Vergleich der Jugendhilfesysteme

Transcription

Vergleich der Jugendhilfesysteme
Landesjugendamt
Rheinland
Vergleich der Jugendhilfesysteme
Vergleich der
Jugendhilfesysteme
Deutschsprachige Gemeinschaft
Belgiens
Niederlande
Deutschland
Ministerie van Justitie
Raad voor de Kinderbescherming
161
Mitglieder der Arbeitsgruppe „Vergleich der Jugendhilfesysteme“:
Herrn Hein Engels / Bureau Jeugdzorg/Roermond
Herrn Michael Fryns / Ministeriums der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens/Eupen
Frau Ruth Handelmann / Rechtsanwältin/Aachen
Frau Prof. Dr. jur. Ute Kötter / Instituts für Soziales Recht der Fachhochschule
Köln/Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften
Herr Bernd Krott / Stadtjugendamt Herzogenrath
Herrn Nörtershäuser / Landesjugendamtes Rheinland/Köln
Frau Ilona Pijls / Ministrie van Justitie/Raad voor de Kinderbescherming/Maastricht
Frau Prof. Dr. jur. Helga Oberloskamp / Instituts für Soziales Recht der Fachhochschule Köln/Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften
Herr Prof. Dr. jur. Peter Roggendorf / Kath. Fachhochschule Aachen / Fachbereich
Sozialwesen / Lehrgebiet Rechtswissenschaft
Herrn Hartmut Schuck / Kreisjugendamtes Heinsberg
Impressum
Landschaftsverband Rheinland
Landesjugendamt
Amt für Verwaltung und erzieherische Hilfen
50663 Köln
Redaktion und Gestaltung
Brigitte Vöpel
Tel.
: +49 (0)221/809-6770
Fax
: +49 (0)221/8284-1337
E-Mail : [email protected]
September 2007
Dieses Projekt wird von der Europäischen Union kofinanziert.
Frau Vöpel / Landesjugendamtes Rheinland/Köln
1
Gesamtinhaltsübersicht
Seite
Länderbericht Deutschland
Länderbericht der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens
3
51
Länderbericht der Niederlande
105
(Rechts-) Grundlagen grenzüberschreitender Jugendhilfe
153
Ansprechpartner, Adressen
155
2
3
Länderbericht Deutschland
Vorwort
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
so nah und doch so fern!
Sind die Grenzen der Zusammenarbeit in der Jugendhilfe zwischen den belgischen,
niederländischen und deutschen Fachkräften im Dreiländereck der Euregio MaasRhein immer weniger spürbar, bauen sich doch im Verständnis der gesetzlichen
Grundlagen der jeweils anderen Partner Hürden auf.
Dies liegt nicht nur an den zwei verwendeten Sprachen, sondern ist auch darin begründet, dass zurzeit sehr viele Reformansätze in den Ländern umgesetzt werden.
Mitunter ist schon der Blick auf den eigenen Codex schwierig genug.
Mit dieser Broschüre wollen wir diese Lücke, auf die wir immer wieder von Fachkräften
in den vielen gemeinsamen Veranstaltungen der letzten Jahre hingewiesen wurden,
schließen. Es geht hier nicht um die Frage eines systematischen Vergleichs des Jugendrechtes der drei Länder, sondern um konkret an der Praxis orientierte Ländervergleiche, die den Fachkräften vor allen Dingen eine lesbare Zusammenfassung bietet.
Damit wollen wir das gegenseitige Verständnis der Grundlagen von sozialer Arbeit in
den drei Ländern fördern und den Blick dafür weiten, die Grundlagen der Unterschiede
zu verstehen und zu akzeptieren.
Der mit dieser Broschüre erschiene Flyer für die Bürgerinnen und Bürger der Euregio
Maas-Rhein ist ein weiteres Produkt dieses Projektes, wo gezielt über die Ansprechpartner für Familien und deren Kinder in den drei Ländern informiert wird. Damit ist der
Bürgerbezug auch in diesem Projekt hergestellt. Letztendlich wird der Mehrwert für die
Bürgerinnen und Bürger jedoch über ein verbessertes Wissen über die rechtlichen
Grundlagen der Arbeit der Fachkräfte untereinander entstehen.
Diese Broschüre wird das gegenseitige Verstehen der Arbeit der in den anderen Ländern arbeitenden Fachkräfte verbessern und die Kooperation wieder ein Stück voranbringen.
Die Kooperationspartner Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens, Raad voor de Kinderbescherming Maastricht, Bureau Jeugdzorg Roermond, Jugendämter Kreis Heinsberg und Stadt Herzogenrath sowie der Landschaftsverband Rheinland/ Landesjugendamt haben das Vorhaben initiiert und voran getragen sowie materiell wie auch
ideell unterstützt.
Die Euregio Maas-Rhein sowie die Provinz Limburg/Niederlande haben durch die Mittragung der finanziellen Last dieses Projektes wesentlich zum Gelingen beigetragen.
An dieser Stelle sei dafür ausdrücklich gedankt.
Die Fachhochschule Köln hat durch die fachliche Begleitung von Frau Prof. Kötter und
Frau Prof. Oberloskamp erst die Erstellung dieser Broschüre ermöglicht.
Frau Handelmann und Herr Prof. Roggendorf haben durch ihr Engagement unser Anliegen vorangebracht.
Ich wünsche Ihnen bei Ihren Bemühungen, die Kooperation der Jugendhilfe in der Euregio Maas-Rhein weiter wachsen zu lassen alles erdenklich Gute.
Michael Mertens
(Leiter des Dezernates Schulen, Jugend im Landschaftsverband Rheinland)
4
5
Länderbericht Deutschland
Die Jugendhilfe in Nordrhein-Westfalen
Prof. Dr. Helga Oberloskamp, Köln
Inhaltsübersicht
A.
B.
Begriff und Aufgaben der Jugendhilfe
9
1.
Begriff der Jugendhilfe
9
2.
Aufgaben der Jugendhilfe
9
Rechtliche und politische Rahmenbedingungen
10
I.
Verfassungsrechtliche Grundlagen der Jugendhilfe
10
II.
Internationalrechtliche Grundlagen der Jugendhilfe
11
1. Supranationale Rechtsquellen
11
2. Staatsvertragliche multilaterale Rechtsquellen
12
3. Staatsvertragliche bilaterale Rechtsquellen
12
4. Nur die Staaten verpflichtende Übereinkommen
13
III. Nationale Rechtsgrundlagen der Jugendhilfe
1. KJHG / SGB VIII
13
2. AdVermiG
13
3. Ausführungsgesetze der Länder
13
IV. Jugendhilfe im System des Sozialstaats
14
1. Allgemeines
14
2. Die Förderung von Kindern/Jugendlichen durch finanzielle Zuwendungen
an sie oder ihre Eltern
14
2.1
2.2
2.3
2.4
2.5
Mutterschaftsgeld (§§ 19 195 ff. RVO, MuSchG)
Kindergeld (BKGG, EStG
Erziehungsgeld (bis 2006) bzw. Elterngeld (ab 2007) (BErzGG, BEEG)
Unterhaltsvorschuss
Sonstige Sozialleistungen und steuerliche Regelungen
3. Das Bildungssystem
C.
13
14
14
14
15
15
15
Strukturmerkmale der Jugendhilfe
19
I.
Rechtsstellung von Eltern und Kindern im Rahmen der Jugendhilfe
19
1. Eltern
19
2. Kind
19
6
3. Elterliche Sorge
3.1 Entstehung und Inhalt der elterlichen Sorge
3.2 Die elterliche Sorge im Konfliktfall
II.
20
22
Öffentliche Jugendhilfe als Teil der staatlichen Verwaltung
23
1. Staatsaufbau und Verwaltungsstruktur
23
1.1 Rechtsetzung
1.2 Verwaltung
2. Jugendämter
2.1 Jugendhilfe als Selbstverwaltungsaufgabe
2.2 Organisation der Jugendämter
D.
20
23
24
24
24
24
3. Doppelstruktur der Jugendhilfe
25
3.1 Allgemeines
3.2 Staatliches Wächteramt
3.3 Leistungserbringung
25
26
26
Leistungsrecht
27
I.
Rechtsanspruch oder objektives Recht (Reflexrecht )
27
II.
Arten von Leistungen
27
1. Standardleistungen
27
1.1
1.2
1.3
1.4
1.5
1.6
Jugendarbeit und Jugendverbandsarbeit (§§ 11, 12 SGB VIII)
Jugendsozialarbeit (§ 13 SGB VIII)
Erzieherischer Jugendschutz (§ 14 SGB VIII)
Förderung der Erziehung in der Familie (§§ 16 – 21 SGB VIII)
Tageseinrichtungen und Tagespflege (§§ 22 – 26 SGB VIII)
Hilfe zur Erziehung (§§ 27 – 35, 36 – 40 SGB VIII)
1.6.1 Allgemeines
1.6.2 Ambulante Hilfen
1.6.3 Stationäre Hilfen
1.7 Adoptionsvermittlung
2. Hilfen für besondere Personengruppen
2.1 Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Minderjährige
(§ 35 a SGB VIII)
2.2 Hilfe für junge Volljährige (§ 41 SGB VIII)
3. Finanzierung der Leistungen
27
28
28
29
29
30
30
31
33
35
36
36
37
37
7
III. Verfahren und gerichtliche Kontrolle
4. Behördliches Verfahren
38
5. Fehlende Mitwirkungsbereitschaft
38
6. Örtliche Zuständigkeit des Jugendamtes
38
7. Verwaltungsgerichtliches Verfahren
39
IV. Leistungserbringungsrecht
E.
38
39
8. Gewährleistung der Infrastruktur
39
9. Zulassung von freien Trägern
40
10. Beteiligung anderer als öffentlicher Träger an der Erbringung von Leistungen
40
Andere Aufgaben der Jugendhilfe
41
I. Allgemeines
41
II. Intervention bei Gefährdung
42
1. Einordnung
42
2. Abschätzung des Gefährdungsrisikos
42
3. Inobhutnahme
43
III. Mitwirkung der Jugendbehörden bei den Aufgaben der Gerichte
45
1. Allgemeines
45
2. Vormundschafts- und Familiengerichtshilfe
45
3. Jugendgerichtshilfe
45
IV. Rechtliche Fürsorge für Minderjährige (Beistandschaft, Pflegschaft, Vormundschaft)
47
1. Grundsatz: elterliche Sorge
47
2. Ausnahme: staatliche Rechtsfürsorge
47
3. Eintritt der Rechtsfürsorge
47
4. Abgrenzung Vormundschaft – Pflegschaft
47
5. Inhalt von Vormundschaft und Pflegschaft
48
6. Person des Vormunds oder Pflegers
48
7. Beistandschaft
48
8
9
A.
Begriff und Aufgaben der Jugendhilfe
1.
Begriff der Jugendhilfe
Eine gesetzliche Definition von Jugendhilfe gibt es nicht. Es ist der Praxis überlassen
festzulegen, was zur Jugendhilfe gehört und was sie folglich ist. § 1 III SGB VIII beschäftigt sich allerdings mit der Frage, wozu Jugendhilfe „beitragen soll“ und § 2 I SGB
VIII mit der Frage, was sie „umfasst“. Die Fachliteratur und die Praxis der Jugendhilfe
benutzen daher Umschreibungen, einmal
- um sich überhaupt verständlich zu machen und zum anderen
- um eine Abgrenzung von anderen mehr oder weniger verwandten Bereichen zu ermöglichen. Letzteres hat rechtliche Auswirkungen auf die sachliche Zuständigkeit von
Behörden (§§ 85 ff. SGB VIII).
Unstreitig ist, dass der Begriff Jugendhilfe insofern unscharf ist, als er nicht nur jungen
Menschen von 14 bis 18 Jahren meint, sondern auch Kinder bis 14 und junge Volljährige bis 21, in Ausnahmefällen sogar bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres (§ 7
SGB VIII).
Hinsichtlich des Begriffs unterscheidet z.B. Wiesner 1 zwischen einem formellen und
einen materiellen Begriff von Jugendhilfe. Der formelle Begriff meint, was der Gesetzgeber des SGB VIII als Jugendhilfe bezeichnet oder erkennbar diesem Gebiet zuordnet. Demnach ist Jugendhilfe die Summe der Aufgaben, die das SGB VIII den Trägern
der öffentlichen Jugendhilfe zuweist. Der materielle Begriff der Jugendhilfe findet sich
ansatzweise in § 1 III SGB VIII. Demnach sind die Charakteristika von Jugendhilfe
- die Förderung der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen
- die Unterstützung, Herstellung oder Wiederherstellung der elterlichen Erziehungsverantwortung (§§ 1626 ff. BGB) und die Achtung des elterlichen Erziehungsprimats
bis zur Grenze missbräuchlichen und kindeswohlschädigenden Verhaltens (§ 1666
BGB)
- der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gefahren für ihr Wohl
- der Beitrag zum Erhalt oder zur Schaffung positiver Lebensbedingungen sowie
einer kinder- und familienfreundlichen Umwelt.
Wenn man den Begriff Jugendhilfe weniger abstrakt umschreiben will, so kann man
sagen, dass er ein Sammelbegriff ist für Hilfe- und Förderungsmaßnahmen in Erziehungsfeldern außerhalb von Familie, Schule und Berufsbildung sowie innerhalb von
Familie, Schule und Berufsbildung zu deren Unterstützung 2.
2.
Aufgaben der Jugendhilfe
Die Aufgaben der Jugendhilfe ergeben sich aus dem Jugendhilfegesetz, dessen wichtigster Bestandteil das SGB VIII ist, sowie aus den dazu gehörigen Nebengesetzen (die
bedeutendsten: Adoptionsvermittlungsgesetz (AdVermiG) und die Ausführungsgesetze der Bundesländer) 3. Demnach ist gem. § 2 SGB VIII zwischen sog. „Leistungen“
und „anderen Aufgaben“ zu unterscheiden.
Leistungen sind Vorteile, die ein Leistungsträger einer Privatperson zur Verwirklichung
von sozialen Rechten zukommen lässt. Ihre Inanspruchnahme ist freiwillig. Man unterscheidet Anspruchs- („muss“, „hat zu“, „hat ein Recht auf“) und Ermessensleistungen
(„kann“). Erstere kann der Bürger einklagen, wenn er die gesetzlichen
1
Einleitung Rn. 42 ff.
2
Oberloskamp/ Adams S. 6
3
die Nebengesetze von NRW finden sich unten unter 3.4
10
Voraussetzungen erfüllt. Bei den Letzteren hat die Behörde einen Spielraum für ihre
Entscheidung, so dass es in der Regel mehrere richtige behördliche Reaktionen gibt,
deren Wahl gerichtlich nicht überprüft und geändert werden kann. Zwischen diesen
beiden Kategorien gibt es die Soll-Leistungen, die im Regelfall den Charakter von
Muss-Leistungen haben.
Die anderen Aufgaben stellen eine „Restkategorie“ dar. Sie haben keine gemeinsamen
Merkmale. Historisch betrachtet haben sie eine Art polizeilichen Charakter. Sie lassen
sich heute dem „staatlichen Wächteramt (Art. 6 III GG) zuordnen. Auf ihre Erfüllung hat
der betroffene Bürger keinen direkten Einfluss.
B.
Rechtliche und politische Rahmenbedingungen
I.
Verfassungsrechtliche Grundlagen der Jugendhilfe
In der deutschen Verfassung, dem Grundgesetz (GG), kommt weder das Wort Jugendhilfe vor noch ist das Kind oder der Jugendliche in einem eigenen Artikel des Gesetzes geregelt. Daraus den Schluss zu ziehen, dass der deutsche Gesetzgeber an
Kindern und Jugendlichen kein Interesse habe, wäre jedoch mehr als voreilig. Die
Norm, in der Kinder u. a. vorkommen, ist Art 6 GG. Er lautet in den für die betroffenen
Bereiche einschlägigen Absätzen folgendermaßen:
(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.
(2) 1. Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst
ihnen obliegende Pflicht. 2. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.
(3) Gegen den Willen des Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen der wenn
die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.
Inhaltlich wirklich verstehen kann man diese Vorschriften nur auf dem Hintergrund der
deutschen Geschichte. Im sog. „Dritten Reich“ hatten die staatlichen Behörden und
nicht die Eltern Vorrang bei der Kindererziehung. Die Kinder wurden quasi „dem Führer
geschenkt“, und dieser gab sie den Eltern nur treuhänderisch zurück. Aus diesen Erfahrungen wollte der deutsche Verfassungsgeber von 1949 Lehren ziehen. So etwas
sollte nie wieder möglich sein. Folglich wurde die Stellung der Eltern sehr stark gestaltet, allerdings keineswegs zum Nachteil der Kinder.
