Original Downloaden

Transcription

Original Downloaden
Masterarbeit
zur Erlangung des akademischen Grades
Master of Arts
der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich
Moralische Überforderung
Lukas Naegeli
Referent: Prof. Dr. Peter Schaber
Philosophisches Seminar
25.06.2014
[...] the aim is to sharpen perception, to
make one more acutely and honestly
aware of what one is saying, thinking
and feeling.
Bernard Williams,
Morality
Truth gains more even by the errors of
one who, with due study and preparation, thinks for himself, than by the true
opinions of those who only hold them
because they do not suffer themselves to
think.
John Stuart Mill,
On Liberty
Inhalt
Einleitung
1
Teil I: Die Explikation des Überforderungseinwands
5
1. Intuitive Attraktivität und erste Irritationen
1.1. Paradigmatische Beispiele
1.2. Skeptische Fragen
6
7
15
2. Die Höhe moralischer Forderungen und die Idee der moralischen Überforderung 18
2.1. Unterschiedliche Interpretationen
18
2.2. Etwas nicht tun können
20
2.3. Murphys Herausforderung
26
2.4. Überforderung als Einwand
34
Teil II: Die Berechtigung des Überforderungseinwands
3. Wohlerwogene moralische Überzeugungen
38
38
3.1. Hookers Argumentation
39
3.2. Moralische Intuitionen und ethische Methodologie
43
4. Auf der Suche nach einer Begründung
54
4.1. Schefflers menschliche Moral
54
4.2. Einwände und Erwiderungen
65
Schluss
76
Literatur
79
Einleitung
Müssen wir einen Vertrag auch einhalten, wenn wir dabei wider Erwarten viel Geld verlieren?
Ist eine Lüge auch moralisch falsch, wenn uns durch eine ehrliche Äusserung erhebliche
Nachteile entstehen? Und sind wir selbst dann verpflichtet, Menschen in grosser Not zu helfen, wenn uns infolgedessen die Verwirklichung eines zentralen Lebensplans unmöglich
wird? Moralische Forderungen können allem Anschein nach ziemlich anspruchsvoll sein.
Denn zum einen entspricht es unserer Alltagsmoral, mehr als bloss eine der genannten Fragen
mit „Ja“ zu beantworten, und zum anderen legen so unterschiedliche Moraltheorien wie der
Kontraktualismus, der Kantianismus oder der Konsequentialismus ebenfalls mindestens eine
affirmative Antwort darauf nahe. Finanzielle Verluste können einen Vertragsbruch zumindest
für eine Kontraktualistin nicht rechtfertigen, drohende Nachteile heben das Lügenverbot jedenfalls aus der Sicht eines Kantianers keineswegs auf und die Preisgabe eines bedeutenden
persönlichen Projekts kann angesichts notleidender Menschen wenigstens für eine Konsequentialistin geboten sein. Wer sich also moralisch einwandfrei verhalten möchte, muss seinen eigenen Interessen wohl unter Umständen entsagen. Zwischen dem, was uns wichtig ist,
und dem, was die Moral uns auferlegt, scheint nicht zwingend ein harmonisches Verhältnis zu
bestehen.
Gleichwohl wird manchen Moralprinzipien und -theorien vorgehalten, sie stellten zu hohe
Anforderungen an uns und seien deshalb nicht plausibel. Folgt aus einer ethischen Auffassung
etwa, dass es nur äusserst selten zulässig ist, im eigenen Interesse zu handeln, dann ist sie
Joseph Raz zufolge absurd und zweifellos falsch.1 John Leslie Mackie hält den klassischen
Handlungsutilitarismus für eine „Ethik der Fantasie“, deren Vertreter schlicht zu viel von uns
erwarten.2 Und ergibt sich schliesslich aus einer unparteilichen Moralkonzeption, dass wir im
Konfliktfall unsere fundamentalen Lebensprojekte aufgeben müssen, spricht dies nach Bernard Williams entschieden gegen eine solche Konzeption:
[I]mpartial morality, if the conflict really does arise, must be required to win; and that
cannot necessarily be a reasonable demand on the agent. There can come a point at which
it is quite unreasonable for a man to give up, in the name of the impartial good ordering
of the world of moral agents, something which is a condition of his having any interest in
being around in that world at all.3
Derart viel, so der Tenor, kann die Moral nicht von uns verlangen. Es wäre absurd, zu denken,
wir müssten aus moralischen Gründen gegebenenfalls unsere Familie oder uns selbst opfern,
uns einen Körperteil amputieren lassen oder darauf verzichten, unsere Kinder zu besuchen,
die vielleicht auf einem anderen Kontinent leben. Solch exzessive Forderungen sind, wie
1
Vgl. Raz (1993), 1297.
Vgl. Mackie (1977), 129f.
3
Williams (1981), 14; vgl. dazu auch Williams (1973).
2
1
vermutlich viele meinen, überzogen, unzumutbar oder überfordernd, und eine Moraltheorie,
die sie beinhaltet, büsst dadurch – jedenfalls gemäss dem, was man in einer ersten Annäherung als Überforderungseinwand bezeichnen kann – entweder an Plausibilität ein oder erweist
sich sogar als unhaltbar.
Die Anhänger des Überforderungseinwands sind dementsprechend der Ansicht, dass (i)
nicht alle Moraltheorien gleich anspruchsvoll sind und (ii) manche davon zu viel von uns verlangen. Ihrer Meinung nach gibt es einerseits Grenzen dessen, was die Moral von Menschen
fordern darf, und andererseits sowohl Theorien, welche diese Grenzen respektieren, als auch
Theorien, welche diese Grenzen nicht respektieren.4 Beide Thesen – (i) und (ii) – mögen zwar
auf den ersten Blick einleuchtend scheinen, entpuppen sich aber bei näherem Hinsehen als in
hohem Masse erläuterungs- und begründungsbedürftig. So denkt Liam B. Murphy etwa, dass
die Idee exzessiver Ansprüche selbst letztlich unklar bleibt,5 während andere nicht einmal die
moraltheoretische Relevanz der Höhe moralischer Forderungen einräumen und schulterzuckend feststellen: „[I]f morality is demanding, it is demanding.”6 In diesem Geist meint Derek
Parfit beispielsweise, wir könnten mitnichten davon ausgehen, sondern bloss darauf hoffen,
dass die beste Moraltheorie nicht unrealistisch anspruchsvoll sei.7 Wird mit dem Überforderungseinwand also lediglich ein eigennütziges Vorurteil zum Ausdruck gebracht? Bleibt rätselhaft, worin der Einwand überhaupt bestehen soll? Handelt es sich weniger um ein philosophisches Argument, als vielmehr um die rhetorische Maskerade einer egoistischen Haltung?
Der intuitiven Attraktivität der Thesen (i) und (ii) steht, wie es scheint, ihre besondere Erläuterungs- und Begründungsbedürftigkeit entgegen. Was auf den ersten Blick vielversprechend klingt, droht uns auf den zweiten insofern zu entgleiten, als sowohl fraglich ist, was
damit genau ausgesagt werden soll, als auch, was eigentlich dafür spricht, dass das Behauptete zutrifft. Daraus erwächst eine Spannung, die zum Anlass werden muss, sich Klarheit darüber zu verschaffen, wie der Überforderungseinwand zu verstehen ist und ob er je berechtigt
sein kann. Entsprechend ist es das Ziel der vorliegenden Untersuchung, der folgenden Frage
auf den Grund zu gehen: Lässt sich der Überforderungseinwand so explizieren, dass er dazu
geeignet ist, gegenüber gewissen Moralprinzipien oder -theorien berechtigterweise vorgebracht zu werden? Eine zufriedenstellende Antwort darauf setzt indes, wie bereits die motivierenden Überlegungen andeuten, die Lösung zweier Probleme voraus, falls sie positiv ausfallen soll. Zum einen müssen diejenigen, die gewillt sind, für den Einwand in die Bresche zu
4
Siehe dazu etwa Fishkin (1982), 14; Kagan (1989), xi; Murphy (2000), 15.
Vgl. Murphy (2000), 6.
6
Griffin (1986), 185; vgl. dazu auch Murphy (2000), 15.
7
Siehe Parfit (1984), 29.
5
2
springen, ein Interpretations- und zum anderen ein Rechtfertigungsproblem bewältigen. Es
fragt sich, wie eine angemessene Interpretation des Überforderungseinwands aussehen könnte
und warum er – so interpretiert – auch stichhaltig sein soll. Aufgrund dessen gliedert sich die
Arbeit in zwei Teile, die jeweils hauptsächlich einer dieser beiden Herausforderungen gewidmet sind. Im ersten Teil sollen Schwierigkeiten im Vordergrund stehen, die sich im Zusammenhang mit der Explikation des Einwands ergeben, der zweite Teil dagegen rückt die
Frage nach der Berechtigung des Einwands in den Mittelpunkt.
Dabei darf allerdings nicht in Vergessenheit geraten, dass die philosophischen Probleme,
die den beiden Teilen der Untersuchung zugrunde liegen, eng miteinander zusammenhängen.
Das erste kann nicht ohne Berücksichtigung des zweiten und das zweite nicht ohne Berücksichtigung des ersten angegangen werden. Wie überzeugend der Überforderungseinwand ist,
hängt klarerweise davon ab, wie er verstanden wird. So könnte es unterschiedliche Varianten
des Einwands geben, von denen manche vielleicht plausibler sind als andere. Darum erfordert
eine Prüfung der Berechtigung des Einwands auf jeden Fall eine Klärung seines Gehalts. Wir
müssen wissen, wie ein Argument beschaffen ist, bevor wir die Möglichkeit haben, es zu kritisieren. Ebenso wenig kann aber die Frage danach, wie der Einwand zu verstehen ist, unabhängig von jeglicher Einschätzung seiner Überzeugungskraft beantwortet werden. Als moraltheoretischer Einwand gegen fordernde ethische Ansätze kommt dem Überforderungseinwand
nämlich eine bestimmte argumentative Rolle zu. Er soll eine konkrete Aufgabe übernehmen
und es gehört daher auch zu den Erfolgsbedingungen seiner Erläuterung, dass er auf eine
Weise gefasst wird, die es ihm erlaubt, diese Aufgabe möglichst gut zu erfüllen. Die Auslegung muss auf die Überzeugungskraft des Einwands ausgerichtet sein. Sie sollte ihn so stark
wie möglich machen. Jede Explikation bleibt demnach, um frei mit Kant zu sprechen, ohne
Blick auf die Rechtfertigungsdimension leer, jede Evaluation aber bleibt ohne Blick auf die
Interpretationsdimension blind.
Dies ändert jedoch nichts daran, dass die vorgeschlagene Zweiteilung hilfreich ist, um verschiedene Aspekte dessen zu beleuchten, was Anhänger des Überforderungseinwands leisten
müssen, wenn ihre Argumentation überzeugen soll. Von den Schwierigkeiten, mit denen sie
sich konfrontiert sehen, resultieren manche nämlich aus der Herausforderung der unerlässlichen Explikation, andere dagegen aus dem erhobenen Anspruch auf Berechtigung. Demgemäss ist im ersten Abschnitt des ersten Teils aufzuzeigen, inwiefern mit den naheliegenden
Überzeugungen (i) und (ii) Explikationsprobleme einhergehen, die schwierige Fragen nach
sich ziehen, während im zweiten Abschnitt deutlich werden soll, wie sich diese Fragen be-
3
antworten lassen. Ob der Überforderungseinwand indes je berechtigt sein kann, stellt sich in
den beiden Abschnitten des zweiten Teils heraus.
Je intensiver die Auseinandersetzung mit dem Einwand wird, um den sich die Arbeit dreht,
desto evidenter wird auch, dass er mit grossen philosophischen Fragen verbunden ist, deren
Beantwortung kein leichtes Unterfangen darstellt. So involviert die Beschäftigung mit dem
Überforderungseinwand etwa die folgenden Gretchenfragen. Was ist eine moralische Forderung? Welcher ethischen Methodologie gebührt der Vorrang? Wodurch zeichnet sich die Moral aus? Weil es sich dabei um philosophische Probleme handelt, die keine einfachen Lösungen kennen, lässt sich die Ausgangsfrage der vorliegenden Untersuchung letztlich bloss vorsichtig positiv beantworten: Der Überforderungseinwand ist wohl ein aussichtsreicher Einwand, den seine Gegner ernst nehmen sollten.
4
Teil I: Die Explikation des Überforderungseinwands
Der erste Teil der Untersuchung fokussiert primär darauf, wie der Überforderungseinwand
erläutert werden sollte und wie mit den Schwierigkeiten umzugehen ist, die einen entsprechenden Explikationsversuch behindern. Vorab ist deshalb zweierlei zu klären: Was ist im
gegebenen Kontext, erstens, unter einer Explikation zu verstehen und wann ist eine solche,
zweitens, als adäquat anzusehen?
Wenn von der Explikation eines Ausdrucks die Rede ist, dann ist damit für gewöhnlich eine
präzisierende Bedeutungsbestimmung gemeint, die sich – im Unterschied zur stipulativen
Definition – zwar am etablierten Sprachgebrauch orientiert, aber – im Unterschied zur lexikalischen Definition – trotzdem bis zu einem gewissen Grad davon abweicht. In exakt diesem
Sinn wird nachfolgend nur die Wendung „moralische Überforderung“, nicht jedoch der Überforderungseinwand selbst, der schliesslich kein sprachlicher Ausdruck ist, zu explizieren sein.
Insofern gilt es streng genommen, zwei Arten von Explikationen zu unterscheiden, die beide
relevant sind für die folgenden Ausführungen: die Explikation eines Ausdrucks auf der einen
und die Explikation eines Einwands auf der anderen Seite. Erstere ist, wie gesagt, eine präzisierende Bestimmung der Ausdrucksbedeutung, die etwa zu wissenschaftlichen oder philosophischen Zwecken vorgenommen wird und ihren Ausgang mit einer groben Analyse der alltagssprachlichen Verwendung eines Wortes nimmt. Unter der letzteren soll demgegenüber
eine Erläuterung des Gehalts eines Einwands verstanden werden, welche darauf abzielt, zu
erklären, worin er genau besteht und wie er im Einzelnen funktioniert. Diese kann nicht in
gleicher Weise von der Alltagssprache ausgehen, sondern allenfalls von zirkulierenden Formulierungen des Einwands. Für Präzisierungen aber sollte sie ebenso offen sein, wie es die
Ausdrucksexplikation per definitionem ist.
Im ersten Teil der vorliegenden Abhandlung müssen die beiden Explikationsarten indes zusammenspielen. Denn die Explikation des Überforderungseinwands bedarf einer Explikation
des Begriffs der moralischen Überforderung. Um dem Überforderungseinwand auf die Schliche zu kommen, sollten wir dazu in der Lage sein, uns einen Reim darauf zu machen, was
eine moralische Überforderung sein könnte. Doch was sind dabei die Adäquatheitskriterien?
Wann ist die Begriffsexplikation und wann die Einwandsexplikation adäquat? Ob die Explikation des Begriffs der moralischen Überforderung im bestehenden Kontext als geglückt zu
betrachten ist, scheint von mindestens zwei Bedingungen abzuhängen: Das Explikat sollte
unserer vorreflexiven Idee von einer moralischen Überforderung mehr oder minder entsprechen und den Überforderungseinwand so interessant und plausibel wie möglich erscheinen
5
lassen.8 Dadurch wäre gewährleistet, dass wir einerseits besser verstehen, was jene umtreibt,
die den Überforderungsbegriff bemühen, und andererseits abschätzen können, wie weit man
damit auf der Suche nach der besten Moraltheorie kommt.
Hinsichtlich der Explikation des Einwands bieten sich denn auch ähnliche Kriterien zur
Adäquatheitsbeurteilung an. Erstens sollte der Überforderungseinwand als solcher erkennbar
bleiben und darum sowohl an unserem Begriff der moralischen Überforderung als auch an der
philosophischen Debatte zum Thema orientiert sein. Zweitens müssen die begrifflichen und
argumentativen Zusammenhänge zwischen dem Überforderungseinwand, dem Überforderungsbegriff sowie denjenigen moraltheoretischen Vorschlägen transparent werden, gegen die
der Einwand gerichtet ist. Und drittens ist der Überforderungseinwand vor allem so zu erläutern, dass er als ein möglichst gutes Argument gegen anspruchsvolle Moraltheorien erkennbar
wird. Abweichungen von traditionellen Auffassungen desselben sind demnach insbesondere
dann gerechtfertigt, wenn sie ihn in einem besseren Licht erscheinen lassen. Allerdings gilt
dies aus naheliegenden Gründen nur in einem bestimmten Sinn: Eine Explikation sollte allfällige Mängel, falls möglich, beheben und nicht bloss übertünchen. Es wäre sinnlos, den Überforderungseinwand zunächst zum Schein zu verbessern, um sich später gezwungen zu sehen,
einen faulen Zauber aufzuklären.
1. Intuitive Attraktivität und skeptische Fragen
Wer den Überforderungseinwand akzeptiert, ist der Überzeugung, dass (i) manche Moralprinzipien oder -theorien mehr von uns verlangen als andere und (ii) einige davon darüber hinaus
zu viel von uns verlangen. Aber sind diese beiden Thesen tatsächlich, wie in der Einleitung
behauptet wurde, auch auf den ersten Blick plausibel, während sie sich auf den zweiten als
erläuterungs- und begründungsbedürftig herausstellen? Selbst eine solch zurückhaltende Einschätzung dürfte nicht unbestritten bleiben. Manche werden bezweifeln, dass die Thesen (i)
und (ii) intuitiv reizvoll sind, andere hingegen werden dafür einstehen, dass sie auch ohne
besondere Erläuterung problemlos verständlich und ohne besondere Begründung überzeugend
sind. Deswegen liegt es nahe, sich eingangs erstens die intuitive Attraktivität der beiden Thesen vor Augen zu führen (1.1.) und zweitens darzulegen, welche skeptischen Fragen sich
8
Carnap führt vier Kriterien zur Beurteilung der Adäquatheit einer Begriffsexplikation an: Ein Explikat sollte,
wie er meint, (1) dem Explikandum ähnlich sein, sein Gebrauch sollte (2) exakt geregelt sein, es sollte (3) theoretisch fruchtbar sein und schliesslich sollte es (4) möglichst einfach sein (siehe etwa Carnap/ Stegmüller (1959),
15). Meine beiden Bedingungen gleichen (1) und (3), für (2) und (4) hingegen finden sich keine Entsprechungen.
Das hat einen einfachen Grund: Obwohl grundsätzlich nichts dagegen einzuwenden wäre, zwei Pendants von (2)
und (4) hinzuzufügen, spricht eine pragmatische Überlegung dagegen: Die beiden zusätzlichen Kriterien würden
nebensächliche Selbstverständlichkeiten ausdrücken, denen bei der Explikation des Überforderungsbegriffs
keine wesentliche Rolle zukommt.
6
demgegenüber aufdrängen (1.2.). So entsteht zum einen ein lebhaftes Bild der philosophischen Problemlage, aus der die Fragestellung der Untersuchung entspringt. Und zum anderen
entfaltet sich ein exemplarischer Hintergrund moraltheoretischer Ansätze, vor dem wir die
Idee der moralischen Überforderung anschliessend konkretisieren können.
1.1. Paradigmatische Beispiele
Warum es zumindest prima facie einleuchtet, dass manche Moralprinzipien oder -theorien
mehr fordern von uns als andere (i) und uns einige sogar überfordern (ii), soll die Betrachtung
zweier Beispiele verdeutlichen. Zuerst ist es hilfreich, sich zwei unterschiedliche Hilfsprinzipien näher anzusehen, die in der ethischen Diskussion um die globale Armut vorgeschlagen
wurden, danach soll die Konzeption der optimierenden Moral illustrieren, dass es Theorien
gibt, die höhere Forderungen an uns stellen, als sie dem gesunden Menschenverstand je im
Traum einfielen.
Wie lauten die beiden Hilfsprinzipien und was können sie veranschaulichen? Während Peter Singer in seinem bekannten Aufsatz „Famine, Affluence, and Morality” ein Prinzip verteidigt, das weithin für ausgesprochen anforderungsreich gehalten wird,9 spricht sich der Libertäre Jan Narveson in „We Don’t Owe Them a Thing!” für eine sogenannte „charity-view“10
aus, wonach es zwar lobenswert ist, etwas gegen die Weltarmut zu unternehmen, nicht jedoch
moralisch geboten. Ersterer meint, wir hätten die Pflicht, etwas Schlechtes zu verhindern,
wenn es (a) in unserer Macht liegt und wir dabei (b) nichts von vergleichbarer moralischer
Bedeutung opfern müssen: „if it is in our power to prevent something bad from happening,
without thereby sacrificing anything of comparable moral importance, we ought, morally, to
do it.”11 Und weil etwa die schwere Armut zahlloser Menschen sowie ihre Folgen – Krankheit, Schmerz, Leid, Tod – gewiss schrecklich sind, sollten wir dagegen nach Singer auch
alles tun, was wir tun können, ohne etwas aufzugeben, was moralisch ähnlich bedeutungsvoll
ist. Letzterer sieht uns im Gegensatz dazu nicht in der Pflicht, anderen zu helfen, solange diese uns nicht ebenfalls unterstützen könnten oder wollten, falls wir darauf angewiesen wären.12
Denn um zu entscheiden, ob es angemessen ist, eine Hilfspflicht anzunehmen, muss Narveson
zufolge geprüft werden, ob es für alle Beteiligten von Vorteil ist, eine solche zu akzeptieren.
Das Resultat dieser Prüfung hängt wesentlich davon ab, wie gross die Wahrscheinlichkeit
dafür ist, dass (a) auch wir irgendwann Hilfe benötigen und die anderen dann (b) helfen kön-
9
Vgl. dazu etwa Bleisch/ Schaber (2009), 15.
LaFollette (2003), 238; vgl. auch Murphy (2000), 5.
11
Singer (1972), 231.
12
Vgl. Narveson (2003), 422f. und 426f.
10
7
nen und wollen. Für die Bedürftigen in der Ferne verheisst dies nichts Gutes. Nach Narveson
ist es lediglich zu begrüssen, wenn wir ihnen zur Seite stehen, verlangen kann man es indes
nicht von uns: „Very distant people are unlikely ever to be in a strictly reciprocal relation to
us. Even so, we should all be disposed to approve of action to aid persons, however distant,
even though such action is not required of us.”13
Was aber ist damit über die Höhe der moralischen Forderungen Singers einerseits und Narvesons andererseits gesagt? Singers Hilfsprinzip hat, wie er selbst feststellt, radikale Implikationen.14 Wenn es korrekt ist, sollten wir uns nämlich nahezu rund um die Uhr darum bemühen, das grosse Leid zu lindern, vom dem zurzeit viele betroffen sind. Ereignete sich heutzutage nichts Schlechtes, könnten wir zwar tun, was wir wollten, aber unter den gegebenen Umständen sind wir gemäss dem vorgeschlagenen Prinzip extrem gefordert: „Given the present
conditions in many parts of the world [...] it does follow from my argument that we ought,
morally, to be working full time to relieve great suffering of the sort that occurs as a result of
famine or other disasters.”15 Immerhin liesse sich aufgrund der mangelnden Effektivität überarbeiteter Helfer, wie auch Singer einräumt, eine gewisse Beschränkung unserer Hilfeleistungen rechtfertigen. Trotzdem ist klar, dass wir nicht nur auf Nebensächlichkeiten verzichten
müssen, falls wir den Ansprüchen des singerschen Hilfsprinzips gerecht werden wollen, sondern auch auf unzählige Dinge, die uns sehr viel bedeuten. Denn um so viel Schlechtes verhindern zu können, wie wir verhindern können, ohne dabei etwas von vergleichbarer moralischer Bedeutung zu opfern, sehen wir uns mit Sicherheit gezwungen, einige der folgenden
potentiellen Herzensangelegenheiten zu vernachlässigen, zu wechseln oder aufzugeben: unsere Urlaubspläne, unsere Freizeitbeschäftigungen, unsere Berufe, unsere Freundschaften, unsere Liebe oder unser ganzes Leben. Aufgrund dessen, wie unsere Lebenssituationen typischerweise beschaffen sind, scheint es unumgänglich zu sein, dass wir Projekte, Tätigkeiten und
Beziehungen zur Disposition stellen, die für gewöhnlich als natürlich, unbedenklich oder sogar wünschenswert gelten. Statt monatlich mit Freunden ins Theater zu gehen, sollten wir
unser Erspartes beispielsweise der Against Malaria Foundation oder der Schistosomiasis
Control Initiative spenden.16 Statt deutsche Sprachgeschichte oder prähistorische Archäologie
zu studieren, sollten wir uns womöglich den Wirtschaftswissenschaften zuwenden, damit wir
13
Narveson (2003), 432.
Vgl. Singer (1972), 238.
15
Singer (1972), 238. Zum gegenwärtigen Ausmass der Weltarmut vgl. z. B. Bleisch/ Schaber (2009); Pogge
(2009).
16
Siehe dazu etwa die Spenden-Empfehlungen von Giving What We Can (www.givingwhatwecan.org), The Life
You Can Safe (www.thelifeyoucansafe.org) oder GiveWell (www.givewell.org).
14
8
später mehr verdienen.17 Und statt unendlich viel Zeit in unsere Romanzen zu investieren,
sollten wir vielleicht mit vollem Einsatz eine politische Kampagne vorantreiben.
Demgegenüber nehmen sich die Forderungen, die Narveson akzeptiert, geradezu harmlos
aus. Da Hilfspflichten seiner Ansicht nach nur bestehen, wenn ihre Annahme für alle Beteiligten von Vorteil ist,18 dürfen sie weder den möglichen Hilfsempfängern noch den möglichen
Helfern ein Dorn im Auge sein und müssen sich, wenn auch nicht immer mit ihren kurzfristigen, so doch mit ihren mittel- oder langfristigen rationalen Interessen vereinbaren lassen. Ob
dabei für beide Parteien etwas auf dem Spiel steht, was aus moralischer Sicht gleich gewichtig ist, spielt keine Rolle. Narvesons Ansatz fordert daher, wie es scheint, deutlich kleinere
Opfer, als sie Singer den Handelnden abverlangt, sein Hilfsprinzip ist viel einfacher zu befolgen als das seines Kollegen und es gewährt uns weitaus grössere Handlungsspielräume.
Schliesslich ist unschwer zu erkennen, dass es etwa für eine wohlhabende Schweizerin in aller
Regel nicht vorteilhaft ist, ihr ganzes Leben in den Dienst von Notleidenden zu stellen. Die
Wahrscheinlichkeit dafür, dass sie irgendwann auf die Hilfe derjenigen angewiesen sein wird,
denen sie helfen könnte (a), und diese ihr dann auch helfen können und wollen (b), ist klarerweise zu klein, um die Bürde eines stetigen Einsatzes, eines unablässigen Verzichts aufzuwiegen. Ihre Hilfeleistungen würden sich für sie kaum lohnen. Die erwartbaren Kosten übersteigen den erwartbaren Nutzen bei Weitem. Folgt man Narvesons Argumentation, darf sich
die Schweizerin deshalb auf beglückende Theaterabende freuen, sich in die faszinierende Geschichte der deutschen Sprache vertiefen und sich dem Rausch der Liebe hingeben.
Vergleichen wir die beiden vorgestellten Ansätze zur Frage, wozu wir in Anbetracht der
Weltarmut verpflichtet sind, wird zweierlei deutlich. Zum einen scheinen die Hilfsprinzipien
Singers und Narvesons ein paradigmatisches Beispiel für zwei Prinzipien abzugeben, die ungleich viel von uns verlangen. Das Prinzip, das Singer vorschlägt, mutet weit anspruchsvoller
an als dasjenige, für das Narveson argumentiert. Zum anderen erwecken Singers Forderungen
den Eindruck, derart hoch zu sein, dass sie für viele zu hoch sind.19 Libertäre wie Narveson
denken ohne Frage, dass Singer zu viel von uns fordert, aber selbst in den Augen einer breiten
Mehrheit dürften seine Ansprüche als realitätsfremd, unzumutbar oder überfordernd gelten.
Denn wer ist der Meinung, er müsse aus moralischen Gründen auf sämtliche Kino- oder
Theaterbesuche verzichten, seinen Traumberuf aufgeben oder seine grosse Liebe enttäuschen?
17
Vgl. dazu auch die Vorschläge zur Karriereplanung von 80,000 hours (www.80000hours.org).
Siehe Narveson (2003), 426.
19
Umgekehrt dürften die bescheidenen Forderungen Narvesons allerdings von vielen als zu tief eingeschätzt
werden. Es fragt sich deshalb, wie wir in Erinnerung behalten sollten, ob gegen sein Hilfsprinzip – in Analogie
zum Überforderungseinwand – ein Unterforderungseinwand vorzubringen ist (vgl. dazu den Unterabschnitt
4.1.).
18
9
Obwohl uns die Moral unter Umständen viel abverlangen kann, darf sie uns, so die verbreitete
Überzeugung, solche Dinge nicht streitig machen. Entsprechend können wir bloss zu einer
mehr oder weniger extensiven Teilzeit-Hilfe, keineswegs aber zu der von Singer geforderten
Vollzeit-Hilfe verpflichtet sein.
Sogar mit Singers Hilfsprinzip liegt also möglicherweise ein exemplarischer Fall eines Moralprinzips vor, das uns zu anspruchsvoll erscheint. Allerdings ist die extreme Armut, auf die
er in seinem Aufsatz reagiert, auch ein Phänomen, das vielen zu Recht grosses Unbehagen
bereitet. So lässt sich beispielsweise mindestens darüber streiten, ob die gegenwärtige Weltlage mit einer Krisensituation gleichzusetzen ist, in der sich unaufhörlich schwere Notfälle ereignen.20 Schliesslich geraten tagtäglich zahllose Menschen in ernsthafte Notlagen, aus denen
sie sich ohne fremde Hilfe kaum befreien können. Ausgehend von dieser Diagnose bietet es
sich an, ein einfaches Argument für eine anspruchsvolle Hilfspflicht vorzubringen, das in einer gewissen Spannung zur Behauptung steht, Singer erwarte zu viel von uns:
(P1)
(P2)
(K)
Wenn wir Menschen gefahrlos helfen können, die sich in einer lebensbedrohlichen Notlage befinden, dann sollten wir ihnen helfen.
Wir können gefahrlos Menschen helfen, die sich momentan in einer lebensbedrohlichen Notlage befinden.
Also sollten wir derzeit Menschen helfen, die sich in einer lebensbedrohlichen
Notlage befinden.
Da es sich um einen Modus Ponens handelt, ist der Schluss von den Prämissen (P1) und (P2)
auf die Konklusion (K) zweifellos gültig. Doch sind die beiden Prämissen auch wahr? Jedenfalls scheinen sie auf den ersten Blick ziemlich unstrittig zu sein. Es ist eine empirische Gewissheit, dass sich gegenwärtig – im Einklang mit (P2) – unzählige Menschen in einer lebensbedrohlichen Notlage befinden und wir vielen davon gefahrlos helfen könnten, indem wir
geeignete Hilfsorganisationen unterstützten.21 Und es dürfte vielen als eine moralische Gewissheit gelten, dass wir Menschen in Not, denen wir gefahrlos helfen können, auch – (P1)
entsprechend – helfen sollten. Wenn wir etwa, wie Singer in seinem populären Teichbeispiel
schreibt, an einem seichten Teich vorbeikommen und sehen, wie darin ein Kind ertrinkt, dann
sollten wir hineinwaten, um das Kind zu retten.22
20
Vgl. z. B. Ashford (2000) und (2003), 274: „[...] we have reason to view the current state of the world as a
constant emergency situation [...]”. Siehe auch Ashford (2009), 210: „Solange das Problem chronischer Armut
auf institutioneller Ebene nicht angemessen gelöst ist, besteht permanent eine Notfallsituation grössten Ausmasses: Jederzeit stehen die Lebensinteressen einer riesigen Zahl von Menschen auf dem Spiel.“
21
Vgl. z. B. auch Chappell (2009).
