hüetlin
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Ausland
FOTOS: DPA ( li.); REUTERS ( re.)
Panorama
Polizeieinsatz bei einer Demonstration Oppositioneller in Minsk, belorussischer Präsident Lukaschenko
BELORUSSLAND
Traum von
der Slawenunion
D
ie „stolzen und freien Völker Belorusslands und Russlands“
will Alexander Lukaschenko, autoritärer Machthaber von
Minsk, so rasch wie möglich vereinigt sehen – gegen den Westen und die Nato. Ein anderthalbstündiges Plädoyer des belorussischen Präsidenten für die Wiederherstellung der Union
mit Moskau vor der russischen Staatsduma am Mittwoch voriger Woche quittierten die meisten Abgeordneten mit stehenden
Ovationen. Lediglich die Liberalen der Jabloko-Fraktion waren
dem Auftritt fern geblieben. Sie hatten vergebens versucht, in
der Duma eine Verurteilung von Polizeiausschreitungen gegen
einen so genannten Freiheitsmarsch von 20 000 Oppositionsanhängern in Minsk zu erreichen. Laut Lukaschenko soll der
Protest vom amerikanischen Geheimdienst inszeniert worden
sein. In der künftigen Slawenunion, wie sie dem früheren Direktor eines sowjetischen Staatsguts vorschwebt, dürfe es keine „Oligarchen und Kriminelle“ mehr geben und niemanden,
der „vor den Schurken des Internationalen Währungsfonds niederkniet“. Bislang waren Lukaschenkos Großrussland-Pläne
am Hinhalten des Kreml gescheitert. Aus Sorge, zu viele Russen könnten sich für den Mann aus Minsk erwärmen, hatte
Russland Anfang Oktober für die Unionsspitze lediglich einen
gemeinsamen Staatsrat vorgeschlagen. Dieses Projekt geht Lukaschenko längst nicht weit genug: Er will einen baldigen Volksentscheid zwischen Brest und Wladiwostok auch darüber, ob
das Volk einen gemeinsamen Präsidenten wünscht und welchen.
Zum Beispiel: Lukaschenko.
I TA L I E N
Gnade vor Recht
ergangenheitsbewältigung auf italienisch: Nach dem Freispruch des
siebenmaligen christdemokratischen
Regierungschefs Giulio Andreotti vom
Vorwurf der Zugehörigkeit zur Mafia
wird nun die Rehabilitierung seines
langjährigen sozialistischen Koalitionspartners, Bettino Craxi, betrieben.
Craxi, von 1983 bis 1987 Ministerpräsident, war der erste prominente Politiker, gegen den 1992 eine Gruppe junger
Mailänder Staatsanwälte ermittelte.
Ihre Untersuchung „Mani pulite“ (Saubere Hände) stieß schnell auf einen
Sumpf von Schmiergeldern, Parteispenden und Mafia-Connections. Mächtige Parteien, wie Andreottis Democrazia Cristiana und Craxis Partito
Socialista Italiano lösten sich auf. Craxi,
der in verschiedenen Verfahren zu
M. HORACEK / BILDERBERG
V
Craxi im tunesischen Exil
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mehrjährigen, teilweise rechtskräftigen
Haftstrafen verurteilt wurde, entkam
1994 ins tunesische Hammamet. Aus
Gesundheitsgründen wird nun seine
straffreie Heimkehr betrieben: Ein unbefristeter Haftaufschub wegen Craxis
schwerer Zuckerkrankheit schien sogar
dem Mailänder Chefankläger Gerardo
D’Ambrosio angemessen. Auch die regierenden Linksdemokraten von Ministerpräsident Massimo D’Alema hatten
gegen einen „Akt der Menschlichkeit“
nichts mehr einzuwenden. Sie befinden
sich in schwierigen Koalitionsverhandlungen unter anderem mit Craxis sozialistischen Nachfolgern und Freunden.
Ein solcher Gnadenerweis passt ins
neue politische Klima Italiens. Weil von
rund 500 Verurteilten nur 2 hinter Gitter mussten, wandten sich die Italiener
enttäuscht oder gelangweilt von den
Vorhaben der Justiz ab, die Affären der
so genannten Ersten Republik strafrechtlich zu ahnden.
157
Panorama
INDONESIEN
Kapital zurückholen
B
ei seiner Regierungsbildung überraschte Indonesiens erster demokratisch gewählter Präsident Abdurrahman
Wahid, 59, weil es ihm gelang, die
Macht des Militärs zu schwächen. So
hat Wahid das Verteidigungsministerium
an einen Zivilisten übergeben. Der Politikwissenschaftler Juwono Sudarsono,
57, soll sicherstellen, dass die Soldaten
sich in Zukunft auf die Landesverteidigung beschränken. Die Schlüsselrolle in
der 35-köpfigen Ministerriege wird
Kwik Kian Gie, 64, übernehmen – ein
enger Vertrauter von Vizepräsidentin
Megawati Sukarnoputri. Der in den
Niederlanden ausgebildete Ökonom
gehört der finanzstarken chinesischen
Minderheit an, die nach den von Teilen
des Militärs gesteuerten Unruhen im
Landemanöver der Volksbefreiungsarmee in der Festlandsprovinz Fujian gegenüber
CHINA
„Wir werden siegen“
Oberst Wang Baoqing, 48, Forscher an
der Akademie für Militärwissenschaften
in Peking, über die Haltung der chinesischen Armee zum Taiwankonflikt
AP
SPIEGEL: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit eines Krieges mit Taiwan?
Wang: Sie liegt wohl bei 50 Prozent.
SPIEGEL: In welchem Fall wäre ein Angriff unvermeidbar?
Wang: Wenn die Regierung in Taipeh sich
für unabhängig erklärt. Aber auch wenn
sie zu lange an der so genannten ZweiLänder-Theorie festhält, ist eine militärische Lösung nicht ausgeschlossen.
SPIEGEL: Kann die Volksbefreiungsarmee
Taiwan überhaupt besiegen?
Wang: Zwar ist Taiwan eine relativ starke Militärmacht, aber wir würden in
jedem Fall siegen. Die Volksbefreiungsarmee ist zahlenmäßig überlegen und
besser ausgerüstet. Vor allem haben
wir einen wichtigen strategischen Vorteil: Wir können entscheiden, wann
Superminister Kwik, Präsident Wahid
Frühjahr 1998 aus dem Land geflohen
war. Kwik soll als Superminister für
Wirtschaft, Finanzen und Industrie die
Chinesen ermutigen, ihr Kapital wieder
in dem von der Asienkrise gebeutelten
Land anzulegen. Dass Präsident Wahid
den Posten des Generalstaatsanwalts an
den Menschenrechtler Marzuki Darusman, 53, vergeben hat, ist ebenfalls ein
Beweis für das politische Geschick des
schwer sehbehinderten Staatschefs.
Obwohl Marzuki der einstigen Regierungspartei Golkar von Ex-Präsident
Bacharuddin Jusuf Habibie und seinem
Mentor Suharto angehört, hat der
Diplomatensohn nie verheimlicht, dass
er den ehemaligen Diktator für Verbrechen während seiner Amtszeit zur Rechenschaft ziehen will. Um die nach
wie vor einflussreichen Militärs ruhig zu
stellen, berief Wahid neben dem früheren Armeechef Wiranto, 52, weitere fünf
hohe Offiziere ins Kabinett, die jedoch
ausnahmslos dem demokratischen Reformflügel der Streitkräfte zugerechnet
werden.
158
KOREA
Angst vor dem Gifttod
D
ie 600 000 Soldaten der südkoreanischen Armee sollen in einer
Blitzaktion gegen tödliche MilzbrandBakterien und Pocken geimpft werden.
Grund für die Eile: In einem Weißbuch
erklärt das Verteidigungsministerium in
Seoul, „die chemische und biologische
Bedrohung aus Nordkorea“ sei unterschätzt worden. Nach neuen Erkenntnissen könnten die feindlichen Brüder
im Norden bis zu 5000 Tonnen B- und
C-Waffen mit Artilleriegranaten und
Raketen verschießen – fünfmal mehr als
angenommen. Pjöngjang halte zehn
verschiedene Typen solcher Massenvernichtungswaffen bereit. Schon bei einem Angriff mit 50 Raketen, die nur zu
einem geringen Teil von den im Süden
stationierten amerikanischen „Patriot“Raketen abgeschossen werden könnten,
müssten in der Zwölf-Millionen-Stadt
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Produktion chemischer Waffen
Lagerung chemischer Waffen
Einrichtungen für biologische Waffen
CHINA
NORDKOREA
Japanisches
Meer
Pjöngjang
Demarkationslinie
Seoul
Quelle: Federation of
American Scientists
SÜDKOREA
100 km
Seoul bis zu vier Millionen Einwohner
sterben. Besonders gefährdet sind auch
die 37 000 in Südkorea stationierten USSoldaten. Ein nordkoreanischer Überläufer berichtet, dass Diktator Kim Jong
Il glaubt, er könne einen Krieg gewinnen, wenn 20 000 GIs getötet werden.
Ausland
USA
XINHUA / CORBIS SYGMA
Wang: Bis zum Einsatz dieses Systems
Taiwan
der Kampf beginnt, auf welche Weise
und aus welcher Richtung er geführt
wird. Taiwan kann sich nur passiv verteidigen.
SPIEGEL: Experten sagen, Sie hätten nicht
genug Schiffe, um die Insel zu erobern.
Wang: Das stimmt nicht. Zudem können
wir auch mit taktischen Raketen angreifen.
SPIEGEL: Dann wären Ihre Landsleute Ihrer Ansicht nach zwar frei, aber tot.
Wang: Wir würden ja nicht blind angreifen, sondern nur militärische Ziele
attackieren.
SPIEGEL: Die Taiwaner suchen bereits
Schutz unter einem amerikanischen Raketenabwehrsystem.
Explosion der Armut
werden noch einige Jahre vergehen.
Außerdem ist bei der geringen Entfernung zwischen dem Festland und Taiwan
ein Raketenabwehrsystem nur bedingt
wirksam. Es gibt noch viele andere Möglichkeiten des Kampfes.
SPIEGEL: Welche zum Beispiel?
Wang: Eine Seeblockade oder eine
schrittweise Eroberung, die mit der Einnahme der vorgelagerten Inseln beginnt.
Hinzu kommen moderne Kampfformen
wie ein Handels-, Finanz-, Internet- und
Elektronikkrieg. Wir wollen auf jeden
Fall die Verluste der Bevölkerung soweit
wie möglich vermeiden.
SPIEGEL: Müssen Sie nicht ein Eingreifen
der Amerikaner fürchten, falls es zu einem konventionellen Krieg kommt?
Wang: Wir haben keine Angst. Ich bin
fest davon überzeugt, dass die Amerikaner sich einschalten werden. Aber ihr Engagement dürfte sich in Grenzen halten,
denn sie wollen nicht endgültig mit China
brechen.
SPIEGEL: Sind Sie jemals auf die Idee gekommen, dass die Bewohner Taiwans
nicht mit Ihnen wiedervereinigt werden
wollen?
Wang: Es ist möglich, dass ein großer Teil
der Bevölkerung auf Taiwan unser politisches System nicht mag. Doch Deng
Xiaoping hat das Problem mit der Formel
„Ein Land, zwei Systeme“ schon gelöst.
Nach dem Völkerrecht ist die Volksrepublik China die einzige legitime Regierung Chinas.
N
ot und Armut sind im Wohlstandsstaat USA viel weiter verbreitet als
bislang angenommen. Nach neuen Berechnungen leben 46 Millionen Amerikaner unterhalb der Armutsgrenze. Das
sind 17 Prozent der Gesamtbevölkerung
und 4,3 Prozent mehr, als noch im September von der US-Regierung angegeben. Grund für die drastische Zunahme:
Erstmals seit Präsident Lyndon B. Johnson Mitte der sechziger Jahre seinen
Feldzug gegen die Armut begann und
dazu die Grenze für das Existenzminimum feststellen ließ, wurden die Berechnungsfaktoren den längst veränderten Lebensbedingungen in den Vereinigten Staaten angeglichen. Nach den
bisherigen Vorgaben galt ein Jahreseinkommen von 16 600 Dollar für eine
vierköpfige Familie als ausreichend, einen minimalen Lebensstandard zu garantieren. Tatsächlich, so die Statistiker,
müsse die Durchschnittsfamilie dafür
heute 19 500 Dollar ausgeben. Unabhängige Sozialforscher gehen davon aus,
dass sogar noch mehr Amerikaner arm
sind. Nach ihren Berechnungen werden
28 000 Dollar benötigt, um vier Personen mit dem Lebensnotwendigen zu
versorgen. Mit der Übernahme von
vollständig neu definierten Berechnungsgrundlagen will sich das Weiße
Haus allerdings noch „einige Jahre“
Zeit lassen – aus Angst vor einer Debatte ausgerechnet im Wahljahr 2000.
FRANKREICH
Schwarze Kassen
für Afrika
n der Schmiergeldaffäre des Ölriesen
Elf Aquitaine müssen Pariser Politiker
jetzt mit peinlichen Enthüllungen rechnen. Der ehemalige Afrika-Chef des
Unternehmens, der Korse André Tarallo, 72, hatte in einem Interview mit „Le
Monde“ geschildert, wie afrikanische
Staatschefs von dem vornehm „parallele Bonusse“ genannten Bestechungssystem profitieren konnten. Nun steht zu
befürchten, dass bekannt wird, ob die
Empfänger sich ihrerseits erkenntlich
zeigten und den Pariser Gönnern mit
Zuwendungen gefällig waren. Von 1990
bis 1997 waren mehr als 600 Millionen
Francs (rund 180 Millionen Mark) über
drei Schweizer Konten Tarallos gelaufen. Das Geld diente dazu, afrikanische
Staatschefs zu schmieren, um leichter
P. ROBERT / CORBIS SYGMA
I
Präsident Chirac, Amtskollege Bongo
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an Bohrkonzessionen heranzukommen.
Wichtigster Empfänger war anscheinend der Präsident von Gabun, Omar
Bongo. Die Erdölgesellschaft mit den
schwarzen Kassen war seinerzeit Staatseigentum und diente auch dazu, die Interessen der früheren Kolonialmacht
Frankreich in Westafrika zu verteidigen.
Es wäre nicht das erste Mal, dass Gaben
aus Afrika französische Politiker kompromittieren. So wurde der damalige
Staatspräsident Giscard d’Estaing wohl
auch deshalb nicht wieder gewählt, weil
Diamanten-Geschenke des zentralafrikanischen Staatschefs Bokassa bekannt
geworden waren. In einer Liste über die
gravierendsten Fälle internationaler
Korruption, die vorige Woche veröffentlicht wurde, nimmt Frankreich unter
den westeuropäischen Ländern sowohl
bei aktiver als auch bei passiver
Bestechung einen Spitzenplatz ein.
Überdies hat Frankreich die AntiKorruptions-Konvention der OECD
nicht ratifiziert.
159
Ausland
Sozialdemokratische Regierungschefs Blair, Jospin, Schröder*: Ein Kampf um Kopf und Herz
AP
S O Z I A L D E M O K R AT I E
„Wir sind die neuen Radikalen“
Wohin steuern Europas Sozialdemokraten? Auf dem Höhepunkt ihrer Macht
als Regierungsparteien streiten Erneuerer und Traditionalisten um die richtige Balance von
Wirtschaftsreformen und sozialer Sicherheit. Zwei Polit-Gipfel sollen Klärung bringen.
O
ffene Schadenfreude verbietet die
gallische Höflichkeit. Nach außen
beschwören die französischen Sozialisten die Unerschütterlichkeit ihrer
Entente mit den Parteifreunden in
Deutschland. Sie preisen den „gelehrigen“
Kanzler und finden, von Kosovo bis Haushaltsnot, vielerlei Entschuldigungen für
dessen Fehlstart als Regierungschef.
Intern jedoch können sich die an der
Macht gereiften „camarades“ aus Paris süffisante Bemerkungen über Gerhard Schröder nicht verkneifen. Bisweilen bespötteln sie den deutschen Genossen gar als
„Gurke“ – in Anlehnung an eine hämische
Theorie ihres Finanzministers und Lafontaine-Freundes Dominique Strauss-Kahn:
160
„Man nehme eine Karotte, lege sie lange
genug in ein Glas mit Gurken, und irgendwann wird sie grün.“
Hohn und Spott über den Schlingerkurs
ihrer sozialdemokratischen Nachbarn symbolisieren, wenn auch hinter vorgehaltener Hand geäußert, das neue Selbstbewusstsein der Franzosen im Richtungsstreit
mit den sozialdemokratischen Erneuerern
Tony Blair und Gerhard Schröder. Mit Befriedigung verfolgen sie den politischen
Praxisschock, der die deutschen Genossen
fast schon im Wochentakt zu Anpassung
und Kurskorrektur zwingt – zurück an die
Seite Lionel Jospins und seiner Sozialisten.
* Vor der Europawahl im Mai bei einem Treffen in Paris.
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Ein Kampf um Kopf und Herz der europäischen Sozialdemokratie ist ausgebrochen, und die Franzosen zeigen sich entschlossen, ihn zu gewinnen. Jospin, der auf
hervorragende Wirtschaftsdaten verweisen
kann, ist Wortführer und zugleich Galionsfigur jener Fronde, die Front macht gegen
die selbst ernannten Modernisierer Blair
und Schröder.
Das deutsch-britische Populistenduo hatte der Öffentlichkeit Anfang Juni, wenige
Tage vor den Wahlen zum Europäischen
Parlament, überraschend seinen Entwurf
zur radikalen Erneuerung der Sozialdemokratie präsentiert. Das Papier, wiewohl
vollgestopft mit Allgemeinplätzen und Banalitäten, löste einen heftigen Richtungs-
L. CHAMUSSY / SIPA PRESS
Demonstration der Linken in Paris: „Das Elend aus den Augen verloren“
F. ROGNER / NETZHAUT
Der von der Fahne gegangene SPD-Chef Oskar Lafontaine tobte aus dem
selbstverordneten Polit-Exil,
seine Erben definierten „den
Menschen nur noch als Kostenfaktor, als disponible
Masse“. Die linksliberale Pariser „Le Monde diplomatique“ kommentierte, Ziele
wie „die Beseitigung der Armut“ und des Elends von 18
Millionen Arbeitslosen sowie
50 Millionen Armen in Europa hätten die Autoren „völlig
aus dem Auge verloren“.
Premier Jospin markierte
gleich den programmatischen Gegenpol: „Wir gehen
als moderne Linkspartei unseren eigenen Weg.“
Selbst die sonst eher betulichen schwedischen Sozialdemokraten gifteten, der
„dritte Weg“ rücke die neue
Mitte „radikal nach rechts“.
Schon in den nächsten
Wochen dürfte es zum
Showdown zwischen Modernisierern und TraditionaProtestumzug in Bonn: Spott über die „Gurke“
listen kommen. Die Sozialisstreit aus. Schröders und Blairs Zustands- tische Internationale (SI) will auf ihrem am
beschreibung war vernichtend. Die herr- 8. November beginnenden Treffen in Paris
schende Politik der sozialen Demokratie in nicht nur einen neuen Präsidenten wählen.
Europa sei viel zu sehr „mit Konformität Die Partei- und Regierungschefs wollen
und Mittelmäßigkeit verbunden statt mit vor allem auf Betreiben der französischen
Kreativität, Diversität und herausragender Sozialisten zugleich eine RichtungsentLeistung“. Fortan gelte es deshalb, die scheidung über die Zukunft der Sozialsozialdemokratische Politik „an objektiv demokratie herbeiführen.
Nur wenige Tage später, am 20. und 21.
veränderte Bedingungen anzupassen“.
Die Regierungschefs propagierten einen November, erwartet Italiens Minister„dritten Weg“ (Blair) in die politische und präsident Massimo D’Alema seine Kollegesellschaftliche „neue Mitte“ (Schröder), gen Jospin, Schröder, Blair sowie US-Präder – konsequent zu Ende gedacht – nicht sident Bill Clinton, den brasilianischen
weniger bedeutet als den historischen Staatschef Fernando Henrique Cardoso
Bruch mit der Arbeiterbewegung. Das Pa- und EU-Kommissionspräsident Romano
pier stürzte die parlamentarische Linke in Prodi in Florenz zum „Gipfel der Modernisierer“.
eine tiefe Sinnkrise.
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Ursprünglich hatte Clinton vorgehabt,
dort die in die Jahre gekommene Internationale auf den neuen Kurs zu verpflichten.
Inzwischen sind die Organisatoren angesichts des Richtungsstreits bemüht, die
grundsätzliche Bedeutung des Treffens
herunterzuspielen. Reizworte wie „dritter
Weg“ sind von der Tagesordnung verbannt.
„Fortschrittliches Regieren im 21. Jahrhundert“ heißt jetzt, ganz neutral, das Treffen der linken und linksliberalen Modernisierer.
Ausgerechnet auf dem Scheitelpunkt ihrer parlamentarischen Erfolge und ihrer
politischen Macht steht die sozialdemokratische Linke am Scheideweg. In 12 von
15 Ländern der Europäischen Union tragen
Sozialdemokraten oder Sozialisten zu Beginn des neuen Jahrtausends Regierungsverantwortung. Und doch haben sie auf
dem Weg zu einem vereinten Europa in
wirtschaftlicher und sozialer Sicherheit für
alle 375 Millionen Bürger kein gemeinsames Konzept.
Mehr als 100 Jahre lang gehörte es, ob in
Hamburg oder Stockholm, in London oder
Madrid, zum guten sozialdemokratischen
Ton, an der Seite der abhängig Beschäftigten zu stehen und für all jene Partei zu ergreifen, von deren Lohnarbeit das Kapital
profitierte. Noch in jedem Wahlkampf beantworteten die Genossen diese Klassenfrage in Konkurrenz zu Neoliberalen und
Konservativen getreu ihrer traditionellen
Maxime von Freiheit, Gleichheit und Solidarität – oder was im ausgehenden
20. Jahrhundert davon übrig geblieben ist.
Und ausgerechnet dieses ideologische
Stützkorsett will zumindest Blair, angeführt von seinem wissenschaftlichen Vordenker Anthony Giddens, dem Direktor
der renommierten London School of Economics, nun weitgehend einmotten. Wer
Sozialdemokraten auch in Zukunft zuerst
als Anwälte des kleinen Mannes versteht,
muss sich den Vorwurf gefallen lassen, ein
„Traditionalist“ zu sein, der den „modernen Ansatz des Regierens“ nicht kapiert
(siehe SPIEGEL-Gespräch Seite 168).
Die neuen Parolen dafür lauten „flexible
Märkte“, „Leistung und Erfolg“, „Eigenverantwortung“, „Unternehmergeist“. Das
klingt wie ein neoliberaler Wertekanon aus
dem Katechismus des Shareholder-Value.
Dreh- und Angelpunkt des sozialdemokratischen Dreikampfes um die Zukunft
von politischer Freiheit, wirtschaftlicher
Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit ist
die Rolle des Staates. Nach herkömmlichem sozialdemokratischem Verständnis
reguliert der als starker Steuermann die
gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Konflikte und korrigiert fürsorglich soziale Schieflagen.
In der Neudefinition à la Blair und
Schröder hingegen soll dem Kapital ein
Höchstmaß an Freiheit und Flexibilität
eröffnet werden. Wirtschaft und Unternehmer sollen „genügend Spielraum“ er161
Ausland
EINWOHNER
Deutschland
EINWOHNER
82,0
in Millionen
Großbritannien
EINKOMMEN
Nettoverdienst eines Haushalts; monatlich 1997 in Mark
3860
REGIERUNG
Sozialdemokraten mit
Grünen seit 1998
10
8
INFLATION
EINKOMMEN
Nettoverdienst eines Haushalts; monatlich 1997 in Mark
REGIERUNG
6
4
30
Gesamt
9,1
bei den unter
25jährigen
9,0
29,4
28
1,3
6,1
Juli 1999
6
ARBEITSLOSENQUOTE
4
standardisiert; in Prozent
4
3
2
1
0
–1
2,8
Quellen: OECD/IWF/Eurostat/BA
3359
bei den
unter
25jährigen
12,9
Juni 1999
WIRTSCHAFTSWACHSTUM
Bruttoinlandsprodukt gegenüber dem Vorjahr
in Prozent
SOZIALLEISTUNGEN
Bruttoinlandsprodukt
gegenüber dem Vorjahr
in Prozent
2,1
30
SOZIALLEISTUNGEN
28
Anteil am Bruttoinlandsprodukt
in Prozent
26
Anteil am Bruttoinlandsprodukt
in Prozent
24
Gesamt
8
Juli 1999
26
in Prozent
Stand: Juli 1999
10
WIRTSCHAFTSWACHSTUM
4
3
2
1
0
–1
INFLATION
Sozialdemokraten
seit 1997
ARBEITSLOSENQUOTE
standardisiert;
in Prozent
58,8
(ein Arbeitslohn, zwei Kinder)
0,7
in Prozent
Stand: Juli 1999
26,7
24
22
1989 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99
22
1989 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99
ginnend 1935 unter Franklin Roosevelt mit
dem „Social Security Act“.
Entsprechend gilt der Markt in Amerika
als entscheidender Regelungsmechanismus
der Gesellschaft, nicht der Staat. Während
sich Gewerkschaft und Linke in Europa
bisweilen noch über die skrupellosen
Mächte des Kapitals erregen, gelten Unternehmen in den Staaten meist als Vorbilder und Heroen.
Dies Verständnis befördert eine Gesellschaft voller Widersprüche. Immer noch
ist der Traum vom American Way of Life
allgegenwärtig, der Aufstieg des Studenten
zum Computermilliardär möglich. Gleich-
zeitig wächst die Kluft zwischen Arm und
Reich unablässig; schneller als in Europa
entstehen Millionen neuer Stellen, gleichzeitig bietet die Mentalität des „Hire and
fire“ keine Gewähr dafür, dass diese Jobs
von Dauer sind.
Oder ist der Wohlfahrtsstaat skandinavischer Prägung die für Europa Erfolg verheißende Alternative? Ein Modell, das mit
rigiden Arbeitsmarktprogrammen die Wirtschaft in Schweden, Dänemark oder Finnland seit Jahren zum Boomen bringt, zugleich aber mit massiven Steuerabgaben
auf Arbeit, Vermögen und Umweltverbrauch den Sozialstandard auf Rekordniveau hält.
Dort immerhin hatte der „dritte Weg“
der Sozialdemokratie seinen eigentlichen
Ursprung. Dort nahm der Richtungsstreit
innerhalb der Arbeiterbewegung und politischen Linken seinen Probelauf.
Es war Olof Palme, Schwedens 1986 ermordeter Ministerpräsident, der in den
siebziger Jahren für seine Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SAP) den Kurs
des „tredje vägen“ formulierte. Es waren
Palmes sozialdemokratische Erben, die zur
Haushaltssanierung und Ankurbelung der
heimischen Wirtschaft am offenen Herzen
ihres Wohlfahrtsmodells operierten und
Therapien zur Gesundung der öffentlichen
Finanzen erprobten.
Ende 1994, nach dem Ende der konservativen Periode in Stockholm, war das
Haushaltsdefizit auf über zwölf Prozent
Sozialdemokraten Kreisky, Brandt, Palme*: Arbeit, Wohlstand, Sicherheit
162
in Millionen
(ein Arbeitslohn, zwei Kinder; alte Bundesländer)
J. H. DARCHINGER
halten, damit „die Märkte ihre Wunder“
(Giddens) vollbringen können.
Die Hinterlassenschaft der konservativen Epoche Europas unter Maggie Thatcher, Helmut Kohl oder Alain Juppé mit explodierender Arbeitslosigkeit, klaffenden
Haushaltslöchern und steigenden Verschuldungsraten soll nun mit deren marktradikalen Werkzeugen und Rezepten bekämpft werden: durch „Einstiegsjobs“ in
einen „Sektor mit niedrigen Löhnen, um
gering Qualifizierten Arbeitsplätze verfügbar zu machen“; mit weniger Staat und
einer Senkung der Lohnnebenkosten, getreu der festen und immer wieder enttäuschten Überzeugung, blühende Unternehmen würden quasi automatisch auch
neue Stellen schaffen.
Wohin also führt der Weg der modernen
europäischen Sozialdemokratie? Welches
der drei vorherrschenden Modelle, das
angelsächsische marktorientierte, das französische staatsfixierte oder die skandinavische Wohlfahrtsidee, verspricht den Menschen mehr Arbeit, Wohlstand, Sicherheit
und damit ihren politischen Protagonisten
auch Wahlerfolge?
Soll sich Europa wieder mal, wie es die
Briten gern hätten, an US-amerikanischen
Leitbildern orientieren, an einem Wirtschafts- und Beschäftigungswunder, das auf
einem aufgeheizten Kreditmarkt basiert,
aber zigtausende so genannter McJobs
schuf, die oft nicht einmal die nackte Existenz sichern? Ein System, das in seinem
globalen Agieren Helmut Schmidt bisweilen an „Raubtierkapitalismus“ erinnert?
Anders als in Europa, wo Bismarck den
Deutschen 1883 als erstem Land eine Arbeiterkrankenversicherung bescherte und
danach über den ganzen Kontinent Sozialsysteme gegen Unfälle, Krankheit, Invalidität und Tod entstanden, ist die Tradition
des Wohlfahrtsstaates in den USA kaum
ausgeprägt. Spät erst wurden in der neuen
Welt Sicherungssysteme eingeführt, be-
d e r
s p i e g e l
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* Bei einer Tagung der Sozialistischen Internationale
1975 in Berlin.
EINWOHNER
Frankreich
EINWOHNER
58,4
in Millionen
Dänemark
EINKOMMEN
Nettoverdienst eines Haushalts; monatlich 1997 in Mark
2779
REGIERUNG
14
ARBEITSLOSENQUOTE
12
standardisiert;
in Prozent
10
8
6
0,4
in Prozent
Stand: Juli 1999
Gesamt 11,0
Nettoverdienst eines Haushalts; monatlich 1995 in Mark
REGIERUNG
Juli 1999
6
4
28
produkt gegenüber dem Vorjahr in Prozent
3,2
29,2
26
SOZIALLEISTUNGEN
24
Anteil am Bruttoinlandsprodukt
in Prozent
22
1989 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99
des Sozialprodukts gewachsen und so hoch
wie in keinem anderen westlichen Land.
Die Zinsen explodierten zwischenzeitlich
auf ein Rekordniveau, der Geldwert verfiel
rapide.
In dieser Situation verkündete die Regierung das „härteste Sanierungsprogramm, das eine europäische Regierung
jemals umgesetzt hat“, so der schwedische
Ministerpräsident Göran Persson. Seine Sozialdemokraten senkten Arbeitslosen- und
Krankengeld, beschränkten die Sozialhilfe,
führten einen Karenztag bei Krankheit ein,
reformierten das Rentensystem um eine
Eigenbeteiligung. Und die öffentlichen Arbeitgeber strichen 100 000 Stellen.
Die Reformer büßten mit deutlichen
Sympathieverlusten. Trotzdem reichte es
1998 immerhin noch zur Fortsetzung ihrer
Politik als Minderheitsregierung, toleriert
von den Grünen und der Linkspartei der
früheren Kommunisten.
Der Grund: Die Einschnitte erfolgten
auf sehr hohem Niveau; Arbeitslosengelder
beispielsweise wurden zwar kräftig gekürzt, aber lediglich von 90 auf 75 Prozent,
und inzwischen sogar wieder auf 80 Prozent angehoben. Sozial-, Gesundheits- und
Ausbildungssystem blieben weitgehend in
öffentlicher Hand, finanziert aus den konstant hohen Steuerabgaben. Denn an einem
Grundsatz wollen Schwedens Sozialdemokraten auch in entbehrungsreichen Zeiten keinesfalls rütteln: „Die Wohlfahrt ist
unser Kind, und das bringen wir nicht um.“
Jetzt, nachdem die Arbeitslosigkeit (5,5
Prozent) nahezu halbiert ist, der Haushalt
wieder einen Überschuss ausweist, die
2,4
Gesamt
bei den unter
25jährigen
ARBEITSLOSENQUOTE
6,4
Juli 1999
standardisiert;
in Prozent
2,4
34
32,7
32
SOZIALLEISTUNGEN
Anteil am Bruttoinlandsprodukt
in Prozent
28
1110
Sozialisten seit 1995;
Minderheitskabinett
INFLATION
in Prozent
Stand: Juli 1999
ARBEITSLOSENQUOTE
6
4
2
standardisiert;
in Prozent
2,1
Gesamt 4,8
bei den unter 25jährigen 9,8
Juli 1999
Bruttoinlandsprodukt gegenüber dem Vorjahr
in Prozent
30
REGIERUNG
4,4
WIRTSCHAFTSWACHSTUM
6
5
4
3
2
1
0
9,8
(ein Arbeitslohn, zwei Kinder)
in Prozent
Stand: Juni 1999
10
WIRTSCHAFTSWACHSTUM Bruttoinlands4
3
2
1
0
–1
–2
30
Nettoverdienst eines Haushalts; monatlich 1997 in Mark
3708
INFLATION
Sozialdemokraten seit
1993; Minderheitskabinett
8
bei den unter
25jährigen 25,2
in Millionen
EINKOMMEN
(ein Arbeitslohn, zwei Kinder)
INFLATION
EINWOHNER
Portugal
EINKOMMEN
(ein Arbeitslohn, zwei Kinder)
Sozialisten mit Grünen und
Kommunisten seit 1997
5,3
in Millionen
1989 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99
6
5
4
3
2
1
0
–1
20
18
16
14
12
WIRTSCHAFTSWACHSTUM
Bruttoinlandsprodukt gegenüber dem Vorjahr
in Prozent
4,0
19,3
SOZIALLEISTUNGEN
Anteil am Bruttoinlandsprodukt
in Prozent
1989 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99
Wachstumsraten wieder europäisches Spit- etwa haben nach sechs Monaten von Staats
zenniveau erreichen und die Prognosen wegen das Recht auf einen Ausbildungsstabil sind, will Persson „die Bürger für die platz oder auch einen Job – allerdings auch
Entbehrungen entschädigen“ – mit Steuer- die Pflicht, entsprechende Angebote anzuerleichterungen und Entlastungen zum Bei- nehmen. Sonst gibt’s kein Geld mehr.
spiel für Niedrigeinkommen.
Mit dieser Koppelung von skandinaviGroßzügige Sozialsysteme müssten re- scher Wohlfahrtstradition und einer Flexiformiert werden, „wo sie die Versuchung bilität amerikanischer Spielart kombinierzu unehrlichem Verhalten erzeugen“, die ten die Dänen zwei Denkschulen, die in
Arbeitsbereitschaft müsse „durch Anrei- Deutschland als nahezu unvereinbar gelze, wenn nötig durch gesetzliche Ver- ten. Das Ergebnis ist ein kleines Jobpflichtungen gefördert werden“
Wunder mit fast 200 000 neuen
– das fordert Blair-Berater AnStellen. Und dennoch: Mit über
Das kleine
thony Giddens zur „Erneuerung
17 000 Mark pro Einwohner sind
Dänemark
der sozialen Demokratie“.
die dänischen Sozialleistungen
schafft
Beim schwedischen Nachbarn
nach Luxemburg noch immer
Dänemark führte diese Einsicht ein Job-Wunder Spitze in Europa.
ohne großes ideologisches BrimSein Land habe bewiesen,
mit fast
borium bereits 1993 zu radikadass es „keinen Widerspruch
200 000 neuen zwischen sozialer Sicherheit und
lem Umdenken. Nach Jahren
Stellen
staatlicher Defizitwirtschaft und
hoher Wirtschaftskraft gibt“,
der Erkenntnis, dass es sich imglaubt Premier Nyrup Rasmusmer mehr Dänen im üppig abgefederten sen. „Wir sind stolz auf unser Modell, denn
System der Arbeitslosenhilfe bequem es funktioniert“, sagt auch seine Parteimachten, entschloss sich die sozialdemo- Vize Lene Jensen und fragt: „Wozu braucht
kratische Regierung unter Poul Nyrup Ras- es dann einen dritten Weg?“
mussen zur konsequenten Reform der BeDer war Lionel Jospin in Paris zunächst
schäftigungspolitik.
keineswegs unsympathisch. „Wir sind anLeistungen wurden gekürzt, der Kündi- ders“, antwortete Jospin selbstbewusst auf
gungsschutz ist weitgehend aufgehoben. den Vorstoß aus Berlin und London. Doch
Arbeitslosengeld gibt es statt für neun nur sein politisches Handeln war so anders lannoch für maximal fünf Jahre, Rentenrege- ge nicht. In den 29 Monaten seiner Amtslungen wurden reformiert und sogar die zeit ließ der linke Pragmatiker Jospin zum
beliebte und großzügige Vorruhestandsre- Beispiel mehr Staatsunternehmen privatigelung „Efterlön“ vorsichtig beschnitten. sieren als die letzten drei rechten VorgänDas schlichte Rezept lautet: üppige So- gerregierungen zusammen.
zialleistungen einerseits, rigide Auflagen
Geradezu geschockt reagierten Öffentandererseits. Jüngere Arbeitslose unter 25 lichkeit und Teile seiner Partei, als der Reid e r
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163
Ausland
„Nein zum dritten Weg“
Der französische Europaminister Pierre Moscovici über den Richtungsstreit der
sozialdemokratischen Parteien und die deutsch-französischen Beziehungen
G. SAUSSIER / GAMMA / STUDIO X
SPIEGEL: Herr Minister, die Linke regiert stellung brechen, dass der Staat alles jetzt beginnenden Gesprächen der Welthandelsorganisation.
in 12 von 15 Mitgliedstaaten der Europäi- regeln könne.
schen Union. Aber sie marschiert nicht Moscovici: Der dritte Weg ist ein ambiva- SPIEGEL: Da zeichnen sich Konflikte mit
in die gleiche Richtung. Wird der Kon- lentes Konzept. Wenn damit eine Alter- den Amerikanern ab. Die wollen nicht
gress der Sozialistischen Internationale native zum Kommunismus und zum Wirt- neue Regeln, sondern Deregulierung.
nächste Woche in Paris eine Annäherung schaftsliberalismus gemeint ist – gut. Aber Moscovici: Wenn ich mir die Kapitalströbringen?
das ist nichts Neues, sondern der Weg, me rund um den Globus ansehe, vermag
Moscovici: Ein gemeinsames Programm ist den die Sozialdemokratie in Europa seit ich nicht zu erkennen, dass wir an einem
Übermaß an Kontrollen leiden.
für die nächste Zukunft nicht vorgesehen, hundert Jahren eingeschlagen hat.
aber die Sozialisten in Europa teilen vie- SPIEGEL: Wenn aber der dritte Weg zwi- SPIEGEL: Aber lehrt nicht das angelsächle Ansichten und haben einen gemeinsa- schen der traditionellen Sozialdemokra- sische Beispiel, dass ein Abbau von Remen politischen Willen. Wir wollen alle tie und dem Neoliberalismus liegt?
gulierungen Arbeitsplätze schafft?
den Erfolg bestimmter Regulierungen, ein Moscovici: Dann sagen wir nein. Wir den- Moscovici: Frankreich ist derzeit ein MoGleichgewicht zwischen Staat und Markt, ken, dass es nach dem Zusammenbruch tor des Wirtschaftswachstums in der EU.
nicht das Laisser-faire der Liberalen.
des totalitären Kommunismus nur noch Ich behaupte, dass die Regierung etwas
SPIEGEL: Sind die Sozialisten unter dem zwei Wege gibt, keinen dritten. Wir sind dafür getan hat. Das beweist doch wohl,
Druck des globalen Kapitalismus nicht keine Sozialliberalen. Unsere Partei steht dass die vermeintlichen Traditionalisten
zwar in der Mitte der französischen Ge- mindestens genauso viel Erfolg haben wie
selbst verkappte Liberale geworden?
Moscovici: Keineswegs. Unsere Gesell- sellschaft, aber sie ist keine zentristische die so genannten Modernisierer.
schaften brauchen Freiheit und Sicher- Partei geworden.
SPIEGEL: Und was ist das Geheimnis dieheit. Wir setzen uns für die Modernisie- SPIEGEL: Lässt sich der globale Kapitalis- ses Erfolgs?
rung des Wohlfahrtsstaates ein, aber mus überhaupt noch zähmen, wenn der Moscovici: Zunächst das Vertrauen der
Franzosen in unser Modell. Das hat, zunicht, um ihn abzuschaffen, sondern um Nationalstaat an Bedeutung verliert?
ihn als Instrument der Regulierung und Moscovici: Nationale Regulierungen rei- sammen mit unserer Einkommenspolitik,
chen nicht, um unsere Gesellschaften ge- den Konsum in Schwung gebracht. Aber
des Ausgleichs zu erhalten.
SPIEGEL: Sind Sie sicher, dass Tony Blair gen die Exzesse des globalen Marktes zu wir haben auch Erfolg mit unseren Beschützen. Gerade deshalb brauchen wir schäftigungsprogrammen. Und die Arda mit Ihnen am selben Strang zieht?
Moscovici: Es gibt Unterschiede im Tem- Europa: einen organisierten, geregelten beitszeitverkürzung wird weitere Stellen
perament, in der nationalen Tradition, in Wirtschafts-, Währungs- und Rechtsraum, schaffen.
der Kultur. Aber wir können auf unseren der sich auf Grund seiner Größe und sei- SPIEGEL: Haben Sie das Gefühl, dass der
nes Gewichts auch für globale Regeln deutsche Kanzler sich von Ihrem Poligemeinsamen Werten aufbauen.
SPIEGEL: Ihre Partei hat unter dem Titel stark machen kann, zum Beispiel in den tikmodell entfernt hat?
„Auf dem Weg zu einer gerechteren
Welt“ ein Dokument erarbeitet, das weithin als Antithese zum so genannten Schröder-Blair-Papier verstanden wird.
Moscovici: Es ist ein Diskussionsbeitrag,
und er richtet sich gegen niemanden.
Aber natürlich, die Differenzen zwischen
den beiden Texten sind eindeutig. Wir
legen den Akzent auf neue Formen der
Regulierung, im nationalen wie im internationalen Maßstab. Die öffentliche Hand
ist gegenüber der Globalisierung nicht
machtlos. Wir akzeptieren sie, aber wir
wollen sie auch organisieren.
SPIEGEL: Wie denn?
Moscovici: Für uns bleibt der soziale Ausgleich zentral, deshalb betonen wir immer wieder das Ziel der Gleichheit – gleiche Chancen, gleiche Lebensbedingungen. Dazu ist eine gewisse Umverteilung,
ein gewisser Dirigismus unerlässlich.
SPIEGEL: Modernisierer würden Sie einen
Traditionalisten nennen, denn der dritte Weg, wie Schröder und Blair ihn
einschlagen, soll ja gerade mit der Vor- Paris-Besucher Kohl, Präsident Mitterrand (1989): „Nichts kann das Band ersetzen“
164
d e r
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J. M. ARMANI / RAPHO / AGENTUR FOCUS
Europaminister Moscovici
„Umverteilung ist unerlässlich“
Moscovici: Es stimmt, es hat in den
deutsch-französischen Beziehungen
eine Phase nicht der Spannung, aber
des gegenseitigen Beobachtens gegeben. Mein Gefühl sagt mir, dass
sich das ändert. Kanzler Schröder
und Premier Jospin haben inzwischen
eine gute persönliche Beziehung zueinander aufgebaut. Das ist sehr
wichtig.
SPIEGEL: Eine gute Atmosphäre allein
bewegt noch nichts.
Moscovici: Deshalb ist beispielsweise
der Zusammenschluss von Aerospatiale Matra mit der Dasa so wichtig.
Frankreich und Deutschland haben
den Euro zusammen geschaffen, nun
werden wir das Europa der Luft- und
Raumfahrt aufbauen. Damit haben
wir die industrielle Grundlage, den
bewaffneten Arm für die Europäische
Verteidigungsunion.
SPIEGEL: Schröders Flirt mit Tony Blair
macht Paris also nicht eifersüchtig?
Moscovici: Franzosen und Deutsche
sind das Herz Europas. Die Briten
sind nicht voll in Europa integriert.
Wie groß die Versuchung auch sein
mag, mit den Briten anzubändeln,
nichts kann das Band zwischen Frankreich und Deutschland ersetzen.
SPIEGEL: Ist das Gerede über die gestörte Ehe also hinfällig?
Moscovici: Verdächtigungen sind unter Freunden immer fehl am Platz.
Aber ein gewisser Realismus drängt
sich auf. Doch gerade seit dem Umzug
der deutschen Regierung nach Berlin
nehmen wir vermehrt positive Signale der Deutschen Richtung Europa
und Richtung Frankreich wahr. Ich
habe also nicht den geringsten Grund
zur Beunruhigung.
Interview: Romain Leick
d e r
fenhersteller Michelin im September zeitgleich eine rekordverdächtige Gewinnsteigerung von 17,3 Prozent sowie Massenentlassungen von 7500 Arbeitern verkündete
– und der linken Regierungskoalition mit
Grünen und Kommunisten nichts anderes
dazu einfiel, als abzuwiegeln. „Man kann
nicht alles vom Staat erwarten“, beruhigte Jospin, „man kann die Wirtschaft nicht
mehr dirigieren.“ So spricht einer, der
den dritten Weg als Handlungsmaxime für
sich akzeptiert hat: links blinken, rechts
abbiegen.
Drei Wochen ließ Jospin ins Land gehen. Dann besann er sich, begleitet von
Protesten lange nicht mehr gekannten
Ausmaßes, zumindest rhetorisch auf seine
linken Wurzeln. „Die Globalisierung macht
den Staat nicht machtlos“, droht nun auf
einmal mutig der Premier. In einem
eilends zusammengezimmerten Positionspapier zeigen die Sozialisten Flagge. Kernsatz: Der „Weg zu einer gerechteren
Welt“, so der Titel, dürfe „eine Politik der
Umverteilung nicht
ausklammern“, die
Das neue
„Exzesse des MarkHeil der
tes“ müssen beeuropäischen
kämpft werden.
In einer Art zweiSozialdemoter Regierungserklä- kratie liegt im
rung vor der sozialispolitischen
tischen Fraktion in
Erfolg
Straßburg präsentierte der Premier einen
ganzen Katalog neuer Sozialmaßnahmen –
vorrangig gegen Massenentlassungen und
den Missbrauch ungesicherter Beschäftigungsverhältnisse. 21-mal, hohe Symbolik
seines Auftritts, gebrauchte er dazu den
Schlüsselbegriff „Regulierung“.
„An Jospin gefällt mir“, sekundiert sogar der – mit einem strikt auf Konsens ausgerichteten Modell – selbst so erfolgreiche
niederländische Regierungschef Wim Kok,
„dass er das Verhältnis von Markt und
Staat nicht unter den Tisch kehrt.“
Linke Sprüche, rechte Politikentwürfe –
sieht so das sozialdemokratische Zukunftsmodell aus? Selbst bei den Modernisierern der neuen Mitte werden die
eigentlichen Absichten inzwischen mit Unmengen linken Vokabulars garniert.
„Unsere Grundwerte haben Bestand“ –
so traditionalistisch beginnt auf einmal der
Leitantrag von Schröders SPD für den Parteitag im Dezember, der das Hickhack um
den rechten Kurs in Deutschland endlich
beilegen soll. Zeitgleich schmierte Kanzler
Schröder Balsam auf die linke Seele.
Er stellt dem linken Flügel seiner Partei
eine Vermögensabgabe in Aussicht, eine
Art Lastenausgleich zwischen Arm und
Reich, wie auch immer die am Ende aussehen mag. Und lässt seinen Arbeitsminister Walter Riester, Arm in Arm mit der
mächtigen Metall-Gewerkschaft, die „Rente mit 60“ forcieren – die freilich den Staat
und seine öffentlichen Pensionskassen
s p i e g e l
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165
Ausland
* Mit Ehefrau Christa Müller auf der
Frankfurter Buchmesse.