Grundaussage ist, dass vorrangig die Eltern für ihre Kinder verantwortlich sind. Sie
sind die primären Erziehungsträger. Solange die Kinder durch das elterliche Erzieherverhalten nicht gefährdet werden, kann der Staat nur fördernde Hilfe anbieten. Wird sie
nicht in Anspruch genommen, kann der Staat nicht eingreifen. Keinesfalls kann er, sofern Kinder bei ihren eigenen Eltern nicht optimal aufwachsen, sich einmischen und
bessere oder gar die besten Eltern für diese Kinder suchen. Allerdings ist der Staat
aufgefordert, darüber zu „wachen“, wie Eltern ihre Kinder erziehen. Werden Kinder
durch elterliches Fehlverhalten (aktiv durch Missbrauch ihrer Rechtsmacht, passiv
durch Vernachlässigung der Kinder) in ihrem Wohl gefährdet, dann ist die Schwelle
erreicht, bei der der Staat das elterliche Verhalten nicht mehr tolerieren kann und eingreifen muss. Der Staat ist nur ein „Wächter“. Man spricht daher vom „Staatlichen
Wächteramt“. Wer dieses Wächteramt konkret ausübt, ist in der Verfassung nicht gesagt. Es ist aber klar, dass dies primär die Jugendämter sowie die Familien- und Vormundschaftsgerichte sind. Darüber hinaus müssen es auch andere Behörden sein, die
mit Kindern zu tun haben, wie z.B. die Schule, die Polizei, die Gesundheitsämter. Neuerdings hat der Gesetzgeber ausdrücklich klar gestellt, dass dies in der Jugendhilfe
auch die freien Träger sind. Für private Schulen fehlt bisher eine entsprechende Verpflichtung.
11
Aus der Tatsache, dass der Staat über Wohl und Wehe der Kinder wachen muss, wird
hergeleitet, dass er auch schon präventiv dafür Sorge tragen muss, dass eine Kindesgefährdung erst gar nicht eintritt. Er muss daher im Vorfeld Fördermaßnahmen und
Hilfen anbieten. Dies ist die vorrangige Aufgabe von Jugendämtern. Diese sind primär
Leistungs- und nur nachrangig Eingriffsbehörden.
Aus Art. 6 II GG hat das Kind also das Recht auf Förderung und Schutz. Daneben hat
es auch die Rechte, die jedem Menschen in Deutschland zustehen. Es hat daher das
Recht auf Schutz seiner Menschenwürde (Art. 1 GG), auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit (Art.1 I GG) und auf Gleichbehandlung vor dem Gesetz, unabhängig von
seinem Geschlecht, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat
und Herkunft, seinem Glauben, seiner religiösen und politischen Anschauung sowie
seiner Behinderung (Art.3 GG).
Zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen gehört auch die gerichtliche Durchsetzung
der verfassungsmäßigen Rechte. Eine Verletzung dieser Rechte kann vor den Gerichten geltend gemacht werden. Hier stehen dem Kind zunächst die Fachgerichte (alle
Gerichte unterhalb des Verfassungsgerichts), sodann auch der Weg zum Bundesverfassungsgericht (BVerfG) offen. Nach Erschöpfung des Rechtswegs bei den Fachgerichten kann es Verfassungsbeschwerde einlegen. Das BVerfG kann dann feststellen,
dass das Kind durch einen staatlichen Akt in seinen Grundrechten verletzt ist.
II.
Internationalrechtliche Grundlagen der Jugendhilfe
Im internationalen Sektor sind verschiedene Rechtsquellen von Jugendhilfe zu unterscheiden:
- die supranationalen
- die multilateralen staatsvertraglichen
- die bilateralen staatsvertraglichen.
Keine Rechtsquelle sind solche internationale Verträge, die nur die Vertragsstaaten
verpflichten, ihr nationales Recht entsprechend zu gestalten.
1.
Supranationale Rechtsquellen
In dieser ersten Kategorie gibt es unterschiedliche Normtypen. Zum ersten Normtyp
gehört die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten 4. Sie enthält materielles Recht, das für alle Bürger Deutschlands unmittelbar gilt und auf das
diese sich (nach Erschöpfung des nationalen Rechtswegs) vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte berufen können. Für den Bereich der Jugendhilfe spielt
vor allem Art. 8 EMRK eine Rolle. Er schützt das Familienleben und lässt einen behördlichen Eingriff nur zu, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwenig ist.
Zum zweiten Normtyp zählt zwar auch unmittelbar geltendes Recht, das allerdings nur
Fälle mit Auslandsberührung betrifft, für die früher Staatverträge oder das autonome
deutsche Recht die Rechtsgrundlage darstellten. Hier sind für die Jugendhilfe zwei EGVerordnungen bedeutsam. Durch die
- VO (EG) Nr. 1347/ 2000 des Rates über die Zuständigkeit und die Anerkennung und
Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung für die gemeinsamen Kinder der Ehegatten vom 29.5.2000 5
(Sprachgebrauch: „Brüssel II“), bereits weitgehend abgelöst durch die - VO (EG) Nr.
4
i.d.F. der Bekanntmachung v. 17.5.2002 (BGBl. II S.1055)
5
ABl. EG 2000, Nr. L 160, S. 19
12
2201/ 2003 des Rates über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung
von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der VO (EG) Nr. 1347/ 2000 vom 27.11.2003 6 (Sprachgebrauch: „Brüssel II a“) wird neben Ehesachen (die natürlich keine Jugendhilfe sind)
das ganze Spektrum der jugendhilferechtlichen Hilfs- und Schutzmaßnahmen einbezogen (Art.1 Brüssel II a). Dass diese VO nicht nur Gerichte, sondern auch Behörden mit
ihren Entscheidungen betrifft, ergibt sich aus Art. 2 Nr.1 Brüssel II a.
2.
Staatsvertragliche multilaterale Rechtsquellen
In der zweiten Kategorie findet sich eine große Menge von Abkommen, die ebenfalls
kein materielles Jugendhilferecht, jedoch für Fälle mit Auslandsberührung Regeln in
allen rechtlich relevanten Bereichen (internationale Zuständigkeit, Anerkennung, anzuwendendes Recht, Vollstreckung, internationale Kooperation) enthalten. Hierzu gehören u. a., wobei nicht präzisiert werden soll, für welche der genannten Bereiche sie
Geltung besitzen, folgende Übereinkommen 7:
- Haager Vormundschaftsabkommen vom 12.06.1902
- Deutsch-iranisches Niederlassungsabkommen vom 17.02.1929
- Europäisches Fürsorgeabkommen (EFA) vom 11.12.1953
- Haager Unterhaltsstatutabkommen (UStA) vom 24.10.1956
- Haager Unterhaltsvollstreckungsabkommen (UVA) vom 15.04.1958
- CIEC-Vaterschaftsübereinkommen (CIEC-VatÜ) vom 14.09.1961
- CIEC-Mutterschaftsübereinkommen (CIEC-MutÜ) vom 12.09.1962
- EG-Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen (GVÜ) vom 27.09.1968
- Haager Unterhaltsvollstreckungsabkommen (UVA) vom 02.10.1973
- Haager Unterhaltsstatutabkommen (UStA) vom 02.10.1973
- Europäisches Sorgerechtsübereinkommen vom 20.05.1980
- Haager Kindesentführungsübereinkommen vom 25.10.1980
- Auslandsunterhaltsgesetz (AUG) vom 19.12.1986
- Luganer Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen (LugÜ) vom 16.9.1988 Haager Adoptionsübereinkommen (AdÜb) vom 29.05.1993
- Haager Kinderschutzübereinkommen (KSÜ) vom 19.10.1996
3.
Staatsvertragliche bilaterale Rechtsquellen
Die staatsvertraglichen bilateralen Rechtsquellen sollen nicht alle aufgeführt werden,
weil sie in der Jugendhilfe keine wesentliche Rolle spielen. Sie gelten mit zwei Ausnahmen vor allem für das Unterhaltsrecht, sind aber durch das supranationale Recht
und die multilateralen Abkommen sowieso weitgehend bedeutungslos geworden. Sie
sind nachzulesen in Jayme/ Hausmann.
Als gerade für die Jugendhilfe eventuell relevant sollen benannt werden:
- Deutsch-österreichisches Vormundschaftsabkommen vom 05.02.1927
- Deutsch-österreichisches Fürsorgeabkommen vom 17.01.1966
6
ABl. EG 2003, Nr. L 338, S.1
7
Fundstellen in Jayme/ Hausmann, Internationales Privat- und Verfahrensrecht, 13.
Aufl. 2006
13
4.
Nur die Staaten verpflichtende Übereinkommen
In diesem Sektor ist das wichtigste Übereinkommen
- die UN-Kinderrechtskonvention vom 20.11.1989 8.
An ihr muss jeder nationale Gesetzgeber sein autonomes Recht messen und es ggfs.
den Normen der Konvention anpassen. Der einzelne Bürger kann sich nicht auf die
Bestimmungen der Konvention berufen und sie erst recht nicht einklagen.
III.
Nationale Rechtsgrundlagen der Jugendhilfe
1.
KJHG/ SGB VIII
Die Jugendhilfe im engen Sinn ist geregelt im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG)
vom 26.6.1990 9. Dieses besteht wie fast alle modernen Gesetze aus einer Reihe von
Artikeln, von denen Art. 1 das Sozialgesetzbuch VIII ist, das das vorher geltende Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) abgelöst hat. Das SGB VIII ist also Teil des Sozialgesetzbuches, das inzwischen (es wächst noch) 12 Bücher umfasst.
Da die Jugendhilfe somit im Sozialgesetzbuch geregelt ist, gelten für das SGB VIII die
sog. allgemeinen Teile des SGB, also SGB I mit seine verwaltungsmäßigen Grundlagen und SGB X mit seinen verwaltungsverfahrensrechtlichen Normen.
2.
AdVermiG
Teil der Jugendhilfe ist weiterhin das Adoptionsvermittlungsgesetz (AdVermiG). In der
Rechtsgeschichte sollte es mehrmals in das Jugendhilfegesetz integriert werden. Dies
scheiterte jedoch bisher aus unterschiedlichsten Gründen. So ist es jetzt so, dass es
aufgrund eines Verweises des KJHG (Art.2 Nr.3) bis zur Einordnung in das SGB als
besonderer Teil des Sozialgesetzbuches gilt.
3.
Ausführungsgesetze der Länder
Zur Jugendhilfe gehört ferner das Landesrecht, das aufgrund einer Reihe von Einzelermächtigungen des SGB VIII von den 16 Bundesländern erlassen worden ist. Für
NRW ist es - Erstes Gesetz zur Ausführung des KJHG (AG KJHG NW) (Organisationsgesetz) vom 12. 12.1990 10
- Zweites Gesetz zur Ausführung des Gesetzes zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts (Gesetz über Tageseinrichtungen für Kinder - GTK) vom 29.10.1991,
zuletzt geändert durch Gesetz vom 27.01.2004 11
- Drittes Gesetz zur Ausführung des KJHG; Gesetz zur Förderung der Jugendarbeit,
der Jugendsozialarbeit und des erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes (Kinderund Jugendförderungsgesetz - 3. AG-KJHG - KJFöG) v. 12.10.2004 12.
8
BGBl. 1992 II S. 990, Vertragsgesetz v. 21.2.1992 - BGBl. II S. 121
9
BGBl. I S. 1163
10
GV.NRW S. 498
11
GV.NRW S. 380 und GV.NRW S.30
12
GV.NRW S.572
14
IV.
Jugendhilfe im System des Sozialstaats
1.
Allgemeines
Die deutsche Jugendhilfe ist eine Art Vollzug des Jugendhilferechts. Das Recht grenzt
sich ab von der Politik, die entweder als Reaktion auf gesellschaftliche Bedürfnisse
oder als Umsetzung einer Rechtsidee Einfluss auf die Legislative nimmt. Die in der
Gesellschaft vorhandenen Bereiche und Begriffe von Recht und Politik decken sich nur
teilweise. Im Sprachgebrauch steht dem Jugendhilferecht keine Jugendhilfepolitik gegenüber. Vielmehr ist letztere Teil der Jugendpolitik, die neben dem Jugendhilferecht
andere Bereiche umfasst wie z.B. das Jugendstrafrecht und das Jugendschutzrecht.
Das Jugendstrafrecht wird allerdings auch von der Rechtspolitik, die sich mit Strafrecht
befasst, beansprucht, ebenso wie das Jugendschutzrecht, soweit es den Jugendarbeitsschutz betrifft, von der Arbeits- und Sozialpolitik beansprucht wird. Umgekehrt
richtet die Sozialpolitik ihr Augenmerk nicht sehr auf das Jugendhilferecht, bei dem
finanzielle Leistungen weniger im Vordergrund stehen als bei sonstigen Sozialleistungen. Allerdings befasst sie sich mit sonstigen finanziellen Leistungen für oder durch
Kinder und Jugendliche, wie z.B. Kindergeld, Elterngeld, Ausbildungsförderung. Auch
der Unterhaltsvorschuss könnte hierhin gehören, ist aber gesetzlich den Jugendämtern
zugewiesen, auch wenn er nicht im SGB VIII geregelt ist. Die Ausbildungsförderung
umgekehrt, die ohne weiteres Teil von Jugendpolitik sein kann, lässt sich natürlich
auch dem Schul- und Bildungsbereich zurechnen, auch wenn sie während der allgemeinen Schulpflicht noch nicht zum Einsatz kommt. Die Familienpolitik schließlich hat
mit dem Familienrecht fast gar nichts zu tun, da sie sich nicht vorrangig auf die zivilrechtliche Rechtsstellung von Kindern und ihren Eltern, sondern auf die Förderung von
Familie insgesamt, d.h. primär auf Sozialleistungen im öffentlichen Recht bezieht.
2.
Die Förderung von Kindern und Jugendlichen durch finanzielle Zuwendungen an sie oder ihre Eltern
2.1
Mutterschaftsgeld (§§ 195 ff. RVO, MuSchG)
Für die Zeit des Mutterschutzes (6 Wochen vor und 8 Wochen nach der Geburt) gibt es
Mutterschaftsgeld. Dieses beträgt bei gesetzlich Krankenversicherten genauso viel wie
ihr bisheriger Nettoverdienst. Bis zu 13 € pro Tag trägt die Krankenkasse oder der
Bund, den Rest der Arbeitgeber. Bei privat Krankenversicherten erbringt deren private
Versicherung vergleichbare Leistungen, die ebenfalls durch den Arbeitgeber ergänzt
werden.
2.2
Kindergeld (BKGG, EStG)
Das Kindergeld (nach BKGG) bzw. der steuerliche Kinderfreibetrag (nach EStG) dienen im Rahmen des Familienlastenausgleichs der steuerlichen Freistellung des Existenzminimums für Kinder bei der Einkommenssteuer. Die Höhe des Kindergeldes ist
nach der Kinderzahl gestaffelt. Es beträgt zurzeit für das erste bis dritte Kind jeweils
154 €, für jedes weitere Kind 179 €.
2.3
Erziehungsgeld (bis 2006) bzw. Elterngeld (ab 2007) (BErzGG, BEEG)
2.3.1 Das Erziehungsgeld war (und ist für die „Altfälle“) eine familienpolitische Leistung
an Eltern für die persönliche Betreuung ihres Kindes in den ersten beiden Lebensjahren, die unabhängig von der Erwerbsbeteiligung der Eltern gezahlt wurde. Das Erziehungsgeld wurde in den ersten sechs Lebensmonaten des Kindes als Pauschalbetrag
(450 €) und ab dem siebenten Lebensmonat bis zum 24. Lebensmonat einkommensabhängig (300 €) gezahlt.
15
2.3.2 Das Elterngeld, auf das für Kinder, die ab dem 1.1.2007 geboren sind, Anspruch
besteht, wird in Höhe von 67 % des Einkommens aus Erwerbstätigkeit gezahlt, das in
den 12 Kalendermonaten vor dem Monat der Geburt des Kindes monatlich durchschnittlich erzielt worden ist. Es beträgt höchstens 1.800 € und mindestens 300 € pro
Monat. Um Personen mit geringem Einkommen besser zu stellen, gilt für sie die Geringverdiener-Komponente, aufgrund derer sie mehr als 67 % des vorherigen Verdienstes erhalten. Einen Geschwisterbonus gibt es, wenn neben dem neuen Kind mindestens ein Geschwisterkind unter 3 Jahren oder 2 Geschwisterkinder unter 6 Jahren vorhanden sind. Er beträgt 10 % des Elterngeldes, mindestens jedoch 75 €.
2.4
Unterhaltsvorschuss (UVG)
Das Unterhaltsvorschussgesetz unterstützt Alleinerziehende (ledig, verwitwet, geschieden, dauernd getrennt lebend) und ihre Kinder, wenn der andere Elternteil, bei
dem das Kind nicht lebt,
- sich seiner Unterhaltspflicht ganz oder teilweise entzieht oder
- zur Unterhaltsleistung nicht oder nicht hinreichend imstande ist oder
- verstorben ist.
Den Anspruch haben Kinder unter 12 Jahren. Er beläuft sich für Kinder der ersten Altersstufe (bis 6 Jahre) bis 30.6.2007 (danach regelmäßige zweijährliche Erhöhung) auf
204 €, für Kinder der zweiten Altersstufe (bis 12 Jahre) auf 247 €. Die Leistung kann
längstens 72 Monate in Anspruch genommen werden. Unterhaltszahlungen und Waisenbezüge werden auf den Anspruch angerechnet.