22
Siehe Singer (1972), 231; vgl. dazu auch den rechtlichen Grundsatz Unterlassung der Nothilfe, wie er z. B. in
Artikel 128 des Schweizerischen Strafgesetzbuches formuliert wird: „Wer einem Menschen, den er verletzt hat,
oder einem Menschen, der in unmittelbarer Lebensgefahr schwebt, nicht hilft, obwohl es ihm den Umständen
nach zugemutet werden könnte, wer andere davon abhält, Nothilfe zu leisten, oder sie dabei behindert, wird mit
Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.“
10
Folglich scheint selbst aus der Perspektive unserer Alltagsmoral viel dafür zu sprechen,
dass wir uns – in Übereinstimmung mit (K) – für die Unterstützung notleidender Menschen
einsetzen sollten. Berücksichtigt man dabei überdies, wie gross die Anzahl der Hilfsbedürftigen ist, wird ausserdem Folgendes klar: Die Konklusion (K) lässt sich so auslegen, dass sie
im Widerspruch zur Auffassung steht, Singer fordere zu viel von uns. Weil zurzeit unzählige
Menschen in lebensbedrohliche Situationen geraten und wir heutzutage die Möglichkeit haben, ihnen gefahrlos zu helfen, erlaubt die verbreitete Überzeugung (P1) den Schluss darauf,
dass wir moralisch verpflichtet sind, sehr viel Zeit und Geld in Hilfsprojekte zu investieren.
Daher ist ungewiss, ob unsere intuitive Einschätzung, wonach Singers Forderungen zu hoch
sind, stabil ist. Aussergewöhnliche Zeiten erfordern, wie man der Überforderungsthese entgegenhalten könnte, auch aussergewöhnliche Massnahmen. Dies mag ein weiteres Beispiel Singers veranschaulichen:
A doctor faced with hundreds of injured victims of a train crash can scarcely think it defensible to treat fifty of them and then go to the opera [...]. The life-or-death needs of others must take priority. Looking at the world as a whole, and our ability to make a difference, we are like the doctor in that we live in a time when we all have an opportunity to
help to mitigate a disaster.23
Vielleicht dürfen wir die menschlichen Tragödien, die sich Tag für Tag auf unserem Planeten
ereignen, genauso wenig ignorieren, wie ein Arzt nach einem katastrophalen Zugunglück das
Weite suchen darf. Aufgrund dessen – und nur dies sollte das obige Argument deutlich machen – ist es ratsam, ein zweites Beispiel für einen zu anspruchsvollen ethischen Ansatz vorzustellen, das nicht mit derartigen Komplikationen behaftet ist.
Deshalb verdient nun die Konzeption der optimierenden Moral unsere Aufmerksamkeit.
Denn für die Vertreter einer optimierenden Moral ist – im Gegensatz zu den Verteidigern der
Alltagsmoral und anderen Ethikern – nur das Beste gut genug.24 Sie behaupten nämlich, dass
wir in jeder Situation die bestmögliche Handlung ausführen müssen. Wenn uns unterschiedliche Handlungsoptionen zur Verfügung stehen, sind wir demnach stets verpflichtet, uns für
diejenige zu entscheiden, welche moralisch gesehen die beste ist. Wir dürfen niemals auch
nur die zweit- oder die drittbeste, geschweige denn eine der schlechteren Optionen wählen.
Wir sollten, um Susan Wolfs Terminologie zu bemühen, alle zu moralisch Heiligen werden,
zu Menschen also, deren Handlungen besser nicht sein könnten.25 Für Optimierer gibt es nämlich keine supererogatorischen Handlungen, d. h. keine Handlungen, zu deren Ausführung wir
23
Singer (2011), 213.
Siehe Lawlor (2009), 23f. und 102; vgl. zu den folgenden Ausführungen Lawlor (2009).
25
Siehe Wolf (1982), 419: „By moral saint I mean a person whose every action is as morally good as possible, a
person, that is, who is as morally worthy as can be.”
24
11
nicht verpflichtet sind, obwohl sie moralisch besser sind als andere, die uns offenstehen.26
Einzig die Wahl moralisch optimaler Handlungen ist nach ihnen zulässig. Sämtliche weniger
guten Taten sind uns untersagt.
Welche Implikationen die Annahme einer optimierenden Konzeption der Moral hat, können wir uns anhand zweier fiktiver Szenarien vergegenwärtigen. Dabei ist indes zu beachten,
dass sich zwei Anhänger einer optimierenden Moral zwar per definitionem darin einig sind,
dass wir stets die beste Handlung ausführen sollten, sie aber keinesfalls auch darin übereinstimmen müssen, welches die moralisch beste Handlung ist. Die Antwort auf die Frage, wozu
wir in einer bestimmten Situation verpflichtet sind, hängt für alle Optimierer davon ab, welche der realisierbaren Optionen moralisch gesehen die beste ist. Aber sie können unterschiedlicher Auffassung darüber sein, was die moralische Güte von Handlungen ausmacht und welches demgemäss die beste Handlung ist. Auf Fragen der Art „Welche der Handlungen H1, H2
und H3 müssen wir in Situation S ausführen?“ geben zwei Optimierer daher nicht notwendigerweise die gleiche Antwort. Wenn der erste Optimierer die Handlung H1 für die moralisch
beste hält, während der zweite H2 den Spitzenplatz im Ranking der moralischen Güte einräumt, dann werden sie mit H1 respektive H2 zwei unterschiedliche Handlungen als geboten
ansehen, obwohl sie beide einer optimierenden Moralkonzeption anhängen.
So kann es zum Beispiel konsequentialistische Optimierer geben, für die die Güte einer
Handlung allein davon abhängt, wie gut ihre Konsequenzen sind,
27
und nicht-
konsquentialistische Optimierer, für die auch andere Faktoren – etwa solche, die mit der Existenz moralischer Rechte, mit der Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen oder mit dem
Prinzip der Doppelwirkung zusammenhängen – eine Rolle spielen, wenn wir bestimmen wollen, wie gut eine Handlung ist. Als Vertreter einer optimierenden Moral gelten indes beide,
solange sie die These vertreten, dass jederzeit ausschliesslich die moralisch bestmögliche
Handlung gut genug ist. Für die spätere Auseinandersetzung mit dem Überforderungseinwand
gerät so – im Gegensatz zur ursprünglichen Debatte28 – von vornherein in den Blick, dass er
sich nicht nur gegen konsequentialistische sondern auch gegen kantianische, kontraktualistische oder tugendethische Moraltheorien richten kann. Obwohl die Forderung, eine moralisch
26
Vgl. zum Begriff der Supererogation Urmson (1958); Wessels (2002); Heyd (2011).
Einfachheitshalber soll diese Formulierung hier genügen. Eine raffiniertere und vielleicht plausiblere Variante
lautete: „The better the reasonably expected consequences of the act, the better the act” (Lawlor (2009), 14).
Siehe dazu auch Lawlor (2009), 13f.
28
Traditionell war es der klassische Utilitarismus, wonach das Glück fühlender Wesen zu maximieren ist, der
sich dem Überforderungseinwand ausgesetzt sah (vgl. z. B. Raz (1993), 1297; Hooker (2009), 151), in jüngerer
Zeit wurden jedoch auch die hohen Forderungen anderer Moraltheorien diskutiert. So hat Elisabeth Ashford
beispielsweise dafür argumentiert, dass sich aus dem Kontraktualismus Scanlons mindestens genauso anspruchsvolle Verpflichtungen, anderen zu helfen, ergeben wie aus dem Utilitarismus (vgl. Ashford (2003)).
27
12
Heilige zu werden, nicht an den Utilitarismus geknüpft ist, handelt es sich um eine paradigmatische Kandidatin für eine Forderung, die zu anspruchsvoll ist.
Alle Optimierer verlangen also, wie es scheint, viel von uns, aber sie verlangen nicht unbedingt dasselbe. Für die folgende Analyse zweier Szenarien möchte ich allerdings von den Unterschieden zwischen konsequentialistischen und nicht-konsequentialistischen Optimierern
absehen. Dies hat den Vorteil, dass die diffizile Frage, wie die moralische Güte von Handlungen zu bestimmen ist, unbeantwortet bleiben kann. Es hat jedoch, wie man dagegen einwenden könnte, den Nachteil, dass die Diskussion der Implikationen der optimierenden Moralkonzeption gewisse Einschätzungen der Handlungsgüte voraussetzen muss, mit der vielleicht
nicht alle Optimierer einverstanden sind. Verunmöglicht es uns dies, uns ein Bild von den
Implikationen der optimierenden Moral zu verschaffen? Nein, denn in Bezug auf etliche Fälle
besteht eine verbreitete Einigkeit darüber, welche Handlungen besser als andere sind. So ist
beispielsweise bezüglich der fünf folgenden Einschätzungen kaum mit grossem Widerstand
zu rechnen (wobei zuweilen wohl eine Ceteris-paribus-Klausel hinzuzufügen wäre):
(a)
(b)
(c)
(d)
(e)
Ein Mord ist eine moralisch schlechtere Handlung als eine grundlose Sachbeschädigung.
Einer Hilfsorganisation 1000 Franken zu spenden, ist besser, als ihr bloss 100
Franken zukommen zu lassen.
Jemandem einen üblen Streich zu spielen, ist vielleicht moralisch problematisch,
ihn aber zu demütigen oder zu erniedrigen, ist viel schlimmer.
Das Beste, was eine Bäuerin mit einem todkranken und leidenden Tier noch tun
kann, ist, es möglichst schmerzfrei zu töten.
Einem Jugendlichen, der einen Fussball gestohlen hat, eine Ohrfeige zu geben, ist
moralisch schlechter, als ihn dafür zu tadeln.29
Dass es viele solch unstrittige Beurteilungen gibt, kann man sich zu Nutze machen, wenn man
gewisse Aspekte der Höhe der moralischen Forderungen einer optimierenden Moralkonzeption exemplarisch veranschaulichen möchte. Sollten die ethischen Einschätzungen der beiden
gewählten Szenarien aber für manche Optimierer gleichwohl nicht akzeptabel sein, liessen sie
sich problemlos durch analoge Fälle ersetzen.
Das erste Szenario ist ein Bürgerkriegsszenario (1): Stellen wir uns einen waffenlosen
Eremiten vor, der zufälligerweise beobachtet, wie in der Nähe seiner Hütte zwei alte Bekannte von einer Rebellengruppe in einen tödlichen Hinterhalt gelockt werden. In dieser Situation
bedeutet die einzige Möglichkeit, die beiden unschuldigen Personen zu retten, den sicheren
Tod. Sie besteht darin, aus der Hütte zu stürmen, um sich den Angreifern entgegenzustellen
und den ahnungslosen Kameraden die Flucht zu ermöglichen. Ist es dem Einsiedler moralisch
geboten, die Heldentat auszuführen? Weil die heroische Rettung zweifellos die moralisch
beste Handlung ist, welche er in seiner prekären Lage vollführen kann, müssen Anhänger der
29
Siehe auch die zum Teil ähnlichen Beispiele von Lawlor (2009), 3.
13
optimierenden Moral die Frage bejahen. Der Eremit sollte sich in ihren Augen opfern, um
seinen beiden Bekannten das Leben zu retten.
Um aber darüber hinaus zu verdeutlichen, dass die optimierende Moral nicht nur in schwierigen Verhältnissen, sondern auch unter alltäglichen oder sogar idyllischen Umständen hohe
Anforderungen an uns stellt, lohnt es sich, ein zweites Szenario zu betrachten: das utopische
Szenario einer heilen Welt (2).30 Statt an einen Bürgerkrieg zu denken, versetzen wir uns nun
in eine friedliche Zeit, zu der alle Menschen gesund, wohlhabend und glücklich sind. Ist es
uns als moralisch Heilige nun gestattet, zu ruhen und unser Glück zusammen mit den anderen
zu geniessen? Nein, auch in einer heilen Welt ist es keineswegs ein Selbstläufer, stets die moralisch bestmögliche Handlung auszuführen. Vielleicht müssen wir uns nicht für andere aufopfern, aber es gibt genügend Gelegenheiten, um beweisen zu können, dass wir im Unterschied zu unseren Mitbürgern moralisch Heilige sind. So könnten wir beispielsweise unsere
Nachbarn unterstützen, indem wir ihnen den Rasen mähen oder uns anerbieten, ihre Kinder
von der Schule abzuholen. Wir könnten im Bus aufstehen, um unseren Sitzplatz anderen zu
offerieren. Wir könnten niemals ein Versprechen brechen oder jemanden belügen. Wir können anderen bei ihren täglichen Aufgaben helfen, wo wir nur können. Oder wir könnten unser
Vermögen verschenken, um ein schöneres Schulgebäude bauen zu können. Dagegen liesse
sich einwenden, dass wir es sich bei den genannten Beispielen nicht um moralisch gute, sondern um moralisch neutrale Taten handelt. Erstens ist dies meines Erachtens jedoch nicht
plausibel und zweitens gilt es mit Sicherheit nicht für sämtliche Optimierer. Für den utilitaristischen Optimierer beispielsweise ist klar, dass die erwähnten Handlungen in der Regel moralisch gut sind, weil sie zur Vermehrung menschlichen Glücks beitragen.
Welche Rückschlüsse auf die Implikationen einer optimierenden Moralkonzeption erlauben
die beiden Szenarien? Liegen die Optimierer richtig, sind der Moral – wie Szenario (1) zeigt –
keine Grenzen gesetzt. Sie kann alles von uns verlangen. Wenn es die Umstände nicht gut mit
uns meinen, müssen wir alles opfern, was uns lieb und teuer ist, bis hin zu unserem eigenen
Leben. Wer sich die Forderungen des Optimierers zu Herzen nimmt, wird aber – wie Szenario
(2) zeigt – so oder so zu einer Magd oder einem Diener der Moral. Sowohl in unserer realen
Welt als auch in einer utopischen Welt voller Wohlstand müssen sie die Beförderung ihrer
eigenen Interessen zugunsten der moralisch besten Handlung vernachlässigen. Zwar mag es
dennoch Kontexte geben, in denen es auch gemäss einer optimierenden Moral erlaubt ist, zu
tun, was einem beliebt – etwa dann, wenn sämtliche anderen Lebewesen gestorben sind oder
30
Vgl. dazu auch Portmore (2011), 121.
14
wenn alle existierenden Lebewesen in einer Lustmaschine sitzen31 –, aber in jedem realistischen Zustand der Welt verhalten sich die Dinge anders.
Die Frage, ob uns Singers Hilfsprinzip überfordert, fördert aufgrund der extremen Armutszustände grössere Meinungsverschiedenheiten zutage, als man zunächst annehmen könnte,
die Konzeption der optimierenden Moral lässt aber keine Zweifel darüber aufkommen, dass
sie zumindest prima facie zu anspruchsvoll ist. Denn es ist nicht dasselbe, ob man zugunsten
einer hungernden Person auf etwas verzichtet oder ob man es zugunsten einer Person tut, der
es besser geht als einem selbst.
1.2. Skeptische Fragen
Während Peter Singers Hilfsprinzip also zumindest fordernder zu sein scheint als dasjenige,
das Jan Narveson verteidigt, erwecken optimierende Moralkonzeptionen sogar den Eindruck
überfordernd zu sein. A fortiori ist damit auch die intuitive Attraktivität der Thesen (i) und (ii)
deutlich gemacht: Es scheint Moraltheorien zu geben, die anspruchsvoller sind als andere, und
es scheint Moraltheorien zu geben, die zu anspruchsvoll sind. Demgegenüber drängt sich jedoch eine ganze Reihe skeptischer Fragen auf, die sich aus Irritationen speisen, welche entweder der Erläuterungs- oder der Begründungsbedürftigkeit der beiden Behauptungen geschuldet sind.
Dabei lassen sich mindestens vier fundamentale Irritationen unterscheiden, die bei näherer
Betrachtung weitere Probleme nach sich ziehen. Erstens ist nicht klar, wie die schwächere
These (i) zu verstehen ist: Woran könnte es liegen, dass uns manche Forderungen höher und
andere weniger hoch dünken? Was meinen wir damit, wenn wir sagen, dass eine Theorie anspruchsvoller ist als eine andere? Wenn beispielsweise im Zusammenhang mit einer Schadenersatzforderung, bei Lohnverhandlungen oder nachdem eine Staatsanwältin eine 15-jährige
Gefängnisstrafe gefordert hat, von hohen Forderungen die Rede ist, dann ist leicht verständlich, worum es gehen soll. Je höher der verlangte Geldbetrag ist, desto höher sind die finanziellen Forderungen, und je länger die verlangte Gefängnisstrafe dauern soll, desto höher sind
die Forderungen der Staatsanwältin. Die Höhe einer finanziellen Forderung bemisst sich also
an der Höhe der Summe und die Höhe der staatsanwaltschaftlichen Forderung an der Länge
der Strafe. Weniger klar ist indes, wie sich dies bei moralischen Forderungen verhält. Ergibt
es auch innerhalb der vielgestaltigen Sphäre der Moral Sinn, von höheren und weniger hohen
31
Vgl. Nozick (1974) sowie dazu z. B. Wessels (2011), 57: „Lustmaschinen sind, so will es ihr »Erfinder« Robert Nozick, fehler- und wartungsfrei laufende Geräte, die physisch unschädlich sind und uns, würden wir an sie
angeschlossen, für den Rest unseres Lebens nur angenehme Empfindungen gäben – zum Beispiel das Gefühl,
das wir im wirklichen Leben haben, wenn wir ein Vanilleeis essen, eine anstrengende Arbeit erfolgreich abgeschlossen haben oder bei Sonnenschein am Ufer des Bodensees entlang paddeln.“
15
Forderungen zu sprechen? Inwiefern lassen sich so unterschiedliche Pflichten, wie es etwa die
Pflicht zur Vertragstreue, das Lügenverbot oder die Hilfspflicht sind, im Hinblick darauf vergleichen, wie hohe Forderungen mit ihnen einhergehen? Sind positive Pflichten dabei mit
negativen vergleichbar? Können auch Pflichten gegenüber sich selbst mit Pflichten gegenüber
anderen verglichen werden? Ob wir solche Fragen überzeugend beantworten können, hängt
unter anderem davon ab, ob wir uns klar machen können, was bei moralischen Forderungen
das Analogon zur Geldsummenhöhe oder zur Strafenlänge sein könnte, das den Vergleich
ermöglicht, d. h. worauf es bei der Beurteilung der Höhe moralischer Forderungen ankommt.
Zweitens bedürfen auch die stärkere These (ii) und die Idee der moralischen Überforderung
einer Klärung. Die zentralen Fragen lauten dabei: Was kann es heissen, zu behaupten, dass
eine Theorie zu anspruchsvoll ist? Was ist damit gemeint, wenn jemand sagt, dass eine Theorie zu hohe Forderungen stellt? Während es, wie bei der obigen Irritation zu These (i), zweifellos Kontexte gibt, in welchen die Formulierungen „zu anspruchsvoll“ und „zu hohe Forderungen“ problemlos verständlich sind, ist nicht leicht zu sehen, inwiefern sie mit Bezug auf
Moralprinzipien oder -theorien verwendet werden können. Wird etwa eine Rechenaufgabe als
zu anspruchsvoll bezeichnet, dürften normalerweise keine Missverständnisse darüber entstehen, wie die entsprechende Aussage aufzufassen ist. Für gewöhnlich ist damit gemeint, dass
die Aufgabe – gemessen an den ausgebildeten Fähigkeiten einer Schulklasse oder eines Schülers – zu schwierig ist. Weil jedoch unklar ist, ob sich die moraltheoretische These (ii) ähnlich
verstehen lässt wie ein solches Beispiel, ist zum einen zu prüfen, inwieweit die Lösung der
Probleme von (i) hilfreich ist für das Verständnis von (ii), und zum anderen zu untersuchen,
welche zusätzlichen Schwierigkeiten der Übergang von These (i) zu These (ii) mit sich bringt.
Verwirrend ist in diesem Zusammenhang die folgende Auffälligkeit: Ausgehend von unseren vagen vortheoretischen Einschätzungen wurden bislang in ähnlichen Kontexten – etwa
wenn die beiden Thesen (i) und (ii) in Erinnerung gerufen wurden – unterschiedliche Formulierungen verwendet: „zu viel verlangen“, „zu anspruchsvoll“, „überfordern“, „unzumutbar“,
„realitätsfern“, „überzogen“, „exzessiv“, „zu hohe Forderungen stellen“. Irritierend ist dabei,
dass die Ausdrücke zwar gewisse semantische Parallelen aufweisen, aber nicht allesamt als
Synonyme gelten können. Dies trägt zu einer Verschärfung der Explikationsproblematik bei,
insofern keine Klarheit darüber zu bestehen scheint, welche Idee mit dem Überforderungseinwand eigentlich aufgegriffen werden soll. Ziemlich unstrittig ist einzig, dass der Höhe moralischer Forderungen eine tragende Rolle zukommen muss, wie aber die angeführten Ausdrücke genau damit zusammenhängen und auf welche davon man sich konzentrieren sollte,
wenn man den Überforderungseinwand prüfen möchte, liegt nicht auf der Hand. Um unsere
16
vortheoretischen Vermutungen darüber zu erfassen, was mit anspruchsvollen moraltheoretischen Vorschlägen nicht stimmen könnte, ist es sinnvoll, sich nicht von Beginn weg auf einen
einzigen Ausdruck festzulegen, soll der Einwand jedoch vertieft betrachtet werden, ist es unumgänglich, deutlich zu machen, worum es geht.
Drittens stellt sich die Frage, wie die Thesen (i) und vor allem (ii) begründet werden können: Was spricht dafür, dass gewisse Moraltheorien mehr von uns verlangen als andere und
manche sogar zu anspruchsvoll sind? Warum sollte es gegen Prinzipien oder Theorien sprechen, wenn sie mit aussergewöhnlich hohen Forderungen verbunden sind? Schliesslich gibt es
viele Situationen, in denen wir es als einen Fehler oder eine Schwäche derjenigen ansehen,
die hohen Ansprüchen nicht genügen, und nicht als ein Defizit der Ansprüche. So käme es
niemandem in den Sinn, die Anforderungen anzupassen, die an Eltern, Ärzte oder Politiker
gestellt werden, weil es manchen schwer fällt, ihnen gerecht zu werden. Falls viele daran
scheitern, die Herausforderungen zu meistern, die mit den genannten Rollen einhergehen,
mögen Überforderungsphänomene eine Entschuldigung für einzelne Akteure darstellen, die
ihren Aufgaben nicht gewachsen sind, nach unten korrigiert aber werden die Anforderungen
vermutlich nicht. Die Ansprüche sind mit gutem Grund hoch und ihre Höhe allein spricht
nicht dagegen, sie weiterhin an Eltern, Ärzte oder Politiker zu stellen.
Zuletzt gibt viertens das Verhältnis zwischen den beiden Thesen und dem Überforderungseinwand Rätsel auf. Insbesondere fragt sich nämlich, wie (ii) mit dem Überforderungseinwand zusammenhängt. Besteht der Einwand in einer Anwendung der These (ii)? Ist (ii) bloss
eine Prämisse des Arguments? Oder handelt es sich dabei um die Konklusion? Wer gewillt
ist, den Überforderungseinwand zu vertreten, sollte sich darüber im Klaren sein, wie diese
Fragen zu beantworten sind.
17
2. Die Höhe moralischer Forderungen und die Idee der Überforderung
Mit der Entfaltung des Kontrasts zwischen der intuitiven Attraktivität der Thesen (i) und (ii)
und den skeptischen Fragen, die ihrem Reiz entgegenstehen, ist das weitere Vorgehen ein
Stück weit vorgezeichnet. Im zweiten Abschnitt soll nämlich untersucht werden, zu welcher
Explikation des Überforderungseinwands man bestenfalls gelangt, wenn man sich eingehend
mit den Fragen aus 1.2. auseinandersetzt. Dazu ist in einem ersten Schritt zu überlegen, wie
das Verständnis der ersten These (i) mit dem Verständnis der zweiten These (ii) in Verbindung gebracht werden könnte (2.1.). Daraufhin ist ein naheliegender Explikationsansatz zurückzuweisen, der den Überforderungseinwand in die Nähe der „Sollen impliziert Können“Regel rückt (2.2.), bevor schliesslich eine vertiefte Auseinandersetzung mit den philosophischen Fallgruben erfolgen kann, die (i) betreffen (2.3.) und (ii) umgeben (2.4.). So wird klar,
welche Klippen zu umschiffen sind, wenn das Ziel einer vielversprechenden Explikation des
Überforderungseinwands nicht verfehlt werden soll.
2.1. Unterschiedliche Interpretationen
Gemäss der ersten skeptischen Frage können diejenigen, die von höheren und tieferen moralischen Forderungen sprechen, uns nicht einmal verständlich machen, was damit genau gemeint
sein soll. Unter Zuhilfenahme der paradigmatischen Beispiele aus 1.1. sind daher in 2.1. mehrere Interpretationsvorschläge zur Diskussion zu stellen, die in Reaktion auf den unterstellten
Missstand aufzeigen, wie die Thesen (i) und (ii) verstanden werden könnten.
Welche Eigenschaften von Moralprinzipien oder -theorien sollen also ausschlaggebend dafür sein, wie anspruchsvoll diese sind? Es gibt unterschiedliche Faktoren, die bei der Beantwortung dieser Frage in Erwägung zu ziehen sind. Ein erster naheliegender Vorschlag besagt,
dass die Kosten, die eine Person dadurch trägt, dass sie eine moralische Regel befolgt, massgebend dafür sind, wie anspruchsvoll die Regel ist:
(α)
Je höher die Kosten – zum Beispiel verstanden als Preisgabe des persönlichen
Wohls oder als Opferung eigener Interessen – ausfallen, desto mehr wird Handelnden abverlangt.32
So muss, wer sich nach Singers Hilfsprinzip richtet, bestimmt grössere Opfer bringen als jemand, der sich mit Narvesons Prinzip begnügt. Während eine wohlhabende Schweizerin etwa,
wie in Unterabschnitt 1.1. deutlich wurde, verschiedenen Leidenschaften frönen darf, wenn
Narveson recht behält, muss sie die eigenen Interessen Singer zufolge stiefmütterlich behandeln und sich beinahe den ganzen Tag über für Hilfsprojekte einsetzen. Da uns letzteres ver-
32
Siehe dazu Kagan (1989), 231f.; Scheffler (1992), 98.; Murphy (2000), 16f.
18
mutlich schwerer fällt als ersteres ist zweitens zu bedenken, ob der Schwierigkeitsgrad einer
moralischen Aufgabe von Belang sein könnte:
(β)
Je schwieriger es ist, ein Prinzip zu befolgen, desto anspruchsvoller ist es.
Schliesslich ist unübersehbar, dass die Wahlfreiheit, die uns Narvesons Prinzip zugesteht,
grösser ist als diejenige, die uns Singers Prinzip gewährt. Eine Fülle von Optionen steht einer
spärlichen Auswahl erlaubter Vorgehensweisen gegenüber. Deshalb könnte drittens die Einschränkung des Handlungsspielraums entscheidend sein, so dass die Höhe moralischer Forderungen wie folgt zu bestimmen wäre:
(γ)
Je stärker ein Prinzip die Anzahl zulässiger Handlungsalternativen reduziert, desto
mehr wird dem Handelnden zugemutet.33
Orientiert man sich also am paradigmatischen Fall der zwei ungleich anspruchsvollen Hilfsprinzipien aus 1.1., lassen die Vorschläge (α), (β) und (γ) allesamt nachvollziehbare Interpretationen zu These (i) erkennen, wonach manche Prinzipien mehr von uns fordern als andere.
Darüber hinaus können die drei Vorschläge aber auch zum Verständnis dessen beitragen,
was jene im Blick haben, welche die Idee der moralischen Überforderung bemühen, indem sie
die These (ii) vertreten. Sobald wir nämlich begreifen, wie eine Aussage der Form „T1 ist
anspruchsvoller als T2“ mit Bezug auf zwei Moraltheorien T1 und T2 zu deuten ist, gewinnen
wir auch eine gewisse Vorstellung davon, wie Aussagen von der Art „T1 ist zu anspruchsvoll“
zu verstehen sind. Falls ausschliesslich (α) korrekt ist, scheint eine Theorie gemäss dem
Überforderungseinwand genau dann überfordernd zu sein, wenn ihre Forderungen für Handelnde zu kostspielig sind (α*). Unter der Voraussetzung, dass bloss (β) zutrifft, könnte eine
Theorie genau dann als zu anspruchsvoll bezeichnet werden, wenn ihre Befolgung zu schwierig ist (β*). Und ist nur (γ) richtig, überfordert uns eine Theorie genau dann, wenn sie unseren
Handlungsspielraum zu stark einschränkt (γ*). Lässt sich also entscheiden, wie die drei Interpretationsvorschläge (α), (β) und (γ) zu beurteilen sind, stellt sich auch heraus, was jemand,
der ein Prinzip oder eine Theorie mithilfe des Überforderungseinwands kritisiert, als einen
normativ relevanten Faktor erachtet.
Doch wie ist mit den Interpretationsvorschlägen umzugehen? Es ist interessant, zu sehen,
dass den Verfechtern des Überforderungseinwands im Prinzip mehrere Möglichkeiten offenstehen. Sie können sich erstens für einen der drei Vorschläge entscheiden und die anderen
beiden für inadäquat erklären. Sie können zweitens sämtliche Vorschläge gelten lassen und
drei unterschiedliche Überforderungseinwände formulieren. Oder sie können die Kosten, den
Schwierigkeitsgrad und die Einschränkung des Handlungsspielraums drittens als verschiedene
33
Vgl. dazu Scheffler (1992), 98.
19
Faktoren akzeptieren, die eine Theorie mehr oder weniger anspruchsvoll machen, und trotzdem bloss mit einem einzigen Überforderungseinwand verknüpfen. Gleichgültig, für welche
der drei theoretischen Alternativen sie sich entscheiden möchten, gilt jedoch Folgendes: Um
sich einem spezifischen Einwand gegen exzessive Forderungen anzunähern, sind sie lediglich
darauf angewiesen, dass mindestens eine der vorgeschlagenen Interpretationen überzeugt.
Aufgrund dessen sollen (α), (β) und (γ) beziehungsweise (α*), (β*) und (γ*) nachfolgend
nicht je für sich und in allen Einzelheiten geprüft werden,34 sondern primär ein begriffliches
Raster bilden, anhand dessen sich mögliche Stossrichtungen des Überforderungseinwands und
ihre allgemeinen Probleme erörtern lassen. Ob es sich bei den drei Vorschlägen allerdings um
unbefriedigende ad hoc-Antworten auf die skeptischen Fragen aus 1.2. handelt, ist dabei dennoch im Auge zu behalten.
2.2. Etwas nicht tun können
Setzt man mit dem Explikationsvorhaben bei der alltagssprachlichen Verwendung des Ausdrucks „Überforderung“ an, um unsere vorreflexive Idee von einer moralischen Überforderung einzufangen, ist es naheliegend, zunächst an Situationen zu denken, in denen jemand
nicht dazu in der Lage ist, einer Forderung nachzukommen. Wenn eine Person beispielsweise
unter der Last eines schweren Pakets zusammenbricht, das sie transportieren sollte, dann war
sie, wie wir sagen, überfordert. In Analogie zu solchen Fällen könnte man geneigt sein, auch
von einer moralischen Überforderung nur dann zu sprechen, wenn eine Moraltheorie etwas
von einem Akteur verlangt, was er nicht tun kann. Diese Auffassung soll in 2.2. zu den Vorschlägen (α*), (β*) und (γ*) in Beziehung gesetzt, mit einem Argument von James Griffin
kombiniert und zuletzt kritisiert werden.
Die Überzeugung, dass menschliches Unvermögen eine notwendige Bedingung für das
Vorliegen einer moralische Überforderung darstellt, ist ausschliesslich mit dem Vorschlag
(β*) vereinbar, wonach die Forderungen einer Moraltheorie genau dann zu hoch sind, wenn
ihre Befolgung für uns zu schwierig ist. Denn ob die Kosten einer Theorie höher oder tiefer
sind und ob sie unseren Handlungsspielraum mehr oder weniger stark beschränkt, hat unter
dieser Voraussetzung nichts mit der Überforderung von Handelnden zu tun. Zwischen dem
Schwierigkeitsgrad einer moralischen Aufgabe und der „können“-„nicht können“-Differenz
hingegen besteht ein Zusammenhang. Moralische Aufgaben können so schwierig sein, dass es
34
Vgl. zur Kritik an (γ) etwa Murphy (2000), 26f. Die dringlichste Frage ist dabei meines Erachtens, ob sich (β)
und (γ) auf (α) reduzieren lassen. Denn warum, so kann man einwenden, sollten der Schwierigkeitsgrad einer
moralischen Aufgabe und die Einschränkung des Handlungsspielraums unabhängig davon, dass sie unser Wohlergehen tangieren, relevant sein für die Bestimmung der Höhe moralischer Forderungen? Um (β) und (γ) als
eigenständige Kriterien zu verteidigen, muss man darauf eine überzeugende Antwort geben können.