166
Dritter-Weg-Kritiker Lafontaine*
„Die Reaktion der Wähler ist eindeutig“
d e r
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P. JUELICH / RIRO
AFP / DPA
nichts kosten darf und eiles illustriert zumindest eine
nen Sturm der Entrüstung
zweite, nicht zu unterschätauslöste. Neidvoll musste
zende Komponente des
der Enkel Willy Brandts ersozialdemokratischen Richkennen, dass die Modertungskampfes: das Machtnisierer bei den Europakalkül. Was nützt der richwahlen im Sommer deuttige Weg, die politisch korlich Stimmen einbüßten,
rekte Überzeugung, wenn
Jospin dagegen Gewinne
die Wähler weglaufen?
verbuchte.
In Portugal etwa, dem
„Gerechtigkeit und Inärmsten Land der Euronovation“ ist jetzt wieder
Zone, hat fast die Hälfte
das Motto. Mit dem war die
der 4,8 Millionen BeschäfSPD schon im letzten Bun- Schweden-Premier Persson
tigten keine geregelten Ardestagswahlkampf erfolgbeitsverträge; der Durchreich. Und das setzt, welche Ironie, ausge- schnittslohn liegt bei 1000 Mark monatlich.
rechnet jenen Akzent nach vorn, den noch Da interessiert kein zweiter und kein dritvor Jahresfrist Oskar Lafontaine personifi- ter Weg, sondern allein die Frage nach Auszierte. „Die Reaktion der Wähler“, ließ der kommen und Überleben.
Saarbrücker Polit-Rentner wissen, „ist einWer das glaubwürdig zum Thema
deutig und unmissverständlich: Der dritte macht, bekommt das Vertrauen der Wähler
Weg ist ein Holzweg.“
– so einfach kann Politik sein. Bei den
Tony Blair hat seinen Parteitag bereits Wahlen vor drei Wochen war das in ershinter sich. Auch ihn holte die real exis- ter Linie die regierende Sozialistische
tierende Sozialdemokratie ein. Ende Sep- Partei von Ministerpräsident António
tember, auf dem Labour-Konvent in Guterres. Sie erhielt nach leichter SteigeBournemouth, rückte er wortreich wieder rung mit 44 Prozent ihr bestes Ergebnis
ein Stück nach links.
aller Zeiten.
Ausdauernd strapazierte er traditionelGuterres, der sich stets zu seinen linken
le sozialdemokratische Werte wie Freiheit, Idealen bekannte, gilt jetzt als aussichtsGleichheit, Solidarität. „Der Klassenkampf reicher Kandidat für das Amt des Präsiist vorbei, aber der Kampf um echte denten der Sozialistischen Internationale.
Gleichheit hat gerade erst begonnen“, sagGibt es für Europas Sozialdemokratie
te Blair unter dem Jubel der Delegierten. am Ende gar „nicht einen oder zwei Wege,
Über 20-mal in der knapp einstündigen sondern 15“, für jedes EU-Land den eigeRede berief sich der Taktiker auf lin- nen, wie der italienische Wirtschaftswiske Ideale wie Chancengleichheit und so- senschaftler und Europapaabgeordnete der
ziale Gerechtigkeit. Ähnlich wie Willy Linksdemokraten Giorgio Ruffolo beBrandt 1969 bediente er die Gemütslage hauptet? Liegt das Geheimnis womöglich
seiner Parteigänger und forderte „gleiche darin, sich überall die erfolgreichsten TeiChancen für alle zur Selbstverwirk- le abzugucken – ein bisschen Blair, eine
lichung“ und „gleichen Zugang zu Bil- Prise Schröder, einen Happen Jospin?
dungs- und Lebenschancen“. Die „neuen
Dann läge das Heil der europäischen Somoralischen Ziele“, die der versierte Par- zialdemokratie nicht links, nicht rechts,
teitagsredner seinem Anhang offerierte, und auch nicht in der neuen Mitte. Dann
gegen Rassismus, gegen Armut, für Ein- definierte sich deren künftiger Kurs viel
haltung der Menschenrechte, entstammen einfacher: Wer politisch Erfolg hat, hat
eher dem alten Repertoire linker Sozial- auch Recht.
demokraten.
Manfred Ertel, Rüdiger Falksohn,
Horand Knaup, Romain Leick,
„Wir sind die neuen Radikalen“, tönte
Hans-Jürgen Schlamp, Helene Zuber
Blair gleichwohl markig. Rund 18 Monate
vor den nächsten Wahlen
hat auch er erkannt, dass er
die Herzen gewinnen muss,
wenn er die Köpfe seiner
Anhänger für Reformen
freimachen will.
Die Erneuerer also auf
dem geordneten Rückzug? Blairs rhetorische Verbeugung vor dem linken
Flügel, Schröders Reaktion
auf die Wahlschlappen, Jospins Schlingerkurs zwischen Marktwirtschaft und
Marktgesellschaft – dies al-
Werbeseite
Werbeseite
Ausland
S P I E G E L - G E S P R ÄC H
„Eine neue Brücke bauen“
Anthony Giddens, Vordenker des britischen Premiers Tony Blair und Autor des „dritten Wegs“,
über seine Vision einer modernen Sozialdemokratie,
den radikalen Umbau der Rentensysteme und den Streit zwischen Schröder und Lafontaine
SPIEGEL: Oskar Lafontaine sagt, der von Ihnen proklamierte dritte Weg sei ein
Holzweg.
Giddens: Das beruht auf einem falschen
Verständnis der Situation. Wir müssen vorbereitet sein zur Erneuerung. Und wie
immer man es nennt: Nur eine wirklich
modernisierte Linke kann eine Politik formulieren, die Antworten auf die neuen
Ungleichheiten der Gesellschaft gibt.
SPIEGEL: Bislang lautet die Antwort von
Schröder und Blair vor allem: mehr Flexibilität, weniger Staat. Das ist für viele Kritiker neoliberale Politik in neuem Gewand.
Giddens: Das ist wirklich lächerlich. Im Sog
der südostasiatischen Wirtschaftskrise ist
der Neoliberalismus quasi über Nacht zu
einer toten Philosophie geworden. Die
Menschen wollen nicht ungeschützt den
globalen Märkten zum Fraß überlassen
werden. Zwar brauchen wir einen effektiven Markt, um Wohlstand zu garantieren,
gleichzeitig brauchen wir aber auch eine
funktionierende Bürgergesellschaft und einen aktiven Staat.
SPIEGEL: Was bedeutet das konkret?
Giddens: Zum Beispiel, dass die Linke
nicht nur instinktiv auf Regulierung setzen oder immer gleich nach höheren Steuern schreien darf.Wir haben viele Beispiele
dafür, dass Steuersenkungen manchmal so-
J. LEIGHTON / NETWORK / AGENTUR FOCUS
sche Bundeskanzler Gerhard Schröder gefragt wurde, was eigentlich der „dritte
Weg“ sei, spöttelte der, er kenne nicht mal
die ersten beiden. Können Sie helfen?
Giddens: Ich kann es versuchen. Die Debatte geht um die Modernisierung der
Sozialdemokratie und die Frage, wie in
einer Welt radikaler Veränderungen wichtige Grundwerte wie Solidarität, Gleichheit, Sicherheit oder die Rolle eines aktiven
Staates zu verstehen sind. Das sind für
mich essenzielle sozialdemokratische Werte. Und wir müssen moderne Antworten
finden, wie die in der aktuellen Politik
überleben können. Ob die Überschrift für
diese Debatte nun dritter Weg lautet oder
anders, das ist egal.
SPIEGEL: Die Grundwerte, von denen Sie
reden, würde jeder gute Sozialdemokrat
in Europa unterstützen. Was ist daran neu?
Giddens: Nicht die Werte sind neu, sondern
die Erkenntnis, dass die alten Rezepte zu
ihrer Umsetzung nicht mehr taugen. Wir
können nicht einfach zurück zum traditionellen Sozialismus, der einst den westlichen Wohlfahrtsstaat geprägt hat. Wir
dürfen die Welt aber auch nicht als einen
gigantischen Marktplatz verstehen und erwarten, dass der Markt schon mit allen
Problemen irgendwie fertig wird.
Blair-Berater Giddens
„Gerechtigkeit durch Weiterbildung“
gar effektiver sein können. In den meisten
Ländern wird diese Politik nur noch von
zehn Prozent der Wähler unterstützt.
SPIEGEL: Woran ist die traditionelle Sozialdemokratie denn gescheitert? Und wann?
Giddens: Bis in die späten sechziger Jahre
war vieles von der traditionellen Wohlfahrtsmentalität und ihrer Philosophie erfolgreich. Dann schlug die Situation um, die
ersten Kritiker sprachen von einer Armutsfalle oder von der moralischen Gefahr dieses Systems. Es waren zumeist Linke, die erkannten, dass der Wohlfahrtsstaat
nicht nur eine Antwort auf die Probleme
der Menschen ist, sondern deren Zusammenleben zum Teil radikal verändert hat.
SPIEGEL: Jetzt streitet Europa darüber, welches der sozialdemokratischen Reformmodelle das zukunftsfähigste ist. Ist es das
Modell von Schröder und Blair, ist es die
französische Variante, die auf mehr Regulierung setzt, oder ist es gar das skandinavische Wohlfahrtssystem?
Giddens: Es ist keines von allen. Wir sollten
aufhören, immer nur in Vorbildern zu denken. Es kämpfen zwar alle Staaten mit ähnlichen Problemen, aber jede Nation hat
ihre eigene Geschichte und Entwicklung
hinter sich. In Großbritannien zum Beispiel gibt es, zum Teil als Folge der neoHOPI MEDIA
SPIEGEL: Professor Giddens, als der deut-
* Bei einem Treffen der Sozialistischen Internationale
am 10. Dezember 1998 in Wien.
Sozialreformer Blair, Schröder*
„Neoliberalismus ist eine tote Philosophie“
Werbeseite
Werbeseite
S. MENDEL / NETWORK / AGENTUR FOCUS
Obdachloser in der Londoner Innenstadt: „In Deutschland ist die Armut geringer“
liberalen Regierungen, viel zu viel Armut, weitaus stärker an Schweden als an den
und wir müssen was dagegen tun. In USA. Aber die Frage ist doch nicht, ob
Deutschland ist die Armut geringer, und Deutschland mehr wie Großbritannien
trotzdem gibt es dort einen Streit um das- werden sollte oder wie Schweden, sondern
selbe Thema.
welche Ideen nützlich sein können, die
SPIEGEL: Also braucht jedes Land seinen deutsche Wirtschaft anzukurbeln und die
eigenen dritten Weg?
Arbeitslosigkeit abzubauen. In SkandinaGiddens: Man sollte sich von der scheinbar vien etwa ist die Toleranz, hohe Steuern
gegensätzlichen Rhetorik der politischen und Abgaben zu zahlen, seit jeher sehr viel
Führer nicht täuschen lassen, sondern die größer als in Deutschland.
Politik in den einzelnen Ländern verglei- SPIEGEL: Viele Linke verstehen das Schröchen. Dann stellt man fest, dass die Unter- der-Blair-Papier als Aufforderung, dass
schiede gar nicht so groß sind.
Deutschland dem britischen Muster folgen
SPIEGEL: Wirklich? Die deutsche SPD dis- sollte.
kutiert derzeit, sich stärker an Lionel Giddens: Vielleicht hat das Papier nicht geJospin zu orientieren, der auf staatliche nug verdeutlicht, dass es der SozialdemoRegulierung der Wirtschaft setzt, statt an kratie nach wie vor um soziale GerechtigTony Blair und seinen Vorstellungen von keit geht – nur eben in zeitgemäßerer
mehr Deregulierung und Flexibilisierung. Form. Deshalb haben sich Lafontaine und
Wo ist da die Ähnlichkeit?
andere Genossen wohl so sehr erregt. InGiddens: Man muss sich doch nur Jospins teressanterweise fand das Papier in der
aktuelle Politik ansehen: Wenn man etwa britischen Presse keine große Aufmerksamkeit. Höchstens ein paar Indie geplante Einführung der 35tellektuelle erinnern sich überStunden-Woche und ihre prakti„Wer von der haupt noch daran, dass Blair dieschen Auswirkungen genauer
Gesellschaft se Thesen jemals vorgelegt hat.
analysiert, wird man feststellen,
profitiert,
dass sie nur der Hebel für mehr
SPIEGEL: Vielleicht liegt die geFlexibilität des Arbeitsmarkts
ringe Aufregung daran, dass die
muss auch
sein wird, und nicht ein Mittel
Briten sich seit Margaret Thateine
zur Regulierung. Ob nun Blair,
an brutale Umbrüche in ihGegenleistung cher
Schröder oder Jospin – alle drei
rer Wirtschaft gewöhnt haben.
erbringen“
sehen doch die Notwendigkeit,
Anderswo in Europa haben die
öffentliche Einrichtungen zu priMenschen mehr Angst vor der
vatisieren, die Sozialsysteme zu reformie- Modernisierung, weil diese ja auch mit der
ren und das Rentenproblem zu lösen. Und Aufgabe lieb gewonnener Gewohnheiten
der Glaube an die Bedeutung des Arbeits- verbunden ist.
markts als Mittelpunkt der Sozialpolitik Giddens: Das stimmt. Gerade in Deutschwächst rapide.
land lässt sich das derzeit beim Streit um
SPIEGEL: Nur die Antworten scheinen sehr den Sparhaushalt der Bundesregierung besonders gut beobachten. In keinem andeunterschiedlich auszufallen.
Giddens: Nein, nicht wirklich. Schauen Sie ren Land in Europa stößt der Wandel auf
sich doch die praktische Politik an. Das derart große Widerstände, nicht einmal in
britische Modell, Sozialhilfe und Beschäf- Skandinavien oder Frankreich.
tigungspolitik unmittelbar miteinander zu SPIEGEL: Leiden die Deutschen an einer beverbinden, orientiert sich zum Beispiel sonderen Blockade-Mentalität?
170
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Giddens: Nein, auch anderswo in Europa sehen die Menschen bestimmte Leistungen
des Wohlfahrtsstaats als naturgegebene
Rechte. Doch im Zeitalter der Globalisierung dürfen wir Sozialpolitik nicht mehr
losgelöst von der Wirtschaftspolitik betrachten. Sozialpolitik darf sich nicht allein auf die Umverteilung konzentrieren
und an den alten Strukturen festhalten.
Weil der Arbeitsmarkt viel dynamischer
als früher ist und sich durch die InternetRevolution alles schneller ändert, müssen
wir stärker in die Fähigkeiten der Menschen investieren, in deren Aus- und Weiterbildung. Nur so können wir auch für
soziale Gerechtigkeit sorgen.
SPIEGEL: Wie würden Sie als Modernisierer
denn soziale Gerechtigkeit definieren?
Giddens: Auf die klassische, immer noch
gültige Weise: Es ist der Versuch, durch
ein Netz von Beziehungen und finanziellen Regelungen soziale Ungleichheit und
Benachteiligungen abzubauen und stattdessen Chancengleichheit und soziale
Solidarität zu garantieren. Die Idee des
dritten Wegs setzt dabei nur viel stärker
auf die Berücksichtigung von Humankapital, anstelle einer direkten finanziellen
Umverteilung von den Reichen an die
Armen.
SPIEGEL: Dennoch reden Sie oft davon, dass
wir mehr Staat brauchen, nicht weniger.
Sind Sie letztlich doch ein Traditionalist,
der die Wohlfahrt auf Pump finanziert?
Giddens: Nein, nein. Auch wenn Lafontaine
das anders sehen mag, der keynesianische
Ansatz des „deficit spending“ hat sich
überlebt. Der Staat kann die Probleme der
Gesellschaft nicht allein lösen. Mehr noch:
Wenn er dies versucht, erreicht er oftmals
nur das Gegenteil. Ich meine etwas anderes: Der Staat muss flexibler handeln und
genauso schnell reagieren, wie es Unternehmen tun. Bürokratische Behörden und
Vetternwirtschaft müssen verschwinden,
dann gewinnt die Demokratie auch wieder
das Vertrauen der Menschen.
SPIEGEL: Gerhard Schröder scheint dieses
Vertrauen im Moment vollends zu verspielen, anders als Jospin, der bei den
Europawahlen gewann. Selbst Blair bemühte zuletzt auf dem Labour-Parteitag
wieder die alten Ideale von Gleichheit und
Gerechtigkeit. Hängt Erfolg oder Misserfolg der Sozialdemokratie also davon ab,
wie sie die Herzen der Leute gewinnt?
Giddens: Das ist nicht das entscheidende
Problem. Es ist schon erstaunlich, wie sehr
sich die Meinungen ähneln, wenn man die
Menschen in Europa zum Wohlfahrtsstaat
befragt. Fast überall nennen sie ähnliche
Prioritäten, wollen ein gutes Bildungs- und
Gesundheitssystem. Zugleich sind sie sehr
sensibel, wenn es um die Kosten des
Sozialsystems geht. Entscheidend für den
Erfolg sind derzeit wohl die Unterschiede
in den politischen Systemen: Tony Blair
hat durch das Mehrheitswahlrecht in Großbritannien eine Machtposition erlangt, die
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Ausland
kein anderer Politiker in Europa oder Amerika besitzt.
SPIEGEL: Glauben Sie wirklich, dass die
Mehrheit der Europäer für Einschnitte ist?
Die Skandinavier etwa halten trotz aller
Reformen immer noch an einem üppigen
Wohlfahrtsstaat fest und sind bereit, dies
über hohe Steuern zu bezahlen.
Giddens: Aber ich kenne niemanden, der
sagt, andere Länder sollten den gleichen
Weg gehen. Und vielleicht hat das skandinavische Modell Veränderungen vor sich,
die mit den heutigen noch gar nicht vergleichbar sind. Die Menschen sind nicht
blöd und wissen genau, dass wir nicht bloß
an alten Strukturen festhalten können.
Nötig ist ein neuer Gesellschaftsvertrag,
für den gilt: keine Rechte ohne Verantwortungen. Diese Regel muss für die Bedürftigen ebenso gelten wie für die Reichen.
SPIEGEL: Welche Pflichten sollten die Sozialdemokraten den Reichen auferlegen?
Giddens: Nötig ist eine Mischung aus Anreizsystemen und Regulierung. Das System
muss dafür sorgen, dass die Unternehmen
sich global wie national ihrer Verantwortung bewusst sind. Es kann nicht sein, dass
bestimmte Eliten sich aus der Gesellschaft
ausklinken. Wir müssen auch verhindern,
dass Manager ihre Machtpositionen zum
Schaden der Allgemeinheit ausnutzen. In
Europa wäre es unerträglich, wenn ein Manager, so wie in den USA, ein paar hundertmal so viel verdient wie einer seiner
Arbeiter. Um solche Gier zu verhindern,
reicht aber nicht eine platte Umverteilungspolitik nach dem Motto: den Reichen
nehmen, den Armen geben. Vielmehr geht
es auch darum, das ideologische Klima zu
verändern und den moralischen Druck gegen solche Auswüchse zu erhöhen.
SPIEGEL: Welche Pflichten wollen Sie umgekehrt den Bedürftigen auferlegen?
Giddens: Es muss dasselbe Prinzip gelten:
Wer von der Gesellschaft profitiert, muss
auch eine Gegenleistung erbringen. Konkret: Wer zum Beispiel Arbeitslosen- oder
Sozialhilfe bekommt, muss sich aktiv um
einen neuen Job bemühen und etwas aus
seinem Leben machen. In Dänemark oder
Großbritannien funktionieren solche „welfare to work“-Programme, die auch Sanktionen für Arbeitsunwillige enthalten, sehr
gut; Deutschland dagegen schreckt davor
zurück. Dabei ist die Logik doch einfach:
Wenn so viele Menschen wie irgend möglich wieder einen Job haben, wächst die
Wirtschaft und damit auch das Steueraufkommen. Dann ist auch mehr Geld für
die entscheidenden Zukunftsaufgaben des
Wohlfahrtsstaats vorhanden, für Bildung
und Gesundheit.
SPIEGEL: Den europäischen Regierungen
geht das Geld aber vor allem auch wegen
der Altersvorsorge aus, das bei Ihrer Aufzählung nicht vorkommt.
Giddens: Das demografische Problem ist in
der Tat krass. Deshalb sollten die Europäer
hier besonders radikal denken: Warum
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J. LEIGHTON / NETWORK / AGENTUR FOCUS
zwingen wir die Menschen ab einem bestimmten Alter in Pension? Warum versuchen wir, das Rentenalter noch weiter zu
senken? Dadurch entsteht bloß ein Ghetto der Alten, in dem die Gesellschaft ihnen
das Arbeiten verbietet. Jeder sollte frei
wählen können, wie lange er arbeitet.
SPIEGEL: Umfragen in Deutschland zeigen
aber, dass 70 Prozent der Bevölkerung nicht
länger arbeiten, sondern lieber früher, mit
60 statt mit 65 in Rente gehen wollen.
Giddens: Wer genug Geld gespart hat, kann
von mir aus auch mit 30 den Job aufgeben.
Giddens (M.) beim SPIEGEL-Gespräch*
„Die Menschen sind nicht blöd“
Aber wer bis 70 oder 80 arbeiten will, sollte das auch dürfen. Eigentlich sollte man
das jetzige Rentensystem sogar ganz abschaffen und …
SPIEGEL: … wie bitte? Das meinen Sie doch
nicht etwa ernst …
Giddens: … erst mal ist das nur ein Gedankenspiel. Aber ich bezweifle, ob die
Rente, so wie sie heute funktioniert, wirklich sinnvoll ist. Stattdessen wäre zu überlegen, ob der Staat nicht besser auf andere Weise für seine Bürger vorsorgt. Anstatt
alle wie in Deutschland mit 65 in Rente zu
zwingen, könnte die Regierung denjenigen, die das wollen, auch mit 35 oder 45
einen Kredit für Fortbildungsmaßnahmen
geben. Im Prinzip muss ein moderner
Wohlfahrtsstaat stets für zweierlei sorgen:
Zum einen sollte jeder die Chance erhalten, ein befriedigendes Leben zu leben,
ein möglichst gutes Auskommen zu erlangen; zum anderen muss der Staat natürlich
weiterhin die Bedürftigen vor Armut
schützen. Aber beides hat überhaupt nichts
mit dem Alter zu tun, sondern damit, eine
neue Brücke zwischen den Generationen
zu bauen.
SPIEGEL: Solch radikaler Umbau bedeutet
doch für jede sozialdemokratische Partei
politischen Selbstmord.
Giddens: Natürlich ließe sich eine solche
Idee nur in kleinen Schritten umsetzen.
Aber nur wenn die Linke bereit ist, radikal
zu denken, kann sie die Probleme wirklich
an den Wurzeln packen.
SPIEGEL: Professor Giddens, wir danken
Ihnen für dieses Gespräch.
* Mit Redakteuren Manfred Ertel und Ulrich Schäfer in
seinem Londoner Büro.
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Ausland
TSCHETSCHENIEN
Sturm auf
Ruinen
AFP / DPA
Die Grenzen sind abgeriegelt,
Grosny wird bombardiert:
Ein Moskauer Wahlmanöver
gerät zum totalen Krieg.
Russische Patrouille vor Grosny: „Keinen Schritt weiter, wir schießen sofort“
tagsüber halten dieselben Rekruten in
schmutzstarrenden Uniformen und durchlöcherten Stiefeln auf der Fernstraße nach
Grosny die Flüchtlinge in Schach.
Als „erfolgreichen Schlag“ gegen die
islamistischen Terroristen haben Russlands
Armeeführer die Abriegelung der Tschetschenen-Republik gefeiert. Dabei haben
es ihre Soldaten vor Ort ausschließlich mit
wütenden, weinenden, verzweifelten Zivilisten zu tun. „Alles läuft nach Plan“, versichert in Moskau Premier Wladimir Putin.
Westlich der Absperrung stehen jene,
die sich im Moment der Grenzschließung
aus irgendeinem Grunde im benachbarten
Inguschien aufhielten, eine Autostunde von
Grosny entfernt. Taus Junussowa, 40, hielt
sich nur wenige Stunden zur Krebsbehandlung in Nasran auf, ihr Sohn Edelbek,
9, blieb beim Großvater im tschetschenischen Schali zurück. „Alle Tschetschenen,
die älter sind als zwölf, sind Terroristen, hat
Putin gesagt. Zählt mein Sohn auch schon
dazu?“, will die Frau in Galoschen und
schwarzer Tschetschenen-Tracht von den
russischen Posten wissen. Die schweigen.
Saibudin Huldatow wiederum will wegen seines Neffen Bagdan, 38, der neben
ihm im Auto liegt, nach Grosny zurück.
REUTERS
Bagdan ist tot, im Krankenhaus von Nasran an einer Lungenentzündung gestorben
– er hat die kalten Bombennächte im Luftschutzkeller in Grosny nicht überlebt. HulRussischer Premier Putin in Moskau
datow besitzt alle Papiere für die Über„Alles läuft nach Plan“
führung. Er hört von den Posten: „Keinen
Schritt weiter, wir schießen sofort.“
uf manches war die Tschetschenin
Für die Tschetschenen auf der anderen
Sunja Oschikowa in ihrer ersten
Seite des Kordons ist die Lage noch draFluchtnacht gefasst, nur nicht auf
matischer. Sie sitzen in der Falle – mit KinBesuch. Den ganzen Tag hatte sie gedern und Frauen, mit Verwundeten und
braucht, um sich einen Meter tief in das
den Leichen. Allein Ceda Ischanowa hat
Maisfeld zu graben. Sie hatte Planen über
nach einer Schreckensnacht mit ihren fünf
die Grube gespannt und das von den KinKindern den Grenzübertritt ins rettende
dern aufgetriebene Ofenrohr über die kleiInguschien geschafft. Als die Familie neben
ne Feuerstelle gestülpt. Da bittet jemand
der Straße Brennholz suchte, feuerten die
von draußen um Einlass.
Soldaten drei Garben aus ihren MaschiIn die Erdhütte rutschen zwei unifornenpistolen. Dann ließen sie die Frau pasmierte Jungs mit dreckverschmiertem Gesieren – für 500 Rubel, umgerechnet 36
sicht – Soldaten von der Westfront der rusMark, und ein wenig Goldschmuck.
sischen Tschetschenien-Armee. Die beiAus Süden her orgeln die Geschosse der
den, die tags zuvor mit ihren Kameraden
im inguschischen Dorf Arschpy stationierbefehlsgemäß die nahe gelegene inguten Raketenwerfer Richtung Grosny. Die
schisch-tschetschenische Grenze abgerieRuinen der tschetschenischen Hauptstadt
gelt hatten, den letzten Fluchtweg aus
werden sturmreif geschossen.
der kaukasischen Rebellenrepublik, waGeneral Gennadij Troschew, Kommanren im Schutz der Dunkelheit heimlich
deur der Ostfront gegen Tschetschenien,
aus ihrer Stellung ins Maisfeld geschlibegnügt sich nicht mit militärischen Mitchen. Sie bitten die Flüchtlingsfrau Sunja
teln: Er hat „patriotische Geschäftsleuum Brot und ein bisschen Zucker.
te“ gefunden, welche für den
Die Verpflegung ihrer TrupKopf seines tschetschenischen
pe sei viel zu knapp, Bittbriefe Tschetschenen nach Luftangriff: Moskau fürchtet Gräuelbilder
Erzfeindes Schamil Bassajew
nach Hause aber seien verboeine Million Dollar gestiftet
ten. Sie hätten auch Tauschwahaben.
re dabei: einen Kasten voller
Was sich derzeit an der
Patronen. Sold wie im Kosovo
tschetschenischen Grenze abwar ihnen angekündigt worspielt, ist für Inguschiens Präsiden, 1500 Mark im Monat.
denten Ruslan Auschew – eiKaum ein Zehntel davon benem früheren Sowjetgeneral –
kommen sie ausgezahlt plus
das Werk einer „Militärdiktavier Mark am Tag Zuschlag.
tur“, selbst im letzten Krieg
Im Krieg des Kreml gegen
habe sich Moskau „eine solche
die Kaukasier zwingt schlichBrutalität gegenüber Flüchtlinter Hunger die Verfolger des
gen nicht erlaubt“.
Nachts zu den Verfolgten. Doch
C. MORRIS / BLACK STAR
A
174
Der eigentliche Grund für die Totalblockade ist in den Ängsten der Moskauer
Führung zu suchen: Mehr noch als die
Freischärler fürchtet die Regierung Bilder,
wie sie nach der blutigen Raketenattacke
auf den Zentralmarkt von Grosny um die
Welt gingen. Weitere Belege über die ansteigende Zahl ziviler Opfer könnten den
Westen womöglich doch noch veranlassen,
Russland den Geldhahn zuzudrehen.
Deshalb verschweigen die russischen
Fernsehnachrichten auch, dass Tschetschenen-Präsident Aslan Maschadow ein
neues Verhandlungsangebot vorgelegt hat.
Kein Wort, kein Bild erscheint vom Mord
auf dem Markt in Grosny. Sie melden ebenfalls nicht, dass russische Intellektuelle gegen die Unterbrechung der Stromzufuhr
nach Tschetschenien protestieren („Todesurteil für Arme und Kranke“).
Es darf nicht bekannt werden, dass der
Menschenrechtler Sergej Kowaljow die
„Anti-Terror-Aktion“ für ein Wahlmanöver hält, das zum „totalen Krieg gegen
die gesamte tschetschenische Bevölkerung“ führt. Die Popularität von Premier
Putin wächst denn auch dramatisch: Inzwischen ist er der beliebteste Anwärter
auf das Präsidentenamt. Russlands Medien
stellen „die Tatsachen auf den Kopf“, beschwerten sich die Tschetschenien-Korrespondenten der drei wichtigsten Moskauer TV-Sender.
Als Said-Hussein Zarnajew, freier Mitarbeiter des russischen Fernsehprogramms
ORT, Bilder vom Bombenangriff auf die
Dörfer Samai-Jurt und Noschai-Jurt nach
Moskau überspielte, „da haben die Leute
vom Sender nur höhnisch gelacht“, sagt
er. Jedes Videoband werde von einem Zensor geprüft.
Aber auf allen Kanälen des russischen
Fernsehens tanzt ein fröhliches Feldballett
zur Truppenbetreuung an der Front. Mosdok, das russische Hauptquartier vor der
tschetschenischen Nordwestgrenze und
der wichtigste Luftwaffenstützpunkt, ist
bereits der eigenen Propaganda erlegen –
es herrscht Siegesstimmung.
Ruslan Ussujew, in Nasran lebender
Flüchtling aus Grosny, bekommt sie zu
spüren. Er hat sich in seinem Auto über die
Berge bis in die Garnisonstadt durchgeschlagen, als er seinen Ausweis vorzeigen
muss. „Was“, schreit ein Hauptmann mit
hochrotem Kopf, „du wagst dich als Tschetschene hierher? Natürlich ist das Auto geklaut, drei Tage Haft, zur Feststellung deiner Personalien.“ Dann begnügt er sich mit
200 Rubel Wegegeld, umgerechnet 14 Mark.
„Diesmal nehmen wir Grosny in die
Zange und drehen euch ganz, ganz langsam die Luft ab“, gibt er dem Tschetschenen schnell noch seine Sicht der
Dinge mit auf den Weg: „Auch der letzte tschetschenische Terrorist wird vernichtet, und wenn dabei ein paar zehntausend Menschen über die Klinge
springen.“
Christian Neef
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AP
REUTERS
Ausland
Learjet-Absturzstelle in South Dakota, Pilotin Bellegarrigue: Letzter Funkkontakt über Gainesville
USA
„Ein fliegender Sarg“
Der vierstündige Geisterflug eines Learjets schockte Amerika.
Unglücksursache war vermutlich ein Druckverlust,
der auch für Passagiere von Linienmaschinen tödlich sein kann.
A
m vergangenen Mittwoch begannen Bagger, einen Graben um einen
drei Meter tiefen und neun Meter
breiten Krater auszuheben im Weideland
nahe Mina im US-Staat South Dakota. Mitarbeiter der amerikanischen Unfallbehörde National Transportation Safety Board
(NTSB) wollen sich wie Archäologen nun
von den Rändern des Grabens aus zu den
zerfetzten Überresten eines Jets vorarbeiten. Am Montag um 13.14 Uhr Ortszeit hatte sich die Maschine fast senkrecht in den
weichen Grund gebohrt.
„Um mögliche Spuren für den Unfallhergang nicht zu zerstören“, erklärte der
Leiter der NTSB-Ermittler Robert Francis, sei äußerste Vorsicht bei der Bergung
geboten. Wie Teile eines Puzzles sollen die
Fetzen verbogenen und gerissenen Metalls
anschließend in einem Hangar ausgebreitet werden. Es dürfte viele Monate dauern,
so Francis, bis die Ursache für den Geisterflug des Learjets 35 zu rekonstruieren sei.
Wie ein fliegender Holländer war die
Maschine per Autopilot vier Stunden lang
über Amerika geflogen – Besatzung und
Passagiere vermutlich tot. An Bord war
auch das US-Golf-Idol Payne Stewart.
Die Piloten des 23 Jahre alten Jets der
Betreiberfirma Sunjet Aviation – Michael
Kling, 43, und Stephanie Bellegarrigue, 27
– hatten sich 25 Minuten nach dem Start in
Orlando in Florida zum letzten Mal über
176
Gainesville im Norden des Bundesstaates
gemeldet. Für den Flug nach Dallas in Texas erteilten die Lotsen den Piloten die
Genehmigung, auf 39 000 Fuß (11 900 Meter) zu steigen.
Aber als der Jet 37 000 Fuß erreichte, mutierte die eben noch kontrollierte
Maschine zum Geisterflieger. Der Funkkontakt riss ab, das Flugzeug driftete
vom ursprünglichen Kurs nach Nordwesten ab.
Da forderte die Luftaufsichtsbehörde Federal Aviation Administration Kampfmaschinen bei der Air-Force an – als Eskorte
für den offenbar nur noch vom Autopiloten gesteuerten Learjet. Wäre der Privatflieger auf eine Stadt zugestürzt, hätten sie
K A N A D A
SOUTH
DAKOTA
Absturzstelle
Mina
U S A
500 km
geplantes Ziel
Dallas
Gainesville
Start
FLORIDA Orlando
TEXAS
Golf von Mexiko
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ihn auf Befehl von US-Präsident Bill Clinton, nur er könnte diese Order erteilen,
abschießen müssen.
Noch während des Irrfluges erfuhr der
Fernsehsender CNN von dem Drama über
den Wolken, Millionen von Amerikanern
verfolgten die Live-Berichterstattung – unter ihnen auch Tracey Stewart, die Frau
des prominenten Golfspielers. Ihr Mann
hatte den Jet gechartert. Gemeinsam mit
seinen zwei Managern und einem weiteren
Fluggast wollte Stewart zum Golfturnier
in Houston reisen. Über Handy versuchte
die Verzweifelte noch, ihren todgeweihten
Ehemann zu erreichen.
2250 Kilometer legte der Geisterjet zurück, fünf Kampfflugzeuge lösten sich ab,
bis die Turbinen der Privatmaschine über
menschenleerem Gebiet trocken geflogen
waren. Air-Force-Piloten, die sich bis auf
wenige Meter genähert hatten, waren es,
die erste Hinweise auf die mutmaßliche
Unglücksursache gaben.
Die Scheiben des Jets seien milchigblind
gewesen, von Eis überzogen, sagten sie.
Deshalb glaubt Chefermittler Francis, ein
plötzlicher Druckabfall in der Learjet-Kabine könne des Rätsels Lösung sein. Allerdings sei das vorerst nur eine Hypothese,
schränkte Francis ein, das NTSB werde
„sich allein von den aus den Wrackteilen
ermittelten Fakten leiten lassen“.
Doch außer einem Triebwerk und einem
Flügel, die weitgehend intakt geborgen werden konnten, findet sich am Unfallort nur
zerrissenes Metall. Ob die handtellergroßen
Fetzen reichen, um die Unglücksursache
zweifelsfrei zu ermitteln, erscheint fraglich.
Der Einsatz einer Black Box, die Dutzende von Flugdaten und technischen Parametern aufzeichnet, war für das Geschäftsflugzeug nicht vorgeschrieben. Der
Voicerecorder könnte selbst dann, wenn er
gefunden würde, kaum Aufschluss geben:
Derartige Geräte erfassen nur die letzten 30
Werbeseite
Werbeseite
Ausland
AP
Unglücksmaschine Learjet 35: Verkaufsofferte im Internet
wäre dies, wie NTSB-Ermittler erklärten,
geschehen. Allerdings sei eines der Ventile
zwei Tage vor dem Absturz erneuert worden, weil es nicht richtig funktionierte.
Piloten werden im Simulator darauf trainiert, bei einem lebensgefährlichen Druckabfall rasch zu reagieren. Normalerweise
entspricht der Kabinendruck in einem Passagierjet etwa dem der Luft in 2000 Meter
Höhe über dem Meer. Sackt er jäh unter
178
Die „time of useful consciousness“, wie
Piloten die Zeit bis zur Ohnmacht nennen,
fällt mit der Höhe rapide: Sind es bei plötzlichem Druckverlust in 6000 Meter Höhe
noch zehn Minuten, so bleiben Piloten bei
12 000 Metern – übliche Reise-Höhe auf
Transatlantik-Flügen – nur noch 15 Sekunden, um zu reagieren.
In etwa dieser Höhe ereilte auch den
Unglücksjet das Verhängnis. Sollten Crew
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und Passagiere zu diesem Zeitpunkt in Ohnmacht gefallen
sein, so war „der Learjet kaum
mehr als ein fliegender Sarg“,
wie ein US-Experte erklärt: Der
Sauerstoffmangel in solcher
Höhe führe nach wenigen Minuten zum Hirntod.
So etwas passiert in Passagierund Geschäftsflugzeugen sehr
selten. Vor drei Jahrzehnten ermittelte die FAA einen Druckabfall alle 54 300 Flugstunden.
Neuere Untersuchungen gibt es
nicht, doch treten derartige Unfälle heute eher noch seltener auf.
Aber wenn es zu einem
Druckabfall kommt, sind JetPassagiere heute in größerer Gefahr als früher. Denn aus ökonomischen Gründen fliegen Verkehrsmaschinen immer höher.
Moderne Geschäftsflugzeuge
wie neue Learjets oder Gulfstreams erreichen bereits Höhen von über
15 000 Metern. Der Grund: In größerer
Höhe fällt der Luftwiderstand und damit
der Treibstoffverbrauch. Das ÜberschallPassagierflugzeug Concorde kann im Reiseflug gar über 60 000 Fuß erreichen.
Bei Höhen von über 48 000 Fuß aber, so
der Flugmediziner Heiko Welsch vom Flugmedizinischen Institut der Luftwaffe, ist jeder Mensch ohne Druckanzug extrem gefährdet. Zwar muss bei Flügen mit der
zweifach schallschnellen Concorde einer
der Piloten ständig mit angelegter Sauerstoffmaske fliegen, doch das würde die Passagiere im Falle eines Druckverlusts wohl
nicht vor dem Tod bewahren. Flugmediziner geben ihnen bei Druckabfall in Höhen
von 50 000 Fuß kaum Überlebenschancen.
„Bei 60 000 Fuß“, so Welsch, „geht für
Flugmediziner die Raumfahrt los.“ Bei
63 000 Fuß kocht im Falle eines Druckverlustes das Blut – keine Chance.
Schon bei einer Höhe von 40 000 Fuß
kann Gewebe im Körper zerreißen. Die
„wasserstoffgesättigten“ Gase in Lunge
und Darm, so Welsch, dehnen sich dann explosionsartig auf das Siebenfache ihres ursprünglichen Volumens aus, in Höhen zwischen 50 000 Fuß und 60 000 Fuß gar auf
das 10- bis 20-fache. Ob die Menschen an
Bord des Learjets innere Verletzungen davontrugen, wird sich vermutlich nie ermitteln lassen. Zu sehr wurden die Körper
beim Aufprall zerfetzt.
Während Amerika noch um sein GolfIdol Stewart trauerte, das Sternenbanner
auf halbmast flatterte, empörte viele eine
makabre Panne des Learjet-Eigners Sunjet
Aviation aus Sanford in Florida:
Auf einer Internetseite bot Sunjet die
Unglücksmaschine zum Verkauf an – „innen und außen in erstklassigem Zustand“.
Am Tag nach dem Absturz in South Dakota war die Annonce noch immer nicht
gelöscht.
Ulrich Jaeger
DPA
Minuten der Cockpit-Gespräche
in einer Endlosschleife. Da der
Jet vier Stunden lang führerlos
flog, kann das Magnetband keinen Hinweis mehr auf die entscheidenden Minuten geben.
Gewebefetzen der Learjet-Insassen, die im Umkreis des Einschlagkraters gefunden wurden,
werden derzeit auf Spuren von
Drogen, vor allem aber auf
Rauchbestandteile wie Kohlenmonoxid untersucht. Die würden auf einen Brand an Bord
schließen lassen. Ob die Opfer
nach einem Druckabfall in der
Kabine erstickten, lässt sich
so hingegen nicht feststellen.
Tests für die wahrscheinlichste
der Theorien, so einer der beteiligten Pathologen, „lassen sich
in diesem Fall nicht anwenden“.
Da die Kampfjet-Piloten an Unfallopfer Stewart: Anruf der verzweifelten Ehefrau
dem Geisterflieger keine äußeren Schäden wie zerborstene oder fehlen- diesen Wert, werden die Piloten durch opde Fenster erkennen konnten, scheint der tische und akustische Signale alarmiert.
Druck jedoch nicht plötzlich und explo- Dann müssen sie sofort Sauerstoffmasken
sionsartig abgesackt zu sein.
über Mund und Nase ziehen und den Jet
Möglich ist, dass die Versiegelung eines auf eine Höhe von etwa 10 000 Fuß
Fensters oder der Tür versagte, denkbar drücken.
auch, dass feine Risse in der Druckkabine
In den Kabinen von Passagiermaschinen
des 23 Jahre alten Flugzeugs zu einem fallen dabei automatisch Atemmasken aus
„fließenden Druckabfall“, wie Experten der Decke, die alle Passagiere vor Schädas nennen, führten.
den durch Sauerstoffmangel schützen solAuch zwei Ventile des Learjets, die den len. Entscheidend für die Folgen eines
Druck in der Kabine regeln, gelten als mög- Druckabfalls sind dessen Tempo und die
liche Unfallauslöser. Nachdem der Herstel- Flughöhe. Je rascher der Druckabfall, desler der Ventile eine potenzielle Fehlerquel- to drastischer die Folgen. Je höher das
le ausgemacht hatte, ordnete die US-Luft- Flugzeug fliegt, desto verheerender der
aufsichtsbehörde 1995 an, dass sie auszu- mögliche Ausgang für Crew und Passatauschen seien. Auch bei dem Unglücksjet giere.
Werbeseite
Werbeseite
E. WIEDEMANN / DER SPIEGEL
Ausland
BALKAN
Orchester aus
Solisten
Bodo Hombach stößt bei seinem
Versuch, Ordnung in den
Wirrwarr der Hilfsapparate
für Südosteuropa zu
bringen, auf Widerstand.
N
ichts zu essen an Bord, der Kaffee
ist alle, aus der Klimaanlage zischen
abwechselnd eiskalte und brühwarme Luftduschen. Wenn einer der mitfliegenden Soldaten pinkeln will, muss
Bodo Hombach die Beine anziehen, um
den Weg zum Urinal hinter der Persenning
freizumachen. Dazu fünf Stunden lang Motorenlärm, dass sich das Trommelfell biegt.
Reist so des deutschen Bundeskanzlers
bester Mann? Warum tut er sich das an?
Der derbe Landserkomfort der Transall
hebt das Pionierbewusstsein des „Sonderbeauftragten für den Stabilitätspakt in Südosteuropa“. Außerdem ist es billiger als
zehn Linienflüge für den EU-Koordinator,
seine fünf Referenten und vier Leibwächter. Die Transall soll Fracht aus Kreta
holen. Eine Zwischenlandung im Kosovo
kostet nur ein paar Mark Landegebühren
extra.
Bevor Hombach das Flugzeug durch die
Frachtluke verlässt, gehen seine Leibwächter draußen mit entsicherten Maschinenpistolen in Stellung. Eine überflüssige
Vorsichtsmaßnahme. Das Flugfeld von
Pri∆tina liegt – abgesehen von ein paar britischen und amerikanischen Wachsoldaten
– fast menschenleer im lauwarmen Mit180
tagsdunst. Hier wünscht Bodo Hombach
niemand was Böses. Hier nicht.
Im Uno-Regionalhauptquartier im Zentrum der Stadt trifft der Brüsseler Koordinator Hombach zunächst den Uno-Koordinator Bernard Kouchner. Mit ihm wird er
erörtern, „wie man aus Projekten Baustellen macht“ (Hombach).
Kouchner ist offensichtlich nicht erfreut
über den Besuch. Es ist ja kein Geheimnis:
Der Mann aus Avignon und der Macho von
der Ruhr pflegen keine Herzensbeziehung.
Immerhin: „Das Verhältnis der beiden entspannt sich langsam“, sagt hinterher einer
der Beisitzer.
Hombach gibt sich betont verbindlich.
Jetzt bloß nicht den Großrevisor spielen.
Aber er nimmt auch Anstoß, wenn er etwas
für anstößig hält. Das Kosovo muss für die
Wintermonate mit katastrophalen Engpässen in der Stromversorgung rechnen, weil
der Brennstoffnachschub nicht klappt.
Das macht ihn wütend: „Die haben hier
mit die reichsten Braunkohlevorkommen
Europas. Und die Leute müssen frieren,
weil die Kohle nicht rausgeholt werden
kann.“ Im Januar wolle Kouchner eine
Energiekonferenz einberufen. „Im Januar,
wenn der Winter fast vorbei ist. Na, ja, der
Mann ist Arzt.“ Den letzten Satz nuschelt
er so leise, dass er bei Beschwerden hinterher sagen kann, er sei missverstanden
worden.
Der Augenschein weckt Zweifel daran,
dass das Wiederaufbaumandat in guten
Händen ist: Einige Büros sehen noch immer so aus wie nach dem letzten NatoBombardement im Juni. Kaputte Türen,
faulender Aktenmüll zwischen umgekippten Schränken; im zweiten Stock hängen
spitze Glasscherben wie Fallbeile in den
Fensterrahmen.
Die CDU-Europaabgeordnete und Balkan-Spezialistin Doris Pack hat ein fabeld e r
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K. MÜLLER
Balkan-Koordinator Hombach in Pri∆tina: Wer sich kooperativ zeigt, erhält Sonderrationen
Aufbaueinsatz der Bundeswehr im Kosovo
„Multiplikation der Strukturen“
haftes Patentrezept für das Kosovo: Man
brauche jetzt einen, der bestimmt, und viele Macher, die das Richtige tun. „Das Labyrinth der Hilfsorganisationen ist völlig
unüberschaubar. Die Menschen haben die
Nase voll von runden Tischen. Sie wollen
Ergebnisse.“ Frau Pack sagte aber nicht,
wie sie sich die Lösung vorstellt.
Im Kosovo, so hat der ehemalige EUKommissionspräsident Jacques Santer gesagt, habe eine „Multiplikation der Strukturen ohne präzise Konsequenzen“ stattgefunden. Richtig. Doch die Konfusion
müsste beispielsweise Kouchner nicht daran hindern, sich der Sanierung der Elektrizitätswerke sowie der Braunkohlegruben zu widmen und das Kosovo winterfest
zu machen. Es fehlt ihm nicht an Geld und
Entscheidungsbefugnis, um das zu tun, was
er für nötig erkannt hat.
Außer dem Meeting mit Kouchner stehen nacheinander Treffen mit dem serbisch-orthodoxen Bischof Artemije sowie
mit den Albanerführern Ibrahim Rugova
und Hashim Thaçi auf Hombachs Agenda.
Der Bischof erscheint nicht, angeblich, weil
er sich bedroht fühlt. Und die zwei Politiker, so ein Teilnehmer der Blitzkonferenz,
wussten offenbar nichts von den geplanten
Tagesordnungspunkten. Sie fanden sich im
Gewirr der Zuständigkeiten einfach nicht
mehr zurecht.