2.5
Sonstige Sozialleistungen und steuerliche Regelungen
Darüber hinaus werden Kinder in allen Sozialleistungsgesetzen, bei denen es um Geld
oder geldwerte Leistungen geht (Wohngeld, Wohnberechtigungsschein, Beratungsund Prozesskostenhilfe, Leistungen bei Krankheit, Arbeitslosengeld, Grundsicherung,
Sozialhilfe, Arbeitsförderung, Ausbildungsförderung) geht, leistungssteigernd berücksichtigt.
Auch im Steuerrecht (Kinderfreibetrag, Haushaltsfreibetrag, Außergewöhnliche Belastung, Pflege-Pauschbetrag, Kinderbetreuungskosten, Hausgehilfin, Kirchensteuer,
Ausbildungsfreibetrag, Pauschbetrag für Körperbehinderung) spielen sie eine wichtige
Rolle.
3.
Bildungssystem 13
Kindergärten
Kindergärten besuchen Kinder vom 3. Lebensjahr bis zum Schuleintritt ganztags oder
für einen Teil des Tages. Der Besuch ist freiwillig. Die Aufgabe der Kindergärten umfasst die Betreuung, Bildung und Erziehung des Kindes. Es soll die Entwicklung des
Kindes zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit gefördert werden. In einigen Ländern existieren auch andere Einrichtungen des Übergangs
in die Grundschule wie Vorklassen und Schulkindergärten.
Grundschulen
Die Grundschulen umfassen die ersten vier Schuljahre, in Berlin und Brandenburg existiert die sechsjährige Grundschule. Grundschulen werden von allen Kindern besucht
und bereiten durch die Vermittlung von Grundkenntnissen auf den Besuch weiterführ-
13
Herausgegeben vom: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), Referat Publikationen; Internetredaktion, 11055 Berlin
16
ender Schulen vor. Der Unterricht umfasst in der Regel die Fächer Deutsch, Mathematik, Sachunterricht, Kunst, Musik und Sport. Angebote zum Fremdsprachenunterricht
werden in allen Ländern erweitert.
Orientierungsstufe
Die Orientierungsstufe ist die Zusammenfassung der Klassenstufen 5 und 6, die entweder den weiterführenden Schulen zugeordnet (schulartabhängige Orientierungsstufe) oder von ihnen getrennt (schulartunabhängige Orientierungsstufe) sind. Sie dient
der Förderung und Orientierung der Schüler auf die weitere Schullaufbahn.
Hauptschulen
Die Hauptschulen sind Pflichtschulen für alle Schüler, die nach dem Besuch der
Grundschulen nicht auf eine andere weiterführende Schule gehen. Sie endet mit der 9.,
in einigen Ländern mit der 10. Klassenstufe. In der Mehrheit der Länder wird ein freiwilliges 10. Hauptschuljahr angeboten. Rund 30% der Hauptschüler besuchen das 10.
Schuljahr. Die Hauptschule vermittelt eine allgemeine Bildung als Grundlage für eine
praktische Berufsausbildung.
Realschulen
Weiterführende Schulen mit den Klassenstufen 5 bzw. 7 bis 10. Das Abschlusszeugnis
der Realschulen bietet im Allgemeinen die Grundlage für gehobene Berufe aller Art
und berechtigt zum Besuch der Fachoberschule, des Fachgymnasiums oder zum
Übergag auf ein Gymnasium in Aufbauform. Die Realschule vermittelt eine erweiterte
allgemeine Bildung.
Gymnasien
Weiterführende, allgemein bildende Schulen, die im Regelfall9 oder 8 (Klassenstufe 5
bis 13 bzw. 12) bzw. 7 (Klassenstufen 7 bis 13) Klassenstufen umfassen. Fast alle
Länder bieten mittlerweile die Möglichkeit an oder planen sie, bereits nach 12 Jahren
das Abitur abzulegen. Es gibt außerdem„Gymnasien in Aufbauform“, deren Besuch im
Allgemeinen den Realschulabschluss voraussetzt. Das Abschlusszeugnis des Gymnasiums (= allgemeine Hochschulreife) gilt als Befähigungsnachweis zum Studium an
allen Hochschulen.
Gesamtschulen
In dieser Schulform sind die verschiedenen weiterführenden Schularten in unterschiedlicher organisatorischer und inhaltlicher Form zusammengefasst. Es werden integrierte
Gesamtschulen (gemeinsamer Unterricht aller Schüler) sowie additive und kooperative
Gesamtschulen (verschiedene Schularten der Sekundarstufe I in einer gemeinsamen
Schulanlage) unterschieden.
Fachgymnasien
Berufsbezogene Gymnasien, die auf einem Realschulabschluss oder einem gleichwertigen Abschluss aufbauen. Sie vermitteln nach 3 Jahren (Klassenstufen 11 bis 13) den
Befähigungsnachweis für das Studium an allen Hochschulen (= allgemeine Hochschulreife).
Sonderschulen
An Sonderschulen wird durch spezielle pädagogische Konzepte und Förderungsmaßnahmen den besonderen Belangen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen
Rechnung getragen. Diese Schulen sind jeweils auf die unterschiedlichen Behinderungsarten ausgerichtet und erteilen Unterricht von der Primar- bis zur Sekundarstufe II
(z. T. auch mit Internat).
17
Ziel ist es, neben der Vermittlung von Bildungsinhalten auch lebenspraktische und sozial integrative Hilfen zu geben. Entsprechende Einrichtungen bestehen auch im Bereich von Realschulen, Gymnasien und bei den beruflichen Schulen.
Abendschulen und Kollegs
Einrichtungen, an denen Erwachsene auf dem „Zweiten Bildungsweg“ den Hauptschulabschluss, den Realschulabschluss oder die allgemeine Hochschulreife erwerben
können. Dazu gehören die Abendhauptschule, die Abendrealschule und das Abendgymnasium. Der Unterricht findet abends statt; die Teilnehmer sind in den ersten Jahren berufstätig. An Kollegs wird die allgemeine Hochschulreife erworben; sie sind Vollzeitschulen, deren Schüler nicht berufstätig sind.
Berufsgrundbildungsjahr
Den Teilnehmern wird durch Vollzeit- und Teilzeitunterricht eine allgemeine oder auf
ein Berufsfeld bezogene berufliche Grundbildung vermittelt.
Duale Berufsausbildung
Das System heißt „dual“, weil die Ausbildung an zwei Lernorten durchgeführt wird: im
Betrieb und in der Berufsschule. Es ist der Kernbereich der Berufsausbildung in
Deutschland; mehr als 60% eines Altersjahrganges absolvieren eine Berufsausbildung
in diesem System. Die Ausbildung in den einzelnen Berufen erfolgt auf der Grundlage
von Ausbildungsordnungen (= Rechtsverordnungen des Bundes). Zurzeit gibt es rund
350 aufgrund von Ausbildungsordnungen anerkannte Ausbildungsberufe.
Fachoberschulen
Sie bauen auf dem Realschulabschuss oder einem als gleichwertig anerkannten Abschluss auf. Der Schulbesuch dauert bei Vollzeitunterricht mindestens 1 Jahr, bei Teilzeitunterricht bis zu 3 Jahren. Das Abschlusszeugnis gilt als Zugangsberechtigung zum
Studium an Fachhochschulen.
Berufsfachschulen
Berufsfachschulen sind Vollzeitschulen, die mindestens für die Dauer eines Jahres
besucht werden. Sie können in der Regel freiwillig nach Erfüllung der Vollzeitschulpflicht zur Berufsvorbereitung oder zur vollen Berufsausbildung ohne vorherige praktische Berufsausbildung besucht werden. Sie schließen mit einer Abschlussprüfung ab;
der Abschluss nach zweijährigem Schulbesuch entspricht der dem Realschulabschluss
gleichgestellten Fachschulreife. Absolventen können einen Abschluss in einem anerkannten dualen Ausbildungsberuf erreichen.
Berufsaufbauschulen
Berufsaufbauschulen werden von Jugendlichen besucht, die eine Berufsausbildung
absolvieren oder eine Berufstätigkeit ausüben. Sie können nach mindestens einem
halbjährigen Besuch einer Berufsschule neben dieser oder nach erfüllter Berufsschulpflicht besucht werden. Sie sind meist nach Fachrichtungen gegliedert. Die Unterrichtsdauer beträgt bei Vollzeitschulen 1 bis 1 1/2, bei Teilzeitschulen 3 bis 3 1/2 Jahre.
Der erfolgreiche Abschluss vermittelt die dem Realschulabschluss vergleichbare Fachschulreife.
Schulen des Gesundheitswesens
An ihnen erfolgt die Ausbildung für nichtakademische Berufe des Gesundheitswesens
wie z. B. Kranken- und Kinderkrankenpfleger/in, Hebammen/Entbindungshelfer, Masseur/in, Beschäftigungstherapeuten/-therapeutin. Viele dieser Schulen sind organisatorisch und räumlich mit Krankenhäusern verbunden, an denen sowohl die theoretische
als auch die praktische Ausbildung stattfinden.
18
Fachschulen
Fachschulen werden freiwillig nach einer bereits abgeschlossenen Berufsausbildung
und praktischen Berufserfahrungen, teilweise auch nach langjähriger praktischer Berufserfahrung oder aufgrund des Nachweises einer fachspezifischen Begabung besucht. Sie vermitteln eine weitergehende fachliche Ausbildung im Beruf (z. B. Meisterschulen, Technikerschulen). Der Schulbesuch dauert bei Vollzeitunterricht zwischen
einem halben Jahr und drei Jahren, bei Teilzeitunterricht in der Regel 6 bis 8 Halbjahre.
Universitäten (Technische Universitäten, Technische Hochschulen)
Sie sind die traditionellen Hochschultypen in Deutschland. An ihnen wird das breite
Spektrum der Studienfächer angeboten. Sie verbinden die Aufgaben Lehre und Forschung. Sie haben das Promotionsrecht.
Kunst-, Musik-, Theologische und Pädagogische Hochschulen
An Kunst- und Musikhochschulen werden Studierende in den bildenden, gestalterischen und darstellenden Künsten bzw. in musikalischen Fächern ausgebildet. An
Theologischen Hochschulen werden Theologen ausgebildet. An den Pädagogischen
Hochschulen (zurzeit nur noch in Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt, SchleswigHolstein und Thüringen) werden Grund-, Haupt- und Realschullehrer, teilweise auch
Lehrer für Sonderschulen, ausgebildet. In den übrigen Ländern findet die Ausbildung
von Lehrern an Universitäten, Technischen Universitäten/ Hochschulen, Gesamthochschulen bzw. Kunst- und Musikhochschulen statt.
Gesamthochschulen
Gesamthochschulen (nur in Hessen und Nordrhein-Westfalen) verbinden die Aufgaben
in Forschung, Lehre und Studium, die sonst von Universitäten, Pädagogischen Hochschulen, Fachhochschulen und zum Teil auch von Kunst- und Musikhochschulen
wahrgenommen werden. Kennzeichnend für sie sind integrierte Studiengänge. Die
Gesamthochschulen führen die Bezeichnung „Universität-Gesamthochschulen“.
Fachhochschulen und Verwaltungsfachhochschulen
Fachhochschulen und Verwaltungsfachhochschulen haben die Aufgabe, durch eine
stark anwendungsbezogene Ausbildung auf berufliche Tätigkeiten vorzubereiten, die
die Anwendung wissenschaftlicher Kenntnisse und Methoden oder die Fähigkeit zur
künstlerischen Gestaltung erfordern. Sie bieten Studiengänge vor allem im Ingenieurwesen und in den Bereichen Wirtschaft, Sozialwesen, Landwirtschaft und Gestaltung
an. An den Fachhochschulen für öffentliche Verwaltung des Bundes und der Länder
werden Beamte für die Laufbahn des gehobenen Dienstes in der öffentlichen Verwaltung ausgebildet.
Weiterbildung
Weiterbildung ist die Fortsetzung oder Wiederaufnahme jeder Art des Lernens (auch
des informellen) nach Abschluss einer unterschiedlich ausgedehnten Bildungsphase in
Kindheit und Jugend. Unterschieden werden die beiden Hauptbereiche allgemeine und
berufliche Weiterbildung. Die Bereiche der politischen und kulturellen Weiterbildung
sind schwerpunktmäßig der allgemeinen Weiterbildung zugeordnet. Für beide Weiterbildungsbereiche gibt es Angebote der Hochschulen und freien Träger zur wissenschaftlichen Weiterbildung sowie Fernunterrichtsangebote. Geprägt wird der Weiterbildungsbereich durch die Freiwilligkeit der Teilnahme, Vielfalt der Angebote und Pluralität der Träger sowie die subsidiäre Rolle des Staates.
19
C.
Strukturmerkmale der Jugendhilfe
I.
Die Rechtsstellung von Eltern und Kindern 14 im Rahmen der Jugendhilfe
1.
Eltern
Obwohl es bei der Jugendhilfe um die Förderung von Kindern und Jugendlichen geht,
ist das deutsche Jugendhilferecht in Anlehnung an Art. 6 GG so konzipiert, dass Inhaber des Anspruchs auf Leistungen nach dem KJHG in der Regel die Eltern sind. Sie
treten daher nicht als gesetzliche Vertreter des Kindes auf, sondern im eigenen Namen. Ihr Anspruch geht dahin, sie instand zu setzen, die Aufgaben der Erziehung erfüllen zu können, bzw. dahin, dem Kind Leistungen zu erbringen, die sie selber nicht
erbringen können (Vertrag zu Gunsten Dritter,
§ 328 BGB).
2.
Kind
Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Kind nur Objekt elterlichen bzw. staatlichen Handelns ist. Vielmehr wird das Kind in vielfältiger Weise an der Entscheidungsfindung und
Umsetzung beteiligt. Dabei kann die Rechtsstellung des Kindes im Gefüge der Gewährung von Jugendhilfe nicht schlechter sein als bei der Ausübung elterlicher Sorge.
Im Recht der elterlichen Sorge ist den Eltern aufgegeben, bei der Pflege und Erziehung
ihres Kindes dessen wachsende Fähigkeit und sein wachsendes Bedürfnis zu selbständigem verantwortungsbewusstem Handeln zu berücksichtigen (§ 1626 Abs.2
BGB). Im Jugendhilferecht betont § 8 Abs.1 Satz 1 SGB VIII, dass Kinder und Jugendliche entsprechend ihrem Entwicklungsstand an allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe zu beteiligen sind. § 9 Nr.2 SGB VIII hebt hervor, dass
die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes oder des Jugendlichen zu selbständigem und verantwortungsbewusstem Handeln sowie die jeweiligen
besonderen sozialen und kulturellen Bedürfnisse und Eigenarten junger Menschen und
ihrer Familien zu berücksichtigen sind. Diese Pflicht der Eltern, die umgekehrt eine
Berechtigung des Minderjährigen beinhaltet (die er aber allenfalls über § 1666 BGB
gerichtlich einfordern kann), ist ein nicht formalisiertes Beteiligungsrecht. Daneben gibt
es eine ganze Reihe formalisierter Berechtigungen auf Beteiligung.
Diese Beteiligungsrechte finden sich an den unterschiedlichsten Stellen des Gesetzes 15.
-
Kinder und Jugendliche haben das Recht, sich in allen Angelegenheiten der Erziehung und Entwicklung an das Jugendamt zu wenden (§ 8 Abs.2 SGB VIII).
-
Sie sind vor einer Entscheidung über die Inanspruchnahme einer Hilfe zu beraten
und auf die möglichen Folgen hinzuweisen (§ 36 Abs.1 Satz 1 SGB VIII).
-
Sie sind an der Aufstellung des Hilfeplans zu beteiligen (§ 36 Abs.2 Satz 2 SGB
VIII).
Sie sind berechtigt, um Inobhutnahme zu bitten (§ 42 Abs.1 Nr. 1 SGB VIII).
Sie sind bei Inobhutnahme berechtigt, eine Person ihres Vertrauens zuzuziehen
(§ 42 Abs.2 Satz 2 SGB VIII).
-
14
15
Nach den Angaben des Statistischen Bundesamtes gab es 2004 82.501275 Einwohner in Deutschland, davon 14.939.736 Minderjährige, d.h. Kinder und Jugendliche bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres. Das sind 18,1% der Gesamtbevölkerung.
Zusammenstellung nach Oberloskamp (2005) S.54 f.
20
-
-
-
-
-
-
-
Sie sind in geeigneter Weise auf ihre Rechte im Verwaltungsverfahren sowie im
Verfahren vor dem Familiengericht, dem Vormundschaftsgericht und dem Verwaltungsgericht hinzuweisen (§ 8 Abs.1 Satz 2 SGB VIII).
In den familienrechtlichen Verfahren Erwachsener, von denen Kinder betroffen sind
(z.B. Scheidung, Umgangsrecht, Sorgerechtseingriffe, Konflikte zwischen Pflegeeltern und leiblichen Eltern, Konflikte zwischen Stiefeltern und leiblichen Eltern), sind
Kinder vom Familiengericht anzuhören (§ 50b FGG). Die Nichtanhörung des Kindes ist ein Verfahrensfehler.