20
uns nicht möglich ist, sie zu erledigen. So sind wir Menschen etwa normalerweise nicht in der
Lage, schreckliche Erdbeben zu verhindern, obwohl es moralisch gut wäre, wenn dies jemand
– zum Beispiel ein allmächtiger Gott – täte. Ist man entsprechend der Ansicht, dass uns Moraltheorien nur überfordern, wenn sie für uns unerfüllbare Forderungen enthalten, bietet es
sich an, den Vorschlag (β*) folgendermassen zu komplettieren. Auf die bislang offene Frage,
wann denn die Befolgung einer Theorie zu schwierig ist, lässt sich vor dem Hintergrund der
obigen Überlegungen eine präzise Antwort geben: Eine moralische Aufgabe ist genau dann zu
schwierig, wenn ein Akteur sie nicht ausführen kann.
Damit rückt der Überforderungseinwand in die Nähe der „Sollen impliziert Können“Regel, derzufolge jemand etwas auch tun kann, wenn er es tun soll. Einer Theorie vorzuhalten, sie sei zu anspruchsvoll, liefe dann auf dasselbe hinaus wie der Einwand, sie respektiere
nicht, dass jedes Sollen ein Können voraussetzt. Deshalb lohnt es sich, ein Argument in die
Untersuchung einzubeziehen, das James Griffin unter der Überschrift „The limits of the will“
verhandelt.35 Weil uns nicht nur physische, sondern auch psychische Grenzen gesetzt sind,
muss die Moral, wie Griffin meint, den seelischen Realitäten genauso Rechnung tragen wie
den körperlichen:
Any morality must meet what might be called the requirement of psychological realism.
Moral rules must mesh with natural human motivation. One cannot ask for what the human frame cannot deliver. One certainly may ask someone to get his trousers wet in order
to save a drowning child, but not to sacrifice his life to do it.36
Wenn man von Menschen nicht fordern kann, was ihre Fähigkeiten übersteigt, dann kann man
von ihnen auch nicht verlangen, wozu sie unmöglich motiviert sein können. Nebst dem, was
man „physische Überforderung“ nennen könnte, ist daher auch auf das zu achten, was man als
„psychische Überforderung“ bezeichnen könnte.37 Doch wo liegen die Grenzen der menschlichen Motivation? Das ist für Griffin eine komplexe empirische Frage, deren Antwort wir
letztlich nicht kennen.38 Uns bleibt nichts anderes übrig, als Mutmassungen darüber anzustellen, um ein Bild dessen zu entwerfen, wozu ein normaler menschlicher Akteur in der Lage ist.
Als Anhaltspunkt kann uns dabei dienen, dass wir um unseren evolutionär verwurzelten Egoismus wissen, der an ein begrenztes Mass an Altruismus gekoppelt ist:
35
Siehe Griffin (1992), 127f. und Griffin (1993), 162f.
Griffin (1993), 162.
37
Zusätzlich mag es hilfreich sein, den Terminus „kognitive Überforderung“ einzuführen, um Fälle zu beschreiben, in welchen wir etwas wissen müssten, was wir nicht wissen oder nicht wissen können, damit wir in der
Lage wären, etwas Gefordertes zu tun. Griffin behandelt ähnliche Probleme in den Unterabschnitten „The personal circumstances of decision” und „The limits of knowledge” (vgl. Griffin (1993), 161f. und 168f.; Griffin
(1992), 128f.). Für die vorliegende Arbeit ergeben sich daraus aber keine weiteren Schwierigkeiten, weshalb es
ausreichend ist, von der physischen und der psychischen Überforderung zu sprechen.
38
Vgl. Griffin (1993), 162f. und 168f.
36
21
We, like other species, defend ourselves with a tenacity that we do not display over many
others. Our form of consciousness itself reflects the primacy of self-interest: Our perceptions of our own pleasure and pain have a unique vividness to our minds and a privileged
link to our motivation; our own everyday concerns fill our field of attention, the concerns
of others appearing faintly at the periphery.39
Bis zu einem gewissen Grad ist es uns zwar möglich, die Fokussierung auf das eigene Wohl
zu überwinden, vollständig aber kann dies einem normalen menschlichen Akteur nach Griffin
nicht gelingen. Wir können uns selbst sowie unsere Familie nicht gut genug ignorieren und
moralische Normen müssen diese Grenzen unseres Willens – wo immer sie auch genau liegen
mögen – respektieren.
Was ist von Griffins Ansatz zu halten? Zunächst ist anzumerken, dass sein Argument nicht
mit einem zweiten zu verwechseln ist, das sich ebenfalls auf Beobachtungen zur motivationalen Ausstattung von uns Menschen stützt. Anders als Griffin könnte man auch dafür eintreten,
dass es kontraproduktiv sei, Handelnde mit exzessiven Forderungen zu konfrontieren, weil es
sie demotiviert und sie infolgedessen weniger Gutes tun als angesichts niedrigerer Forderungen. Im Unterschied zu diesem Argument, welches nur die öffentliche Verteidigung moralischer Pflichten und nicht das, was wir tatsächlich tun müssen, betrifft,40 greift Griffins Ansatz
nämlich tiefer. Wenn man etwas nicht tun kann, dann soll man es gemäss der „Sollen impliziert Können“-Regel effektiv auch nicht tun. Aber ist es uns wirklich nicht möglich, den Willen aufzubringen, uns etwa für ein ertrinkendes Kind zu opfern? Es gibt, wie ich denke, in der
Tat Situationen, in denen Menschen psychisch überfordert sind. Ein Vater, der aufgefordert
wird, sein eigenes Kind zu töten, bringt dies vielleicht nicht übers Herz, eine Künstlerin, die
angehalten wird, ihr Lebenswerk zu zerstören, kann sich vielleicht nicht dazu durchringen und
jemand, der sich selbst erschiessen soll – man denke an die berühmte Russisch-RouletteSzene aus dem Film The Deer Hunter –, kann sich vielleicht nicht überwinden. Deswegen irrt
sich Peter Singer, wenn er behauptet, dass es für unsere Annäherung an unparteiliche Massstäbe keine psychische Grenze gebe, die wir nicht überschreiten könnten.41
Gleichwohl bleibt es indes aus mehreren Gründen fraglich, ob damit eine gelungene Explikation des Überforderungseinwands vorliegt. Zwar hätte es, wie zunächst darzulegen ist, auch
einige Vorteile, den Einwand so zu fassen, die Nachteile überwiegen jedoch zweifellos. Wenn
die einleuchtende „Sollen impliziert Können“-Regel Geltung hat und es eine notwendige Bedingung für das Bestehen einer moralischen Pflicht ist, dass wir dazu imstande sind, das zu
tun, wozu wir verpflichtet sein sollen, lassen sich klarerweise gewisse Moralvorstellungen als
39
Griffin (1993), 162; vgl. Mackie (1977), 132: „But why, it may be asked, are such moralities of universal
concern impracticable? Primarily because a large element of selfishness – or, in older terminology, self-love – is
a quite ineradicable part of human nature.”
40
Vgl. auch Singer (2011), 213f.
41
Vgl. Singer (2011), 211.
22
überfordernd zurückweisen. So ist es, wie man dann sagen kann, beispielsweise sinnlos, von
einem Nichtschwimmer zu verlangen, eine Ertrinkende zu retten. Da es für den Nichtschwimmer unmöglich ist, das drohende Unheil abzuwenden, kann ihm die Rettung auch
nicht moralisch geboten sein. In einem solchen Fall von einer moralischen Überforderung zu
sprechen, stimmt mit unserem alltäglichen Gebrauch des Ausdrucks „Überforderung“ überein. Der Nichtschwimmer ist mit der moralischen Aufforderung „Rette die Ertrinkende!“ in
einem ähnlichen Sinn überfordert, wie eine Schülerin mit einer Rechenaufgabe überfordert
ist, die für eine höhere Klassenstufe konzipiert wurde. Beide scheitern an der Herausforderung, falls sie einen Versuch wagen. Versteht man den Vorschlag (β*) also im Einklang mit
Griffins Ansatz, zieht er keine unbefriedigenden ad hoc-Antworten auf die skeptischen Fragen aus 1.2. nach sich. Ausserdem scheint der Überforderungseinwand infolge der vorgeschlagenen Explikation gleich plausibel zu sein wie die „Sollen impliziert Können“-Regel
und dürfte deshalb auf eine hohe Akzeptanz stossen.
Aus welchen Gründen sollte man sich trotzdem nicht damit zufriedengeben? Erstens werden die interessanten Fälle von sehr anspruchsvollen Moraltheorien oder -prinzipien allein
unter Zuhilfenahme der „können“-„nicht können“-Differenz nicht vom Überforderungseinwand erfasst. Selbst die Kombination von physischer und psychischer Überforderung sorgt
keinesfalls dafür, dass etwa die paradigmatischen Beispiele, die in 1.1. vorgestellt wurden,
Gefahr laufen dem Einwand zum Opfer zu fallen. Einerseits sind wir dazu in der Lage, deutlich höhere psychische Hürden zu überwinden, als es Griffin suggeriert. So berichtet Singer
etwa von Menschen, die beinahe ihren gesamten Besitz zugunsten anderer verkauften oder
einer fremden Person eine Niere spendeten.42 Und nimmt man überdies an, dass wir nicht wissen, wie die Grenze zwischen der psychischen Belastung und der psychischen Überforderung,
zwischen unserer Unlust und unserem Unvermögen in concreto verläuft,43 dann sollten wir –
wie gegen Griffins Haltung einzuwenden ist44 – im Zweifelsfall immerhin versuchen, uns zu
einem unerträglichen Entschluss durchzuringen, indem wir uns die relevanten Handlungsgründe vor Augen führen, oder auf lange Sicht unsere Willenskonstitution zu verändern, indem wir andere Menschen werden. Andererseits gibt es zwar Moralkonzeptionen, welche die
„Sollen impliziert Können“-Regel nicht durchweg respektieren,45 aber es handelt sich dabei
nicht um die aussergewöhnlich fordernden Konzeptionen, von denen bislang die Rede war.
42
Siehe Singer (2011), 211f.
Vgl. Singer (2011), 2012 und auch Griffin (1992), 129 sowie Griffin (1993), 168.
44
Siehe Griffin (1992), 129 und Griffin (1993), 169: „To what extent can I deny myself and my family in order
to help the world’s starving? Our large measure of ignorance about that, along with our ignorance about the
value of various institutions and practices, will mean that we have simply to choose a policy for ourselves (say,
to contribute 2 percent of gross income to famine relief) and then stick to it.”
45
Vgl. z. B. Sellmaier (2008), 58f.
43
23
Die Anhänger einer optimierenden Moral sind, um ein treffliches Beispiel zu nennen, nur der
Meinung, dass wir stets die moralisch bestmögliche Handlung ausführen sollten, die beste
Handlung also, die wir ausführen können. Irren sie sich nicht, müssen wir bloss moralisch
Heilige werden, keine Superhelden. Ähnliches gilt auch für das anspruchsvollere der beiden
Hilfsprinzipien aus 1.1. Es beinhaltet eine Klausel, welche die artikulierte Hilfspflicht auf
Handlungen beschränkt, die uns möglich sind: „if it is in our power to prevent something bad
from happening [...].”46 Wir müssen Schlechtes Singer zufolge verhindern, wenn es in unserer
Macht liegt. Er fordert nichts von uns, was wir nicht tun können.
Zweitens ist unklar, ob der Explikationsvorschlag der etablierten Stossrichtung des Überforderungseinwands gerecht wird. Weil es, wie eben angedeutet, ein schwieriges Unterfangen
ist, Ethikerinnen und Ethiker zu finden, die selbst vor Nichtschwimmern nicht haltmachen
und sie für eine hoffnungslose Rettungsaktion in die Fluten schicken, wird der Einwand, der
im Englischen als „Demandingness Objection“ oder als „Over-Demandingness Objection”
bekannt ist,47 häufig nicht so verstanden, dass er auf die „Sollen impliziert Können“-Regel
zurückgeführt werden könnte. Stattdessen ist es zu Recht üblich, diese beiden Themen voneinander getrennt zu diskutieren. Denn soll der Überforderungseinwand in der philosophischen
Debatte darüber, welche Moraltheorie die richtige ist, eine tragende Rolle spielen, empfiehlt
es sich, bei seiner Interpretation nicht bloss auf die Differenz zwischen dem zu achten, was
wir tun können, und dem, was wir nicht tun können, sondern auch weitere Hinsichten im Auge zu behalten, in denen sich erhobene Forderungen unterscheiden.
Um einen interessanten Einwand prüfen zu können, ist der Begriff der Überforderung folglich weiter zu fassen. Damit eine Moraltheorie den Verfechtern des Überforderungseinwands
zufolge als überfordernd gelten kann, muss es keine Akteure geben, die nicht dazu imstande
sind, ihren Forderungen nachzukommen. Es ist ausreichend, wenn die postulierten Forderungen zu hoch sind und die zugehörige Theorie entsprechend – wie es mit der These (ii) ausgedrückt wird – zu viel von uns verlangt. Für alternative Formulierungen wie „T ist zu anspruchsvoll“ oder „T stellt überzogene Forderungen“ (wobei „T“ für eine beliebige Moraltheorie steht) soll in der Folge dieselbe Lesart massgebend sein. Die verwirrende Feststellung
bezüglich der Verwendung nicht-synonymer Ausdrücke bei der Darstellung unserer vortheoretischen Überforderungsintuitionen, die in 1.2. getroffen wurde, ist damit entschärft. Im Fokus der Untersuchung steht – nach der erfolgreichen Disambiguierung des Ausdrucks „Überforderung“ – einzig die Frage, wie es zu verstehen sein könnte, wenn behauptet wird, dass
46
47
Singer (1972), 231.
Vgl. z. B. Murphy (2000); Sobel (2007); Hooker (2009).
24
gewisse moralische Forderungen zu hoch sind, nicht aber die speziellere Frage, inwiefern
Moraltheorien jemanden überfordern, indem sie mehr von ihm verlangen, als er leisten kann.
Zu unserer intuitiven Idee von einer moralischen Überforderung passt diese Ausrichtung
des Explikationsvorhabens gleichwohl hinlänglich gut. Denn falls mit der optimierenden Moralkonzeption in 1.1. tatsächlich das Musterbeispiel für eine Auffassung vorliegt, die uns zu
anspruchsvoll erscheint, dann ist – wie soeben gezeigt wurde – gerade ein Überforderungseinwand, der sich ausschliesslich auf unser Unvermögen beruft, kein geeignetes Gegenmittel,
während einer, der die Höhe moralischer Forderungen per se zum Problem erhebt, eine vielversprechende Waffe darstellt. Die erörterte Vervollständigung des Vorschlags (β*) führt
daher auf Abwege, eröffnet uns aber zugleich wichtige Einsichten in die Struktur von (α*),
(β*) und (γ*). Unterbreitet jemand einen der drei Vorschläge, kann man ihn noch immer fragen, wann denn die Forderungen einer Theorie seiner Ansicht nach zu kostspielig sind, wann
ihre Befolgung zu schwierig ist oder wann sie unseren Handlungsspielraum zu stark einschränkt. Es ist, so lässt sich argumentieren, eine strukturelle Lücke von (α*), (β*) und (γ*),
dass sie keine Antwort darauf enthalten.
Doch an welche Arten von Antworten ist dabei überhaupt zu denken? Das soll abschliessend geklärt werden. Zum einen lassen sich die drei Vorschläge ergänzen, indem man ein bestimmtes Kostenniveau angibt, einen kritischen Schwierigkeitsgrad benennt oder eine Mindestanzahl zulässiger Handlungsalternativen vorgibt. Verfährt man auf diese Weise, gibt man
einen Grenzwert an, der fordernde Moraltheorien oder -prinzipien von überfordernden trennt.
Demgegenüber ist festzuhalten, dass es nicht erforderlich ist, eine exakte Trennlinie zwischen
Theorien zu finden, die vom Überforderungseinwand betroffen sind, und Theorien, die nicht
davon betroffen sind. Solange die Anhänger des Einwands auf klare Fälle beidseits einer unscharfen Grenze verweisen können, ist es um ihr Argument nicht schlechter bestellt als um
viele andere philosophische Argumente, die vage Prämissen enthalten. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist allerdings – die Ausführungen zur ersten skeptischen Frage aus 1.2. nehmen
es vorweg –, dass sich unterschiedliche Moralprinzipien ähnlich gut im Hinblick auf ihre Kosten (α), ihren Schwierigkeitsgrad (β) oder ihre Beschränkung unseres Handlungsspielraums
(γ) miteinander vergleichen lassen, wie sie sich anhand der „können“-„nicht können“Differenz einem Vergleich unterziehen lassen. Darauf soll im nächsten Unterabschnitt ausführlich eingegangen werden.
Zum anderen kann die obige Frage danach, wann eine Theorie zu kostspielig, zu schwierig
oder zu einengend ist, jedoch auch als eine Frage nach dem Massstab aufgefasst werden, mithilfe dessen wir beurteilen können, ob eine anspruchsvolle Theorie zu anspruchsvoll, d. h.
25
eine kostspielige Theorie zu kostspielig, eine schwierige Theorie zu schwierig, eine einengende Theorie zu einengend, ist. Zur Veranschaulichung dieses Unterschieds mag die folgende Analogie dienen. Wird eine Architektin während der Planungsphase von einem Mitarbeiter
gefragt, wann ein Turm zu hoch sei, könnte sie ebenfalls Unterschiedliches zur Antwort geben. Entweder sie sagt – dem ersten Frageverständnis gemäss – „Der Turm ist zu hoch, wenn
er höher als 150 Meter ist“ und nennt einen Grenzwert oder sie sagt – dem zweiten Frageverständnis gemäss – „Der Turm ist zu hoch, wenn er die umstehenden Häuser für unser Empfinden zu weit überragt“ und nennt einen Bewertungsmassstab. Auf die Schwierigkeiten, welche mit dem zweitgenannten Verständnis der Frage einhergehen, komme ich im übernächsten
Unterabschnitt sowie im zweiten Teil der Arbeit zu sprechen.
2.3. Murphys Herausforderung
Nicht erst mit der Verteidigung der Vorschläge (α*), (β*) oder (γ*), sondern bereits mit der
Verteidigung von (α), (β) oder (γ) sind aber ernst zu nehmende Fragen verbunden. So ist bei
näherem Hinsehen insbesondere weniger klar, als man zunächst meinen könnte, wie sich die
Höhe der moralischen Forderungen einer Theorie überhaupt ermitteln lässt. Wesentlich dazu
beigetragen, dass dieses Problem zur Kenntnis genommen werden muss, hat Liam B. Murphy.
In seiner Monografie Moral Demands in Nonideal Theory entwickelt er ein kompliziertes
Argument, das den Überforderungseinwand ausgehend von Überlegungen zur Kostenberechnung (α) unterminieren soll. Nachdem einige erste Unklarheiten beseitigt sind, ist der Unterabschnitt 2.3. deshalb vor allem der Herausforderung zu widmen, die den Anhängern des
Überforderungseinwands aus Murphys Argumentation erwächst, um schliesslich einen interessanten Gedanken aufzugreifen, welcher der Plausibilität des Einwands zuträglich ist: den
Gedanken, dass gewisse Moraltheorien auch unter besten Bedingungen extrem anspruchsvoll
sind.
Auf den ersten Blick täuschen die einfachen Vorschläge (α), (β) oder (γ) darüber hinweg,
dass dieselbe Moraltheorie zu verschiedenen Zeiten und für verschiedene Menschen unterschiedlich anspruchsvoll sein kann.48 Wie hoch, um mich an (α) zu orientieren, die Kosten
einer Theorie für ein bestimmtes Individuum zu einem bestimmten Zeitpunkt sind, hängt –
zumindest bei aussichtsreichen Theorievorschlägen – von einer Reihe veränderlicher Faktoren
ab und ist infolgedessen kontextrelativ. Was mir von einer Theorie heute geboten ist, muss
mir morgen aufgrund veränderter Umstände nicht mehr geboten sein. Hilfsgüter sind beispielsweise – gemäss allen plausiblen Hilfsprinzipien – nur dann zu versenden, wenn sie auch
48
Siehe dazu Scheffler (1992), 98f.
26
von jemandem gebraucht werden. Wäre dies im Leben des wohlhabenden Moritz nie der Fall,
während es im Leben des wohlhabenden Max täglich geschieht, hätte dasselbe Prinzip für
zwei Menschen sehr unterschiedlich hohe Kosten. Weiter kann die Höhe moralischer Forderungen auch davon beeinflusst werden, was die Handelnden selbst können und wollen. Was
mir heute schwer fällt, kann mir morgen leicht fallen, weil ich in der Zwischenzeit neue Fähigkeiten erworben oder andere Wünsche ausgebildet habe. Verlangt eine Theorie etwa, dass
wir darauf verzichten, tierische Produkte zu konsumieren, sind ihre Kosten für einen
Fleischliebhaber viel höher als für jemanden, dem Fleisch nicht schmeckt.
Deswegen fragt es sich, ob man die Rede von der Höhe der moralischen Forderungen einer
Theorie nicht aufgeben sollte, um stattdessen einzig Aussagen darüber zu tätigen, wie anspruchsvoll eine Theorie für bestimmte Menschen zu bestimmten Zeiten ist.49 Vergleiche zwischen der Höhe der Forderungen zweier Moraltheorien, wie sie die These (i) voraussetzt,
könnten dann nicht gezogen werden und dem Überforderungseinwand fehlte es an einer entscheidenden Grundlage für seine Explikation. Auf dieses Gegenargument reagiert Samuel
Scheffler, indem er daran festhält, dass manche Theorien im Laufe eines Lebens höhere Forderungen an typische Akteure stellen als andere: „Certain theories will on balance make
greater demands of typical agents over the course of a lifetime than will others, and we may
express this truth by saying that some theories are more demanding than others.”50 Als Erwiderung auf das vorgestellte Problem der Kontextrelativität ist diese Einschätzung überzeugend, weil sie sich folgendermassen begründen lässt. Es gibt, so kann man diagnostizieren,
Bedürfnisse, Interessen und Fähigkeiten, die wir als menschliche Wesen für gewöhnlich in
ähnlichem Ausmass haben. Relativ zu diesem mehr oder weniger stabilen Bezugspunkt ist
Singers Hilfsprinzip, um auf das Beispiel aus 1.1. zurückzukommen, anspruchsvoller, als es
Narvesons Prinzip ist. Niemand arbeitet gerne nahezu vierundzwanzig Stunden pro Tag, niemand verzichtet gerne auf Freundschaften oder Liebesbeziehungen und niemand verliert gerne den Raum für persönliche Leidenschaften und Projekte. Darüber hinaus scheint es auch
eine gewisse Konstanz menschlicher Lebensumstände zu geben. Obwohl sich vieles verändert
und wir keineswegs alle von Krisenzeiten, Unrechtsregimen oder Naturkatastrophen betroffen
sind, bleiben wesentliche Parameter unserer Leben konstant. Wir wachsen alle als Teil einer
Gesellschaft auf, wodurch wir in Kooperationsprozesse eingebunden werden, jederzeit andere
Menschen unterstützen können und um gegenseitige Freiheiten ringen müssen.
Doch hängen die Erfolgsaussichten des Überforderungseinwands zwangsläufig von der
Wahrheit solcher Aussagen ab? Nein, denn nimmt man die „nicht können“-Version des Ein49
50
Vgl. auch Scheffler (1992), 99.
Scheffler (1992), 99.
27
wands zum Vorbild, die im vorangegangenen Unterabschnitt abgehandelt wurde, wird deutlich, wie eine Explikation des Überforderungseinwands aussehen könnte, die ihn aus der Geiselhaft empirischer Behauptungen befreite. Auch für unlösbare moralische Aufgaben gilt
womöglich zweierlei: Nicht alle Menschen werden in ihrem Leben mit derselben Anzahl davon konfrontiert und was für den einen unlösbar ist, ist für die andere vielleicht lösbar. Trotzdem droht dem Argument aus 2.2. kein Ungemach. Sobald sich aus einer Moraltheorie eine
Forderung ergibt, die ein beliebiger Akteur, der sie erfüllen soll, nicht erfüllen kann, muss die
Theorie gemäss der „Sollen impliziert Können“-Regel revidiert werden. Es ist also einzig
darauf zu achten, ob die Forderungen einer Theorie gegenüber einzelnen Handelnden einen
kritischen Schwierigkeitsgrad erreichen. Ob die Forderungen auch an andere Akteure gerichtet sind und ob diese ebenfalls unfähig wären, ihnen nachzukommen, ist für die Kritik daran
unerheblich. Von denen, die ϕ-en können, darf man es verlangen, von denen, die nicht ϕ-en
können, darf man es nicht verlangen. Wenn sich dieses Modell auf den Überforderungseinwand übertragen lässt, dann sind die empirischen Hypothesen des voranstehenden Absatzes
überflüssig.
Das ändert indes nichts daran, dass die Anhänger des Überforderungseinwands dazu in der
Lage sein müssen, die Höhe der moralischen Forderungen einer Theorie gegenüber einzelnen
Akteuren zu bestimmen. Ist ihnen dies möglich? Murphy bezweifelt aufgrund ausgefeilter
Überlegungen zur Bemessung der Kosten von Moraltheorien (α), dass wir überhaupt beurteilen können, wie hoch die Forderungen einer Theorie für ein Individuum sind. Deshalb soll
seine Argumentation in der Folge zuerst dargestellt und anschliessend geprüft werden.
Um die Kosten eines Moralprinzips abschätzen zu können, müssen wir nach Murphy wissen, wie gut es einem Akteur geht und wie gut es ihm ginge, wenn er das Prinzip nicht beachtete, d. h. wir benötigen eine Basis („baseline”), vor deren Hintergrund wir die Kosten eines
Prinzips messen können.51 Im Unterschied zu Brad Hooker, der eine normativ eingefärbte
Basis vorzieht, schlägt Murphy die Basis des faktischen Status quo vor: „how things are now
and can be expected to be in the future.”52 Entsprechend zählt für ihn alles zu den Kosten eines Prinzips, was wir voraussichtlich dadurch verlieren, dass wir dem Prinzip Folge leisten,
statt in unserem Eigeninteresse zu handeln: „The appropriate measure of the demands of a
51
Vgl. Murphy (2000), 34f.
Murphy (2000), 35; vgl. Hooker (2009), 160: „So here is a proposal for a baseline: the baseline should include
how well off a person is now minus any stolen goods and any other possessions that are inherently unownable
(such as slaves, the North Pole, etc.) but not minus whatever might be extracted by this or that proposed principle
of beneficence.” Siehe zur Kritik an einer normativ eingefärbten Basis Murphy (2000), 36f.
52
28
moral theory is thus the difference between the agent’s expected well-being as a perfect complier and her expected well-being in an optimally prudent life.”53
Ernsthafte Schwierigkeiten für die Abschätzung der Kostenhöhe entstehen Murphy zufolge
aber, weil wir dabei nicht nur aktive Forderungen („active demands“), sondern auch passive
Forderungen („passive demands”) berücksichtigen sollten.54 Wenn wir ermitteln wollen, wie
anspruchsvoll eine Moraltheorie ist, müssen wir sowohl einkalkulieren, was uns die Theorie
auferlegt, wenn wir ihr selbst folgen („active“), als auch bedenken, was sie uns auferlegt, indem ihr andere folgen („passive“). Ansonsten könnten Moralvorstellungen, die gesetzlich
effektiv erzwungen werden – man denke etwa an die staatliche Eintreibung von Steuern –,
absurderweise keine Forderungen an uns enthalten, weil man sich von einer Abweichung davon keinerlei Vorteile versprechen darf. Zwischen dem erwarteten Wohlergehen eines moralkonform Handelnden und dem erwarteten Wohlergehen eines klug Handelnden besteht in
einem solchen Fall nämlich keine Differenz.
Ignorieren wir die Lasten, die ein Akteur trägt, weil andere die Pflichten einer Moraltheorie
befolgen, gelangen wir in Murphys Augen zu einer künstlich niedrigen Einschätzung ihrer
Forderungen. Gleicherweise erhalten wir aber, wie er meint, auch eine künstlich hohe Einschätzung ihrer Forderungen, wenn wir die Vorteile nicht ebenfalls miteinbeziehen, die einem
Handelnden durch die moralische Regelbefolgung anderer erwachsen: „What we are interested in, in fact, is the net effect the compliance of others with a moral theory has on our agent’s
well-being.”55 Die Kosten und der Nutzen der Theorie-Einhaltung anderer sollten also miteinander verrechnet werden, um einen positiven oder einen negativen Nettoertrag zu bekommen. Dabei ist interessant, dass sich die passiven Forderungen und Begünstigungen für Murphy ausschliesslich aus den erwartbaren Konsequenzen von Handlungen speisen, zu denen
andere gemäss einer Theorie verpflichtet sind, nicht jedoch aus den erwartbaren Konsequenzen von Handlungen, die anderen erlaubt sind.56
Wie aber sollen sich aus diesen Neuerungen Schwierigkeiten für die Kostenberechnung ergeben? Man kann die Frage nach der Höhe moralischer Forderungen entweder als eine Frage
der idealen Theorie oder als eine Frage der nicht-idealen Theorie behandeln, d. h. entweder
unter der Voraussetzung, dass eine Moraltheorie von sämtlichen Akteuren befolgt wird („fullcompliance“), oder unter der Voraussetzung, dass es Akteure gibt, welche die Moraltheorie
nicht befolgen („partial-compliance“).57 Wer sich mit dem Problem der moralischen Überfor53
Murphy (2000), 42; vgl. dazu auch Murphy (2000), 47.
Murphy (2000), 47f.
55
Murphy (2000), 48.
56
Vgl. Murphy (2000), 48 und 145.
57
Siehe Murphy (2000), 5, 50f. und 56f.
54
29
derung auseinandersetzt, muss nach Murphy auch und vor allem Situationen beachten, die
von der bloss partiellen Befolgung einer Theorie geprägt sind. Daher zielt er mit seinem
Hauptargument auf das Scheitern der Kosten-Nutzen-Rechnung unter „partial-compliance”Bedingungen ab: Unter Berücksichtigung der Kosten, die aufgrund der partiellen Befolgung
einer bestimmten Moraltheorie durch andere anfallen, lässt sich seiner Meinung nach nicht
beurteilen, wie hoch die Kosten dieser Moraltheorie für ein Individuum sind.58
Warum Murphy diese Ansicht vertritt, erklärt sich wie folgt. Um die Höhe passiver Forderungen abschätzen zu können, brauchen wir zunächst eine neue Basis („baseline”), vor deren
Hintergrund sich die Kosten einer Theorie herauskristallisieren. Als geeignet erachtet Murphy
eine Welt, in der keine anderen Akteure die entsprechende Theorie je befolgen: „[...] the passive effect on [agent] A of a prevailing level of (partial) compliance with theory T in a world
W is assessed by comparing A’s expected well-being in W with her expected well-being in a
baseline world of zero compliance with T.”59 Konstruiert man eine solche Basis-Welt ausgehend von einer mehr oder weniger plausiblen Theorie T, muss das Resultat dem hobbesschen
Krieg aller gegen alle ähneln. Wenn niemand je das tut, was gemäss T seine moralische
Pflicht ist, dann dürfte die entstehende Atmosphäre keine sehr angenehme sein. Relativ dazu
– soviel lässt sich immerhin sagen – fördern die Kosten-Nutzen-Rechnungen zu sämtlichen
partiell befolgten Theorien einen positiven Nettoertrag und keinen Nettoverlust zutage: „Take
any plausible mixture of different degrees of compliance with different theories, and asses the
passive effect of compliance with any of them against a baseline of zero compliance with that
theory, and the result will be a net benefit.”60 Davon, dass irgendeine dieser Theorien unter
„partial-compliance”-Bedingungen extrem anspruchsvoll ist, kann also nach Murphy ohnehin
nicht die Rede sein.
Sein Hauptargument ist jedoch ein anderes. Wollen wir unterschiedliche Moraltheorien
hinsichtlich ihrer passiven Effekte („passive effects”) für einen Handelnden miteinander vergleichen, tritt eine schwerwiegende Komplikation auf. Für relevante „partial-compliance“Situationen, die der wirklichen Welt ähneln und in denen nahezu jedermann beinahe allen
plausiblen Theorien wenigstens unvollständig entspricht, können wir nicht spezifizieren, in
welchem Ausmass eine bestimmte Theorie befolgt wird. Aufgrund dessen ist es wenig hilf58
Vgl. Murphy (2000), 48 und vor allem 56f. Allerdings argumentiert Murphy zunächst auch dafür, dass uns das
Problem der moralischen Überforderung abhanden kommt, wenn wir die Kosten-Nutzen-Rechnung unter „fullcompliance”-Bedingungen durchführen. So stellt er dazu etwa Folgendes fest: „the sum of passive effects and
active demands, which we can call the compliance effect, will always be a net benefit. The basis of this claim is
simply the idea, familiar at least since the time of the Sophists, that a person’s prospects are always going to be
better if everyone, including her, follows one of the moral conceptions we take seriously” (Murphy (2000), 52).