Hombach bleibt dabei: „Wir haben hier
unten ein Orchester aus prima Solisten,
die müssen nur richtig orchestriert werden.“ Nur, was tun, wenn sie sich nicht
orchestrieren lassen wollen?
Hombachs Stab zählt 28 Mann aus 15
Nationen. Alles ausgesprochene „Glücksfälle“. Jetzt muss er das geballte Glück nur
noch zweckdienlich einsetzen.
Vorletzte Woche war Hombach in Sofia,
Skopje und Tirana. Er sagt, dort habe er
viel Sympathie und viel Verständnis gefunden. Es wäre gut gewesen, wenn er
auch Belgrad besucht hätte. Denn ohne
die Beteiligung der Serben ist der Balkan nicht sanierbar. Der bulgarische und
der rumänische Außenhandel liegen darnieder, weil die westliche Wertegemeinschaft nicht mit Serben-Zar Slobodan
Milo∆eviƒ über die Räumung der blockierten Donau und über den Wiederaufbau
der zerstörten Brücken in Novi Sad verhandeln will. Ein Hombach-Mitarbeiter:
„Die serbische Kuh steht mit allen vieren
fest auf dem Eis.“
Um die Blockade zu unterlaufen, hat
sich Hombach im südungarischen Szeged
mit oppositionellen Bürgermeistern aus 20
serbischen Städten getroffen, um sie zu
Partnerschaften mit deutschen Städten zu
animieren. Wer sich kooperativ zeigt, soll
mit Sonderrationen Strom und Heizöl für
den Winter belohnt werden.
Mit dem Bürgermeister der Industriestadt Novi Sad schloss Hombach ein Abkommen: Die Stadtverwaltung lässt die
Pontonbrücke zwischen dem Zentrum
links der Donau und der alten Festung
Petrovaradin abräumen; dafür soll ihr die
EU eine richtige Brücke bauen, unter der
auch Schiffe hindurchfahren können.
Nur, die Pontonbrücke ist Eigentum der
Zentralregierung in Belgrad. Niemand wird
es wagen, sie ohne die Zustimmung von
Milo∆eviƒ abzureißen. Und diese Zustimmung ist derzeit nicht erhältlich. Bodo
Hombach verfolgt das Projekt trotzdem
weiter. Er wehrt sich gegen die These, dass
die normative Kraft politischer Ranküne
auf dem Balkan noch endgültiger sein soll
als in Berlin.
Hombach wehrt sich auch gegen den
Verdacht, sein Kanzler habe ihn zur EU
abgeschoben, damit er dort seine Immobilienaffären aussitzen könne. Ganz das Gegenteil sei der Fall gewesen. Er selbst habe
sich um den Job beworben. Doch der
Kanzler habe ihn erst ausgelacht. Er sagte:
„Ich glaube, du bist bekloppt.“ Tags darauf
habe Schröder ihn gefragt: „Sag mal,
meinst du das ernst?“
Um zu beweisen, wie ernst er seine Südosteuropa-Mission nimmt, will er sich zu
seinen Wohnungen in Brüssel und Mülheim
an der Ruhr demnächst noch eine dritte in
Budapest leisten.
Erich Wiedemann
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Ausland
SCHWEIZ
Schlaue
Verrenkung
Großmäulig fordert Wahlsieger
Blocher das Ende der seit
40 Jahren bewährten Koalition.
Doch für einen Rechtsruck
fehlt ihm – noch – die Kraft.
D
AP
as hektische Treiben von nervösen
Kameraleuten, Journalisten und
Fotografen erinnerte an Auftritte
von Filmstars und Popmusikgrößen. „Wie
eine Dampfwalze“ (so das Boulevardblatt
„Blick“) bahnte sich am vorletzten Sonntag Wahlsieger Christoph Blocher, 59, im
Zürcher Fernsehstudio einen Weg zum Mikrofon. Der Milliardär und Volkstribun, der
seinen Anbetern einredet, die Heimat sei
durch Horden von Steuereintreibern und
kriminellen Asylbewerbern in Gefahr, war
gekommen, um einen „historischen Wahlsieg“ zu feiern.
Blochers nationalkonservative Schweizerische Volkspartei (SVP), bislang hinter
Freisinnigen und Christdemokraten die
dritte bürgerliche Kraft im Parlament und
mit einem Sitz Juniorpartner in der siebenköpfigen Regierung, gewann diesmal
im 200-köpfigen Nationalrat 15 Sitze hinzu.
„Die Schweiz“, resümierte die Lausanner
„24 heures“ am Morgen nach dem Wahltag, „wacht mit Kopfweh auf.“
Seinen Triumph erreichte der heimliche
Parteiführer Blocher, der das Präsidium
von dem Getreuen Ueli Maurer verwalten
lässt, mit fremdenfeindlichen Angstparolen, mit der Forderung nach Steuersenkungen und mit Schmähreden gegen jede
Öffnung des Landes zur Uno oder zur EU.
Auch stehen keinem anderen Politiker der- die Alles-oder-nichts-Haltung Blochers haart unbeschränkte Mittel für seine Propa- ben seine ganze Partei erfasst“, kommentierte der „Tages-Anzeiger“. „Je mehr
gandamaschine zur Verfügung.
Folgten früher vor allem Bauern, Hand- Macht die SVP hat, desto weniger weiß sie
werker, Kleinunternehmer und frustrierte damit anzufangen.“
Auch sein Durchmarsch auf der natiokalte Krieger dem Neutralitätsapostel, zog
er mit seinem Ruf nach weniger Steuern nalen Ebene wird sich selten in die
diesmal sogar Bankiers in sein Lager. Als großmäulig versprochene rechtsbürgerliBonus garantierte er ihnen, dass er die che Politik ummünzen lassen, zumal sein
Schweiz aus der EU raushalten werde und Erfolg aus der Nähe betrachtet nicht so
sie dadurch ihre Anziehungskraft als Fi- überwältigend ist. Mehr als die Hälfte seiner Sitzgewinne holte er bei rechten Splitnanzdrehscheibe behalten könne.
Predigt und Praxis des Pfarrersohnes tergruppen, die keine Rolle mehr spielen.
stimmen allerdings selten überein. Er ist Zudem profitierte er von der Arithmetik
berüchtigt für schnelle Wendemanöver und des Verhältniswahlrechts. Die drei großen
schlaue Verrenkungen. So verkündete er Blöcke in der Volksvertretung – links und
jedem, der es hören will, er habe „mit Ras- grün, bürgerliche Mitte und rechts – sind
sismus, Antisemitismus und Revisionismus praktisch gleich stark geblieben.
Deshalb ist absehbar, dass die beiden
nichts am Hut“.
Doch als er im März 1997, auf dem Parlamentskammern am 15. Dezember die
Höhepunkt der Debatte über das Nazi- seit 40 Jahren gültige Zusammensetzung
gold und die herrenlosen Vermögen von der Regierung aus zwei Sozialdemokraten,
Holocaust-Opfern, von einem Anhänger – zwei Freisinnigen, zwei Christdemokraten
zum Dank für den Einsatz „gegen jüdi- und einem SVP-Vertreter bestätigen wersche Machenschaften“ – das Werk eines den. „Weder für eine Mitte-Rechts-Regienotorischen Holocaust-Leugners erhielt, rung ohne Sozialdemokraten noch für
beendete er seinen Dankbrief mit: „Wie einen zweiten SVP-Sitz und den RausRecht er doch hat.“ Das Buch habe er nie schmiss eines sozial- oder christdemokragelesen, rechtfertigte er sich vor der Wahl tischen Ministers gibt es im neuen Parlaund spielte das verfolgte Unschuldslamm, ment eine Mehrheit“, analysierte die freidas sich gegen eine „perfide Schlamm- sinnige Parteiführung das Wahlergebnis.
schlacht der Medien“ wehren muss.
Sitzverteilung im neuen Schweizer Nationalrat
Im politischen Alltag sind
in Klammern: bisherige Sitze
die Erfolge des gelernten
ChristlichFreisinnigLiberalLandwirts und promovierDemokratische Demokratische Demokratische
ten Juristen bislang bescheiVolkspartei
Partei
Partei
den. Im Zürcher KantonsGrüne 9 (9)
6 (7)
35 (34)
43
(45)
parlament, wo SVP und SozialdemoFreisinnige über die absolu- kratische
te Mehrheit verfügen, ist Partei 51 (54)
Schweizerische
Volkspartei
von einer „dezidiert bür44 (29)
gerlichen Politik“ nichts zu
sehen, weil sich die Parteien Partei
sonstige
200 Sitze
nicht einigen können. „Das der Arbeit 3 (3)
9 (19)
Sendungsbewusstsein und
Wahlsieger Blocher, Volksparteichef Maurer: „Die Quittung folgt 2003“
182
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Allerdings werden Blocher und sein lautstarker Anhang die in den letzten Jahren erprobte „Koalition der Vernunft“ (so die sozialdemokratische Parteichefin Ursula
Koch) zur Rücksichtnahme zwingen – mit
Widerstand in den Kommissionen, mit effektvollen Auftritten im Plenum gegen jede
Annäherung an Uno oder EU und, wenn
nötig, mit Volksabstimmungen. „Der nächste Wahlkampf“, ließ er seine Leute wissen,
„hat schon begonnen.“ Und er droht: „Die
Möglichkeit, eine Politik rechts der Mitte
zu machen, ist da. Ergreifen die anderen
bürgerlichen Parteien diese nicht, werden
sie 2003 die Quittung dafür erhalten.“
Blochers Auftritte seit der Wahl alarmierten die sozialdemokratische Bundespräsidentin Ruth Dreifuss. Auch Hitler,
warnte sie im Fernsehen, habe einen ersten
Wahlerfolg gehabt. „Wir dürfen nicht zulassen, dass die Demokratie von ihren Gegnern missbraucht wird.“
Jürg Bürgi
R. SIGHETI / REUTERS
Ausland
200 km
UKRAINE
Leprakranke auf dem Dorfplatz von Tichile≠ti*: Wie Wölfe in den Wald gebracht
Am Rand des Donaudeltas liegt die Leprakolonie Tichile≠ti. Seit
dem Ende des Kommunismus steht es den Aussätzigen
frei zu gehen. Doch sie bleiben – aus Altersschwäche, Scham
oder Angst vor der draußen drohenden Not.
Barbu Ignatescu, Direktor der Leprakolonie Tichile≠ti.
Seit 1929 leben hier Aussätzige aus ganz
Rumänien und dem angrenzenden, heute
ukrainischen Bessarabien. Beinahe 200 Insassen waren es anfangs. Auf umgestürzten
Holzkreuzen oben am Friedhofshügel verwittern die Namen der Toten. Drunten, in der Glasvitrine von Doktor Ignatescu, sind 27 Dossiers verblieben – die Akten der letzten
Überlebenden.
Tichile≠ti ist ein Museum
der alten Aussätzigenkolonien auf dem Kontinent:
streng abgeschieden, mit gepflegten Alleen und Greisen
auf schattigen Holzbänken,
ist hier durch erzwungenen
Weltverzicht ein Gemeinwesen entstanden.
Diktator Ceau≠escu (1989)
L. DELAHAYE / SIPA PRESS
orbei an Pferdewagen und Ochsenkarren führt der Weg durchs Grenzland zur Leprakolonie. Im Dunst
drüben, am anderen Ufer der Donau,
sind die ersten Weiler der Ukraine zu erkennen. Auf rumänischer Seite mühen
sich Bauern um Wein, Mais und Sonnenblumen. Bei Kilometer 132 weist ein Straßenschild nach rechts: Tichile≠ti
Hospital.
Am Talschluss taucht im
Mischwald ein Häuflein gekalkter Häuser auf. Die Eisentore am Eingang zum
Gelände stehen offen, das
Wächterhäuschen ist verwaist. Ein massiger Mann im
Arztkittel kommt näher:
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Bukarest
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na
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BULGARIEN
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Karpaten
Tichile≠ti
Sch wa
„Nur der Knochen
bleibt stehen“
* Mit dem Kind einer Krankenschwester.
MOLDAWIEN
RUMÄNIEN
RUMÄNIEN
V
UNGARN
Es gibt eine Kirche, eine Kapelle und
eine Art Dorfplatz. Das Regiment führen
ein Arzt und Krankenschwestern in weißen
Kitteln. Im fahlen Licht des frühen Morgens balsamieren sie offene Wunden und
die Seelen der Kranken.
Vasile ist 68 und 1945 in einem Viehwaggon nach Tichile≠ti gebracht worden. Gekrümmt, mit Hut und dunkler Brille, setzt
er Langmut gegen das Leiden: „Glaubst
du“, fragt er und reckt Stümpfe empor, die
einmal Hände waren, „diese Finger sind
von heute auf morgen abgefallen? Nein.
Einer nach dem anderen. Stück für Stück.“
Außer den Fingern hat Vasile der Lepra
einen Unterschenkel geopfert und den
Großteil seines Augenlichts – nicht aber
das Gedächtnis. Er ist die Datenbank der
Kolonie. Seine Mitinsassen nennen ihn
„Bürgermeister“.
Vasile kennt alle, die nun nach und nach
über den Hauptplatz geschlendert kommen, ihre Lebensgeschichte, ihre Krankengeschichte, ihre Kose- und Spottnamen.
Die wahre Identität wollen die Aussätzigen
gehütet sehen – aus Angst, ihre Verwandten draußen könnten Nachteile erleiden.
Vasile stellt vor: „Kunta“ Kinte, bürgerlich
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FOTOS: R. SIGHETI / REUTERS
Leprakranke Florusa (2. v. l.), Grigore (r.) mit Leidensgenossen, Weinbauer Vasile (mit Hut): Totgeschwiegen, versteckt und bekämpft
Christachi, seiner Arbeitswut und verschmutzten Kleider wegen nach dem TVSklaven gleichen Namens benannt; der
„Barsch“, bürgerlich Grigore, ein noch junger und trinkfester Zimmermann aus dem
nahen Donaudelta; die „Baptistinnen“
Iufimia und Ustina, zwei fromme Alte; und
„die Mandoline“, wortreich klagend Vasiles Nachbarin am Hang.
Sie alle gelten fachsprachlich als „ausgebrannte Fälle“ – nicht mehr ansteckend,
weil mit einer Mischung aus Antibiotika
behandelt. Doch ihre zuvor vom Erreger
befallenen Nervenzellen sind tot, Tastsinn
und Schmerzgefühl verschwunden. Die geringste Verletzung, Erfrierung oder Verbrennung genügt, und das Fleisch verfault
ihnen am lebendigen Leib.
Lepra in Europa? Seit Mitte der achtziger Jahre ist die Zahl der Kranken weltweit
von sieben Millionen auf eine Million zurückgegangen. Nur einige hundert davon
sind auf dem Kontinent gemeldet. Die Aussätzigen von Tichile≠ti sind hoch betagt
oder stammen aus abgelegenen Dörfern, in
denen die Scham vor Entdeckung den zeitigen Gang zum Arzt verhindert hat.
Ein Serum, mit dem das „Mycobacterium leprae“ prophylaktisch bekämpft werden könnte, ist bis heute nicht gefunden.
Der Lepra-Erreger breitet sich bevorzugt
unter Armutsbedingungen aus und bei 33
Grad Wärme – was dem sommerlichen Normalwert im Donaudelta entspricht.
In dessen oft nur wasserseitig zugänglichen Dörfern sind viele der Patienten geboren. Die Baptistinnen in ihren mit Heiligenbildern geschmückten Häusern am
Hügel sind als Kinder im Delta erkrankt
und in Tichile≠ti, wie sie sagen, durch gottgefälligen Lebenswandel alt geworden:
„Die Lepra ist wie ein verwöhntes Weib“,
sagt Iufimia: „Sie will, dass du gut isst, auf
dich achtest, dich nicht gehen lässt.“
Folgerichtig waren die Aussätzigen im
öffentlichen Leben Rumäniens bis 1989
nicht existent. Mit karpatenkommunistischer Beharrlichkeit meldete das Regime
von Nicolae Ceau≠escu Jahr für Jahr an
die Statistiker der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Lepra-Quote Null.
Denn die biblische Geißel der Sünder, in
Wahrheit eine Krankheit der Armen, der
Mangelernährten, der auf engem Raum
von verschmutztem Wasser Lebenden, hätte schlecht zur Propaganda vom sozialistischen Paradies im Reich Ceau≠escus gepasst. Sie wurde totgeschwiegen, versteckt
und bekämpft.
Nur Professor Pavel Vulcan, der jetzt,
knapp 80-jährig, noch immer in seinem winzigen Bukarester Kabinett residiert, kennt
die Kranken von Tichile≠ti beim Namen
und ihre Geschichte. Von 1950 an, sagt er,
„bin ich mit dem Pferdewagen ausgerückt“.
Er habe in abgelegenen Dörfern Lepraverdächtige getestet und, im Fall des Falles,
einweisen lassen. Worum es ging, erfuhren
fast alle Neuankömmlinge erst in Tichile≠ti.
„Warum bringt ihr mich in den Wald wie
einen Wolf?“, hat Iufimia ihren Eltern geschrieben. Und der Bürgermeister erinnert
sich: „Als ich das Lager sah, war mir klar,
dass ich hier für den Rest meines Lebens
bleiben würde. Natürlich habe ich ge-
Lepraarzt Ignatescu
Visionen von Buße in der Kolonie
weint. Nicht einmal meine Mutter wusste,
wo ich bin.“
„Ich war gegen die Isolation“, sagt Professor Vulcan heute: „Die Menschen hätten
zu Hause behandelt werden können.“
Aber Leprakranke seien damals wie Vogelscheuchen betrachtet worden.
Die Patientendaten kamen im rumänischen Gesundheitsministerium unter Verd e r
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schluss. Noch nach 40 Jahren Kommunismus soll die Sache so geheim gewesen sein,
dass der neurotisch Ansteckung fürchtende
Staats- und Parteichef nicht im Bilde war:
„Ceau≠escu hat nichts davon gewusst“, sagt
Victor Ciobanu, bis 1989 Gesundheitsminister im Reich des „Conducators“.
Grigore, mit 34 Jahren jüngster Bewohner der Leprakolonie, hat seinen großen
Führer trotzdem persönlich gesehen. 1978
war’s, zur Werfteröffnung in Sulina am
Schwarzen Meer. Ceau≠escu kam, das Volk
stand Spalier, und mittendrin er, Grigore,
der begeistert mit seiner verkrüppelten linken Hand winkte und klatschte.
Keiner habe etwas bemerkt damals, sagt
er. Die Furcht, entdeckt zu werden, hat er
erst später verspürt und ins neue Rumänien
mitgenommen. Fährt Grigore heim nach
Sulina, wie neulich zum Flottenfest im August, dann erzählt er Freunden von früher,
er arbeite das Jahr über auswärts als Zimmermann. Und die verkrüppelte Hand?
„Arbeitsunfall“, antworte er meistens.
Splitter sorgsam verdrängter Wirklichkeit kommen zum Vorschein, wenn die
Kranken sich öffnen. Sie erzählen dann
Geschichten, die von der Angst handeln, in
der neuen, marktwirtschaftlich orientierten
Gesellschaft Ballast zu sein, ein Stigma gar
für den Ehepartner oder die Kinder
draußen.
Die Mandoline, eine ausgezehrte Frau
von Ende sechzig, ist nach langen Jahren
draußen bei ihren Töchtern zurück in die
Kolonie gekommen, weil die Krankheit
wieder aufbrach: „Es frisst meine Gelenke“, sagt sie: „Das Fleisch fällt einfach ab.
Nur der Knochen bleibt stehen. Dann
kommt der Doktor und schneidet ihn ab.“
Letzteres sei Einbildung, sagt eine der
Krankenschwestern. Der Knochen lasse
sich am Ende „einfach so herausziehen“.
Auch wenn die Mandoline verkünde, ihr
einziges Glück seien die gesunden Kinder,
verweigere sie die Wahrheit. Eine der Töchter sei gleichfalls an Lepra erkrankt.
Nicht die alten Fälle seien das Problem
in Ländern wie Rumänien, sagen westliche
Experten. Die Neuerkrankungen würden
weder registriert noch der WHO gemeldet;
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das „Case-finding“, die präventive Reihen- staltet wurden, im Kinosaal indische
untersuchung, sei unterentwickelt. Die Bot- Schnulzen zu sehen waren und in der Koschaft aus Europas Osten laute: „Das krie- lonie Kinder geboren wurden, doch hat die
gen wir schon selbst in den Griff.“
Lust am Leben in Tichile≠ti nicht wirklich
Weil seriöse Zahlen fehlen, bleibt das gelitten. Jetzt, wo die Trauben gepresst sind
Bild von der hartnäckig verschwiegenen und der trübe Most fließt, der „turbule“,
Seuche im Land. „Es gibt viele Lepröse in der schnell zu Kopf steigt, kämpfen sich
Rumänien. Wenn sie alle eingesammelt selbst Beinamputierte wie der Bürgermeiswürden, wäre das Krankenhaus hier nicht ter vor Richtung Rachelu, ins nächste Dorf
groß genug“, sagt Gheorghe Panait, der an der Straße nach Isaccea.
alte Parteisekretär der Kolonie.
„Wären wir ansteckend“, sagt er und
Oben am Hügel von Tichile≠ti steht Kun- schmunzelt wie ein Junger, „müsste halb
ta Kinte, der mächtige Malocher. Vera, die Rachelu die Lepra haben.“ An Verkehr
zweite Leidensgenossin, die er sich ins zwischen Kolonie und Außenwelt fehle es
Haus geholt hat, ist im Sommer gestorben. nicht, in keiner Hinsicht.
Geblieben sind Erinnerungsfotos im Haus,
Als unter Ceau≠escu Wahnsinn noch als
die der Halbblinde nicht mehr erkennt.
Normalfall galt, taugte die vorgebliche AbHinzugekommen ist Veras Sohn aus ers- normität den Leprakranken als Schutzter Ehe. Nach der Wende aufgetaucht, sitzt schild. Rund um die Kolonie sind damals
er nun bisweilen mit Kunta Kinte am Fuß Wälder gerodet, Seen trockengelegt und
des Weinbergs. Der Junge war jahrzehnte- Kolchosen geschaffen worden. In Tichile≠ti
lang verschollen. Geboren in Tichile≠ti, nichts von alledem, stattdessen: Eigenheim,
musste er auf Druck der Herrscher zur Federvieh, Brennholzklau.
Zwangsadoption freigegeben werden.
Wie durch eine Milchglasscheibe haben
„1959 dürfte das gewesen sein“, sagt der die Insassen der Kolonie jahrzehntelang
alte Professor Vulcan in Bukarest: „Ich war verfolgt, was draußen vorging. Den Komzuständig für den Beschluss, die Kranken munismus, sagt der Bürgermeister, habe er
sollten künftig keine Kinder mehr haben.“ daran erkennen gelernt, dass die Bewohner
Er habe das damals so formuliert: „Wenn des nächsten Dorfs eines Tages begannen,
ihr weiter Kinder kriegen wollt, gut. Aber die eigenen Lämmer für Ostern hinter zudann nehmen wir sie euch weg.“
gezogenen Vorhängen zu schlachten.
Von etwaigen Zwangsabtreibungen aber
Noch heute gilt die Leprakolonie als
wisse er nichts, sagt Professor Vulcan. „Das Sonderfall – als Basisstation in unwirtlicher
war Anfang der Siebziger“, rechnet hinge- Gegend, durch staatliche und karitative,
gen Florusa vor, die in der Kolonie mit dem westliche Hilfe. Brot, Arznei, Gemüse, Eier,
Bürgermeister lebt. Ihr zweites Kind sei Wein und Geld gehen von hier aus hinaus
damals unterwegs und die Verordnung ge- ins Land, zu Verwandten und Not leidenrade erlassen gewesen – Kinder von Le- den Freunden.
prakranken müssten abgetrieben werden:
„Bleibe ich hier, bekomme ich 400 000
„Ich bin dann nach Tulcea ins Kranken- Lei Invalidenrente, und das Essen ist frei“,
haus gefahren. Dort ist es passiert.“
sagt der junge Grigore. „Draußen kostet
Sagt’s, verschwindet und serviert Hüh- schon ein einziges Brot 2000 Lei. Warum
nersuppe für die Arbeiter vor ihrem Haus. sollte ich gehen?“ Auch die KrankenEs ist Weinlese in der Leprakolonie, und schwestern und der Arzt, entschädigt mit
der Bürgermeister hat den größten Hang doppeltem Gehalt dank Gefahrenzulage,
von allen. Aurel, seines Mundwerks wegen können die Kolonie gebrauchen.
„die Kettensäge“ genannt, schneidet die
Und so sind die geächteten Aussätzigen
Trauben. Der Barsch steht an der Kurbel- von gestern die Mächtigen von heute. „Sie
presse. Der Bürgermeister, obwohl beina- werfen mit Schuhen nach uns und schlagen
he blind, verzeichnet jeden Kübel frisch zu“, sagen die Krankenschwestern, „aber
gepressten Mosts penibel in seiner Kladde. was sollen wir tun?“ Eine Ansammlung
Während die Männer sich im eigenen von „Primadonnen“ konstatiert Doktor
Weinberg mühen, werkeln
in jenem des Herrn die
frommen Baptistinnen vom
gegenüberliegenden Hügel.
„Ich habe mit denen drüben nichts gemein“, sagt Iufimia. Den Bürgermeister
hat sie für die Sache der
Täufer zu gewinnen versucht, einmal und nie wieder. Er versprach, sich bekehren zu lassen, wenn vorher gemeinsam noch ein
wenig Sünde möglich sei.
Zwar liegt die Zeit lange
zurück, als im alten Sanatorium noch Bälle veran- Pflege einer Leprapatientin: Gefahrenzulage für Gesunde
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FOTOS: R. SIGHETI / REUTERS
Ausland
Prediger Nedelcu (l.), Gemeindemitglieder
Tränen beim letzten Vaterunser
Ignatescu: „Vergleichbares habe ich in 35
Jahren als Arzt noch nicht erlebt.“
Vielleicht aber macht auch Einsamkeit
verrückt. Der Doktor, früher immerhin medizinischer Chef der Flotte unter dem
Oberbefehlshaber Ceau≠escu, berichtet
von seiner Vision, er müsse hier Sünden abbüßen, und von „negativen Energien, da,
wo die orthodoxe Kirche steht“. Die Krankenschwestern tuscheln von einer Patientin, die einen Sohn geboren habe und sich
im Tod als Mann entpuppte.
Ungerührt wie Wärter in der Nervenheilklinik sitzen derweil abends die Leprakranken auf ihren Bänken am Dorfplatz. Einer klaut dem Bürgermeister, der
das nicht mehr sehen kann, drei Viertel der Zigaretten. Auf den Hügeln liegt
golden das Herbstlicht. Libellen schwirren, Grillen zirpen, in der Ferne grunzt
eine Sau.
Ansonsten herrscht Stille. Sie macht die
Tage hier gleich und verschmilzt die Jahre
zu Klumpen. Am Morgen, bei der Messe,
haben sich einige der Alten auf den ochsenblutroten Bänken die Augen gewischt,
als der Prediger Roman Nedelcu vom Tod,
vom Vergehen und vom letzten Vaterunser
sprach.
Nur Kunta Kinte, der zwei Frauen zu
Grabe getragen hat, ist bei Laune. „Wer
schneller sterben will, muss zu mir ziehen“, sagt er, grinst und ahnt nichts Böses.
Oben, am Friedhofshügel aber, wo Kunta
Kintes letzter Platz in der Leprakolonie
sein soll, ist inzwischen von unbekannter
Hand sein Sterbedatum vermerkt worden:
„Dezember 2000“.
Walter Mayr
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Ausland
K R OAT I E N
Eisen und Blut
Den verdutzten Richtern überbrachte der
unangemeldete Präsidenten-Emissär ein
Weißbuch, das angeblich die „wahre Problematik des kroatischen Befreiungskampfes in den Jahren 1991 bis 1995 gegenüber
der serbischen Aggression und deren langfristigen Auswirkungen“ darlegt. Kroatien
wünsche, dass sich das Tribunal in „gewisse innere Angelegenheiten eines souveränen Staates“ nicht länger einmische.
Dass er selbst der Klügste und Weitsichtigste seiner Nation ist, kann der
„Poglavar“, der Führer, wie sich der Staats-
FOTOS: REUTERS (li.); A. KULL / VISION PHOTOS (re.)
Mit Nationalismus will das
Tudjman-Regime auch die
nächsten Wahlen gewinnen.
Doch das Volk ist der
alten Parolen überdrüssig.
ben von der Macht der neuen Herren. Anstelle der serbischen Trikolore weht die
kroatische Fahne mit dem Schachbrettmuster an öffentlichen Gebäuden und in den
Vorgärten der Vorzeige-Patrioten.
Gleich dreisprachig begrüßt das Ortsschild von Knin, einst Zentrum der autonomen „Serbischen Republik Krajina“,
den Reisenden: „Welcome, Willkommen,
Dobro Do∆li.“ Auf serbisch-kyrillisch grüßt
es nicht. Die Krajina ist Kroatenland.
Keine Kritik kann das autoritäre Regime
des Franjo Tudjman, 77, erschrecken. Der
Präsident Tudjman, verlassenes Serbendorf in der Krajina: Freude über die Vertreibung der Andersgläubigen
S
childer am Rand der Dörfer erzählen
von den früheren Bewohnern dieser
Region: Djevrske, Kakanj, Varivode
– Serbenland. Überall in der buckeligen
Landschaft der Krajina stehen Häuser ohne
Eigentümer, fensterlos, die Dächer weggeblasen. An der orthodoxen Kirche in Mokro Polje sind frische Brandspuren. Jeder in
der Gemeinde weiß, wer es war. „Pravi
Hrvati“, sagen die katholischen Bauern,
„aufrechte Kroaten“.
Die Sieger haben ihre Freude über die
Vertreibung der Andersgläubigen allerorts
verewigt. Wo einst kyrillische Inschriften
auf Wegweisern, Ladenfenstern und Schulen standen, zeugen lateinische BuchstaSchätzungen
KROATIEN
Das Bruttoinlandsprodukt 1998 liegt
mit 19 Milliarden
Dollar unter dem
von Bremen
Arbeitslosigkeit 20 %
Veränderung zum Vorjahr
Bruttoinlandsprodukt –1,5%
Industrieproduktion –2,0%
SLOWENIEN
UNGARN
100 km
Zagreb
KROATIEN
Krajina
Don
a
u
Knin
Adria
ITALIEN
194
BOSNIENHERZEGOWINA
Belgrad
Sarajevo
MONTENEGRO
SERBIEN
Zagreber Staatspräsident ignorierte einfach den diesjährigen Report der US-Regierung zur internationalen Lage der Menschenrechte und eine Studie der OSZE.
In der wurde Kroatien als ein Land mit
begrenzten demokratischen Freiheiten
eingestuft.
Beide Institutionen beschuldigen Kroatien der Diskriminierung seiner serbischen
Mitbürger, prangern die Verletzung von
Bürgerrechten gegenüber Roma und Muslimen an und beanstanden die Knebelung
der Presse. Doch der an Magenkrebs leidende Tudjman kontert: „Das sind Missverständnisse.“ Keiner soll ihm mehr in
seine Politik hineinreden.
Doch solch platter Nationalismus verfängt nicht länger. Die Stimmung im Lande ist umgeschlagen. Und obwohl Tudjmans
Amtszeit erst 2002 endet, droht seiner Regierungspartei, der Koratischen Demokratischen Gemeinschaft (HDZ), bei Neuwahlen im Dezember der Machtverlust.
Für das heimische Publikum präsentiert
sich der Staatschef mit den Tito-Luxusallüren pausenlos als „Steuermann der Nation“. Der scheut keine Anstrengungen,
um „Kroatien als friedliebende Insel im
stürmischen Balkanmeer“ gegen Verleumdungen und Unterstellungen „serbophiler
Kreise“ zu verteidigen.
Deshalb schickte Tudjman unlängst seinen Justizminister Zvonimir Separoviƒ nach
Den Haag zum Uno-Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien.
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präsident gern nennen lässt, täglich in der
streng überwachten Partei- und Regierungspresse lesen.
Tudjman gefällt sich in der Rolle eines
Balkan-Bismarck, der sein Reich mit Eisen
und Blut zusammenschmiedet und die
politische Landkarte Südosteuropas neu
zeichnet. Der Erfolg seiner Armee, die im
August 1995 die aufständischen KrajinaSerben hinwegfegte, war in der Tat ein
Wendepunkt im jugoslawischen Erbfolgekrieg, den Serbenführer Slobodan Milo∆eviƒ mit seiner Wahnidee von einem
Großreich vier Jahre zuvor ausgelöst hatte. Damals waren es die fanatisierten Serben in ihrer Hochburg Knin, die den Belgrader Chauvinisten bedingungslos folgten und Zagreb den Krieg erklärten. Der
Brudermord in Bosnien zeichnete sich
bereits ab – eine Blutspur, die schließlich
bis ins Kosovo führen sollte.
Doch das unmenschliche Prinzip von
ethnischer Vertreibung und gewaltsamer
territorialer Völkertrennung verbindet Tudjman, den ehemaligen kommunistischen
Partisanengeneral, mit seinem Widerpart
Milo∆eviƒ bis heute. Es war der KroatenVormann, der trotz eindringlicher Warnungen des Westens im April 1993 das kroatisch-muslimische Verteidigungsbündnis in
Bosnien aufkündigte und eine Annäherung
an den serbischen Aggressor betrieb. In
einem Separatfrieden mit Belgrad wollte
Tudjman damals sein schmales, hufeisenförmiges Land vergrößern – auf Kosten ei-
ner Teilung Bosniens in eine kroatische und
eine serbische Hälfte. Der Plan scheiterte,
vor allem am Starrsinn Milo∆eviƒs.
Tudjman wusste sich zu rächen: Die Militäraktion vertrieb 200 000 Serben aus ihrer angestammten Heimat. Europas Regierungen äußerten Unbehagen, fühlten sich
aber erleichtert, dass Tudjman Uno und
Nato die Schmutzarbeit auf dem Schlachtfeld abgenommen hatte – und das Kroatenvolk dankte es dem Poglavar bei vorgezogenen Wahlen.
Im Oktober 1995 eroberte Tudjmans
HDZ die Mehrzahl der Parlamentssitze.
Der Partei- und Staatschef nutzte den
Erfolg, um die Republik in ein seltsames
janusköpfiges Gebilde zu verwandeln: mit
dem Westen liiert, wirtschaftlich im Aufbruch, aber auch mit finsteren Traditionen
behaftet und von einem Partei-Clan beherrscht, der sich nur dem Patriarchen
rechenschaftspflichtig fühlt.
Das kostete auf Dauer seinen Preis: Vier
Jahre danach ist Kroatien in Europa isoliert
und wirtschaftlich ins Abseits geraten.
Während die direkten Nachbarländer Slowenien und Ungarn bereits Kandidaten der
ersten Runde bei der EU-Osterweiterung
sind, besitzt der Adria-Staat nicht einmal
ein Handelsabkommen mit der EU. Eine
Aufnahme in die Welthandelsorganisation
WTO ist nicht in Sicht. Experten erwarten
dieses Jahr einen weiteren Rückgang der
Industrieproduktion um 2 Prozent, und das
bei einem Niveau von 57 Prozent des Vorkriegsstands.
Nicht nur der Verlust sozialer Sicherheiten und die Verarmung breiter Bevölkerungsschichten bei einer Arbeitslosenrate von 20 Prozent schürten den Unmut
gegen das Regime. Wirklich Wut ausgelöst
im Lande haben immer neue Korruptionsskandale, illegale Privatisierungsgeschäfte
sowie die Kungeleien höchster Staatsvertreter mit dem organisierten Verbrechen.
Und immer wieder tauchten dabei Namen aus der Tudjman-Dynastie auf. Vergebens hatten die EU-Staaten im Frühjahr
weitere Wirtschaftshilfe und eine Aufnahme Kroatiens in europäische Organisationen mit der Forderung verknüpft, der
Präsident müsse zuvor sein Familienimperium auflösen. Tudjman bockte und wartet
seitdem vergeblich auf Einladungen zu
Staatsbesuchen.
Jüngste Meinungsumfragen sehen die
Regierungspartei HDZ nur noch bei 20
Prozent, die oppositionellen Sozialdemokraten klar in Front. Aber Tudjman gibt
sich sicher, „dass wir erneut siegen“.
Unbeirrt hält der Patriarch an seinem
Kurs fest. Und auch als Geschichtsforscher will er weiter von sich reden machen. Jüngste ausschweifende Erkenntnis
des Dr. Tudjman: Die Vorfahren der
Kroaten lebten in der heutigen Türkei, und
es handelte sich um niemand anderen
als die vorchristliche Zivilisation der
Hethiter.
Roland Schleicher
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F. SCHULTZE / LAIF
Maltesische Hauptstadt Valletta: Dicht besiedelt wie Monaco, teuer wie London oder Paris
bald passieren“, meinte auch Altbundespräsident Roman Herzog bei einem Besuch in Brüssel.
1990 hatte die konservative Regierung
in Valletta die Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft beantragt, Beihilfen lockten. Die EG-Kommission prüfte,
Maltas Regierung will in die EU. Die Opposition
mit positivem Befund, die Beitrittsreife des
hingegen droht schon mit dem Austritt aus der Gemeinschaft.
Winzlings. Zweimal befassten sich die
Staats- und Regierungschefs
mit den Maltesern und beie große weiße Uhr mit schwarzen günstig gelegenen Kalkfelsen
schlossen, dass die InselreZiffern im linken Turm der Sand- zwischen zwei Kontinenten
publik dabei sein sollte.
stein-Kirche von Xaghra zeigte angelaufen und wieder ver1996 kamen in Valletta die
zehn vor zwölf, die Uhr im rechten Turm lassen.
Die Briten hätten die MalSozialisten wieder an die Rezwanzig nach zwei. Für die Leute der Inteser gern dabehalten. 164
gierung. Die Macht wechselt
selrepublik Malta macht das Sinn.
leicht im Parlament, in dem,
Der Teufel, wenn er denn den winzigen Jahre herrschte London mileinzigartig in Europa, nur
Staat in den Weiten des Mittelmeeres de und zeichnete die Malzwei Parteien vertreten sind:
überhaupt findet, soll in die Irre geführt teser 1942 kollektiv für ihre
Ein Vorsprung von 5000 bis
werden. Deshalb zeigen viele der 356 Kir- „unerschütterliche Tapfer7000 Wählerstimmen reicht
chen auf Malta und der kleinen Insel- keit“ im Kampf gegen die fafür den Wechsel.
schwester Gozo – das streng katholische schistischen Achsenmächte
Die neue Regierung wollte
Land hat mehr Gotteshäuser als Quadrat- Italien und Deutschland mit
nun aber der EU nicht mehr
kilometer (316) – nur rechts die rechte dem „Georgskreuz“ aus. Seine Landsleute wären 1964, Staatspräsident de Marco beitreten, weil die Nachteile
Zeit an.
des freien Wettbewerbs für
Wohl auf Grund der mannigfachen Er- berichtet Staatspräsident Guifahrungen mit unheilvollen Mächten muss do de Marco, lieber Untertanen der Krone die mit vollen Händen subventionierte heimische Wirtschaft zu groß würden. Mit der
tief im Malteser die Neigung wurzeln, viel geblieben als unabhängig geworden.
Nun heißt die neue Vormacht Brüssel. EU wollte man lediglich über eine Freihandafür zu tun, dass man nicht weiß, woran
man eigentlich bei ihm ist. Über Jahrhun- Und die Malteser bleiben ihren Gewohn- delszone verbunden sein. Die EU-Kommisderte hatten die Phönizier, Römer, Ara- heiten treu. Von der Größe her ganz hinten sion fügte sich, die Minister des EU-Assober, Normannen, Spanier, Osmanen, die in der Reihe der 13 Staaten, die sich zum ziierungsrats stimmten im April 1998 zu.
Fünf Monate später dann Neuwahlen in
Mönchsritter des Johanniterordens, Napo- Beitritt in die EU drängeln, der Wirtleon und die Engländer jene strategisch schaftskraft nach aber weit vorne, weiß der Malta: Die Konservativen siegten mit fast
Kleinstaat nicht so recht, was er eigentlich 13 000 Stimmen Vorsprung. Nun kam die
will. Rein oder raus?
Vereinbarung über die Freihandelszone in
Malta ist ein Lehrbeispiel für ein Land die Ablage und der Antrag auf EU-Vollam Rande Europas: Dass mit den höheren mitgliedschaft wieder auf den Tisch.
Rom
Umweltstandards der EU oder durch den
Die EU-Kommission empfahl Mitte OkZwang von Wirtschaftsreformen zur Qua- tober, die Staats-und Regierungschefs sollBarcelona
Neapel
lifikation für den Binnenmarkt die Mal- ten beim Dezember-Gipfel in Helsinki Beiteser Vorteile aus dem Beitritt ziehen wür- trittsverhandlungen beschließen, die binden, steht außer Frage.
nen Jahresfrist abgeschlossen sein könnMittelm
ee
Nur, welche Vorteile hat die EU von der ten. Eine Volksbefragung wäre dann noch
Algier
r
Aufnahme dieses Zwergstaats (374 000 Ein- fällig, die Konservativen glauben an eine
Tunis
wohner) an ihrer südlichen Peripherie? Die Ja-Mehrheit. Malta könnte 2003 EU-MitFrage stellt sich nicht. Der EU-Vertrag be- glied sein – und die Gemeinschaft womögstimmt, wer die rechtsstaatlich-demokrati- lich wenig später wieder verlassen.
Gozo
25 km
schen und wirtschaftlich-sozialen Voraus„Wir werden entweder die Bewerbung
Valletta
setzungen erfüllt, darf rein in die Union. für die EU-Mitgliedschaft wieder zurückM A LTA
400km
Wo Europa enden soll, geografisch und po- ziehen oder auch aus der EU austreten“,
litisch, ist nicht festgelegt. „Müsste aber kündigt der Oppositionspolitiker George
E U R O PA
Weit weg und ziemlich anders
AFP / DPA
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198
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Ausland
DPA
Straßen. 70 bis 80 Prozent der Malteser
sind regelmäßige Kirchgänger. Der römisch-katholische Glaube ist Staatsreligion
laut Verfassung. Die bestimmt auch, dass
die Kirche das Recht und die Pflicht zu
lehren hat, „welche Prinzipien richtig und
welche falsch sind“.
Wie eine Reliquie verehrt wird der
Stuhl, auf dem Papst Johannes Paul II.
während seines Malta-Besuchs 1990 Platz
nahm. Scheidung? Überall in Europa ist
sie möglich, seit etwa zwei Jahren selbst in
Irland. Nur hier gibt es sie nicht.
Malta, das nicht einmal so viele Einwohner wie Wuppertal hat, liegt 93 Kilometer südlich von Sizilien. Bis Tunis sind es
etwa 350 Kilometer, bis Libyens Hauptstadt Tripolis gerade 500. Bis Rom ist der
Weg knapp 700 Kilometer weit, bis Brüssel fast 2000. Und so ist der Zwergstaat
auch: verdammt weit weg von Europa und
ziemlich anders. Malteser sind Süditaliener, die sich für Engländer halten, Arabisch
AP
Vella an, „je nachdem, wann wir wieder an
die Regierung kommen.“ Auch ein positiver Ausgang des Referendums werde daran nichts ändern. Die Abstimmung sei
„rechtlich nicht bindend“. Obendrein hält
Vella den Beitritt seines auf strikteste Neutralität verpflichteten Landes zu einer EU,
die sich gerade einen bewaffneten Arm
schafft, für verfassungswidrig.
Vella, der als stellvertretender Regierungschef und Außenminister bis 1998 Verantwortung trug, argumentiert unverfroren: Im EU-Vertrag fehle eine Bestimmung
über das Verlassen der Gemeinschaft.
„Also ist ein Austritt nicht ausdrücklich
verboten, wer raus will, kann raus.“
Das Land sei noch nicht reif für die EU,
heizt der Sozialist seinen Anhängern ein.
Mit dem Beitritt stiegen erst die Preise,
dann die Löhne. Die Investoren, bisher von
den um zwei Drittel unter dem deutschen
Niveau liegenden Lohnkosten angelockt,
würden abgeschreckt.
Premier Mintoff mit Staatsgast Gaddafi (1982), Sozialist Vella: „Wer will, kann raus“
Zudem wäre mit anderen sozialen Errungenschaften, da hat Vella wohl Recht,
bald Schluss: Alle Studenten erhalten, unabhängig vom Einkommen der Eltern, ein
staatliches Monatsgehalt von 300 Mark;
Gesundheitsvorsorge ist frei; Brot, Zucker
und Trinkwasser sind subventioniert.
Im ersten Stock der Parteizentrale ist Labours Welt noch wie immer: Männer, Frauen und Kinder, vereint zu einer großen Familie. Bier fließt reichlich. Zwei Fernseher
dröhnen. An der Wand hängen Marmor-Ehrentafeln mit den Namen alter und aktueller Parteigrößen, Fotos von Massenaufmärschen. Dazwischen der über alles verehrte Dom Mintoff. Hier lebt es noch, das
Malta aus den Zeiten seines ersten sozialistischen Premiers, der zwischen Libyen und
Europa sein eigenwilliges Arbeiterparadies
basteln wollte, seinen Sonderweg zwischen
Washington und Moskau, London und Havanna suchte und dabei den Umgang mit
politischen Parias wie Gaddafi, Kim Il Sung
oder Ceauçescu nicht scheute.
Aber auch das ist Malta: Tausende von
Autos stauen sich sonntags morgens in den
200
sprechen und katholischer sind als die
römische Kurie.
„Mein Malti muss offizielle EU-Sprache
werden“, fordert Präsident de Marco – obwohl Englisch auf den Inseln Verwaltungssprache ist. Es wäre das erste semitische
Idiom im Sprachenpotpourri der Gemeinschaft.
Die Insel, ihrer neun Sonnenmonate wegen bei Touristen beliebt, hat sich marktwirtschaftlich ordentlich entwickelt. Kleine Betriebe aus ganz Europa siedelten sich
an, 40 aus Deutschland. Sie lassen Elektronikbausteine stecken, Anzüge nähen
oder Playmobil-Elemente fertigen. Die
Menschen sind fleißig, das Ländchen ist
heute politisch stabil.
Vorbei die Zeiten, als Labour-Jungs und
die Boys der Nationalist Party mit Fäusten
und Waffen übereinander herfielen, als Labour-Bekenner von der kirchlichen Trauung ausgeschlossen wurden und im Gegenzug schon einmal loszogen und einen
Priestersitz abfackelten. Heute träumt New
Labour, wie Parteivize Vella, von Malta als
der „Schweiz des Mittelmeers“. Dazu freid e r
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lich fehlt noch manches. Das Haushaltsdefizit stieg 1998 unter der neuen nationalistischen Regierung auf 11,8 Prozent, so der
jüngste Bericht der EU-Kommission über
die Entwicklung des Beitragsaspiranten.
40 Prozent aller Beschäftigten werkeln
im Öffentlichen Dienst, und das nicht besonders effizient, wie die EU-Prüfer monierten. Landwirtschaft, Schiffbau und etliche andere Branchen arbeiten unter geradezu behüteten Bedingungen. Bei freiem
Wettbewerb nach einem EU-Beitritt, befürchtet Vella, „kommt das Desaster“.
Mehr als 3000 Jobs, behaupten Euro-Skeptiker von Labour, gingen unmittelbar verloren.
Dabei hat der wirtschaftlich allzu schnell
gewachsene Kleinstaat Probleme genug:
Malta ist, nach Monaco und Singapur, das
am dichtesten besiedelte Land der Welt.
1189 Menschen quetschen sich auf jeden
Quadratkilometer. Die Bodenpreise liegen
in Valletta auf dem Niveau von London oder
Paris.Wasser wird knapp, zumal 60 Prozent
durch lecke Leitungen versickern. Malta ist
das Land mit der höchsten Autodichte:
240 000 Wagen stinken zum Himmel.