In den vormundschaftsgerichtlichen Verfahren (Adoption sowie Bestellung und Abberufung von Vormündern oder Pflegern) sind sie ebenfalls anzuhören (§§ 50b,
55c FGG). Auch hier ist die Unterlassung der Anhörung ein Verfahrensfehler.
In allen Entscheidungen, in denen sie gerichtlich angehört werden müssen, haben
Kinder über 14 Jahren ein selbständiges Beschwerderecht (§ 59 FGG).
Damit es dem Familien- und dem Vormundschaftsgericht eher möglich ist, eine
dem Kindeswohl dienende Entscheidung zu treffen, hat es die Fachbehörde Jugendamt anzuhören (§§ 49, 49a FGG). Das Unterlassen der Anhörung ist ein Verfahrensfehler.
Das Jugendamt hat für die Anhörung (die meistens durch die Abgabe einer gutachtlichen Stellungnahme erfolgt) mit dem jungen Menschen Kontakt aufzunehmen
(Anamnese, Exploration, Verhaltensbeobachtung ...), die Erkenntnisse fachlich zu
bewerten und dem Richter in der Regel einen Entscheidungsvorschlag zu machen
(entwickelt aus § 50 II SGB VIII).
Wenn sich der gesetzliche Vertreter des Kindes bei den beiden zuvor genannten
Verfahrenstypen in einem Interessenkonflikt befindet, kann der Minderjährige einen
völlig unabhängigen nur dem Kind verpflichteten Verfahrenspfleger („Anwalt des
Kindes“) erhalten (§ 50 FGG).
Im Jugendstrafverfahren wird obligatorisch die Jugendgerichtshilfe (§ 52 SGB VIII i.
V. m. §§ 38, 50 Abs.3 Satz 2 JGG) tätig, und diese muss sich primär mit dem jungen Menschen beschäftigen (mehr als eine Anhörung). Im Jugendstrafverfahren ist
der junge Mensch Angeklagter, und er wird als strafmündig angesehen (§ 3 JGG).
Er hat daher alle Rechte, die ein erwachsener Angeklagter hat, d.h. er kann selbständig Rechtsmittel einlegen und bekommt in schwierigen Fällen einen Pflichtverteidiger beigeordnet.
Der nicht volljährige junge Mensch ist somit im deutschen Recht der Jugendhilfe zwar
noch kein volles Rechtssubjekt, aber immerhin ein Wesen, dessen Subjektwerdung
bereits respektiert wird.
3.
Elterliche Sorge
3.1
Entstehung und Inhalt der elterlichen Sorge
Die Regelungen zur elterlichen Sorge im deutschen Recht finden sich in den §§ 1626 –
1698b BGB (Bürgerliches Gesetzbuch).
Im Übrigen stellt sich die Rechtsbeziehung zwischen Eltern und Kind als Schutzbeziehung dar, deren Hauptaspekte die Abstammung, die elterliche Sorge, der Name, der
Unterhalt und das Erbrecht sind. Für die Jugendhilfe spielt vor allem die elterliche Sorge eine Rolle. Diese kann auf dreierlei Weisen entstehen:
- kraft Gesetzes
- kraft privatautonomer Willenserklärung
- kraft richterlicher Anordnung.
21
Kraft Gesetzes ist die elterliche Sorge als gemeinsame Sorge vorhanden, wenn die
Eltern zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes verheiratet sind (§ 1626a I BGB im Umkehrschluss) oder als alleinige Sorge der Mutter, wenn diese im Zeitpunkt der Geburt
ledig ist (§ 1626a II BGB). Sie ist in Form der Vormundschaft des Jugendamtes vorhanden, wenn das Kind von einer ledigen minderjährigen Mutter im Inland geboren
wird und wenn der volljährige rechtliche Vater des Kindes und seine Mutter keine Sorgeerklärung abgegeben haben (§ 1791c BGB). Als Vormundschaft des Jugendamtes
ist sie ebenfalls vorhanden, wenn Eltern in die Adoption ihres Kindes einwilligen
(§ 1747 BGB) oder ihre Einwilligung gerichtlich ersetzt worden ist (§ 1748 BGB)
(§ 1751 I 2 BGB). Schließlich kann sie eine Beistandschaft sein zur Feststellung der
Vaterschaft und zur Klärung des Unterhalts sein (§§ 1712 BGB).
Kraft privatautonomer Willenserklärung in Form der gemeinsamen Sorge ist sie vorhanden, wenn die Mutter und der rechtliche Vater (Vaterschaftsanerkenntnis oder gerichtliche Feststellung der Vaterschaft, § 1592 Nr.2 und 3 BGB) Sorgeerklärungen abgeben (§§ 1626b ff. BGB).
Kraft richterlicher Anordnung schließlich findet sich Alleinsorge, gemeinsame Sorge,
Vormundschaft (das gesamte Sorgerecht, §§ 1773, 1793 BGB), Pflegschaft (Teile des
Sorgerechts, § 1909 BGB) in den verschiedensten Gestalten. Sie können durch Antrag
der Betroffenen (z.B. Sorgerechtsregelung bei Scheidung, § 1671 BGB) oder von Amts
wegen (z.B. Sorgerechtseingriffe + Bestellung eines Vormunds oder Pflegers, § 1666
BGB) herbeigeführt werden.
Inhaltlich umfasst die elterliche Sorge die Personen- und Vermögenssorge (§ 1626
BGB), die beide aus einem tatsächlichen und aus einem rechtlichen = Vertretungsteil
(§§ 1626, 1629 BGB) bestehen. Als Beispiele für die Personensorge nennt das Gesetz
Pflege, Erziehung, Aufsicht, Aufenthaltsbestimmung (§ 1631 I BGB). Zur Methode der
Erziehung sagt das Gesetz nichts, außer dass die elterliche Sorge gewaltfrei (§ 1631 II
BGB) ausgeübt werden muss. Zum Ziel der Erziehung wird im BGB ebenfalls so gut
22
wie nichts gesagt. Jedoch hilft das KJHG, wo in § 1 I SGB VIII die Erziehung zur Eigenverantwortlichkeit und Gemeinschaftsfähigkeit genannt wird. In die elterliche Sorge
kann das Familiengericht eingreifen, wenn es das Kindeswohl erfordert, d.h. wenn das
Kind gefährdet ist (siehe z.B. § 1666 oder § 1632 IV BGB).
3.2
Die elterliche Sorge im Konfliktfall 16
Wenn Eltern verheiratet sind, so steht die elterliche Sorge für ein Kind beiden Eltern
gemeinsam zu (§ 1626a I BGB im Umkehrschluss). Dies gilt auch für den Fall, dass die
Eltern sich trennen oder geschieden werden (§ 1671 I BGB im Umkehrschluss). Nur auf
Antrag eines Elternteils kann ihm die elterliche Sorge bzw. ein Teil der elterlichen Sorge
allein von einem Gericht übertragen werden. Leben die Eltern getrennt und haben beide
weiterhin die gemeinsame Sorge, so hat gem. § 1687 BGB der Elternteil, bei dem sich
das Kind mit Einwilligung des anderen Elternteils oder auf Grund einer gerichtlichen
Entscheidung befindet, die Befugnis zur alleinigen Entscheidung in allen Angelegenheiten des täglichen Lebens. Entscheidungen, die grundsätzliche Bedeutung für das Leben
des Kindes haben (z. B. betreffend Aufenthaltsbestimmung, Gesundheitsfürsorge, Vermögenssorge, wesentliche Schulentscheidungen, religiöse Erziehung), können die Eltern, auch wenn sie getrennt leben, nur gemeinsam treffen.
Kommt ein Kind zur Welt, dessen Eltern nicht verheiratet sind, so steht zunächst der
Mutter allein die elterliche Sorge zu (§ 1626a II BGB). Die Eltern können aber gem.
§ 1626a I BGB seit 1998 eine gemeinsame Sorgeerklärung abgeben. Zuständig für die
Abgabe der Erklärung ist die Urkundsstelle des Jugendamtes oder ein Notar.
Auch ein Elternteil, dem nicht die elterliche Sorge zusteht, hat ein Recht (und die Pflicht)
zum Umgang mit dem Kind gem. § 1684 BGB. Umgekehrt hat das Kind ein Recht auf
Umgang mit jedem Elternteil. Soweit es dem Wohl des Kindes dient, haben auch andere
Personen (Großeltern, Geschwister, Pflegepersonen oder Stiefelternteile) Recht auf
Umgang mit dem Kind (§ 1685 II BGB).
Besteht gemeinsame elterliche Sorge der Eltern (kraft Heirat oder Sorgeerklärung) und
leben diese mit dem Kind als Familie zusammen, so entscheidet das Gericht im Streit
der Eltern (z.B. über die Schulwahl) auf Antrag nach den Maßstäben des § 1628 BGB,
indem es einem Elternteil allein die Entscheidungsbefugnis überträgt. Leben die Eltern
dauerhaft getrennt und streiten sie sich (z.B. darüber, bei wem das Kind leben soll), so
ist Maßstab § 1671 BGB. Die elterliche Sorge oder Teile davon sind dann auf Antrag auf
einen der beiden Elternteile zu übertragen, wenn der andere Elternteil dem entweder
zustimmt oder wenn zu erwarten ist, dass die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen
Sorge und die Übertragung auf den Antrag stellenden Elternteil dem Wohl des Kindes
am besten entspricht. Ist das betreffende Kind 14 Jahre alt und begehrt ein Elternteil die
Aufhebung der gemeinsamen Sorge, hat das Kind ab dem 14. Lebensjahr eine Art Widerspruchsrecht, das allerdings nicht als Veto zu verstehen ist; der Richter kann also
auch die gemeinsame elterliche Sorge aufheben, wenn das Kind nicht damit einverstanden ist. Die Entscheidung ist dem Kind über 14 Jahren persönlich zuzustellen.
Besteht bei nicht verheirateten Eltern die Alleinsorge der Mutter, so gibt es bisher keine
Möglichkeit des nicht verheirateten Vaters, gegen den Willen der Mutter an der elterlichen Sorge beteiligt zu werden (gemeinsame Sorge: § 1626a I BGB) oder die elterliche
Sorge auf sich übertragen zu lassen (§ 1672 BGB). Nur für den Fall, dass der Kindermutter die elterliche Sorge gem. den Voraussetzungen der §§ 1666 ff. BGB zu entziehen ist, kann der nicht verheiratete Vater, wenn er seinerseits geeignet ist die elterliche
16
Dieser Abschnitt wurde von RAin Ruth Handelmann bearbeitet
23
Sorge zu übernehmen, die elterliche Sorge für dieses Kind übertragen erhalten (§ 1680
BGB). Leben die nicht miteinander verheirateten Eltern getrennt und steht der Mutter
die alleinige elterliche Sorge zu, kann der Vater mit Zustimmung der Mutter nach § 1672
BGB beantragen, dass das Familiengericht ihm die elterliche Sorge oder einen Teil der
elterlichen Sorge betreffend das Kind alleine überträgt.
Für das Kind ist in den Fällen, in denen die Eltern oder ein Elternteil wegen einer Interessenkollision an der Wahrnehmung der elterlichen Sorge für das Kind gehindert ist,
z.B. wenn eine Erbengemeinschaft eines Elternteil mit dem Kind zusammen besteht,
vom Vormundschaftsgericht ein Ergänzungspfleger zu bestellen (§ 1909 BGB) . Hierfür
gelten die Vorschriften §§ 1773 ff. BGB.
Hat das Familiengericht einmal eine Entscheidung über die Übertragung der elterlichen
Sorge auf nur einen Elternteil getroffen, so ist Maßstab für die Abänderung dieser Entscheidung der § 1696 BGB: Nur wenn es aus triftigen, das Wohl des Kindes nachhaltig
berührenden Gründen angezeigt ist, soll von der ursprünglichen Entscheidung abgewichen werden.
Ist ein Elternteil z. B. auf Grund einer (z.B. psychischen) Krankheit nicht in der Lage, die
elterliche Sorge auszuüben, so kann deren Ruhen gerichtlich festgestellt werden
(§ 1674 BGB). Werden dem Familiengericht Umstände bekannt, die auf eine massive
Gefährdung des Kindeswohls durch seine Eltern bzw. den sorgeberechtigten Elternteil
schließen lassen, so hat das Familiengericht von Amts wegen die notwendigen Maßnahmen zu erlassen (§ 1666 BGB). Es hat also z.B. Anordnungen zu treffen, d.h. Teile
oder im Extremfall die ganze elterliche Sorge zu entziehen und einen Pfleger (bei Teilen
des Sorgerechts) oder einen Vormund (beim ganzen Sorgerecht) zu bestellen, den Eltern Weisungen zu erteilen bzw. Maßnahmen zu treffen, bis hin zur Entfernung des Kindes aus dem Haushalt der Eltern (§ 1666a BGB). Hierfür bedarf es keines Antrages,
sondern es reicht jegliche Anregung (durch Großeltern, Nachbarn, Lehrer, Jugendamt,
Kinderarzt ...) dem Familiengericht gegenüber. Dies wird von den Familiengerichten
selbst häufig anders gesehen, obwohl vom Gesetz das Familiengericht von Amts wegen
zur Handlung angehalten ist (§ 12 FGG).
Hat der Familienrichter den Eindruck, dass von den sich streitenden Eltern die Interessen des Kindes nicht ausreichend berücksichtigt werden, oder geht es um die Entziehung der elterlichen Sorge (§ 1666 BGB) oder die Genehmigung der geschlossenen
Unterbringung des Kindes (§ 1631b BGB), so kann, in den letzten beiden Fällen muss,
der Richter für das Kind einen Verfahrenspfleger (Anwalt des Kindes) bestellen (§ 50
FGG). In allen Sorgerechtsverfahren, bei denen die Neigungen, Bindungen oder der
Wille des Kindes eine Rolle spielen kann, hat – wenn eine Einigung der Parteien nicht
möglich erscheint und der Richter entscheiden muss – eine Anhörung des Kindes zu
erfolgen (§ 50b FGG). Im hiesigen Oberlandesgerichtsbezirk Köln wird eine solche Anhörung in der Regel ab dem 3. Lebensjahr des Kindes vom Familienrichter gefordert,
obwohl das Gesetz keine Altersgrenze enthält.
II.
Öffentliche Jugendhilfe als Teil der staatlichen Verwaltung
1.
Staatsaufbau und Verwaltungsstruktur
1.1
Rechtsetzung
Gesetzgebungskörperschaften gibt es in Deutschland auf Ebene des Bundes (Bundestag und Bundesrat), der Länder (Landtage) und der Ebene der Kommunen (z.B. Stadtrat, Kreistag). Bundes- und Länderparlamente verabschieden Gesetze und ermächtigen die Exekutive, Verordnungen zu erlassen. Die Gesetzgebungsbefugnis der Gemeinden ist landesrechtlich geregelt. In NRW geschieht dies durch die Gemeindeord-
24
nung (GO). § 4 I 1 GO bestimmt, dass die Gemeinden ihre Angelegenheiten durch
Satzung regeln, soweit Gesetze nichts anderes bestimmen. Daneben gibt es Verwaltungsvorschriften entweder der übergeordneten an nachgeordnete Behörden oder von
Dienstvorgesetzten an unterstellte Bedienstete. Sie tragen die unterschiedlichsten Namen, u. a. Richtlinie, Runderlass, Rundverfügung, Allgemeine Verwaltungsverfügung,
Durchführungsbestimmung, Dienstanweisung, Geschäftsverteilungsplan etc.
1.2
Verwaltung
Verwaltung spielt sich in Deutschland als Selbstverwaltung (garantiert in Art. 28 GG)
oder als Staatsverwaltung ab. Die Staatsverwaltung ist „von oben nach unten“ gegliedert, die Selbstverwaltung „von unten nach oben“.
Kommunen (= Körperschaften der Selbstverwaltung) gibt es als kreisfreie Städte, das
sind die großen Kommunen (z.B. Köln), und als Kreise, das ist ein Zusammenschluss
kleiner Kommunen, sog. kreisangehörige Gemeinden (z.B. der Rhein-Sieg-Kreis). In
manchen Bundesländern bildet ein Zusammenschluss von Kommunen (Städte und
Kreise) eine weitere kommunale Verwaltungseinheit (in NW die Landschaftsverbände
Rheinland in Köln und Westfalen-Lippe in Münster).
Zudem sind die Angelegenheiten des Bundes, der 16 Bundesländer und der Kommunen zu unterscheiden. Wer wofür zuständig ist, ergibt sich aus dem Grundgesetz (Art.
28, 74-76 GG).
2.
Jugendämter
2.1
Jugendhilfe als Selbstverwaltung
Jugendämter erfüllen Selbstverwaltungsaufgaben 17 und kommen als Stadtjugendämter oder als Kreisjugendämter vor. Zulässig ist auch die Schaffung von Jugendämtern
durch kreisangehörige Gemeinden (§ 69 II SGB VIII). Die Kreise und kreisfreien Städte
sind sog. örtliche Träger der Jugendhilfe (§ 69 I SGB VIII). Weiter gibt es die überörtlichen Träger der Jugendhilfe. Wer das ist, bestimmt Landesrecht (§ 69 III SGB VIII). In
NRW sind dies die beiden Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe. Darüber hinaus nimmt auch die Staatsverwaltung Jugendhilfeaufgaben wahr, die durch
Jugendministerien der Bundesländer und das Bundesjugendministerium erledigt werden. - Die Aufgaben der Länderministerien (§ 82 SGB VIII) und des Bundesministeriums (§§ 83, 84 SGB VIII) sind vom Gesetz nur ganz grob umrissen und daher weitgehend vom jeweiligen jugendpolitischen Bedarf abhängig. Wichtig ist allerdings der Jugendbericht (§ 84 SGB VIII), den die Bundesregierung dem Bundestag in jeder Legislaturperiode vorzulegen hat.
Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe erbringen im Zusammenwirken mit den Trägern
der freien Jugendhilfe Leistungen der Jugendhilfe (§ 3 Abs.2 S.1 SGB VIII). Wer freier
Träger der Jugendhilfe sein kann, legt das Gesetz nicht fest. Erst wenn eine Gruppierung eine Anerkennung als freier Träger (§ 75 SGB VIII) oder gar eine Förderung
(§ 74 SGB VIII) beantragt, muss sie bestimmte Voraussetzungen erfüllen.
2.2
Organisation der Jugendämter und Landesjugendämter
Die Behörde Jugendamt ist „zweigliedrig“ organisiert. Sie besteht aus dem Jugendhilfeausschuss und der Verwaltung des Jugendamtes (§ 70 Abs.1 SGB VIII).
17
Das bedeutet, dass die Kommune sachlich und finanziell in eigener Verantwortung
handelt und dass sie nur der allgemeinen Rechts-, nicht der Fachaufsicht der staatlichen Aufsichtbehörde (in NRW: der Regierungspräsident bzw. Oberkreisdirektor) untersteht. Verwaltungsakte, die sie erlässt, werden von der erlassenden Behörde selber (also vom Jugendamt), nicht von der übergeordneten Behörde überprüft.
25
Die Verwaltung des Jugendamtes erledigt die Geschäfte der laufenden Verwaltung
(§ 70 Abs.3 SGB VIII), der Jugendhilfeausschuss dagegen trifft die grundsätzlichen
Entscheidungen (§ 71 Abs.2 und 3 SGB VIII). Der Jugendhilfeausschuss ist ein parlamentarischer Ausschuss des kommunalen Parlaments, der obligatorisch ist, und der anders als andere parlamentarische Ausschüsse - zu Zweidritteln aus Mitgliedern besteht, die nicht gleichzeitig Abgeordnete sind, sondern Repräsentanten von (anerkannten) freien Trägern der Jugendhilfe. Diese werden vom Kommunalparlament gewählt
(§ 71 Abs.1 Nr.2 SGB VIII). Der Jugendhilfeausschuss macht sozusagen die kommunale Jugendpolitik.
Auch das Landesjugendamt ist eine zweigliedrige Behörde, die aus der Verwaltung des
Landesjugendamtes und dem Landesjugendhilfeausschuss besteht (§ 70 Abs.3 SGB
VIII). Die Strukturen entsprechen denen des Jugendamtes (§ 71 Abs.4 und 5 SGB VIII).
Die Landesjugendämter sind nicht Kontrollbehörden der Jugendämter. Die rechtliche
Kontrolle der Jugendämter wird vom Regierungspräsidenten durchgeführt, der zur untersten Stufe der Staatsverwaltung gehört.
3.
Doppelstruktur der Jugendhilfe
3.1
Allgemeines
Die Jugendhilfe hat in Deutschland die Aufgabe, das Recht eines jeden jungen Menschen auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit (§ 1 Abs.3 SGB VIII) in Kooperation mit
den vorrangig hierfür zuständigen Eltern (Art.6 Abs.2 S.1 GG, § 1 Abs.2 SGB VIII) zu
verwirklichen (§ 1 Abs.3 SGB VIII).
Jugendhilfe ist soziale Förderung und als solche Teil des Sozialrechts. Deswegen ist
die Jugendhilfe in Buch VIII des SGB geregelt. Ihre Hauptfunktion ist die Herstellung
von Chancengleichheit. Sie soll die Erziehungs- und Entwicklungsbedingungen von
Kindern und Jugendlichen verbessern und etwa vorhandene strukturelle oder individuelle Defizite ausgleichen sowie dem Entstehen von solchen Defiziten vorbeugen.
Dies geschieht auf verschiedene Arten, die vom bis 1990 geltenden Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) als Jugendpflege und Jugendfürsorge bezeichnet wurden. Das KJHG
kategorisiert die Aufgaben der Jugendhilfe anders, nämlich als „Leistungen“ und „andere Aufgaben“ (§ 2 SGB VIII), wobei die gesamte Jugendpflege sowie Teile der Jugendfürsorge zu den Leistungen und der restliche Teil der Jugendfürsorge zu den anderen
Aufgaben gehört. Die Leistungen sind echte Sozialleistungen im Sinne des SGB. Bei
Erfüllung der Voraussetzungen besteht ein Rechtsanspruch auf sie, der allerdings in
der Regel geltend gemacht werden muss. Die anderen Aufgaben sind rechtsdogmatisch betrachtet keine Sozialleistungen, weil sie notfalls auch gegen den Willen von
Eltern und Kindern erfüllt werden. Rechtsgeschichtlich sind sie polizeiliche Aufgaben,
die sich seit Geltung des Grundgesetzes als Ausübung des Staatlichen Wächteramtes
(Art. 6 Abs.2 S.2, Abs.3 GG) darstellen. Auch wenn diese anderen Aufgaben nicht leisten, sondern eingreifen, geschieht der Eingriff nicht mit den Mitteln der Polizei, sondern
denen der sozialen Förderung. Das rechtfertigt es, sie auch im SGB anzusiedeln. In
jedem Fall ist das Jugendamt insoweit keine Eingriffsbehörde, als jeder Eingriff vorher,
ausnahmsweise wenigstens nachher, durch das Familiengericht legitimiert werden
muss.
Das Jugendstrafrecht, geregelt im Jugendgerichtsgesetz (JGG), beinhaltet keine Sozialleistungen und ist auch kein Teil des Sozialrechts. Es reagiert auf Verhaltensweisen, die bei Erwachsenen als „strafbare Handlungen“ bezeichnet werden und im
Strafgesetzbuch (StGB) beschrieben sind. Das JGG antwortet aber nicht mit Strafen,
sondern mit Erziehungsmaßnahmen und steht daher zwischen dem Jugendhilferecht
26
als Sozialrecht und dem Strafrecht. Seine Sanktionen sind Erziehungsmaßregeln (§§
9-12 JGG), Zuchtmittel (§§ 13-16 JGG) und die Jugendstrafe (§§ 17-18 JGG). Selbst
die Jugendstrafe, die eine echte Strafe ist, ist pädagogisch ausgestaltet und daher eine
Erziehungsmaßnahme. In jedem Jugendstrafverfahren muss die sog. Jugendgerichtshilfe tätig werden. Diese soll dem Richter dabei helfen, die richtige pädagogische Sanktion zu finden. Die Jugendgerichtshilfe ist Jugendhilfe und steht deshalb
auch im KJHG (§ 52 SGB VIII, §§ 38, 50 JGG).
Die Aufgaben der Jugendhilfe, die von Jugendämtern und Landesjugendämtern
durchzuführen sind, sind im Jugendhilfegesetz genau der einen oder anderen Behörde zugeordnet (§ 85 SGB VIII). Vereinfacht gesagt machen die Jugendämter die konkrete Jugendhilfe vor Ort (Abs.1), während die Landesjugendämter mehr planend, fördernd, unterstützend, finanzierend und in wenigen Fällen auch kontrollierend tätig werden (Abs.2).
3.2
Staatliches Wächteramt
Wie schon erwähnt, erbringen die Jugendämter nicht nur Leistungen, die auf freiwilliger
Basis entgegen genommen werden. Sie sind auch - in Ausführung des Auftrags des
Grundgesetzes - verpflichtet, das staatliche Wächteramt auszuüben. Das SGB VIII
formuliert dies in § 1 III Nr.3, in dem es heißt: „Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des
Rechts nach Abs.1 ... Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen ...“.
Dieser Auftrag steht über dem ganzen SGB VIII. Die wichtigsten Vorschriften in diesem
Bereich sind
- § 8 III (Beratung des Kindes in Krisensituationen ohne Wissen der Eltern),
- § 8a (Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung, insbesondere Anrufung des Familiengerichts und Einschaltung anderer Behörden) und
- § 42 (Inobhutnahme des Minderjährigen).
Im Rahmen dieses Auftrags kann sich das Jugendamt weitgehend über den Willen der
Eltern hinwegsetzen, muss aber in der Regel sein Handeln durch das Familiengericht
überprüfen lassen. Die Einzelheiten werden weiter unten dargestellt.
3.3
Leistungserbringung
§ 3 II SGB VIII bestimmt, dass Leistungen der Jugendhilfe von den Trägern der freien
Jugendhilfe und von den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe erbracht werden (Satz
1). Leistungsverpflichtungen, die durch das SGB VIII begründet werden, richten sich
aber nur an den Träger der öffentlichen Jugendhilfe (Satz 2), d.h., dass nur er verpflichtet ist, Leistungen zu erbringen. Darüber hinaus können seit einigen Jahren auch
sog. privatgewerbliche Träger einbezogen werden.
Hieraus ergeben sich verschiedene rechtliche Konstellationen, je nachdem, ob der
öffentliche Träger selber oder ein freier oder ein privatgewerblicher Träger, den der
Leistungsempfänger bevorzugt, die Leistung erbringen soll. Grundsätzlich hat der Leistungsempfänger bezogen auf öffentliche und freie Träger ein sog. Wunsch- und Wahlrecht (§ 5 SGB VIII), dem nur in Ausnahmefällen nicht entsprochen werden kann. Einen privatgewerblichen Träger kann er sich immer suchen, wird ihn aber evtl. entsprechend teurer bezahlen müssen. Gleich, wer die Leistung im konkreten Fall erbringt
(also Zweier- oder Dreierbeziehung), ist in der Jugendhilfe (anders als in anderen sozialrechtlichen Beziehungen) zusätzlich das Kind zu berücksichtigen, zu dessen Gunsten
die Leistung erbracht wird (Vertrag zugunsten Dritter, § 328 BGB).
Wenn also die Voraussetzungen für eine bestimme Leistung vorliegen, hat der Personensorgeberechtigte einen Anspruch gegen das Jugendamt. Mit diesem schließt es
einen Leistungsvertrag zugunsten des Kindes ab, zu dem er in der Rechtsbeziehung
eines Sorgerechtsinhabers als Eltern (§§ 1626 ff. BGB), als Vormund (§§ 1773, 1793
ff. BGB) oder als Pfleger (§§ 1909, 1915, 1793 ff. BGB) steht.
27
Erbringt das Jugendamt die Leistung nicht selber, sondern durch einen Dritten (freier
oder privatgewerblicher Träger), so schließt der Personensorgeberechtigte den Vertrag
mit diesem. Der freie oder privatgewerbliche Träger erwirbt dadurch einen Kostenerstattungsanspruch gegen das Jugendamt. Dieser Erwerb tritt aber in der Regel nur ein,
wenn das Jugendamt mit dem jeweiligen Träger zuvor eine Leistungs- und Entgeltvereinbarung getroffen hatte, die auch eine Qualitätsvereinbarung einschließt (§§ 78a ff.
SGB VIII für stationäre Hilfen und § 77 SGB VIII für ambulante Hilfen).
D.
Leistungsrecht
I.
Rechtsanspruch oder objektives Recht (Reflexrecht)
Bei der Palette der Leistungen kommen verschiedene juristische Formen vor:
- Muss-Leistungen (hat einen Anspruch: z.B. §§ 17, 18, 21, 24 I, 27-35, 35a SGB VIII).
Diese Leistungen sind zu erbringen, wenn die Voraussetzungen, die das Gesetz aufzählt, erfüllt sind. Werden sie nicht erbracht, können sie eingeklagt werden.
- Soll-Leistungen (z.B. §§ 13, 14, 16, 19, 20, 41 SGB VIII). Diese Leistungen sind im
Regelfall Muss-Leistungen. Lediglich in Ausnahmefällen, die dann die Behörde darzulegen hat, brauchen sie nicht erbracht zu werden.
- Reflexrechte (§§ 11 I, 24 III SGB VIII). Bei diesen Rechten ist die Behörde verpflichtet, etwas zu tun, der Bürger ist aber nicht berechtigt, es einzuklagen. Die Verpflichtung der Behörde kann durch die Aufsichtsbehörde kontrolliert werden. Darüber hinaus stehen dem Bürger politische Hilfsmittel zur Seite
- Kann-Leistungen. Dieser Leistungstyp, der ansonsten im Sozialrecht sehr verbreitet
ist, kommt im SGB VIII überhaupt nicht vor. Das Jugendamt hat also keinen Ermessensspielraum in der direkten Beziehung zum Bürger.
II.
Arten von Leistungen
1.
Standardleistungen
1.1
Jugendarbeit und Jugendverbandsarbeit (§§ 11, 12 SGB VIII) 18
§ 11 SGB VIII definiert zwar nicht, was Jugendarbeit ist. Er sagt jedoch,
- was mit ihr erreicht werden soll (Förderung der Entwicklung durch Befähigung zur
Selbstbestimmung, Hinführung zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und zu sozialem Engagement),
- wer sie anbietet (Verbände, Gruppen, Initiativen, freie Träger der Jugendhilfe, öffentliche Träger der Jugendhilfe)
- und in welchen Bereichen sie schwerpunktmäßig stattfindet (außerschulische Bildungsarbeit; Freizeitgestaltung; Förderung der Erziehungsfelder Familie, Schule,
Arbeit; internationale Jugendbegegnung; Kinder- und Jugenderholung; Jugendberatung).
§ 12 SGB VIII verpflichtet die Jugendämter, die Jugendverbandsarbeit, d.h. die Jugendarbeit freier Träger der Jugendhilfe, zu fördern. Es wird auch beschrieben, wodurch sich Jugendverbandsarbeit auszeichnet: sie ist selbst organisiert, gemeinsam
gestaltet und mitverantwortet. Ob sie sich irgendwie auf höherer Ebene zusammenschließt oder nicht, spielt keine Rolle. Die wichtigste Organisation der deutschen Jugendverbandsarbeit ist der Deutsche Bundesjugendring (DBJR) und die Landesjugendringe.
18
Vgl. hierzu Wiesner / Struck §§ 11, 12; Kunkel / Steffan §§ 11, 12
28
Weiter Details sind in den Landesgesetzen geregelt (§ 15 SGB VIII). In NRW ist dies
vor allem das Gesetz zur Förderung der Jugendarbeit, der Jugendsozialarbeit und des
erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes (Kinder- und Jugendförderungsgesetz - 3.
AG-KJHG - KJFöG) v. 12.10.2004 19.
1.2
Jugendsozialarbeit (§ 13 SGB VIII) 20
§ 13 SGB VIII verpflichtet die deutschen Jugendämter zur Jugendsozialarbeit, d.h. zu
Angeboten, die zum Ausgleich sozialer Benachteiligungen oder zur Überwindung individueller Beeinträchtigungen junger Menschen dienen und darauf abzielen, die schulische und berufliche Ausbildung sowie Eingliederung in die Arbeitswelt dieses Personenkreises zu fördern. Hilfen in diesem Bereich stoßen sehr schnell auf ihre rechtlichen
Grenzen, die sich aus den Kompetenzen der Arbeits- und der Schulverwaltung ergeben. Diese haben in jedem Fall Vorrang (§ 10 I SGB VIII). Trotzdem bleibt ein Restbereich, sowohl unter dem Blickwinkel des Personenkreises als auch unter dem von Arten der Hilfen. Junge Menschen, die nicht unter den Anwendungsbereich des SGB II
(Grundsicherung) fallen, haben Anspruch nach § 13 SGB VIII. Es sind dies junge Menschen, die nicht erwerbsfähig sind, 25 Jahre alt sind oder aus dem Anwendungsbereich des SGB II ausgeschlossen sind, weil sie länger als 6 Monate stationär untergebracht, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehen oder als Ausländer keine Arbeiterlaubnis erhalten können. Eindeutig unter den Anwendungsbereich
des § 13 fallen auch die gesamte Schulsozialarbeit und alle Hilfen zur schulischen
Ausbildung.
Die Aufgabe von Schulsozialarbeit ist es, die im schulischen Alltag ggfs. vernachlässigten persönlichen Stärken junger Menschen zur Geltung zu bringen, die Persönlichkeitsentwicklung im Sinne einer ganzheitlichen Erziehung zu stärken, die sozialen
Kompetenzen zu verbessern und den Bildungsprozess im engeren Sinne ergänzend
zu fördern. Dies geschieht in Form von Gruppenarbeit, Beratung (auch von Eltern und
Lehrpersonal, sozialpädagogischer Einzelfallhilfe und Elternarbeit in Projekten und
offenen, gemeinwesenorientierten Angeboten. 21
Wegen der Details kann wieder auf das Landesrecht verwiesen werden, in NRW auf
das KJFöG 22.