Siehe dazu ausserdem Murphy (2000), 50f. sowie 53f.
59
Murphy (2000), 56.
60
Murphy (2000), 59.
30
reich, wenn wir wissen, dass die Kosten-Nutzen-Rechnung zu allen plausiblen Theorien in
etwa gleich positiv ausfällt:61 „Without some sense of what levels of compliance we are talking about, we are in no position to say that one theory has a more or less beneficial passive
effect than another.”62 Weil wir keine Ahnung haben, wie hoch das Niveau der partiellen Einhaltung einzelner Moraltheorien ist, scheitern wir daran, die Theorien hinsichtlich ihrer passiven Effekte zu vergleichen. Da uns eine entscheidende Information fehlt, bleibt unklar, ob
eine Theorie T1 vorteilhafter für einen Akteur ist als eine Theorie T2.
Wie ist Murphys Argumentation zu beurteilen? Es gibt mindestens zwei Möglichkeiten,
Einspruch gegen seine herausfordernden Überlegungen zu erheben. Entweder man bestreitet,
dass die Verfechter des Überforderungseinwands aktive und passive Forderungen einberechnen müssen, oder man bestreitet, dass es nicht möglich ist, die Höhe passiver Forderungen
abzuschätzen. Der zweiten Option gemäss möchte ich zuerst gewisse Zweifel daran säen, dass
sich passive Effekte unter „partial-compliance”-Bedingungen nicht berechnen lassen, und der
ersten Option gemäss soll in der Folge – als zentraler Einwand – dafür plädiert werden, die
„passiven Forderungen“ nicht als genuine moralische Forderungen zu begreifen.
Zugegebenermassen sind wir nicht in der Lage, aus dem Lehnstuhl über die vorherrschenden Befolgungsniveaus verschiedener Moralprinzipien Auskunft zu geben. Doch weshalb
genau sollte es ausgeschlossen sein, sich einerseits hypothetische Muster der Prinzipienbefolgung und ihre Konsequenzen für einzelne Akteure auszudenken und sich andererseits mittels
empirischer Studien einer Beschreibung der verbreiteten Befolgungsniveaus anzunähern, um
gewisse Parallelen zwischen der realen Lage und den fiktiven Szenarien herauszuarbeiten?
Murphy macht zu wenig deutlich, welche prinzipiellen Probleme uns daran hindern sollten,
ein solches Forschungsprojekt anzugehen. Deshalb gibt es gute Gründe, sein Argument zumindest noch einmal zu überdenken. Viel naheliegender ist es indes, bereits die erste Option
zu wählen und zu negieren, dass für die Einschätzung der Höhe moralischer Forderungen sowohl aktive als auch passive Kosten relevant sind. Denn das, was Murphy „passive Forderungen“ nennt, sind keine echten Forderungen.
Um einzusehen, wie merkwürdig seine Auffassung des Begriffs der moralischen Forderung
ist, kann es hilfreich sein, sich zunächst eine sonderbare Konsequenz derselben vor Augen zu
führen. Da sich die passiven Forderungen einer Theorie für Murphy nur daraus ergeben, was
61
Vgl. Murphy (2000), 58: „We know that in our actual world any plausible theory can be credited with a passive effect on me equivalent to the difference between my expected well-being now and my expected well-being
in a world of zero compliance with the theory. Since the baseline world is one where everyone would have the
same very low level of expected well-being, we can give as a rough measure of that passive effect my actual
level of expected well-being from now.”
62
Murphy (2000), 58.
31
anderen geboten ist, nicht aber auch daraus, was anderen erlaubt ist,63 offenbart die Beurteilung der beiden Theorien T1 und T2 Erstaunliches, wenn jemand in einer Situation S nach T1
verpflichtet ist, mich zu töten, während es ihm nach T2 bloss erlaubt ist, mich zu töten. Unter
der Annahme, dass ich in beiden Fällen umgebracht werde, fliesst die schwere Bürde des Todes trotzdem ausschliesslich in die Kosten-Nutzen-Rechnung zu T1 ein und nicht in diejenige
zu T2. Jemanden zu verpflichten, eine Person zu töten, erhöht die passiven Forderungen gegenüber dieser Person erheblich. Jemandem hingegen zu erlauben, eine Person zu töten, erhöht die passiven Forderungen gegenüber dieser Person überhaupt nicht. Das ist sehr seltsam.
Aber wie sollen wir darauf reagieren?
Wieder haben wir zwei Möglichkeiten: Entweder rechnen wir auch die erwartbaren Folgen
zulässiger Handlungen anderer irgendwie in die Forderungen einer Theorie ein oder wir verabschieden uns vom Konzept der passiven Forderungen und zählen die erwartbaren Folgen
gebotener Handlungen anderer nicht länger zu den Forderungen einer Theorie gegenüber einem Akteur. Entscheiden sollten wir uns meines Erachtens für die zweite Alternative. Selbstverständlich bürdet mir ein Moralprinzip Kosten auf, wenn es meine absehbare Tötung durch
jemand anderen für zulässig oder sogar für geboten erklärt. Doch sind diese Kosten mit moralischen Forderungen zu identifizieren, die an mich gestellt werden? Nein, mir gegenüber müssen T1 und T2 in Situation S gar keine Forderungen erheben. Vielleicht ist es mir gemäss den
beiden Theorien geboten, mich nicht zu wehren, vielleicht aber ist es mir nach ihnen auch
nicht geboten, meine Tötung kampflos hinzunehmen. Das hängt von der weiteren Ausgestaltung dieser Moraltheorien ab. Jedenfalls ist es nicht dasselbe, ob eine Theorie eine Forderung
an uns stellt oder unserem Wohlergehen keine prioritäre Behandlung einräumt. Selbst falls
einzig der Vorschlag (α) korrekt ist, was nicht erwiesen ist, gilt nämlich höchstens Folgendes:
Jede moralische Forderung bürdet uns Kosten auf, aber nicht jedes Aufbürden von Kosten
stellt eine moralische Forderung dar.
Damit ist nicht gesagt, dass den hohen Kosten, die ich in Situation S gegebenenfalls tragen
muss, keine moralische Relevanz zukommt, sondern nur, dass mir gegenüber dadurch, dass
ich sie tragen muss, nicht ipso facto eine moralische Forderung erhoben wird. Was lässt sich
weiter zugunsten dieser Position vorbringen? Der Begriff der passiven Forderungen hat den
bitteren Beigeschmack einer contradictio in adjecto. Eine moralische Forderung ist etwas,
was jemandem gegenüber erhoben wird und dem man nachkommen kann, nicht etwas, das
einem auferlegt wird, ohne dass man sich dazu entschliessen könnte, ihm zu entsprechen oder
nicht zu entsprechen. Demgegenüber liesse sich einwenden, dass Murphy eine rein stipulative
63
Vgl. Murphy (2000), 48 und 145.
32
Definition des Ausdrucks „passive Forderung“ anstrebt, die nicht am etablierten Sprachgebrauch gemessen werden sollte.64 Aber obwohl diese Verteidigungsstrategie auf den ersten
Blick aussichtsreich scheint, kann sie nicht überzeugen. Die Explikation des Begriffs der moralischen Überforderung beruht auf der Explikation des Begriffs der moralischen Forderung.
Letztere sollte daher – wie erstere – einerseits an unsere alltägliche Verwendung des Ausdrucks „moralische Forderung“ anknüpfen und den Überforderungseinwand andererseits so
interessant und plausibel wie möglich machen. Beide Kriterien erfüllt Murphys Ansatz nicht.
Erstens sind „passive Forderungen“ keine genuinen Forderungen und zweitens führt ihre Einbeziehung nicht dazu, dass der Überforderungseinwand an Plausibilität gewinnt. Vor diesem
Hintergrund müssen die zahlreichen Schwierigkeiten, die Murphy dank den „passive demands“ für die Anhänger des Überforderungseinwands herleitet,65 eher als Teile einer reductio ad absurdum seiner Interpretation des Einwands gelten, denn als Anzeichen seiner Unzulänglichkeit. Indem Murphy moralische Forderungen und das, was er „passive Forderungen“
nennt, miteinander vermengt, wechselt er das Thema – nicht erst später, als er dies im Zuge
der Zurückweisung möglicher Auswege seinen Gegnern vorwirft.66
Beschränkt man sich bei der Explikation des Überforderungseinwands folglich auf aktive
Forderungen, lässt sich Murphys Herausforderung bewältigen. Die Kosten, die Handelnde
tragen, weil sie ein moralisches Prinzip befolgen, können – in Übereinstimmung mit dem
Vorschlag (α) – unter „full-compliance”- wie auch unter „partial-compliance”-Bedingungen
eingeschätzt werden. Es gibt Prinzipien, die mehr von uns verlangen, und es gibt Prinzipien,
die weniger von uns verlangen. Und es gibt Theorien, die – wie es das utopische Szenario
einer heilen Welt aus 1.1. verdeutlicht – selbst in den glücklichsten Kontexten so anspruchsvoll sind, dass sie uns nicht plausibel erscheinen:67 Insofern zeigt die optimierende Moralkonzeption, deren Vertreter stets die bestmögliche Handlung zur Pflicht erklären, zugleich weitere Grenzen der eingangs von 2.3. thematisierten Bedenken zur Kontextrelativität (der Höhe
64
Vgl. dazu die Formulierung von Murphy (2000), 48: „But also intuitively important are the demands that morality imposes on us, not through our own compliance, but through the compliance of others. We can call these
passive demands.” Während die Tatsache, dass bereits im ersten Satz von „demands“ die Rede ist, eher gegen
die Interpretation der stipulativen Definition spricht, könnte der zweite Satz – „We can call these passive demands” – als ein Indiz betrachtet werden, das diese Interpretation stützt.
65
Siehe dazu Murphy (2000), 50f. Die obige Darstellung von Murphys Argumentation ist leicht verkürzt.
66
Vgl. Murphy (2000), 56. Lehnt man die Einbeziehung passiver Forderungen ab, sollte man allerdings, besser
früher als später, eine Lösung für die Probleme finden, die Murphy dazu bewegen, von passiven Forderungen zu
sprechen (siehe dazu Murphy (2000), 47f. und 60). Dieser Herausforderung kann ich mich im Rahmen der vorliegenden Untersuchung jedoch nicht stellen.
67
Vgl. dazu auch Ashfords Ausführungen zur Höhe der moralischen Forderungen des Kontraktualismus: „However, Scanlon’s contractualism is also demanding in a way that is much less defensible because of the fact that it
rejects all interpersonal trade-offs. This rejection commits Scanlon’s theory to extremely demanding principles
for any situation in which any one person may be harmed by activities which involve any small risk, and that is
the situation in any practically realizable state of the world” (Ashford (2003), 302).
33
moralischer Forderungen) auf und ruft uns in Erinnerung, dass mit der Beschränkung auf aktive Forderungen einstweilen auch das obige Problem positiver Kosten-Nutzen-Rechnungen
entschärft ist. Solange aktive Forderungen nicht mit „passiven Forderungen“ verrechnet werden müssen, sehen wir uns als Handelnde mit den echten Kosten kostspieliger Forderungen
konfrontiert und nicht mit positiven Nettoerträgen, gegen die nichts einzuwenden ist.
2.4. Überforderung als Einwand
Mit These (i) zu behaupten, dass manche Moraltheorien anspruchsvoller sind als andere, ist
eines, mit These (ii) zu behaupten, dass manche Moraltheorien zu anspruchsvoll sind, ist etwas anderes. Die Stolpersteine, die die Vorschläge (α*), (β*) und (γ*) begleiten, lassen sich
nicht allesamt aus dem Weg räumen, indem – wie im vorhergehenden Unterabschnitt – mögliche Komplikationen von (α), (β) und (γ) behoben werden. In 2.4. ist deshalb zu untersuchen,
zu welchen Zweifeln der Übergang von (i) zu (ii) Anlass gibt und ob sich diese nach gründlichem Nachdenken verflüchtigen, bevor darauf eingegangen wird, wie die beiden Thesen genau mit dem zusammenhängen, was man als Überforderungseinwand verstehen sollte.
Gegen Ende von Unterabschnitt 2.2. wurde festgestellt, dass die Frage, wann eine Moraltheorie zu anspruchsvoll ist, als eine Frage nach dem Massstab aufgefasst werden kann,
anhand dessen wir darüber befinden können, ob eine anspruchsvolle Theorie zu anspruchsvoll
ist. Offen blieb dabei allerdings, wohin uns diese Einsicht führt und welche philosophischen
Gefahren in ihrem Umfeld lauern. Damit ist der Ausgangspunkt der nachstehenden Überlegungen benannt. Um sich Klarheit darüber zu verschaffen, inwiefern der Überforderungseinwand durch Hindernisse der besagten Provenienz bedroht sein könnte, lohnt es sich, ein Argument zu betrachten, das von Peter Schaber stammt.68 Wenn man gegen eine Theorie einwendet, ihre Forderungen seien zu hoch, dann bewertet man, so Schaber, die Forderungen der
Theorie und verleiht der Überzeugung Ausdruck, dass dasjenige, was von uns gefordert wird,
von Menschen nicht gefordert werden darf. Wer sagt, es werde zu viel von ihm verlangt, tätigt
eine Aussage über die Legitimität einer moralischen Forderung. Trifft dies aber zu, kann die
Überforderung, wie Schaber darlegt, nicht der Grund dafür sein, dass eine Forderung illegitim
ist: Eine Forderung darf nicht deshalb nicht gefordert werden, weil sie nicht gefordert werden
darf.69
Da die Diagnose der Überforderung durch eine Forderung F also nicht unabhängig ist von
der Diagnose der Illegitimität von F und entsprechend voraussetzt, dass eine Moraltheorie, die
68
69
Vgl. Schaber (2014), 5f.
Vgl. Schaber (2014), 6.
34
F beinhaltet, falsch ist, erbringt der Überforderungseinwand keine eigenständige argumentative Leistung.70 Wer einer Theorie vorhält, sie überfordere uns, der bedient sich, so könnte man
sagen, einer petitio principii: Er setzt bloss voraus, was sein Einwand zeigen müsste. Wir
müssen zuerst klären, wozu Menschen berechtigt sind, bevor wir konstatieren können, welche
Forderungen zu anspruchsvoll sind und welche nicht. Dazu ist im Rahmen einer Debatte um
die richtige Moraltheorie herauszufinden, ob etwa eine kantianische oder eine utilitaristische
Position präferiert werden sollte.71 Die Idee der moralischen Überforderung kann dabei jedoch
keine Rolle spielen und ist daher nicht dazu geeignet, als Schlüsselkomponente eines moraltheoretischen Einwands zu fungieren.
Welche Lehren sind aus diesem Gegenargument zu ziehen? Müssen diejenigen, die auf der
Suche nach einer schlagkräftigen Explikation des Überforderungseinwands sind, ihre Hoffnungen begraben? Wenn Moraltheorien oder -prinzipien als zu anspruchsvoll kritisiert werden, drängt sich – dies verdeutlicht das Argument – die Frage nach dem Bewertungsmassstab
auf, der dem Überforderungsurteil zugrunde liegt. Akzeptiert man Schabers Analyse vollumfänglich, liegt der Massstab jeweils in der Moraltheorie, die ein Vertreter des Überforderungseinwands für die richtige hält. Ist es einer Akteurin A gemäss der Moraltheorie, die eine
Philosophin P favorisiert, moralisch erlaubt, eine Handlung H auszuführen, dann wird P eine
Forderung, welche H entgegensteht, als überfordernd kritisieren. Ist es A gemäss der moralischen Einstellung von P dagegen nicht erlaubt, H zu verüben, dann wird P eine Forderung,
welche H entgegensteht, auch nicht als überfordernd kritisieren. Diese Ansicht spiegelt sich in
einem anschaulichen Beispiel Schabers wider:
Wenn ein Konsequentialist wie Singer es für moralisch verboten hält, weniger als 10%
seines Einkommens an Hilfsorganisationen zu spenden, ist der Hinweis auf die hohen
Kosten für ihn genauso moralisch irrelevant wie der Hinweis, für mich könnte der Verzicht auf Demütigungen mit sehr hohen Kosten verbunden sein.72
Nur diejenigen, die denken, es sei erlaubt, weniger als zehn Prozent des eigenen Einkommens
zu spenden, halten Singers Forderung für zu hoch und neigen dazu, einen Überforderungseinwand vorzubringen. Nimmt man demgemäss stets diejenige Moraltheorie, der man selbst
anhängt, zum Massstab für ein Überforderungsurteil, ist die Idee der moralischen Überforderung zweifelsohne nicht relevant für die moralphilosophische Diskussion. Falls jemand nämlich unter dieser Voraussetzung der Meinung ist, dass eine Theorie zu viel von uns verlangt,
kann er bestenfalls andere Gründe anführen, aus denen das Geforderte nicht gefordert werden
70
Siehe dazu Schaber (2014), 10, 12 und 13.
Vgl. Schaber (2014), 11f. und zur Verteidigung einer kantianischen Theorie Schaber (2010).
72
Schaber (2014), 8.
71
35
darf. Einzig auf der angeblichen Überforderung zu beharren, trägt nichts aus und ist klarerweise als question begging zu verurteilen.
Doch es ist keineswegs ausgemacht, dass immer eine Moraltheorie, die wir präferieren, zur
Richtschnur für unsere Überforderungsurteile werden muss. Gelingt es uns, den Bewertungsmassstab anderswo zu verorten, sind wir nicht gezwungen, substantielle Moralprinzipien vorauszusetzen, damit wir von der These (i) zur These (ii) übergehen können. Um der drohenden Gefahr eines Question-begging-Fehlschlusses zu entgehen, ist demzufolge ein moraltheorieexterner Standard ausfindig zu machen, der zum einen richtigerweise zur Beurteilung der
Angemessenheit von Moraltheorien dient und zum anderen eine Grundlage für unsere Überforderungsurteile bildet. Die Diagnose der Überforderung ist dementsprechend als eine Inadäquatheitsdiagnose aufzufassen. Wer gegen eine Theorie einwendet, ihre Forderungen seien
zu hoch, bringt mit der Aussage „Theorie T überfordert uns“ zum Ausdruck, dass T einem
Standard zur Beurteilung konkurrierender Theorien nicht genügt. Er setzt jedoch keine moralischen Behauptungen voraus, die einer alternativen Moraltheorie angehören. Deswegen ist es
nicht problematisch, wenn mit der Feststellung der Überforderung eine Bewertung moralischer Forderungen einhergeht. Schliesslich soll der Überforderungseinwand gewisse Moralprinzipien oder -theorien als inadäquat ausweisen.
Behält man diese Vorbehalte im Auge, orientiert man sich bei der Explikation des Überforderungseinwands vorzugsweise an These (ii). Statt mit einer umständlichen Konstruktion jegliche Eingangsplausibilität aufs Spiel zu setzen, fängt man so die intuitive Attraktivität ein,
die (i) und (ii) in Unterabschnitt 1.1. zuerkannt wurde. Eine Moraltheorie mit dem Überforderungseinwand zu konfrontieren, heisst, sie als zu anspruchsvoll – und somit gemäss den Interpretationsvorschlägen (α*), (β*) oder (γ*) als zu kostspielig, zu schwierig oder zu einengend
– zu kritisieren. Die Standardform des Überforderungseinwands muss daher „Theorie T überfordert uns“, „T ist zu anspruchsvoll“ oder „Die Forderungen von T sind zu hoch“ lauten. Zu
einem legitimen Ziel eines solchen Einwands wird eine Moraltheorie, wenn sie derart anspruchsvoll gerät, dass sie unplausibel ist. Damit ist indes vorausgesetzt, dass es tatsächlich
ein Desiderat moralischer Standpunkte ist, eine gewisse Forderungshöhe nicht zu überschreiten. Überfordert uns eine Theorie, wird sie diesem angenommenen Erfordernis nicht gerecht
und ist, falls keine gewichtigeren Gründe dagegen sprechen, zu revidieren. Hält man sich bei
der Explikation des Überforderungseinwands an die Thesen (i) und (ii), beansprucht man
folglich, um es anders auszudrücken, ein meta-ethisches Prinzip, anhand dessen beurteilt werden kann, ob – ansonsten vielversprechende – Moralprinzipien oder -theorien akzeptabel
36
sind.73 Wenn wir wissen wollen, ob es je berechtigt ist, eine Theorie als zu anspruchsvoll zu
kritisieren, müssen wir uns demnach darüber Gedanken machen, warum es plausibel sein
könnte, ein solches Meta-Prinzip anzunehmen.
73
Vgl. dazu auch Hooker (2009), 148 und Heilinger (2012), 195.
37
Teil II: Die Berechtigung des Überforderungseinwands
Im zweiten Teil der Untersuchung sollen Probleme im Vordergrund stehen, die mit dem
Thema der Berechtigung des Überforderungseinwands zusammenhängen. Dabei ist insbesondere zu klären, warum eigentlich die Frage, wie viel Moraltheorien von uns verlangen, relevant sein soll für die Beurteilung ihrer Angemessenheit. Denn solange wir keine überzeugende Begründung dafür vorweisen können, scheint nichts für die Existenz des meta-ethischen
Adäquatheitskriteriums zu sprechen, auf welches der Überforderungseinwand angewiesen ist,
um je berechtigt zu sein.
Einer ersten Rechtfertigungsstrategie zufolge ist die Berufung auf unsere wohlerwogenen
moralischen Überzeugungen der Schlüssel zur Verteidigung des Überforderungseinwands.
Andere erachten diese Strategie als ungenügend und fordern eine tiefere philosophische Begründung für die moraltheoretische Relevanz der Höhe moralischer Forderungen. Und
schliesslich gibt es auch Stimmen, die beide Herangehensweisen für aussichtslos erklären und
den Überforderungseinwand nach dem Motto „[I]f morality is demanding, it is demanding”74
zurückweisen. Im dritten Abschnitt ist folgerichtig die erste Rechtfertigungsstrategie auf den
Prüfstand zu stellen, im vierten soll die zweite Strategie getestet werden. Falls beide Versuche
scheitern, bleibt uns nichts anderes übrig, als resignierend in den Abgesang des Überforderungseinwands einzustimmen: Wenn die Moral ausgesprochen viel von uns fordert, dann fordert sie eben ausgesprochen viel von uns.
3. Wohlerwogene moralische Überzeugungen
Um die Rechtfertigungsstrategie, für die der Verweis auf unsere wohlerwogenen moralischen
Überzeugungen zentral ist, von ihrer besten Seite kennenzulernen, empfiehlt es sich, ihren
gewieftesten Anwalt zu Wort kommen zu lassen: den Regel-Konsequentialisten Brad Hooker.
Deshalb soll seine Argumentation im nächsten Unterabschnitt vorgestellt (3.1.) und anschliessend – unter Berücksichtigung von weiteren methodologischen Überlegungen – einer Überprüfung unterzogen werden (3.2.).
Zuvor ist es allerdings ratsam, eine kurze Vorbemerkung zum Ausdruck „Überzeugung“
anzubringen. In den Texten, welche in der Folge zu thematisieren sind, werden die englischen
Wörter „intuition“, „belief“, „conviction“, „claim“, „judgement“ und „verdict“ zuweilen
äquivalent verwendet.75 Von dieser Praxis weiche ich insofern nicht ab, als ich wahlweise von
74
Griffin (1986), 185.
Vgl. z. B. Kagan (1989), 11: „Let me start with a model of moral theorizing which is, I believe, inadequate.
On this account we begin moral philosophy with a set of pretheoretical moral intuitions – beliefs about the moral
character of a variety of specific situations (both actual and hypothetical).” Siehe auch Hooker (2000), 104.
75
38
moralischen Überzeugungen, Intuitionen oder Urteilen spreche, ohne näher auf die philosophischen Debatten einzugehen, die sich um die Begriffe der Intuition und des moralischen
Urteils ranken.76
3.1. Hookers Argumentation
Hookers Argumentation besteht aus zwei Schritten. Zuerst beantwortet er die generelle Frage,
wie wir konkurrierende Moraltheorien beurteilen sollen, darauf führt er aus, wovon eine solche Beurteilung im Einzelnen abhängt und wie sie seiner Ansicht nach ausfällt. Die folgenden
Ausführungen sollen seine Argumentation nachzeichnen, insofern sie für die Evaluation des
Überforderungseinwands von Belang ist.
Nach Hooker gibt es, wie er in Ideal Code, Real World darlegt, fünf Kriterien zur Beurteilung von Moraltheorien, die er andernorts als „meta-ethische Prinzipien“77 bezeichnet:
(1) Moral theories must start from attractive general beliefs about morality.
(2) Moral theories must be internally consistent.
(3) Moral theories must cohere with (i.e. economically systematize, or, if no system is
available, at least endorse) the moral convictions we have after careful reflection.
(4) Moral theories should identify a fundamental principle that both (a) explains why
our more specific considered moral convictions are correct and (b) justifies them
from an impartial point of view.
(5) Moral theories should help us deal with moral questions about which we are not confident, or do not agree.78
Relevant für die Diskussion um die Berechtigung des Überforderungseinwands sind zunächst
bloss das erste Kriterium, wonach Moraltheorien attraktive allgemeine Meinungen über die
Moral zum Ausgangspunkt nehmen sollten, und vor allem das dritte, wonach Moraltheorien
mit unseren wohlerwogenen moralischen Überzeugungen kompatibel sein müssen. Aufgrund
dessen ist es ausreichend, aufzuzeigen, wie Hooker die Kriterien (1) und (3) erläutert und begründet, bevor geklärt werden kann, inwiefern diese beiden meta-ethischen Prinzipien mit
dem Überforderungseinwand zusammenhängen.
Das erste Prinzip, das er für unproblematisch hält, führt Hooker auf, weil er der Ansicht ist,
dass uns eine Theorie, die alle anderen Kriterien erfüllt, gleichwohl suspekt wäre, wenn sie
von unattraktiven Vorstellungen über die Moral ausginge, mit denen wir nicht vertraut sind.79
76
Zur Möglichkeit einer meta-ethisch neutralen Anwendung der Methode des Überlegungsgleichgewichts vgl. z.
B. Hooker (2000), 14: „Noncognitivists in ethics believe that moral convictions are not really beliefs but instead
sentiments or commitments. Some other philosophers (such as Mackie 1977: ch. 1) accept that moral convictions
are beliefs, but think these beliefs are never literally true. Yet most contemporary moral philosophers – no matter
what their views on metaphysics, epistemology, and language of morals – apply the same reflective-equilibrium
methodology in normative ethics. In the case of noncognitivists, the search is for a reflective equilibrium between the moral attitudes at different levels of generality.” Siehe zur Diskussion um den Begriff der Intuition
etwa Pust (2012) oder Cappelen (2012).
77
Vgl. Hooker (2009), 148.
78
Hooker (2000), 4.
79
Siehe dazu Hooker (2000), 4f.
39
Entsprechend nimmt er etwa für den Regel-Konsequentialismus in Anspruch, dass dieser dem
Prinzip (1), wie viele andere Moraltheorien auch, gerecht wird, da er bei einer gängigen und
reizvollen Frage ansetzt, um die Moralität einer Handlungsweise zu prüfen: „What would the
consequences be if everyone felt free to do that?”80 Gemäss dem kontroverseren dritten Prinzip ist darauf zu achten, ob eine Theorie mit unseren festen moralischen Überzeugungen in
ein Überlegungsgleichgewicht gebracht werden kann.81 Solange sich aus ihrem Zusammenspiel Unstimmigkeiten – wie etwa offene Widersprüche – ergeben, müssen wir entweder die
Theorie anpassen oder unsere Überzeugungen aufgeben. Letztlich sollte eine Moraltheorie
dann diejenigen unserer Meinungen zu moralischen Einzelurteilen und Prinzipien, an denen
wir auch nach reiflicher Überlegung festhalten, systematisieren können oder zumindest für
zutreffend erklären. Ansonsten stünde sie nicht, wie es (3) verlangt, im Einklang mit unseren
wohlerwogenen moralischen Überzeugungen.
Dieses Kriterium verteidigt Hooker einerseits gegen den Vorwurf der Konservativität und
andererseits gegen den moralischen Skeptizismus. Machen wir unsere moralischen Überzeugungen zur letzten Berufungsinstanz der normativen Ethik, laufen wir, so der Konservativitätsvorwurf, Gefahr, althergebrachte Mängel vorherrschender Moralvorstellungen zu bewahren. Selbst wenn wir gewisse Überzeugungen im Lichte anderer Überzeugungen revidieren,
können wir nicht ausschliessen, dass wir zentrale Fehler erhalten und weiterhin den moralischen Vorurteilen unserer kulturellen Tradition anhängen. Dem hält Hooker in einem ersten
Schritt entgegen, dass wir zwangsläufig eine evaluative Perspektive einnehmen müssen, um
moralische Positionen zu bewerten: „[...] we cannot evaluate our evaluative beliefs, or anything else, from a completely non-evaluative point of view.”82 Versuchten wir es dennoch,
fehlte uns schlicht die Grundlage für die Bewertung. Doch warum sollten wir nicht als moralische Skeptiker sämtliche moralischen Auffassungen anzweifeln, weil wir über keine ausreichende Begründung für sie verfügen? Dagegen wendet Hooker etwas ein, das er in einem
zweiten Schritt auch für seinen Umgang mit dem Vorwurf der Konservativität fruchtbar
macht.83 Es gibt moralische Urteile, die derart überzeugend sind, dass wir sie kaum aufrichtig
80
Hooker (2000), 5.
Der einflussreichste Vertreter der Methode des Überlegungsgleichgewichts („reflective equilibrium”) ist John
Rawls. Siehe für seine Charakterisierung der Methode z. B. Rawls (1971), 19f. oder 46f. Üblicherweise wird
zwischen einem engen und einem weiten Überlegungsgleichgewicht unterschieden: „Narrow equilibrium is
obtained when we find a set of principles that economically systematizes our considered moral convictions.
Wide reflective equilibrium is narrow reflective equilibrium plus consistency with ‘background conditions’.
These background conditions are composed of theories of personal identity, human flourishing, rationality, and
everything else” (Hooker (2000), 15).
82
Hooker (2000), 11.
83
Ausserdem nennt er das folgende Argument gegen den moralischen Skeptizismus: „[...] if we can make good
sense of our moral convictions – that is, if we can show how they fit one another and fit with other things we
believe – then moral scepticism is unjustified [...].“ (Hooker (2000), 11f.)
81
40
zurückweisen können. So ist es etwa offensichtlich verwerflich, einen Gefangenen aus Langeweile zu foltern. Möchte dies jemand ernsthaft bestreiten, könnten wir uns fragen, ob er
wirklich verstanden hat, was er sagt. Die Tatsache, dass es so schwierig ist, gewisse moralische Behauptungen zu leugnen, sollte aber nicht nur gegenüber dem Skeptiker, sondern auch
gegenüber einem Verfechter des Konservativitätsvorwurfs eine Rolle spielen: Wir kommen
nicht umhin, unterschiedliche Moraltheorien daran zu messen, inwieweit sie denjenigen moralischen Überzeugungen entsprechen, denen wir nach reiflicher Überlegung am meisten vertrauen.