„In allen Bereichen des Umweltschutzes
muss viel getan werden“, verlangt der neue
EU-Prüfbericht. Gemessen an den früheren
Untersuchungen der EU-Kommission sei
„keinerlei Fortschritt gemacht worden“.
Und noch ein Problem hätte die EU mit
dem Mitglied Malta: Drei Millionen Zugvögel fallen dort jährlich den Flinten und
Netzen der 27 000 Jäger zum Opfer.
In Malta, so Arnold Cassola, von Dezember an Generaldirektor der europäischen Grünen in Brüssel und bislang Literatur-Professor in Valletta, erkranken wegen der schlechten Luft mehr Kinder an
Asthma als irgendwo sonst in der Welt.
Nicht nur die Uralt-Busse und allzu vielen
Pkw sind dafür verantwortlich. Die Fabriken pusten ihre Abgase genauso ohne Filter gen Himmel wie die Kraftwerke. Und
weil es am billigsten ist, verbrennen die
Stromerzeuger zudem besonders schwefelhaltiges Öl.
Auch der laut Cassola höchste Berg Maltas ist von Menschenhand errichtet: Eine
gewaltige Müllhalde im Nordwesten überragt sämtliche Hügel. Und aus dem Erdreich darunter, weiß Cassola, sickern die
Abwässer ins Meer – just da, wo Touristen
gern baden.
Wie soll man mit solch einem bizarren
Kandidaten umgehen? Garantien verlangen, dass Brüssel nicht weiter genarrt wird?
Das geht leider nicht, weil Malta ja eine
Demokratie ist und die Regierenden nicht
für die Opposition bürgen können.
EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen weiß sich nicht anders zu behelfen,
als eindringlich an Malta zu appellieren: Mit
der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen
verbinde man „die Erwartung, dass dies
diesmal wirklich Maltas Wunsch ist und
bleibt“. Dirk Koch, Hans-Jürgen Schlamp
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Fechtzentrum in Tauberbischofsheim: „Mami, mach es dir gemütlich zu Hause, ich bin nie da“
FOTOS: BONGARTS
FECHTEN
Emils Geisterbahn
Über Jahrzehnte hat Emil Beck seine Sportler und Trainer gefördert, ausgesaugt und
fallen lassen. Jetzt geriet der Medaillenschmied selbst in die Kritik. Bei den Weltmeisterschaften in
Seoul fehlt er erstmals an der Planche. Von Rücktritt will Beck jedoch nichts wissen.
J
e älter das Jahrhundert wird, desto
mehr bläht sich der Leib dieses kleinen
runden Mannes auf den Fotos. Und je
mehr er sich ausdehnt, desto besser klingen
die Namen der vielen Menschen, die bei
ihm zu Besuch waren.
Die Bilder, mit denen die Wände im
Fechtzentrum von Tauberbischofsheim behangen sind, schrauben sich nach oben wie
ein Wagnersches Crescendo: Emil Beck mit
Lothar Späth, einst Landesvater in BadenWürttemberg; Emil Beck mit Richard von
Weizsäcker, als der noch im Hubschrauber der Luftwaffe unterwegs war.
Und dann, fortissimo, Emil Beck mit
Helmut Kohl, als der Chef in Deutschland
war und die Gelenke noch geschmeidig –
die Abbildung zeigt den frühen Kanzler
bei einer Dehnübung auf dem Trimm-dichfit-durch-Sport-Gerät. Alle großen Christdemokraten waren bei ihm. Beim Emil, bei
204
dem sich Leistung lohnt; der den verfetteten Deutschen gezeigt hat, wie ein Wirtschaftswunder geht: Emil, das letzte von 13
Kindern, das sich zum Friseur ausbilden
ließ und anderen für 50 Pfennig die Haare
schnitt; Emil, der in den fünfziger Jahren
den Film „Die drei Musketiere“ sah und
bei sich dachte, dass es mit einem Degen in
der Hand im Leben schneller vorangeht
als mit einer Schere. Emil, der vor 47 Jahren einen Fechtclub gründete und viele Jahre später als „Medaillenschmied“
Deutschlands bekannt wurde.
Die Galerie mit den Dokumenten klebriger Antrittsbesuche aus Bonn endet mit
Helmut Kohl, als sei nach ihm die Welt untergegangen. Es ist, als müsse Emil Beck im
Sog seines „lieben Helmut“ gleich mit absaufen. Der Dicke aus Bonn gewann keine
Wahlen mehr, der Dicke aus Tauberbischofsheim gewann keine Medaillen mehr.
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Von Montag an müssen Emils Kämpfer,
die in den letzten Jahren so oft ins Leere
stießen, bei den Weltmeisterschaften in
Seoul wieder auf die Planche. Beck, hauptberuflich Boss in Tauberbischofsheim und
obendrein Chefbundestrainer aller deutschen Fechter, hat bis vor kurzem gehofft,
dass nach diesem Turnier vielleicht noch
mal ein Fluggerät aus der Hauptstadt bei
ihm landen und einen dieser neuen Politiker ausspucken würde, was bestimmt ein
schönes Foto hergäbe.
Aus. Vorbei. Emil Beck, 64, fehlt in Südkorea. Er hat sich eine Formel erdacht,
nach der er sein Amt als Bundestrainer
„vorerst ruhen“ lasse. Die Wahrheit ist,
dass Deutschlands oberster d’Artagnan als
Führungskraft nicht mehr zumutbar ist.
Emil Beck ist Amok gelaufen. Es war, als
habe er die Nation zum Tag der offenen
Tür geladen und unfreiwillig vorgeführt,
Sport
was sich hinter seinen Gemäuern in Wirklichkeit verbirgt: eine Geisterbahn. Am
Kassenhäuschen sitzt Emil, und innen drin
ziehen Gestalten Grimassen, die alle aussehen wie lauter kleine fiese Emils.
Vom Besuch des Kanzlers Kohl muss er
behalten haben, dass an Niederlagen immer die anderen schuld sind. Schuld am
Niedergang des Fechtzentrums von Tauberbischofsheim sind nach Ansicht seines
Chefs die Angestellten Matthias Behr, 44,
und Alexander Pusch, 44. Der eine ist Leiter des Sportinternats, der andere Bundestrainer für die Degenfechter, beide waren
Weltmeister und Olympiasieger.
Behr und Pusch haben für Tauberbischofsheim die Trophäen gewonnen, auf
die sich der kleine Mann gestellt hat, um
immer noch ein Stück größer zu werden.
Und als er wieder so klein war wie damals
im Frisiersalon, wollte er sie aus ihren Posten jagen. Der vormalige Figaro hat die
Ikonen des Taubertals gemobbt und sich
damit gewissermaßen selbst rasiert – seine
Opfer sind jetzt an seiner Stelle bei den
Weltmeisterschaften im Einsatz.
Die Geschichte von Matthias Behr und
Alexander Pusch zeigt, wie Tauberbischofsheim, diese vorbildliche Werkstatt
Im Reich der Klingen
Leiter des Olympiastützpunkts
Tauberbischofsheim
Beauftragter des Landessportverbandes
für die Olympiastützpunkte in BadenWürttemberg
400
des deutschen Sportwesens mit freundlicher Unterstützung von Mercedes und dem
Bundesministerium des Inneren (siehe Kasten Seite 206), zu Ruhm kam.
Beck, ihr Erfinder, hat die Menschen um
sich herum in ein subtiles Abhängigkeitsverhältnis manövriert; er hat Sportler zu
Siegern gemacht und dafür das Recht auf
ihre Persönlichkeit kassiert; er hat sich junge Menschen ausgesucht, denen er beibiegen konnte, dass sich die Welt in Leute
teilt, die fechten, und andere, die nicht
fechten. Und solche, die fechten, machen
ihr ganzes Leben lang Überstunden.
„Mami“, so will Beck einst zu seiner Gattin gesagt haben, „Mami, mach es dir
gemütlich zu Hause, ich bin nie da.“ Er hat
den eigenen Lebensentwurf auf andere projiziert, weil er sie dafür brauchte. Er selbst
sagt: „Ich tue für meine Mitarbeiter – egal,
zu welcher Zeit – alles, was mir möglich ist.
Immer direkt, korrekt und geradeaus.“
A
m 6. Juli 1999 findet der Trainer Alexander Pusch in seinem Postfach einen
drei Seiten langen Brief, in dem ihm angekündigt wird, dass er demnächst seinen
Job los ist. Der Absender hält ihm gebremsten Arbeitseifer vor. Pusch, meint
Ämter, die Emil Beck bekleidet
1. Vizepräsident
des Fecht-Clubs
Tauberbischofsheim
1344
Mitglieder
Chefbundestrainer
im Deutschen
Fechter-Bund (DFeB)
Fechter
24 475
Mitglieder
Vizepräsident
der Gesellschaft
zur Förderung
des Fecht-Clubs
Stellvertretender
Vorsitzender
des Stiftungsrats der
Stiftung Fechtsport
Ständiger Gast
im Aufsichtsrat
der Stiftung
Fechtsport
Beratendes
Mitglied im
DFeB-Präsidium
Trainer Beck, Medaillengewinnerinnen*: „Wie eine Reise in den Himmel“
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Beck, habe zu lange schon keine Sieger
mehr produziert. Er schreibt:
„Und in diesem Punkt hast Du in allen
Belangen versagt, Deinen Arbeitsauftrag
keinesfalls erfüllt (…) Du hast nie begriffen, dass nur der Gesamterfolg letztendlich
erst stark macht (…) Du stellst für leistungsorientierte Fechter keine Alternative
dar. Man kann und muss es leider so deutlich sagen: Dies ist ein Armutszeugnis und
der sportliche Offenbarungseid!“
Pusch sagt, er habe „Erleichterung empfunden“, als er das las. Er lebt zwar von
dem Moment an in fortwährender Existenzangst, aber hat endlich schriftlich, was
er schon lange vermutet.
Seit Wochen hat er diffuse Rauchzeichen
aus dem Taubertal empfangen. Einmal trifft
er beim Waldspaziergang eine Bekannte,
die ihn fragt: „Alex, stimmt es eigentlich,
dass dein Vertrag nicht verlängert wird?“
Auf welchem Niveau es irgendwann enden wird, ahnt Puschs Ehefrau Ute schon
seit zwei Jahren. Sie erinnert sich an einen
Dialog, der sie in einen Nervenzusammenbruch treibt.
Bei der Ehrung der Sportler des Jahres
sitzt Emil Beck an ihrem Tisch und klagt
über „meine Trainer“, die nicht mehr spuren. „Die arbeite nix, die schaffe nix. Die
werde scho sehn, was sie davon haben.“ Ihr
ist klar, dass der Tischherr damit ihren
eigenen Mann meint. Die Bankkauffrau
Ute Pusch ist eine selbstbewusste Frau, sie
antwortet ihm: „Wenn ich das höre, bin ich
froh, dass ich einen Job habe, der zur Not
uns beide über Wasser hält.“
Attacken dieser Art ist Beck im richtigen
Leben nicht gewohnt. Er denkt einen Moment nach und sagt dann zu der Frau, die
er gern als seine „Lieblingsschwiegertochter“ bezeichnet: „Eh, wie läuft es eigentlich bei euch beiden? Wenn du nicht mehr
zufrieden bist, brauchst du mir nur Bescheid zu sagen.“
Na und? Beck findet: „Sicherlich war
meine Äußerung unbedacht und zu vorgerückter Stunde ausgesprochen. Aber
wenn man jedes Wort auf die Goldwaage
gelegt bekommt – das ist ja furchtbar.“
Alexander Pusch verbringt sein Leben
bei Emil Beck, seit er elf Jahre alt ist. Er ist
der talentierteste Sportler, den Beck jemals zu fassen bekam, aber er fühlt sich
33 Jahre lang ununterbrochen gegängelt.
Pusch ist Becks Gegenentwurf: Er muss
sich den Erfolg nicht mit Zusatzstunden
erarbeiten und lebt sein Leben mit einer
Leichtigkeit, die Emil Beck suspekt ist. Alles, was Pusch macht, macht er mit einem
schlechten Gewissen. „Man lebt hier in
ständiger Angst“, sagt er.
Pusch spielt nebenher Golf, und Beck
wirft ihm vor, er stecke zu viel Energie in
sein Privatvergnügen. Mit 20 wird er Einzel-Weltmeister mit dem Degen, im Mann* Sabine Bau, Anja Fichtel, Zita Funkenhauser bei den
Olympischen Spielen 1988 in Seoul.
205
Sport
Finte in der Buchführung
IOC-Exekutivmitglied Bach
Fassungslose Reaktion
D
ie drei Beamten des Bundesverwaltungsamtes (BVA), die
Anfang vergangener Woche
im Fechtzentrum Tauberbischofsheim
erschienen, erwiesen sich als alte Bekannte. Dreimal innerhalb weniger
Wochen waren die Prüfer, Mitarbeiter
einer Revisionsstelle für das Bundesinnenministerium (BMI), bereits vorstellig geworden im hintersten Winkel
Nordbadens. Nun setzten sie zum
finalen Schlag an.
Fünf Tage lang durchforsteten die
Kontrolleure den Aktenbestand von
Emil Becks Fechtimperium – sie sichteten Schriftsätze, Rechnungen, Belege
und Organigramme. Als sich das Trio
auf den Heimweg nach Köln machte, hatte es – kopiert oder gleich im
Original – zahlreiche Dokumente im
Gepäck.
Der diskrete Besuch der Abteilung II
(Verwendungsnachweisprüfung) des
BVA markiert einen einschneidenden
Punkt im deutschen Spitzensport.
Denn niemals zuvor ist ein Olympiastützpunkt, der zum größten Teil mit
öffentlichen Geldern subventioniert
wird, derart akribisch auf sein Finanzgebaren durchleuchtet worden wie die
einstige Medaillenschmiede im Taubertal. Bis Mitte November, so gibt das
BVA zu verstehen, soll der Abschlussbericht (Az: VII A3 99040) erstellt sein.
206
Wie keinem zweiten Sportfunktionär
hier zu Lande ist Emil Beck von Politikern gehuldigt worden. Allein aus Bonn
flossen in den letzten zehn Jahren rund
33 Millionen Mark in sein weit verästeltes Reich.
Doch Liebling Beck wird nicht mehr
gehätschelt. Das Regierungspräsidium
in Stuttgart untersagte ihm unlängst,
die Stiftung Fechtsport in Emil-BeckStiftung umzutaufen. Gelockert sind
auch die Seilschaften im Deutschen
Fechter-Bund. Erst musste Beck auf
Druck sein Amt als Cheftrainer ruhen
lassen, dann gab er, nach heftiger Kritik des DSB-Präsidenten Manfred von
Richthofen, den Vorsitz des Trainerbeirats im Deutschen Sportbund ab.
Die alten Spezis distanzieren sich,
weil ein schwerwiegender Verdacht auf
dem Lebenswerk des Degengurus lastet: Es geht um Betrug und Urkundenfälschung. Mittlerweile interessiert sich
auch die Staatsanwaltschaft Mosbach
für die Angelegenheit und hat ein Ermittlungsverfahren gegen Emil Beck als
Verantwortlichen des Fechtzentrums
eingeleitet (Az: 24 Js 6179/99).
Jahrelang sollen in Tauberbischofsheim ehemalige Spitzenfechter ohne
deren Wissen als so genannte B2-Kadermitglieder geführt worden sein, damit das Fechtzentrum Zuschüsse kassiert. Pro Kopf und pro Jahr honoriert
das BMI den Einsatz ehemaliger Athleten, die sich vor Wettkämpfen als
Trainingspartner zur Verfügung stellen,
mit rund 1000 Mark Materialkosten,
dem „Klingengeld“.
Die Vernehmungen sind seit letzter
Woche weitgehend abgeschlossen. Zwei
Beamte der Landespolizeidirektion
Stuttgart haben 26 von 29 ehemals Aktiven verhört, die auf den B2-Kaderlisten auftauchen. Bei drei Betroffenen
haben die Ermittler auf einen Besuch
verzichtet: Die Ex-Fechter leben mittlerweile im Ausland.
Die Aussagen bringen Beck arg in
Bedrängnis. Denn die Hälfte der Befragten gab zu Protokoll, weder als
Sparringspartner gefochten noch das
Geld für die Ausrüstung bekommen zu
haben. Der Schaden für den Bund liegt
nach Auskunft des zuständigen Oberstaatsanwalts Herbert Heister bislang
„weit unter 70 000 Mark“.
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Das scheint ein überschaubarer Betrag. Weitaus gravierender ist jedoch
der Verdacht der Urkundenfälschung.
Denn in einigen Fällen, so Heister, haben die Befragten ausgesagt, dass Unterschriften auf Belegen nicht von ihnen stammen. Beim BVA in Köln, das
mit den Stuttgarter Ermittlern in ständigem Kontakt steht, spricht man von
Unterschriften „in einer Art Kinderschrift“.
Dass das Ausmaß der Vorwürfe nicht
noch erdrückender wird, liegt an den
Verjährungsfristen. Die Listen, die der
Staatsanwaltschaft Mosbach vorliegen,
reichen 20 Jahre zurück. Doch die
Strafverfolger interessieren sich nur für
die B2-Kader der vergangenen fünf
Jahre. Unbeantwortet wird deshalb die
Frage bleiben, ob die rund 134 000
Mark, die das Fechtzentrum von 1979
bis Mitte 1994 aus Bonn erhielt, erschwindelt worden sind oder nicht.
Peinlich bleiben die Finten in jedem
Fall. So wird der Olympiasieger von
1976, Thomas Bach, für die Jahre 1980
bis 1986 in der Disziplin Herrenflorett
als B2-Kader geführt. Der Wirtschafts-
BAUMANN
W. WITTERS
In Emil Becks Fechtimperium wird wegen Betrugs und Urkundenfälschung ermittelt.
Stützpunktleiter Beck: Seilschaften gelockert
anwalt aus Tauberbischofsheim, als
Mitglied im IOC-Exekutivkomitee zu
einem der gewichtigsten Repräsentanten der internationalen Sportpolitik
aufgestiegen, reagierte auf Anfrage des
SPIEGEL fassungslos: „Ich habe keine
Erklärung dafür.“
Derweil schiebt Beck die Verantwortung auf andere: Mit dem B2-Kader
habe er, lässt Beck wissen, nichts, aber
auch gar nichts zu tun.
Horand Knaup, Michael Wulzinger
schaftswettbewerb verliert er ein Gefecht,
Deutschland gewinnt nur Silber. Pusch
erinnert sich, dass ihm Beck später Absicht
unterstellt habe: Er sei ein „Egoist“, er
habe vorsätzlich schlecht gefochten, um
seine Einzelmedaille aufzuwerten. Beck
bestreitet das. „Ich habe nur gesagt: Alexander, wenn man Weltmeister im Einzel
wird, dann sollte man auch in der
Mannschaft eine entsprechende Leistung
bringen.“
Pusch macht neben seinem Sport eine
Lehre als Bauzeichner und lässt sich zum
Diplom-Fechttrainer ausbilden. 1980 arbeitet er in Tauberbischofsheim zudem
als Koordinator und Trainer. Er erteilt einem jungen Mädchen „Lektionen“, wie
Übungsstunden in dieser Sportart genannt
werden: Es ist Anja Fichtel, die später die
erfolgreichste deutsche Fechterin aller Zeiten sein wird.
Aber das reicht nicht. „Mach deine minimale Arbeit wenigstens richtig“, hört er
von Beck. Am 20. Dezember 1980 kündigt
Pusch. Er schreibt, er sei „diesen psychischen Belastungen nicht mehr gewachsen“.
Beck fängt ihn ein, aber erwachsen darf
Pusch auch danach nicht werden. 1983
schreibt sein Aufpasser einen Vermerk:
„E. Beck hat am 14. April 1983 mit Alexander Pusch ein Gespräch geführt: es
wurde vereinbart, dass A. Pusch ab sofort
nur noch dann Prämien vom Fecht-Club
annimmt, wenn er das Rauchen einstellt.“
Zwei Jahre später scheint es, als würden
sich die Dinge zum Guten fügen: Beck hat
sich aus dem täglichen Geschäft an der
Planche zurückgezogen, und Pusch wird
in den nächsten Jahren von dem DiplomFechtmeister Berndt Peltzer trainiert.
Peltzer hat mit dem Fechten begonnen,
als er zur Hitlerjugend kam. 1971 lotste ihn
Beck nach Tauberbischofsheim, die Arbeit
an den Waffen wurde damals noch im Heizungskeller der örtlichen Festhalle verrichtet. Beck und Peltzer wirkten hier in symbiotischer Beziehung miteinander. „Er war
fanatisch, ich war fanatisch“, sagt Peltzer.
Er arbeitete als Trainer und war nebenher für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig.
Er bediente die Lokalredaktionen mit
Fotos und selbst abgefassten Artikeln. Mit
den Jahren, sagt Peltzer, habe er gemerkt,
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BAUMANN
WEREK
Olympiasieger Pusch (1988)
R. FESSEL / BONGARTS
Sport
Olympiasieger Behr
Bundestrainer Peltzer (1994)
Beck-Weggefährten: „Je mehr Erfolg er hatte, desto größenwahnsinniger wurde er“
dass der Emil eklig werden kann. „Wenn
wir Erfolg hatten, sagte er: Ich habe Medaillen geholt. Er sagte nie: wir.“
Damals war noch eine Frau im Zentrum
angestellt, die man die gute Seele des Hauses nannte: Marga Hein, die Mutter des
Fechters Harald Hein, kochte für die Belegschaft das Essen. Eines Tages war sie
weg. „Dem Emil“, sagt Peltzer, „hat ihre
Nase nicht mehr gepasst.“ Je mehr Erfolg
er gehabt habe, „desto größenwahnsinniger wurde er“.
Auffällig ist, dass Beck so gut wie jeden
Gedanken, der ihm durch den Kopf zuckt,
schriftlich festhalten lässt. Wo immer er ist,
trägt er ein Diktiergerät bei sich, dem er
sich anvertraut. Wenn ein Band voll ist,
muss die Sekretärin ran. Sie soll alles so abschreiben, wie es Emil gesagt hat.
Eindrucksvoll ist beispielsweise, was ihm
während eines Turniers zu einem Psychologen mit dem Namen S. einfiel, der zum
ersten Mal dabei war:
„Vermerk: S., wer auch immer das Band
abschreibt, bitte das ist ein vertraulicher
Vermerk (…) Liegt irgendwo in der Halle
oben rum, in der Halle rum und pennt und
schläft beim Europa-Cup (…) Entweder er
ist frech (1.), 2. er ist so dumm, dass er eben
nichts dafür kann, 3. oder er hat einfach
Komplexe und ist ein Psychopath, was auch
mein Eindruck ist, dass er einfach Komplexe hat und selbst ein Psychopath ist, wie
soll so ein Psychopath unseren ,wenn wir
welche haben‘ Psychopathen helfen (…)
Jetzt kommt S. auf uns zu. Irrtum, Irrtum,
er dreht ab und geht jetzt rüber.“
Ende 1994 hat Berndt Peltzer das Pensionsalter erreicht. Er möchte im Retiro freiberuflich weiterarbeiten. Beck bietet ihm
20 Mark die Stunde oder eine Anstellung
„zum so genannten Hausfrauentarif“. Peltzer schreibt ihm, mit diesem Angebot sei
sein „Wertigkeitsgefühl im höchsten Maße
verletzt“, er sei doch „keine Putzfrau“ und
verlangt 25 Mark. Im März 1995 bekommt
er einen Antwortbrief. Beck schreibt:
„Bin aber auch mit 25,– DM einverstanden, wenn Dein Glück bzw. Dein sozialer
Status davon abhängt.“ Am 15. Mai hat
210
Berndt Peltzer Geburtstag. Emil Beck gratuliert ihm am Telefon und schreibt auch
noch einen Glückwunschbrief, in dem er
auf künftige Zusammenarbeit hofft. Dann
ruft Becks Sekretärin an und bittet Peltzer
für den nächsten Morgen, 7.45 Uhr, ins
Fechtzentrum.
Berndt Pelzer ist schon um 7.20 Uhr in
seinem alten Arbeitszimmer. Er sucht noch
etwas in seinem Schreibtisch, als Emil Beck
durch die Tür tritt. Beck hat seinen Geschäftsführer Emil Kappus („Emil 2“)
und den Betriebsratsvorsitzenden Peter
Märtsch im Schlepp. Die beiden Aufpasser
bleiben stehen, Beck sitzt Peltzer gegenüber und sagt: „Von dieser Sekunde an ist
unsere Zusammenarbeit beendet. Bitte
räume deinen Schreibtisch. Herr Kappus
und Herr Märtsch werden warten, bis du
fertig bist.“ Dann verlässt er den Raum.
Kappus und Märtsch warten, bis der Pensionär seine letzte Schublade geleert hat.
Beck sagt, sein verblüffender Stimmungswandel sei als Akt menschlicher Fairness zu verstehen. „So etwas sagt man jemandem ja nicht an seinem Geburtstag.
Da wartet man wenigstens, bis der vorbei
ist.“ Und: „In Bezug auf Berndt Peltzer
habe ich mir wirklich nichts vorzuwerfen.“
S
eit er von Peltzer betreut wird, findet
Alexander Pusch aus dem Tal. Sein
Sport geht ihm wieder leichter von der
Hand, er gewinnt den Weltcup und wird
zweimal hintereinander Weltmeister mit
der Mannschaft. Aber Emil Beck hält weiter den Daumen drauf.
Als Pusch ihm 1987 eröffnet, dass er bei
einer Deutschen Meisterschaft nicht antreten will, weil er an einer Grippe mit
Hautausschlag und Atemnot leide und seit
Tagen keinen richtigen Schlaf mehr gefunden habe, nennt Beck ihn einen „Feigling“.
Denn: „Der Arzt hat gesagt, dass er fechten kann. Und wenn der Arzt das sagt,
dann sollte er auch fechten. Die Entscheidung liegt jedoch beim Athleten.“
Pusch nimmt gegen seinen Willen am
Turnier teil und verliert in der ersten Runde. Weil er sich rechtfertigen will, erzählt
d e r
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er einem Journalisten vom Dialog mit
Beck, und das rächt sich.
Journalisten nennt Emil Beck gern – angeblich nur im Spaß – „Ratten“ oder „kleine Stinker“, weil sie ihm nach seiner Auffassung den Erfolg neiden. Alexander
Pusch bekommt eine schriftliche Verwarnung und einen Brief hinterher, in dem
Beck „Dankbarkeit“ einfordert:
„Vielleicht erinnerst Du Dich, dass ich
Dir in der Trainersitzung bereits gesagt
habe, dass Du möglicherweise heute auch
an einem 2. oder 3. Zeichenbrett in einem
Büro als Technischer Zeichner bei einem
Monatsgehalt von vielleicht 2000,– DM
brutto arbeiten könntest. Stattdessen hast
du ,nur‘ mit der Mittleren Reife eine tolle
Karriere gemacht.“
Als Pusch 1989 mit der Firma „Musketier“ einen Werbevertrag abschließen will,
wird ihm der Deal verboten, weil das
Fechtzentrum Verträge mit anderen Ausrüstern hat. In einem Vermerk liest Pusch:
„Du hast ein Daimler-Benz-Fahrzeug
kostenlos gefahren, hast eine wunderschöne Wohnung, trägst sehr gute Kleidung und
kannst es Dir leisten, in sehr guten Lokalen essen zu gehen. Du siehst, es geht Dir
glänzend, und darauf bin ich stolz und
glücklich darüber, dass ich einiges dazu
beitragen konnte.“
Längst ist Pusch zum Outcast von Tauberbischofsheim geworden. Dass er gelegentlich mit der Hausordnung über Kreuz
gerät, weiß Beck auch von Menschen, die
ihm als Zuträger behilflich sind. Emils Detektive. Einer von ihnen hat zu dieser Zeit
den Beinamen „das Auge“: Matthias Behr
ist ein erfolgreicher Fechter und leitet zudem das hauseigene Internat.
Auch Behr war elf Jahre alt, als er Emil
Beck zum ersten Mal begegnete. Der Junge, der ohne Vater aufwuchs, sah seinen beiden Brüdern beim Fechten zu. Beck fragte
ihn, warum er nicht auch Sport treibe, gab
ihm einen Schlag auf den Hinterkopf und
sagte: „Nächste Woche fängst du an.“
Matthias Behr hat Emil Beck fast zwei
Jahrzehnte seines Lebens bewundert. Beck
war Behrs Vaterersatz. Behr erzählte Beck,
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was er wusste, etwa, wenn ihm auffiel, dass
Alexander Pusch weniger trainierte als die
anderen. Über Jahre verband Behr und
Pusch Misstrauen.
Behr heiratete zum ersten Mal, als er 22
war. Seine Ehe war wie bei Emil und Mami:
Er war nie da. Mit 31 erfuhr er von Beck,
dass er mal dessen Nachfolger werden soll.
Mit 34 ließ er sich scheiden, wichtig war
ihm nur sein Sport.
Das ändert sich, als er Zita Funkenhauser näher kennen lernt. Sie ficht ebenfalls
in Tauberbischofsheim und verhilft Beck zu
jenem Moment während der Olympischen
Spiele 1988 in Seoul, den er „wie eine Reise in den Himmel“ empfindet: Drei seiner
Fechterinnen gewannen Gold, Silber und
Bronze. Zita Funkenhauser wurde Dritte,
fanatisch war sie nie.
1993 führt Matthias Behr ein Gespräch
mit Emil Beck, das ihrem Verhältnis eine
Wendung gibt. Behr möchte noch einmal
heiraten und hat sich entschlossen, die
Nachfolge von Beck abzulehnen, „weil
sonst die nächste Scheidung programmiert
ist“. Er möchte mehr Zeit in seine Familie
investieren und riskiert, dass er damit Eingang findet in eine Kladde, die Beck „Handicap-Akte“ nennt. Er vermerkte darin die
aus seiner Sicht negativen Eigenschaften
aller Mitarbeiter.
1996 will Emil Beck noch einmal auf den
Gipfel, es ist das Jahr der Olympischen
Spiele in Atlanta. Zita Funkenhauser bringt
per Kaiserschnitt Zwillinge zur Welt. Einen Tag bevor Matthias Behr als Betreuer
der deutschen Fechter nach Amerika fliegen soll, wird sie aus dem Krankenhaus
entlassen. Sie ist pflegebedürftig, und Behr
beschließt, bei seiner Frau zu bleiben.
Atlanta wird zum Desaster für Tauberbischofsheim. Eine einzige müde Bronzemedaille bringt die Entourage mit nach Hause
– und Emil schreitet zur Abrechnung.
Matthias Behr bekommt weniger Gehalt, Beck entzieht ihm die Leitung des
Ressorts „Soziales“ und erklärt ihn zur unerwünschten Person bei Führungskonferenzen. In einem Brief legt er nach:
„Obwohl sodann die Niederkunft zeitgerecht erfolgte, die Zwillinge und Mutter
wohlauf waren (…) hast Du damals auf eine
Teilnahme verzichtet (…) Dein ,öffentlicher
Feldzug für Familie und Freizeit‘ ist daher
ein Schlag ins Gesicht all derjenigen, die
Woche für Woche und Jahr für Jahr erhebliche persönliche Opfer bringen. In Atlanta,
als es um die Existenz des Fechtzentrums
ging, hast Du Deine Trainerkollegen und
mich ganz persönlich im Stich gelassen.“
Zita Funkenhauser hat sich inzwischen
in Tauberbischofsheim als Zahnärztin niedergelassen. In ihr erkennt Beck eine Art
subversives Element, das den Gatten von
der Arbeit abhält und so allmählich das
schöne Sportzentrum zersetzt:
„Richtig ist, dass Du nicht in Not geraten
bist, sondern Deine beruflichen Ambitionen
den beruflichen und privaten Wünschen
212
von Zita untergeordnet hast. Diese hätte
nach meinem Dafürhalten zunächst durchaus als Assistentin arbeiten und das Investitionsrisiko, das unweigerlich mit der Einrichtung einer neuen Praxis verbunden ist,
sowie die zeitliche Belastung verringern
können. Leidtragender ist – wie so oft –
der Olympiastützpunkt.“
Nur so kann es gehen, findet der Absender. „Wie soll man zu Leistung kommen in unserer heutigen Zeit, wenn ich
nicht ständig motivierend tätig bin?“
E
mil Beck hat den Gipfel nicht wieder
erreicht. Der Zeitgeist der Neunziger
hat sich seinen Weg sogar bis nach Tauberbischofsheim gebahnt. Auch im toten
Winkel von Baden-Württemberg gibt es
Internet und Ecstasy, und Fechten ist wieder das, was es vor Emil Beck war: eine Angelegenheit für Liebhaber.
Am 29. Juni 1999 tritt Beck zu seinem
letzten Gefecht an. Er fürchtet, dass seinem
Lebenswerk wegen des anhaltenden Misserfolgs die Fördergelder gekürzt werden.
Er will seinen Lebensfilm noch mal an den
Anfang spulen.
Um elf Uhr ruft er 39 Trainer und Mitarbeiter zu einer Sitzung zusammen. Darin erklärt er, die Schuld am Niedergang
trügen Matthias Behr und Alexander
Pusch. Behr hat zuletzt 350 Überstunden
im Jahr geleistet, Pusch kam auf 500.
„Hiermit fordere ich dich auf zu gehen“,
sagt Beck zu Behr. Pusch gibt er eine Frist
bis zum nächsten Jahr.
Neben Behr sitzt Ute Vahid. Sie ist seit
21 Jahren Behrs Stellvertreterin im Internat. In den letzten zehn Jahren ist Behr
bei Beck mehrfach wegen einer Gehaltserhöhung für sie vorstellig geworden. Vergebens, Ute Vahid musste zum Tarif weiterarbeiten. Jetzt sagt Beck zu ihr: „Und
wenn der Behr weg ist, kriegen Sie 1000
Mark mehr.“ Beck sagt heute: „Ich bedaure diese Äußerung. Das ist mir leider so
rausgerutscht.“
Behr und Pusch werden wegen „psychischer Überforderung“ krank geschrieben.
Nach Wochen kehren sie auf ihre Planstellen zurück. Funktionäre, Trainer und
Sportler haben sie ihrer Solidarität versichert und Beck zum Rücktritt gedrängt.
Rücktritt? Er denkt nicht dran. Emil Beck
sitzt in seinem Büro und hat die Jalousien
runtergelassen. Er befindet sich zurzeit generell zwischen Licht und Schatten.
Einerseits, meint er, sei ja für die Angestellten inzwischen wieder alles gut. „Es
läuft optimal. Wir arbeiten gut zusammen,
denn wir haben ein gemeinsames Ziel.“
Andererseits gehe es ihm jetzt persönlich
ziemlich schlecht. Die Zeitungen trieben
ein böses Spiel mit ihm. „Ich bin weich,
viel zu weich“, sagt Emil Beck. „Glauben
Sie mir, ich bin nicht der Feldwebel, zu
dem mich einige machen wollen.“ Das tut
ihm weh. Im Stillen habe er deshalb schon
oft geweint.
Matthias Geyer
d e r
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Wissenschaft•Technik
Prisma
Öko-Regionen der Aktion „Global 200“
■ stark bedroht
Quelle: WWF
■ gefährdet
U M W E LT
Weltkarte der Vielfalt
N
eue Wege im Artenschutz will die Umweltstiftung World
Wide Fund for Nature (WWF) mit der Aktion „Global
200“ gehen. Auf einer „Weltkarte des Lebens“ haben die Naturschützer insgesamt 232 ökologische Schlüsselregionen der
Erde verzeichnet, die einen Großteil der biologischen Vielfalt
beherbergen. „Wenn es gelingt, diese Öko-Regionen zu schützen, könnten 90 Prozent der Biodiversität langfristig erhalten
werden“, sagt WWF-Mitarbeiter Michael Evers. Zu den ausge-
Zu dick ohne Milch
K
inder, die nicht gestillt werden,
haben ein höheres Risiko,
schon in jungen Jahren übergewichtig zu werden. Das geht aus einer im Fachblatt „Ärztliche Praxis“
veröffentlichten Studie hervor. Fast
jedes fünfte Kind, das nie an Mutters Brust lag, war bereits bei der
Einschulung zu dick oder litt sogar
unter „Fettsucht“ mit einem Körpergewicht von mindestens 20 Prozent über der Norm. Bei Kindern,
die länger als ein Jahr gestillt wurden, waren nur knapp sechs Prozent zu dick. Eine Erklärung für
dieses Phänomen gibt es bislang
nicht. Stillen gilt jedoch ohnehin
als förderlich für die Entwicklung
von Kindern. Das natürliche Alter
für den Verzicht auf die Mutterbrust liegt nach Ansicht der
amerikanischen Anthropologin
Katherine Dettwyler sogar erst
zwischen 2,5 und 7 Jahren: „Es gibt
viele Kulturen in der Welt, in denen die Kinder drei, vier oder gar
fünf Jahre lang gestillt werden.“
AIDS
Nothilfe am Morgen danach
W
Stillende Mutter
d e r
■ „Global 200“-Meeresgebiete
wählten Regionen zählen die Amurregion im Osten Russlands,
die Galapagos-Inseln vor der Küste Südamerikas oder auch
das Great Barrier Reef vor Australien. Die ausgewählten Lebensräume zeichnen sich durch großes Artenspektrum oder
besondere ökologische Phänomene aus. „Wir wollen unsere
Energien auf diese Schlüsselregionen konzentrieren, anstatt zu
suggerieren, wir könnten überall etwas tun“, sagt Evers.
Deutschland schneidet im internationalen Vergleich mager ab.
Nur das Wattenmeer, die Alpenregion sowie einige Vogelrastplätze sind bei „Global 200“ erfasst. Mit dem neuen Konzept
hofft der WWF, dem Verlust an biologischer Vielfalt entgegentreten zu können. Fast die Hälfte der ausgewählten Gebiete
sind nach Angaben der Umweltstiftung stark bedroht.
PICTURE PRESS
ERNÄHRUNG
■ Zustand noch stabil
s p i e g e l
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er fürchtet, sich beim Sex mit dem Aids-Erreger infiziert zu haben, kann neuerdings
darauf hoffen, die HI-Viren wieder loszuwerden,
ehe sie sich in seinem Körper fest einnisten. Immer mehr amerikanische Aids-Kliniken und AidsÄrzte bieten rund um die Uhr eine „Post-Exposure
Prophylaxis“-Therapie (PEP) an, die spätestens
72 Stunden nach dem sexuellen Kontakt begonnen werden sollte. Die 2500 Dollar teure und 30
Tage dauernde Behandlung basiert auf mittlerweile bewährten Aids-Medikamenten wie AZT,
3TC und Sustiva. Bislang ist nicht eindeutig erwiesen, ob diese Behandlung am Morgen danach
eine HIV-Infektion wieder zu eliminieren vermag,
auch wenn viele Anzeichen dafür sprechen. So
kam es bei keinem von 436 PEP-behandelten, sexuell aktiven Patienten in San Francisco zu einer
HIV-Infektion. Trotz der hohen Kosten und des
Risikos von Nebenwirkungen ist die Nachfrage
groß. Der New Yorker Aids-Arzt Gabriel Torres,
der die PEP-Behandlung anbietet: „Wir bekommen unglaublich viele Anfragen.“
215
Prisma
Wissenschaft•Technik
MEDIZINTECHNIK
Techno-Nase riecht Krankheiten
S. GILL
ediziner in England haben ein Gerät entwickelt,
das Krankheiten riechen kann. Die „Diag-Nose“
arbeitet mit chemischen Sensoren, die denen der
menschlichen Nase ähneln. „Bestimmte Krankheiten
produzieren charakteristische Gerüche“, erklärt Selly
Saini von der Cranfield University im englischen Bedfordshire, der das Gerät zusammen mit seinem Kollegen Jan Leiferkus entwickelt hat. Derzeit werde das
Verfahren zur Diagnose von Harnwegsentzündungen
getestet. Auch Tuberkulose, bestimmte Darmkrebse
oder Wundinfektionen kämen für die Schnüffeldiagnostik in Frage. Im Vergleich zu bisherigen Analyseverfahren soll die Methode sehr preiswert und schnell
sein. Um etwa Urin auf Krankheitskeime hin zu untersuchen, wird eine Pinkelprobe mit Nährlösung versetzt, die infektiöse Bakterien zum Wachstum und damit zur verräterischen
Geruchsstoffproduktion
anregt. Während konventionelle Analysemethoden bis zu zwei Tage
dauern können, liefert
der technische Schnüffler seine Diagnose
schon nach knapp sechs
Stunden ab. In Laborexperimenten arbeitete
das System zudem mit
95-prozentiger ErfolgsErfinder Leiferkus, Saini
quote. Sogar 80 Prozent
der an den Infektionen beteiligten Bakterientypen
konnte das Gerät erschnuppern. „Menschen müssen
sehr gut trainiert sein, um Krankheiten zu riechen“,
sagt Saini und verweist auf die Schnüffelkünste vor allem chinesischer Ärzte, die das Verfahren seit Jahrhunderten kennen. Diabetiker sollen beispielsweise
einen „fruchtigen“ Mundgeruch haben.
ELEKTRONIK
Scharfe Chips
AGENTUR FOCUS
M
Jugendliche bei der Vogelbeobachtung
ORNITHOLOGEN
Peilgerät für Piepmätze
G
emeinhin jagt der Vogelkundler mit den Ohren. Irgendwo im
Geäst, das hört er genau, verbirgt sich der Dreizehenspecht oder
flötet der Pirol „ogloühö“ – nur sehen kann er ihn nicht. Geradezu unsportliche Peilhilfe leistet ein neuartiger Lauschangriff mit dem Laptop.
John Spiesberger von der University of Pennsylvania nutzt den Umstand, dass Geräusche mit Zeitverzögerungen auf mehrere Mikrofone
auftreffen. Aus der Laufzeitdifferenz lässt sich ungefähr die Position
der Geräuschquelle errechnen. Mindestens fünf Mikros, fand Spiesberger heraus, sind notwendig für eine halbwegs genaue Ortung in allen drei Raumachsen. Doch Reflexionen und Echos verfälschen die
Messungen. Mit Hilfe des Computers lassen sich die schwächeren
Echos vom direkt auftreffenden Vogellaut trennen. Durch die Kombination beider Verfahren ist eine Lokalisierung der Vögel möglich.
Herkömmliches CCD
neue Anordnung der Fotodioden
Licht
igitale Fotos in besserer Qualität verspricht
ein neuartiger Bildsensor der japanischen
Firma Fuji. Herzstück von digitalen FotoapparaFototen ist ein so genannter CCD-Sensor („Chargedioden
Coupled Device“): Schachbrettartig angeordnete Fotodioden, die für Licht in den drei Grundfarben Rot, Grün und Blau empfindlich sind, erzeugen bei Beleuchtung Elektronen, die auf
Transportkanälen an eine Kante des Sensorchips
befördert und in elektrische Signale umgewandelt werden. Im Streben nach höherer Auflösung
bringen Hersteller immer mehr Sensoren auf einem Chip unter, dadurch schrumpft aber die
Fläche der einzelnen Fotodioden und damit
auch ihre Lichtempfindlichkeit. Der jetzt neu
entwickelte Chip enthält achteckige Fotodioden, die in einem
wabenförmigen Muster dichter beieinander liegen als bei herkömmlichen Sensoren. Mit „Super CCD“ aufgenommene
Bilder wirken daher wesentlich detailreicher, und die im Ver-
D
216
Super CCD
d e r
Transportkanal
Elektronen
Licht
Elektronen
Transportkanal
Fotodioden
gleich zur Schachbrett-Anordnung größere Fläche der Fotodioden sorgt für höhere Lichtempfindlichkeit und bessere Wiedergabe des Bildkontrasts. Die scharfen Chips will Fuji vom
kommenden Jahr an in seine Kameras einbauen.
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Wissenschaft
„Moai“-Felsskulpturen auf der Osterinsel: Mit Hebeln zur Küste gewuchtet, standen die tonnenschweren Steinkolosse als Totenwächter
ETHNOLOGIE
Botschaft aus Fantasia
Sie waren schreibkundige Kannibalen, feierten Sexualriten und errichteten Riesenstatuen aus
Tuffstein – die Bewohner der Osterinsel schufen eine rätselhafte Hochkultur. Nun liegt ein
Entzifferungsversuch ihrer Schrift vor. Handeln die Texte von der Entjungferung junger Mädchen?
M
it hochragendem Bug rollten die
Schiffe der spanischen Südpazifikexpedition von Peru aus Richtung
Westen. 3800 Kilometer Wasserwüste hatte die Flotte bereits durchsegelt – ohne
Landkontakt. Nervös blickte der Kommandeur Don Felipe González de Haedo
zum Horizont.
Am 19. November 1770 löste sich die
Spannung. Kurz vor dem 110. Längengrad
tauchte das „isolierteste Eiland der Welt“
auf (so der US-Forscher Steven Roger Fischer): nahezu baumlos, mit schroffen Gestaden; im Hintergrund erhoben sich Vulkankegel.
Tätowierte Eingeborene, melodiös die
Osterinsel-Sprache „Rapanui“ plappernd,
liefen am Strand zusammen. Am Tag
darauf ließ der Flottenchef, unterwegs
im Auftrag des peruanischen Vizekönigs,
uniformierte Soldaten ans Ufer bringen.
Trommelwirbel erklang, Musketensalven
wurden abgefeuert. Dann wurde den
Wilden ein Annexions-Dekret vorgelesen.
218
Am Ende der Zeremonie gaben die an- schwersten Exemplare jedoch, bis zu 20
kernden Schiffe „San Lorenzo“ und „San- Meter lang, blieben unfertig in den Steinta Rosalia“ 21 Salutschüsse ab. Doch was brüchen liegen. Wenige Hammerschläfür Fremdlinge waren da eingemeindet ge würden genügen, um sie von ihren
worden? Monolithbüsten,
dünnen Felsstegen zu löbeinlosen Krüppeln gleisen. Das ferne Fantasia
3000 km
chend, lagen auf den Felfasziniert. Genetiker und
dern. Am Strand erhoben
Knochenforscher haben
PA Z I F I K
sich große Steinpodeste,
sich mit dem 180 QuadratMarquesasdie Ahu. Auf Klippen und
kilometer großen Soziotop
Inseln
Kraterhängen prangten Äquator
beschäftigt. Dutzende von
eingeritzte Vulva-Zeichen.
Archäologen wühlten seiDie Ohrläppchen vieler
nen Boden um. Doch geSamoa
Tahiti
Eingeborenen waren grobracht hat die Fahndung
tesk in die Länge gezogen.
wenig. Schon die Eckdaten
Osterinsel
Rapa Nui („großes Paddieser Kultur liegen im
del“), die östlichste der poDunkeln.
lynesischen Inseln, bot eine ungeheure KuUm 1350 nach Christus, erzählen alte
lisse. Rund 1000 langnasige Kolosse, die Inselsagen, soll König Hotu Matua, nach
Moai, haben die Osterinsulaner mit Obsi- 120 Tagen Irrfahrt, mit 300 Menschen in
dianmessern und Beilen aus dem Tuff der zwei Doppelbooten das karge Land anVulkanhänge geschlagen. Etliche davon, gesteuert haben. Linguisten gehen von
mit Hebeln zur Küste gewuchtet, standen einer ersten Einwanderungswelle kurz
als Totenwächter auf den Grabanlagen. Die nach Christi Geburt aus. Archäologen
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Y. GELLIE / AGENTUR FOCUS
FOTOS: BAVARIA ( li.); B. BEHNKE (re.)
im „Telegrammstil“. Übersetzen
konnte er sie nicht.
Auch der Dekodierversuch
von Steven Roger Fischer (er
lehrt in Auckland/Neuseeland
und kennt 25 Sprachen) scheiterte. Bis nach Honolulu und Berlin
ist der Experte gereist, um alle in
Museen gelagerten Originaltexte abzuzeichnen. In seinem 1997
erschienenen Opus „Rongorongo“ sind über 12 000 Glyphen abgebildet.