1.3
Erzieherischer Jugendschutz (§ 14 SGB VIII) 23
Im deutschen Recht wird zwischen erzieherischem und damit prophylaktischem Jugendschutz und repressivem Jugendschutz unterschieden. Ersterer ist in § 14 SGB VIII
geregelt. Adressaten sind die jungen Menschen und die Erziehungsberechtigten. Es
handelt sich um eine Aufgabe der Jugendhilfe. Der repressive Jugendschutz ist geregelt im JuSchG v. 23.7.2002 24 und ist eine polizeiliche Aufgabe. Er betrifft den Schutz
der Jugend in der Öffentlichkeit und den Schutz der Jugend beim Gebrauch von Medien. In der Praxis wird im repressiven Jugendschutz oftmals eine Beteiligung der sozialen Arbeit an der polizeilichen Arbeit praktiziert, in- dem eine Polizeistreife und ein
Sozialarbeiter gemeinsam abends durch die Zentren der Städte, Gaststätten, Discos
etc. gehen.
19
GV.NRW S.572
20
Vgl. hierzu Wiesner / Struck § 13; Kunkel / Nonninger § 13
21
Kunkel/ Nonninger § 13 Anm. 16 und 17
22
S.o. FN 18
23
Vgl. hierzu Wiesner / Struck § 14; Kunkel / Schwaab § 14
24
BGBl. I S. 2730; 2003 S. 476; 2004 I, S. 1857, 2228, 2570, 2600
29
Auch hier wird wegen der Einzelheiten auf das Landesrecht, in NRW auf das KJFöG 25
verwiesen.
1.4
Förderung der Erziehung in der Familie (§§ 16 - 21 SGB VIII) 26
Das SGB VIII umfasst eine ganze Palette von Angeboten, die teils allgemeiner Natur
(Bildungsarbeit, allgemeine Beratung, Familienfreizeit, Familienerholung, § 16), teils
spezieller Natur, d.h. auf bestimme Problemsituationen zugeschnitten, sind (Konfliktbewältigung in der Familie, Trennung und Scheidung, § 17; Schwierigkeiten allein erziehender Elternteile, § 18; erziehungsunreife Elternteile, § 19; Betreuung und Versorgung von Kindern in Notsituationen, § 20; Eltern mit ständigem berufsbedingtem Ortswechsel, § 21). Vor allem die Beratung allein erziehender Elternteile 27 und die Trennungs- und Scheidungsberatung nimmt in der Praxis einen großen Raum ein.
Wenn bei Gericht ein Scheidungsantrag 28 eingegangen ist und das Ehepaar minderjährige Kinder hat, ist das Gericht verpflichtet, das Jugendamt zu informieren (§ 17 III
SGB VIII). Dieses macht dann den Eltern ein Beratungsangebot. Das Ziel dieser Beratung besteht darin, dafür Sorge zu tragen, dass das Kind im Rechtstreit der Erwachsenen nicht übersehen wird. Unter angemessener Einbeziehung der Kinder soll ein einvernehmliches Konzept für die Wahrnehmung der elterlichen Sorge erarbeitet werden
(§ 17 II SGB VIII). Dies muss keine fortgesetzte gemeinsame Sorge der Eltern beinhalten, jedoch eine Regelung, die beide Eltern im Interesse des Kindes mittragen können.
Bei der Beratung allein erziehender Elternteile geht es oftmals um den Unterhalt, den
der nicht Obhutberechtigte und damit bar unterhaltspflichtige Elternteil zu zahlen hat
(§§ 1601 ff., 1612a BGB), oder um die Ausübung des Umgangsrechts (§ 1684 BGB).
Obwohl die beiden Dinge rechtlich nichts miteinander zu tun haben, sind die unterhaltsberechtigten Elternteile oftmals nicht bereit, Umgang ohne Unterhaltszahlungen zu
gewähren, und die unterhaltspflichtigen Elternteile glauben, das Kind mit den Unterhaltszahlungen „gekauft“ zu haben.
1.5
Tageseinrichtungen und Tagespflege (§§ 22-26 SGB VIII) 29
Das KJHG nennt an Kindertageseinrichtungen Kindergärten und Horte ausdrücklich
und spricht im Übrigen von „anderen Einrichtungen, in denen sich Kinder für einen Teil
des Tages oder ganztags aufhalten“ (§ 22 SGB VIII). Mit anderen Einrichtungen sind
insbesondere Krippen (Säuglinge) und Krabbelstuben (Kinder bis 3 Jahre), aber genauso altersübergreifende Einrichtungen gemeint. - Gleichwertig neben den Tageseinrichtungen steht die Tagespflegeperson (§ 23 SGB VIII), die weiblich oder männlich
sein kann, aber in der Praxis eher eine „Tagesmutter“ ist. Sie kann in eine andere Familie gehen oder auch das Kind in ihrem eigenen Haushalt betreuen. Auf einen Kindergartenplatz besteht ab dem vollendeten dritten Lebensjahr ein Rechtsanspruch (§ 24 I
SGB VIII). Die Details in diesem Bereich regelt Landesrecht, das flächendeckend eigene Gesetze für diesen Sektor geschaffen hat, die teilweise der Jugendhilfe (z.B. NRW
25
S.o. FN 18
26
Vgl. hierzu Wiesner / Struck §§ 16-21; Kunkel / Kunkel / Mix-Strzoda §§ 16-21
27
Nach dem Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes gab es 2003 von den insgesamt 14.864 Mio. Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren 2.178 Mio. Kinder (=
14,65 %) mit allein erziehenden Elternteilen
28
Laut Angaben des Statistischen Bundesamtes gab es 2005 207.700 Scheidungen
und 388.451 Eheschließungen, somit eine Scheidungsrate von 51,9 %. Von den
Scheidungen waren 156.389 Kinder betroffen.
29
Vgl. hierzu Wiesner / Struck §§ 22-26; Kunkel / Klinger §§ 22-26
30
mit seinem Zweiten Gesetz zur Ausführung des Gesetzes zur Neuordnung des KJHG
- Gesetz über Tageseinrichtungen für Kinder v. 29.10.1991 30), teilweise dem Bildungsbereich zuzuordnen sind (z.B. das Bayerische KindergartenG vom 25.7.1972, GVBl.
S. 297). In NRW bahnt sich zurzeit eine Entwicklung an, bei der die Horte nach und
nach verschwinden und durch Einrichtung sog. Offener Ganztagsschulen (OGS) ersetzt werden. Dies findet seine Rechtsgrundlage im Schulgesetz von NRW. Auf bundespolitischer Ebene wird zurzeit darum gerungen, die Anzahl der Tageseinrichtungsplätze für Kinder unter drei Jahren drastisch zu erhöhen.
1.6
Hilfe zur Erziehung (§§ 27 - 35, 36 - 40 SGB VIII) 31
1.6.1 Allgemeines
Die Hilfe zur Erziehung umfasst ein breites Spektrum von ambulanten und stationären
erzieherischen Hilfen, die nicht einmal abschließend (vgl. das Wort „insbesondere“ in
§ 27 Abs.2) vom SGB VIII aufgezählt sind. Das Gesetz listet sozusagen nur die „Prototypen“ auf, die zum Standardrepertoire jedes Jugendamtes zu gehören haben. Abhängig ist die Gewährung aller Hilfen (§ 27 Abs.1) von
- einem erzieherischen Defizit („eine dem Wohl des Kindes oder Jugendlichen entsprechende Erziehung ist nicht gewährleistet“-Umkehrschluss aus § 1 I SGB VIII),
- der Geeignetheit und Notwendigkeit der Hilfe sowie
- der Zustimmung des Personensorgeberechtigten (wobei diese ggfs. dadurch herbeigeführt werden kann, dass ein Personensorgeberechtigter vom Gericht § 1666 BGB - durch einen anderen Personensorgeberechtigten ersetzt wird).
Als ambulante Hilfen nennt das SGB VIII
- die Erziehungsberatung (§ 28)
- die soziale Gruppenarbeit (§ 29)
- die Erziehungsbeistandschaft und Betreuungshilfe (§ 30)
- die sozialpädagogische Familienhilfe (§ 31).
- die Erziehung in einer Tagesgruppe oder Tagespflegestelle (§ 32) - auch als teilstationäre Hilfe bezeichnet.
Als stationäre Hilfen sieht das SGB VIII vor
- die Vollzeitpflege (§ 33)
- die Erziehung in einer Einrichtung oder sonstigen betreuten Wohnform (§ 34)
- die intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (§ 35).
Die Adoption ist zwar auch Jugendhilfe, aber keine Hilfe zur Erziehung, und ist auch
nicht im SGB VIII, sondern in einem Nebengesetz, dem Adoptionsvermittlungsgesetz
(AdVermiG) geregelt. Sie kommt aber im SGB VIII immer wieder vor, wenn es um die
Überlegung geht, ob eine Fremdunterbringung die Situation des Kindes hinreichend
verbessern kann oder ob „mehr“ geschehen muss. Sie wird daher separat unter 6.4
behandelt.
Das SGB VIII nennt in den §§ 28-35 keine Voraussetzungen (Indikationen) für die Wahl
der einzelnen Hilfe, es beschreibt jedoch
- die möglichen Adressaten der Hilfe,
- die Ziele, die mit der Hilfe erreicht werden können und
- methodische Aspekte der Hilfe.
30
S.o. FN 11
31
Vgl. hierzu Wiesner / Wiesner §§ 27-40; Kunkel / Nonninger / Götze §§ 27-40
31
Bei der Hilfe in Form einer Fremdunterbringung ist
- primäres Ziel die Rückführung des Kindes/ Jugendlichen
- wenn dies nicht zu verwirklichen ist, die Adoption des Kindes/ Jugendlichen
- wenn die nicht in Betracht kommt, die Dauerunterbringung in einer Pflegefamilie
- äußerstenfalls die dauernde Unterbringung in einer Einrichtung, wobei familienähnliche Strukturen Vorrang haben
Die Jugendämter sind verpflichtet, mit den leiblichen Eltern zu arbeiten, um diese (wieder) erziehungsfähig zu machen (§ 37 Abs.1 S. 2,3). Sie sind ebenso verpflichtet, Pflegefamilien zu werben, zu schulen und zu betreuen (§§ 2 Abs.2 Nr.4, 33). Ist ein Kind in
einer Pflegefamilie untergebracht, kann diese - trotz zivilrechtlicher Unterhaltspflicht der
leiblichen Eltern, §§ 1601 ff. BGB - u. U. Pflegegeld erhalten (§ 39), das aus einem
Unterhaltsteil für das Kind und einem Erziehungsbeitrag für die Pflegeeltern besteht.
1.6.2 Ambulante Hilfen
a)
Erziehungsberatung (§ 28 SGB VIII) 32
In der deutschen Jugendhilfe sprechen wir von funktionaler Erziehungsberatung, d.h.
einer Beratung als Bestandteil aller erzieherischen Hilfen und Angebote, und institutioneller Erziehungsberatung auf der Grundlage des § 28 SGB VIII. Jedenfalls hat Erziehungsberatung die Aufgabe, bei Fragen, Konflikten und Krisen in der Erziehung von
Kindern und Jugendlichen stabilisierend zu wirken und Gefährdungen und Störungen
in der seelischen Entwicklung der jungen Menschen zu klären und zu behandeln. Sie
ist auch schon präventiv als generell förderndes Angebot einzusetzen (§ 16 SGB VIII).
b) Soziale Gruppenarbeit (§ 29 SGB VIII ) 33
Darunter verstehen wir unterschiedlichste gruppenpädagogische Angebote für ältere
Kinder und Jugendliche wie z.B. soziale Trainingskurse, Übungs- und Erfahrungskurse,
Erziehungskurse, Stützkurse usw. Methodisch inhaltlich wird hier mit verschiedenen
Ansätzen gearbeitet, worunter vor allem der handlungs- und erlebnisorientierte und der
verbal-themenorientierte herausragen. Ziel ist der Erwerb größerer Selbständigkeit, die
Reduzierung von Konflikten in Familie und Schule, die Überwindung von Verhaltensproblemen.
c) Erziehungsbeistand, Betreuungshelfer (§ 30 SGB VIII) 34
Im SGB VIII meinen die beiden Begriffe, die aus unterschiedlichen Rechtsgebieten
(JWG und JGG) stammen, dasselbe, nämlich einen pädagogischen Helfer, der einen
jungen Menschen, ohne dass er sein familiales Umfeld verlassen muss, bei der Bewältigung von Entwicklungsproblemen unterstützt und seine Verselbständigung fördert.
Anders als die soziale Gruppenarbeit ist die Erziehungsbeistandschaft eher eine individuelle Hilfe, bei der der Helfer in die Familie hinein geht. Die Familie und das sonstige soziale Umfeld wird somit in die Arbeit mit einbezogen. Ursprünglich kam diese Hilfe
aus dem ehrenamtlichen Sektor, inzwischen wir sie jedoch fast nur noch von pädagogisch geschulten Fachkräften durchgeführt.
32
33
34
Institutionelle Erziehungsberatung ist 2004 in 304.972 Fällen geleistet worden.
Statistisch werden die Hilfe b) und c) als „Betreuung einzelner junger Menschen“
zusammen gefasst. 2004 waren es 24.840 Fälle.
S. Fußnote 27.
32
d) Sozialpädagogische Familienhilfe (§ 31 SGB VIII) 35
Darunter versteht man eine Sozialleistung, bei der eine pädagogisch geschulte Person
für eine bestimmte Zeit (z.B. ein halbes Jahr) regelmäßig (z.B. viermal die Woche vier
Stunden) in die Familien geht und die Eltern bei der Erziehung der Kinder und beim
Wirtschaften und Organisieren des Haushaltes systematisch anleitet. Primäres Ziel
einer solchen Hilfe ist es, zu verhindern, dass die Kinder aus der Familie herausgenommen werden müssen. Diese Art der Hilfe grenzt ihrer Intensität nach und wie sie
von den Betroffenen empfunden wird schon stark an einen Eingriff. Umgekehrt darf bei
den Betroffenen nicht der Eindruck entstehen, es handele sich um eine Haushaltshilfe.
Vom Ansatz her kam diese Hilfe ursprünglich ehe für kinderreiche Familien in betracht.
Inzwischen wird sie jedoch auch sehr häufig für allein erziehende Elternteile gewährt.
e) Tagesgruppe/ Tagespflegestelle (§ 32 SGB VIII) 36
Diese Art der Hilfe steht zwischen ambulanten und stationären Hilfen. Sie ist ein Zwitter. Sie ist eine Alternative zu Heim und Vollzeitpflege (§§ 33, 34 SGB VIII). Statt die
Kinder und Jugendlichen ganz aus den Familien herauszunehmen, bleiben sie grundsätzlich in ihren Familien und werden nur tagsüber von einer Einrichtung oder einer
Pflegefamilie aus versorgt und pädagogisch betreut. Diese Hilfe weist eine gewisse
Ähnlichkeit mit Tageseinrichtungen (§ 22 SGB VIII) und Tagespflege (§ 23 SGB VIII)
auf, setzt aber - anders als diese - bereits ein zumindest drohendes erzieherisches
Defizit voraus, was mit intensiveren pädagogischen Mitteln, z.B. heilpädagogischen,
bekämpft werden muss.
Hilfen zur Erziehung
1. Ambulante Hilfen
außerhalb der Familie
§ 28
Erziehungsberatung
§ 29
Soziale Gruppenarbeit
innerhalb der Familie
§ 30
Erziehungsbeistand
§ 31
Sozialpädagogische
Familienhilfe
Adressat
Kinder
Jugendliche
Eltern
andere Erziehungsberechtigte
ältere Kinder
Jugendliche
Kinder
Jugendliche
Familien
Ziel
Unterstützung
- bei der Klärung und
Bewältigung individueller und familienbezogener Probleme
und der zugrundeliegenden Faktoren
- bei Trennung und
Scheidung
- Hilfe bei der Überwachung von Entwicklungsschwierigkeiten
und Verhaltensproblemen
- Förderung der Entwicklung
- Unterstützung bei der
Bewältigung von Entwicklungsproblemen
- Förderung der Verselbstständigung
- Unterstützung in den
Erziehungsaufgaben,
bei der Bewältigung
von Alltagsproblemen,
bei der Lösung von
Konflikten und Krisen,
im Kontakt mit Ämtern
und Institutionen
- Befähigung zur
Selbsthilfe
Methode
Zusammenwirken von
Fachkräften
gruppenpädagogische
Konzepte; soziales
Lernen in der Gruppe
Einbeziehung des sozialen Umfelds;
Erhaltung des Lebensbezugs zur Familie
längere Dauer;
Mitarbeit der Familie
35
36
2004 ist in 27.413 Fällen SpFH geleistet worden.
Im Jahr 2004 erhielten 22.269 Minderjährige diese Hilfe, davon 20.810 in einer Einrichtung, die anderen in einer Familie.