Inwiefern hängen nun aber die Kriterien (1) und (3) mit dem Überforderungseinwand zusammen? Für Hooker ist der Überforderungseinwand eine Anwendung des dritten Kriteriums
zur Beurteilung von Moraltheorien.84 Wer einer Theorie vorwirft, zu anspruchsvoll zu sein,
kritisiert sie ihm zufolge dafür, in einer bestimmten Hinsicht nicht mit unseren wohlerwogenen moralischen Überzeugungen zusammenzustimmen. Denn wir sind fest davon überzeugt,
dass uns die Moral nicht alles abverlangt, was wir opfern könnten:
People who are not in need ought to be prepared to make some self-sacrifice to help those
who are. Yet morality does not require you to be constantly making huge self-sacrifices
for the sake of other people to whom you have no special connection. So much altruism is
admirable, even saintly. But most of us believe that stopping short of sainthood is morally
permissible.85
Wir teilen also, wie Hooker meint, die moralische Überzeugung, dass wir nicht dazu verpflichtet sind, fortwährend bedeutende Opfer zugunsten anderer zu bringen. Setzt man dazu
die Geltung des dritten meta-ethischen Prinzips voraus, ergibt sich folgendes Bild. Wenn eine
Moraltheorie diese Überzeugung nicht respektiert, dann lässt sie sich nicht nur als anspruchsvoll, sondern mit Fug und Recht auch als zu anspruchsvoll auffassen. Es sind unsere wohlerwogenen Überzeugungen, die uns – qua Kriterium (3) – einen Standard an die Hand geben,
mithilfe dessen wir konkurrierende Moraltheorien beurteilen können: Zu anspruchsvoll ist
eine Theorie, wie man im Anschluss an Hooker behaupten könnte, genau dann, wenn ihre
Forderungen das übersteigen, was uns gemäss unseren stabilen Intuitionen moralisch geboten
ist. Damit scheint das Problem des theorieexternen Massstabs, das in 2.2. angedeutet und in
2.4. vertieft wurde, gelöst zu sein.
Folgt man Hookers Argumentation, ist der Überforderungseinwand demnach aus zwei
Gründen genauso überzeugend, wie es andere Einwände sind, die auf der Methode des Überlegungsgleichgewichts beruhen. Wenn wir uns – erstens – mögliche Szenarien vor Augen
führen, in denen etwa die moralisch bestmögliche Handlung extreme Opfer mit sich bringt,
84
85
Vgl. Hooker (2009), 149. Das erste Kriterium kann meiner Meinung nach ergänzend hinzugezogen werden.
Hooker (2000), 16.
41
dann haben wir in der Tat die robuste Intuition, dass solche Handlungen supererogatorisch
sind. Exemplarische Evidenz dafür mögen uns etwa das Bürgerkriegsszenario (1) aus 1.1.
oder die folgenden Beispiele verschaffen. Seine eigene Familie in den Tod zu schicken, sich
selbst zu opfern oder sich einen Körperteil amputieren zu lassen, um die Familie, das Leben
oder den Arm eines anderen zu retten, ist vielleicht heldenhaft und bewundernswert, moralisch geboten aber ist es, wie wir denken, keinesfalls. Die Überzeugung, es sei in solchen Fällen zulässig, im eigenen Interesse zu handeln, ist tief verankert in unserem Arsenal moralischer Überzeugungen. Niemand wäre je darüber empört, wenn er bemerkte, dass mir das eigene Leben zu lieb ist, um mich für eine andere Person zu opfern. Niemand würde mir je
Vorwürfe machen, wenn er sähe, dass ich meinen Arm nicht für den Arm eines anderen hergeben möchte.
Vergleicht man den Überforderungseinwand – zweitens – mit anderen Argumenten, die
sich auf wohlerwogene moralische Überzeugungen stützen, fällt ihre strukturelle Analogie
auf: Wer letztere akzeptiert, muss daher auch ersterem beipflichten. In beiden Fällen konfligiert Moraltheorien nämlich mit moralischen Überzeugungen, die wir nach reiflicher Überlegung noch immer nicht aufgeben wollen.86 So sind zum Beispiel viele der Ansicht, dass der
klassische Handlungsutilitarismus in unzähligen Situationen nicht diejenige Handlung für
richtig erklärt, welche die gerechte Lösung eines moralischen Konflikts herbeiführt. Wie sollen wir etwa einen Kuchen unter zehn Kindern aufteilen, wenn nur Lindas immense Freude
über ein grösseres Stück den gesamten Ärger aller Benachteiligten überwiegt? Sollen (a) dennoch alle gleich viel erhalten oder soll Linda (b) mehr bekommen? Ein hartgesottener Utilitarist muss für nutzenmaximierende Variante (b) votieren und damit der Alternative (a) widersprechen, die wir auch nach langem Nachdenken für gerecht erachten.87 Sieht man in derartigen Konflikten mit unseren wohlerwogenen Intuitionen aber einen guten Grund, den klassischen Handlungsutilitarismus zu verabschieden, muss man in Analogie dazu auch den Überforderungseinwand akzeptieren. Andernfalls gelangt man ebenso wenig zu einem Überlegungsgleichgewicht zwischen ethischer Theorie und moralischem Urteil, wie wenn man unsere Gerechtigkeitsintuitionen ignorierte.
86
Siehe auch Lawlor (2009), 33f.
Weitere Beispiele könnten sich etwa aus unseren moralischen Einstellungen zur Verletzung moralischer Rechte, zur Tötung unschuldiger Personen, zum Brechen von Versprechen oder zur Missachtung besonderer Verantwortlichkeiten gegenüber den eigenen Eltern, Kindern oder Freunden ergeben (vgl. Lawlor (2009), 33f.; Hooker
(2000), 16f.).
87
42
3.2. Moralische Intuitionen und ethische Methodologie
Zeigt der Überforderungseinwand also aufgrund seiner Fundierung in Kriterium (3) tatsächlich, dass Moraltheorien, wie Hooker meint,88 Raum lassen sollten für ein beträchtliches Mass
an Voreingenommenheit zugunsten der eigenen Person? Dies hängt wesentlich davon ab,
welchen Stellenwert man wohlerwogenen moralischen Überzeugungen im Rahmen einer ethischen Methodologie beimessen sollte. Deshalb ist nun zu untersuchen, ob die methodologischen Voraussetzungen, die Hookers Argumentation zugrunde liegen, einer kritischen Prüfung standhalten.
Dazu sollen zwei gegensätzliche Auffassungen miteinander verglichen werden, die entscheidende Unterschiede offenbaren: Brad Hookers Verteidigung der unabhängigen Glaubwürdigkeit moralischer Intuitionen und Shelly Kagans Bedenken gegenüber ungestützten Unterscheidungen.89 Hooker zufolge kommt den moralischen Überzeugungen, mit denen Moraltheorien nach eingehender Überlegung harmonieren sollten, unabhängige Glaubwürdigkeit
(„independent credibility”) zu.90 Sie scheinen für sich genommen, bevor wir uns Gedanken
darüber machen, wie gut sie zu unseren anderen Überzeugungen passen, korrekt zu sein:
„Like a self-evident proposition, an independently credible one is ‘evident without any need
of proof, or of evidence beyond itself’. Unlike a self-evident proposition, an independently
credible one might turn out to be mistaken [...].”91 Unsere Intuitionen könnten sich nach Hooker zwar letztlich als falsch erweisen, sie bedürfen aber keines Beweises, um plausibel zu
sein. Sie leuchten aus eigener Kraft ein und nicht weil sie durch andere Überzeugungen gestützt werden: „In short, we search for a coherent set of moral beliefs and are willing to make
many revisions so as to reach coherence. But we should start with moral beliefs that are attractive in their own right, that is, independently of how they mesh with our other moral beliefs.”92
Kagan betont demgegenüber, dass moralische Intuitionen nicht nur aus Konsistenzgründen
verworfen werden sollten, sondern auch falls sie Prinzipien nahelegen, für die wir keine Begründung finden.93 Auf die unabhängige Glaubwürdigkeit unserer Überzeugungen zu verwei88
Vgl. Hooker (2000), 28.
Siehe dazu auch Tedesco (2011), 98f.
90
Vgl. Hooker (2000), 12f.
91
Hooker (2000), 13; vgl. dazu Ross (1930), 29: „That an act, qua fulfilling a promise, or qua effecting a just
distribution of good, or qua returning services rendered, or qua promoting the good of others, or qua promoting
the virtue of insight of the agent, is prima facie right, is self-evident; not in the sense that it is evident from the
beginning of our lives, or as soon as we attend to the proposition for the first time, but in the sense that when we
have reached sufficient mental maturity and have given sufficient attention to the proposition it is evident without any need of proof, or of evidence beyond itself. It is self-evident just as a mathematical axiom, or the validity
of a form of inference, is evident.”
92
Hooker (2000), 13; siehe auch Hooker (2000), 104.
93
Vgl. Kagan (1989), 12f.
89
43
sen, ist nach ihm dabei nicht ausreichend. Stattdessen müssen wir erklären können, warum die
Aspekte, denen Moralprinzipien oder -theorien Bedeutung beimessen, moralisch relevant
sind: „If a theory holds that a particular factor has relevance in a certain range of cases, what
exactly is it about that factor that explains why it is relevant at all – and what explains why it
is only relevant in the specified range of cases and not more generally?”94 Solange es uns
nicht möglich ist, diese Frage zu beantworten, mangelt es unserer Theorie, wie Kagan meint,
an einer adäquaten Rechtfertigung, weil sie eine ungestützte Unterscheidung („dangling distinction”) zulässt.
Ein eindrückliches Beispiel dafür entwickelt er anhand eines fiktiven Sklavenhalters, für
den es intuitiv erlaubt ist, Schwarze anders zu behandeln als Weisse.95 Gelingt es einer solchen Person Moralprinzipien zu identifizieren, die ihren Intuitionen entsprechen, werden es
Prinzipien sein, gemäss denen die Hautfarbe eines Menschen ausschlaggebend ist für die Bewertung von Ungleichbehandlungen. So dürfte es nicht überraschen, wenn der Sklavenhalter
das folgende Hilfsprinzip zur Praxis des Auspeitschens vorschlüge:
(HP)
Einer Person, die ausgepeitscht wird, sollte man helfen, wenn sie weiss ist, nicht
jedoch, wenn sie schwarz ist.
Denn es ist anzunehmen, dass die moralischen Einzelurteile, die sich aus diesem Prinzip ergeben, mit seinen Intuitionen zur Frage, ob wir verpflichtet sind, jemandem zu helfen, der
ausgepeitscht wird, im Einklang stehen. Aber ist die Arbeit der normativen Ethikerin damit
getan? Nein, Kagan zufolge sollten wir darüber hinaus darlegen können, warum ein Unterschied in der Hautfarbe moralisch relevant sein soll:
Merely having found the distinction underlying his intuitions is not sufficient to justify it.
We want to know why difference in skin color should support differential treatment. If the
slaveholder cannot offer an explanation, then the distinction hangs free of the rest of his
moral theory, and considerations of coherence give him reason to reject the distinction as
morally irrelevant, as well as repudiating the intuitions which turn on it.96
Wenn der Sklavenhalter nicht in der Lage ist, die moralische Relevanz der Unterscheidung
zwischen Schwarzen und Weissen ans Licht zu bringen, d. h. zu erklären, weshalb diese Differenz für die moralische Beurteilung unseres Handelns ins Gewicht fallen sollte, dann bleibt
es eine ungestützte Unterscheidung, auf die sich kein Moralprinzip gründen darf.
Auch Hooker ist der Meinung, dass eine moralische Überzeugung insofern durch eine andere gestützt werden kann, als sie sich aus ihr erklärt.97 Für ihn aber muss dies nicht der Fall
sein, damit seinem dritten meta-ethischen Prinzip – „Moral theories must cohere with [...] the
94
Kagan (1998), 14.
Vgl. Kagan (1989), 13f.
96
Kagan (1989), 14.
97
Vgl. Hooker (2000), 13.
95
44
moral convictions we have after careful reflection”98 – Genüge getan ist. Unsere moralischen
Überzeugungen könnten mitunter auch eigenständige Bausteine darstellen, die dank ihrer unabhängigen Glaubwürdigkeit in die beste Moraltheorie zu integrieren sind. Denn sowohl monistischen wie auch pluralistischen Ansätzen sollte es möglich sein, Kriterium (3) zu erfüllen.99 Erlaubt uns dies, einen Einwand gegen Kagans methodologische Überlegungen geltend
zu machen? Wäre es nicht seltsam, wenn die für viele offene Frage, ob ein Monismus oder ein
Pluralismus vorzuziehen ist, aufgrund methodischer Ansprüche von vornherein aus dem Weg
geräumt würde?
Dazu ist zweierlei anzumerken. Obwohl es sicherlich übertrieben wäre, sämtliche Theorien
mit pluralistischem Anstrich von vornherein zu verwerfen, ist es zum einen weniger befremdlich, als man meinen könnte, dass Kagan eine philosophische Methode verteidigt, die den
ethischen Pluralismus einem gewissen argumentativen Druck aussetzt. Je stärker eine Moraltheorie nämlich einer blossen Auflistung unserer Intuitionen ähnelt, desto weniger lässt sie
manche Tugenden einer philosophischen Theorie erkennen.100 Monistische Theorien machen
die Moral als einen einheitlichen Gegenstand verstehbar, indem sie aufzeigen, welche Zusammenhänge zwischen unseren moralischen Urteilen bestehen. Sie sind auf eine geringere
Anzahl von Annahmen angewiesen, um erklären zu können, warum unterschiedliche moralische Regeln Geltung haben. Und sie helfen uns dabei, ungelöste Fragen zu beantworten, angesichts derer wir mit schwankenden Intuitionen konfrontiert sind. Selbst Hooker ist deshalb
der Ansicht, dass wir nach einem fundamentalen Moralprinzip suchen sollten.101 Fänden wir
eines, wäre das in seinen Augen eine interessante Entdeckung. Unsere Moraltheorie würde
dadurch systematischer, informativer und nützlicher. Zutiefst pluralistische Theorien drohen
dagegen einer gewissen Beliebigkeit anheimzufallen, die Sphäre der Moral als Ganzes im
Rätselhaften zu belassen und wenig hilfreich zu sein für schwierige Konfliktfälle.
Zum anderen schliesst Kagans Methodologie, wie ich meine, nicht jeden Pluralismus aus.
Einerseits gesteht er an einer Stelle zu, dass vielleicht gezeigt werden kann, dass es verschiedene Moralprinzipien gibt, die keiner weiteren Rechtfertigung bedürfen.102 Nur sollten wir
davon nicht ausgehen, ohne ein Argument dafür anzugeben. Andererseits ist sein Umgang mit
98
Hooker (2000), 4.
Vgl. Hooker (2000), 10; zur Frage, wie der Monismus-Pluralismus-Gegensatz zu verstehen ist, siehe etwa
Hooker (2000), 105: „As I have defined ‘moral pluralism’, all moral pluralists hold that there is nothing like
rule-consequentialism or contractualism or act-consequentialism that ties together and justifies our various moral
intuitions.”
100
Siehe dazu auch Kagan (1989), 11f.
101
Siehe Hooker (2000), 19f. sowie sein viertes Kriterium zur Beurteilung von Moraltheorien: „Moral theories
should identify a fundamental principle that both (a) explains why our more specific considered moral convictions are correct and (b) justifies them from an impartial point of view.” (Hooker (2000), 4)
102
Vgl. Kagan (1989), 13.
99
45
einem anderen Einwand instruktiv, der gegen die Kritik an ungestützten Unterscheidungen
(„dangling distinctions”) vorgebracht werden könnte: Müssen nicht auch Erklärungen und
Begründungen irgendwo an ein Ende kommen? Plausibilisieren liesse sich diese Vermutung
unter Verweis auf ein bekanntes Problem aus der Erkenntnistheorie. Gemäss dem sogenannten Münchhausen-Trilemma ist der Anspruch auf Letztbegründung nicht erfüllbar, weil man
entweder (a) in einen infiniten Regress gerät, (b) einem Zirkelschluss zum Opfer fällt oder das
Begründungsverfahren (c) dogmatisch abbricht. Eine Aussage abschliessend begründen zu
wollen, ist daher unsinnig. Alles, was wir erlangen können, sind zufriedenstellende Begründungen, keine Letztbegründungen. Entsprechend akzeptiert Kagan, dass Erklärungen womöglich irgendwo enden müssen, hebt aber zugleich hervor, dass uns dies nicht dazu berechtigt,
sie bereits auf einer oberflächlichen Ebene zu verweigern.103 Auch damit scheint er die Tür für
pluralistische Ansätze zumindest einen Spalt breit zu öffnen.
Wo also liegt der entscheidende Unterschied zwischen Hookers und Kagans Methodologien? Beiden dienen unsere moralischen Überzeugungen als ein Ansatzpunkt für ihre Ethik
und beide hoffen, plausible Begründungen für sie zu finden. Inwiefern die vorgeschlagenen
Methoden indes voneinander abweichen, wird deutlich, wenn wir uns vorstellen, dass eine
Theorie, für die es gute, aber keine zwingenden Gründe gibt, gewissen wohlerwogenen moralischen Überzeugungen entgegensteht, denen wir uns sehr sicher sind. Sollen wir in diesem
Fall die Theorie oder unsere festen Überzeugungen aufgeben? Obwohl jede präzise Antwort
letztlich sowohl für Hooker als auch für Kagan von den Einzelheiten der philosophischen
Konstellation abhängen dürfte, lässt sich eine allgemeine Differenz zwischen ihren Haltungen
feststellen. Falls den Überzeugungen eine hohe unabhängige Glaubwürdigkeit („independent
credibility”) zukommt, neigt Hooker dazu, sich von der Theorie zu distanzieren: „I admit that
we are more certain of some intuitions (moral verdicts) than we are of any theory. So I admit
that, in moral theorizing our confident shared intuitions are central.”104 Zwar erachtet er sie
nicht als untrüglich, in praxi werden manche unserer wohlerwogenen moralischen Überzeugungen für ihn aber zu etwas Gegebenem, dem Moraltheorien Rechnung tragen müssen, um
akzeptabel zu sein.105
Während Hooker im Zweifelsfall unseren robusten Intuitionen den Vorrang gibt, schlägt
sich Kagan auf die Seite begründeter Theorien: „If a distinction stands isolated, or is at odds
with more firmly supported beliefs, we have grounds for rejecting it, despite its intuitive ap103
Vgl. Kagan (1989), 14.
Hooker (2000), 104.
105
Siehe dazu Kagan (1998), 13: „Some philosophers take the extreme position that certain intuitions should be
treated as givens – no theory that fails to accommodate them can possibly be acceptable.” Vgl. auch Unger
(1996), 10f.
104
46
peal.”106 Ohne Unterstützung durch Begründungen gebührt unseren Intuitionen ihm zufolge
keine tragende Rolle bei der philosophischen Rechtfertigung von Moraltheorien. Gerät eine
blosse Überzeugung darüber, was uns geboten, verboten oder erlaubt ist, in Konflikt mit einer
theoretischen Position, für die es gute Gründe gibt, ist sie aufgrund dessen zurückzuweisen.
Dass wir das starke Gefühl haben, sie sei richtig, kann allein kein hinreichender Grund dafür
sein, sie einem argumentativ gestützten Prinzip vorzuziehen. Insofern tritt Kagan für einen
potentiellen Revisionismus unserer Moral ein,107 Hooker dagegen für eine möglichst rekonstruktive Herangehensweise.
Doch wessen Auffassung ist überzeugender? Kann Brad Hookers methodologischer Ansatz
gegen die Argumente verteidigt werden, die für eine Methode sprechen, wie sie Shelly Kagan
vorschwebt? Und welche Konsequenzen hat die Beantwortung dieser Fragen im Hinblick auf
die Beurteilung der Berechtigung des Überforderungseinwands? Es gibt mindestens zwei herausfordernde Einwände gegen Hookers Standpunkt, die eine Überprüfung verdienen. Erstens
wird an der Verlässlichkeit moralischer Intuitionen gezweifelt, was die Behauptung ihrer unabhängigen Glaubwürdigkeit in ein schiefes Licht rücken und sie als beständige Bausteine der
Moralphilosophie diskreditieren soll:
(P1)
(P2)
(K)
Sich an moralischen Intuitionen zu orientieren, ist kein verlässliches Mittel der
ethischen Theoriebildung.
Wenn wir unseren Intuitionen nicht vertrauen können, dann sollte ihnen eine
moralphilosophische Methodologie im Unterschied zu Hookers Vorschlag
höchstens eine bescheidene methodische Rolle beimessen.
Also sollten wir Hookers These von der hohen unabhängigen Glaubwürdigkeit
gewisser moralischer Intuitionen widersprechen und ihnen keine bedeutende
methodische Rolle zugestehen.108
Problematisch ist dabei hauptsächlich die erste Prämisse. Denn weder die Gültigkeit des
Schlusses noch die Plausibilität der zweiten Prämisse werfen besondere Fragen auf. Mit der
Struktur des Modus Ponens ist der Schluss trivialerweise gültig und solange es methodische
Alternativen gibt, ist auch (P2) ohne Zweifel korrekt. Keine Methodenlehre sollte unsichere
Pfade empfehlen, wo es Wege gibt, die sicherer ans Ziel führen. Prämisse (P1) jedoch, der
Kern des Arguments, birgt schwerwiegende Probleme. So hat es nämlich den Anschein, als
gerieten wir bei ihrer Begründung in einen bösartigen Zirkel. Es scheint, als müssten wir
streng genommen bereits wissen, welche Moraltheorie die beste ist, um einschätzen zu können, ob unsere moralischen Intuitionen zuverlässige Führer sind. Gerade dies aber können wir
unmöglich voraussetzen, da unser Interesse an methodologischen Fragen davon herrührt, dass
106
Kagan (1989), 14.
Vgl. auch Kagan (1989), 15.
108
Argumente dieser Art finden sich etwa bei Kagan (2001), Singer (2005), Tedesco (2011) oder Braddock
(2013).
107
47
wir der Berechtigung eines Einwands gegen bestimmte Moraltheorien auf den Grund gehen
möchten. Gleichwohl gibt es aber den Verfechtern des obigen Arguments zufolge wenigstens
vier Anhaltspunkte für die Richtigkeit von (P1):
(a)
Ein erster Grund dafür, der methodischen Orientierung an moralischen Intuitionen
skeptisch gegenüberzustehen, besteht in den Uneinigkeiten, die sie vielfach offenbaren.109 Bezüglich etlicher Fälle haben verschiedene Menschen schlicht unterschiedliche Intuitionen. So ist etwa nicht damit zu rechnen, dass Befragte zu den Praktiken
der Abtreibung, der Sterbehilfe oder der Todesstrafe vollständig übereinstimmende
Intuitionen haben. Mit Blick auf solch umkämpfte Fragen von „unseren“ moralischen
Überzeugungen zu sprechen, scheint lediglich ein rhetorisches Mittel zu sein, das
über grundlegende Differenzen hinwegtäuscht. Schliesslich sind es gerade die moralischen Meinungsverschiedenheiten, welche die regen philosophischen Debatten befördern, die in den jeweiligen Bereichen der angewandten Ethik geführt werden.
(b)
Nach Peter Unger werden unsere moralischen Intuitionen zu möglichen Szenarien
überdies dadurch beeinflusst, wie die Szenarien genau gefasst werden. Variiert man
die Darstellung eines Szenarios, weichen unsere Intuitionen manchmal selbst dann
voneinander ab, wenn keine moralisch relevanten Parameter verändert werden. So
kann es zum Beispiel – wie er anhand seiner „Method of Several Options”110 demonstriert – einen Einfluss auf unsere Einschätzung der bekannten Trolley-Fälle111 haben,
ob uns ein Fall mit zwei oder einer mit vier Handlungsoptionen geschildert wird. Für
Ungers Argument sind die Beispielfälle The Heavy Skater und The Switches and
Skates zu betrachten.112 In beiden Szenarien rollt ein leerer Wagen auf sechs Unschuldige zu, die ihren Tod finden, falls wir, was unsere erste Option ist, nicht eingreifen.
Das erste Beispiel, The Heavy Skater, lässt uns nur eine zusätzliche Option: Wir haben die Möglichkeit, einen schweren Skater auf die Schienen zu lenken, um den Wagen aufzuhalten (wobei der Skater stirbt). Mit dem zweiten Beispiel, The Switches
and Skates, kommen zwei weitere Handlungsalternativen hinzu. Wir können den leeren Wagen entweder auf ein Nebengleis lenken, auf dem sich drei Personen befinden,
oder ihn mit einem anderen Wagen kollidieren lassen, was zwei Fahrgästen das Leben kostet. Doch wozu sollen solche fiktiven Finessen gut sein? Merkwürdigerweise
heissen Befragte die Opferung des Skaters, wie Unger behauptet, im Vier-Optionen-
109
Vgl. Kagan (2001), 55f.
Unger (1996), 88f.
111
Siehe dazu Foot (1978) und Thomson (1976).
112
Vgl. Unger (1996), 90f.
110
48
Fall gut, während sie sie Zwei-Optionen-Fall ablehnen. Ist diese empirische Beobachtung richtig, widersprechen sich selbst unsere eigenen Intuitionen schneller, als es uns
lieb ist. Um aber die Tragweite dieses Problems zu erkennen, muss man sich nicht
einmal näher mit den konstruierten Szenarien auseinandersetzen, sondern kann sich
auch verbreiteten Überzeugungen zur Weltarmut zuwenden. Einerseits tendieren
vermutlich viele dazu, sehr anspruchsvolle Hilfeleistungen für geboten zu halten,
wenn man sie auf die Übel der gegenwärtigen Weltlage aufmerksam macht, andererseits sind wohl dieselben Personen auch der Ansicht, dass es moralisch zulässig ist,
ein einsiedlerisches Leben zu führen.113 Miteinander vereinbar jedoch sind diese Meinungen nicht.
(c)
Weiter zeigen neurowissenschaftliche Experimente, die sich mit der funktionellen
Magnetresonanztomografie (fMRI) eines bildgebenden Verfahrens bedienen, dass
manche Trolley-Fälle – insbesondere die Fat Man-Variante, in der ein Mann von einer Brücke geworfen werden soll, damit fünf andere Person ihr Leben nicht verlieren
– primär Gehirnareale aktivieren, in denen unsere emotionalen Reaktionen vorbereitet
werden.114 Daraus muss für Singer und Tedesco eine kritische Haltung gegenüber
ethischen Methoden resultieren, die unseren Intuitionen Gewicht geben. Denn moralische Intuitionen scheinen keine wichtigen Einsichten zu transportieren, sondern vielmehr Ausdruck unserer biologischen Prägung zu sein. Weil wir früher in Kleingruppen lebten, in welchen Gewalt nur auf eine persönliche Weise – mittels Schlägen oder
Ähnlichem – ausgeübt werden konnte, haben wir emotionale Reaktionsmuster entwickelt, die uns solche Situationen intuitiv anders bewerten lassen als solche, die dieselben Ergebnisse zeitigen, aber keine persönliche Gewalt involvieren.115 Anstatt sich
indes nach einer evolutionär bedingten Gefühlswelt zu richten, die nicht auf heutige
Gegebenheiten abgestimmt ist, sollten sich Moralphilosophinnen und -philosophen
auf ihre rationalen Fähigkeiten besinnen und ihre Theorien keinesfalls auf Intuitionen
gründen.
(d)
Zuletzt argumentiert Matthew Braddock gegen die epistemische Zuverlässigkeit unserer Intuitionen zur Höhe moralischer Forderungen, indem er sie als ein Produkt un-
113
Vgl. auch Chappell (2009), 1f.: „Everyone knows that there are huge amounts of suffering in the world. Everyone knows that there are efficient charities at work which for just a few pounds can save lives. And everyone
knows that it’s far better, morally speaking, to save lives than to see a film. [...] But that brings us to another
‘Everyone knows’. Everyone knows that we have the right to lives of our own; everyone knows that we don’t do
wrong just by having families, or friends, or hobbies and interests like cinema, or restoring classic cars, or gardening.”
114
Siehe dazu Singer (2005), 341f. und 347f. sowie Tedesco (2011), 102.
115
Vgl. Singer (2005), 347f.; Singer (2011), 14.
49
verlässlicher Sozialisationsprozesse auszuweisen versucht.116 Selbst wenn unsere Sozialisation in einer nur leicht anderen Gesellschaft stattgefunden hätte, könnten wir,
so das Argument, ganz andere Überforderungsintuitionen haben. Spendeten zum Beispiel unsere Eltern deutlich mehr, empfänden wir hohe Spendenforderungen aller
Wahrscheinlichkeit nach nicht als überfordernd.117 Unsere Intuitionen zur Höhe moralischer Forderungen sind, mit anderen Worten, hochgradig kontingent. Daher können
wir den Sozialisierungsprozessen, aus denen unsere Überforderungsintuitionen hervorgehen, – im Unterschied zu sichereren Prozessen, die andere Überzeugungen begünstigen118 – nicht trauen.
Was ist von diesen Argumenten zu halten? Ohne en détail auf die Probleme aller Anhaltspunkte eingehen zu können, möchte ich kurz andeuten, welche Vorkehrungen dazu verhelfen
könnten, Hookers Position zu verteidigen. Sollen moralische Intuitionen berechtigterweise als
Fixpunkte für die Ausarbeitung von Moraltheorien fungieren, muss es sich – wie in Reaktion
auf (a) zuzugeben ist – um Intuitionen handeln, die wirklich geteilt werden und unkontrovers
sind. Ausserdem können – wie (b) und (c) verdeutlichen119 – weniger einzelne spontane Reaktionen auf geschilderte Szenarien massgebend sein, als vielmehr wohldurchdachte Haltungen,
die von emotionalen Verzerrungen befreit sind und belanglose Szenario-Variationen unbeschadet überstehen. Gegen Argument (d) ist schliesslich einzuwenden, dass es ihm aus zwei
Gründen an durchschlagender Plausibilität mangelt. Zum einen scheinen, wie sogar Braddock
zugesteht,120 nicht alle unsere Überforderungsintuitionen hochgradig kontingent zu sein. Zum
anderen fragt es sich, ob wir durch leichte, aber gezielte Veränderungen von Sozialisationsprozessen nicht ausgesprochen viele unserer wahren Überzeugungen verlieren würden. Trotzdem kann (d) aber als ein weiterer Hinweis dafür aufgefasst werden, dass sich allerhöchstens
stabile Intuitionen als Korrektiv gegen theoretische Auswüchse eignen.
Ist es ausgeschlossen, den aus (a), (b), (c) und (d) abgeleiteten Bedingungen gerecht werden
zu können? Nein, mit den Überlegungen in 2.1., 2.2. und 2.3. wurden bereits erste Schritte
unternommen, die zu ihrer Erfüllung beitragen. Obwohl die vier genannten Anhaltspunkte
also für sich genommen nicht zwingend sind, vermögen sie gewisse Zweifel an der Verlässlichkeit moralischer Intuitionen zu säen. Denn was garantiert uns, dass unsere konstanten In116
Vgl. Braddock (2013), 174f.
Vgl. Braddock (2013), 176 und 178.
118
Vgl. Braddock (2013), 178: „The argument is not the silly one that our demandingness intuitions are unreliable because they are the products of socialization. After all, all moral intuitions are more or less the products of
socialization.” – Sowohl die Argumentation von Braddock als auch diejenige von Tedesco, Singer, Unger und
Kagan ist komplexer, als sie unter (a), (b), (c) und (d) dargestellt wird. Für meine Zwecke ist es aber ausreichend, eine Auswahl zentraler Argumente zur Kenntnis zu bringen.
119
Vgl. jedoch dazu auch die Kritik von Mulgan (2001), 30f.
120
Vgl. Braddock (2013), 182.
117
50
tuitionen nicht auf kulturell oder evolutionär bedingten Vorurteilen beruhen und die intraoder interpersonellen Widersprüche, die sich daraus ergeben, nicht verbreiteter, systematischer und tiefgreifender sind, als es den Anschein macht? Hinzu kommt, dass sich ein weiterer Einwand gegen Hookers Auffassung aufdrängt.