Nur beim Entziffern haperte
es. Eine Sequenz in Fischers Lesung lautet: „Alle Vögel kopulieren mit den Fischen und zeugen
die Sonne.“ Geschlaucht von
dem semantischen Wirrwarr, erlitt der Gelehrte einen Nervenzusammenbruch. Als bleibender
Schaden blieb ein nervöser Tick,
seine Hand zittert.
Jetzt liegt ein neuer, vielleicht
sinnvollerer Anlauf vor. Der Bremer Sprachforscher, Religionswissenschaftler und Übersetzer
altindischer Schriften, Egbert
Richter, 61, hat beim Seminar für
Südseesprachen der Universität
auf den Grabanlagen
Schriftforscher Richter: „Ich kann die Glyphen lesen“
Hamburg eine Promotionsarbeit
Am erstaunlichsten aber blei- eingereicht. Schlichter Titel: „Die Schriftben die Krakelzeichen. Ausge- tafeln der Osterinsel – ein Beitrag zu ihrer
rechnet jene traumversunkenen Entzifferung“.
Krähwinkler, deren Kultur abDas Werk, 214 Seiten lang, bietet an, was
geschottet wie unter einer Kä- die Zunft seit Unzeiten ersehnt. „Ich kann
seglocke gedieh, entwickelten die Glyphen lesen“, behauptet der Außenaus eigener Kraft ein unabhän- seiter. Vier Tafeltexte hat er komplett übergiges Schriftsystem, „Rongo- setzt.
rongo“ genannt – das einzige
Die Arbeit strotzt von Exotika und
in ganz Ozeanien.
schrillen Resultaten. Richter zufolge
„Kohau Rongorongo“, spre- berühren die Texte – halb Bibel, halb Kachendes Holz, nannten die Ein- masutra – das geheimste Kultwesen der
geborenen ihre aus Piktogram- Osterinsel. „Die Tafeln enthalten Details
men (Bildsymbolen) bestehen- über Deflorationen und Sexualriten“, sagt
de Geheimlektüre. In Men- der Codeknacker, „alle Texte umkreisen
schenhaar gewickelt, galten die die Sphäre des Heiligen.“
Brettchen als „tapu“ („heilig,
Mit seinem Deutungsansatz begibt sich
verboten“). Als Schnitzinstru- der Epigrafiker auf spannendes Terrain.
ment dienten Haizähne und Was die Ethnologie über die Sitten der
Obsidianstichel. Nur 21 Holzta- Osterinsulaner in Erfahrung gebracht hat,
feln sind bis heute erhalten ge- ist an Bizarrerie kaum zu übertreffen. Kostblieben.
proben:
Doch welche Botschaft ist in π Im großen Stil frönte das Volk dem Kanden heiligen Zeichen gespeinibalismus. Priester opferten Kriegsgechert? Während Missionare die
fangene und Straffällige, aber auch – bei
„Moai“-Figuren*: Ruinen im Rongorongo-Land
Sprache der Osterinsulaner
Fruchtbarkeitskulten – kleine Kinder.
Hernach wurde geschlemmt. „Als bewiederum tippen aufs 7. oder 8. Jahr- recht bald von diesen erlernten, sind bis
heute alle Versuche gescheitert, auch die
gehrteste Stücke galten Finger und Zehundert.
hen“ (der Ethnologe Alfred Métraux).
Auch über die Herkunft der Rätselrasse Schrift zu entschlüsseln.
Seit 130 Jahren mühen sich Epigrafiker, π Alle Jugendlichen mussten sich einer
wird gestritten. Viele Experten vermuten,
schmerzhaften Tätowierung unterziedass die Seefahrer von den rund 3600 Ki- in das System aus Strichmännchen, Vögeln
hen. Farbstoff aus Pflanzenasche wurde
lometer entfernten Marquesas-Inseln aus und stilisierten Früchten einzudringen. Naihnen mit Knochenspitzen in die Haut
starteten. Andere nennen als Ausgangs- vigationszeichen wurden darin gesehen,
geritzt.
punkt der Reise die Gesellschafts-Inseln Ahnenlisten, auch pure Ornamentik. Der
(4300 Kilometer) oder Samoa (6400 Kilo- deutsche Epigrafiker Thomas Barthel, der π Mädchen der Oberschicht sperrten die
„Doyen der Rongorongo-Forschung“
Priester in Höhlen. Sie wurden mit Brei
meter).
(„New Scientist“), deutete die Glyphen in
gemästet und – zur Gelbtönung der
* Wiederaufrichtung umgestürzter Osterinsel-Statuen.
den fünfziger Jahren als „Embryoschrift“
Haut – mit Safran eingerieben. Forscher
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219
deuten die Strapaze als „ästhetische
Maßnahme“: Fett und bleich zu sein
galt in dem Mini-Land als erotisch.
Als Mitte des 19. Jahrhundert Missionare vom Orden Sacrés-Coeurs das Eiland
betraten, fühlten sie sich wie in einen Höllenpfuhl versetzt. Die Häuptlinge frönten
der Vielweiberei. Arme Tröpfe trieben es
umgekehrt und teilten sich zu zweit oder
dritt eine Geschlechtspartnerin. Ehescheidungen wurden „ohne
jede Formalität durchgeführt“ (Métraux).
In der Götterwelt wimmelte es von halb verwesten
Unholden und wirren Kopulationsakten. Am schlimmsten treibt
es der Fruchtbarkeitsgott „Makemake“. Um den Menschen zu erschaffen, ejakuliert er zuerst in einen Kürbis.
Dann begattet er einen Felsklumpen, ehe
er im dritten, endlich erfolgreichen Anlauf
in einen Haufen geformten Sand onaniert.
Und überall regierte die Macht irrationaler Verbote. Tabu war der Verzehr von
Tunfisch während der Wintermonate.
Kreuze und aufgehäufte Zweige markierten heilige Stätten. Auch die Schrifttafeln,
in separierten Hütten aufbewahrt, umgab
eine Aura des Unnahbaren.
Solchen Naturburschen die unbefleckte
Empfängnis nahe zu bringen, fiel den Missionaren anfangs nicht leicht. Mit allgegenwärtiger Zauberkraft hielt der „Timo“,
der Kultchef, seine Untertanen im Bann.
Der Oberschamane war zuständig fürs Regenmachen und Wunderheilen. Er konnte
bei Zwist die Blutrache ausrufen. Seine
Helfer nabelten Babys ab und wickelten
Verstorbene in Bastmatten, ehe diese auf
den Ahu-Terrassen abgelegt wurden und
langsam verwesten.
Kaum 10000 Einwohner bevölkerten den
Zwergstaat zu Spitzenzeiten. Bananen,
Zuckerrohr und Süßkartoffeln bauten die
Bauern an. Ihre Häuser waren bis zu hundert Meter lang. Die Kinder sausten mit
Blätterschlitten aus Keulenlilien die Vulkanberge hinunter. Mit Binsenflößen in
Form von Elefantenstoßzähnen surften die
Jungmannen auf Pazifikwellen.
Als die Spanier im 18. Jahrhundert das
Eiland aus der Isolation rissen, war es mit
dem Wohlleben längst vorbei. Kriege und
Öko-Katastrophen hatten das Volk auf
rund 4000 Einwohner dezimiert. Umgestürzt lagen die Steinstatuen auf den Feldern. Ihre Hüte aus rotem Tuff waren zerbrochen, die Korallen, die einst ihre Augenhöhlen zierten, herausgebrochen.
Dann ging der Niedergang in den freien
Fall über. Im Dezember 1862 und im März
1863 deportierten Sklavenjäger ein Drittel
der Urbevölkerung. Die wenigen Rückkehrer schleppten Pocken auf die Insel ein.
Im Jahr 1877 lebten dort nur noch 111 Eingeborene.
Was für ein Aderlass! Innerhalb weniger
Jahrzehnte waren die „Einsteins der Oster220
BRITISH MUSEUM
Wissenschaft
insel“ (Fischer) zu einer aussterbenden
Spezies herabgesunken, ihre Kulturtaten
ins Unerklärliche entrückt. Und auch die
schriftliche Botschaft dieses Volkes, eingekerbt in glatt polierte Holztableaus, schien
für immer unentzifferbar.
Bei den Schrifttafeln waren die Verluste
besonders hoch. Als 1864 die ersten Missionare anrückten, entdeckten sie verwundert „in allen Häusern“ die sonderbaren Tabletts. Kurz danach veranstalten
die Wilden eine Art Bücherverbrennung.
Eilig warfen sie ihre Schrifttafeln ins Feuer. Nur wenige Exemplare konnten gerettet werden.
Kult auf dem Krater
Die Lesung der Osterinselschrift
Die Schrift der Osterinsel besteht, wie ursprünglich das Chinesische, aus Bildzeichen
(Piktogrammen). Hinweise auf ihre Bedeutung
lieferten im 19. Jahrhundert Ureinwohner, die
einige der Holztafeln übersetzten.
Mann
Federstab
Fregattvogel
Vulva
Feder
Vogel mit gesenktem Kopf
(untersuchen,
einritzen)
Berg
Die Bedeutung der meisten Glyphen blieb jedoch unklar. Richter zufolge verstecken sich
dahinter so genannte Fusionszeichen. Sie sind
aus mehreren Bildern zusammengesetzt.
Interpretation nach E. Richter
gemeint ist das religiöse Oberhaupt
der Insel, der Timo
gemeint ist der geschmückte Absolvent
der Jugendweihe,
der poki manu
(Vogelkind)
gemeint ist die
Untersuchung der
geschlechtsreifen
Mädchen anlässlich
des Fruchtbarkeitsfests auf dem
Orongo-Felsen
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Ganz ohne Anhaltspunkte stehen die
Epigrafiker dennoch nicht da. Neugierig
geworden durch das Zerstörungswerk, hakten die ersten Besucher nach. Welche Art
von Nachrichten waren auf den Tafeln fixiert? Die Wilden verweigerten die Auskunft.
Schließlich gelang es doch, zwei Eingeborene zum Dolmetschen zu bringen. 1873
nahm der Bischof Tepano Jaussen den
nach Tahiti ausgewanderten Plantagenarbeiter
Metoro ins Verhör. Der
Geistliche hielt den Daumen
auf jede einzelne Glyphe und
ließ sie sich isoliert übersetzen.
Doch die Gesamtlesung ergab keinen Sinn. Eine Glyphen-Abfolge etwa
lautet in Metoros Übersetzung: „er
tanzt“, „das Boot“, „der Mensch verneigt
sich“, „die Hand für die Fruchtbarkeit“.
Noch konfuser wirken jene „kosmogonischen Gesänge“, die der Greis Ure
Vaeiko ablieferte. Er ließ sich 1886 – angeheitert durch Alkohol – zum Glyphenlesen
überreden. Der Alte blickte auf die Tafeln.
Dann schloss er die Augen und verfiel für
Stunden in einen raunenden Singsang.
Waren die Europäer geleimt worden?
Oder überstieg der religiöse Kosmos
der Insulaner ihre Vorstellungskraft? Kein
Gelehrter hat es je geschafft, den diffusen Wortbrei mit Bedeutung zu füllen.
Viele Forscher halten Metoro und Ure
Vaeiko für Betrüger. Sie seien „Plapperer“
gewesen.
Der Bremer Experte Richter sieht das
ganz anders. Immer wieder hat er die von
Metoro erstellten Wortlisten analysiert,
und – gestützt auf die ethnologische Forschung – nach kultischen Zusammenhängen gesucht. „Plötzlich schälte sich das
Leitmotiv der Texte heraus“, erläutert er,
„die Glyphen handeln von der Initiationsfeier auf dem Orongofelsen.“
Mit diesem Stichwort ist die geheimste
Kultpraxis der Insel berührt. Einmal im
Jahr, zum Frühlingsanfang, strömte das
Volk zum Zauberplatz von Orongo, um ein
Fruchtbarkeitsfest zu feiern. Der Ethnologe Métraux nannte die Party zu Ehren des
Hauptgottes Makemake ein „langes mystisches Drama“.
Zumindest der Ort des Geschehens lässt
sich eindeutig identifizieren. Das Kultdorf
Orongo, Sitz des Timo, lag, 300 Meter hoch,
auf dem windigen Grat des Vulkans Rano
Kao. Archäologen haben dort 46 Schieferplattenhäuser freigelegt. Die umliegenden
Felsen sind mit Petroglyphen übersät, vornehmlich Darstellungen des weiblichen
Geschlechtsteils.
Auch über den Ablauf der Zeremonie
ist einiges bekannt. Die Stämme führten
Tänze auf. Rauschgetränke, hergestellt aus
Rauschpfeffer („Piper methysticum“),
heizten die Stimmung an. Wer als Erster
das Ei einer Seeschwalbe ergatterte, war
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Y. GELLIE / AGENTUR FOCUS
Wissenschaft
Zeremonial-Felsen von „Orongo“*: „Die Blume zittert, der Stock dringt ein“
Osterinsel-Figur
* Mit eingeritzten Steinglyphen.
222
metscher Metoro gesteckt haben könnte.
Um sich aus der Affäre zu ziehen, so Richter, habe der Ureinwohner „die Bedeutung
mancher Worte bewusst verschleiert“.
Für seine These kann der Epigrafiker
Beweise vorlegen. Die Glyphe für Vulva
etwa übersetzt Metoro vornehm mit „Pua“
(Rapanui für „Blüte“) oder „gebundene
Frucht“. Kopulationssymbole umschreibt
er mit „kua huki“ („er durchbohrt“). Die
Glyphe für den Timo – ein Strichmännchen mit Federstab – ließ der Eingeborene
völlig im Vagen. Hier steht manchmal nur
das Personalpronomen „er“.
Seitenweise deckt Richter solche Camouflagen auf. Unverständliche Wortbilder rücken
plötzlich in einen sinnvollen Zusammenhang. Und immer wieder wird in den Glyphen jenes
„besondere Werk“ (Metoro) angesprochen, das der Timo ausführt. In einem anderen Manuskript heißt es: „Der Stock
bannt, die Blume zittert, der
Stock dringt ein.“
Ob der Autor bei seinem Vormarsch ins Rongorongo-Dickicht
wirklich den rechten Weg eingeschlagen hat, muss nun der
Hamburger Universitätsprofessor Rainer Carle entscheiden.
„Ein interessanter Ansatz“, sagt
er, „aber die Überprüfung ist extrem schwierig.“ Diesen Monat
will eine Uni-Kommission einen
Zweitgutachter ernennen.
Fragt sich nur wen. Rapanui
ist eine absolute Exotensprache.
Keine zehn Menschen weltweit
können sie verstehen.
J. AMOS / AGENTUR FOCUS
der Star des Tages. Er wurde zum Ritualkönig („Vogelmann“) gewählt, mit Frauenhaar geschmückt, in eine Hütte gesperrt
und durfte sich ein Jahr lang nicht
waschen.
Im Mittelpunkt standen indes die Jugendlichen. In Scharen wurden alle geschlechtsreifen Jungen sowie Mädchen
nach der ersten Blutung auf den Vulkanberg geführt. Die Kandidaten, „poki
manu“ („Vogelkinder“) genannt, überbrachten dem grell angemalten Timo
Früchte und kleine Geschenke. Dann ging
es zur Sache:
π Die Jungen mussten sich hinlegen. Priester ritzten ihren
Penis ein („Inzision“).
π Bei den Mädchen wurde mit
einem Stock untersucht, ob
die Vulva „teketeke“ („unberührt“) war. Bei Auserwählten machte der Timo von
seinem Recht der ersten
Nacht Gebrauch.
Als britische Ethnologen, die
Anfang dieses Jahrhunderts auf
der Insel recherchierten, Wind
von dem Ritual bekamen, hielten sie es erst für „ein Phantasieprodukt der modernen Osterinsulaner“. Mittlerweile steht
fest, dass es solche Zeremonien
tatsächlich gab. Auf dem SamoaArchipel wurden Deflorationen
sogar auf öffentlichen Plätzen
durchgeführt.
Angesichts dieser heidnischen
Handlung wird deutlich, in welcher Klemme der frisch zum
Christentum konvertierte Dol-
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Matthias Schulz
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Wissenschaft
Angst vor Männerpanik
Taugen Blutdrucksenker als Pille für den Mann?
Eine US-Medizinerin hat ihre verhütende Wirkung entdeckt.
Doch in der Pharmaindustrie stößt sie auf Widerstand.
I
rgendwann begann sich Susan
Benoff zu wundern. Immer
wieder kamen Paare zu der
Reproduktionsmedizinerin von
der New York University School
of Medicine, die darüber klagten,
keine Kinder zeugen zu können.
Nur warum?
Die Spermien der Männer, so
beteuert Benoff, erwiesen sich im
Labor als „absolut normal“. Und
doch waren sie ganz offensichtlich unfruchtbar.
Die Wissenschaftlerin fand die
Lösung des Rätsels, als sie die
Krankengeschichten ihrer Patienten miteinander verglich. Es
stellte sich heraus, dass alle verhinderten Väter unter Bluthochdruck litten und das Problem mit
so genannten Calciumblockern
bekämpften.
In Tests fand Benoff ihren
Verdacht bestätigt: Der Calciumblocker Nifedipin bewirkt eine
subtile Veränderung männlicher
Samen. Er verhindert, dass Rezeptoren an die Oberfläche der
Spermien dringen, mit deren Hilfe sie an der weiblichen Eizelle
andocken und diese befruchten.
Und noch ein Weiteres entdeckte
Benoff: Die Unfruchtbarkeit setzt Paar beim Sex: Trick mit dem Rezeptor
etwa nach einmonatiger EinnahDenn bisher ist es nicht gelungen, Mänme eines blutdrucksenkenden Medikaments
mit dem Wirkstoff Nifedipin ein. Wird das nern eine Substanz anzubieten, die so zuMittel abgesetzt, so ist der Mann nach etwa verlässig verhütet wie die Pille der Frau,
nur für begrenzte Zeit die Befruchtung verdrei Monaten wieder zeugungsfähig.
Benoff war begeistert. Sie war offenbar hindert, keine Einbuße der Potenz mit sich
dem idealen Verhütungsmittel für den bringt und auch keine weiteren ernsten
Nebenwirkungen zeigt.
Mann auf die Spur gekommen.
Fettige Sperre
Verhütende Wirkung von Bluthochdruckmitteln
Im Hoden reifen die Spermien heran. Unter dem Einfluss
des Wirkstoffs Nifedipin bildet sich an ihren Membranen
eine cholesterinhaltige Fettschicht.
Weg der
Spermien
Nif
ed
ipi
n
Gebärmutter
226
Eizelle
Spermium
1
2
Eizelle
Eileiter
Hat der Mann Calciumblocker genommen, können die Rezeptoren
die Fettschicht nicht durchdringen.
3 Das Spermium kann deshalb
nicht an die Eizelle andocken
– die Befruchtung ist unmöglich.
Eizelle
ohne Nifedipin
Eierstock
Hoden
FOLIO ID
MEDIZIN
Die jüngste Errungenschaft auf diesem
Gebiet zum Beispiel, die im Frühjahr aus
Großbritannien gemeldet wurde, erfüllt
kaum eines dieser Kriterien.
Medizinern aus Manchester ist es gelungen, mit einer Kombination aus dem
männlichen Sexualhormon Testosteron
und Desogestrel – einer Progesteronform,
die auch in der Antibabypille eingesetzt
wird – die Spermienproduktion bei Männern zu unterbrechen.
Doch selbst hohe Verabreichungsdosen erreichten in Tests
nur eine Verhütungsquote von
rund 65 Prozent. Der tiefe Eingriff in den Hormonhaushalt der
Männer führte zudem zu beträchtlichen Nebenwirkungen
wie Hautausschlag oder deutlichem Absinken des Cholesterinspiegels im Blut.
All dies, so versprechen
Benoffs Versuche, wäre bei einer
Verhütungspille auf Basis der
Calciumblocker nicht zu befürchten. Schon bei ersten Tests
im Reagenzglas zeigte sich eine
Zuverlässigkeit von 95 Prozent.
Würde die Substanz auf ihre
empfängnisverhütenden Eigenschaften hin optimiert, so wären
noch weit bessere Ergebnisse
denkbar.
Der Trick mit dem Rezeptor
macht zudem einen Eingriff in
den Hormonhaushalt des Mannes überflüssig.
Anders als bei der Sterilisation
ist die Unfruchtbarkeit vorübergehend. Ernste Nebenwirkungen
sind nicht zu befürchten, das hat
die jahrzehntelange Erfahrung
mit Nifedipin-Präparaten hinlänglich bewiesen.
Auf einer Veranstaltung der
American Society of Reproductive Medicine vorigen Monat erklärte die Sprecherin der Gesellschaft und
Benoff-Kollegin Shaun Goodman vom
St. Michael’s Hospital in Toronto detailliert, wie Nifedipin auf Sperma wirkt.
Frisch ejakulierter Samen, so Goodman,
ist zunächst nicht in der Lage, ein Ei zu be-
3
1 Rezeptoren im Inneren des Spermiums
gelangen kurz vor der Befruchtung auf die
Zelloberfläche. 2 Mit Hilfe dieser Rezeptoren
dockt das Spermium an die Eizelle an – es
kommt zur Befruchtung.
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mit Nifedipin
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fruchten. Ungefähr eine halbe Stunde spä- wächst die Zahl der Männer, die in einer
ter schicken die Spermien Rezeptoren, die Zweitehe auch in höherem Alter noch ein
in ihrem Inneren gelagert sind, an die Kind zeugen möchten. Außerdem könnte
Oberfläche der sie umgebenden Membran. allein das Wissen um die eigene UnfruchtErst dann ist der männliche Samen im barkeit viele schrecken, die gar keinen KinStande, sich auf dem weiblichen Ei festzu- derwunsch mehr hegen – für die Industrie
setzen (siehe Grafik Seite 226).
alles Gründe, um Umsatzeinbußen zu
Nifedipin und andere Wirkstoffe dieser fürchten. Benoff: „Die haben einfach
Art jedoch erhöhen in den Samen die Pro- Angst, Geld zu verlieren.“
duktion von Cholesterin, das sich wie eine
Hinzu kommt, dass Verhütungsmittel für
Fettschicht um die Membran legt und auf Männer bei Pharmafirmen als Ladenhüter
diese Weise den Transport der Rezeptoren gelten. „Die gehen davon aus, dass die
von innen nach außen verhindert.
meisten Männer gar keine aktive Rolle bei
Die Probleme für die
New Yorker Wissenschaftlerin begannen,
als sie in der Industrie
nach einem Partner
suchte, um die Entwicklung der Pille für den
Mann voranzutreiben.
Bei sechs führenden
Pharmakonzernen, die
Nifedipin-Präparate im
Sortiment haben, klopfte sie an – und bekam
sechsmal eine Absage.
Auch die Bayer AG, für
die in den sechziger Jahren der deutsche Herzpapst Xaver Fleckenstein den damals als
Wundermittel gepriese- Medizinerin Benoff: Sechs Absagen von Pharmafirmen
nen Wirkstoff entwickelt
hatte, winkte ab. Bei Bayer bestehe „kei- der Familienplanung übernehmen wollen“,
ne Absicht“, so ließen die Leverkusener erfuhr Benoff bei ihrer Rundreise durch
verlauten, „eine Weiterentwicklung von die Pharmawelt.
Nifedipin in der von Dr. Benoff angeregten
Wie drastisch die Angst vor NebenRichtung zu betreiben“.
wirkungen dem Geschäft schaden kann,
Das Unbehagen bei Unternehmen wie zeigte sich vor einigen Jahren in den
Bayer, das mit „Adalat“ zu den Markt- USA. Auch Anfang 1995 ging es um Nifeführern bei blutdrucksenkenden Mitteln dipin.
gehört, ist verständlich. Weltweit benötiIn obskuren Untersuchungen behaupgen rund 100 Millionen Menschen blut- tete ein Pharmaforscher, nachgewiesen zu
drucksenkende Medikamente, um einem haben, dass der Bayer-Wirkstoff das
Herzinfarkt oder einem Schlaganfall vor- Herzinfarktrisiko erhöhe, statt es zu verzubeugen. In Deutschland werden Nifedi- ringern.
pin-Präparate jährlich über 20 Millionen
Prompt brach unter den Patienten in den
Mal verordnet.
USA die Panik aus. Hunderttausende setzAllein die Nifedipin-Präparate Adalat ten Adalat und andere Calciumblocker ab.
von Bayer und Procardia von Pfizer be- An einem Tag verloren die Hersteller an
scheren pro Jahr einen Umsatz von knapp der New Yorker Börse eine Milliarde
vier Milliarden Mark. Bestätigen sich Dollar. Hauptexporteur Bayer musste UmBenoffs Untersuchungen, dann sind rund satzeinbußen von rund 50 Millionen Mark
95 Prozent aller Männer, die diese Mittel – verkraften.
oft viele Jahre lang – schlucken, medikaBenoffs Entdeckung kommt gerade
mentös bedingt unfruchtbar.
jetzt ungelegen, da die Pharmariesen dabei
Millionen zeugungsunfähiger Männer sind, für die Calciumblocker ganz neue
durch Blutdrucksenker: für die Industrie Märkte zu erschließen. Jüngste Forschunein Schreckensszenario. Da hilft es we- gen haben ergeben, dass Nifedipin von
nig, wenn die Unternehmen beteuern, Arteriosklerose bedrohten Gefäßen helfen
dass die meisten Bluthochdruckpatienten kann. Um diesen erfreulichen Nebeneffekt
über 40 Jahre alt sind und somit ihre Fa- zweifelsfrei zu belegen, finanziert Bayer
milienplanung normalerweise abgeschlos- zurzeit zwei klinische Studien.
sen haben.
Susan Benoff dagegen ist immer noch auf
Zum einen werden Calciumblocker zu- der Suche nach Geldgebern, um für Männer
nehmend auch bei chronischen Kopf- die ideale Verhütungspille zu entwickeln.
schmerzen eingesetzt – ein Leiden, das al- Für alle Fälle hat sie sich ihre Entdeckung
tersunabhängig eintritt. Zum anderen patentieren lassen.
Heiko Martens
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T. EVERKE
Wissenschaft
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P. GINTER / BILDERBERG
Wissenschaft
Teilchendetektor im Hamburger Forschungszentrum Desy: „Messungen von nichts sagender Genauigkeit“
D E BAT T E
Sperrt das Desy zu!
Der Teilchenbeschleuniger Desy bei Hamburg, der jedes Jahr 250 Millionen
Mark verschlingt, liefert nur irrelevante und langweilige Ergebnisse – ein Musterbeispiel dafür,
wie die moderne Physik den Laien für dumm verkauft.Von Hans Graßmann
M. BRUZZO / D-DAY
Graßmann, 39, lehrt Physik
an der Universität Udine in
Italien. Mehrere Jahre arbeitete er unter der Leitung
des Nobelpreisträgers Carlo
Rubbia am Forschungszentrum Cern bei Genf. 1994 war
er im Fermilab bei Chicago
an der Entdeckung des TopQuarks beteiligt. In Büchern („Das Top
Quark, Picasso und Mercedes-Benz“, „Alles Quark?“) versucht er, sein Fach einem
breiten Publikum schmackhaft zu machen.
I
n Deutschland ist die Zahl der Studienanfänger im Fach Physik in den letzten Jahren auf die Hälfte gefallen. Und
das ist gut so. Es war höchste Zeit.
Sicher wird nun wieder die Forderung
kommen nach noch mehr Geld für die Forschung, um die Labors noch reicher auszustatten, die jungen Leute anzulocken mit
der Aussicht auf einen sicheren Job, eine sichere Rente. Zugegebenermaßen würde
ein solcher Geldregen die Hörsäle sofort
wieder füllen. Fragt sich nur: Wofür?
Nun ist ja der drastische Rückgang der
Studentenzahlen nur ein Anlass, Journa232
listen nennen es Aufhänger,
den es braucht, um einen
Aufsatz wie diesen auch nur
beginnen zu können. Wie es
um das Verhältnis unserer
Gesellschaft zu den Naturwissenschaften bestellt ist,
konnte schon vorher sehen,
wer nur wollte. Es reicht, in
einen Laden zu gehen und sich ein paar
Bücher über eine der gegenwärtigen Modetheorien zu kaufen – Chaostheorie etwa.
Ich habe mir also Bücher über Chaostheorie gekauft, mehr als ein Dutzend, sicherheitshalber. Da lese ich Zeugs wie
dies: Die Küste Englands sei unendlich lang,
das kriege man nur durch Fraktale in den
Griff, deswegen brauche man die Chaostheorie. In Wahrheit ist die Küste Englands
aber gar nicht unendlich lang. Sie besteht ja
aus einer endlichen Zahl von Atomen endlicher Ausdehnung. Sollten wir die Existenz
der Atome bereits wieder vergessen haben?
Ein einzelner Schmetterling im Urwald,
so lese ich weiter, könne einen Orkan auslösen, vielleicht in New York, vielleicht in
Europa, das müsse berechnet werden, damit
es nicht unversehens einen Orkan gibt in
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New York. Die herkömmliche Physik kann
das nicht, also müsse eine Chaostheorie her.
Aber wenn tatsächlich ein einziger Schmetterling eine relevante Auswirkung aufs Wetter hätte, so gäbe es sicher keinen Wetterbericht, bei all den Milliarden von Schmetterlingen und Vögeln und Blättern. Und so
geht das immerzu weiter. Ich weiß trotz der
Lektüre all jener Bücher bis heute nicht,
was das eigentlich sein soll: die Chaostheorie. Ich glaube, es gibt sie gar nicht.
In diesen Büchern steht nichts, was man
verstehen könnte. Denn das Falsche oder
Inhaltslose lässt sich nicht verstehen. Aber
es fehlt vielen Menschen am Mut zu denken: „Ich versteh es nicht, folglich ist es
entweder schlecht erklärt oder einfach nur
unsinnig.“ Sondern sie glauben, es liege an
ihnen, wenn sie nichts verstehen; Wissenschaft könne man offensichtlich nicht begreifen als Laie. Und bräuchte das wohl
auch gar nicht, sonst würden jene Bücher
doch wenigstens den Versuch unternehmen, es zu erklären.
Auf die Spitze getrieben wird der Trend,
das Wissen hinwegzulügen, durch die Behauptung, Wissenschaft könne gar nicht
verstanden werden ohne Mathematik. Als
SPL / AGENTUR FOCUS
Beispiel Desy, Hamburg, Großfor- deutung hat. Im Grunde genommen nicht
eines von vielen Beispielen ein Artikel aus
der „Zeit“: „Naturwissenschaft lässt sich schungslabor für Teilchenphysik mit weit einmal für die Strukturforscher selbst, denn
mit Bildern popularisieren, aber nur mit über 1000 Mitarbeitern und um die 250 die Messungen werden allmählich genauer
Mathematik verstehen“, heißt es da („Die Millionen Mark Etat pro Jahr. Wissen Sie, als die theoretischen Vorhersagen, sind also
Zeit“, Nr. 37/99, Seite 55). Stimmte das, so lieber Steuerzahler, was die „Teilchen- von nichts sagender Genauigkeit. Auf diedürfte niemand die Bewegung der Erde physiker“ am Desy tun? Und vor allem, se Kritik antwortete der Desy-Mann, man
könne nun einmal so genau messen mit den
um die Sonne verstehen, und wir müssten warum sie es tun?
Sie möchten es gerne wissen? Bitte sehr, Geräten, die man habe. Deshalb tue man es.
immer noch glauben, es sei die Sonne, welDerartige Argumente sind zwar schlüsche sich um die flache Erde dreht. Denn dies ist, was das Desy tut: Neben einigen
kaum einer versteht die Differentialglei- weniger wichtigen Dingen studiert man vor sig, insofern als sie in sich widerspruchsfrei
chungen, welche die Bahn der Planeten allem Pomeronen, Strukturfunktionen und sind. Man kann tatsächlich messen, was
um die Sonne beschreiben. Selbst die Ma- Leptoquarks. (Diese Auflistung basiert auf man messen kann, und wenn man ein teuthematiker, die doch angeblich als einzige einem Vortrag, den kürzlich ein leitender res Messgerät hat, so soll man es nutzen.
die Physik verstehen, müssten noch beim Desy-Manager am Cern gab. Sie berück- Aber diese Schlüssigkeit wird erkauft um
mittelalterlichen Bild des Sonnensystems sichtigt nur die Teilchenphysik, mein eige- den Preis, die Frage nach der Relevanz der
Messungen explizit auszuklammern.
verharren, denn die den Planetenbahnen nes Spezialgebiet.)
Bei den Leptoquarks hinzu Grunde liegenden Diffegegen fehlt sogar die innere
rentialgleichungen sind prinSchlüssigkeit. Mit ihnen nämzipiell unlösbar. Ebenso welich verhält es sich so: Vor
nig kann man aus der Madrei Jahren hat man am Desy
thematik die Existenz der
angeblich neue Physik geAtome ableiten oder die
funden, die man damals mit
Thermodynamik noch sonst
dem Namen „Leptoquarketwas.
Teilchen“ benannt hat. InWoher kommt das, warum
zwischen gibt es diese Lepversuchen so viele Leute,
toquarks aber nicht mehr,
dem so genannten Laien einwenn ich es recht verstanden
zureden, er verstünde die
habe, aber dafür gibt es irPhysik nicht? Es liegt am
gendeine andere neue PhyGeld, woran sonst. Denn leisik, die nicht einmal mehr eider lässt sich viel Geld danen Namen zu haben scheint.
mit verdienen, den „Laien“
Man habe „more events
für dumm zu verkaufen. Es
than expected from the Stanhat sich ein riesiger Markt
dard Model“ beobachtet, so
gebildet, auf dem nichts gelese ich ganz groß auf der
tan wird, als den Laien für
Website des Desy (www.
dumm zu verkaufen. Ein Fraktales Gebilde: „Ich glaube, die Chaostheorie gibt es gar nicht“
desy.de/pr-info/desy-recentBombengeschäft, weil man
Der Reihe nach: Ein Pomeron ist, wenn hera-results-feb 97_e.html). Genauer geverkauft, ohne irgendwas selbst zu produman sich vorstellt, es gäbe ein Teilchen, sagt: Das lese ich, wenn ich mir meine Laizieren.
Aber was ist es eigentlich, was man ver- das es aber gar nicht gibt, und dann be- enbrille aufsetze oder mir vorstelle, nur so
kauft? Es ist das Ansehen, welches die For- rechnet, wie es aussähe, wenn es es gäbe. zum Beispiel, ich sei Sachbearbeiter im Forschung einmal zu Recht genossen hat, die Als am Ende des besagten Vortrages ein schungsministerium, vielleicht einer, der
Autorität, die früher einmal der Verstand Theoretiker den Desy-Mann darauf hin- über Forschungsgelder entscheidet. Nun
besaß. Die werden zu Cashflow, in bunte wies, dass heutzutage niemand mehr an muss man wissen: Für dieses „more events
die Existenz eines Teilchens namens Po- than expected from the Standard Model“
Büchlein verpackt, voller Fraktale.
Dieser Ausverkauf ist verheerend für die meron glaube, da war die Antwort, man wäre eigentlich der Nobelpreis fällig. Denn
gesamte Gesellschaft, nicht nur für den ein- könne doch messen, was man wolle. Und wenn einer tatsächlich „mehr Ereignisse als
zelnen Laien. Weil auch jeder Fachmann es sei doch egal, wie man das dann nenne vom Standardmodell erwartet“ beobachtet, so ist ihm die Ehrung in Stockholm siLaie ist auf allen Gebieten außer auf sei- – warum nicht Pomeron?
Die Strukturfunktion des Pro- cher.
nem Fachgebiet. Wenn ich aber
tons beschreibt, wie das Proton
Allerdings wird das alles ein wenig späals Physiker nicht mehr über
Philosophie nachdenken darf, „Ein Pomeron (ein Bestandteil des Atomkerns) ter, im klein Gedruckten, schon wieder re„weil ich ja kein Fachmann bin“, ist, wenn man aus kleineren Quark- und Gluon- lativiert. War, scheint’s, doch nicht so gewo soll das enden? Wenn ich am sich vorstellt, teilchen zusammengesetzt ist. meint. Und wenn ich meine Laienbrille abDenn das Proton ist kein punkt- nehme und stattdessen meinen Doktorhut
Ende selbst als Physiker nicht
es gäbe ein
mehr über Physik nachdenken
Teilchen, das förmiges Teilchen, sondern es hat aufsetze, so lese ich sogar das Gegenteil
eine innere Struktur. Entdeckt von dem, was in der Überschrift steht. In
darf, weil ich ja kein Mathematies aber gar
wurde dies in Stanford vor über den entsprechenden Fachveröffentlichunker bin, der doch einzig die Phynicht gibt“
40 Jahren. Die Protonstruktur gen jedenfalls ist von neuer Physik gar
sik verstehen könne, angeblich:
wurde inzwischen – Zeit genug nichts mehr zu sehen. Es gibt keine neue
Wo soll das hinführen?
Diese Entwicklung wird zum Horror, war ja – ziemlich genau vermessen. Das Physik am Desy. Das ist nicht meine perwenn man weiß, dass sie sogar schon staat- Desy ist nun damit beschäftigt, jährlich sönliche Meinung, sondern das sagen die
lich institutionalisiert ist. Auch ein Teil der neue Weltrekorde der Messgenauigkeit auf- Forscher des Desy in den für andere Fororganisierten Forschung hat gemerkt, wie zustellen. Zum Beispiel zu messen, ob das scher bestimmten Schriften selbst.
Wenn man wenigstens auf die Zukunft
bequem es sich leben lässt, wenn man sich Proton bei einer bestimmten Energie 200
von der Allgemeinheit abschottet und dar- oder doch eher 205 Gluonen enthält – eine hoffen dürfte, das geht ja fast immer. Hier
auf verzichtet zu erklären, was man ei- Frage, die weder für den Rest der Physik nicht. Für die Zukunft hat das Desy das
noch für den Rest der Welt irgendeine Be- „Hera-B“-Experiment organisiert: mit cirgentlich tut.
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Wissenschaft
ca 300 Physikern (Techniker nicht mitgezählt), und mit wie viel Geld, will ich lieber nicht wissen. Es ist das weltweit erste
und einzige Experiment, das schon gescheitert ist, ehe es in Betrieb geht.
Die Idee für Hera-B war folgende: Früher
hat man geglaubt, Antiteilchen seien sozusagen das genaue Gegenteil der Teilchen.
Seit einigen Jahrzehnten weiß man, dass
das nicht immer der Fall ist, es gibt gelegentlich eine kleine Abweichung vom genau spiegelbildlich gegenteiligen Verhalten
von Teilchen und Antiteilchen. Hera-B sollte diese kleine Abweichung, den kleinen
Unterschied zwischen dem b-Teilchen und
dem Anti-b-Teilchen, studieren. Kennt man
ihn genau genug, so lässt sich daraus ziemlich eindeutig auf die ihm zu Grunde liegenden Mechanismen schließen.
Nun hätte Hera-B zwar so fein sowieso
nicht messen können. Aber es hätte versuchen sollen, den Unterschied bei den bTeilchen wenigstens grob zu sehen, ehe das
jemand anders schafft. Wäre nicht umwerfend wichtig, denn in diesem Fall kommt
es wirklich auf die Feinmessung an, aber
eine nette Trophäe wäre es immerhin.
Erstbesteigung des bTeilchens, sozusagen.
Doch alle Liebes- „Wenn die am
Desy sagen,
müh vergeblich, die
Erstbesteigung hat das sei Physik,
unterdessen ein amewas sie marikanischer Detektor
chen, dann
zu Wege gebracht,
glauben
viele
der leider nicht das
das
einfach“
Taktgefühl aufbrachte, Hera-B den Vortritt zu lassen, ein ziemlich großer, der das
zum allgemeinen Entsetzen geradezu im
Vorbeigehen erledigte; eigentlich war er
dafür nicht einmal gemacht. Inzwischen
sind auch schon Experimente angelaufen,
welche die für Hera-B sowieso unmöglichen Präzisionsmessungen in Angriff nehmen. Hera-B dümpelt derweilen halt so
vor sich hin, alle Zeitpläne grotesk überschritten, sämtliche Finanzrahmen gesprengt. (Dergleichen steht übrigens nicht
auf der Desy-Website.)
Die resultierende Verschwendung von
Steuergeldern ist noch das wenigste, in so
einem großen Staat gibt’s halt nun mal Ineffizienzen.Wobei allerdings die insgesamt
für die Physik verfügbaren Gelder begrenzt
sind. Wenn sie zu einem erheblichen Teil
auf Nimmerwiedersehen im Desy verschwinden, so findet im entsprechenden
Ausmaß andere Physik eben nicht statt.
Doch viel schlimmer ist dies: Das Desy
genießt immer noch eine enorm große Autorität. Wenn die sagen, das sei Physik, was
sie da machen, dann glauben viele Menschen das einfach – und wenden sich ab
von der Physik, die ja offensichtlich langweilig ist und irrelevant. Auf den ersten
Blick betrifft das zwar nur die Teilchenphysik, aber auf Grund seiner Größe dominiert das Desy die öffentliche Wahrnehd e r
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mung der Physik überhaupt. Deshalb schadet das Desy der Physik. Sperrt es zu.
Weder bin ich gegen die Großforschung
als solche noch gegen die Teilchenphysik.
Ich bin selbst Teilchenphysiker. Die Frage
zu beantworten, woher die Teilchen, woher
also die Welt kommt und warum sie da ist,
das wäre sicher 250 Millionen Mark wert.
Ich finde, man könnte dafür sogar 250 Milliarden ausgeben, wenn man denn so viel
Geld hätte. Aber ob das Proton bei einer
bestimmten Energie 200 oder 205 Gluonen
enthält, das ist nicht mehr wert als drei
oder vier Doktorarbeiten.
Wir befinden uns in einem Teufelskreis:
Die Physik ist eindeutig auf dem Rückzug
aus unserer Gesellschaft. Und das führt zu
Zuständen, wie sie am Desy herrschen.
Und das Desy wiederum, indem es behauptet, seine sinnlose Massenproduktion
von Zahlenkolonnen sei Physik, treibt diesen Rückzug weiter voran, unter Dampf
gehalten von einer Unmenge verbrannter
Steuergelder. Es besteht die Gefahr, dass
eine sich immer besser organisierende,
gleichgültig gemachte Spaßgesellschaft irgendwann nicht mehr in der Lage ist, diesen Rückzug auch nur zu bemerken.
So gesehen bin ich froh, das keiner mehr
Physik studiert. Die jungen Leute haben
doch etwas gemerkt! Das ist die einzige
Hoffnung, die es noch gibt für die Physik.
Vergleichen Sie die deutsche Physik vor und
nach 1933, so sehen Sie in der Tat, dass man
nach 1945 den Neuanfang der Physik versäumt hat. Wir sollten ihn nachholen.
Wir sollten dabei nicht nur an die jungen
Leute denken, wenngleich die sicher entscheidend sind, sondern auch an die alten:
Ich war vor vielen Jahren Sommerstudent
am Desy und habe dort hoch befähigte Physiker und Techniker kennen gelernt. Darunter Hofstadter selbst, den Entdecker der
Protonstruktur. Menschen, die mich beeindruckt und beeinflusst haben. Aber diese
Leute wirken nicht mehr nach außen. Die
Physik erliegt dem Überhandnehmen der
Organisationsmacht. Es muss auch heute
noch Könner und Physiker im Desy eingeschlossen geben. Sie sollten wieder frei zum
Geistesleben unserer Gesellschaft beitragen
dürfen: Befreit sie aus dem Zauberberg.
Glaubt den Desy-Managern nicht: Die
öden Zahlenkolonnen, die das Desy produziert, das ist nicht die Physik. Die wahre Physik ist anders. Sie ist etwas außerordentlich Lebendiges, das von den letzten
und äußersten Dingen handelt. Vom Leben zum Beispiel. Davon, woher die Welt
kommt und warum sie da ist. Und davon,
dass da draußen keineswegs das Nichts auf
uns lauert, sondern das Etwas ist. Das sagt
uns die Physik. Von Schönheit handelt sie
und vom Denken, somit vom Bewusstsein.
Davon, wer wir sind. Und warum. Und all
das kann man durchaus verstehen, selbst
ein Kind kann es verstehen.
Mitschuldig, wer schweigt. Sperrt das
Desy zu!
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A. PRAUASH
schon seit mehreren Jahren
regelmäßig ins fernöstliche
Krisengebiet, um technische Soforthilfe zu leisten.
Mit Satelliten oder vom
Flugzeug aus messen die
Experten die Temperatur
der Erdoberfläche. Rote
Flecken auf den Infrarotfotos zeigen an, wo es unterirdisch glüht – Daten, die
dazu dienen, ein Frühwarnsystem für die örtliche Feuerwehr aufzubauen.
Noch allerdings ist die
Hilfe kaum mehr als symbolisch. „Die Kohlevorkommen in China sind riesig“,
stöhnt Vekerdy. Manche der
Brände fressen sich bereits
seit Jahrhunderten durch
die Steinkohle. Einige Flöze fangen von Natur aus
Feuer. In den trockenen
Gebirgsregionen lagern sie
nahe der Erdoberfläche fern
jeglichen Grundwassers und
neigen zu spontaner Selbstentzündung. „Wenn die
Kohle mit Sauerstoff in Berührung kommt,
entsteht durch die Oxidation Hitze“, erläutert der Aachener Geologe Ralf Littke.Werde diese nicht abgeführt, fange die Kohle
schließlich von selbst an zu brennen.
Zur ökologischen Katastrophe wuchs
sich das chinesische Kohlefeuer jedoch
erst durch die industrielle SteinkohleFörderung aus. „Nur zehn Prozent der
Brände sind natürlich entstanden“, glaubt
Glühendes Kohleflöz in China: Eine der größten ökologischen Katastrophen der Welt
U M W E LT
Feuer unter China
Im Norden Chinas kokeln gewaltige Kohlelager vor sich hin.
Dabei entsteht viermal so viel Kohlendioxid wie im deutschen
Autoverkehr. Zum Löschen fehlen die Technik und das Geld.
D
as Tor zur Hölle öffnet sich gleich
hundertfach im Reich der Mitte.
Aus gähnenden Spalten steigt zischend Rauch in den Himmel. Lodernde
Gesteinsmassen liegen in den Schlünden
offen zu Tage. Ganze Berghänge glühen.
Der heiße Atem der Erde scheint nah zu
sein im Norden Chinas. Doch nicht Magma
oder Lava brennt Risse ins Gestein. Hunderte von Kohleflözen sind es, die ununterbrochen vor sich hin kokeln.
Während die Nationen der Welt derzeit
auf der Klimakonferenz in Bonn um eine
Verringerung der Treibhausgas-Emissionen
feilschen, spielt sich in Chinas Steinkohlegürtel fast unbemerkt eine der weltweit größten ökologischen Katastrophen
ab. Bis zu 200 Millionen Tonnen Kohle lösen sich dort jährlich in Kohlendioxid und
schwefelschwangeren Rauch auf. Manche
Flöze brennen über eine Länge von 20 Kilometern. Andere Kohlefeuer reichen fast
einhundert Meter tief in die Erde hinein.
Die Brände verteilen sich über eine Fläche,
die fast so groß ist wie die der gesamten EU.
„Ein schwerwiegendes, globales Problem“, sagt Zoltán Vekerdy vom International Institute for Aerospace Survey and
Earth Sciences (ITC) im niederländischen
238
Enschede. „Wir schätzen, dass die Kohlefeuer in China zwei bis drei Prozent zum
weltweiten Kohlendioxidausstoß beitragen.“ Viermal so viel Treibhausgas wie alle
Autos Deutschlands zusammen bläst der
Schwelbrand demnach jährlich in die Luft.