33
1.6.3 Stationäre Hilfen
a) Vollzeitpflege (§ 33 SGB VIII) 37
Bei dieser Hilfe wird das Kind in einer fremden Familie untergebracht, wobei fremd
meint, dass das Kind nicht bei oder mit leiblichen Elternteilen lebt. Daher ist handelt es
sich auch bei Großeltern oder älteren Geschwistern um eine fremde Familie und somit
eine Pflegefamilie. Es ist grundsätzlich nicht Voraussetzung, dass diese Familie spezielle pädagogische Qualitäten hat. Wenn jedoch für das Kind besonderer pädagogischer Bedarf besteht, so gibt es die Möglichkeit, es in eine spezielle Pflegefamilie zu
geben. Solche Pflegefamilien tragen regional unterschiedliche Namen, z. B. heilpädagogische Pflegestellen, Erziehungsstellen, Erziehungsfamilien etc. In diesen hat zumindest einer der Elternteile eine pädagogische Ausbildung.
b) Heim (§ 34 Alt.1 SGB VIII) 38
Heime sind Institutionen, in denen Kinder und Jugendliche ihren Lebensmittelpunkt
haben. Sie ersetzen in der Regel nur die Familie, nicht dagegen andere Funktionen wie
z.B. die Schule. Die Heimerziehung, die früher oft ein pädagogischer Horror war, verfolgt heute moderne Prinzipien, wozu u. a. gehören:
- familienähnliche Strukturen hinsichtlich Größe, Alterszusammensetzung und Zuordnung zu Erziehern
- neue Formen der Differenzierung (dezentrale Wohngruppen unterschiedlicher Größe in alltags- oder therapeutisch orientierten Settings)
- Regionalisierung (Vermeidung räumlicher Distanz zwischen Einrichtung und Elternhaus)
- Vernetzung stationärer und offener Angebote, Sozialraumorientierung
- Vermeidung von Heimunterbringung bei Säuglingen und Kleinkindern.
Obwohl in der Regel die Unterbringung eines Kindes in einer Familie besser ist als die
in einem Heim, wird es auch künftig Heime geben müssen, weil bestimmte Kinder nicht
in fremden Familien untergebracht werden können (z.B. nicht familienfähig, nur vorübergehende Unterbringung etc.). Dies ist in der Fachwelt wohl unstreitig.
Streitig ist dagegen, ob es eine geschlossene Unterbringung geben muss. Mit zunehmender pädagogischer Ausrichtung der Heime wurde die freiheitsentziehende Unterbringung als pädagogische Kapitulation angesehen und vermieden. Inzwischen ist die
Diskussion aber wieder neu entbrannt im Blick auf massenhaft Delikte begehende strafunmündige Kinder (also unter 14 Jahren) und im Blick auf extrem gewaltbereite junge
Menschen. Wenn für letztere als Alternative nur Jugendstrafvollzug oder Jugendpsychiatrie droht, dann ist vielleicht geschlossene Unterbringung in Heimen die weniger
schädliche Alternative.
Die Diskussion ist in Deutschland noch nicht abgeschlossen. Der Gesetzgeber ist bei
seiner bisherigen Position geblieben und verlangt für eine freiheitsentziehende Maßnahme weiterhin eine Genehmigung des Familiengerichts (§ 1631b BGB). Dies gilt
allerdings nicht für dem Alter entsprechende Freiheitsbeschränkungen.
37
38
2004 erhielten 58.134 Minderjährige diese Hilfe. 10.353 davon waren bei Großeltern
oder sonstigen Verwandten, 47.781 in fremden Familien.
2004 waren 90.202 junge Menschen in Heimerziehung.
34
2. Stationäre Hilfen
teilstationär
familial / instituti
ll
§ 32
Tagesgruppe
Familienpflege
Adressat Kinder
Jugendliche
Ziel
stationär
familial
institutionell
§ 33
Vollzeitpflege
§ 34
Heim, sonstige
betreute Wohnform
Kinder
Jugendliche
- Unterstützung
- zeitlich befristete
der Entwicklung Erziehungshilfe
- Sicherung des
oder
Verbleibs in der - auf Dauer angeFamilie
legte Lebensform
Methode soziales Lernen
in der Gruppe;
Begleitung der
schulischen Förderung;
Elternarbeit
ambulant
oder stationär
§ 35
Intensive
sozialpädagogische
Einzelbetreuung
Kinder
Jugendliche
Jugendliche
- Förderung in Entwicklung
- Zukunftsplanung
● Anstreben der Rückkehr in die Familie
oder
● Vorbereitung der Erziehung in anderer
Familie
oder
● Vorbereitung auf selbst
ständiges Leben
Unterstützung zur
sozialen Integration
und eigenverantwortlichen Lebensführung
Berücksichtigung
- Verbindung von Alltagsvon
erleben und pädagogi● Alter
schen und therapeuti● Entwicklungsschen Angeboten
stand
- Berücksichtigung von
● persönlichen
● Alter
Bindungen
● Entwicklungsstand
● Möglichkeiten der ● Möglichkeiten der VerVerbesserung der
besserung der ErzieErziehungsbedinhungsbedingungen in
gungen in der
der Herkunftsfamilie
Herkunftsfamilie
auf längere Dauer
angelegt;
Berücksichtigung von
individuellen Bedürfnissen
c) Sonstige betreute Wohnform (§ 34 Alt.2 SGB VIII) 39
Der Begriff ist vom Gesetzgeber absichtlich offen gewählt, damit sich weitere Formen
stationärer Unterbringung unbefangen darunter subsumieren lassen und sich weitere
entwickeln können. In der deutschen „Jugendhilfelandschaft“ finden sich folgende Institutionen:
- betreute selbständige Wohngemeinschaften (WG)
- betreutes Einzelwohnen
- Kinder- und Jugenddörfer
- Kinderhäuser
- Kinderschutzzentren, soweit sie nicht der Krisenintervention dienen
- evtl. Internate 40
39
2004 waren 11.729 junge Menschen in einer Wohngemeinschaft untergebracht und
4.720 in einer eigenen Wohnung.
40
vgl. OVG Brandenburg JAmt 2001, 597; Schleswig-Holsteinisches VerwG, SchlHA
2003, 173
35
d) Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (§ 35 SGB VIII) 41
Diese in Kurzform InspE genannte Hilfe soll der letzte Rettungsanker für die jungen
Menschen sein, die sich durch keine der traditionellen Hilfsangebote mehr erreichen
lassen. Es sind dies z.B. Jugendliche aus dem Drogen- und Prostituiertenmilieu, Trebegänger, Punks, obdachlose Jugendliche etc. Bei dieser Hilfe handelt es sich nicht
um eine Form geschlossener Unterbringung, sondern um eine Alternative zu Freiheit
entziehenden Maßnahmen und zur Unterbringung in Einrichtungen der Psychiatrie.
Zur inhaltlichen Ausgestaltung sagt das Gesetz gar nichts. Wichtigstes Kriterium ist
jedoch die Intensität. Dazu gehört u. a. 42 ein fundiertes Konzept, permanente Reflexion
des Hilfeprozesses, Einbindung des Betreuers in eine kollegiale Leistung mit bewusst
konzeptioneller und fachlicher Orientierung (Team, Fachberatung, Supervision) sowie
gründliche Dokumentation. Hinsichtlich der äußeren Ausgestaltung lässt sich lediglich
sagen, dass sie kaum im Elternhaus, andererseits auch kaum in einer Notschlafstelle
durchgeführt werden kann. Im Normalfall lebt der junge Mensch in angemietetem Zimmer ergänzt oder ersetzt durch erlebnispädagogische Maßnahmen. Die Hilfestellung ist
lebenswelt- und ganzheitlich orientiert.
1.7
Adoptionsvermittlung 43
44
Bei dem Rechtsinstitut der Adoption muss man den Vorgang der Adoptionsvermittlung
von der zivilrechtlichen Statusänderung unterscheiden. Die unter 1.1 – 1.6 aufgezählten Hilfen zur Erziehung haben keinen Statuswechsel zur Folge. Im extremsten Fall
(Fremdunterbringung) ist mit ihnen zwar die Herausnahme des Kindes aus seiner Ursprungsfamilie verknüpft, aber die Zuordnung des Kindes zu seinen Eltern ändert sich
nicht. Anders ist dies bei der Adoption, jedenfalls wenn es sich nicht um eine Stiefkindadoption handelt. Zivilrechtlich erhalten die Pflegepersonen oder Institutionen nur minimale Rechte („kleines Sorgerecht“: § 1688 BGB und evtl. Teile der elterlichen Sorge:
§ 1630 III BGB sowie ein nachträgliches Umgangsrecht: § 1685 BGB)
Bei der Stiefkindadoption wird ein Elternteil ausgewechselt. Da der andere leibliche
Elternteil erhalten bleibt, ist keine Vermittlung durchzuführen. Ähnlich ist es mit Verwandtenadoptionen: da sich Verwandte als Eltern für das Kind anbieten, ist eine Vermittlungstätigkeit – jedenfalls eine im traditionellen Sinn, bei der man Eltern für ein Kind
sucht – nicht nötig. In beiden Fällen geht es nur um die Statusänderung, die allerdings
- zumindest formal – mit einer gewissen Kontrolle im Interesse des Kindes durch das
Gericht verknüpft ist.
Wenn es sich dagegen um eine Fremdadoption handelt, ist die Vermittlung des Kindes
eine echte Jugendhilfeleistung. Sie ist nicht im Kinder- und Jugendhilfegesetz, sondern
in einem eigenständigen Gesetz, dem Adoptionsvermittlungsgesetz (AdVermiG) geregelt. Allerdings spricht das SGB VIII an verschiednen Stellen davon, dass in der Hilfeplanung in Betracht zu ziehen ist, dass eine Adoption für das Kind die beste Lösung
sein könnte (z.B. § 36 I 2 und § 37 I 4). Die Adoptionsvermittlung ist den Jugendämtern und freien Trägern der Jugendhilfe vorbehalten, die Adoptionsvermittlungsstellen
unterhalten, die bestimmten fachlichen Anforderungen entsprechen (§ 2 AdVermiG).
Ihre Aufgabe besteht darin, für das Kind, das faktisch keine Eltern hat, die bestmögli41
2004 waren 4.618 Minderjährige in InspE
42
Wiesner § 35 Rn. 11
43
Hierzu Wiesner/ Oberloskamp Anhang III (Adoptionsvermittlungsgesetz)
44
2004 sind 5.064 Adoptionen ausgesprochen worden (zum Vergleich: 10 Aufhebungen). In 377 Fällen (7 %) waren die Annehmenden mit dem Kind verwandt, in 2787
Fällen war es eine Stiefkindadoption (55 %) und nur in 1900 Fällen (37,5 %) eine
echte Fremdadoption (politisches Ziel der Adoption: elternlosen Kindern Eltern zu
verschaffen). Es waren am Jahresende 9.984 Adoptionsbewerber und 878 Minderjährige zur Adoption vorgemerkt, d.h. auf jedes Kind kamen 11 Bewerber.
36
chen Eltern zu finden (nicht umgekehrt). Dies setzt voraus, dass die Bedürfnisse des
Kindes und das, was die Bewerber zu bieten haben, verglichen werden und beide zusammen gebracht werden, wenn ihre Bedürfnisse kompatibel sind. In jedem Fall steht
das Kindeswohl an der Spitze der zu verfolgenden Ziele (§ 1741 I 1 BGB). Das Erfüllen
der zivilrechtlichen Voraussetzungen für eine Adoption, die Status verändernd ist, ist
ein Bestandteil dieser Prüfung.
Die zivilrechtlichen Voraussetzungen sind:
- Mindestalter: Vollendung des 25. Lebensjahres, bei Ehepaaren des 25./21. Lebensjahres, bei Stiefkindadoptionen des 21. Lebensjahres (§ 1743 BGB)
- Einwilligung des Kindes über 14 Jahren (§ 1746 I 1, 3 BGB)
- Einwilligung des gesetzlichen Vertreters des Kindes (§ 1746 I 2, 3 BGB)
- Einwilligung der Eltern des Kindes, gleichgültig ob sie noch das Sorgerecht haben,
oder deren durch das Gericht ersetzte Einwilligung (§§ 1747, 1748 BGB)
- bei Stiefkindadoption: Einwilligung des leiblichen Elternteils (§ 1749 BGB)
- Erfüllen der formalen Voraussetzungen (notarielle Beurkundung des Annahmeantrags
und der Einwilligungen (§§ 1750 I 2, 1752 II 2 BGB)
- Vorausgehen einer angemessenen Adoptionspflegezeit (§ 1744 BGB).
Durch die Kindesannahme erhält das Kind die rechtliche Stellung eines leiblichen Kindes der Annehmenden bzw. des Annehmenden oder bei einer Stiefkindadoption des
leiblichen Elternteils und des Annehmenden (§§ 1754 ff. BGB). Es handelt sich also um
eine sog. Volladoption. Sie ist bis auf wenige Ausnahmefälle unauflöslich (§§ 1759 ff.
BGB).
2.
Hilfen für besondere Personengruppen
2.1
Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Minderjährige (§ 35a SGB VIII) 45
Als Leistung der Jugendhilfe ist nur die seelische Behinderung ausgestaltet. Eine körperliche oder geistige Behinderung untersteht dem 12. Buch Sozialgesetzbuch (Sozialhilfe). Dies hebt § 10 IV 2 SGB VIII noch einmal hervor, obwohl es sich bereits aus der
Vorschrift selber ergibt.
Was seelische Behinderung ist, sagt § 35a I 1 SGB VIII, der sich an § 2 I SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen) anlehnt. Dieser regelt den Behinderungsbegriff für alle RehaLeistungen der verschiedenen RehaTräger in Anlehnung an
WHO-Standards 46 verbindlich. § 35a benennt dafür zwei Kriterien, die kumulativ vorliegen müssen:
- zum einen muss die Dauer der Abweichung von der seelischen Gesundheit mit hoher
Wahrscheinlichkeit (Prognose) mehr als sechs Monate von dem für das Lebensalter
typischen Entwicklungsstand betragen (Nr.1)
- zum anderen muss die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt sein
oder eine solche Beeinträchtigung muss zu erwarten sein (Nr.2).
Von einer seelischen Behinderung bedroht sind Kinder und Jugendliche, bei denen
eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (Abs.1 Satz 2).
Das erste Tatbestandsmerkmal muss durch die Stellungnahme eines Arztes oder Psychotherapeuten nachgewiesen werden, der über besondere Kenntnisse von seelischen
Störungen bei Kindern und Jugendlichen verfügt (detailliert in § 35 Ia 1Nr.1-3 SGB VIII). Er muss nach internationalen Standards arbeiten Abs.1a Satz 2 und 3).
Das zweite Tatbestandsmerkmal muss durch die Fachkräfte der Jugendhilfe festgestellt werden. Da sich auch dieses Merkmal an dem Begriff der WHO orientiert, muss
die Jugendhilfe dies berücksichtigen und einen eigenen interdisziplinären inhaltlichen
Zugang entwickeln 47.
45
Wiesner/ Fegert § 35a; Kunkel/ Vondung § 35a
46
Zu Details s. Wiesner § 35a Rdnr.5
47
Zu Einzelheiten s. Wiesner Rdnrn. 19-25.
37
Steht fest, dass die Anspruchsvoraussetzungen vorliegen, so wird Hilfe geleistet, die
sich an den Bedürfnissen des Einzelfalles orientiert. Sie kann ambulant, teilstationär
oder stationär (Pflegeperson, Einrichtung) sein (§ 35a II SGB VIII). Ist gleichzeitig Hilfe
zur Erziehung zu leisten, so sollen ebenfalls entsprechende geeignete Dienste und
Einrichtungen gewählt werden (Abs.4).
2.2
Hilfe für junge Volljährige (§ 41 SGB VIII) 48
Die jungen Menschen, die zwischen 18 und 21 Jahren sind und trotz somit vorhandener Volljährigkeit das Erziehungsziel des § 1 I SGB VIII, nämlich die Eigenverantwortlichkeit und Gemeinschaftsfähigkeit, noch nicht erreicht haben, können Hilfe für junge
Volljährige bekommen. Das Gesetz enthält keine präziseren Voraussetzungen, stellt
insbesondere nicht darauf ab, dass eine Ausbildung begonnen und noch nicht beendet
sein oder eine Hilfe zur Erziehung noch abgeschlossen werden muss. Das einzige,
woran man sich orientieren kann, ist die Notwendigkeit der Hilfe und die Zweckbestimmung: zur Persönlichkeitsentwicklung und eigenverantwortlichen Lebensführung.
Das schließt allerdings ein, dass wenigstens eine gewisse Aussicht auf Verbesserung
der Situation besteht. Die Hilfe kann in der Regel bis Vollendung des 21. Lebensjahres
gewährt werden, in begründeten Einzelfällen auch über diesen Zeitpunkt hinaus.
Wegen der Ausgestaltung der Hilfe wird auf die Vorschriften für Minderjährige und seelisch Behinderte verwiesen. Allerdings kommen spFH und Tagesgruppe nicht in Betracht. Praktisch ist die Mehrzahl der Hilfen Heimerziehung/ Erziehung in sonstiger
betreuter Wohnform (§ 34 SGB VIII) und InspE (§ 35 SGB VIII). Nach Beendigung der
Hilfe soll dem jungen Menschen weiterhin Beratung und Unterstützung zuteil werden.
3.