Zweitens kann man der Position einer strikten Intuitionen-Priorität nämlich entgegenhalten,
dass sie nur einem Teil unserer vernünftigen Diskussionspraxis entspricht. Zwar ist es auf der
einen Seite verbreitet, sowohl Moralprinzipien als auch -theorien anhand unserer moralischen
Überzeugungen zu verfeinern und zu testen.121 Darauf fokussiert Hooker, wenn er Fälle, in
denen geteilte Intuitionen und theoretische Implikationen auseinanderklaffen, konsequent als
Gegenbeispiele für Theorievorschläge akzeptiert. Auf der anderen Seite ist es aber ebenso
üblich, geäusserte moralische Überzeugungen nicht bloss wie Axiome zur Kenntnis zu nehmen, sondern mit „Warum?“-Fragen zu konfrontieren. Gleichgültig, ob die folgenden Behauptungen die Kriterien für wohlerwogene moralische Überzeugungen erfüllen oder nicht,
interessieren wir uns – ähnlich wie bei vielen anderen Aussagen auch – dafür, aus welchen
Gründen sie zutreffen sollen: „Freunden schulden wir Loyalität“, „Versprechen sollte man
halten“, „Abtreibung ist verwerflich“, „Staaten dürfen Einwanderungswillige abhalten“,
„Sterbehilfe ist moralisch unproblematisch“ oder „Terroristen dürfen getötet werden“. Antwortete jemand auf eine entsprechende Frage, dass es sich hierbei um geteilte moralische Intuitionen handle, wären wir zu Recht erstaunt. Unabhängig davon, ob wir derselben Überzeugung sind oder nicht, erwarten wir, wie auch Kagans Sklavenhalter-Beispiel deutlich macht,
eine andere Art von Begründung – eine, die spezifiziert, woran es weshalb liegt, dass eine
thematisierte Handlungsweise zulässig oder unzulässig ist. Diesen Umstand berücksichtigt
Hooker nicht in angemessener Weise. Denn eine Suche nach einer unparteilichen Rechtfertigung, wie er sie mit seinem vierten Kriterium zur Beurteilung von Moraltheorien fordert,122
verliert bis zu einem gewissen Grad ihren Sinn, wenn sie jederzeit mit dem Verweis auf eine
starke Affinität zu einer Behauptung abgebrochen werden kann.123
Aufgrund der beiden dargestellten Einwände drohen Hookers methodologische Voraussetzungen sich als irrig herauszustellen. Zum einen ist nicht klar, inwieweit wir unseren moralischen Intuitionen trauen können und zum anderen scheint es nicht mit unserer in verschiedenen Wissensgebieten anerkannten und bewährten Rechtfertigungspraxis vereinbar zu sein, sie
als Endpunkte einer Diskussion aufzufassen: „In mathematics, the natural sciences, and other
branches of philosophy, finding a conclusion intuitively repugnant does not close an argu121
Vgl. Kagan (2001), 44f.
Vgl. Hooker (2000), 4.
123
Siehe z. B. Hooker (2000), 27.
122
51
ment; it is a reason to start looking for a good argument.”124 Jeder Berufung auf moralische
Intuitionen haftet daher – ohne zusätzliche Begründung – etwas Problematisches an. Weil es
aber trotzdem schwer vorstellbar ist, dass wir vollständig darauf verzichten können, uns daran
zu orientieren, wie gut Theorievorschläge mit unseren wohlerwogenen Überzeugungen harmonieren,125 und die Rolle, welche theoretische Rechtfertigungen in der Moralphilosophie
spielen können, nicht restlos geklärt ist, sollten wir uns meines Erachtens – zumindest einstweilen – mit einem wenig ambitiösen Mittelweg anfreunden, der die vier Thesen (M1) bis
(M4) umfasst:
(M1)
(M2)
(M3)
(M4)
Es spricht für eine Moraltheorie, wenn sie mit unseren wohlerwogenen Überzeugungen im Einklang steht.
Es spricht gegen eine Moraltheorie, wenn sie nicht mit unseren wohlerwogenen
Überzeugungen im Einklang steht.
Es spricht für eine Moraltheorie, wenn sie keine ungestützten Unterscheidungen
zulässt.
Es spricht gegen eine Moraltheorie, wenn sie ungestützte Unterscheidungen zulässt.
Dabei nehmen (M1) und (M2) gewisse Aspekte von Hookers intuitionenbasierter Ansicht auf,
während (M3) und (M4) als Erbe von Kagans Kritik an ethischen Methoden gelten müssen,
die auf unsere moralischen Intuitionen bauen. Zusammen machen die vier Thesen den Weg
frei für schwierige Abwägungen zwischen konfligierenden pro tanto-Gründen126 für respektive gegen unterschiedliche Moraltheorien. Falls eine beliebige Theorie T beispielsweise keine
einzige ungestützte Unterscheidung beinhaltet, aber einer oder mehrerer unserer robusten moralischen Überzeugungen widerspricht, dann haben wir – (M3) entsprechend – einen Grund, T
für adäquat zu halten, und – (M2) entsprechend – zugleich einen Grund, T für inadäquat zu
halten. Wollen wir wissen, ob Theorie T oder eine andere Moraltheorie, die vielleicht ein
Exempel für die Thesen (M1) und (M4) abgibt, angemessen ist, dann müssen wir eine Abwägung zwischen diesen beiden Gründen vornehmen.
Im Hinblick auf die Evaluation der Berechtigung des Überforderungseinwands ist daraus zu
schliessen, dass dem Einwand, falls er den Unterabschnitten 2.4. und 3.1. gemäss verstanden
124
Griffin (1986), 2.
Vgl. Kagan (2001), 62f. und Mulgan (2001), 20; selbst Singer erwägt, zwischen zwei Arten von Intuitionen
zu unterscheiden und einer davon eine gewichtige methodische Rolle zuzubilligen: „Thus the “intuition” that
tells us that the death of one person is a lesser tragedy than the death of five is not like the intuitions that tell us
we may throw the switch, but not push the stranger off the footbridge. It may be closer to the truth to say that it
is a rational intuition, something like the three “ethical axioms” or “intuitive propositions of real clearness and
certainty” to which Henry Sidgwick appeals in his defense of utilitarianism in The Methods of Ethics.” (Singer
(2005), 350f.)
126
Vgl. zum Ausdruck „pro tanto-Grund“ z. B. Kagan (1989), 17: „A pro tanto reason has genuine weight, but
nonetheless may be outweighed by other considerations. Thus, calling a reason a pro tanto reason is to be distinguished from calling it a prima facie reason, which I take to involve an epistemological qualification: a prima
facie reason appears to be a reason, but may actually not be a reason at all, or may not have weight in all cases it
appears to. In contrast, a pro tanto reason is a genuine reason – with actual weight – but it may not be a decisive
one in various cases.”
125
52
wird, auf jeden Fall ein gewisses Gewicht zukommt. Denn nach (M2) stellt es einen pro tanto-Grund gegen eine Moraltheorie dar, wenn sie unseren wohlerwogenen Überforderungsintuitionen nicht entspricht. Theorien, die uns nicht überfordernd dünken, sind Theorien, die zu
anspruchsvoll anmuten, ceteris paribus vorzuziehen. Ebenso klar ist jedoch, dass der Überforderungseinwand unter Umständen von einem (M3)- oder einem (M4)-Argument überwogen wird. Eine Moraltheorie, die unsere Überforderungsintuitionen nicht berücksichtigt,
könnte – alles in allem – dennoch adäquater sein als eine Theorie, die mit unseren Intuitionen
zur legitimen Höhe moralischer Forderungen übereinstimmt. Deshalb ist im nächsten Abschnitt zu prüfen, ob sich die Gefahr eines (M3)- oder (M4)-Einwands beseitigen lässt.
53
4. Auf der Suche nach einer Begründung
Im Anschluss an Überlegungen von Thomas Nagel hat sich insbesondere Samuel Scheffler
darum bemüht, eine tiefer gehende philosophische Rechtfertigung für die systematische Begrenzung moralischer Forderungen zu finden, welche mit dem Überforderungseinwand postuliert wird. In seinen einflussreichen Monografien The Rejection of Consequentialism und Human Morality entfaltet er vielversprechende Argumente für ein Prärogativ des Handelnden
(„agent-centred prerogative”) einerseits sowie für eine moderate Moral („moderate morality“)
andererseits.127 Weil der Überforderungseinwand dadurch argumentativ fundiert werden könnte, müssen sich sowohl seine Verfechter wie auch seine Gegner für die Ausführungen Schefflers interessieren.128 Aufgrund dessen ist nun zunächst darzulegen, wie und wofür Scheffler in
seinen beiden Texten genau argumentiert (4.1.). Daraufhin soll seine Argumentationsstrategie
kritisch betrachtet und erweitert werden (4.2.).
4.1. Schefflers menschliche Moral
Der erste Unterabschnitt des vierten Abschnitts verfolgt drei miteinander verbundene Ziele.
Erstens ist zu klären, welche Auffassung Scheffler mit seiner These von der moderaten Moral
vertritt. Zweitens soll verdeutlicht werden, wie er für diese Position argumentiert. Und drittens ist einsichtig zu machen, welcher Zusammenhang zwischen Schefflers Auffassung, seinen Argumenten und dem Überforderungseinwand besteht.
Was versteht Scheffler unter der These, dass die Moral nicht rigide („stringent“), sondern
moderat („moderate“) ist? Eine moderate Moral weist, wie er in Human Morality ausführt,
zwei Merkmale auf: Zum einen erlaubt sie den Menschen unter günstigen Bedingungen, innerhalb ziemlich weiter Grenzen zu tun, was sie wollen, und zum anderen stellt sie gleichwohl Forderungen und erlegt ihnen Beschränkungen auf, indem sie manches verbietet, anderes verlangt und Handelnden Kosten aufbürdet.129 Damit positioniert er die moderate Moralkonzeption zwischen zwei Extremen: „between the view that morality and self-interest ultimately coincide, and the view that they are diametrically opposed.”130 Das erste Merkmal unterscheidet eine moderate von einer rigiden Moral, die ausgesprochen fordernd ist und andau-
127
Vgl. Scheffler (1994a) und Scheffler (1992).
Daneben gibt es weitere theoretische Ansätze, die vergleichbare Positionen stützen und eine kritische Auseinandersetzung verdienten, aber aufgrund der Kürze der vorliegenden Arbeit nicht näher untersucht werden können (vgl. z. B. Fishkin (1982); Slote (1985); Nagel (1991); Mulgan (2001); Cullity (2004); Cullity (2009)).
Selbst wenn Schefflers Argumentation nicht verfängt, lässt sich also möglicherweise ein theoretische Fundierung
des Überforderungseinwands finden.
129
Vgl. Scheffler (1992), 100.
130
Scheffler (1992), 4.
128
54
ernd mit unserem Eigeninteresse in Konflikt gerät.131 Mit der Nennung des zweiten Merkmals
grenzt er die These der moderaten Moral von minimalistischen Positionen ab, denen zufolge
sich moralische Forderungen etwa mit den Forderungen der rationalen Befriedigung eigener
Interessen decken und Handelnden keine Nettokosten auferlegen.132 Ist die Moral tatsächlich
moderat, kann sich ihre Beachtung unter ungünstigen Bedingungen sogar als äusserst kostspielig erweisen.
Scheffler ist demnach der Meinung, dass der moralische Standpunkt und der Standpunkt
einzelner Akteure in einem Verhältnis zueinander stehen, das als eines der potentiellen Kongruenz („potential congruence”) beschreibbar ist. Dabei verknüpft er diese Auffassung mit
den folgenden drei Vorstellungen.133 Erstens: Obwohl moralische Anliegen nicht immer auf
die Interessen der Handelnden abgestimmt sind, müssen sich die Normen der Moral auf eine
stimmige und attraktive Weise in ein menschliches Leben integrieren lassen. Moralische
Normen dienen dazu, menschliches Handeln zu regulieren, und ihr möglicher Gehalt wird
durch diese regulative Rolle beschränkt. Zweitens: Der unbestreitbaren Intensität eigennütziger Motive zum Trotz, können Menschen auch starke Motivationen entwickeln, die für moralische Erwägungen empfänglich sind. Diese Motivationen gestalten ihrerseits die Interessen
derer mit, die sie besitzen, und sorgen dafür, dass sich das Ausmass des Konflikts zwischen
der Moral und unserem Eigeninteresse verringert. Drittens: Eine möglichst hohe Übereinstimmung zu erreichen zwischen den Anforderungen der Moral und dem, was unsere motivationalen Ressourcen hergeben, ist weitgehend eine praktische gesellschaftliche Aufgabe, die
wir meistern können. Denn was moralisch gefordert ist, hängt vom Zustand der Welt ab,
wozu Menschen motiviert sind, hängt von ihrer Sozialisation ab, und diese beiden Faktoren
sind wiederum von der institutionellen Struktur und dem Funktionieren einer Gesellschaft
abhängig. Insofern bilden eigene Interessen und moralische Forderungen nach Scheffler keinen markanten Gegensatz, sondern kongruieren potentiell: Die moralische Perspektive und
die Perspektive der einzelnen Handelnden lassen sich miteinander versöhnen.
Die Theorie aus seinem früheren Werk The Rejection of Consequentialism, die – wie konsequentialistische Ansätze – keine deontologischen Schranken („agent-centred restrictions”)
umfasst,134 aber – im Unterschied zum klassischen Utilitarismus – ein Prärogativ für Handeln-
131
Siehe dazu Scheffler (1992), 6, 26 und 100.
Vgl. Scheffler (1992), 100.
133
Vgl. dazu Scheffler (1992), 4; Scheffler (2008), 118.
134
Vgl. zum Ausdruck „agent-centred restrictions” Scheffler (1994a), 80: „Agent-centred restrictions [...] are
restrictions on action which have the effect of denying that there is any non-agent-relative principle for ranking
overall states of affairs such that it is always permissible to produce the best available state of affairs so construed.” Siehe auch Kagan (1989), 4, der „agent-centered constraints“ als Teil der Alltagsmoral erkennt: „The
132
55
de („agent-centred prerogative”) beinhaltet, kann als ein Beispiel für eine Moraltheorie interpretiert werden, die den moderaten Charakter der Moral widerspiegeln soll. Anstelle der aussergewöhnlich hohen Anforderungen eines maximierenden Utilitarismus sorgt das akteurszentrierte Prärogativ nämlich innerhalb eines konsequentialistischen Rahmens für weniger
anspruchsvolle Forderungen. Es erlaubt Handelnden, ihren eigenen Interessen bei der Beurteilung dessen, was moralisch geboten ist, ein grösseres Gewicht beizumessen als den Interessen
anderer:
Suppose, in other words, that each agent were allowed to give M times more weight to his
own interests than to the interests of anyone else. This would mean that an agent was
permitted to perform his preferred act (call it P), provided that there was no alternative A
open to him, such that (1) A would produce a better overall outcome than P, as judged
from an impersonal standpoint which gives equal weight to everyone’s interests, and (2)
the total net loss to others of his doing P rather than A was more than M times as great as
the net loss to him of doing A rather than P.135
Ist dieser Vorschlag richtig, kommt uns das moralische Privileg zu, sämtliche Handlungen
ausführen zu dürfen, welche – verglichen mit der aus konsequentialistischer Sicht optimalen
Handlung – mindestens M mal besser für uns sind, als sie für andere schlechter sind. Es ist
uns gestattet, den Wert unserer eigenen Interessen mit einem Faktor M zu multiplizieren, dessen Höhe noch zu bestimmen wäre. Damit macht Scheffler die Einteilung möglicher Handlungen in zulässige und unzulässige von zwei Aspekten abhängig: von der Menge an Gutem,
das man hervorbringen könnte, und von der Grösse des Opfers, das man dazu erbringen müsste. Sein erklärtes Ziel ist es dabei, unter anderem zu verhindern, dass die resultierende Theorie
unhaltbar anspruchsvoll wird. Übermässig kostspielige oder belastende Handlungen sollen
uns daher nicht moralisch geboten sein.136
Aus welchen Gründen aber ist die Moral in Schefflers Augen überhaupt moderat und nicht
rigid? Die Uneinigkeit darüber, welcher dieser beiden Optionen der Vorzug gebührt, wurzelt
seiner Ansicht nach in einem Konflikt zwischen zwei unterschiedlichen Idealen der Moral,
die er „Ideal der Reinheit“ („Ideal of Purity”) und „Ideal der Menschlichkeit“ („Ideal of Humanity”) nennt.137 Wer die moralische Perspektive insofern als eine reine Perspektive versteht,
als ihr ausschliesslich spezifische Überlegungen angehören, die scharf vom Standpunkt der
Interessen einzelner Handelnder abzugrenzen sind, der wird die Moral für rigide halten. Theoretische Massnahmen wie die Einführung von akteurszentrierten Prärogativen, die zum
second broad feature of ordinary morality is that it lays down certain strict limits on our actions – forbidding
various types of acts even if the best consequences overall could be achieved only by performing such an act.”
135
Scheffler (1994b), 169; vgl. Scheffler (1994a), 20 und Kagan (1989), 3f., der auch „agent-centered options“
als Teil unserer Alltagsmoral begreift: „Many acts which would lead to the best results overall nonetheless are
not required of us by ordinary morality, typically because the sacrifice would be too great to demand it of us.”
136
Vgl. Scheffler (1994a), 20.
137
Siehe dazu Scheffler (1992), 6 und vor allem 101f.
56
Schutz dessen installiert werden, was den Handelnden selbst wichtig ist, müssen aus der Sicht
von Befürwortern des Ideals der Reinheit als eine Verwässerung des unverwechselbaren moralischen Kerns einer ethischen Haltung erscheinen. Die altruistische Essenz einer Theorie
läuft, so die Meinung, Gefahr von egoistischen Tendenzen zersetzt zu werden. Wer die moralische Perspektive hingegen insofern als eine menschliche Perspektive begreift, als sich der
einzelne Akteur idealerweise mit ihr identifizieren kann, für den wird die Moral moderat sein:
„The claim of moderation grows out of an ideal according to which morality is, from the
standpoint of the individual agent, fundamentally a reasonable and humane phenomenon, despite the demands that it makes.” 138 Moralische Normen dienen, wie die Vertreter des
Menschlichkeitsideals argumentieren, in erster Linie dazu, das Verhalten von Menschen zu
regeln. Sie sollten deshalb auf eine stimmige und attraktive Weise in das Leben eines einzelnen Akteurs eingebettet werden können, woraus sich wesentliche Vorbedingungen für die
Bestimmung ihres Gehalts ableiten. Die Funktion, welche die Moral für uns erfüllen soll, gibt
der Diskussion um ihren Inhalt also – wenn wir dem Ideal der Menschlichkeit folgen – gewisse Parameter vor.
Für Scheffler hängt die Richtigkeit der Entscheidung darüber, ob die Moral als rigide oder
als moderat aufgefasst werden soll, folglich davon ab, welches der beiden fundamentalen Moralverständnisse sachgemäss ist. Infolgedessen wendet er sich einerseits gegen zwei verbreitete Argumentationsstrategien, mit denen das Reinheitsideal verteidigt wird, und bringt andererseits ein Argument für das Menschlichkeitsideal vor. Um Schefflers Position sorgfältig überdenken zu können, sind zunächst sowohl die negative als auch die positive Komponente seiner Apologie der moderaten Moral zu beleuchten. Die beiden Strategien zur Verteidigung der
Reinheitsvorstellung, die in Human Morality kritisiert werden, lassen sich folgendermassen
auf den Punkt bringen:
(1)
(2)
Nimmt man gewisse unstrittige Eigenschaften moralischer Urteile – wie ihre Universalisierbarkeit (a) oder ihre Unparteilichkeit (b) – ernst, ist man gezwungen die
These von der Reinheit der Moral zu akzeptieren.
Das übliche Verständnis der Natur der Moral, wie es der alltägliche Gebrauch unserer moralischen Sprache sowie unser Umgang mit moralischen Begriffe reflektieren, legt nahe, die Reinheitsthese und nicht die Menschlichkeitsthese gutzuheissen.139
Wenn man sich mit der ersten Strategie (a) auf die formale Eigenschaft der Universalisierbarkeit konzentriert, dann liegt ihr nach Scheffler eine logische Verwirrung zugrunde. Auch
akteurszentrierte Prärogative und andere akteursrelative Prinzipien werden für gewöhnlich so
formuliert, dass sie, formallogisch ausgedrückt, über alle moralischen Subjekte quantifizieren
138
139
Scheffler (1992), 6.
Vgl. Scheffler (1992), 102; siehe dazu auch Singer (2011), 11f.
57
und entsprechend für alle gleichermassen gelten. Sie enthalten in aller Regel keine Individuenkonstanten („a, b, c,...“), sondern nur durch All- oder Existenzquantoren gebundene Individuenvariablen („x, y, z,...“), d. h. sie enthalten keine Symbole, die für bestimmte Gegenstände
stehen, sondern nur Symbole, die als Leerstellen Ersatz für beliebige Gegenstände derselben
Kategorie sind.140 Deswegen sind die moralischen Urteile, die sich aus moderaten Moralkonzeptionen ergeben, genauso universalisierbar wie die moralischen Urteile, die rigiden Moralkonzeptionen entstammen.
Nimmt ein Anhänger der ersten Argumentationsstrategie aber (b) die Eigenschaft der Unparteilichkeit zum Ausgangspunkt, ist sie Scheffler zufolge ebenfalls zum Scheitern verurteilt.
Denn es gibt keine Spielart der Unparteilichkeit, die unstrittigerweise als Charakteristikum
der Moral gilt und zugleich ihre Reinheit impliziert: „No truly uncontroversial property of
morality implies that it is stringent. And no property that implies that it is stringent can be
uncontroversially ascribed to it.”141 Entweder ist die Unparteilichkeitsauffassung, für die man
sich, um eine Äquivokation zu vermeiden, entscheidet,142 also, mit anderen Worten, zu stark
oder zu schwach: Entweder ist sie derart gehaltvoll, dass sie nicht länger unstrittig ist, oder sie
ist derart gehaltlos, dass sich die Reinheitsthese nicht mehr aus ihr ergibt.
Die zweite Strategie beruft sich darauf, dass moralische Überlegungen typischerweise Erwägungen sind, die mit Überlegungen kontrastieren, welche auf den persönlichen Vorteil
ausgerichtet sind.143 Wenn jemand Raum lässt für moralische Gedanken, dann stellt er eigene
Interessen etwa zugunsten von Fairnessaspekten, Rechtsansprüchen oder Gleichheitsvorstellungen zurück. Wer sich moralisch verhält, der verhält sich, so das Argument, selbstlos und
nicht eigennützig, altruistisch und nicht egoistisch. Die Tatsache, dass dieser Gegensatz tief in
unserer moralischen Sprache verankert ist, weist drauf hin, dass das alltägliche Verständnis
der Moral dem Reinheitsideal näher steht als dem Menschlichkeitsideal. Ist die zweite Argumentationsstrategie plausibler als die erste? Wenn wir Scheffler Glauben schenken, dann ist
sie aus drei Gründen nicht überzeugend. Selbst wenn es zuträfe, dass die Moral normalerweise so verstanden wird, dass sie nur aus Forderungen besteht, die unserem Eigeninteresse
entgegenlaufen, wäre erstens noch nicht geklärt, wie schwierig oder kostspielig es gemäss
dem Common Sense ist, diese Forderungen zu erfüllen. Zweitens gehört es auch zu unserem
Verständnis der Moral, dass erlaubt oder zulässig ist, was weder geboten noch verboten ist.
Das moralische Vokabular, das wir verwenden, ist komplexer, als es der simple Gegensatz
140
Vgl. Hare (1981), 140 sowie Scheffler (1992), 104.
Scheffler (1992), 110.
142
Vgl. dazu Scheffler (1992), 109.
143
Siehe Scheffler (1992), 111f.
141
58
zwischen altruistischen und egoistischen Verhaltensweisen suggeriert. Und drittens ist auch
die Überzeugung, dass uns relativ weitreichende Erlaubnisse gestatten, eigene Projekte und
Pläne zu verwirklichen, ein fester Teil unseres moralischen Denkens:
For even if what are paradigmatically thought of as moral considerations do not include
“personal” considerations, the fact remains that many people who devote more attention
to their own projects and plans than a stringent morality would allow nevertheless regard
themselves as morally justified in so doing.144
Weshalb Scheffler die argumentativen Strategien (1) und (2), die zur Verteidigung des moralischen Ideals der Reinheit gedacht sind, für fehlgeleitet hält, ist damit klar. Wichtiger für die
vorliegende Untersuchung ist jedoch das positive Argument, das er für das Ideal der Menschlichkeit und die moderate Moral vorbringt.145
Wie also lässt sich die vertrackte Argumentation aus dem zentralen Kapitel „The Case for
Moderation“ interpretieren und zur „Purity“-„Humanity“-Differenz in Beziehung setzen?
Ausgehend von der Frage, welches Gewicht Handelnde ihren eigenen Interessen – gemäss der
moralischen Perspektive – beimessen dürfen, kontrastiert Scheffler einen konsequent unpersönlichen Ansatz („impersonal construal”) mit einer hybriden Auffassung („alternative construal“), die zwischen der Neutralität des unpersönlichen Standpunkts und den persönlichen
Standpunkten einzelner Akteure zu vermitteln versucht.146 Während der unpersönliche Ansatz
Handelnden keine besonderen Vorrechte zugesteht und sie dazu anhält, eigene Interessen
gleich zu gewichten wie fremde, ist es das Kennzeichen der hybriden Auffassung, den folgenden beiden Thesen gleichermassen Rechnung zu tragen:
(A)
(B)
Aus einer unpersönlichen Perspektive kommt dem Leben aller Menschen derselbe
Wert und den Interessen aller Menschen dieselbe Bedeutung zu.
Für alle Menschen haben ihre eigenen Interessen gleichwohl eine Bedeutung, die
diejenige übersteigt, welche ihren Interessen von unpersönlicher Warte aus zukommt.147
Im Gegensatz zu den Anhängern einer unpersönlichen Moral, welche ausschliesslich der Behauptung (A) Beachtung schenken, wollen die Vertreter des hybriden Ansatzes die Thesen
(A) und (B) miteinbeziehen. Die Moral kalkuliert für sie nicht nur den unpersönlichen Wert
144
Scheffler (1992), 112.
Vgl. Scheffler (1992), 115f.
146
Der Terminus „hybrid“ ist daher treffender als Schefflers inhaltsleerer Ausdruck „alternative”. Meine abweichende Wortwahl setzt aber voraus, dass man sich bewusst macht, dass die damit bezeichnete Auffassung nicht
mit der hybriden Theorie („hybrid theory”) zu verwechseln ist, die Scheffler in The Rejection of Consequentialism entfaltet (siehe Scheffler (1994a); vgl. dazu auch Scheffler (1992), 121: „Thus, in particular, I am not arguing here for a hybrid theory of the type described in The Rejection of Consequentialism.”).
147
Vgl. Scheffler (1992), 122, 123 und 126; siehe zur Einbeziehung des persönlichen Standpunkts auch Scheffler (1994a). Vgl. auch Griffin (1993), 174: „One has to strike a balance between our desire for individual flourishing and our attraction to impartial benevolence. [...] The principle of impartial benevolence may animate the
content of morality, but so indirectly and so incompletely that it is, I think, better to regard it merely as an important influence and not as the criterion of right and wrong.”
145
59
anderer ein, sondern auch die überproportionale Wichtigkeit, die unser eigenes Leben und
unsere eigenen Interessen naturgemäss für uns haben.
Doch weshalb trifft Scheffler diese weitere Unterscheidung? Indem er den unpersönlichen
Ansatz der hybriden Ausgestaltung der moralischen Perspektive gegenüberstellt, vertieft er,
wie ich meine, den Kontrast zwischen dem Ideal der Reinheit und dem Ideal der Menschlichkeit. Mit seiner Beschreibung der beiden Ansichten konkretisiert er nämlich, aufgrund der
Berücksichtigung respektive Nichtberücksichtigung welches Faktors sich die Differenz zwischen den beiden Idealen plausiblerweise ergibt: Ausschlaggebend für ihre Divergenz ist, dass
nicht alle Moraltheorien die besondere Bedeutung berücksichtigen, die die Interessen von
Handelnden für sie selbst haben. Das Menschlichkeitsideal der Moral verspricht, diesem Faktor das ihm gebührende Gewicht zu geben, das Reinheitsideal dagegen speist sich einzig aus
(A)-Überlegungen. Entsprechend lässt sich auch der Unterschied zwischen einer rigiden und
einer moderaten Moralkonzeption unter Rückgriff auf die „impersonal“-„alternative“Unterscheidung erklären. So spiegeln die beiden Wesensmerkmale der moderaten Moral eine
hybride Auffassung wider, welche sowohl die These (A) und als auch die These (B) einbindet. Denn aus (A) resultieren anspruchsvolle moralische Forderungen,148 (B) aber legt nahe,
den Handelnden trotzdem beträchtliche Freiräume zuzugestehen.149
Aufgrund dessen wird klar, dass der Vorschlag der moderaten Moral nicht völlig aus der
Luft gegriffen ist, sondern mithilfe der hybriden Auffassung gestützt werden kann, die konkrete Faktoren als moralisch relevant behauptet. Allerdings ist nach Scheffler auch der konkurrierende unpersönliche Ansatz verwurzelt in unserem Denken über die Moral.150 Moralische Haltungen und Verhaltensweisen werden zuweilen als eine Form der radikalen SelbstTranszendenz („self-transcendence“) verstanden, die mit einer Loslösung von unserer natürlichen Selbstliebe verbunden ist: „The moral point of view, according to this strand of thought,
is a standpoint that one attains by renouncing any distinctive attachment to oneself, and by
acting instead from a thoroughly selfless concern for all.”151 Der hybriden Auffassung liegt
demgegenüber eine zweite wichtige Vorstellung über die Moral zugrunde, die Scheffler zufolge letztlich den Vorrang gegenüber der Idee der Selbsttranszendenz geniesst: die Vorstellung, dass uns die Moral eine elementare Form der persönlichen Integration („personal inte148
Vgl. dazu das zweite Merkmal der moderaten Moral: „The second point is that morality does nevertheless
make demands and impose constraints: it prohibits some things, requires others, and imposes costs – sometimes
very great costs – on agents.” (Scheffler (1992), 100)
149
Vgl. dazu das erste Merkmal der moderaten Moral: „The first is that, under favorable conditions, morality
permits people to do as they please within certain broad limits, and that it therefore lacks stringency.” (Scheffler
(1992), 100)
150
Siehe dazu Scheffler (1992), 120f.
151
Scheffler (1992), 120.
60
gration”) ermöglicht.152 Demgemäss ist es für viele eine realistische Möglichkeit, moralisch
anständige Menschen zu werden, die einerseits den gleichen Wert anderer respektieren und
andererseits ihrem natürlichen Anliegen nachgehen, ein erfülltes Leben zu leben. Die Moral
bietet uns – durch ihre Zusammenführung von (A)- und (B)-Gesichtspunkten – die Chance,
zwei unterschiedliche Motivationstendenzen miteinander zu verbinden, die beide charakteristisch sind für menschliche Wesen. Insofern stellt es eines ihrer entscheidenden Merkmale dar,
dass sie normalen Akteuren motivational zugänglich ist: „[...] living morally is a serious if not
always easy option for normally constituted agents under reasonably favorable conditions.”153
Dabei ist jedoch zu beachten, dass Scheffler diese Eigenschaft nicht als ein blosses Zugeständnis der Moral an die motivationalen Realitäten von menschlichen Mängelwesen verstanden wissen möchte.154 Es ist in seinen Augen nicht zutreffend, einem Anhänger des Menschlichkeitsideals zu unterstellen, dass er feststehende moralische Anforderungen nachträglich
aufgrund von Unvollkommenheiten der menschlichen Natur reduziert. Wer das Menschlichkeitsideal vertritt, optiert keineswegs für die zweitbeste, sondern für die beste Moral. Denn
gemäss der hybriden Position ist die Moral als ein System zur Regelung menschlichen Handelns von Beginn weg auf uns Menschen – mit unseren menschlichen Zielen und Interessen –
bezogen. Als Verkörperung eines Ideals der Menschlichkeit kann die hybride Auffassung, die
zwischen dem persönlichen und dem unpersönlichen Standpunkt vermittelt, folgerichtig aus
zwei Gründen gelten: Erstens weist sie – qua (B)-Anerkennung – eine übermässige Abstraktion von den Bedingungen zurück, denen die menschliche Handlungsfähigkeit unterliegt, und
zweitens verleiht sie – qua (A)-Anerkennung – einer normativen Auffassung dessen, was es
heisst, ein Mensch zu sein, Ausdruck: Um unsere Menschlichkeit nicht zu verlieren, müssen
wir den Eigenwert anderer Individuen achten.155
Warum aber soll die Idee der persönlichen Integration, die mit der hybriden Auffassung
einhergeht, diejenige der Selbst-Transzendenz, die den unpersönlichen Ansatz begleitet, übertrumpfen und der moderaten Moralkonzeption zu einem argumentativen Durchbruch gegenüber ihrem rigiden Kontrahenten verhelfen? Scheffler ist der Ansicht, dass erstere tiefer verwurzelt ist in unserem Denken über die Moral und der dominanten Realität unserer moralischen Praxis besser entspricht.156 Begreifen wir moralisches Handeln als eine Form der radika-
152
Vgl. Scheffler (1992), 124f.; Scheffler (2008), 122.
Scheffler (1992), 125.
154
Siehe Scheffler (1992), 125; Scheffler (2008), 119.
155
Vgl. Scheffler (1992), 125f.
156
Vgl. Scheffler (1992), 128f. Ausserdem besteht eine gewisse Asymmetrie hinsichtlich der Eignung der beiden
Vorschläge, die Vorzüge des je anderen wenigstens teilweise zu imitieren: Die hybride Auffassung kann die Idee
der Selbst-Transzendenz besser eingliedern als der unpersönliche Ansatz die Idee der persönlichen Integration.