Vekerdy reist mit seinen Kollegen vom ITC
Der lange Brand
Kohlefeuer in Nordchina
Heilongjiang
Innere
Mongolei
Jilin
Tokio
Pjöngjang
Seoul
Ningxia
Xinjiang
Gansu
PEKING
Shanxi
Schanghai
Taipeh
500 km
Hongkong
Quelle: ITC
Hanoi
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brennende Kohleminen
brennende Kohlefelder
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Wissenschaft
den Kohlen sitzt nicht nur China. Weltweit
fangen Kohleflöze Feuer. In 32 US-Staaten
züngeln beispielsweise gelegentlich Flammen aus der Erde. Entfacht werden die
Feuer durch Blitzschlag, Steppenbrände
oder Selbstentzündung. Doch mit modernem Löschschaum, der sich um die Glut
legt und zu einem harten Panzer erstarrt,
werden die Brände meist erstickt.
In industriellen Schwellenländern wie
Indonesien, Indien oder China fehlt den
Ingenieuren diese Technik. Gerade diese
Staaten gehören zu den größten Kohleproduzenten der Welt. Über eine Milliarde
Tonnen Steinkohle werden jährlich aus der
chinesischen Erde geholt – 34 Prozent der
Weltproduktion. Der fossile Schatz versorgt nicht nur China mit Energie. Etwa 30
Millionen Tonnen Kohle exportiert das Riesenland in alle Welt. Da ist es auch eine
richtet Tan. Ackerböden seien „öde und
wüst“, das Wasser verschmutzt. Ganze
Wiesen und Wälder fangen Feuer. Der Husten sei zur Volksseuche geworden, Magenund Darmkrankheiten grassierten. Auch
die Krebsrate liege höher als in anderen
Gebieten.
Vorsintflutlich mutet die Technik an, mit
der die Chinesen die Flächenbrände im
Untergrund zu stoppen versuchen. Ist beispielsweise in der Region Ningxia ein
Kohlebrand ausgemacht, rücken die Feuerwehrleute mit Bulldozern und Lastwagen
zu Werke. Großflächig verteilen sie feines
Schüttgut über den Flözen, um den im Gestein schwelenden Brand zu ersticken. In
den von der unterirdischen Hitze aufgerissenen Boden gießen sie Schlamm und Wasser. Liegt die glühende Kohle an der Erdoberfläche, wird sie auf Laster verladen
und andernorts zum Ausglühen wieder abgelagert.
„Die Brände sind teilweise
schon lange in Gang und deshalb sehr großflächig“, kommentiert Vekerdy vom ITC.
„Es ist extrem schwierig und
gefährlich, sie zu löschen.“
Nur technische Hilfe der
Industrieländer könne Abhilfe schaffen, sagt der Experte.
Die müssten schon aus eigenem Interesse handeln, denn
das aus der chinesischen Erde
dampfende Kohlendioxid trage auch in Europa und Amerika zur globalen Erwärmung
bei. „Die entwickelten Länder tragen hier notgedrungen
eine Verantwortung“, mahnt
Vekerdy. Die Schwelbrände
im Fernen Osten zu löschen
sei wahrscheinlich billiger
und effektiver, als etwa die
Kohlendioxid-Emissionen der
Autos technisch weiter zu
verringern.
Auch die Chinesen glauben inzwischen nicht mehr
daran, das Problem allein bewältigen zu
können. Bislang würden die Feuer lediglich
in den Kohleflözen von Ningxia und Xinjiang bekämpft, berichtet Chefingenieur
Tan. Um die übrigen Brandherde kümmere sich niemand.
„Wir hoffen auf finanzielle Unterstützung der Uno“, sagt Tan. Auch Indien habe
von den Vereinten Nationen zur Bekämpfung von Kohlefeuern Kredite erhalten. Ob
indes die Führung in Peking überhaupt bereit ist, Geld für diesen Zweck aufzunehmen, hält Tan für fraglich. „Unsere Zentralregierung hat dringendere Aufgaben zu
bewältigen als die Bekämpfung der Kohlefeuer“, glaubt der Ingenieur.
Ein Grund des Desinteresses: Es ist zu
viel Kohle vorhanden. Derzeit liegen
in China rund 75 Millionen Tonnen auf
Halde.
Philip Bethge, Andreas Lorenz
BILDERBERG
Vekerdy. „An allen anderen waren Menschen zumindest mitschuldig.“
Veraltete Minenanlagen und zu intensive Nutzung der Flöze seien die Hauptursachen des Dramas. Beispiel Ningxia, eines der wichtigsten Kohleabbaugebiete
Chinas: In der rund tausend Kilometer
westlich von Peking gelegenen Region versuchen die niederländischen Experten seit
1996, neuen Bränden vorzubeugen.
Die Kohle führenden Schichten erstrecken sich hier über eine Fläche von 45
Quadratkilometern. Eine der besten Steinkohlen der Welt, schwefelarme Anthrazitkohle, wird in Ningxia für den Export gefördert. Doch selbst hier hat das schwarze
Gold an 18 Stellen Feuer gefangen.
Bis zu 400 Grad messen die Geologen
des ITC in den kaminartigen Bodenspalten,
die sich über den Bränden bilden. An der
Kohleabbau im Norden Chinas: 30 Millionen Tonnen in alle Welt exportiert
Erdoberfläche über den Feuern erreichen
die Temperaturen „leicht hundert Grad“,
berichtet Vekerdy – für die nahen Dörfer
und ihre Bewohner eine ständige Gefahr,
die ihre Ursache häufig in der untauglichen Bergbautechnik der Chinesen habe.
Viele Minen werden nicht richtig entlüftet und setzen Methan frei, das sich mit Luft
zu entzündlichem Grubengas vermischt.
Veraltete Generatoren und Beleuchtungsanlagen in den Minenstollen von Ningxia
sprühen Funken.Auch lässt der Kohleabbau
die Erdoberfläche reißen. Durch aufklaffende Spalten strömt Sauerstoff in die Flöze, der wiederum die Selbstentzündung begünstigt. „Niemand überwacht die Temperatur in den Minen“, klagt Vekerdy.
Dabei ist die Technik zur wirksamen
Kontrolle und Vorhersage von Kohlebränden längst entwickelt. Denn auf glühen242
wirtschaftliche Katastrophe, wenn der
Brennstoff statt in Kraftwerken und Hochöfen schon vor Ort verglüht.
Chinesische Experten schätzen den Verlust durch die Kohlebrände auf jährlich
knapp fünf Milliarden Mark. Insgesamt sind
seit den fünfziger Jahren nach Berechnungen des Geologischen Zentralamts für die
Kohlegebiete Chinas 4,2 Milliarden Tonnen
Steinkohle verbrannt – 85-mal so viel, wie
in Deutschland jährlich gefördert wird. Besonders betroffen sollen neben Ningxia die
Regionen Xinjiang, Gansu, Shanxi, Jilin,
Heilongjiang und die Innere Mongolei sein.
„Das ökologische Gleichgewicht in diesen
Gebieten ist zerstört“, sagt Tan Yongjie,
Chefingenieur des Zentralamtes.
Neben Kohlendioxid entstehen bei den
Bränden auch gesundheitsschädliche
Schwefel- und Stickstoffverbindungen, bed e r
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Technik
AU T O M O B I L E
Wut des
Bauernsohns
Mit dem neuen Diablo GT bietet
Lamborghini den derzeit
schnellsten Straßensportwagen
an – ein neuer Superlativ
im ewigen Wettstreit mit Ferrari.
D
as gelenkigste Autoradio der Welt
fährt serienmäßig mit im neuen
Lamborghini Diablo GT. Auf
Knopfdruck schnurrt es elektrisch aus dem
Armaturenbrett hervor, dreht sich an einem Gestänge um die eigene Achse und offenbart an seiner flachen Unterseite einen
kleinen Monitor.
Der Bildschirm, verbunden mit einer Kamera am Wagenheck, dient als Tele-Rückspiegel und löst erstmals ein Problem, das
Lamborghini-Fahrer seit jeher plagt: Beim
Einparken sind die unübersichtlichen
Sportwagen aus Sant’ Agata bei Bologna
ungefähr so gut zu manövrieren wie
Lastzüge. Ihre Behändigkeit beschränkt
sich klar auf die Vorwärtsrichtung.
Eine Spitzengeschwindigkeit von 338
km/h erreicht der 575 PS starke und
560 000 Mark teure Diablo GT. Er ist damit
der schnellste erhältliche Straßensportwagen der Welt. Die Bestmarke persönlich
anzustreben, wird dem Kunden laut Herstellerunterlagen jedoch „nicht empfohlen“. Sie wurde bei Versuchsfahrten ohne
den stabilitätsfördernden, aber bremsenden Heckspoiler erzielt, ist also ein eher
akademischer Wert.
Die Karosserie des Diablo GT besteht zu
großen Teilen aus dem extrem teuren
Leichtbau-Werkstoff Kohlefaser, wodurch
das Gewicht gegenüber dem Basismodell
Diablo SV um 40 Kilogramm auf 1,49 Tonnen gesenkt wurde. In dieser Größenordnung, meint Lamborghini-Chefentwickler
Massimo Ceccarani, „beginnt der Fahrer,
einen Unterschied zu spüren“. Etwas Feingefühl ist dafür sicher erforderlich, denn
der um 200 000 Mark billigere EinstiegsDiablo (530 PS) ist laut Werksangaben nur
drei Stundenkilometer langsamer. Den
Spurt von 0 auf 100 km/h erledigen beide
Modelle in weniger als vier Sekunden.
Zweifellos dient der neue Diablo GT in
erster Linie als Marketing-Instrument gegen den bislang stets überlegenen Erzrivalen Ferrari. Der Wettstreit begann der Legende nach in den sechziger Jahren mit
der Wut des Ferrari-Kunden Ferruccio
Lamborghini.
Der Bauernsohn und Traktorenfabrikant
hatte nacheinander vier Ferraris gekauft
und an allen Probleme mit der Kupplung
gehabt. Er beschwerte sich bei Firmenchef
Enzo Ferrari und wurde schroff abgewiesen. Grimmig gründete er seine eigene
Sportwagenfabrik.
Bis heute, die zerstrittenen Firmengründer sind längst tot, jagt die Marke Lamborghini, einen angreifenden Stier im Firmenwappen, dem Konkurrenten Ferrari,
dessen Emblem ein steigendes Pferd ziert,
ebenso erbittert wie erfolglos hinterher.
Kaum mehr als 200 Autos produziert die
Fabrik in Sant’ Agata pro Jahr, bei Ferrari
sind es etwa 3500.
AP
* Bergung des verunglückten Testwagens (r.) am 13.
Oktober bei Olbia.
Unter wechselnden Besitzern, zeitweise
dem US-Konzern Chrysler, später einem
indonesischen Präsidentensohn, flossen
weder die nötigen Investitionssummen in
den Betrieb noch sprossen wegweisende
strategische Visionen. Seit Jahren beschränkt sich die Produktpalette auf das
Modell Diablo, dessen krawallige Formensprache offenbar nicht gerade die vorbildlichste Klientel anzieht. Als prominentester Kunde wird der schwer erziehbare Boxchampion Mike Tyson genannt.
Im Juli 1998 erwarb die VW-Tochter Audi
die chronisch darbende Traumwagenfabrik.
Seitdem, sagt Chefentwickler Ceccarani,
„haben wir einen Ansprechpartner, der unsere Sprache versteht“ — allerdings auch
einen, der eine sehr deutliche Sprache
spricht. Der damals fast fertige DiabloNachfolger wurde kurzerhand eingestellt.
Die Form erschien den neuen Statthaltern
„zu weich“. In spätestens zwei Jahren soll
der Wagen in völlig neuem Kleid auf den
Markt kommen.
Wenig später soll ein etwas günstigeres
Einstiegsmodell (um 250 000 Mark) mit
voraussichtlich zehn Zylindern folgen und
die Gesamtverkaufszahl langfristig auf
über 1000 Lamborghinis pro Jahr anheben. Für die Entwicklung steht nun das
gesamte Instrumentarium des VW-Konzerns bereit, einschließlich werkseigener
Teststrecken.
Bislang erfolgte die Fahrerprobung in
einem eher provisorischen Umfeld. In Ermangelung einer eigenen Teststrecke erledigten die Versuchsfahrer ihre
Arbeit teils auf angemieteten
Pisten, teils auf den öffentlichen Straßen rund um Sant’
Agata. Im Schutze stillschweigender Duldung der örtlichen Polizei jagten die Prototypen zuweilen Kanonenkugeln gleich über die Straßen
der Po-Ebene.
Diese Praxis, beteuert das
Management, gehöre definitiv
der Vergangenheit an. „Die
heroischen Zeiten sind vorbei“, erklärt Chefentwickler
Ceccarani, der inzwischen
ein generelles Verbot für gesetzwidrige Freistil-Testfahrten ausgesprochen hat.
Getrübt wird das neue Bild der Vernunft
indes durch einen tödlichen Unfall im Rahmen der Pressevorführung auf Sardinien.
In der Nähe von Olbia fuhr ein Diablo GT,
gesteuert von Werkstestfahrer Antonio Leandro, 28, am 13. Oktober rücklings gegen
einen Fiat Uno. Leandro und eine Insassin
des Kleinwagens starben am Unfallort.
Nach Aussagen der örtlichen Verkehrspolizisten flogen die Trümmer etwa 350
Meter weit. Expertenschätzungen über die
Geschwindigkeit des Lamborghini liegen
noch nicht vor. Ein Polizist: „Sicher war er
nicht langsam.“
Christian Wüst
Lamborghini Diablo GT, Unfall-Diablo*: „Der Kunde spürt den Unterschied“
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AFP / DPA
Technik
Atomraketen-Abschuss-Silo der russischen Armee: „Der Westen hat Angst, weil er nichts weiß“
COMPUTER
Raketenstart um
Mitternacht
Droht ein Atomkrieg aus
Versehen? Westliche Militärs befürchten, dass die russischen
Frühwarnsysteme beim Jahrtausendwechsel verrückt spielen.
S
tille herrscht in dem fensterlosen
Raum. Angespannt starren die Uniformierten auf die Radarschirme. Je
näher die Uhr auf Mitternacht rückt, desto
nervöser wirken die Männer. Von ausgelassener Silvester-Stimmung ist im Gebäude 1840 des neuen Raketenkontrollzentrums im amerikanischen Bundesstaat Colorado nichts zu spüren.
Russische und amerikanische Militärs,
so haben es die Verteidigungsminister beider Länder kürzlich vereinbart, sollen gemeinsam den Jahrtausendwechsel verbringen. Bereits Mitte Dezember werden die
Raketenexperten aus Moskau anreisen. Ihr
Auftrag: den Weltuntergang zu verhindern.
Das ungewöhnliche Jahr-2000-Treffen
geht auf Initiative der Amerikaner zurück.
Westliche Militärs sind in Sorge, dass Russlands nukleares Führungs- und Kontroll248
system nicht ausreichend auf den Jahrtausendwechsel vorbereitet sein könnte. Das
Horrorszenario: Bei der Datumsumstellung spielen plötzlich die russischen Militärcomputer verrückt, die Frühwarnsysteme gaukeln einen amerikanischen Raketenangriff vor – und es kommt zum
Atomkrieg aus Versehen.
Bevor sich eine solche Katastrophe ereignet, so die Idee, sollen die russischen
Besucher in Colorado im Notfall an die
Heimat melden, dass die Amis nicht eine
einzige Rakete gestartet haben. „Sie sollen mit unseren Leuten zusammensitzen
und sensible Daten des Frühwarnsystems über mögliche Raketenstarts überwachen“, erläutert US-Verteidigungsminister
William Cohen.
Russische Militärs halten einen Raketen-Fehlstart beim Jahrtausendwechsel allerdings für äußerst unwahrscheinlich.
„Der Westen hat Angst, weil er nichts
weiß“, erklärt Igor Korotschenko, ein ehemaliger Oberst aus dem Generalstab und
heute Armee-Experte einer Moskauer Tageszeitung. „Ein Raketenfehlstart, verursacht durch einen durchgedrehten Computer – das ist völlig ausgeschlossen, schon
allein deshalb, weil bei uns viel zu viel per
Handbetrieb funktioniert.“
Tatsächlich soll ein komplexes Sicherheitssystem dafür sorgen, dass keine russische Atomrakete irrtümlich abgefeuert
wird. Als Erstes muss der Präsident den
Teil eines Codes mit seinem so genannten
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Atomköfferchen aktivieren, den zweiten
Teil steuert der Verteidigungsminister mit
seinem schwarzen Koffer bei, und schließlich gibt der Chef des Generalstabs den
Rest der Zeichenfolge hinzu.
Selbst dann bleiben die Flugkörper noch
im Silo. Jedes einzelne Projektil braucht
einen gesonderten Einsatzbefehl und muss
vor Ort aktiviert werden – exakt so, wie es
Kinogänger aus James-Bond-Filmen kennen: Zwei Offiziere holen die Startschlüssel aus dem Safe, stecken sie ins Steuerpult
und müssen die Auslöser innerhalb von 20
Sekunden synchron betätigen. Dann erst
startet die Rakete.
So viel menschliche Einmischung macht
einen computerverursachten Fehlstart nahezu unmöglich, versichert Nuklearexperte Alexander Pikajew von der Moskauer
Niederlassung der Carnegie-Stiftung. Allerdings sei das noch lange kein Grund,
sich erleichtert zurückzulehnen. „Das
schwache Glied in der Kette ist das russische Frühwarnsystem“, warnt der Experte.
„Damit hat es immer Probleme gegeben,
und damit wird es immer wieder Probleme geben.“
Zu sowjetischen Zeiten verfügte die Armee über neun Satelliten, die dazu dienten,
den Feuerschweif startender amerikanischer Raketen rechtzeitig zu erkennen.
Sechs dieser Satelliten sind mittlerweile
ausgefallen, Ersatz gibt es nicht. Von neun
Frühwarnradaranlagen wiederum, die
Flugkörper bereits mehrere tausend Kilo-
als eine norwegisch-amerikanische
Wetterrakete zur Erforschung des
Nordlichts. Und eigentlich hätten
die russischen Militärs davon wissen
müssen, denn einen Monat zuvor
hatte die norwegische Regierung
Moskau über den geplanten Abschuss informiert, so wie es international üblich ist. Allerdings kam
diese Mitteilung niemals bei den zuständigen Stellen an, sondern ging
im postsozialistischen Bürokratiesumpf unter.
Fehlmeldungen, Kommunikationsprobleme, mögliche Panikreaktionen – beim Jahrtausendwechsel
wollen die Russen das Risiko so gering wie
möglich halten. Aus diesem Grund haben
sie sich auch bereit erklärt, die Beobachtergruppe ins gemeinsame Frühwarnzentrum nach Colorado zu schicken.
Nötig sei diese gemeinsame Silvesterfeier aber eigentlich nicht, meint Militärexperte Safronow. In Wahrheit diene die
vertrauensbildende Maßnahme lediglich
der Beruhigung der überängstlichen Amerikaner.
„Die Westler vertrauen immer auf ihre
Technik, wir dagegen lieber auf die Menschen“, sagt Safronow. „Wenn ein Signal
kommt, wird es geprüft, dann wird nachgedacht und noch mal überprüft. Dann erst
wird entschieden.“
Irina Schedrowa
R. WALLIS / REA / LAIF
meter vor ihrem Eintreffen identifizieren, arbeiten noch ganze
drei. Und während die Sowjetunion sich zudem auf zehn
Nahwarnradare verlassen konnte, befinden sich nun sieben dieser Stationen außerhalb des russischen Territoriums. In den noch
funktionierenden Teilen des russischen Frühwarnsystems fällt
zudem regelmäßig der Strom
aus.
„Von 24 Stunden in einer
Schicht sind wir mindestens Russische Atomraketen-Basis: Störanfälliges System
sechs Stunden lang blind“,
schätzt Iwan Safronow, Militärexperte der Safronow. „Das Einzige, was uns damals
Moskauer Tageszeitung „Kommersant gerettet hat, waren die Ruhe und die BeDaily“, der selbst jahrelang als Presseoffi- sonnenheit der Dienst habenden Profis.
zier bei den Raketenstreitkräften gedient Die haben nach kurzer Zeit erkannt, dass
hat. Es läge durchaus im Bereich des Mög- es sich um eine Fehlmeldung handelt.“
lichen, so Safronow, dass das anfällige
Ein falscher Alarm war es auch, der BoFrühwarnsystem den Jahrtausendwechsel ris Jelzin 1995 zum ersten Mal in seiner
nicht verkraftet und in der Silvesternacht Amtszeit zum Atomköfferchen greifen ließ:
oder an den darauf folgenden Tagen für Am frühen Morgen des 25. Januar meldefalschen Alarm sorgt.
te das Radar eine angreifende MilitärrakeAls störanfällig erwies sich das System te aus Richtung Nordeuropa. Jelzin telefoschon zu sowjetischen Zeiten. Am 26. Sep- nierte mit dem Verteidigungsministerium,
tember 1983 entdeckte ein Frühwarnsatel- gebannt verfolgten die Generäle die Fluglit fünf aus amerikanischer Richtung an- bahn des Objekts. Alle waren erleichtert,
fliegende Raketen und löste Alarm aus. als die Rakete um 9.48 Uhr schließlich ins
„Tatsächlich waren es nur ein paar Son- Nordmeer stürzte.
nenreflexe auf dem Wasser, die den SatelEin geplanter Absturz übrigens – der
liten in die Irre geführt hatten“, erzählt angebliche Angreifer war nichts anderes
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Kultur
Szene
L I T E R AT U R
Grauzonen des Gemüts
E
FOTOS: D. SANDISON (gr.); PA / DPA (kl.)
s ist Sommer: heiße Luft, tiefblauer
Himmel und „überall der Geruch
nach getrocknetem Gras“. In den Geschichten von Kirsty Gunn aber löst
die heitere Jahreszeit nur drückende
Erinnerungen aus. Meist sind es Mädchen und junge Frauen, die in den elf
Erzählungen dieses Buchs ihre Gedanken schweifen lassen und dabei in
den Grauzonen ihres Gemüts landen.
Da ist jene Ich-Erzählerin, die in der
Titelgeschichte „Zuhause ist, wohin
du zurückkehrst“ an die unbeschwerten Sommer mit ihrer Schwester erinnert. Im Haus der Großmutter erleben
die beiden leuchtende Tage. „Zusammen über die Wiese laufen, uns im
Kreis um die eigene Achse drehen,
rundherum und rundherum. Es musste
so sein.“ Aber es liegt ein Schatten über
den fröhlichen Kinderspielen, fast unmerklich wird die Heiterkeit trüb.
Gunn, 38, ist ein Meisterin darin, den
Leser behutsam an den Abgrund zu
führen, um ihn dann allein dort hinunter sehen zu lassen. In „Das Schwimmbad“ etwa versengen
drei Geschwister mit
einer Lupe Ameisen.
Die Kinder waren in
der Kirche – obwohl
nicht Sonntag ist.
Ganz allmählich
verdichtet sich die
Gewissheit, dass
die Mutter der drei
gerade erst beerdigt
wurde. An den kleinen Katastrophen
der Kindheit sind in Gunns Erzählungen fast immer die Erwachsenen
schuld, die selbst mit ihren Kindheitserinnerungen zu kämpfen haben. Ein
neurotischer Kreislauf, den die neuseeländische Autorin beklemmend
schildert.
Emin-Werk „My Bed“, Attentäter Jian, Yuan
KÜNSTLER
Vandalen im Bett
W
er es selbst nicht weit gebracht
hat, schmarotzt gern als Attentäter an fremdem Ruhm – wie jener
sprichwörtliche Herostrat, der den Tempel von Ephesos anzündete. Seine
Künstler-Epigonen von heute sprayen
Dollar-Zeichen auf Malewitsch-Bilder,
gießen Tinte in Damien-Hirst-Vitrinen
mit eingelegten Lämmern – oder sie
hüpfen schwungvoll in ein ungemachtes
Bett. So geschehen am 24. Oktober in
der Londoner Tate Gallery. Da war gerade die Kandidaten-Schau für den diesjährigen Turner Prize eröffnet worden,
zumeist mit kühlen Film- und Foto-Installationen. Nur Tracey Emin, 35, dank
Enthüllungen aus angeblichem Kindheitselend und turbulentem Sexleben
zum hoch bezahlten „Bad Girl“ der britischen Kunst aufgestiegen, gibt sich
wieder ungeschönt autobiografisch. Sie
Kirsty Gunn: „Zuhause ist, wohin du zurückkehrst“.
Aus dem Englischen von Stefanie Schaffer-de Vries.
Berlin Verlag, Berlin; 216 Seiten; 38 Mark.
H O L LY W O O D
H
ollywood steigt ins Drogen-Geschäft ein: „Blow“, so der Titel eines aktuellen Großprojekts, zeigt den
Siegeszug des Kokains in den USA
TOBIS
Johnny Depp als Mann
mit dem Koks
Depp (in „Fear and Loathing in Las Vegas“)
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zeigt „Mein Bett“, eine aufgewühlte,
mit Tampons, Kondomen, schmutziger
Unterwäsche und leeren Wodkaflaschen
garnierte Lagerstatt. Auf der will sie,
von einem Freund verlassen, eine Woche lang mit Selbstmordgedanken gerungen haben. Zwei chinesische Künstler aber, Jian Jun Xi und Yuan Cai, fühlten sich eingeladen, halbnackt durch
Kissen und Laken zu tollen. Ehe sie
dazu kamen, „Traceys Höschen anzulegen“, ja „einen Geschlechtsakt zu vollziehen“, wie es ihrer Meinung nach dem
Werk entsprochen hätte, schritten TateAufseher ein. Tags darauf war das Bett
wieder leidlich so in Unordnung, wie
von der Künstlerin arrangiert. Eine
durch deren Gejammer schwer gerührte „Independent“-Kolumnistin wünscht
ihr nun aber doch, sie würde mal „ihr
Bett machen und etwas anderes tun“.
während der siebziger Jahre, als „dieses
Land vom Hasch zum Koks wechselte“,
erklärt Regisseur Ted Demme. Die
Hauptrolle, einen Kokain-Dealer, spielt
Hollywoods notorischer MainstreamVerweigerer Johnny Depp, der schon
vor wie hinter der Kamera mit Drogen
herumexperimentiert hat. Erst letztes
Jahr war Depp in der LSD-Saga „Fear
and Loathing in Las Vegas“ zu sehen.
253
Szene
MUSIK
Smarter Chopin-Kraftakt
P
S. BAYAT / DGG
ianisten, die auch dirigieren, machen
meist nichts Halbes, geschweige
denn Ganzes: An den Tasten und mit
dem Taktstock sind sie regelmäßig
überfordert. Nun hat der polnische Klaviervirtuose Krystian Zimerman, 42,
endlich einmal vorgeführt, dass sich
so ein Doppel-Job durchaus zweifach
auszahlen kann. In Erfüllung einer patriotischen Pflicht, zum 150.
Todestag seines Landsmanns Frédéric Chopin
(1810 bis 1849), liefert
er nicht nur eine Neuaufnahme der beiden
Klavierkonzerte (Deutsche Grammophon
459 684-2), sondern
gleich eine stereofone
Sensation. Nicht nur,
dass er seinen Solopart,
diese Mischung aus
smarter Noblesse und
pianistischem Kraftakt,
mit lupenreiner EleZimerman
ganz und herrlich saftigem Zugriff hinlegt; verblüffender noch
ist seine Feinarbeit mit dem neuen
„Polish Festival Orchestra“. Während
das Chopin-Tutti von etablierten Maestros stets lustlos runtergepinselt wird
und dabei zu blutleerem Background
verblasst, zaubert der Klavier spielende
Kapellmeister Zimerman aus dem 55köpfigen Ensemble eine ungeahnte Fülle von Nuancen in hoch romantischer
Schwelgerei.
Darger-Aquarell „Sie befreien sich aus der Gefangenschaft“
KUNST
Erotische Außenseiter
E
in „wirklicher Künstler“, fand der
Sonderling, brauche „keine Unterweisung“, dafür bleibe er auf seiner
„Seite des Lebens“, die „große Mehrheit“ hingegen auf der anderen. Eugene
von Bruenchenhein wusste, wovon er
sprach. Er war brav seinem Brotberuf in
einer Bäckerei in Milwaukee nachgegangen, bevor er wild zu malen anfing
und in endlosen Fotositzungen daheim
seine phantastisch ver- und entkleidete
Ehefrau zum Pin-up verklärte. Erst nach
Bruenchenheins Tod 1983 kam seine
Manie an den Tag. Wohl wahr: Außenseiter sind die Künstler allemal, aber
wer gleichermaßen fernab von Tradition
wie Avantgarde die persönliche Macke
pflegt, ist doppelt draußen – es sei
denn, er wird von Szene-Insidern erspäht und als unverfälschtes Naturgewächs gewürdigt. So jetzt beim Kölnischen Kunstverein, der unter dem
Schau-Titel „Obsession“ vier erotisch
inspirierte „Outsider“ aus den USA
vorstellt (bis 23. Dezember). Neben
Bruenchenhein sind das Morton Bartlett, der sich eine Gesellschaft niedlicher Kindfrauen zusammenmodellierte,
Henry Darger mit comicartigen Mädchenidyllen und -martyrien sowie Paul
Humphrey, der vorgefundene Frauenbilder durch Übermalung systematisch in
„Sleeping Beauties“ verwandelte, bevor
er jüngst selber die Augen schloss.
„Vielleicht“, überlegte er, „bin ich verrückt. Das hilft, in dieser Welt zu sein.“
Kino in Kürze
WARNER BROS.
herumdoktern. Doch die Biester erweisen sich als unerwartet
renitent; die Forschungsstation säuft ab, selbst in der Laborküche schwappt überall „Deep Blue Sea“ – und mittendrin
schwimmen, logisch, die heimtückischen Rückenflossenträger.
Regisseur Harlin kombiniert dabei Versatzstücke aus „Alien“
und den „Zehn kleinen Negerlein“, auch wenn er die GenreBezeichung Reißer manchmal allzu wörtlich nimmt.
Szene aus „Deep Blue Sea“
„Deep Blue Sea“. Und der Haifisch, der hat inzwischen die dritten Zähne: 25 Jahre nach Steven Spielbergs Klassiker „Der
weiße Hai“ hat jetzt auch der finnische Action-Regisseur Renny
Harlin („Stirb langsam 2“) Unterwasserkameras und Blutkonserven ausgepackt. Als Fischfutter in spe dienen ehrgeizige
Wissenschaftler, die in einem Meereslabor an lebenden Haien
254
d e r
„Little Tony“. Eine Prise Ohnsorgtheater, eine Prise Sex, zwei Prisen schwärzeste Anarchie – nach diesem Rezept hat der Holländer Alex van Warmerdam seinen lapidaren, unberechenbaren
Leinwandschwank gedreht: Ein Bauer (Warmerdam selbst)
steht zwischen zwei Frauen, verheiratet mit der einen, verliebt
in die andere. Doch die Gattin verkneift sich ihre Eifersucht,
weil sie die Nebenbuhlerin einspannen will: als Mutter des Babys, das sie selbst nicht bekommen kann. „Little Tony“ wird in
ein Bermudadreieck der Gefühle hinein geboren. Wo sich bei
Ohnsorgs am Ende immer alles in Wohlgefallen auflöst, wird
hier Mord und Totschlag fällig. Drei Menschen und ein Baby –
das ist ganz entschieden eine Person zu viel.
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Kultur
AKADEMIKER
„Traurige Formblindheit“
Wolf-Dieter Narr, 62, Politologe in Berlin, über die Kommunikationsprobleme
von Studenten und Dozenten, die er soeben in dem Aufsatzband „Lust und
Last des wissenschaftlichen Schreibens“
(Suhrkamp Verlag) dokumentiert hat
Am Rande
Waren wir blöd!
M. WEISS / OSTKREUZ
SPIEGEL: Herr Professor Narr, wie kamen Sie und Ihr Kollege Joachim Stary
darauf, Tipps und Kniffe zum Schreiben
zu sammeln?
Narr: In allen Fächern wird die Darstellung von Gedanken viel zu wenig
geübt. Statt eleganter Gliederung und
Ausdrucksweise regiert oft traurige
Formblindheit. Dagegen bieten wir Seminare an. Es lag nahe, sich auch bei
anderen erfahrenen Schreibern zu erkundigen.
SPIEGEL: Sie haben Stimmen vom Literaturwissenschaftler bis zum Juristen
und Geologen eingeholt. Aber keiner
gibt der Schule die Schuld für die UniSchreibmisere. Warum?
Narr: Da sitzen wir doch im Glashaus.
Wir wollen nicht Ohrfeigen verteilen,
sondern Angst abbauen und Hilfe geben.
SPIEGEL: Neben Stolz aufs Handwerk
klingt in manchem Beitrag hartnäckige
Schreib-Unlust durch. Sollte einer, der
nicht gern formuliert, die Uni meiden?
Narr: Seine Schreibqual zu bekennen ist
natürlich eine Form bescheidenen Auftretens. Wer sich aber wirklich nicht
ausdrücken mag, sollte in der Tat überlegen, ob er ins akademische Geschäft
einsteigt.
SPIEGEL: Die Ratschläge fallen ganz verschieden aus: Naturwissenschaftler warnen vor Schachtelsätzen, Geisteswissenschaftler vor Jargon. Bleibt es bei den
zwei Kulturen wie eh und je?
Narr: Es sind sogar mehr
als zwei. Jedes Fach hat
andere Sprachprobleme.
Das könnte sich in Zukunft noch verschärfen,
zum Schaden der Allgemeinverständlichkeit und
damit der Demokratie.
SPIEGEL: Mutige Worte,
wo Sie das Virus schon im
Haus haben: „Teleologische Funktionsdifferenzierung“ – solche Ungetüme lauern auch in Ihrem
Buch.
Narr: Richtig. Wir haben
bewusst kaum redigierend
eingegriffen. Die Kollegen
zeigen eben selbst einen
Teil des Problems, über
das sie schreiben.
BUCHMARKT
Das Herz schlägt ein
O
skar Lafontaines Abrechnung „Das
Herz schlägt links“ entwickelt
sich zum Hit des Bücherherbstes: Am
vergangenen Donnerstag wurde die
fünfte Auflage ausgeliefert. Damit hat
der Münchner Econ-Verlag inzwischen
270 000 Exemplare der Erinnerungen des
Polit-Pensionärs abgesetzt. „Die sechste
und siebte Auflage“, so eine Econ-Sprecherin, „sind in Planung“ – und wohl
auch erforderlich, um wenigstens Lafontaines Garantie-Honorar (rund 800 000
Mark) wieder einzuspielen. Auf der
SPIEGEL-Bestsellerliste, wöchentlich erLafontaine (auf der Frankfurter Buchmesse)
mittelt vom Fachmagazin „Buchreport“,
taucht Lafontaine gleichwohl – noch –
nicht auf: Dort werden nur solche
Bücher aufgenommen, die die Buchhändler nicht nur bestellt, sondern
tatsächlich verkauft haben. „Lafontaines
Durchmarsch auf die vorderen Ränge
der Bestsellerliste“, prophezeit „Buchreport“-Chefredakteur Uwe Schmid,
„wird nächste Woche kommen.“
WEGNER / LAIF
Narr
Noch achtmal
werden wir wieder wach, dann
ist großer Mauerfall-Tach – dann
ist es genau zehn
Jahre her, dass
die Besitzer stinkender Trabis ins
ruhige Charlottenburg einfielen
und „Wahnsinn! Wahnsinn!“ riefen, immer nur „Wahnsinn! Wahnsinn!“ Dieser historische Augenblick muss gefeiert werden – mit
einem 43 Kilometer langen Lichterband, dem Bundesjugendjazzorchester, George Bush, Michail
Gorbatschow und Gerhard-thewall-Schröder sowie einem Feuerwerk am Brandenburger Tor.
Wahnsinn. Nur wenige bleiben da
gelassen und nachdenklich. Einige
besonders Nachdenkliche haben
ein riesiges Transparent an die Fassade eines jener Hochhäuser angebracht, die den Ruf des Berliner
Alexanderplatzes als Rollfeld der
sibirischen Steppe rechtfertigen:
„Wir waren das Volk“, mahnt es
von der eisigen Höhe des dialektischen Gedankens herab. Geschichte als zynischer Austausch von Präsens gegen Imperfekt – wer hat uns
verraten? Wessi-Demokraten! Sogleich schwirren uns die Obertöne
in den schmerzempfindlichen Wessi-Ohren: „Jetzt sind wir nur noch
Untertanen. Wir wollten Guatemala-Bananen, den Opel Ascona und
Gerechtigkeit und haben Herta
Däubler-Gmelin bekommen!“ Böse
Sache.
Des Nachts aber, wenn man mit
dem Fahrrad, Leander Haußmanns
netten DDR-Erinnerungsauffrischungsfilm „Sonnenallee“ im
Kopf, an jener bitter-sauren Mahnung vorbeiradelt, fällt einem eine
kleine Variation ein: „40 Jahre
waren wir das Volk – und haben es
nicht gemerkt!“ Kürzer und transparenttauglich: „Leute, waren wir
blöd!“ Wahnsinn, Deutschland.
255
Kultur
AU T O R E N
Sinfonie der tausend
ARD-Fernsehserie „Klemperer – Ein Leben in Deutschland“*: „Auf alles das steht im 3. Reich für mich der Tod“
D
er gute Tagebuchschreiber, notierte
1920 die Schriftstellerin Virginia
Woolf, schreibe entweder für sich
allein oder für eine Nachwelt „in so weiter
Ferne, dass sie ruhig jedes Geheimnis hören
und jedes Motiv gerecht abwägen kann“.
Für „ein solches Publikum“ seien weder
Geziertheit noch Zurückhaltung nötig.
Gilt das ebenfalls für Tagebücher, die
knapp zwei Jahrzehnte danach entstanden
sind? Geschrieben 1939 und in den folgenden Jahren in deutschen Lagern oder deutschen Trümmerstädten, an der Front oder
auf der Flucht? Will man wirklich jedes
Geheimnis hören – und lässt sich heute jedes Motiv gerecht abwägen?
256
Eines zumindest hat vor wenigen Jahren
der überraschende Erfolg von zwei auf
Tagebüchern basierenden Buchkassetten
nachdrücklich widerlegt: die Behauptung
nämlich, in Deutschland wolle niemand
mehr etwas über den Zweiten Weltkrieg,
über das Alltagsleben in der Diktatur und
die mörderische Jagd auf die europäischen
Juden hören.
Von Walter Kempowskis kollektivem Tagebuch „Das Echolot“ (1993), einer Montage unterschiedlichster Stimmen aus dem
Zeitraum von Anfang Januar bis Ende Februar 1943, deren erste Lieferung in vier
* Mit Dagmar Manzel und Matthias Habich.
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DT. FOTOTHEK DRESDEN
CINETEXT
Aufzeichnungen aus der Nazi-Zeit gelten seit dem Erfolg von Victor Klemperers Tagebüchern als
Buchmarkt-Hits. Nun folgen weitere Notizen von Tätern und Opfern, einige davon neu
ediert – allen voran Walter Kempowski mit dem zweiten Teil seines „Echolots“. Von Volker Hage
Bänden rund 3200 Seiten
umfasste, sind knapp 50 000
Exemplare verkauft worden (davon etwa 18 000 als
Taschenbuch). Und auf gut Klemperer (1946)
270 000 (davon 100 000 als
Taschenbuch) haben es mittlerweile die
ersten beiden – die Jahre 1933 bis 1945
nachzeichnenden – Bände der Tagebücher
des jüdischen Romanisten Victor Klemperer (1881 bis 1960) gebracht, der das Dritte
Reich in Dresden überlebte: „Ich will
Zeugnis ablegen bis zum letzten“ (1995).
Im deutschen Fernsehen läuft derzeit
eine zwölfteilige TV-Adaptation dieser
akribischen Aufzeichnungen („Klemperer
W. STAHR
DT. FOTOTHEK DRESDEN
H. PÖLLOT
– Ein Leben in Deutschland“), weitere caust und die Welt des Krieges am Ende zu gerade stattfindenden Luftangriff auf das
nahe München äußerte („Die schönste MuBände der Tagebücher des Autors aus der einem Modethema werden.
Das zeitliche Zusammentreffen des Er- sik, die ich kenne“): Gewiss sei diese BomZeit vor 1933 und nach 1945 sind inzwischeinens (oder der Wiederveröffentli- bardierung für den Sieg notwendig, schrieb
schen ebenfalls erschienen.
Nun folgen in diesem Herbst, als wäre chung) von Journalen aus dem Volk der Tä- er, zugleich aber müsse man doch fühlen,
vor dem Jahrhundertende Eile geboten, ter wie aus den Reihen der Opfer rückt „dass sich hier eine Tragödie abspielt“.
Selbst bei jenen, die dieser Tragödie in
gleich eine ganze Reihe weiterer, zum Teil zunächst noch einmal jene unwiderrufliche
wiederum äußerst umfangreicher Tage- Diskrepanz ins Bewusstsein, die sich schon den Bunkern und Luftschutzkellern ausan der ungleichen Zahl der Zeugnisse ab- gesetzt waren, zumeist Frauen und Kinbuch-Editionen aus der Nazi-Zeit:
π Kempowski, 70, liefert noch einmal vier lesen lässt: Den Millionen im KZ Ermor- dern, lassen sich Zeugnisse differenzierter
Bände seines „Echolots“ nach, dieses deten war es weder erlaubt noch überhaupt Wahrnehmung finden. „Wir kamen gerade
Mal mehr als 3400 Seiten aus der Zeit möglich, Aufzeichnungen zu machen – von noch zur rechten Zeit in den Hauskeller“,
den wenigen Ausnahmen ist wiederum nur notierte die damals 18 Jahre alte Erika S.
vom 12. Januar bis 14. Februar 1945;
π der Fernsehautor Heinrich Breloer, 57, ein Bruchteil erhalten geblieben. Dem am 12. März 1945 in Hamburg. „Es dröhnhat unter dem Titel „Geheime Welten“ steht, wie nun immer deutlicher wird, eine te, der Fußboden schien sich zu heben, alfür die „Andere Bibliothek“ eine neue immense Zahl privater Notizen aus dem les schaukelte … Das Licht ging aus – wieder an, aus … und blieb dann aus.“ Trotz
Auswahl aus seiner schon vor vielen Jah- deutschen Kriegsalltag gegenüber.
Immerhin konnten Überlebende aus der Schrecken des Bombardements resüren veröffentlichten und in einer TV-Serie verarbeiteten Sammlung deutscher dem KZ Dachau nach dem Krieg alles in miert die Jugendliche aus sozialdemokraTagebücher aus den Jahren 1939 bis 1947 allem etwa 50 Protokolle, Berichte und Ta- tischem Elternhaus (der Vater wurde mehrgebücher vorlegen, wie Wilfried F. Schoel- fach von der Gestapo verhaftet): „Es ist
getroffen;
π im früheren DDR-Verlag Volk & Welt ist ler im Nachwort zu Nico Rosts Dachau- ganz furchtbar, aber wenn es den Krieg
eine Neuausgabe des 1948 erstmals dort Aufzeichnungen berichtet, einem Tage- verkürzt, ist es ja gut und hilft allen, wenn
edierten KZ-Tagebuchs „Goethe in buch, das einen geradezu anrührend ver- auch Opfer gebracht werden müssen.“
Heinrich Breloer präsentiert in seiner
Dachau“ erschienen, das der Nieder- söhnlichen Grundton hat, geschrieben von
länder Nico Rost (1896 bis 1967) zwi- einem für die deutsche Literatur schwär- Sammlung „Geheime Welten“, wo diese
schen Juni 1944 und April 1945 im Lager menden Journalisten und Übersetzer aus Notizen nachgedruckt sind, eine Reihe von
skizzierte und nach der Befreiung aus- Holland, der lange in Berlin gelebt hatte Regimegegnern mit eindrucksvoll kritiund sich im Lager mit Werken von Goethe, schen Äußerungen neben überzeugten
arbeitete;
π für November hat der Verlag Das Do- Jean Paul und Rilke in eine Gegenwelt Nazi-Anhängern mit Ergebenheitsadreskument einen knapp 1700 Seiten um- zurückzog, die ihm den zum Überleben sen – wie jene der jugendlichen Edelgard
B. aus Siegen (Januar 1945): „Unser armer,
fassenden Band im Großformat an- nötigen psychischen Rückhalt gewährte.
Rost konnte den Tod eines deutschen La- armer Führer, der wird wohl keine Nacht
gekündigt, der unter dem Titel „Das
Leben im Krieg“ die zwischen 1939 und gerhäftlings mit den Worten „Ein typischer mehr schlafen und hat doch mit Deutsch1946 verfassten Tagebücher von Paul- Deutscher von der allerbesten Art“ betrau- land das Beste im Auge gehabt.“
Die Sammlung, die umfangreicher schon
heinz Wantzen (1901 bis 1974) enthalten ern und sich darüber empören, wenn ein ansoll, einem Journalisten aus dem Müns- derer Mithäftling sich begeistert über einen einmal 1984 in der Kölner Verlagsgesellterland, der seine Erlebnisse
handschriftlich in 19 Bü- Autor Rost, KZ-Häftlinge in Dachau: Mit Goethe, Jean Paul und Rilke in einer Gegenwelt
chern von zusammen 6100
Seiten notierte.
Woher diese Massierung?
Warum gerade jetzt? Die in
dieser Größenordnung unerwarteten Erfolge der Editionen von Kempowski und
Klemperer erklären allenfalls
den Mut der Verlage zu immer
neuen Unternehmungen dieser Art. Die Frage bleibt, wem
mit einer derartigen Häufung
gedient ist – und ob der Holo-
AKG
Bombenopfer auf dem Dresdner Altmarkt (1945), Autor Kempowski: „Den Russen zeigen, was das Bomberkommando kann“
Werbeseite
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Kultur
Ein Volk von Umfallern
Der Bericht der jüdischen Journalistin Käthe Vordtriede, ursprünglich verfasst für ein
US-Preisausschreiben, schildert die Brutalität des Nazi-Alltags in der Provinz.
260
voller Sarkasmus. Dass ihr manchmal
auch Hass und Wut die Feder führen,
verkennt und verhehlt sie nicht.
Besonders genau nimmt Vordtriede
die Kommunisten aufs Korn. Die wohnten in der „Laubenkolonie“ nahe ihrem
Wohnviertel Haslach und schlüpften
1933 „geschwind und fast restlos in die
braunen SA-Hosen“, schreibt sie. Unter ihnen waren „die schlimmsten Denunzianten“ und „die grauenhaftesten
Peiniger in den Konzentrationslagern“.
Am 1. April 1933, dem Tag des so genannten Judenboykotts, sieht sie einen
SA-Mann vor einem jüdischen Warenhaus postiert, „dessen Familie ich Weihnachten 1932 von Kopf bis Fuß mit den
warmen Sachen eingekleidet hatte, die
mir der jüdische Inhaber dieses Warenhauses als Spende für die Arbeiterwohlfahrt geschenkt hatte“.
Vordtriede schrieb ihren Bericht
nicht für ein Leserpublikum – eine Veröffentlichung war 1940 in der politisch
taktierenden Schweiz kaum vorstellbar. Ihre Adressaten waren drei Professoren der Harvard University, die
die „gesellschaftlichen und seelischen
Wirkungen des Nationalsozialismus auf
die deutsche Gesellschaft“ erforschen
wollten und das Material dazu mit Hilfe eines Preisausschreibens suchten.
Gut 200 Texte gingen in
Cambridge (Massachusetts)
ein. Käthe Vordtriedes Arbeit erschien der Jury so
interessant, dass einer der
Preisrichter, der Soziologe
Edward Hartshorne, sie mit
nach Washington nahm, zu
seinem neuen Arbeitgeber:
dem „Coordinator of Information“. Das war der neue
zentrale Auslands-Geheimdienst der Vereinigten
Staaten, der bald in OSS –
„Office of Strategic Services“ – umbenannt und zur Legende wurde.
Die Abteilung, in der Hartshorne arbeitete, versuchte sich – das war eine
kriegswichtige Aufgabe – ein Bild über
SCHILLER NATIONALMUSEUM
A
m 17. März 1933 wurde die
„Volkswacht“ in Freiburg erobert. Das heißt, SA- und SSMänner stürmten das Gebäude, in dem
die Zeitung der Sozialdemokraten hergestellt wurde, plünderten und verwüsteten es, beschmierten die Waschräume mit Kot und warfen Papier,
Lettern und Schreibmaschinen auf die
Straße, zum Gaudium der dort versammelten Menge.
Käthe Vordtriede, Lokalredakteurin
des Blatts, sah dem Vandalismus zu, telefonierte ergebnislos mit der Polizei
und einem Anwalt und stellte sich
dann, eine Zigarette im Mund, ans
Fenster. „Raus mit der Marxistenhexe!“, brüllte der Mob und versuchte,
die „Volksfeindin“ zu lynchen.
Wie ausgewechselt gebärdete sich
nach diesem Tag die Belegschaft des
SPD-Blatts. Vom Geschäftsführer bis
zur Putzfrau – alle dienerten vor den
neuen Herren. Sogar der politische Redakteur Reinhold Zumtobel wechselte, nachdem er aus dem KZ entlassen
worden war, auf die Seite der Sieger
und gab ein antisemitisches Buch heraus. Opportunismus überall: Käthe
Vordtriede beobachtet charakterlose
Anpasser, eilfertige Speichellecker, Denunzianten und Profiteure in allen
Schichten, quer durch alle
Lager – und schreibt es auf.
Ihr Bericht „Es gibt Zeiten, in denen man welkt“,
im Schweizer Exil verfasst,
im Nachlass eines US-Geheimdienstlers entdeckt und
jetzt erstmals veröffentlicht,
ist ein einzigartiges Dokument über sechs Jahre Hitlerei in der Provinz**.
Die haben Vordtriedes
Landsleute bis zur Unkennt- Vordtriede
lichkeit verändert. Ein Volk
von Umfallern, gierig, gewalttätig und
gemein: so ihr Fazit. Das Urteil ist unerbittlich, die politische Analyse der
überzeugten Marxistin ungleich schärfer als die des eher weltfremden Professors Victor Klemperer, dessen Tagebücher eine Welle des Interesses am
Alltag im „Dritten Reich“ ausgelöst haben. Vordtriedes Sprache ist nüchtern
und direkt, ohne Larmoyanz, dafür
* Einzug der Division Richter am 23. Juli 1940.
** Käthe Vordtriede: „,Es gibt Zeiten, in denen man
welkt‘. Mein Leben in Deutschland vor und nach
1933“. Hrsg. von Detlef Garz. Libelle Verlag, Lengwil (Schweiz); 280 Seiten; 39 Mark.
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NS-Begeisterung in Freiburg*: Lauter Opportunisten
den inneren Zustand des „Dritten Reiches“ zu machen: durch Zeugnisse wie
das von Käthe Vordtriede.
Politisch gesehen hält sie die Deutschen für erledigt, für „Sklaven, die
vergessen haben, dass sie in Freiheit
aufgewachsen sind“.
Ihre beiden Kinder hatte Vordtriede schon früh ins Ausland geschickt;
ihr selbst gelang erst in letzter Minute
und unter abenteuerlichen Umständen die Flucht. Am 2. September 1939
steht sie auf dem Basler Bahnhofsvorplatz. Mit dem Stoßseufzer „Ich
war gerettet“ endet der Bericht.
Aber erst 1941 gelangte sie in die
Vereinigten Staaten und wirklich in
Sicherheit.
Ihre Hoffnung, wenn schon keinen
Preis für ihren Bericht, dann doch
wenigstens „eine winzige Sekretärsstelle an einer University“ zu erhalten, erfüllte sich nicht. In den folgenden Jahren fristete die glänzende
Journalistin ein Dasein unter erbärmlichen Bedingungen. Die 50-Jährige
muss sich als Putzfrau und Haushaltshilfe verdingen.
Käthe Vordtriede spürt, dass ihre
Fähigkeiten auf immer brachliegen
werden. Ihre Verbitterung wächst,
auch in den Briefen an die Kinder.
1964 stirbt sie, nach mehreren Herzanfällen, in ihrer New Yorker Wohnung –
es dauert eine Woche, bis sie gefunden
wird.
Martin Ebel
KREISARCHIV BREISGAU-HOCHSCHWARZWALD
schaft Schulfernsehen erschienen war, ist
ein überschaubares Kaleidoskop aus nunmehr zwölf Tagebüchern, die in sich geschlossen (freilich gekürzt) angeordnet sind
– ergänzt jeweils um einen kurzen Lebenslauf und Auszüge aus Fernseh-Interviews mit den Tagebuchschreibern.
Problematisch sind dabei weniger die
vom Herausgeber verantworteten und markierten Auslassungen als der Umstand, dass
einige wenige dieser Tagebücher nicht im handschriftlichen Original vorlagen, sondern von den Urhebern später noch einmal abgeschrieben und möglicherweise
überarbeitet worden sind
(wie auch im Fall von Erika
S.) – was manche der kritischen Äußerungen immerhin
fragwürdig erscheinen lässt.
Vollständigkeit allein ist
noch kein Wert. Das zeigt das
ungekürzte, später auch nicht
mehr redigierte Tagebuch des
Journalisten Wantzen, das mit
staunenswerter Unermüdlichkeit auf mehreren tausend
Seiten vom Kriegsbeginn bis
in den September 1946 führt
– im Original sind zusätzlich noch 4500
Dokumente eingefügt: Zeitungsausschnitte,
amtliche Formulare und Flugblätter der
Alliierten.
Beeindruckend ist dabei allenfalls das
Gigantomanische des Unternehmens.
Doch die Beschreibung des Kriegsalltags
wird, wenn der Horizont zu klein ist, bei aller Materialfülle schnell zum Einerlei –
Wantzen kann, anders als etwa Klemperer
in seinen Tagebüchern, keine eigene Perspektive aufbauen. Seine Sicht auf die
historischen Ereignisse bleibt, bei aller
Skepsis gegenüber den Machthabern, weit-
Heinrich Breloer (Hrsg.):
„Geheime Welten.
Deutsche Tagebücher
aus den Jahren
1939 bis 1947“.
Eichborn Verlag,
Frankfurt am Main;
288 Seiten;
49,50 Mark.
Nico Rost:
„Goethe in Dachau“.
Hrsg. von Wilfried F.
Schoeller, aus dem
Niederländischen von
Edith Rost-Blumberg.
Verlag Volk & Welt,
Berlin; 464 Seiten;
48 Mark.
Walter Kempowski:
„Das Echolot.
Fuga furiosa“.
Knaus Verlag, München; 4 Bände in
Kassette; zus. 3456
Seiten; 298 Mark
(bis 30. April 2000,
danach 348 Mark).
Paulheinz Wantzen:
„Das Leben im Krieg.
1939 – 1946“.
Verlag Das Dokument, Bad Homburg;
circa 1660 Seiten;
98 Mark (bis 31.
Dezember 1999,
danach 128 Mark).
gehend blind. Das ist dem Tagebuchschreiber zwar nur bedingt vorzuwerfen –
in der ungekürzten Häufung dieses Konvoluts bleibt es dennoch schwer erträglich.
An Tagebüchern aus dieser Zeit fehlt es
schließlich nicht. Nach 1945 hat es eine
große Zahl stilistisch gelungener Tagebücher aus dem deutschen Kriegsalltag gegeben. Erinnert sei etwa an Emil Barths
Aufzeichnungen „Lemuria“ (1947, wieder
aufgelegt 1997), an Erich Kubys Tagebuch
„Mein Krieg“ (1975) oder die weitgehend
in Berlin entstandenen Journale von Ursula
von Kardorff („Berliner Aufzeichnungen“,
1962) und Marie Wassiltschikow („Die Berliner Tagebücher“, 1985) – und an das 1956
erstmals publizierte, 1997 neu aufgelegte
Tagebuch des Schriftstellers Jochen Klepper („Unter dem Schatten deiner Flügel“),
der zusammen mit seiner jüdischen Frau
Selbstmord beging und bis zum letzten Tag
auf ergreifende Weise Zeugnis ablegte.
Das alles – mit Ausnahme von Kleppers
bis 1942 reichende Notizen – kehrt nun auch
auszugsweise in Kempowskis zweiter
„Echolot“-Lieferung wieder: der vielstimmigen Tagebuch-Collage aus jenen knapp
fünf Wochen Anfang 1945, die zwischen
dem Start der sowjetischen Großoffensive
auf das Deutsche Reich und der Bombardierung Dresdens liegen. Mehr als 300 bereits veröffentlichte Quellen hat der Arrangeur diesmal angezapft – neben der weitaus
größeren Zahl privater Tagebücher und Aufzeichnungen, die Kempowski seit den Siebzigern, parallel zu Breloer, gesammelt hat.
Das „Echolot“ ist und bleibt (es soll
noch weitere Folgen geben) ein einzigarti-
Kultur
ges Unterfangen – und wird weiterhin Vorbehalte ebenso wie Bewunderung provozieren. Im Chor dieser bedacht komponierten Sinfonie der tausend kann jeder
entdecken, was er finden will – der auf das
politisch Korrekte Erpichte die Verwischung der Trennlinie von Tätern und Opfern, der sich einlassende Leser Abgründe
hinter scheinbar banalen Notizen und Szenen von Mord und Völkermord, die verstummen lassen.
Der Untertitel „Fuga furiosa“ verweist
nicht nur auf das musikalische Prinzip
der Anordnung der Einzelteile, sondern
auch auf einen der inhaltlichen Schwerpunkte dieses „Echolot“-Komplexes: in
der Bedeutung als „fürchterliche Flucht“
nämlich. Das Tabuthema der durch die
Sowjetoffensive ausgelösten Fluchtwelle
der deutschen Bevölkerung, als „Vertreibung“ von den entsprechenden Verbänden jahrzehntelang mit einem revanchistischen Unterton ausgestattet, wird bei
Kempowski wie nie zuvor aufbereitet
und ausgebreitet – was ihm prompt den
Vorwurf der „neudeutschen Unbekümmertheit“ („Frankfurter Rundschau“) eingebracht hat.
Der finstere Höhepunkt und das monumentale Schlusskapitel der „Fuga furiosa“,
der 120 Seiten umfassenden mosaikartigen
und minutiösen Darstellung der verheerenden Luftangriffe auf das mit Flüchtlingen überfüllte Dresden am 13. und 14. Februar 1945, nötigten allerdings sogar dem
strengen „Rundschau“-Kritiker von Kempowskis Methode Bewunderung ab: „Das
sind höchst aufschlussreiche und in einer
solchen geradezu epischen Verdichtung bisher noch nie zusammengefasste Dokumente.“
Tatsächlich ist das furiose Arrangement
dieser zwei Tage, die Kempowski abweichend vom übrigen „Echolot“ zu einem
einzigen, untrennbaren Abschnitt zusammengefasst hat, heute schon ein Stück Literaturgeschichte – die Vielfalt der Notizen
und Perspektiven umfasst die Menschen in
den Bombenkellern ebenso wie die deutschen Nachtjagdpiloten oder die Bombenschützen in den Maschinen der Royal Air
Force, die in drei Angriffswellen jener Aufgabe nachkommen, die der Einsatzbefehl
auch darin sieht, „den Russen, wenn sie
einmarschieren, zu zeigen, was das Bomberkommando tun kann“.
Einer unter den vielen, die Kempowski
zitiert, ist der schon vor den Luftangriffen
in Dresden um sein Leben bangende Jude
Klemperer, der in den Wirren des Luftangriffs und danach einen bis dahin unmöglichen Schritt wagte: Er riss sich seinen
Judenstern vom Mantel. „Ich saß in Restaurants, ich fuhr Eisenbahn und Trambahn
– auf alles das steht im 3. Reich für mich
der Tod.“
Für Klemperer war die Bombardierung
nicht nur die „doppelte Gefahr“, sondern
auch ein Stück Befreiung.
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Madonna (1990)
Effenberg (1992)
Kinski (1971)
FOTOS: DPA (l. o.); BONGARTS (l. u.); SIPA PRESS (r. o.); K. MEHNER
Wehner (1971)
Provozierende Prominente: Wertewandel unterhalb der Gürtellinie
S P R AC H E
„Die Deutschen schimpfen anders“
Der Freiburger Sprachwissenschaftler Hans-Martin Gauger über
fundamentale Unterschiede zwischen deutschen, französischen und britischen
Flüchen und die letzten Tabus in unserer redseligen Gesellschaft
Gauger, 64, lehrt in Freiburg Romanistik
und veröffentlichte zuletzt das Buch „Über
Sprache und Stil“.
SPIEGEL: Professor Gauger, in Ihrem Auf-
satz „Sprache und Sexualität“ vergleichen
Sie das Schimpfverhalten in Europa*. Was
treibt einen unbescholtenen Gelehrten
zum Vulgären?
Gauger: Mir ist aufgefallen, dass in romanischen Sprachen sexuelle Dinge herangezogen werden, um etwas Negatives zu bezeichnen. Im Deutschen ist es vollkommen
anders. Das fand ich faszinierend. Ich werde meine Beobachtungen bald auch als
Buch herausbringen.
SPIEGEL: Als Beweis für eine kulturelle
Wasserscheide quer durch Europa?
Gauger: Ja, ein Beispiel: „Joder“ ist im Spanischen der vulgäre Ausdruck für „Geschlechtsverkehr haben“, heißt aber
auch „belästigen“. „No jodas“ meint
„belästige mich nicht“, wörtlich übersetzt
heißt es aber: „Vögle mich nicht.“ Das
* Hans-Martin Gauger: „Sprache und Sexualität“. Erschienen in „Merkur“, Nr. 598, 1/99. Klett-Cotta Verlag,
Stuttgart.
ist uns Deutschen – als Ausdruck – ja
völlig fremd.
SPIEGEL: Wie schimpft es sich teutonisch?
Gauger: Wir nehmen unsere entsprechenden Ausdrücke aus einer anderen Sphäre,
dem Exkrementellen. Unsere Sprachbilder
hängen fast ausschließlich mit den Ausscheidungen zusammen, mit Kot und Urin.
Das scheint durch, wenn wir sagen, jemand
sei angeschmiert worden. Wir schimpfen
mit Ausdrücken wie „Arsch“, „Arschloch“,
die, so gebraucht, den romanischen Völkern
wiederum eher fremd sind. Die kennen
zwar auch vereinzelte Ausdrücke aus dem
Exkrementellen, wir Deutschen beschränken uns aber eigenartigerweise darauf.
SPIEGEL: Wie deuten Sie diesen Wertewandel unterhalb der Gürtellinie?
Gauger: Ich habe noch keine Erklärung
dafür gefunden, warum in den romanischen Sprachen Sexuelles für die Bezeichnung von Negativem benützt wird. Warum
wir Deutsche das nicht machen? Auch keine Ahnung. Mit dem Protestantismus hängt
es nicht zusammen.
SPIEGEL: Die puritanischen Angelsachsen
verwenden ja ungeniert sexuelle Formulierungen wie „fuck off“.
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Gauger: Stimmt, die schimpfen romanisch.
Ich würde Ihr Beispiel mit „verpiss dich“
übersetzen – sexuell geprägt im Englischen,
exkrementell bei uns. Ein anderes Paar
wäre „fucking rain“ und „Scheiß-Regen“.
SPIEGEL: Sind die offenbar unrettbar analfixierten Deutschen eine Ausnahme?
Gauger: Scheint so zu sein. Selbst bei
unseren Nachbarn, den Niederländern,
wimmelt es von Ausdrücken der sexuell
orientierten Art. Das Deutsche ist eine Art
Insel.
SPIEGEL: Ein weites Feld für Psychologen.
Gauger: Ja, das wird aber nicht einfach. Es
gibt ein Buch von dem amerikanischen
Volkskundler Alan Dundes, das bei uns
den hübschen Titel hat „Sie mich auch!“.
Der kritisiert die Deutschen wegen ihrer
Fixierung auf das Anale.
SPIEGEL: Womit will er uns anschmieren?
Gauger: Er hält uns für zurückgeblieben,
historisch und überhaupt. Er denkt, dass
unsere Fixierung auf die Ausscheidungen
mit der Art zusammenhängt, wie die Kinder seit dem frühen Mittelalter gewickelt
wurden. Eher unwahrscheinlich.
SPIEGEL: Und diese windelweiche Theorie
soll nun unser sprachliches Desaster sein?
263
Kultur
men Sie den ausgestreckSicher, unter
ten Mittelfinger …
Kumpeln. Da wäre die
Hochsprache dann die
SPIEGEL: … Sie meinen
Abweichung. In Spanien
den beleidigenden Stingibt es ein interessantes
kefinger à la Effenberg.
Phänomen. Da hält sich
Gauger: Ja, wir nennen
eine drastische Männerdiese Geste bezeichnensprache, die auch sehr
derweise so und schieben
vornehme Señores besie ins Exkrementelle ab.
nutzen, aber nur, wenn
Aber in ihrem Ursprung
sie unter sich sind. Wir
in den romanischen Länwären da schockiert.
dern ist sie rein sexuell.
Der phallische Finger ist
SPIEGEL: Was führen die
eine Androhung der
Señoras im Munde?
Penetration. Außerdem
Gauger: Als Ergebnis der
spielt die Geste auch, weil
Emanzipation bedienen Redner Schmidt (1981)
sie ja besonders unter
sich heute überall immer
mehr Frauen dieser Ausdrücke. Denken Sie Männern gebraucht wird, mit dem Honur an die Show-Diva Madonna. Mich mosexualitätstabu. Wie auch diese spanischockiert es aber, wenn ich aus dem Mund schen Männerzirkel, von denen ich sprach.
einer Studentin Ausdrücke wie „Scheiße“ SPIEGEL: Abgründe in Macho-Clubs?
oder gar „Arschloch“ höre.
Gauger: Wer so stark das Heterosexuelle
SPIEGEL: Flucht und schimpft die Jugend betont wie diese Männer in ihren drastischen Redensarten, der will sich ja wohl
denn anders?
Gauger: Kann man wohl sagen. Da ist neu- auch vor dem Homosexualitätsverdacht
erdings eine ganz deutliche Entwicklung schützen. Das ist genauso bei der Bundesvom Exkrementellen zum Sexuellen zu be- wehr, wo die Soldaten ihre Spinde mit Pinobachten. Man hört jetzt immer öfter von up-Girls schmücken. Das ist weniger ein
jungen Leuten: „Die haben uns ganz schön erotischer Stimulus als eine deutliche Klargefickt.“ Oder auch die Aufforderung: „Fick stellung, ein Ausweis der Heterosexualität.
dich ins Knie.“ Das ist sprachgeschichtlich SPIEGEL: Frauen haben das offenbar nicht
neu. Dabei haben die Deutschen doch im- nötig. Was sagt die feministische Linguistik
mer ins Exkrementelle transformiert. Neh- zum Thema Sexualität und Sprache?
Gauger:
J. H. DARCHINGER
Gauger: Das denkt sich Kollege Dundes so.
Dabei finde ich unsere Art zu schimpfen
gar nicht verwerflich. Wir bezeichnen etwas Negatives mit Negativem. Das mag
bieder, brav und phantasielos sein. Aber
moralisch zu kritisieren ist das nicht.
SPIEGEL: Vielleicht haben Völker, die das
Sexuelle im Munde führen, ein ungezwungeneres Verhältnis zum Geschlechtlichen.
Gauger: Vermutlich. Wir stehen mit dem
Exkrementellen im vorsexuellen Raum.
SPIEGEL: Liegt das daran, dass in Deutschland der Einfluss der Kirche geringer war
als in den romanischen Ländern?
Gauger: Kaum. So gering war er ja nicht.
Aber in einem katholisch bestimmten Land
ist der Tabubruch beim Sexuellen größer,
besonders, wenn man noch die Jungfrau
Maria mit ins Spiel bringt. Wie es etwa die
Italiener machen, die sie in einem Fluch als
Dirne beschimpfen: „Porca Maria“. Das
hat für Protestanten weniger Dramatik, für
Katholiken ist es ein enormer Tabubruch.
SPIEGEL: Den aber durch häufigen Gebrauch niemand mehr wahrnimmt.
Gauger: Das ist bei Tabubrüchen so. Außerdem kann man solche Ausdrücke eben
nicht in jeder Situation anwenden. Wir haben ein Gefühl dafür, wann man es sagen
kann, ja sagen muss.
SPIEGEL: Gibt es Situationen, in denen man
„verpiss dich“ sagen muss?
K. SCHÖNE / ZEITENSPIEGEL
Gauger: Die ist komischersonders gut geeignet. Das ist
weise nicht darauf gekomQuatsch. Englisch ist nicht
men. Die Frauen, denen ich
geeigneter als jede andere
meinen Aufsatz geschickt
Sprache auch.
habe, haben letztlich genau
SPIEGEL: Also könnte man
so reagiert wie meine männinternationale Konferenzen
lichen Kollegen. Die fanden
genauso gut auf Kisuaheli
das Thema nicht wichtig.
abhalten?
SPIEGEL: Was hatten Sie
Gauger: Natürlich. Prinzidenn erwartet?
piell ist das kein Problem.
Manche Sprachen sind terGauger: Ich hatte gedacht,
minologisch nicht so ausgedass sie es bemerkenswert
baut. Was aber die leichte
finden, wenn im Deutschen
Erlernbarkeit angeht, wäre
das Wort für das weibliche
das Spanische am geeigGeschlechtsorgan nicht zu
netsten. Es hat eine ziemlich
einem gängigen Schimpf- Sprachforscher Gauger
genaue Übereinstimmung
wort wird, wie es im Französischen mit „con“ geschehen ist. Dieser zwischen Schriftbild und Aussprache, die
Wortstamm hat sich weiterentwickelt; „dé- im Englischen nun wirklich nicht existiert,
conner“ heißt durchdrehen und „conne- und eine einfache Grammatik.
rie“ Blödsinn. Aber die Kolleginnen wollten SPIEGEL: Welche Sprache ist die schönste?
wohl unsere Sprache nicht loben müssen.
Gauger: Jeder hält die eigene für die schönste, richtigste und normalste. Wir nennen
SPIEGEL: Haben Sprachen ein Wesen?
Gauger: Es ist normal, dass man es sucht, das muttersprachliche Selbsttäuschung.
und auch in Ordnung, aber wir Sprach- Vielleicht ist die Ausgewogenheit von Konwissenschaftler sind sehr vorsichtig. Diese sonanten und Vokalen ein Kriterium. Dann
nationalpsychologischen Ableitungen ha- stünde das Italienische an erster Stelle.
ben sich als nicht haltbar erwiesen. Eines SPIEGEL: Auf Italienisch klingen sogar
ist aber komisch: Über 90 Prozent aller Flüche noch wie Arien. Deutsch hat keinen
wissenschaftlichen Publikationen sind auf Belcanto-Bonus. In unzähligen Talkshows
Englisch, nur noch gut zwei Prozent auf über Inzest und Piercing-Erfahrungen
Deutsch. Und jetzt behaupten einige triumphiert das Vulgärvokabular. Wird die
Angelsachsen, ihre Sprache sei auch be- Sprache dadurch nicht letztlich flacher?
Gauger: Auf jeden Fall einheitlicher. Talkshows waren aber immer schon Schimpfarenen. Denken Sie nur an die legendären
Auftritte von Klaus Kinski. Die Vulgärsprache sickert nun aber langsam in höhere soziale Schichten ein.
SPIEGEL: Ein Bundeskanzler, der öffentlich
„Scheiße“ sagt, ist akzeptabel?
Gauger: Ich denke schon. Helmut Schmidt
hat das Wort einmal im Bundestag gebraucht. Er wurde nicht gerügt. Er war und
ist ja ein Meister der Rede, der genau wusste, wann man was sagen kann. Im Gegensatz zum Choleriker Herbert Wehner. Es
gibt noch so eine exkrementelle Stelle bei
Schmidt. Über Franz Josef Strauß sagte er:
Der rede mal so, mal so – „wie der Bulle
pisst“. Das hatte er sich genau überlegt.
SPIEGEL: Wenn wir über alles reden können, bleibt nichts ungesagt, oder?
Gauger: Doch, aber sicher. Das Religiöse
und der Tod. Früher genierte man sich,
über Sexualität zu sprechen. Man sprach
aber offen über persönliche Glaubensfragen. Heute ist es umgekehrt. Und in der
Vergangenheit sprach man über den Tod,
heute aber nicht mehr. Die sprachlichen
Tabus, die es früher gab, sind inzwischen
inhaltliche Tabus. Wir haben jetzt eine
Sprache für alles, könnten also über alles
sprechen. Aber beim Glauben und beim
Sterben schweigen wir.
Interview: Joachim Kronsbein
Kultur
GESCHICHTE
Der Schöngeist lässt die Blitze zucken
War der Bayernkönig Ludwig II. scharf auf Fotos nackter Jünglinge?
26 Briefe des von Trieb- und Geldnot geplagten Märchen-„Kini“, die nun in einem Münchner
Auktionshaus versteigert werden, erregen Aufruhr unter weißblauen Royalisten.
E
chiemsee ging gar nichts mehr weiter, in
Neuschwanstein stimmten die Stickereien
nicht, und sowieso fehlte Geld, Geld, Geld.
Es war so unwürdig für einen König, für
einen Gralsritter zumal!
An Graf Dürckheim: „Wenn es nicht gelingt, eine bestimmte Summe (etwa in vier
Wochen) herbeizuschaffen, so wird Linderhof und Herrenchiemsee, mein Eigentum also, gerichtlich beschlagnahmt!“ Der
Graf solle ein Kontingent treuer Mannen
in schräger Vogel war er freilich, aber
ein Paradiesvogel. Und wie das so ist
in Paradiesen: Da gibt es immer auch
Erzengel, die ihren Garten Eden besenrein
haben wollen. Sobald sich einer seitab in
die Büsche drückt, ziehen sie ihr Flammenschwert und rufen: „Raus, du Wüstling!“
Bayernkönig Ludwig II. liebte bekanntlich das Schöne, und also liebte er auch
ebenmäßige Mannsbilder, die er mit Baum-
C. LEHSTEN / ARGUM
Bayerischer König Ludwig II. (1865)
Briefe Ludwigs an Freund Hesselschwerdt
kuchen, Zigarren und seinen Porträts beschenkte. Ob es die Architektur der Wagner-Klänge, die von Holzfällerleibern oder
von Schlössern war – Harmonien ließen
ihn alles vergessen, für sie tat er alles, jede
störende Disharmonie machte ihn rasend.
Gegen Ende seines Lebens, das der 40Jährige 1886 im Wasser beschloss, saß er
eingedüstert im Schloss Hohenschwangau,
schaute hinüber, wo die weiße Gralsburg
Neuschwanstein aus Gerüsten erwuchs,
und verzweifelte, weil so viel, so Uferloses
noch zu bauen und zu schmücken blieb:
„Vorwärts mit dem Schlafzimmer im Linderhof, St. Hubertus-Pavillon und mit dem
Ausbau der Burg von Herrenwörth und
Falkenstein. Mein Lebensglück hängt davon ab. Er soll es erschinden, durchreißen,
alle Schwierigkeiten beilegen und Hindernisse niederreißen.“
Das schrieb der König, in steiler deutscher Gänsekielschrift, dem Marstallfourier Karl Hesselschwerdt, seinem Vertrauten, auf dass dieser den Bauleitern und
Handwerkern einheize; denn überall
fehlte es: Hier galt es, erste Entwürfe, dort
letzte Details zu erdenken. Auf Herren266
AKG
„Verbrenne dieses Blatt“
sammeln, das notfalls „das rebellische Gerichtsgesindel hinauswirft“.
Viel hat der umtriebig triebhafte Kini
geschrieben, vieles liegt längst gedruckt
vor; am Mittwoch dieser Woche aber wird
ein Konvolut von 26 Briefen, insgesamt
70 Seiten und allesamt an seinen Vertrauten Hesselschwerdt, bei Hartung &
Hartung, dem Münchner Antiquariat und
Auktionshaus, versteigert: Schätzpreis:
120 000 Mark.
Sind sie das Geld wert – mit dem Ludwig
gewiss herrliche Schwanenpaneele hätte
bezahlen können? In energisch scharfzackiger Schrift hingefetzt, zeigen sie uns
Ludwig zwischen 1882 und 1885, und da
war er schon ziemlich durch den Wind, der
Schöngeist als Tyrannosaurus Rex, umwittert von Umnachtungsgewölk, aus dem die
Blitze zucken: „Nun aber bleue ihm [dem
Hofsekretär] Gehorsam ein, gehe zu ihm,
werde sehr grob u. wild u. schleudere diesem Diener, der nicht gehorchen kann [,]
mit aller Macht Mein Mißfallen, Meine
Empörung entgegen.“ „Die Zimmer, der
Ausbau des Flügels, die beiden Fontainen,
der Marmor fertig bis August, dies muß erzwungen werden und das Geld hierfür muß
beschafft werden.“ „Ich habe die unausstehlichen, stets unangenehmen Kostenund Geld-Meldungen satt. Fertig damit. […]
Dein entschuldigendes Gewäsch war falsch
u. will Ich nicht mehr hören. Gehorche stets
u. behellige Mich nie mit Deinen Ansichten,
an denen Ich genug habe. Ludwig.“
Kunstfreund Ludwig (1881)*
Überschwang fürs Ästhetische
Ein König, der als stinkwütender Bauherr auftritt, verzweifelt inmitten branchenüblicher Unzulänglichkeiten: „Die
Termine müssen gehalten werden […]
Dollmanns Schuld, der stets mehr braucht
als angesetzt wurde […] Wie steht es also
mit den Kandelabern für den Sängersaal?
Sei eifrig! Nur keinen Scheineifer, wie so
oft bisher!“
* Mit Schauspieler Josef Kainz.
d e r
Der Märchenkönig war sehr real auf sich
gestellt; schließlich zahlte er die Bauten
aus „eigner Tasche“, jedenfalls nicht aus
der Staatskasse, musste daher mit Macht
und mit Gewalt Sponsoren finden. Wenn
heute so ein Kanzleramt statt 270 Millionen
derzeit 465 Millionen kostet, spart man’s
eben woanders ein, bei Jugendheimen, Altenpflege, oder man erhöht die Steuern.
Das konnte sich Ludwig nicht erlauben.
Solch ein Monarch musste sein Geld auf
dem freien Markt schnorren, indem er
etwa seine Zustimmung, den Preußenkönig
zum Deutschen Kaiser zu ernennen, teuer
verkaufte (und so aus Wilhelms Gloria
Ludwigs Glanz erschuf) und indem er ungeniert Geldgeber anzapfte: „Geld ist in
der Welt in Hülle und Fülle vorhanden,
folglich muß es her um jeden Preis, man
muß nur geschickt zu Werke gehen“,
schrieb er an Hesselschwerdt. „Sehr
mißfällt es Mir […], daß die durch dich
vorgeschlagenen Geldmenschen zuerst so
sehr ins Zeug gingen u. dann nicht einmal
einen Teil des Verlangten erhalten konnten,
geschickt sind sie nicht.“
Flugs zählt er die Häupter seiner Lieben
und stachelt Hesselschwerdt an, bei
Großunternehmern und Fürsten Druck zu
machen: „Ein Leichtes ist es ihnen, die
nötigen Summen vorzustrecken.“ Hat er
da nicht völlig Recht? „Beschwöre den
Fürsten Taxis wegen der Summe, sonst ist
es mit dem Bauen aus.“ „Ich las gerade,
daß der Fürst v. Lippe 300 – 400 Millionen
besitzt, wie leicht könnte dieser etwas hergeben.“ Abermals nicht abwegig, und jedenfalls dreht sich über Neuschwanstein
kein Mercedesstern, über Linderhof keine
Fleischklopsreklame.
Ist dies panische Geldraffsyndrom schon
vielen bayerischen Royalisten nicht geheuer, so klinken sie vollends aus, sobald sie
von Ludwigs strenger Männerwahl lesen
müssen, und auch dafür gibt es einige reizende, vor allem aber irreleitende Passagen
in den Auktions-Briefen. Denn offenbar ließ
sich Ludwig von seinen Vertrauten häufig
Fotos von Männern zuschicken, doch: „Sei
mit Deinen Aufträgen recht vorsichtig.“
Und als Schlussfloskel meist: „Verbrenne
dieses Blatt.“ Er beklagt, ein Bild sei „leider nicht recht ähnlich“, ein andres solle „in
einem noch größeren Format“ gemacht
werden, dies wieder gelte es mit List zu ergattern: „Hoffentlich bist Du dann recht
intim u. bringst mir das Bild sicher mit. Das
Original selbst könnte ich vielleicht dann im
November in Hohenschwangau kennenlernen.“ „Götz soll recht fleißig in Linz suchen
u. in Neapel verhüten, daß es Spektakel
gebe, er muß jenem Mann Geld geben […]
damit er sich photographieren lasse. […]
Vorsicht ist dringend geboten.“
Ganz besonders bewegte ihn Behaarung: „Melde, ob seine Haare gewachsen
sind od. nicht.“ „Früher erfuhr ich, daß
Schanderl einen starken Bartwuchs hat und
sich oft rasieren müsse, sieh ihn dir auf un-
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Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
bemerkte Art ganz an, vielleicht ist auch trennten. Und ist es nicht ein geradezu faussonst der Haarwuchs stark.“ Und: „Du tisches Gelüst? „Schaff mir ein Halstuch
schriebst außerdem er wäre bei Joseph et- von ihrer Brust, / Ein Strumpfband meiner
was gewachsen, ist das wahr, […] nochmals Liebeslust!“, fordert unser Geistesriese von
genauere Meldung. – Sieh Dir auch Niebler Mephisto.
ohne Aufsehen an. Wie ist der Heizer Na„O Begeist’rung komme wieder / Allgegler? Vorsicht stets!“ – Ein Heizer! Man walt’ge Zaub’rin, du!“, seufzt Schwarmdenke, und Nagler!
geist Ludwig Eins nach Thron- und LolaRudolf Reiser, einem Redakteur der Verzicht, und sein Enkel Ludwig Zwei, am
„Süddeutschen Zeitung“, haute es spätes- 25. August geboren wie sein Großvater, ist
tens hier die Sicherungen raus, und er fiel so schönheitskrank, dass er einen Diener
aus seinen weißblauen Wolken. Dass „bei mit Beule am Kopf nicht sehen will, und
Joseph etwas gewachsen“ sei, liest sich in der Kammerlakai Mayr hatte ein Jahr lang
seinem „SZ“-Artikel über die nun zur mit schwarzer Gesichtsmaske zu bedienen.
Auktion feilgebotenen Briefe wie HardWie also, wenn Ludwig sein Personal
core, selbst dem „größeren Format“ un- aus rein ästhetischen Gründen von Hesterstellt er „verschlüsselt“ Begier und sieht selschwerdt beäugen ließ? Von „nackt“ ist
Ludwig „endgültig in der Gosse“, ernennt nirgends die Rede. Überschwänglich war
dessen Vertraute zu „Büchsenspannern“ er, in Wolkenkuckucksheimen Wolken
und „Kupplern“, die ihm „Fotos mit nack- schiebend und mit ungemein realen Widten Jünglingen“ zu beschaffen hatten.
rigkeiten kämpfend; doch bei allen RoDann freilich entwindet er sich der Wit- mantizismen war er einer der Modernsten,
telsbacher-Schmach, indem er die alte er fuhr im Schlitten das erste Fahrzeug der
Schutzthese, „wonach Ludwig II. nicht der Sohn seines
Vorgängers Max II. war, also
gar kein Wittelsbacher“,
nunmehr „untermauert“
sieht, denn „soviel Verrücktheit, Schwachsinn, Bösartigkeit und Perversität“
könnten nie und nimmer
von einem Max herrühren.
Da wäre freilich zu fragen, ob ein Schwuler (und
das war er bekanntlich –
wie „körpernah“, ist unbekannt) statt Männer besser
Briefmarken betrachten
sollte, und zu antworten
wäre auch, dass Porträts zu
sammeln guter Wittelsba- Ludwig II., Kusine „Sisi“ im Film*: Heimliche Fotosammler
cher Brauch ist: Ludwigs
Kusine, die Kaiserin „Sisi“, ließ ihre Diplo- Welt mit elektrischer Beleuchtung, instalmaten aller Länder heimlich Fotos schöner lierte schon 1882 in der Residenz zu MünFrauen von Welt und Halbwelt besorgen, chen ein Telefon, ließ sich ein Jahr zuvor
und sie erhielt so manche halbnackte Ba- ein Fahrrad nach Hohenschwangau brinjadere zugesandt; Ludwigs Großvater (und gen und trieb bereits 1869 seinen „vielgeVererbung überspringt ja gern die Eltern), liebten Friedrich“, den genialen MaschiLudwig I., ließ Frauen vieler Länder und nenmeister Brandt, dazu an, „eine FlugStände für seine „Schönheitengalerie“ por- maschine zu Fahrten über den Alpsee bei
trätieren und gab sich nicht immer mit dem Hohenschwangau anzufertigen“.
Ölgemalten zufrieden.
Lange plante und rechnete Brandt daran
Für so manche hatte er danach Alimen- herum, es klappte nicht. „Wenn, was mir
te zu zahlen, für eine den Thron zu quit- sehr, sehr unlieb wäre, unser durch Gas zu
tieren, für Lola Montez, deren Bild zu küs- treibender Luftwagen bis zum November
sen ihm nicht genügte, wenn sie in Figura nicht fertig zu bringen ist […], so bitte ich
nicht greifbar war. Weshalb er ein Dich dringend sogleich den nur zum AnseStückchen Stoff erbat: „Schreibe und sag hen, nicht für Menschen bestimmten Pfaumir, ob Du das Flanellstück an beiden Stel- enwagen zu bestellen, dieser kann leicht in
len getragen hast.“ Ja, hatte sie; auf der sehr kurzer Zeit vollendet werden, wenn es
Brust und „auf meinem Bauch“. Und so mit Gas durchaus nicht gehen sollte, so könlegt danach er es sich auf die Brust „und nen wir ihn mittels Drähten fliegen lassen.“
auch etwas tiefer“.
Nicht dumm, sondern kühn. Tollkühn. Toll.
Das aromatisierte Flanell zieht sich wie
Ludwigs Flugträume dienten in Bernein rotes Tuch durch die Briefe der Ge- hard von Guddens psychiatrischem Gutachten als Nachweis seiner Geisteskrankheit. So flog er nicht übers Wasser, son* Romy Schneider und Helmut Berger in Luchino Visdern ertrank darin.
contis Film „Ludwig II.“ von 1972.
Michael Skasa
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PWE VERLAG
Kultur
Werbeseite
Werbeseite
Kultur
SCHRIFTSTELLER
Von Fleisch und Fleisches Lust
Die nostalgische Kuba-Begeisterung in Europa beschert
auch exilkubanischen Autoren Erfolg. In „Havanna Blues“ feiert
Daína Chaviano ihre Heimat als Weltnabel der Erotik.
G
MIAMI HERALD
lücklich, wer sich
So unverblümt hebt der
rühmen darf, eines
Roman an, der 1998 im spaMetzgers Freund zu
nischen Alicante den resein. Der hütet auf Kuba,
nommierten Azorín-Preis
wo Fleisch das „Gold der
(knapp 120 000 Mark) erArmen“ ist, seine Ware wie
hielt. Eine vergleichbare
den Nibelungenhort. Mehr
Ehrung ist keinem Miaminoch als der schriftkundige
Kubaner je widerfahren:
„schochet“ (Schächter) unDie galten bislang in literater streng gläubigen Juden
rischen Kreisen von New
ist der profane Fleischer bei
York, Madrid oder Paris als
den Kubanern eine Rerechts und politisch untragspektsperson: wohlgenährt,
bar, wogegen die weniger
angesehen, begehrt.
suspekte Diaspora zwiMit der Goldwährung
schen Chile und SchweHackfleisch kann der Metzden längst salonfähig ist.
ger Toño sich Zutritt zu Ha- Autorin Chaviano
Spaniens großzügig dotiervannas Touristen-Nachtclub
te Literaturpreise wurden
Tropicana erkaufen, sogar – höchstes der letzthin vielfach von Castro-Flüchtigen
Gefühle – einen Tisch im Wolkenkratzer- abgeräumt.
Restaurant La Torre ergattern. Der Fleischer
Wie beim Untergang der „Titanic“ wirkann sich feste Liebschaften mit drei Frau- belt die absaufende Revolution alles um
en gleichzeitig leisten, und selbst seinem sich. Die weltweite Kuba-Konjunktur – in
Freund Gilberto steigen die Weiber nach in der Vermarktung von Salsa und Son, in
der Hoffnung auf eine Extra-Ration.
Tourismus, Filmgeschäft und der (kulinaDass der neue Mensch des kubanischen risch durch nichts zu rechtfertigenden)
Sozialismus dem alten zum Kotzen ähnlich Eröffnung kubanischer Restaurants – zeisieht, ist keine überraschende Erkenntnis. tigt auch auf dem Buchmarkt Symptome.
Doch Daína Chaviano, 42, die in Castros
Die einfallsreiche Erotomanin Zoé
Kuba mit Science-Fiction bekannt wurde Valdés („Das tägliche Nichts“) findet seit
und seit 1991 im Exil in Miami lebt, zeich- gut drei Jahren in Deutschland ein allem
net die schäbigen Alltagskompromisse von Kubanischen aufgeschlossenes Publikum,
Havanna mit leichter Hand, einem Stich das sich von den Castro-feindlichen Tirains Übersinnliche und sicherem Griff fürs den der Asylantin nicht schrecken lässt.
Sinnliche. Westlichen Nostalgikern der ge- Auf Pro oder Kontra kommt es ja längst
strandeten Revolution suggeriert Chaviano nicht mehr an: Die Passion der Westler für
zum Trost, nirgends werde so hingebungs- Kuba ist postrevolutionär geworden – ein
voll kopuliert wie auf Kuba*.
mitfühlend-nostalgischer Voyeurismus.
Dieser Ansicht sind die Kubaner allerDen Exil-Kubanern ist das nicht entgandings seit jeher – wie manches Lied der gen. Ramón Alejandro, Maler und Lyrikrührenden Oldtimer vom „Buena Vista So- Herausgeber in Miami, spricht vom „morcial Club“ bezeugt, mit denen Wim Wen- biden Interesse“ der Europäer, die ihre
ders die Kinogeher bezauberte. Schon das Haut in der letzten Heimstatt des Sozialisvorrevolutionäre Kuba feierte die Mulattin mus bräunen lassen und schnell noch einen
als Sex-Symbol und Traumprodukt der Blick auf die früher bewunderte, nun im
Rassenmischung, und Daína Chaviano stuft Absacken begriffene Gesellschaft werfen.
die „karibische Frau“ nicht anders ein:
Dass es sich bei den Kuba-Liebhabern
„Jetzt geht sie die Allee entlang und ge- um Voyeure handelt, trifft sich gut, denn
nießt den Wind, der ihre seidene Unter- die Kubaner sind Exhibitionisten. Sie schäwäsche durchdringt. Sie wiegt sich in den men sich ihrer trostlos-schlüpfrigen LebensHüften und, erregt vom zudringlichen umstände keineswegs, sondern stellen sie
Atem der Meeresbrise, spürt die lustvolle zur Schau. Insofern ist Chaviano nur Vermittlerin. Ihre Romanheldin Claudia, eine
Feuchtigkeit zwischen ihren Beinen.“
junge Kunsthistorikerin, legt abends Musik
der mystischen Nonne Hildegard von Bin* Daína Chaviano: „Havanna Blues“. Aus dem Spanigen auf, „ein wenig transzendentale Meschen von Yasmin Bohrmann. Lichtenberg Verlag, Münditation, bevor sie auf den Strich geht“ – dachen; 304 Seiten; 36,90 Mark.
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mit sie sich für ihr kleines Kind den Obstsaft aus dem Dollarshop leisten kann.
Indessen wäre es keine wahre Kubanerin, der die Prostitution den Spaß am Sex
total verderben könnte. „Jemand drang in
sie ein, sie überließ sich der Lust“, schreibt
Chaviano. „Sie kam wie eine Hündin –
mitten in der Nacht in einem Luxushotel.“
Irgendwie hängt das mit dem ethnischspirituellen Selbstverständnis der Kubaner
in der ausgehenden Castro-Ära zusammen:
was halt dabei herauskommt, „wenn europäisches und afrikanisches Blut zusammenfließen und dann vierzig Jahre lang
auf der kleinen Flamme des Atheismus
kochen“.
Carlos Widmann
Bestseller
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich
ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“
Belletristik
Sachbücher
1 (1) Isabel Allende Fortunas Tochter
1 (1) Marcel Reich-Ranicki Mein Leben
Suhrkamp; 49,80 Mark
DVA; 49,80 Mark
2 (2) Günter Grass Mein Jahrhundert
2 (2) Sigrid Damm Christiane
und Goethe Insel; 49,80 Mark
Steidl; 48 Mark
3 (3) Elizabeth George Undank ist der
Väter Lohn Blanvalet; 49,90 Mark
3 (3) Waris Dirie Wüstenblume
Schneekluth; 39,80 Mark
4 (4) Corinne Hofmann
Die weiße Massai A1; 39,80 Mark
4 (5) Noah Gordon Der Medicus
von Saragossa Blessing; 48 Mark
5 (5) Dale Carnegie Sorge dich nicht,
lebe! Scherz; 46 Mark
5 (4) Donna Leon Nobiltà
Diogenes; 39,90 Mark
6 (6) John Irving Witwe für ein Jahr
Diogenes; 49,90 Mark
7 (7) Henning Mankell Die falsche
Fährte Zsolnay; 45 Mark
8 (8) Marianne Fredriksson Maria
Magdalena W. Krüger; 39,80 Mark
9 (9) Henning Mankell Die fünfte Frau
Zsolnay; 39,80 Mark
6 (6) Tahar Ben Jelloun Papa, was ist
ein Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark
7 (7) Bodo Schäfer Der Weg zur
finanziellen Freiheit Campus; 39,80 Mark
8 (9) Ulrich Wickert Vom Glück,
Franzose zu sein
Hoffmann und Campe; 36 Mark
9 (8) Ruth Picardie Es wird mir fehlen,
das Leben Wunderlich; 29,80 Mark
10 (11) Daniel
Goeudevert
Mit Träumen
beginnt die Realität
10 (11) Ken Follett
Die Kinder von Eden
Lübbe; 46 Mark
Rowohlt Berlin; 39,80 Mark
Hippies drohen damit, die
Erde künstlich zum Beben zu
bringen, um den Bau eines
Stausees zu verhindern
Manager-Visionen
für einen humanen
Kapitalismus
11 (10) Klaus Bednarz Ballade
vom Baikalsee Europa; 39,80 Mark
11 (10) Nicholas Sparks
Zeit im Wind
Heyne; 32 Mark
12 (13) Johannes Mario Simmel Liebe
ist die letzte Brücke Droemer; 44,90 Mark
13 (12) Siegfried Lenz Arnes Nachlass
Hoffmann und Campe; 29,90 Mark
12 (14) Günter Ogger Macher im
Machtrausch
Droemer; 39,90 Mark
13 (13) Peter Kelder
Die Fünf „Tibeter“
Integral; 22 Mark
14 (14) Martha Grimes Die Frau im
14 (12) Jon Krakauer In eisige Höhen
Pelzmantel
Malik; 39,80 Mark
Goldmann; 44 Mark
15 (–) Walter Moers Die 131/2 Leben
des Käpt’n Blaubär
Eichborn; 49,80 Mark
15 (15) Guido Knopp Kanzler – Die
Mächtigen der Republik
C. Bertelsmann; 46,90 Mark
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ARTHAUS
Kultur
Almodóvar-Stars Roth, San Juan: Schrill bunt, einladend, wohnlich
FILM
Vatermutterkind
Das jüngste Kino-Kunststück des
spanischen Melodramatikers Pedro
Almodóvar hält, was es verspricht:
„Alles über meine Mutter“.