153
61
len Selbst-Transzendenz, die für viele unerreichbar bleiben dürfte, können wir die Rolle, welche die Moral in unserem Leben spielt, nicht angemessen erfassen. Moralische Überzeugungen prägen – unabhängig davon, ob sie Teil einer expliziten Erwägung sind – unsere Eindrücke, Emotionen, Reaktionen, Beziehungen und Überlegungen sowie unsere Interessen und
Ambitionen. Auf mannigfache Weise durchziehen sie das tägliche Leben, strukturieren zwischenmenschliche Motivations- und Handlungsmuster und tragen zur Bestimmung dessen bei,
wer wir sind. Dass die Moral für unser Leben eine integrative Funktion ausübt, ist insofern
nicht bloss etwas, das einen abstrakten Reiz für uns hat: „[...] moral beliefs and concerns actually do help to shape integrated lives.”157 Indem wir uns moralische Normen zu eigen machen, kann es uns gelingen, unseren Respekt für den Wert anderer Menschen auf der einen
Seite und unser natürliches Interesse an einem erfüllten Leben mit eigenen Projekten und
Verbindlichkeiten auf der andere Seite miteinander zu verknüpfen und zu einem geschlossenen Ganzen zusammenzuführen. Die Zuschreibung dieser Funktion aber harmoniert, so
Scheffler, nicht mit der Idee der radikalen Selbst-Transzendenz. Unsere moralische Praxis, die
mit allem verwoben ist, was uns als menschliche Wesen wichtig ist, steht der hybriden Auffassung und dem Menschlichkeitsideal näher als der unpersönlichen Auffassung und dem
Reinheitsideal. Zusammenfassend lässt sich Schefflers Argument folglich folgendermassen
rekapitulieren. Wenn wir die zentrale Rolle, die die Moral in unserer Lebenspraxis spielt,
ernst nehmen, können wir sie nicht als rigide verstehen, sondern müssen ihren moderaten
Charakter anerkennen. Die moralische Perspektive und die Perspektive des Eigeninteresses
stehen zueinander in einem Verhältnis der potentiellen Kongruenz.
Zu klären ist nun allerdings, inwiefern Schefflers Argumentation überhaupt mit dem Überforderungseinwand zusammenhängen soll. So liesse sich etwa einwenden, dass wir es mit
zwei unterschiedlichen Einwänden gegen anspruchsvolle Moraltheorien zu tun haben, die
voneinander unabhängig sind und gesondert geprüft werden müssen. Falls Schefflers Ausführungen überzeugen, bliebe demzufolge trotzdem offen, ob der Überforderungseinwand je berechtigt sein kann, und die Bemühungen um eine Interpretation seiner Vorschläge zur
menschlichen Moral müssten zumindest in Anbetracht des Ziels der vorliegenden Untersuchung als reichlich sinnlos erscheinen. Aber ist dem tatsächlich so oder ist ein substantieller
Zusammenhang auszumachen? Um eine zufriedenstellende Antwort auf diese Frage zu erhalten, muss dargelegt werden, wie der kontroverse Konnex genau beschaffen sein könnte. Als
hilfreich erweist sich dabei der folgende Hinweis Schefflers:
Denn als ein supererogatorisches Ideal ist Selbst-Transzendenz auch innerhalb der hybriden Auffassung beheimatet (vgl. Scheffler (1992), 127).
157
Scheffler (1992), 129.
62
As I have said, the alternative construal supports the idea that morality is moderate, but it
does not support a particular moral theory or tell us precisely how demanding moral
norms are. What it does do is explain why it may in principle be legitimate to object to a
given theory either that it is too demanding or that it is insufficiently demanding. It explains why both types of criticism have standing.158
Vermittelst der hybriden Auffassung des moralischen Standpunkts lässt sich demnach, wie
Scheffler meint, erklären, warum es legitim sein kann, einer Moraltheorie vorzuhalten, dass
sie entweder zu anspruchsvoll oder zu anspruchslos ist. Wenn die Moral sowohl den persönlichen als auch den unpersönlichen Standpunkt berücksichtigt und infolgedessen dem gleichen
Wert aller Menschen genauso Tribut zollt wie unserem Hang, das eigene Leben unverhältnismässig wichtig zu nehmen, dann gerät sie nämlich häufiger mit den Interessen der Handelnden in Konflikt, als jene meinen, die sie bloss dem persönlichen Standpunkt verpflichtet
sehen, und seltener, als jene meinen, die sie bloss dem unpersönlichen Standpunkt verpflichtet sehen.
Konsequenterweise muss gegen die Theorien der zweiten Gruppe ein Überforderungseinwand, gegen die Theorien der ersten Gruppe aber ein Unterforderungseinwand berechtigt
sein. So könnte libertären Kreisen, zu denen Narveson gehört, etwa vorgeworfen werden, dass
sie zu wenig von uns verlangen, wohingegen die Utilitaristen um Singer womöglich zu viel
von uns fordern. Erstere gewichten die (A)-These im Vergleich zur (B)-These tendenziell zu
wenig stark, was sich beispielsweise darin zeigt, dass die Existenz von Hilfspflichten für Narveson dadurch bestimmt ist, ob ihre Annahme im rationalen Interesse aller Beteiligten ist.159
Libertäre fokussieren in solchen Fragen auf den persönlichen Standpunkt und erklären die
überproportionale Bedeutung, welche die Interessen der Handelnden für sie selbst haben, implizit für sakrosankt. Dass von einem unpersönlichen Standpunkt aus alle Menschenleben
gleich wertvoll sind, rückt in den Hintergrund. Diejenigen, die helfen können, dürfen ihre
eigenen Interessen weit über das Leid von Hilfsbedürftigen stellen. Alles, was ihnen nicht
zum Vorteil gereicht, kann ihnen auch nicht geboten sein. Letztere vernachlässigen indes die
(B)-These zugunsten der (A)-These. Weil traditionelle Utilitaristen keinen Grund dafür erkennen, gewisse Interessen unabhängig von ihrer Stärke höher zu gewichten als andere,160
stehen sie für die Überwindung unserer natürlichen Priorisierung der eigenen Person ein. Damit erheben sie den unpersönlichen Standpunkt zum alleinigen Standpunkt der Moral und
erklären die Gleichgewichtung der Interessen aller Lebewesen durchweg für ethisch massgebend. Dass aus der persönlichen Perspektive von Handelnden die eigenen Interessen bedeut158
Scheffler (1992), 130.
Vgl. z. B. Narveson (2003), 426 sowie die Ausführungen in Unterabschnitt 1.1.
160
Vgl. z. B. Singer (2011), 11f. Die beiden Hilfsprinzipien, die Singer in seinem Aufsatz „Famine, Affluence,
and Morality” vorschlägt, lassen sich allerdings nicht-utilitaristisch interpretieren.
159
63
samer sind als diejenigen anderer, muss Utilitaristen dagegen irrelevant erscheinen. Solange
etwa für potentielle Helfer keine ähnlich starken Interessen auf dem Spiel stehen wie für
Hilfsbedürftige, besteht gemäss dem klassischen Utilitarismus eine moralische Pflicht zur
Hilfeleistung. Allen Unterschieden zum Trotz ist Libertären und Utilitaristen also eines gemeinsam: Ihre Moraltheorien lassen den nach Scheffler wünschenswerten Ausgleich zwischen den Behauptungen (A) und (B) aus dem Gleichgewicht geraten. Deshalb wird für beide
Lager die Höhe ihrer Forderungen zum Problem. Die einen müssen einen Überforderungseinwand, die anderen einen Unterforderungseinwand gewärtigen.
Schefflers Argumentation für eine moderate Moral hängt daher eng mit der Frage nach der
Berechtigung des Überforderungseinwands zusammen. Wenn sein Vorschlag zum Umgang
mit der Kluft zwischen dem persönlichen und dem unpersönlichen Standpunkt, der in eine
hybride Auffassung der moralischen Perspektive mündet, erklären kann, warum wir manche
Moraltheorien als überfordernd zurückweisen dürfen, dann verhilft er dazu, die Herausforderung zu bewältigen, die sich in Unterabschnitt 3.2. herauskristallisierte. Auf Unterscheidungen, deren moralische Relevanz nicht begründbar ist, sollten Moralprinzipien und -theorien –
wie etwa Kagans Sklavenhalter-Beispiel verdeutlicht – nach Möglichkeit nicht fussen. Entsprechend spricht es – gemäss (M3) – für eine Theorie, wenn sie keine ungestützten Unterscheidungen beinhaltet, und – gemäss (M4) – gegen eine Theorie, wenn sie ungestützte Unterscheidungen beinhaltet. Obgleich sogar einem intuitionenbasierten Überforderungseinwand
ein gewisses Gewicht zukommt, stellen (M3) und (M4) seine Berechtigung grundlegend infrage. Denn solange unklar bleibt, woran es aus welchen Gründen liegt, dass die Höhe erhobener Forderungen relevant ist für die Beurteilung ihrer Angemessenheit, kann einem Verfechter des Überforderungseinwands vorgehalten werden, er schmuggle – im Unterschied zu
seinem Gegner – eine ungestützte Unterscheidung ein: diejenige zwischen höheren und tieferen moralischen Forderungen.
Falls dieses Gegenargument tatsächlich auf einem naheliegenden Irrtum beruht, dann lässt
es sich mithilfe von Überlegungen entkräften, wie sie Scheffler in Human Morality anstellt.
Muss die moralische Perspektive nämlich als eine hybride verstanden werden, die einen Ausgleich schafft zwischen der gleichen Wichtigkeit der Interessen aller Menschen (A) und der
Tatsache, dass unsere eigenen Interessen für uns selbst von zentraler Bedeutung sind (B), erklärt sich, weshalb es für die Beurteilung der Adäquatheit einer Moraltheorie relevant ist, wie
hoch ihre Forderungen sind. Während sehr anspruchslose Forderungen Gefahr laufen, den
Aspekt (A) nicht hinlänglich zu reflektieren und zu anspruchslos zu geraten, drohen sehr anspruchsvolle Forderungen den Aspekt (B) nicht angemessen zu reflektieren und zu an64
spruchsvoll zu geraten. Die Höhe moralischer Forderungen ist, wie man im Anschluss an
Schefflers Ausführungen festhalten kann, ein normativ bedeutsamer Faktor, weil für die Bewertung unserer Handlungen aus einer moralischen Perspektive nicht nur der grundsätzlich
gleiche Wert aller Menschen zählen sollte, sondern auch das erhöhte Gewicht, das unsere
eigenen Interessen für uns Handelnde haben. Es ist Ausdruck einer Missachtung des persönlichen Standpunkts einzelner Akteure, wenn die Forderungen einer Theorie so hoch ausfallen,
dass sie unmöglich einem Kompromiss zwischen (A) und (B) entstammen können. Wie hoch
eine erhobene Forderung ist, ist darum nach Scheffler durchaus relevant dafür, ob sie zu
Recht bestritten werden kann. Liegt er mit seiner Begründung richtig, geniesst die Differenz
zwischen tieferen und höheren Forderungen als eine ethisch signifikante Unterscheidung moraltheoretischen Rückhalt und hängt nicht in der Luft.
4.2. Einwände und Erwiderungen
Gegen den Überforderungseinwand im Allgemeinen und gegen Schefflers Verteidigung der
moderaten Moral im Besonderen können jedoch unterschiedliche Einwände vorgebracht werden. So meint Shelly Kagan etwa, wer sich mit dem Argument der hohen Kosten (α) gegen
eine anspruchsvolle Moraltheorie wende, müsse nicht nur manches Zulassen von Leid („allowing harm”) als moralisch akzeptabel erachten, sondern auch – und unplausiblerweise –
manche Schädigung anderer („doing harm”).161 Daneben macht David Sobel geltend, dass
diejenigen, welche den Überforderungseinwand gegenüber einem Konsequentialisten in Stellung bringen, die moralische Relevanz einer Unterscheidung voraussetzen, die sie rechtfertigen müssten: nämlich die Bedeutsamkeit der Unterscheidung zwischen den Kosten dessen,
was eine Theorie verlangt, und den Kosten dessen, was eine Theorie erlaubt.162
Darüber hinaus drängen sich mindestens zwei weitere Schwierigkeiten auf: Erstens fragt
sich, ob die moralische Perspektive wirklich eine hybride ist, und zweitens ist darüber nachzudenken, wie gut Schefflers Argumentation überhaupt dazu geeignet ist, den Überforderungseinwand zu fundieren. Ausgehend von einer kritischen Prüfung dieser vier Probleme in
Unterabschnitt 4.2. soll dann der Schlussabschnitt der abschliessenden Frage gewidmet sein,
ob der Überforderungseinwand – trotz der zahlreichen Hindernisse, mit denen er konfrontiert
ist – als ein aussichtsreicher Einwand gelten kann. Dazu muss man sich klar machen, welche
161
Siehe Kagan (1989), 19f.
Siehe Sobel (2007), 3f.; vgl. ausserdem z. B. Wolf (1995) sowie Murphy (2000) und für eine kritische Auseinandersetzung mit weiteren Einwänden Scheffler (1995) und (2008). Die folgenden Ausführungen erheben nicht
den Anspruch, sämtliche Gegenargumente zu behandeln, die vorgebracht wurden. Vielmehr sollen bloss die
meines Erachtens dringlichsten Probleme angesprochen werden.
162
65
der erwogenen Ansichten sich verteidigen lassen, welche Thesen widerlegt wurden und welche offenen Fragen weiterhin einer überzeugenden Antwort harren.
Es ist naheliegend, sich zuerst mit denjenigen Einwänden zu befassen, die unmittelbar auf
die Position Schefflers bezogen sind. Deswegen soll in einem ersten Schritt die Hybridität der
moralischen Perspektive auf dem Prüfstand stehen, bevor dann die Beziehung der hybriden
Auffassung zum Überforderungseinwand noch einmal beleuchtet sowie die beiden Einwände
von Sobel und Kagan aufgegriffen werden. Scheffler prägt im Rahmen seiner philosophischen
Erörterung eine Vielzahl neuer Ausdrücke, deren Relation zueinander nicht immer klar ist.
Auf der einen Seite ist dabei hauptsächlich an die Termini „stringent“, „purity“, „impersonal
construal“ und „self-transcendence“ zu denken, auf der anderen an „moderate“, „humanity“,
„alternative construal“ und „personal integration“ sowie „potential congruence“. Zwar konnten die elementarsten Zusammenhänge innerhalb dieser begrifflichen Landschaft in 4.1. wenigstens insoweit blossgelegt werden, wie es für die Zwecke der Arbeit vonnöten ist, aufgrund der erforderlichen Überprüfung von Schefflers Gedankengang ist das Augenmerk nun
aber insbesondere darauf zu richten, wie die argumentativen Lasten unter den angeführten
Konzepten verteilt sind.
Dass die Moral moderat und nicht rigide ist, sollte erklärtermassen ein Fazit von Human
Morality sein.163 Gleiches gilt auch für die umfassendere These von der potentiellen Kongruenz zwischen Moral und Eigeninteresse, die (a) auf die regulative Rolle moralischer Normen,
(b) auf die moralische Formung unserer Interessen und (c) auf die gesellschaftliche Veränderbarkeit des Konfliktausmasses (zwischen Moral und Eigeninteresse) abstellt.164 Gestützt werden sollen beide Ergebnisse negativ durch die Entkräftung der Argumente (1) und (2) für das
Reinheitsideal und positiv durch die hybride Auffassung der moralischen Perspektive, welche
ihre Attraktivität dem Umstand verdankt, dass die Moral ihr zufolge eine für uns wichtige
Form der persönlichen Integration ermöglicht.165 Weniger klar ist aber, wie die Begründung
der Hybriditätsthese genau mit der Charakterisierung des Menschlichkeitsideals einerseits und
der ersten Überlegung zur potentiellen Kongruenz (a) andererseits verbunden ist. Führt
Scheffler zusätzliche Gründe für die Behauptung, die Moral sei moderat, an, wenn er schreibt,
dass der Gehalt moralischer Normen durch die regulative Rolle mitbestimmt wird, die sie für
uns Menschen spielen?166 Dazu ist zweierlei festzustellen: Erstens ist die akzentuierte Unklarheit ein Hinweis darauf, wie Scheffler argumentiert. Statt einen strengen Beweis zu führen,
163
Vgl. z. B. Scheffler (1992), 100 oder 115.
Vgl. Scheffler (1992), 4; Scheffler (2008), 118 sowie den Unterabschnitt 4.1.
165
Siehe dazu z. B. Scheffler (1992), 102, 121 und 124.
166
Vgl. Scheffler (1992), 4 und 101f.; Scheffler (2008), 118f.
164
66
schlägt er ein grobes Bild der Moral vor, das möglichst gut mit möglichst vielem zusammenstimmen soll, was wesentlich ist für uns.167 Und zweitens ist die Frage, wie ich denke, verneinend zu beantworten. Denn die vielgestaltige Rolle, welche der Moral als Regelungssystem
menschlichen Verhaltens zukommt, ist nach Scheffler eben eine, die uns die erwähnte Integrationsleistung ermöglicht, indem sie uns erlaubt, unsere Achtung vor dem gleichen Wert anderer und unsere Sehnsucht nach einem erfüllten Leben zu vereinigen.
Dreh- und Angelpunkt der Argumentation ist daher die hybride Auffassung der moralischen Perspektive. Ob diese auch vertretbar ist, wenn einen die Suggestivkraft von Ausdrücken wie „Menschlichkeit“, „Integration“ oder „Selbst-Transzendenz“ nicht beeindruckt, entscheidet über Erfolg oder Misserfolg von Schefflers Projekt. Ein guter Grund, daran zu zweifeln, scheint sich in der folgenden Frage auszudrücken: Wie kann die These (B) von zentraler
Bedeutung für die moralische Bewertung unserer Handlungen sein, wenn es offensichtlich ist,
dass jemand, der (B) missachtet und eigene wie fremde Interessen gemäss (A) gleich gewichtet, moralisch besser handelt als jemand, der (B) in Rechnung stellt? Zeigt diese Überlegung
nicht, dass die moralische Perspektive keine hybride ist und bloss (A) als Referenzpunkt
kennt? Wer sich wirklich, könnte man sagen, auf die Moral einlässt, der abstrahiert von (B)
und nimmt sich selbst niemals wichtiger als andere.
Unplausibel ist dieser Einwand, weil sich gegenüber der sicherlich unverdächtigen These
(A) ganz ähnliche Einwendungen machen liessen. Er fällt, mit anderen Worten, einer reductio
ad absurdum anheim. Akzeptiert man ihn, legt man sich darauf fest, einer höchst abwegigen
Aussage zuzustimmen. Wenn jemand nämlich weder (A) noch (B) beachtet und gänzlich davon absieht, eigene Interessen in die ethische Waagschale zu werfen, um ausschliesslich auf
die Sorgen und Nöte anderer zu reagieren, dann werden seine Handlungen ebenfalls moralisch besser sein, als diejenigen von einer Person, die sich an (A) orientiert. Dies kann ein
einfaches Beispiel veranschaulichen. Nehmen wir an, Benedikt und Franziskus haben die
Möglichkeit, anstelle eines gemeinsamen Bekannten ein kleines Übel auf sich zu nehmen, das
für sie selbst schlimmer ist als für ihren Bekannten. Benedikt überlegt kurz und entscheidet
sich dann aufgrund von (A) gegen das Opfer, der gutherzige Franziskus aber verbietet es sich,
überhaupt an das eigene Wohl zu denken, und wählt die unangenehmere Handlungsoption.
Welcher der beiden Päpste hat moralisch besser gehandelt? Die Antwort ist klar: Nicht der
emeritierte, der amtierende Bischof von Rom führte die bessere Handlung aus. Seine selbstlose Tat verdient zweifellos unser Lob. Hält man den obigen Einwand für triftig, muss man
deshalb auch dagegen opponieren, dass die These (A) im Herzen der moralischen Perspektive
167
Siehe auch Scheffler (1992), 114.
67
liegt. Wer sich wirklich, so wäre man dann gezwungen zu sagen, auf die Moral einlässt, der
abstrahiert sowohl von (B) als auch von (A) und nimmt sich selbst nicht einmal gleich wichtig
wie andere. Damit ist man jedoch bei einer ziemlich absurden Aussage angelangt, die den
formulierten Einwand gegen die hybride Auffassung in Verruf bringt.
Gleichwohl stellt sich natürlich die Frage, ob die Hybriditätsthese einem unpersönlichen
Moralverständnis tatsächlich aufgrund von Schefflers Überlegungen zum Gegensatz zwischen
der integrativen Funktion der Moral und der Idee der radikalen Selbst-Transzendenz vorzuziehen ist. Schliesslich würde es nicht überraschen, wenn die Anhänger des Reinheitsideals
die komplexe Realität unserer Lebenspraxis, die Scheffler zufolge mit dem Ziel der persönlichen Integration harmoniert,168 als zutiefst fehlerbehaftet empfänden. Das gesellschaftlich
verankerte Moralsystem übernimmt zwar de facto, könnten sie argumentieren, eher eine integrative Funktion, als dass es Ausdruck einer reinen Vorstellung der Selbst-Transzendenz ist,
aber es sollte eine andere Rolle spielen. Denn es ist nicht die Moral, die sich an der vorherrschenden Lebensgestaltung ausrichten muss, wir sind es, die unsere Lebensführung nach der
wahren Moral zu richten haben.169 Dem wird Scheffler, so der Einwand, nicht gerecht, wenn
er sich auf die dominante Realität unserer moralischen Praxis beruft, um den hybriden Ansatz
zu verteidigen:
[...] even if the impersonal construal embodies an idea of radical self-transcendence to
which we genuinely attach some importance, nevertheless that idea does not reflect the
dominant reality of our moral practice. That is, it does not accurately reflect the role that
morality actually plays in our lives.170
Gleichgültig, welche Rolle moralische Belange in unseren Leben momentan spielen, ist contra Scheffler danach zu fragen, ob sie diese Rolle auch innehaben sollen.
Handelt es sich hierbei um ein Gegenargument, das dem hybriden Moralverständnis gefährlich werden kann? Begeht Scheffler sogar einen Sein-Sollens-Fehlschluss, indem er implizit
von deskriptiven Aussagen über unsere Lebensweise auf den normativen Gehalt der Moral
schliesst? Man sollte sich die Struktur seiner Argumentation in Erinnerung rufen, bevor man
diese kritischen Fragen beantwortet. Scheffler ist der Meinung, dass die unpersönliche wie
auch die hybride Auffassung der moralischen Perspektive eine gewisse Plausibilität für sich
beanspruchen können, weil beide an bedeutende Aspekte dessen anknüpfen, wie wir über die
168
Vgl. Scheffler (1992), 128f. sowie den Unterabschnitt 4.1.
Vgl. dazu die verwandte Diskussion um den Terminus „direction of fit“ (siehe Anscombe (1957) und z. B.
Alvarez (2010), 66f.).
170
Scheffler (1992), 128; siehe auch Scheffler (1992), 129: „By contrast, although the idea of morality as radical
self-transcendence has its abstract appeal, and although it continues to be influential, the notion that morality
represents a possibly unattainable ideal that is distinguished precisely by its remoteness from normal patterns of
agency and motivation does not reflect the dominant reality of how moral concerns actually function in human
life.”
169
68
Moral denken.171 In Ermangelung eines Beweises für die eine oder die andere Ansicht versucht er daher aufzuzeigen, welche der tiefer liegenden Überlegungen besser mit dem übereinstimmt, was wir für zutreffend und wichtig halten. Auf unsere moralische Praxis kommt er
in diesem Zusammenhang zu sprechen: Wenn wir uns die Rolle genauer ansehen, welche moralische Normen in unserem Leben spielen, dann stellen wir fest, von wie beeindruckender
Relevanz die These der integrativen Funktion der Moral – im Vergleich mit derjenigen der
Selbst-Transzendenz – ist. Ihre Bedeutung erschöpft sich nicht in unserer expliziten moralischen Reflexion, sie offenbart sich auch darin, wie eng das Phänomen der Moral mit unzähligen Sphären unseres Lebens verwoben ist: mit unserer Wahrnehmung, unseren Gefühlen,
unseren Beziehungen, unseren Plänen und unseren Verbindlichkeiten.
Der Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses ist demzufolge – wider den ersten Anschein – verfehlt. Scheffler benutzt die Beschreibung der gegenwärtigen Verhältnisse nicht
dazu, um ihr Fortbestehen zu motivieren. Er schliesst nicht von ihrem So-Sein auf ihr SoSein-Sollen. Vielmehr ist ihm die funktionelle Verflechtung zwischen der Moral und der
Vielfalt des menschlichen Lebens ein Indiz für die tiefe Verankerung der Hybriditätsthese in
unserem Denken und ihr einträchtiges Zusammenspiel mit dem, was uns viel bedeutet.172 Der
so verstandenen Position liesse sich allerdings entgegenhalten, sie erhebe sich nicht über einen Intuitionismus à la Hooker und biete entsprechend keine Absicherung gegen (M3)- oder
(M4)-Einwände, wie sie in Unterabschnitt 3.2. eingeführt wurden. Ist damit gezeigt, dass uns
Schefflers menschliche Moral nicht weiterhilft?
Nein, denn es gibt mehrere Unterschiede zwischen der Berufung auf unsere wohlerwogenen moralischen Überzeugungen, die im dritten Abschnitt der Arbeit thematisiert wurde, und
der Bezugnahme auf unser moralisches Denken, von der nun die Rede ist. Erstens bürgt die
gründliche Analyse unterschiedlichster Praxiszusammenhänge dafür, dass die verteidigte Haltung gedanklich tief verwurzelt und essenziell für uns als menschliche Wesen ist. Scheffler
macht deutlich, dass die Hybriditätsthese mit einer Integrationsbemühung verbunden ist, die
unser gesamtes Leben durchzieht und wesentlich dafür ist, wer wir sind. Zweitens haben wir
es nicht mit moralischen Einzelurteilen zu tun, dessen sich manche spontan sicher sind, während andere vielleicht zweifeln, sondern mit einem moraltheoretischen Vorschlag, dessen Bedeutung indirekt belegt wird. Drittens bemüht Scheffler nicht die Überforderungsintuitionen
selbst, die den Ausgangspunkt der philosophischen Debatte um den Überforderungseinwand
bilden und von den Gegnern desselben naheliegenderweise nicht vollumfänglich geteilt werden. Die tiefe Verwurzelung anderer Ansichten soll uns im Hinblick auf den kontroversen
171
172
Vgl. Scheffler (1992), 120, 124 und 127.
Vgl. Scheffler (1992), 114 und 128.
69
Fall der problematischen oder unproblematischen Höhe moralischer Forderungen Orientierung bieten. Und viertens ist die Ebene, auf welcher der Rekurs auf unser moralisches Denken
erfolgt, vor allem viel weniger oberflächlich als diejenige, der Hookers unmittelbarer Rückgriff auf Intuitionen angehört. Alle Begründungen müssen irgendwo enden und der vergleichsweise tiefgründige Schlusspunkt, den Scheffler setzt, scheint nicht unangemessen zu
sein. Immerhin rühren seine Beobachtungen zur persönlichen Integration daran, wie die
menschliche Lebensform als solche beschaffen ist. Scheffler deckt enge Zusammenhänge
zwischen der integrativen Funktion moralischer Normen und verschiedenartigen Kernbestandteilen unseres zutiefst humanen Strebens auf.173
Selbst wenn die hybride Auffassung der Moral aber korrekt ist, drängt es sich – und damit
komme ich zur zweiten Schwierigkeit, die in 4.2. verhandelt werden soll – auf, darüber nachzudenken, ob sie überhaupt ein geeignetes Mittel ist, um den Überforderungseinwand mit
einer moraltheoretischen Grundlage zu versehen. Dabei gilt es vornehmlich, das folgende
Gegenargument in den Blick zu nehmen. Gemäss der Hybriditätsthese misst die Moral, wie in
Unterabschnitt 4.1. dargelegt wurde, nicht nur der These (B), sondern auch der These (A)
Bedeutung zu: Der gleiche Wert aller Menschenleben und die überproportionale Wichtigkeit,
die unsere eigenen Interessen für uns haben, sind gleichermassen zu berücksichtigen, wenn
das moralisch Gebotene vom Verbotenen und dem Erlaubten unterschieden wird. Daraus
ergibt sich indes eine Komplikation bezüglich der vorgeschlagenen Erklärung der Berechtigung des Überforderungseinwands.174 Die Höhe erhobener Forderungen scheint allein nicht
ausschlaggebend dafür zu sein, ob eine Theorie als zu anspruchsvoll beziehungsweise als zu
anspruchslos gelten muss. Es kann nämlich, so das Argument, zwei Theorievorschläge T1 und
T2 geben, die zwar gleich viel von uns verlangen, aber nicht beide von einem im Anschluss an
Scheffler fundierten Überforderungseinwand betroffen sind. Denn während die Forderungen
von T1 vielleicht trotz ihrer aussergewöhnlichen Höhe aus einem Ausgleich zwischen (A) und
(B) resultieren, könnten die Forderungen von T2 aus anderen Gründen sehr hoch sein und den
(A)-(B)-Kompromiss vermissen lassen. An T1 gäbe es dementsprechend nichts auszusetzen,
T2 hingegen wäre als zu anspruchsvoll einzuschätzen, obwohl die Forderungen der beiden
Theorien in Bezug auf ihre Höhe nicht voneinander abweichen. Muss dies den Verfechtern
des Überforderungseinwands nicht merkwürdig vorkommen?
173
Meine Ausführungen machen deutlich, wie plausibel Schefflers hybride Moralkonzeption ist, sie können
seine Ansicht jedoch nicht beweisen oder abschliessend gegen mögliche Einwände absichern (vgl. auch Scheffler (1992), 114). Eine ausführlichere Verteidigung müsste insbesondere Kagans Kritik an Schefflers früherem
Werk The Rejection of Consequentialism mitberücksichtigen (siehe Kagan (1989) sowie dazu z. B. die Repliken
von Bratman (1994), 325f. und Scheffler (1994b), 167f.).
174
Vgl. zur kritisierten Erklärung der Berechtigung des Überforderungseinwands den Unterabschnitt 4.1. sowie
Scheffler (1992), 130.
70
Darüber hinaus vergrössert sich ihr Unbehagen möglicherweise noch, wenn sie zur Kenntnis nehmen, dass es sogar zwei Theorievorschläge T3 und T4 geben zu können scheint, für die
Folgendes gilt: Die Forderungen von T3 sind höher als diejenigen von T4 und trotzdem ist es
die Theorie T4, die zu anspruchsvoll ist, nicht jedoch die Theorie T3. Begründen lässt sich
diese erstaunliche Feststellung auf dieselbe Weise wie die Quintessenz des vorangestellten
T1-T2-Falls. Die sehr hohen Forderungen von T3 spiegeln einen Kompromiss zwischen den
Behauptungen (A) und (B) wider, die etwas niedrigeren, aber noch immer sehr hohen Forderungen von T4 dagegen sind nicht das Ergebnis einer erfolgreichen Abwägung zwischen (A)
und (B). Gegen erstere ist daher kein Überforderungseinwand vorzubringen, nur letztere muss
einen solchen gewärtigen. Denn die Theorie T4 scheint dem persönlichen Standpunkt der
Handelnden im Verhältnis zu anderen Überlegungen zu wenig Gewicht zu geben.
Folgt aus der Verquickung von der hybriden Moralkonzeption Schefflers und dem Überforderungseinwand also, dass zu anspruchsvolle Forderungen tiefer sein können als solche, an
deren Höhe kein Anstoss zu nehmen ist? Und wirkt sich diese Konsequenz, so es denn tatsächlich eine ist, fatal auf das Projekt der Untermauerung des Überforderungseinwands aus?
Das sind irritierende Fragen, die nicht leicht zu beantworten sind. Ist man dennoch gewillt,
den Überforderungseinwand aufrechtzuerhalten, kommen vorderhand drei Repliken in Betracht. Eine erste Möglichkeit besteht darin, die Verträglichkeit der beiden Szenarien, des T1T2-Falls und des T3-T4-Falls, mit der theoretischen Konstruktion zu bestreiten. Wenn T1 und
T3 gemäss der Hybriditätsthese nicht überfordernd sind, dann, so liesse sich einwenden, sind
es T2 und T4 ebenso wenig. Es gehört nicht zu den Wahrheitsbedingungen von Urteilen der
Art „T ist zu anspruchsvoll“, dass kein Kompromiss zwischen (A) und (B) vorliegt. Relevant
dafür, ob eine Moraltheorie als überfordernd gelten muss, ist einzig, ob sie die These (B) nicht
einkalkuliert und unserer natürlichen Priorisierung eigener Interessen nicht hinlänglich Rechnung trägt. Und falls die hohen Forderungen von T1 und T3 diesem Kriterium nicht zum Opfer
fallen, ist anzunehmen, dass auch die gleich hohen Forderungen von T2 und die niedrigeren
Forderungen von T4 nicht gefährdet sind. Diese Theorien mögen aus anderen Gründen unplausibel sein, überfordernd jedoch sind sie nicht.
Als zweite Option bietet es sich an, eine Bite the bullet-Strategie zu verfolgen. Ob eine Moraltheorie zu anspruchsvoll ist, hängt, wie man zugestehen könnte, nicht nur von der Höhe der
Forderungen ab. Ausserdem kommt es darauf an, wie hoch der moralische Gegenwert ist, den
Handelnde für den geforderten Aufwand erhalten. Steht, moralisch gesehen, viel auf dem
Spiel, sind ungewöhnlich hohe Forderungen womöglich nicht zu hoch, steht indessen wenig
auf dem Spiel, können bereits tiefere Forderungen den Bogen überspannen. Das Überforde71
rungsurteil ist, anders gesagt, stets relativ zu dem, was – der These (A) gemäss – aus unpersönlicher Sicht zu verlieren oder zu gewinnen ist. Um eine solche Behauptung zu plausibilisieren, liesse sich eine einfache Analogie anführen. Ob ein angepriesener Verkaufsgegenstand
zu teuer ist, hängt ebenfalls nicht bloss von der Höhe des Preises ab, sondern auch davon, was
man für sein Geld erhält. Genauso ist die Höhe aufgestellter Forderungen mit den korrelierenden „Gaben“ einer Theorie in Beziehung zu setzen, bevor sie gegebenenfalls als zu anspruchsvoll eingestuft wird. Der dritte Weg, der den Anhängern des Überforderungseinwands
prinzipiell offensteht, ist schliesslich kurz erklärt: Statt in Kombination mit Schefflers Hybriditätsthese kann der Einwand selbstverständlich auch unabhängig davon vertreten werden.
Für diese Option sollte man sich jedoch, wie aus 3.2. und 4.1. hervorgeht, nur dann entscheiden, wenn die beiden ersten Alternativen letztlich nicht überzeugen. Damit ist zweierlei klar:
Erstens gestaltet sich die Verteidigung des Überforderungseinwands schwieriger, als man
nach der Lektüre von Human Morality vielleicht denkt. Und zweitens gibt es gleichwohl gute
Gründe, um anzunehmen, dass eine solche Verteidigung gelingen kann.
Allerdings wurden dabei die äusserst bedrohlichen Einwände von Kagan und Sobel noch
nicht beachtet, die abschliessend dargestellt und kritisiert werden sollen. In seiner Monografie
The Limits of Morality wirft Kagan ein Problem auf, das allen Sorgen bereiten muss, die einen
Überforderungseinwand vorbringen wollen.175 Wenn die Vermeidung hoher Kosten (α) für
Handelnde, so sein Argument, tatsächlich dafür spräche, dass es uns erlaubt ist, gewisse Hilfeleistungen nicht zu erbringen, dann müsste es unplausiblerweise auch als moralisch zulässig
gelten, anderen aus purem Eigeninteresse zu schaden:
[...] it seems intuitively clear that an appeal to cost will support an option to allow harm –
for preventing harm can be quite costly. [...] The point I want to press here, however, is
that an appeal to cost supports options to do harm as well as options to allow harm [...].
For it is not only preventing harm which can be costly – refraining from harming can be
costly too.176
Falls einem Akteur zum Beispiel nicht zugemutet werden kann, auf drei Millionen zu verzichten, um ein Menschenleben zu retten, dann kann ihm ceteris paribus ebenso wenig zugemutet
werden, von der Ausübung eines Mordes abzusehen, mit dem drei Millionen zu verdienen
wären.177 Diese Konsequenz aber ist hochgradig kontraintuitiv. Ergibt sie sich aus dem Überforderungseinwand, verliert er die intuitive Attraktivität, die ihm mit 1.1. attestiert wurde, und
sollte daher von Anhängern der Common Sense-Moral zurückgewiesen werden.
175
Vgl. Kagan (1989), 19f.; siehe dazu auch Kagan (1984), 239f.; Murphy (2000), 39f.; Sobel (2007), 4f. sowie
Scheffler (1994b), 167f.
176
Kagan (1989), 22; vgl. zur Bedeutung des Ausdrucks „option” Kagan (1989), 3 sowie die Fussnote 135.
177
Siehe dazu Kagan (1989), 22f.
72
Für den Umgang mit diesem Gegenargument sind zwei Fragen entscheidend: Müssen diejenigen, die sich zum Überforderungseinwand bekennen, zwingend akzeptieren, dass man
anderen manchmal aus Eigennutz Schaden zufügen darf? Und liegt, falls die erste Frage zu
bejahen ist, wirklich ein Knock-down-Argument gegen den Überforderungseinwand vor? Ich
gehe zuerst auf die erste Frage ein, danach soll die zweite beantwortet werden. Es ist, wie
Kagan selbst einräumt,178 nicht ohne Weiteres klar, dass man sich mit dem Kosten-Argument
darauf festlegt, dass es moralisch zulässig sein kann, andere aus Eigeninteresse zu schädigen.
Bestehen nämlich deontologische Schranken, die gewisse Typen von Handlungen – wie Tötungen oder Folterungen – verbieten,179 gibt es möglicherweise unabhängige Gründe, welche
gegen die moralische Zulässigkeit von Schädigungen sprechen und den Überforderungseinwand überwiegen. Ob derartige Schranken existieren, ist eine umstrittene Frage, die hier nicht
erörtert werden kann,180 aber zum einen gehören sie mit Sicherheit zu unserer Alltagsmoral
und zum anderen gibt es viele Philosophinnen und Philosophen, die von ihrer Existenz überzeugt sind. Deshalb stehen die Chancen dafür, dass die erste Frage negativ beantwortet werden kann, nicht allzu schlecht.
Selbst wenn wir jedoch mit einer positiven Antwort vorliebnehmen müssen, weil sich deontologische Schranken als unhaltbar erweisen, formuliert Kagan kein Knock-down-Argument
gegen den Überforderungseinwand. Denn unter der Voraussetzung, dass es – entgegen unserer alltagsmoralischen Überzeugung – keine deontologischen Schranken gibt, sind die theoretischen Konsequenzen des Überforderungseinwands nicht länger irritierend.181 Dies lässt sich
mithilfe des folgenden Beispiels illustrieren. Ist es etwa moralisch zulässig, Reiche zu bestehlen, um das Geld Ärmeren zu geben, sollte es uns nicht weiter erstaunen, wenn es einer armen
Person auch erlaubt ist, Reiche zu bestehlen, um das Geld selbst zu behalten. Falls wir dem
Überforderungseinwand einerseits eine gewisse Eingangsplausibilität zugestehen und andererseits nicht glauben, dass es deontologische Schranken gibt, haben wir keinen Grund, an
Fällen wie diesen Anstoss zu nehmen. Kagans Argument kann die Hoffnungen der Anhänger
des Einwands also ohnehin nicht ruinieren.
Zuletzt ist daher zu bedenken, ob dies dem neueren Gegenargument gelingt, das David Sobel in die Diskussion eingebracht hat. Wer den Überforderungseinwand gegen konsequentialistische Moraltheorien vorbringt, setzt, wie Sobel meint, die moralische Relevanz der Unter-
178
Vgl. Kagan (1989), 23f.
Scheffler verwendet dafür den Ausdruck „agent-centred restrictions” (vgl. Scheffler (1994a), 80), Kagan
spricht von „agent-centered constraints“ (vgl. Kagan (1989), 4); siehe dazu auch die Fussnote 134).
180
Vgl. dazu z. B. Alexander/ Moore (2012); Kagan (1989), 24f. und 83f.; Scheffler (1994a), 80f. sowie die
Diskussion um das sogenannte „paradox of deontology” (vgl. z. B. Heuer (2011), 236f.).
181
Siehe auch Lawlor (2009), 53f.
179
73
scheidung zwischen den Kosten dessen, was eine Theorie verlangt, und den Kosten dessen,
was eine Theorie erlaubt, voraus.182 Zur Veranschaulichung seiner These beschreibt er den
Fall von Joe und Sally. Joe hat zwei gesunde Nieren, Sally aber braucht eine der beiden Nieren, um überleben zu können. Ist er moralisch verpflichtet, ihr eine Niere zu überlassen?
Während optimierende Konsequentialisten diese Frage bejahen, könnte man mit dem Überforderungseinwand vielleicht dagegenhalten: „Even though the transfer would result in a situation that is better overall, the Demandingness Objection’s thought is that it is asking so much
of Joe to give up a kidney that he is morally permitted to not give.”183 Doch was wäre, wenn
Sally analog dazu gegen eine nicht-konsequentialistische Theorie, die ihr keine Niere zuspricht, einwendete, dass diese ihr gegenüber zu anspruchsvoll sei? Nach Sobel hätte Sally
nicht begriffen, wie der Überforderungseinwand üblicherweise verstanden wird. Für die Kostenberechnung (α) zählen, wie gemeinhin angenommen wird, nur die Kosten dessen, was eine
Theorie von uns verlangt, nicht aber die Kosten dessen, was uns einer Theorie zufolge widerfahren darf.184 Nichtsdestoweniger zeigen der Joe-Sally-Fall und insbesondere Sallys Reaktion
indes, dass der Überforderungseinwand die Bedeutsamkeit einer Unterscheidung voraussetzt,
die Konsequentialisten für moralisch irrelevant halten:
The moral significance of the distinction between costs a moral theory requires and costs
it permits must already be in place before the Objection gets a grip. But this is for the decisive break with Consequentialism to have already happened before we feel the pull of
the Demandingness intuitions.185
Zumindest gegen konsequentialistische Ansätze kann der Überforderungseinwand deswegen
für Sobel nichts ausrichten. Entweder sollten wir sie aus anderen Gründen ablehnen oder wir
sollten ihnen zustimmen.
Demgegenüber ist meiner Ansicht nach herauszustellen, dass die Unterabschnitte 3.1. und
4.1. Ressourcen bergen, um den Überforderungseinwand auch als Einwand gegen konsequentialistische Moraltheorien zu rehabilitieren. Wenn Hooker recht hat und wir auf einen intuitionenbasierten Einwand bauen können,186 dann liegt es auf der Hand, Sobels Kritik zu begegnen, indem man klarstellt, dass es für den Überforderungseinwand wesentlich ist, worauf sich
unsere Überforderungsintuitionen beziehen. Wird eine Sally-Situation (erlaubterweise keine
Niere zu erhalten) nicht als moralisch überfordernd empfunden, während eine Joe-Situation
(eine Niere spenden zu müssen) als überfordernd bewertet wird, ist die unterschiedliche Einschätzung der beiden Situationen Teil des Überforderungseinwands. Die Relevanz der von
182
Vgl. Sobel (2007), 3.
Sobel (2007), 3.
184
Siehe dazu auch Murphy (2000), 48 und 145 sowie den Unterabschnitt 2.3.
185
Sobel (2007), 3.
186
Vgl. dazu die Ausführungen in den Unterabschnitten 3.1. und 3.2.
183
74
Sobel erwähnten Unterscheidung wird, mit anderen Worten, nicht vorausgesetzt, sondern beruht auf der Beschaffenheit unserer moralischen Intuitionen. Es sind unsere Überforderungsintuitionen, die determinieren, welche Moralprinzipien zu anspruchsvoll sind und welche
nicht.
Und wenn Scheffler recht hat,187 dann kann der Überforderungseinwand gegen den Anwurf
Sobels verteidigt werden, indem er mit einer Erklärung verbunden wird, die deutlich macht,
warum es moralisch relevant ist, ob Kosten aus erhobenen Forderungen oder aus eingeräumten Erlaubnissen erwachsen. Weil die moralische Perspektive als eine hybride verstanden
werden sollte und die Moral den gleichen Wert aller Menschen (A) ebenso berücksichtigt wie
die überproportionale Wichtigkeit, die unsere eigenen Interessen für uns selbst haben (B),
kommt der Höhe moralischer Forderungen eine besondere Bedeutung zu. Aufgrund der Sensitivität, welche die moralische Perspektive dafür hat, dass Handelnden ihr eigenes Leben unverhältnismässig wichtig ist, dürfen die Forderungen einer Moraltheorie nicht beliebig hoch
sein. Andernfalls missachtet die Theorie den persönlichen Standpunkt einzelner Akteure und
reflektiert den Gesichtspunkt (B) nicht angemessen.
187
Vgl. dazu die Ausführungen in den Unterabschnitten 4.1. und 4.2.
75
Schluss
Kann der Überforderungseinwand trotz der vielen Probleme, die ihm gegenüberstehen, als ein
aussichtsreicher Einwand gelten? Die Beantwortung dieser Frage involviert grosse Rätsel und
stellt ein schwieriges Unterfangen dar. Mit der vorliegenden Arbeit wurde deshalb der Versuch unternommen, möglichst klar herauszuarbeiten, welche Möglichkeiten den Verfechtern
des Einwands angesichts der zahllosen Angriffe ihrer Kritiker offenstehen. Dazu waren im
ersten Teil Schwierigkeiten zu erörtern, die eine erfolgreiche Explikation des Überforderungseinwands gefährden, während im zweiten Teil die Frage nach der Berechtigung des
Einwands in den Fokus rückte.
Als Ausgangspunkt dienten dabei zwei Thesen, die – wie in 1.1. und 1.2. gezeigt wurde –
zwar intuitiv attraktiv sind, bei näherem Hinsehen aber ihre Erläuterungs- und Begründungsbedürftigkeit zu erkennen geben:
(i)
(ii)
Manche Moralprinzipien oder -theorien fordern mehr von uns als andere.
Manche Moralprinzipien oder -theorien fordern zu viel von uns.
In Reaktion auf die skeptischen Fragen aus 1.2. konnten anschliessend in 2.1. unterschiedliche
Interpretationen vorgestellt werden, die vor Augen führen, wie die beiden Thesen (i) und (ii)
bestenfalls zu verstehen sind. Gemäss Vorschlag (α) sind die Kosten, welche eine Person
trägt, die ein Moralprinzip befolgt, massgebend dafür, wie anspruchsvoll das Prinzip ist:
(α)
Je höher die Kosten eines Prinzips ausfallen, desto mehr wird Handelnden abverlangt.
Alternativ akzentuiert der Vorschlag (β) den Schwierigkeitsgrad einer moralischen Aufgabe:
(β)
Je schwieriger es ist, ein Prinzip zu befolgen, desto anspruchsvoller ist es.
Und nach Vorschlag (γ) ist es schliesslich die Einschränkung des Handlungsspielraums, die
entscheidend ist für die Bestimmung der Höhe moralischer Forderungen:
(γ)
Je stärker ein Prinzip die Anzahl zulässiger Handlungsalternativen reduziert, desto
mehr wird Handelnden zugemutet.
Im Hinblick auf das Verständnis der Idee der moralischen Überforderung, welche ihren Ausdruck in These (ii) findet, ergaben sich daraus die Deutungsvarianten (α*), (β*) und (γ*).
Falls nur (α) korrekt ist, scheint eine Theorie nämlich genau dann überfordernd zu sein, wenn
ihre Forderungen für Handelnde zu kostspielig sind (α*). Unter der Voraussetzung, dass ausschliesslich (β) zutrifft, könnte eine Theorie genau dann als zu anspruchsvoll bezeichnet werden, wenn ihre Befolgung zu schwierig ist (β*). Und ist bloss (γ) richtig, überfordert uns eine
Theorie genau dann, wenn sie unseren Handlungsspielraum zu stark einschränkt (γ*). Damit
der Überforderungseinwand weiterhin Aussicht auf Erfolg hat, muss mindestens eine dieser
drei Deutungen überzeugen.
76
Nachdem in Unterabschnitt 2.2. ausgehend vom begrifflichen Raster, das die Interpretationsvorschläge (α*), (β*) und (γ*) bilden, die möglichen Zusammenhänge zwischen dem
Überforderungseinwand und der „können“-„nicht können“-Differenz ausgelotet wurden,
mussten in 2.3. fundamentale Fragen zu These (i) und in 2.4. fundamentale Fragen zu These
(ii) beantwortet werden. Murphy irrt sich, wenn er – contra (i) – behauptet, dass wir nicht
beurteilen können, wie hoch die moralischen Forderungen konkurrierender Moraltheorien für
ein Individuum sind. Begnügen wir uns bei der Kostenberechnung mit den aktiven Forderungen einer Theorie und lassen das, was er „passive Forderungen“ nennt, beiseite, ist es uns
möglich, die Höhe der moralischen Forderungen einer Theorie abzuschätzen. Entsprechend
gibt es Moraltheorien, die mehr von uns verlangen, und Moraltheorien, die weniger von uns
verlangen. Doch ist auch die These (ii) so harmlos, wie sie scheint? Schaber zufolge setzt eine
Überforderungsdiagnose die Falschheit der kritisierten Theorie voraus und eignet sich daher
nicht dazu, als Schlüsselkomponente eines moraltheoretischen Einwands zu fungieren. Demgegenüber konnte in 2.4. aufgezeigt werden, wie die drohende Gefahr einer petitio principii
abzuwenden ist: Unsere Überforderungsurteile müssen sich an einem moraltheorieexternen
Massstab orientieren, anhand dessen über die Adäquatheit von Moraltheorien zu befinden ist.
Weil sich also die anfänglichen Bedenken gegenüber den Thesen (i) und (ii) zerstreuten,
liess sich eine vielversprechende Explikation des Überforderungseinwands vorschlagen. Gegen eine Moraltheorie den Überforderungseinwand zu erheben, heisst, sie als zu anspruchsvoll – und damit gemäss (α*), (β*) oder (γ*) als zu kostspielig, zu schwierig oder zu einengend – zu kritisieren. Die Standardform des Einwands lautet „Theorie T überfordert uns“ und
besagt, dass T einem Massstab zur Beurteilung konkurrierender Moraltheorien nicht entspricht, der auf die Höhe moralischer Forderungen bezogen ist. Ob ein solcher Überforderungseinwand aber je berechtigt ist, hängt davon ab, ob es plausibel ist, ein meta-ethisches
Prinzip anzunehmen, das die Rolle des unterstellten Massstabs übernimmt.
Deshalb war im zweiten Teil der Untersuchung zu klären, warum die Frage, wie viel eine
Theorie von uns verlangt, relevant sein soll für die Beurteilung ihrer Angemessenheit. Für
Hooker, dessen Ansatz in 3.1. eingeführt und in 3.2. geprüft wurde, dienen unsere wohlerwogenen moralischen Überzeugungen als theorieexterner Standard. Wer einer Moraltheorie
vorwirft, zu anspruchsvoll zu sein, kritisiert sie dafür, nicht mit unseren wohlerwogenen moralischen Überzeugungen übereinzustimmen. Überfordernd ist eine Theorie genau dann, wenn
ihre Forderungen höher sind, als sie gemäss unseren robusten Intuitionen sein sollten. Um
herauszufinden, inwieweit sich Hookers Ansicht aufrechterhalten lässt, mussten in Unterabschnitt 3.2. methodologische Diskussionen aufgegriffen und vertieft werden. Leitend war da77
bei die Frage, ob Hookers Verteidigung der unabhängigen Glaubwürdigkeit moralischer Intuitionen oder Kagans Skepsis gegenüber ungestützten Unterscheidungen überzeugender ist. Als
Ergebnis wurde ein gangbarer Weg der Mitte skizziert: Es spricht in der Tat gegen eine Moraltheorie, wenn sie nicht mit unseren wohlerwogenen moralischen Überzeugungen harmoniert, aber es spricht genauso gegen eine Moraltheorie, wenn sie ungestützte Unterscheidungen zulässt. Dem Überforderungseinwand kommt infolgedessen auf jeden Fall ein gewisses
Gewicht zu. Steht eine Moraltheorie nicht mit unseren wohlerwogenen Überforderungsintuitionen im Einklang, liegt ein pro tanto-Grund gegen sie vor.
Da jedoch nicht ausgeschlossen werden kann, dass ein solcher Grund von anderen Gründen
überwogen wird, war in 4.1. und 4.2. Schefflers Rechtfertigungsstrategie zu untersuchen,
welche der Bedrohung ungestützter Unterscheidungen entgegenwirkt und den Überforderungseinwand mit einem moraltheoretischen Fundament versieht. Falls die moralische Perspektive eine hybride ist, die zwischen dem unpersönlichen und dem persönlichen Standpunkt
vermittelt, erklärt sich nämlich, weshalb die Differenz zwischen tieferen und höheren Forderungen moralisch relevant ist. Ausgesprochen anspruchsvolle Forderungen laufen Gefahr, die
These (B) nicht angemessen zu reflektieren, wonach die Interessen von Handelnden für sie
selbst überproportional wichtig sind. Allerdings mussten in Unterabschnitt in 4.2. mehrere
Gegenargumente zur Kenntnis genommen werden, die zumindest noch nicht abschliessend
entkräftet werden konnten. Daher lässt sich die Ausgangsfrage der Untersuchung nur vorsichtig positiv beantworten: Der Überforderungseinwand kann wohl trotz der vielen Probleme, die
sowohl seine Explikation als auch die Frage nach seiner Berechtigung bereiten, als ein aussichtsreicher Einwand gelten.
78
Literatur
§
Alexander, Larry/ Moore, Michael (2012): Deontological Ethics. In: Edward N. Zalta
(Hg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy, URL: http://plato.stanford.edu/entries/ethics-deontological/ (20.06.2014).
§
Alvarez, Maria (2010): Kinds of Reasons. An Essay in the Philosophy of Action. Oxford University Press: Oxford.
§
Anscombe, G. Elisabeth M. (1957): Intention. Blackwell: Oxford.
§
Ashford, Elisabeth (2003): The Demandingness of Scanlon’s Contractualism. In: Ethics 113 (2), S. 273-302.
§
Ashford, Elisabeth (2009): Unsere Pflichten gegenüber Menschen in chronischer Armut. In: Barbara Bleisch/ Peter Schaber (Hg.): Weltarmut und Ethik. Mentis: Paderborn, S. 195-211.
§
Ashford, Elisabeth (2000): Utilitarianism, Integrity, and Partiality. In: The Journal of
Philosophy 97 (8), S. 421-439.
§
Bleisch, Barbara/ Schaber, Peter (2009): Einleitung. In: Barbara Bleisch/ Peter Schaber (Hg.): Weltarmut und Ethik. Mentis: Paderborn, S. 9-36.
§
Braddock, Matthew (2013): Defusing the Demandingness Objection: Unreliable Intuitions. In: Journal of Social Philosophy 44 (2), S. 169-191.
§
Bratman, Michael E. (1994): Kagan on “The Appeal to Cost”. In: Ethics 104 (2), S.
325-332.
§
Cappelen, Herman (2012): Philosophy Without Intuitions. Oxford University Press:
Oxford.
§
Carnap, Rudolf/ Stegmüller, Wolfgang (1959): Induktive Logik und Wahrscheinlichkeit. Springer-Verlag: Wien.
§
Chappell, Timothy (2009): Introduction. In: Timothy Chappell (Hg.): The Problem of
Moral Demandingness. Palgrave Macmillan: Basingstoke und New York, S. 1-7.
§
Cullity, Garrett (2009): Demandingness and Arguments from Presupposition. In: Timothy Chappell (Hg.): The Problem of Moral Demandingness. Palgrave Macmillan: Basingstoke und New York, S. 8-34.
§
Cullity, Garrett (2004): The Moral Demands of Affluence. Oxford University Press:
New York und Oxford.
§
Fishkin, James S. (1982): The Limits of Obligation. Yale University Press: New Haven und London.
79
§
Foot, Philippa (1978): The Problem of Abortion and the Doctrine of the Double Effect. In: Philippa Foot: Virtues and Vices and Other Essays in Moral Philosophy. University of California Press: Berkeley und Los Angeles, S. 19-32.
§
Griffin, James (1993): On the Winding Road from Good to Right. In: Raymond G.
Frey/ Christopher W. Morris (Hg.): Value, Welfare, and Morality. Cambridge University Press: Cambridge, S. 158-179.
§
Griffin, James (1992): The Human Good and the Ambitions of Consequentialism. In:
Social Philosophy & Policy 9 (2), S. 118-132.
§
Griffin, James (1986): Well-Being. Its Meaning, Measurement, and Moral Importance.
Clarendon Press: Oxford.
§
Hare, Richard Mervyn (1981): Moral Thinking. Its Levels, Method, and Point. Clarendon Press: Oxford.
§
Heilinger, Jan-Christoph (2012): The Moral Demandingness of Socioeconomic Human Rights. In: Gerhard Ernst/ Jan-Christoph Heilinger (Hg.): The Philosophy of
Human Rights. Contemporary Controversies. Walter de Gruyter: Berlin und Boston,
S. 185-208.
§
Heuer, Ulrike (2011): The Paradox of Deontology, Revisited. In: Mark Timmons
(Hg.): Oxford Studies in Normative Ethics 1. Oxford University Press: Oxford, S.
236-267.
§
Heyd, David (2011): Supererogation. In: Edward N. Zalta (Hg.): The Stanford Encyclopedia
of
Philosophy,
URL:
http://plato.stanford.edu/entries/supererogation/
(20.06.2014).
§
Hooker, Brad (2000): Ideal Code, Real World. A Rule-consequentialist Theory of Morality. Clarendon Press: Oxford.
§
Hooker, Brad (2009): The Demandingness Objection. In: Timothy Chappell (Hg.):
The Problem of Moral Demandingness. Palgrave Macmillan: Basingstoke und New
York, S. 148-162.
§
Kagan, Shelly (1984): Does Consequentialism Demand Too Much? Recent Work on
the Limits of Obligation. In: Philosophy & Public Affairs 13 (3), S. 239-254.
§
Kagan, Shelly (1989): The Limits of Morality. Clarendon Press: Oxford.
§
Kagan, Shelly (2001): Thinking About Cases. In: Social Philosophy & Policy Foundation 18 (2), S. 44-63.
§
Kagan, Shelly (1998): Normative Ethics. Westview Press: Boulder und Oxford.
80
§
LaFollette, Hugh (2003): World Hunger. In: Raymond G. Frey/ Christopher H. Wellman (Hg.): A Companion to Applied Ethics. Blackwell Publishing: Malden, Oxford,
Melbourne und Berlin, S. 238-253.
§
Lawlor, Rob (2009): Shades of Goodness. Gradability, Demandingness and the Structure of Moral Theories. Palgrave Macmillan: Basingstoke und New York.
§
Mackie, John Leslie (1977): Ethics. Inventing Right and Wrong. Penguin Books: London.
§
Mill, John Stuart (2003): On Liberty. In: Mary Warnock (Hg.): Utilitarianism and On
Liberty. Including Mill’s ‘Essay on Bentham’ and selections from the writings of Jeremy Bentham and John Austin. Blackwell Publishing: Malden, Oxford und Melbourne, S. 88-180.
§
Mulgan, Tim (2001): The Demands of Consequentialism. Clarendon Press: Oxford.
§
Murphy, Liam B. (2000): Moral Demands in Nonideal Theory. Oxford University
Press: New York und Oxford.
§
Nagel. Thomas (1991): Equality and Partiality. Oxford University Press: New York
und Oxford.
§
Narveson, Jan (2003): We Don’t Owe Them a Thing! A Tough-Minded but SoftHearted View of Aid to the Faraway Needy. In: The Monist 86 (3), S. 419-433.
§
Nozick, Robert (1974): Anarchy, State, and Utopia. Basic Books: New York.
§
Parfit, Derek (1984): Reasons and Persons. Clarendon Press: Oxford.
§
Pogge, Thomas (2009): Anerkannt und doch verletzt durch internationales Recht: Die
Menschenrechte der Armen. In: Barbara Bleisch/ Peter Schaber (Hg.): Weltarmut und
Ethik. Mentis: Paderborn, S. 95-138.
§
Portmore, Douglas W. (2011): Consequentialism and Moral Rationalism. In: Mark
Timmons (Hg.): Oxford Studies in Normative Ethics 1. Oxford University Press: New
York und Oxford, S. 120-142.
§
Pust, Joel (2012): Intuition. In: Edward N. Zalta (Hg.): The Stanford Encyclopedia of
Philosophy, URL: http://plato.stanford.edu/entries/intuition/ (20.06.2014).
§
Rawls, John (1971): A Theory of Justice. The Belknap Press of Harvard University
Press: Cambridge und London.
§
Raz, Joseph (1993): A Morality Fit for Humans. In: Michigan Law Review 91 (6), S.
1297-1314.
§
Ross, David (1930): The Right and the Good. Clarendon Press: Oxford.
§
Schaber, Peter (2010): Instrumentalisierung und Würde. Mentis: Paderborn.
81
§
Schaber, Peter (2014): Wie anspruchsvoll darf die Moral sein? Eine Kritik des Überforderungseinwandes. Manuskript.
§
Scheffler, Samuel (1992): Human Morality. Oxford University Press: New York und
Oxford.
§
Scheffler, Samuel (2008): Potential Congruence. In: Paul Bloomfield (Hg.): Morality
and Self-Interest. Oxford University Press: Oxford, S. 117-135.
§
Scheffler, Samuel (1994b): Prerogatives Without Restrictions. In: Samuel Scheffler:
The Rejection of Consequentialism. A Philosophical Investigation of the Considerations Underlying Rival Moral Conceptions. Clarendon Press: Oxford, S. 167-192.
§
Scheffler, Samuel (1995): Reply to Three Commentators. In: Philosophy and Phenomenological Research 55 (4), S. 963-975.
§
Scheffler, Samuel (1994a): The Rejection of Consequentialism. A Philosophical Investigation of the Considerations Underlying Rival Moral Conceptions. Clarendon
Press: Oxford.
§
Sellmaier, Stephan (2008): Ethik der Konflikte. Über den angemessenen Umgang mit
ethischem Dissens und moralischen Dilemmata. Kohlhammer: Stuttgart.
§
Singer, Peter (2005): Ethics and Intuitions. In: The Journal of Ethics 9 (3/ 4), S. 331352.
§
Singer, Peter (1972): Famine, Affluence, and Morality. In: Philosophy & Public Affairs 1 (3), S. 229-243.
§
Singer, Peter (2011): Practical Ethics. Cambridge University Press: New York.
§
Slote, Michael (1985): Common-sense Morality and Consequentialism. Routledge &
Kegan Paul: London, Boston, Melbourne und Henley.
§
Sobel, David (2007): The Impotence of the Demandingness Objection. In: Philosophers’ Imprint 7 (8), S. 1-17.
§
Tedesco, Matthew (2011): Intuitions and the Demands of Consequentialism. In: Utilitas 23 (1), S. 94-104.
§
Thomson, Judith Jarvis (1976): Killing, Letting Die, and the Trolley Problem. In: The
Monist 59 (2), S. 204-217.
§
Unger, Peter (1996): Living High and Letting Die. Our Illusion of Innocence. Oxford
University Press: New York und Oxford.
§
Urmson, James O. (1958): Saints and Heroes. In: Abraham I. Melden (Hg.): Essays in
Moral Philosophy. University of Washington Press: Seattle, S. 198-216.
82
§
Wessels, Ulla (2011): Das Gute. Wohlfahrt, hedonisches Glück und die Erfüllung von
Wünschen. Vittorio Klostermann: Frankfurt am Main.
§
Wessels, Ulla (2002): Die gute Samariterin. Zur Struktur der Supererogation. Walter
de Gruyter: Berlin und New York.
§
Williams, Bernard (1973): A Critique of Utilitarianism. In: John J. C. Smart/ Bernard
Williams: Utilitarianism For and Against. Cambridge University Press: New York, S.
75-150.
§
Williams, Bernard (1993): Morality. An Introduction to Ethics. Cambridge University
Press: Cambridge.
§
Williams, Bernard (1981): Persons, Character and Morality. In: Bernard Williams:
Moral Luck. Cambridge University Press: Cambridge, S. 1-19.
§
Wolf, Susan (1995): Moral Judges and Human Ideals: A Discussion of Human Morality. In: Philosophy and Phenomenological Research 55 (4), S. 957-962.
§
Wolf, Susan (1982): Moral Saints. In: The Journal of Philosophy 79 (8), S. 419-439.
83
84