D
ass Männer lieber Frauen sein
möchten, in der uneingestandensten Tiefe ihres Narzissmus zumindest, in ihrem geheimsten Traum von sich
selbst, ist statistisch wohl nicht zu beweisen. Nicht jeder kleine Junge stellt sich im
Nachthemd seiner Mutter vor den Schlafzimmerspiegel, um sich lieben zu können,
doch die Phantasie davon ist mächtig.
Pedro Almodóvars Sache war noch nie
das platt Wahrscheinliche, das statistisch
Beweisbare, vielmehr jene Art von Wahrheit, die erst im Künstlichen, im Phantastischen zum Vorschein kommt. Er bedient
sich mit Lust und geschmeidiger Bravour
der Stilmittel des traditionellen Melodrams, ohne Scheu vor den Rührseligkeiten oder Kitsch-Gipfeln des Genres, und
landet doch nicht bei traditionellen Gewissheiten, sondern macht daraus den Entwurf einer Welt, in der Geschlechterrollen
und Identitäten beweglicher sind, frei, wandelbar, abenteuerlich ungewiss.
Sein neuer Film beginnt mit einem Todesfall und ist eine Überlebensgeschichte:
Manuela, von Beruf Krankenschwester, allein erziehende Mutter, verliert am Abend
seines 17. Geburtstags ihren geliebten Sohn
Estéban, der Dichter werden wollte und
an einer Erzählung mit dem Titel „Alles
über meine Mutter“ schrieb – in schwärmerischem Leichtsinn ist er in ein Auto
hineingerannt.
274
Sein Herz, transplantiert, schlägt nun in
der Brust eines fremden Mannes, und Manuela – wohin sonst mit ihrer Trauer? –
macht sich auf die Suche nach seinem verleugneten und verschollenen Vater, der
ebenfalls Estéban hieß. Der einzige Hinweis, den der Sohn je zu Gesicht bekam,
am Tag vor seinem Tod, waren ein paar
„halbe“ Fotos, die seine Mutter als junge
Frau zeigten. Kein Zweifel, auf der abgerissenen anderen Hälfte wäre der Mann zu
sehen gewesen, sein Vater, den er mehr und
mehr als Lücke in seinem Leben wahrnahm, als fehlende Hälfte seiner Identität.
Manuela, als wäre sie das ihrem Sohn
schuldig, fährt von Madrid nach Barcelona,
zurück in die Stadt, aus der sie vor bald 18
Jahren, schwanger, geflohen ist: geflohen
vor jenem ersten Estéban. Hals über Kopf
aber gerät sie dort in einen wahren Strudel
von Frauenschicksalen: Sie hatte Hilfe gesucht und wird, da dies ihr Beruf ist, überall selbst zur Helferin. Almodóvars Blick
auf die Frauen ist (wie der von Ingmar
Bergman) niemals possessiv; er bringt sie
mit so viel Liebe zum Leben, als könnte er
dadurch eine von ihnen werden.
In einem jener schrill bunten, aufdringlich überladenen und doch einladend
wohnlichen Innenräume, Seelenräume,
in denen, man kennt das längst, alle
Almodóvar-Figuren zu Hause sind, sitzen
ein einziges Mal – da sie sonst unentwegt
in Bewegung sind – drei der weiblichen
Hauptfiguren entspannt beisammen: Jede
repräsentiert (auf den männlichen ersten
Blick) platt eine stereotype Frauenrolle:
die Nonne (Penélope Cruz), die Hure
(Antonia San Juan), die Mutter (Cecilia
Roth); doch jede stellt, auf den zweiten
Blick, durch ihre Individualität das Klischee auf den Kopf (die Nonne ist
schwanger, die Hure ein Mann). Und dann
tritt als vierte, überragend in ihrer Grand e r
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dezza, die Diva auf (Marisa Paredes),
das höhere oder gar höchste Wesen in dieser ganz und gar almodóvarschen Frauenphantasiewelt.
Die Diva nämlich ist nicht einfach von
Natur aus Frau, wie sonst irgendeine Dahergelaufene, sondern sie erschafft sich erst
durch Pose, Maske, Kostüm, durch Selbstinszenierung und Selbstüberhöhung ihre
Identität, die nur ein stumpfer Macho für
Lug und Trug halten wird. Das Ziel der
Diva ist dem ganz ähnlich, das der Transvestit sich erträumt: Frau sein in einer
höheren Potenz.
Wenigstens zwei aus der Gruppe der
Frauen, von denen Almodóvar erzählt, sind
in der Tat, platt biologisch betrachtet, Männer. Sie sei früher Lkw-Fahrer gewesen,
sagt eine von ihnen, aber „dann habe ich
mir Titten machen lassen und bin Nutte
geworden“. Sie zählt auf, wo überall Silikon ihr zu ihren Kurven und also zu ihrer
weiblichen Identität verholfen hat, und
sagt: „Man ist umso authentischer, je näher
man seinem Traum von sich selbst
kommt.“ Schein oder Sein? Elegant und
verwirrend jongliert Almodóvar (zu dessen
Figuren auch eine Kunstfälscherin gehört)
mit den Begriffen von Maske und Wesen,
von Fälschung und Original.
Am Ende erinnert die Diva mit einem
Szenenzitat, der Klage einer Mutter um
ihren toten Sohn, an García Lorcas schwulschwülstige Mutterschaftsmystik. Am Ende
wird ein Kind geboren, das, den Gesetzen
des Melodrams gemäß, den Namen Estéban bekommt. Am Ende wird auch der Vater gefunden, der erste Estéban, nach dem
sich, vor Monaten, Manuela auf die Suche
gemacht hatte. Er kommt langsam und gemessen eine hohe Treppe herabgeschritten
wie eine Revue-Diva, sehr fahl, schmal,
schon dem Tode nah, im schwarzen
Kostüm sehr ladylike – seine Erscheinung
erinnert daran, dass für die spanische
Phantasie der Tod eine Frau ist.
Vor sechs Wochen, ein paar Tage nach
ihrem Tod, hat Almodóvar einen Nachruf
auf seine Mutter veröffentlicht. Er erinnert
sich an die bäuerlich-ärmliche Kindheitswelt, in der die Mutter ihm als erste Verkörperung der Phantasie erschien. Zum
Namen eines Spaniers gehört neben dem
väterlichen auch der mütterliche Familienname (der doch auch eine Hälfte seiner
Identität bezeichnet); manche verzichten
im Alltag darauf, bei anderen verdrängt
der Muttername den des Vaters, halbwegs
etwa bei Lorca, ganz bei Picasso.
Almodóvar hat sich, zum Bedauern seiner Mutter, ihren Namen nie zu Eigen gemacht; vielleicht, weil er unbewusst vor
dem Männlichen darin zurückscheute.
Doch der Nachruf nun, erstmals, ist unterzeichnet: Pedro Almodóvar Caballero. Sollen wir umlernen? Wenn er weiter so wunderbar satte, stürmische, exaltierte Filme
macht, wollen wir ihn fortan gern Caballero nennen.
Urs Jenny
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Kultur
KINO
Traum von Größe
Luc Bessons monumentale
Neuverfilmung der Jeanne-d’ArcLegende beflügelt den
Nationalstolz der Franzosen.
D
COLUMBIA TRI-STAR
ie Unerbittlichkeit von Generationen französischer Lehrer hat sich
ausgezahlt. Für die Bürger der
Grande Nation sind Napoleon, Karl der
Große und Jeanne d’Arc unverrückbar die
markantesten Gestalten ihrer Geschichte.
So hat es gerade wieder eine Meinungsumfrage der Zeitung „France-Soir“ bestätigt.
Nun bekommen die Franzosen eine
neue Jungfrau von Orléans vorgeführt, in
einem überwältigenden Filmepos des Regisseurs Luc Besson, 39. In 500 Kinos läuft
das Historienspektakel seit vorigem Mittwoch, ein nationales Ereignis, die französische Antwort auf Hollywood: zwei Stunden und 40 Minuten lang, Produktionskosten weit über 100 Millionen Mark, eine
internationale Starbesetzung, in der USSchauspieler wie John Malkovich, Faye
Dunaway und Dustin Hoffman sich mit
Nebenrollen bescheiden müssen. So geziemt es sich ja auch bei diesem Stoff, der
von Januar an auch in Deutschland zu sehen sein wird.
Die Heldin, von der es keine gesicherte
zeitgenössische Darstellung gibt, wird von
dem Ex-Mannequin Milla Jovovich verkörpert: ein androgynes Energiebündel mit
dem Türkisblick der Erleuchteten, von
mörderischer Wut gegen die Feinde des
Königs geschüttelt, dann wieder von
Selbstzweifeln zerfressen angesichts des
von ihm verursachten Gemetzels.
Bessons Schlachtengemälde, in dem tausende von Geharnischten aufeinander losgehen, schert sich nicht um historische Genauigkeit – wie auch, sind doch Wahrheit
und Legende unauflöslich ineinander verwoben bei dieser Figur, in die Frankreich
seine Phantasien von Einigkeit, Widerstand, Verrat und Befreiung hemmungslos
romantisch hineinprojiziert hat.
Kein anderes Land in Europa ist wohl so
verliebt in die eigene Geschichte, hat ein so
ungebrochenes Verhältnis zu Trommelwirbel und Pfeifenklang. Jeanne d’Arc, die Hirtin aus dem winzigen Vogesendorf Domrémy, hat ihren herausragenden Platz in
diesem Traum von Größe. In ihrer Verehrung spiegelt sich auch die Sehnsucht eines
Volkes, das sich nur schwer damit abfindet,
vom Leitbild der Weltzivilisation zu einer
„Jeanne d’Arc“-Darstellerin Jovovich: Von mörderischer Wut geschüttelt
276
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Mittelmacht mit verminderten Souveränitätsrechten herabgesunken zu sein. Bessons Jeanne d’Arc wirkt da wie das kulturelle Gegengift zu einer globalisierten Welt,
in der nichts mehr seinen angestammten
Platz behält.
Wie General Charles de Gaulle, der in
einem Theaterstück zurzeit ebenfalls
nostalgisch verklärt wird, ist die Jungfrau
von Orléans Leitfigur geworden für das
„Frankreich, das Nein sagt“: Nein zu den
fremden Eindringlingen, Nein zu Kapitulation, Unterwerfung und Verfälschung seiner Lebensart.
„Was an der Gestalt der Jeanne d’Arc
so verführerisch wirkt, ist der Wille
zum Widerstand“, urteilt der Historiker
Olivier Bouzy, „das hat sie mit Asterix
gemeinsam“, dem unbeugsamen Gallier,
der zufällig gerade seinen 40. Geburtstag
feierte.
Im Hundertjährigen Krieg zwischen
Engländern und Franzosen war Jeannes
große Zeit nur eine Episode: jene 27 Monate zwischen dem 23. Februar 1429
und dem 30. Mai 1431, in denen sie dem
zaudernden, an seiner Legitimität fast
irre gewordenen König Karl VII. Mut einflößte und das von den Engländern belagerte Orléans befreite.
Niemand weiß, wer dieses Mädchen
wirklich war, das mit 13 erstmals die Stimme Gottes zu hören behauptete und mit
19 Jahren auf dem Marktplatz von Rouen
lebendig verbrannt wurde – als Häretikerin verurteilt nicht von den feindlichen
Engländern, sondern vom französischen
Bischof Pierre Cauchon und von Theologen der Sorbonne, die es für eine Hexe
hielten.
Der lästerliche Voltaire hat Jeanne
d’Arcs Weg zum Ruhm 1762 noch als Burleske geschildert. Während der Revolution
wurde sie als Vertreterin des Feudalismus
und des Aberglaubens geächtet. Der bedeutende Historiker Jules Michelet machte die Verteidigerin der Monarchie im 19.
Jahrhundert paradoxerweise zur Ikone des
republikanischen Patriotismus. Das vom
deutschen Nachbarn bedrohte Frankreich
brauchte eine starke Symbolfigur, hinter
der es sich sammeln konnte.
Luc Besson hat, in seinem bisher besten
Film, die Heldinnensage entstaubt und ins
Menschliche zurückgeholt. Er zeigt eine
exaltierte, von ihren Eingebungen getriebene junge Frau, die fanatisch das Absolute will und am Ende in der frei erfundenen
Zwiesprache mit ihrem überirdischen
Beichtvater (gespielt von Dustin Hoffman)
aus dem Kerker voller Gewissensnot auf
das zurückblickt, was sie angerichtet hat:
kein Instrument göttlichen Willens, sondern ein Spielball von Emotionen und politischen Intrigen.
Der Legende wird das keinen Abbruch
tun, denn Franzosen wissen: Ein Land, das
keine Legenden mehr hat, ist dazu verurteilt, vor Kälte zu sterben. Romain Leick
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GLOBE / INTER-TOPICS
Popstars Crosby, Young (stehend), Stills, Nash in New York (1999): „Wir sind vier Brüder“
POP
„Was heißt hier modern?“
Die Musiker David Crosby, Stephen Stills und Neil Young über
die Kraft ihrer Musik, den Fall der Berliner Mauer
und die neue Crosby-Stills-Nash-&-Young-CD „Looking Forward“
SPIEGEL: Ihre Platte wurde seit langem immer wieder angekündigt …
Young: Sehen Sie? Sehen Sie? Aber nicht
von uns. Das ist ein gutes Beispiel dafür,
warum wir Ihnen nicht erzählen können,
was wir in Zukunft machen wollen. Denn
wer weiß, ob wir es uns nicht anders überlegen?
Stills: Wir tun nur, was wir wollen. Ich
wollte noch was sagen, hab aber vergessen,
was …
Young: … tja, das ist mir noch nie passiert.
SPIEGEL: Sie vier sind als Egozentriker bekannt.War es sehr anstrengend, sich auf die
zwölf Stücke des neuen Albums zu einigen?
Crosby: Egozentriker? Wir sind vier Brüder.
Und ab und zu streiten wir mal, genauso
wie andere Brüder auch. Aber die Presse
stürzt sich nur auf die negativen Geschichten. So wie: „Drei Nonnen von Planierraupe überfahren – Bilder um 11 Uhr!“
Das lieben die.
Young: Um allen Streit unter Brüdern zu
vermeiden, hatten wir im Studio eine
Tabelle an der Wand hängen. Da waren
alle Songs aufgeführt und unsere Initialen.
Und wer meinte, dass ein Stück auf der
Platte sein müsste, machte einfach einen
Haken.
Crosby: Ein Problem war, dass Neil nur unter seinen Songs Haken gemacht hat.
Die sporadische Zusammenarbeit der
Amerikaner Crosby, 58, Stills, 54, und des
Briten Graham Nash, 57, mit dem Kanadier Young, 53, begründete die Legende einer „Supergruppe des Folkrock“ („Rolling
Stone“). Von Januar an will das Quartett
gemeinsam durch die USA und möglicherweise auch durch Europa touren.
in drei Jahrzehnten haben Sie es auf
drei gemeinsame Studioalben gebracht, zuletzt zusammen auf Konzerttour waren Sie
1974. Sind Crosby, Stills, Nash & Young
eine Band oder mehr ein loser HippieHerrenclub?
Crosby: Also, nun passen Sie mal gut auf
und merken sich genau, was wir Ihnen sagen. Wir verkünden das seit Ewigkeiten
und tun das hier noch dieses eine Mal: Als
wir anfingen, haben wir unsere eigenen
Namen benutzt, weil wir parallel Solokarrieren und andere Projekte verfolgen wollten. Wir haben es verdammt noch mal von
Anfang an jedem erzählt. Und als wir es
dann tatsächlich getan haben, schrien alle:
„Sie haben sich getrennt!“ Und jedes Mal,
wenn wir uns wieder zusammengetan haben, brüllten die Leute: „Wiedervereinigung!“ Einfach alles, was wir gesagt haben, wurde ignoriert.
Stills: Was?
Young: Achten Sie nicht auf ihn. Er hört
nur das, was er hören will.
SPIEGEL: Warum war es Ihnen unmöglich,
längere Zeit in einer Band zusammenzubleiben wie tausende andere Musiker auch?
278
R. ELLIS
SPIEGEL: Mr. Young, Mr. Crosby, Mr. Stills,
Erfolgsgruppe Crosby, Stills, Nash & Young (1974): „Ab und zu Streit“
Stills: (singt) Inquisition! Inquisition!
Crosby: Weil es einfach langweilig ist. Ich
Young: Na ja!
Crosby: Ein anderes Problem war, dass ich
möchte nicht ständig das Gleiche machen.
Man kann künstlerisch nicht wachsen,
wenn man ständig mit denselben Partnern
arbeitet.
SPIEGEL: Wie Sie sich künstlerisch allein
verwirklichen, interessiert aber deutlich weniger Menschen, als wenn Sie zu
viert antreten. Frustriert das die Künstlerseele?
Crosby: Zu viert verkaufen wir tatsächlich
zehnmal so viel wie jeder von uns allein –
mal abgesehen von Neil Young. Aber das ist
in Ordnung und kein Problem. Wir sind
alle längst gut versorgt. Was wir hier tun,
tun wir aus Spaß. Nicht weil eine Plattenfirma oder die Steuer uns zwingt.
nur für meine Songs gestimmt habe … Hey,
das war nur ein Scherz! Ein Witz. Kapiert?
Stills: Du musst dir das Publikum für deine
Scherze sorgfältiger aussuchen, Crosby.
Crosby: Ja? Echt?
SPIEGEL: Um den Stil kann es in den vergangenen 30 Jahren kaum Zank gegeben
haben. Ihr milder Country-Rock hat sich
bis heute als resistent gegen alles Moderne erwiesen.
Stills: Hey, wir machen einfach unser Zeug
und scheren uns einen Teufel um die anderen.
Crosby: Und was heißt hier bitte schön
„modern“? Egal, wie laut sie werden und
welche merkwürdigen Akkorde sie spie-
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Kultur
280
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schen Widerstands und der Bürgerrechtsbewegung, und wir haben versucht, eine
Menge Interviews mit einer Menge von
Menschen zu führen. Der Film wird auch
im deutschen Fernsehen gezeigt werden,
und ein Buch kommt auch.
SPIEGEL: Warum die Mühe? Wollen Sie bei
einer jungen Generation ein Bewusstsein reaktivieren, das verloren gegangen
scheint?
Crosby: Es festhalten, zelebrieren und hoffentlich aufrechterhalten.
SPIEGEL: Stimmt die Geschichte,
dass Sie nach dem Fall der Berliner
Mauer vor zehn Jahren sofort nach
Berlin geflogen sind?
Crosby: Ohne zu zögern. Vor allem,
weil ich die Reise auf Stephen Stills’
Kreditkarte gebucht habe.
Stills: Ich habe es im Fernsehen mitbekommen und gedrängelt, bis wir
im Flugzeug saßen. Wir hatten
Hammer und Schraubenzieher dabei und haben uns Teile aus der
Mauer herausgeschlagen. Meins
liegt nun auf dem Kamin.
Crosby: Peng. Peng. Und sie haben
uns erlaubt, vor dem Brandenburger Tor zu spielen. Das hat uns sehr
viel bedeutet. Die Mauer war ein
Symbol dafür, was am Kalten Krieg
alles böse war.
Young: Wir haben den Fall der Mauer als ein Zeichen großartiger Zeiten gesehen. Es war kein Panzer,
der sie umgestürzt hat. Es war keine Armee, die sie umgestürzt hat.
Es waren Ideen und Ideale, es waren Menschen, die diese Mauer zu
Fall gebracht haben.
SPIEGEL: Und wirtschaftliche Faktoren.
Crosby: In Ordnung. Aber es waren
Ideologen, die diese Mauer errichtet haben. Und wir sind Idealisten,
das ist ein ganz entscheidender Unterschied. Und danke noch mal,
Stephen, dass du alles bezahlt hast.
Stills: Verdammt noch mal, ihr schuldet mir
Geld. Aber ist auch egal. War ja ’ne gute
Sache. Wir sind Optimisten.
SPIEGEL: Was nährt Ihren scheinbar unerschütterlichen Optimismus?
Crosby: Wir waren schon immer so.
Young: Ich war optimistisch. Und ich war
zornig.
SPIEGEL: Was macht Sie zornig?
Crosby: Er hasst es, wie ich mich kleide.
Young: Mir gefällt die negative Ausrichtung
Ihrer Frage nicht, und ich werde sie nicht
beantworten.
Stills: Um welche Frage geht es?
Young: Was mich zornig macht.
Stills: Hab ich schon kapiert, war nur ein
Witz.
Young: Aha. Sonst noch etwas?
Crosby: Ende der Schimpfkanonade.
SIPA PRESS
len, alle diese Bands spielen doch nur Young: … jede Woodstock-Debatte abzuimmer verfluchten Rock’n’Roll. Ich habe lehnen. Das alte Woodstock ist wirklich zu
auch wieder angefangen, Radio zu hören. alt, und das neue hat gestunken. Nächste
Die guten Songs sind dünn gesät, aber es Frage bitte.
sind immer wieder welche dabei. Ich liebe SPIEGEL: Im Titelsong des neuen Albums
dieses Latin-Zeug, das bringt sogar mich gibt es diese Zeile „Trying not to use the
zum Tanzen. Aber ich weiß auch, dass word ‚old‘“. Heißt das, Sie fühlen sich
guter Rock’n’Roll, so wie unserer, so gut manchmal oder ständig alt?
wie eh und je klingt. Unser Harmonie- Young: Nein, das ist einfach eine beiläufige
gesang ist richtig frisch und lebendig. Bemerkung. Ich habe das Wort bereits in
Wir kennen auch die ganze moderne der ersten Strophe verwendet. Es ist ein
Technik und wissen trotzdem, wie man Witz.
erstklassig Gitarre spielt. Wir werden sogar immer besser.
SPIEGEL: Ganz ignorieren können
Sie trotzdem nicht, dass wir inzwischen am Ende der neunziger Jahre angelangt sind. Das Radio hat
stark an Bedeutung verloren. Werden Sie ein Video für MTV machen?
Stills: Video?
Young: Videoclips.
Stills: Was ist damit?
Young: Danach fragen sie.
Crosby: Ach ja, wir werden einen
prächtigen Videoclip aufnehmen.
Stills: Ich finde, das Video sollte
eine Gruppe von nackten Mädchen
zeigen.
SPIEGEL: Gab es nicht schon zu
Ihrem gemeinsamen Song „American Dream“ Ende der Achtziger einen Videoclip?
Young: Ja, aber auf Videos sind wir
echt mies. Wir wissen, was Videos
sind, sind aber keine von diesen Videobands.
Crosby: Wir könnten ein Video machen mit Strichmännchen, die
Spielzeugeisenbahn fahren.
Stills: Nein, keine Eisenbahn. Die
schlagen sich einfach eine Zeit lang
die Köpfe ein, und dann spielen sie
wieder als Band zusammen, die
Strichmännchen.
SPIEGEL: Ihre Plattenfirma hat Ihr
Werk ursprünglich für August an- Woodstock-Festival 1969: „Das W-Wort ist böse“
gekündigt – könnten die Leute dort
an das 30-jährige Jubiläum von Woodstock Crosby: Superwitz.
gedacht haben?
Stills: Was?
Stills: Was für eine energische Frage.
Young: Egal.
Young: Da müssen Sie die Plattenfirma SPIEGEL: Parallel zum Album haben Sie
fragen, ich weiß nicht, was die sich ge- an einer Fernsehdokumentation über
dacht hat.
die Geschichte des Protestsongs mitgearSPIEGEL: Aber Sie haben die Woodstock- beitet …
Neuauflage in diesem Jahr verfolgt? Im- Crosby: … dem Dokumentarfilm „Stand
merhin haben Sie dort 1969 gespielt, und And Be Counted“ über Menschen, die für
Ihr Debütalbum „Déjà vu“ gilt als Dinge eingetreten sind, an die sie glaubten:
Soundtrack der so genannten Woodstock- Bürgerrechtsdemonstrationen gegen den
Generation. Von Ihren Idealen ist dem Fes- Krieg, Live Aid, Entwicklungshilfe, Amtival nicht viel erhalten …
nesty International und so weiter. Wir haCrosby: Stopp! Stopp! Hören Sie auf, das ben eine Menge gelernt von dem ProtestW-Wort zu benutzen. Pfui! Das W-Wort ist sänger Pete Seeger.
böse.
Stills: Mal abgesehen von der Kommunistensache.
SPIEGEL: Keine Antworten zum W-Wort?
Young: Wir haben abgestimmt darüber Crosby: Das ist nicht lustig, da hört der
und einhellig beschlossen, jede Wood- Spaß auf. Dieser Mann ist ein Nationalstock …
held. Die Vereinigten Staaten von AmeriCrosby: Aus! Pfui.
ka haben eine große Tradition des politi-
Interview: Christoph Dallach,
Wolfgang Höbel
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Erasmus, Cordelia Freiwald, Silke Geister, Dr. Sabine Giehle,
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Schumann-Eckert, Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja
Stehmann, Dr. Claudia Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm,
Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Teichert, Dr. Iris Timpke-Hamel,
Heiner Ulrich, Hans-Jürgen Vogt, Carsten Voigt, Peter Wahle,
Ursula Wamser, Peter Wetter, Andrea Wilkens, Holger Wilkop,
Karl-Henning Windelbandt
B Ü R O D E S H E R A U S G E B E R S Irma Nelles
I N F O R M A T I O N Heinz P. Lohfeldt; Andreas M. Peets, Kirsten
Wiedner, Peter Zobel
K O O R D I N A T I O N Katrin Klocke
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Redaktion: Hans-Dieter Degler, Ulrich Booms
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Chronik
SAMSTAG, 23. 10.
FORMEL 1 Das Berufungsgericht des Inter-
nationalen Automobilverbands hebt
die Disqualifikation der Ferrari-Fahrer
wieder auf.
STARS Schlagersänger Rex Gildo („Fiesta
Mexicana“), 60, springt aus dem Fenster
und stirbt drei Tage später an seinen Verletzungen.
SONNTAG, 24. 10.
KRIEG Russland setzt trotz wachsender
Kritik des Westens seine militärische Offensive in Tschetschenien fort.
SCHWEIZ Rechtsrutsch bei den Schweizer
Parlamentswahlen: Die Schweizerische
Volkspartei (SVP), die eine harte Ausländerpolitik fordert, wird zweitstärkste Partei hinter den Sozialdemokraten.
MONTAG, 25. 10.
KLIMASCHUTZ Deutschland will den Aus-
stoß von Kohlendioxid bis zum Jahr 2005
um 25 Prozent verringern, verspricht
Kanzler Gerhard Schröder zu Beginn der
Klimaschutzkonferenz in Bonn.
ROT-GRÜN Die Lieferung eines Test-Pan-
zers an die Türkei führt zu heftigen Auseinandersetzungen in der Koalition. Ein
Export von 1000 Panzern soll nur erfolgen, wenn es Fortschritte in der Menschenrechtspolitik der Türkei gebe.
PROZESSE Im Hooligan-Prozess gegen die
Schläger, die den französischen Polizisten
Daniel Nivel bei der Fußballweltmeisterschaft schwer verletzt hatten, fordert der
Staatsanwalt Haftstrafen bis zu 14 Jahren.
DIENSTAG, 26. 10.
AFFÄREN Sechs Vorstände und ein Auf-
sichtsratsmitglied der HypoVereinsbank
23. Oktober bis 28. Oktober
SPIEGEL TV
treten zurück, weil die frühere Hypobank Risiken von 3,6 Milliarden Mark in
der Bilanz nicht berücksichtigt hatte.
MONTAG
23.00 – 23.30 UHR SAT 1
FORMEL 1 Die Deutsche Bank will für
Welche Farbe hat der Krieg?
Das Dritte Reich: 1940 – 1945
SPIEGEL TV
1,3 Milliarden Mark 50 Prozent des
Formel-1-Imperiums von Bernie Ecclestone kaufen.
REPORTAGE
BUNDESWEHR Die Weigerung der Bundeswehr, Frauen auch im Waffendienst einzusetzen, verstößt nach Ansicht des Generalanwalts der Europäischen Union gegen die Gleichbehandlungsrichtlinie.
MEDIZIN In Bad Oeynhausen wird weltweit erstmals einem Patienten eine mit
eigenem Antrieb ausgestattete HerzHilfspumpe implantiert.
Deutsche Soldaten (1945)
SPIEGEL TV
Zweiter Teil der Reportage mit bislang
unveröffentlichtem Farbmaterial aus der
Nazi-Zeit. Darunter Aufnahmen von einem Sommerlager der Hitlerjugend, Szenen aus dem Russlandfeldzug und von
Rommels Afrikakorps, aber auch Bilder
aus dem Warschauer Ghetto und von KZHäftlingen.
MITTWOCH, 27. 10.
PROZESSE Vor dem Bundesgerichtshof be-
ginnt der Revisionsprozess gegen den
letzten DDR-Staatschef Egon Krenz, der
wegen Totschlags an DDR-Flüchtlingen
zu einer Freiheitsstrafe von sechseinhalb
Jahren verurteilt wurde.
RÜSTUNG Das Verteidigungsministerium
bestätigt, dass die Bundeswehr die Türkei
beim Aufbau eines C-Waffen-Labors unterstützt.
DONNERSTAG
22.10 – 23.00 UHR VOX
STEUERN Banken sollen Kontrollmittei-
Bunkerwelten
lungen über Zinserträge ihrer Kunden
ans Finanzamt senden, fordert SPD-Fraktionsvorsitzender Peter Struck.
Auf persönlichen Befehl Hitlers sollten
alle deutschen Städte mit ausreichenden
Luftschutzanlagen ausgestattet werden.
Nach dem Krieg ließ man die meisten Anlagen einfach stehen, ein Abriss war in
der Regel zu teuer. Viele Bunker werden
inzwischen neu genutzt: als Möbelhaus,
Restaurant, Bürogebäude oder Aquarium.
SPIEGEL TV
ARMENIEN Der armenische Ministerpräsi-
dent Wasgen Sarkisjan wird bei einem
Anschlag im Parlament getötet.
DONNERSTAG, 28. 10.
EXTRA
SAMSTAG
22.00 – 23.00 UHR VOX
KULTUR Kanzler Schröder eröffnet in
Hamburg die Ausstellung „Querbeet“ mit
Bildern des verstorbenen Malers Horst
Janssen.
SPIEGEL TV
SPECIAL
People’s Century – Das Jahrhundert
Die Herrenrasse
Während des Manövers „Bright
Star“ in der ägyptischen Wüste,
an dem elf Staaten teilnahmen,
überflogen amerikanische B-1Bomber die Pyramiden.
Der Holocaust: vierter Teil der zehnteiligen Dokumentationsreihe.
SONNTAG
22.10 – 23.25 UHR RTL
SPIEGEL TV
MAGAZIN
REUTERS
Herbstgeschichte –
Das Ende der deutschen Teilung
Als am Abend des 9. November 1989 der
Schlagbaum des Berliner Grenzübergangs Bornholmer Straße geöffnet wurde,
dokumentierte allein ein Kamerateam
von SPIEGEL TV dieses historische Ereignis. Es war der Moment, an dem die
Mauer fiel. Aus bisher zum Teil unveröffentlichten Originalmaterialien rekonstruieren Stefan Aust und Katrin Klocke
den Herbst, der Geschichte machte.
285
Register
DPA
GALAZKA
Leonard Boyle, 75. Für Scharen von Forschern war der hochgelehrte Dominikaner
das gute Herz im ältesten Archiv der Welt:
Als Präfekt der Vatikanischen Bibliothek
arbeitete Boyle, ein kleiner verschmitzter
Ire, seit 1984 an der Öffnung des päpstlichen
Schatzhauses. Der Mittelalter-Kenner stellte Frauen ein, lockerte die Kleidungsregeln
und ließ ein Café einrichten – ganz zu
schweigen vom neuen elektronischen Katalog. Doch 1997 wurde Boyle rüde gefeuert: Der Verkauf von
Bibliotheks-Bildrechten an dubiose USSpekulanten hatte die
Kurie in Rechtshändel
verwickelt, und der liberale Pater ohne Seilschaftsrückhalt war ein
willkommener Sündenbock. Boyle wurde
zwar von seinen Bibliothekaren weiterhin
verehrt. Aber er setzte
keinen Fuß mehr in den Vatikan und zog
sich zurück. Leonard Boyle starb vergangenen Montag in Rom.
Hoyt Axton, 61. Schon seine Mutter Mae
Axton war im Pop-Geschäft. Mit Elvis
Presley schrieb sie an dem legendären
,,Heartbreak Hotel“. Ihr eiferte der junge
Barde Ende der fünfziger Jahre nach. Bald
286
d e r
GALELLA / INTER-TOPICS
Horst Krüger, 80. Er nannte sich einen
Schriftsteller auf Reisen und war überzeugt
davon, man fahre weg, „um sich näher zu
kommen“. Das tat er mit Erfolg: Seine impressionistischen Beobachtungen und Reisebilder, gesammelt auf Fahrten bis in die
hintersten Winkel von China, füllen mehr
als 20 Bücher und machten ihn während
der fünfziger und sechziger Jahre zu einem populären Autor. Daneben verfasste
er literarische und politische Essays, Glossen, Skizzen, Reportagen und Städte-Features fürs Fernsehen.
Krüger, geboren in
Magdeburg, wuchs in
Berlin auf. Sein vielleicht bekanntestes
Buch „Das zerbrochene Haus. Eine Jugend
in Deutschland“ erzählt die Geschichte
seiner Familie während des Nationalsozialismus. Krankheiten hinderten ihn seit
einigen Jahren am Weiterschreiben, er verstummte, offenbar ohne Groll. „Ich jedenfalls gehöre nicht mehr ins neue Jahrtausend. Ich danke. Es reicht mir“, sagte er
einmal. Horst Krüger starb am 21. Oktober
in Frankfurt am Main.
schrieb er Hits für das
Kingston Trio, für Joan
Baez, Waylon Jennings, Linda Ronstadt
– und schließlich auch
für den ,,King“. Leichte Muse zumeist, doch
nicht nur: Steppenwolfs ,,The Pusher“
und Ringo Starrs ,,No
No Song“ sind Plädoyers gegen den Drogenmissbrauch. Als die
Polizei 1997 bei ihm
selbst Marihuana entdeckte, saß Axton, inzwischen auch Film- und Fernsehschauspieler, nach einem Schlaganfall im Rollstuhl. Obwohl er beteuerte, den Stoff nur
als Schmerzmittel benutzt zu haben, wurde er zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.
Hoyt Axton starb vorigen Dienstag auf seiner Ranch in Montana an Herzversagen.
Wasgen Sarkisjan, 40. Zu Sowjetzeiten
Fußballtrainer und Propagandist, gründete
er am Ende Kampfgruppen, die dem Nationalisten Ter-Petrosjan beistanden. Dieser wurde 1991 erster Präsident eines unabhängigen Armenien, bis Sarkisjan, nun
Verteidigungsminister, ihn stürzte und sich
mit dem Altgenossen Karen Demirtschjan
verband, vormals Armeniens KP-Chef. Eine gemeinsame Liste
„Einheit“ gewann die
Wahlen im Mai, Sarkisjan wurde Premier
und Demirtschjan, 67,
Parlamentsvorsteher.
Beide lehnten sich an
Russland an – zum
Zorn der Nationalisten, deren Daschnaksutjun-Partei nur noch
acht Prozent der Stimmen gewonnen hatte. Ihr ehemaliges Mitglied Nairi Unanjan
stürzte vorigen Mittwoch mit Kumpanen
ins Parlament und erschoss Wasgen Sarkisjan, auch Karen Demirtschjan und sechs
weitere Politiker kamen ums Leben.
DPA
Gestorben
Ehrung
Thomas Lehr, 41, aus Speyer stammender
und in Berlin lebender Computerfachmann
und Schriftsteller, erhält am 7. November
auf Schloss Vollrads den mit 15 000 Mark
und 111 Flaschen Rheinwein dotierten
„Rheingau Literatur Preis“. Der Nachwuchsautor (SPIEGEL 41/1999) wird diese
Auszeichnung für seinen neuesten Roman
„Nabokovs Katze“ – eine ironische Hommage an die Frauen – entgegennehmen. Bereits für seinen Erstling „Zweiwasser oder
Die Bibliothek der Gnade“ wurde ihm 1994
der „Maria-Cassens-Preis“ verliehen.
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Werbeseite
Werbeseite
Personalien
Lord Irvine, 59, britischer Justizminister,
REX FEATURES
REX FEATURES
will die Richter des Landes zu politisch
korrektem Verhalten gegenüber Ausländern anhalten. Nach einer Serie von rassistischen Entgleisungen vor Gericht gab seine Behörde kürzlich einen Benimm-Leitfaden für Juristen
heraus. Darin werden die Richter aufgefordert, Ausländer vor Beginn einer Verhandlung
höflich zu fragen,
wie man sie anredet
und wie ihr Name ausgesprochen
wird. Ausdrücke
wie „Paki“ (für Pakistaner), „Orientale“ oder „Neger“
seien grundsätzlich
unzulässig. Ferner
erfahren die britischen
Juristen
Nachhilfe in kulturellen Besonderheiten. So sei der Konsum von „ganja“ –
Irvine
Cannabis – bei den
aus Jamaika stammenden Rastafaris eine
religiöse Tradition, eine Art „Sakrament“.
Zudem kündigte Irvine – sicher ist sicher
– weitere Benimm-Regeln an: für das korrekte Verhalten gegenüber „Behinderten,
Frauen und Homosexuellen“.
Iman
Percy Ross, 82, amerikanischer Autor und
288
David Bowie, 52, Pop-
PA / DPA
gewagt hätte zu sagen
oder Margaret ThatIdol aus Großbritannien
cher.“ Iman, 44, reagiert
(„Heroes“), fühlt sich
eng verbunden mit dem
souveräner auf ihren
britischen PremiermiVerehrer: Das somalische
nister Tony Blair, 46. „Er
Ex-Supermodel und der
seit 19 Jahren verheiratewar Gitarrist in einer
te Labour-Mann hatten
Studenten-Rock-Gruppe,
schon vor drei Jahren öfund ich habe phanta- Blair, Iman, Bowie
fentlich einen heftigen
siert, Premierminister
zu sein“, so erzählte der Musiker der verbalen Flirt: Blairs Radio-Beichte,
„Times“, offenbar auf Ebenbürtigkeit aus, Iman sei seine Traumfrau, bedachte die
denn es galt, ein heikles Blair-Bekenntnis Schöne mit dem charmanten Eingeständaufzufangen. Bowie: „Er erklärte, dass nis: „Ich bin so verliebt in David. Aber
er als Mann fasziniert ist von Iman, Tony Blair kann ich nicht widerstehen.
meiner Frau, etwas, was John Major nie Er ist ein sehr gut aussehender Mann.“
AP
Millionär aus Minneapolis, hat sich um sein
komplettes Vermögen gebracht – freiwillig.
In seiner Zeitungskolumne „Tausend
Dank“ (sie erschien in insgesamt über 800
Publikationen, so in den „Daily News“,
New York, und im „Indianapolis Star“) verschenkte er im Laufe von 17 Jahren über 30
Millionen Mark an seine Leser. Unterstützt
wurde jeder, der Ross glaubhaft von seiner
Not überzeugen konnte. So bezahlte er
den Bau von Jugendheimen, bezuschusste
Organtransplantations-Zentren und ließ sogar für eine 26-jährige Leserin Geld springen, die sich neue Zahnkronen wünschte.
Etwa 10 000 Bettelbriefe erhielt er wöchentlich. Viele davon verwendete der
Sohn armer sowjetischer Einwanderer, der
sein Geld mit einer Kunststoff-Fabrik gemacht hatte,
in den Kolumnen. In seinen
letzten Zeilen bedankte Ross
sich jetzt bei den Lesern:
„Ich habe mein Ziel erreicht.
Ich habe alles weggegeben.
Trotzdem bin ich heute reicher als zuvor.“ Danach genoss er eine Kreuzfahrt im
Mittelmeer – ein Geschenk
seines Sohnes und der erste
Urlaub seit 17 Jahren.
Ross
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Joschka Fischer, 51, deutscher Außenminister, machte sich in Paris um besseres
deutsch-französisches Verständnis verdient. Bei einem vom deutschen Botschafter Peter Hartmann in dessen Residenz „Palais Beauharnais“ gegebenen Essen mit Journalisten beider Nationen wurde der Grünenpolitiker um eine Erläuterung ersucht, warum sein Freund Daniel
Cohn-Bendit es als Grüner in Deutschland
nie zu nationalem Rang gebracht habe,
während die Franzosen den „Vert“ neuer-
dings wie eine Lichtgestalt feierten. Der
„wirkliche Freund seit 1969“, so Fischer
über Cohn-Bendit, sei halt kein Deutscher, sondern „ein Franzose mit deutschem Pass“. Dessen emotionale Heimat
erläuterte Fischer sodann am Beispiel
Fußball. Da sehe man,
„wo Daniels Herz
schlägt“: Wenn nämlich Frankreichs Tricolore-Elf kicke, sei der
Dany „absolut unerträglich“.
Schlachten wird aber nicht Landfrau Müller, sondern ein Fachmann übernehmen.
FOTOS: J. WILLIAMS / BULLS PRESS ( li.); REX FEATURES ( re.)
Kerry Packer, 61, australischer Medientycoon und Black-Jack-Fan, geht in die Geschichte der englischen Spielcasinos ein:
Christa Müller, 43,
Ehefrau von Oskar
Lafontaine, offenbarte jüngst ungeahnte
Talente: Vom Lamm
bis zum Rindvieh
kann die diplomierte
Volkswirtin nach eige- Crockford’s Club
nen Angaben alles
fachgerecht zerlegen. Zusammen mit ihrem
Mann habe sie sogar schon eine große
Wildsau abgeschwartet, das Tier anschließend waidmännisch zerwirkt und in
Filets und Braten zerteilt. Diese Fähigkeiten werden ihr sicher zugute kommen,
wenn der Bauernhof gefunden ist, auf dem
sie und ihr SPD-Pensionär nach ökologischen Grundsätzen wirtschaften wollen.
Eine Muttertierherde mit Angus-Rindern
soll dann angeschafft werden und Vogelvieh für Söhnchen Carl-Maurice. Das
Packer
BECKER & BREDEL / ACTION PRESS
Der notorische Gambler verspielte im
Crockford’s Club im vornehmen Londoner Stadtteil Mayfair 33 Millionen Mark.
Damit ist Packer auf der Insel absoluter
Rekordverlierer. Der reichste Mann Australiens, der schon acht Herzattacken
überlebt hat, nahm es gelassen: Sein Vermögen wird auf 4,5 Milliarden Mark geschätzt. Und Pleiten stehen bei Packers
Streifzügen durch die Spiel-Paläste von
London bis Las Vegas eher selten auf dem
Programm. In Nevada konnte er vor zwei
Jahren 39 Millionen Mark in einer Nacht
einstreichen. Zocken hat bei Packers zudem Familientradition: Sein tasmanischer
Großvater fand einst eine 10-Shilling-Note
auf der Straße, setzte sie auf ein Pferd und
gewann so das Geld für die Überfahrt aufs
australische Festland. Dort schuf der Gelegenheitsjournalist das große australische
Medien-Imperium – ein solider Grundstein
für die Spielleidenschaft seines Enkels.
Rudolf Dreßler, 58, SPD-Sozialexperte,
und seine Familie sorgen bei gemeinsamen
Ferienreisen für Konfusion an der Hotelrezeption. Sein Schwiegersohn Michael heißt
mit Nachnamen Müller, genauso wie Rudolf Dreßlers frisch gebackene dritte Ehefrau Doris, 39, die vom neuen Namensrecht
Gebrauch machte. Dresslers Tochter Simone, 37, hat ebenfalls ihren Mädchennamen
behalten und trägt sich mit Dreßler ein.
„Weil nicht Dreßler mit Dreßler und Müller mit Müller aufs Zimmer gehen, gucken
die Leute manchmal ganz komisch“, amüsiert sich der SPD-Mann. Auch die jüngsten
Familienmitglieder sorgen für Verwirrung.
„Mama, mein Onkel hat mich gehauen“,
beschwerte sich kürzlich Dreßlers Enkeltochter Ana-Luca, 5, und meinte damit dessen jüngsten Sohn Tim, 3 Jahre alt.
Müller, Sohn
289
Hohlspiegel
Rückspiegel
Zitate
Aus der „Ostfriesen Zeitung“
Aus der „Rhein-Zeitung“: „Hans Hölzel
alias Falco, Österreichs international erfolgreichster Popstar, soll zwei Jahre nach seinem Tod als Mittelpunkt einer MusicalShow ins Rampenlicht zurückkehren.“
Aus einem Schreiben der „Haspa“, Hamburger Sparkasse, an einen Kunden: „Die
übrigen Veränderungen bleiben unverändert.“
Aus dem „Aschaffenburger Anzeiger“
Aus der Zahnärztezeitschrift „DZW“
Aus der „Rhein-Zeitung“
Aus der „Rheinischen Post“: „Die Malerin
beschäftigt sich seit fast 30 Jahren mit der
Verschandelung der Umwelt. Sie studierte
an der Folkwangschule für Gestaltung in
Essen und an der Düsseldorfer Kunstakademie.“
Der „Tagesspiegel“ über die
erste Ausgabe von „SPIEGELreporter –
Monatsmagazin für
Reportage, Essay, Interview“:
Der SPIEGEL steht hinter SPIEGELreporter … Gleicher Herausgeber, gleicher Chefredakteur, gleiche Redaktion, gleiche
Adresse, ein legitimes Kind des SPIEGEL.
Das lässt hoffen und alle Wohlmeinenden
können das nur begrüßen. Nach all dem
Schrott an Neuerscheinungen, dem journalistischen Vorwand, der auf Anzeigen
schielt, nach all den Diät-, Frisur,- Porno-,
Fitness-, Fun-, Lifestyle-Publikationen
endlich mal wieder ein seriöser Versuch,
Leser zu informieren, zu begeistern statt
Anzeigenkunden gefällig zu sein … Berichten, was kommt und bleibt, so die
redaktionelle Formel von Stefan Aust, dem
Kopf des Unternehmens. Mit ihm denken
15 SPIEGEL-Redakteure, die, integriert in
der Stamm-Redaktion, das Blatt machen.
Ein gutes Blatt. Die Reportagen laufen
nicht im Mainstream, sondern beschreiben
die Ränder … Ein nachdenkliches, ein anspruchsvolles Programm. Kann das die erhoffte Auflage von 120 000 Exemplaren erreichen? Schwer zu sagen, aber entschieden zu hoffen. Und wenn nicht? Da sollten
die Verantwortlichen für das Gesamte
(Herausgeber, Chefredakteur, Geschäftsführung) sich auch an Übergeordnetes erinnern und die Entscheidung nicht Spartenleitern (Controller) überlassen. Auch
Buchverleger schleppen Wichtiges, Wertvolles mit, was Erfolgreiche (Bestseller)
finanzieren. Der SPIEGEL ist mehr als ein
Wirtschaftsunternehmen. Er ist eine Bastion für guten Journalismus.
Die „Berliner Zeitung“:
Die Qualität, die die Stars des Verlags abliefern, ist überwiegend beeindruckend.
Das gilt für Cordt Schnibbens Reportage
aus einem bolivianischen Gefängnis ohne
Wärter sowie Uwe Buses Beitrag über „Die
Zukunft des Krieges“ … Schwächen lassen
sich verschmerzen, denn den anderen
deutschen General-Interest-Zeitschriften
ist SPIEGELreporter schon mit der ersten
Ausgabe um Lichtjahre voraus.
Die „Süddeutsche Zeitung“:
Aus der „Ärzte-Zeitung“
Aus „Bild am Sonntag“
290
Wie ist eine Zeitschrift, die unter anderem
von 13 Reportern gemacht wird, die mit
dem Kisch-Preis ausgezeichnet wurden?
Klar: Sie enthält wunderbare Reportagen.
Echte Reportagen, keine Berichte mit atmosphärischen Einsprengseln. Klassische
Reportagen, die ein Thema durch den Blick
des Reporters erkunden – und nicht den
Blick auf den Reporter lenken, wie es
modern ist.
d e r
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