Finanzierung der Leistungen
Bei der Finanzierung der Leistungen ist zwischen ambulanten Leistungen einerseits
und stationären, teilstationären sowie vorläufigen Leistungen andererseits zu unterscheiden.
Für bestimmte ambulante Angebote, die in § 90 I 1 SGB VIII namentlich genannt sind,
können pauschalierte gestaffelte Teilnahmebeiträge verlangt werden, bei denen verschiedene Kriterien (Einkommen, Kinderzahl etc.) eine Rolle spiele können. Dies muss
das Landesrecht festlegen (Abs.1 Satz 2).
Für die zweite Gruppe von Leistungen werden Kostenbeiträge erhoben (§ 91 I und II
SGB VIII). Anders als in anderen Gebieten des Sozialrechts ist die Gewährung von
derartigen Leistungen nach dem SGB VIII jedoch nicht davon abhängig, dass Einkommen und Vermögen des Hilfeempfängers eingesetzt werden. Dies ist deswegen anders, weil das in der Jugendhilfe nicht die Eltern träfe, sondern das Kind. § 91 V SGB
VIII bestimmt daher ausdrücklich, dass die Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Kosten tragen unabhängig von der Erhebung eines Kostenbeitrags.
Als Kostenschuldner für die Kostenbeiträge kommen die Eltern, Ehegatten und Lebenspartner, die Jugendlichen sowie die jungen Volljährigen in Betracht. Der Heranziehung unterliegt das Einkommen im Umfang des § 93 SGB VIII, das Vermögen nur
bei jungen Volljährigen und volljährigen Leistungsberechtigten nach § 19 (Elternteile,
die mit einem Kind in einer Einrichtung leben). Für die Festsetzung der Kostenbeiträge
werden gestaffelte Pauschalbeträge gemäß einer Verordnung 49 zu Grunde gelegt. In
der Regel (Ausnahme: bei vorrangig Leistungsverpflichteten Überleitung der Ansprüche gem. § 95 SGB VIII) erfolgt die Heranziehung durch Kostenbescheid.
48
49
Wiesner § 41; Kunkel/ Kindle § 41
VO zur Festsetzung der Kostenbeiträge für Leistungen und vorläufige Maßnahmen
in der Kinder- und Jugendhilfe (Kostenbeitragsverordnung - KostenbeitragsV) vom
1.10.2005 (BGBl. I S. 2907
38
III.
Verfahren und gerichtliche Kontrolle
1.
Behördliches Verfahren
Das Verfahren der Gewährung von Leistungen setzt voraus, dass der Wunsch auf eine
Leistung zumindest konkludent geäußert wird. Ein förmlicher Antrag muss nicht gestellt
werden.
Die Gewährung einer Leistung setzt ein bestimmtes methodisches Vorgehen voraus,
nämlich die individuelle Hilfeplanung (Prozess), die ggfs. in einen fortzuschreibenden
Hilfeplan (Ergebnis des Prozesses) (§ 36 SGB VIII) einmündet. An den Hilfeplangesprächen haben
- der Personensorgeberechtigte,
- der Minderjährige (§ 36 I 1 SGB VIII),
- der zuständige Mitarbeiter des Jugendamtes sowie
- ggfs. die übrigen Teammitglieder (§ 36 II 1 SGB VIII) und
- alle für eine Entscheidung bedeutsamen Personen [z.B. Lehrer, bisheriger Beistand,
evtl. künftiger Heimleiter (§ 36 II 3 SGB VIII), evtl. Richter etc.] teilzunehmen. Vor und
während einer langfristig zu gewährenden Hilfe außerhalb der eigenen Familie ist zu
prüfen, ob die Annahme als Kind in Betracht kommt (§ 36 I 2 SGB VIII). Am Ende der
Hilfeplanung steht die Entscheidung des zuständigen Jugendamtsmitarbeiters, ob sie
eine Hilfe oder die beantragte Hilfe gewähren. Soll sie gewährt werden, so erlässt das
Jugendamt einen entsprechenden begünstigenden Verwaltungsakt (§ 31 S.1 SGB
X). Es ist also nicht der Richter, der die erzieherische Hilfe anordnet, sondern es ist
die Behörde, die die Hilfe gewährt. Im Anschluss daran schließt der Personensorgeberechtigte mit der Person oder Institution, die die Hilfe durchführt, einen Vertrag.
2.
Fehlende Mitwirkungsbereitschaft
Kommt der Jugendamtsmitarbeiter zu dem Ergebnis, dass ein junger Mensch Hilfe
braucht, der gesetzliche Vertreter jedoch nicht bereit ist, diese in Anspruch zu nehmen,
so ist zu prüfen, ob der Minderjährige ohne die Hilfe gefährdet ist (§ 8a I SGB VIII).
Trifft das zu, so kann ein Verfahren zur Einschränkung des Sorgerechts (§ 1666 BGB)
eingeleitet werden, indem das Jugendamt das Familiengericht (FamG) „anruft“ (§ 8a III
SGB VIII). Diese Anrufung ist eine Anregung an das Gericht, tätig zu werden. Das Jugendamt legt dem Gericht in einer gutachtlichen Stellungnahme (§ 50 SGB VIII, § 49a
FGG) dar, warum es der Meinung ist, dass das Kind ohne Hilfe gefährdet ist. Zu den
Details s. u. unter E.III. Das FamG prüft nun in eigener Verantwortung - es gilt der
Amtsermittlungsgrundsatz (§ 12 FGG) -, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt. Hält
es sie für gegeben, erlässt es entweder eine einstweilige Anordnung (wenn es sehr
dringend ist) oder einen Beschluss in einem normalen Verfahren, womit den Eltern
Teile des Sorgerechts weggenommen werden (§ 1666 BGB: erforderliche Maßnahme).
Anstelle der Eltern wird in diesem Bereich ein Ergänzungspfleger (§ 1909 BGB) eingesetzt. Dieser entscheidet nunmehr in eigener Verantwortung, ob die angebotene Hilfe
für das Kind beantragt wird. Ggfs. bittet er um diese Hilfe.
3.
Örtliche Zuständigkeit des Jugendamtes
Die örtliche Zuständigkeit des Jugendamtes für Leistungen ergibt sich aus den §§ 86 86d SGB VIII. Das Grundprinzip ist eine Anlehnung an Art.6 GG, d.h. die Verknüpfung
der Zuständigkeit mit dem gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern. Dieses Prinzip funktioniert nicht, wenn die Eltern verschiedene gewöhnliche Aufenthalte haben. § 86 sieht
daher zahlreiche Einzelkonstellationen und -reglungen vor, die sich dem Grundprinzip
nicht fügen. Grundsätzlich ändert der Umzug der Eltern nichts an der Zuständigkeit des
bisherigen Jugendamtes (§ 86c SGB VIII). Die Unterbringung des Kindes außerhalb
des Jugendamtsbezirks ändert auch nichts an der Zuständigkeit; nur bei der Unterbrin-
39
gung in einer Pflegefamilie wird das Jugendamt am gewöhnlichen Aufenthalt der
Pflegeeltern nach zwei Jahren zuständig, wenn zu erwarten ist, dass der Verbleib des
Kindes hier auf Dauer ist (§ 86 VI 1 SGB VIII). Spezielle Regelungen gibt es für junge
Volljährige (§ 86a SGB VIII) und Väter/ Mütter, die gemeinsam mit Kindern in einer
Einrichtung wohnen (§ 86b SGB VIII). Bei ihnen kommt es auf ihren gewöhnlichen Aufenthalt vor Beginn der Leistung an.
4.
Verwaltungsgerichtliches Verfahren
Lehnt das Jugendamt die Gewährung der Hilfe ab oder will es die beantragte konkrete
Hilfe nicht gewähren (z.B. die Eltern wollen eine ambulante Hilfe, das Jugendamt hält
jedoch eine Fremdunterbringung für erforderlich), so können sie gegen den Bescheid
des Jugendamtes, der ein Verwaltungsakt ist, Widerspruch einlegen (§ 62 SGB X,
§§ 68-80b VwGO). Im Widerspruchsverfahren wird die Recht- und die Zweckmäßigkeit
des Verwaltungsakts überprüft. Da es sich bei der Gewährung von Leistungen der Jugendhilfe um eine Selbstverwaltungsangelegenheit handelt, überprüft die Behörde, die
den Verwaltungsakt erlassen hat, also das Jugendamt selber, diesen. Es erhält somit
eine Chance, sein Verwaltungshandeln zu korrigieren. Bleibt es bei seiner Entscheidung, kann der Berechtigte Verpflichtungsklage (§ 42 I VwGO) vor dem zuständigen
Verwaltungsgericht erheben.
Das Verwaltungsgericht kann den Verwaltungsakt nur auf seine Rechtmäßigkeit überprüfen. Die Entscheidung des Jugendamtes beruht im Wesentlichen auf einem Interaktionsprozess zwischen Leistungsempfänger und Fachkräften. Dieser Prozess kann vor
dem Verwaltungsgericht nicht wiederholt werden. Außerdem ändert sich in der Regel
die Sachlage fortwährend. Deswegen kann das Gericht z.B. bei § 27 SGB VIII zwar
überprüfen, ob eine defizitäre Erziehungslage vorliegt und ob der Personensorgeberechtigte einverstanden ist, nicht aber ob die Hilfe geeignet und notwendig ist. In diesem Bereich hat nämlich das Jugendamt ein sog. Auswahlermessen 50. Das Verwaltungsgericht kann das Jugendamt daher nur dazu verpflichten, unter Beachtung der
Rechtsauffassung des Gerichts zusammen mit dem Leistungsberechtigten und den
weiteren Leistungsadressaten in einen neuen Klärungs- und Entscheidungsprozess
einzutreten (§ 113 V 2 VwGO). Es überprüft die Ausübung des Ermessens nach Maßgabe des § 114 VwGO unter besonderer Berücksichtigung des Auswahlmaßstabs des
§ 27 II 2 SGB VIII, also des erzieherischen Bedarfs im Einzelfall 51.
Das Verwaltungsgericht 52 entscheidet durch Urteil. Dieses kann von der unterliegenden Partei mit der Berufung beim Oberverwaltungsgericht (OVG) 53 angegriffen werden.
Dieses entscheidet ebenfalls durch Urteil und lässt ggfs. die Revision zum Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) 54 zu.
IV.
Leistungserbringungsrecht
1.
Gewährleistung der Infrastruktur
Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe haben für die Erfüllung der Jugendhilfeaufgaben die Gesamtverantwortung. Dazu gehört auch die Planungsverantwortung (§ 79 I
50
Wiesner § 27 Rn. 55; Jans/ Happe/ Saurbier/ Maas § 36 Rn. 4; jedoch nicht unstreitig.
51
Zu den verschiedenen Meinungen in Rechtsprechung und Literatur zu dieser Frage
vgl. Wiesner § 27 Rn. 64
52
Für das Gebiet des LJA Köln ist dies das VerwG Köln.
53
Für NRW ist dies Münster.
54
Dieses hat seinen Sitz in Leipzig.
40
SGB VIII). Der öffentliche Träger soll gewährleisten, dass die zur Erfüllung der Jugendhilfeaufgaben erforderlichen Einrichtungen, Dienste und Veranstaltungen rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen (§ 79 II SGB VIII). Die verschiedenen
Grundrichtungen der Erziehung (z.B. konfessionelle) sind dabei zu berücksichtigen.
Auch für eine ausreichende Ausstattung der Jugendämter einschließlich ausreichenden Fachpersonals haben sie zu sorgen (§ 79 III SGB VIII).
Zur Planungsverantwortung gehört gem. § 80 I SGB VIII:
- die Feststellung des Bestands an Einrichtungen und Diensten
- die Ermittlung des Bedarfs unter Berücksichtigung der Wünsche, Bedürfnisse und
Interessen der jungen Menschen und der Personensorgeberechtigten und zwar für
einen mittelfristigen Zeitraum
- die rechtzeitige Planung der nötigen Vorhaben.
An der Planung hat der öffentliche Träger die anerkannten freien Träger rechtzeitig zu
beteiligen (§ 80 III SGB VIII).
Die Ergebnisse dieser Planung sind in dem sog. Jugendhilfeplan festzuhalten. Er ist
regelmäßig fortzuschreiben.
2.
Zulassung von freien Trägern
Leistungen der Jugendhilfe dürfen grundsätzlich ohne Einschränkungen von freien
Trägern erbracht werden (§ 3 II SGB VIII), auch wenn sich Leistungsverpflichtungen
nur an die Träger öffentlicher Jugendhilfe richten. Freie Träger brauchen erst dann eine
Art Zulassung, wenn sie dauerhaft gefördert werden wollen und wenn sie bestimmte
Teilhaberechte haben wollen. Diese Zulassung heißt im SGB VIII Anerkennung als
freier Träger (§ 75 SGB VIII).
Voraussetzung für eine Anerkennung ist, dass
1. der Träger auf dem Gebiet der Jugendhilfe im Sinne des § 1 tätig ist
2. gemeinnützige Ziele verfolgt
3. aufgrund der fachlichen und personellen Voraussetzungen erwarten lässt, dass er
einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Erfüllung der Aufgaben der Jugendhilfe zu
leisten im Stande ist
4. die Gewähr für eine den Zielen des Grundgesetztes förderliche Arbeit bietet.
Die Anerkennung als freier Träger hat zur Folge, dass der freie Träger dauerhaft gefördert werden kann und dass er bestimmte Rechte erwirbt, nämlich
- seine Vertreter in den Jugendhilfeausschuss gewählt werden können
- er an der Jugendhilfeplanung beteiligt werden muss
- er an der Wahrnehmung „anderer Aufgaben“ beteiligt werden kann.
3.
Beteiligung anderer als öffentlicher Träger an der Erbringung von
Leistungen
Wie schon dargestellt, können die Leistungen der Jugendhilfe von dem öffentlichen
Träger selber, einem freien Träger, einem privat-gewerblichen Leistungserbringer und
auch von Privatpersonen, die die Leistungsberechtigten sich selber suchen (z.B. Tagespflege, Dauerpflege), erbracht werden. Gemäß § 5 SGB VIII haben die Berechtigten ein Wunsch- und Wahlrecht. Ob dieses sich auf alle genannten potenziellen Leistungsbringer erstreckt, ist in Rechtsprechung, Literatur und Praxis streitig. Es gibt einige systematische Argumente, die dafür sprechen, dass sich das genannte Recht nur
auf die freien Träger bezieht 55. Allerdings sollte man die Frage nicht zu wichtig nehmen, weil den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe eine Einflussnahme auf die Gestaltung der Leistungsinhalte und die Höhe der Entgelte über den Abschluss von Vereinbarungen möglich ist 56. Tatsache ist, dass die Leistungserbringer in der Regel ihren Aufwand nur dann vom öffentlichen Träger erstattet bekommen, wenn sie mit diesem eine
55
Kunkel/ Kunkel § 79 Rn. 15; VG Minden DAVorm 1997, 812
56
Wiesner/ Wiesner § 5 Rn.10
41
Vereinbarung geschlossen haben. Zu unterscheiden ist hier allerdings die Erbringung
ambulanter Leistungen (darunter insbesondere ambulante erzieherische Hilfen und
Tageseinrichtungen) und die stationärer Leistungen. Für erstere gilt § 77 SGB VIII, für
letztere gelten die §§ 78b-g SGB VIII.
Im ersten Fall betrifft die Vereinbarung nur
- die Kosten.
Im zweiten Fall umfasst die Vereinbarung
- die Leistung (Inhalt, Umfang und Qualität),
- das Entgelt (Leistungen und Investitionen),
- die Qualitätsentwicklung (Bewertung der Qualität, Maßnahmen zur Gewährleistung
von Qualität).
Die Vereinbarungen für die stationären Leistungen sind relativ differenziert vom Gesetz
geregelt. Sie gelten für einen bestimmten zu benennenden Zeitraum. Sie werden nicht
einzeln ausgehandelt, sondern als sog. Rahmenverträge, die zwischen
- den kommunalen Spitzenverbänden auf Landesebene einerseits
- und den Verbänden der Träger der freien Jugendhilfe und den Vereinigungen sonstiger Leistungserbringer auf Landesebene andererseits
geschlossen werden. Sie unterliegen der Schlichtung von sog. Schiedsstellen. Diese
sind keine Gerichte, sondern Behörden. Sie sind paritätisch mit Vertretern der öffentlichen Jugendhilfe und der Einrichtungen besetzt. Gegen die Entscheidungen der
Schiedsstellen ist der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten gegeben. Landesrecht
kann weitere Regelungen vorsehen.
Träger, die keine Vereinbarungen mit dem öffentlichen Träger abgeschlossen haben,
und einzelne Privatpersonen können ausnahmsweise dennoch ihre Kosten erstattet
bekommen. Dies ist dann der Fall, wenn die Berechtigten sie im Rahmen ihres
Wunsch- und Wahlrechts wählen und die Leistung durch diese Träger oder Personen
im Hilfeplanverfahren als notwendig und geeignet festgestellt wird (§ 5 II 2 SGB VIII).
Eine sog. Selbstbeschaffung ist jedoch in der Regel verboten (§ 36a I SGB VIII), jedenfalls soweit es sich um individuelle Hilfen handelt, bei denen eine fachliche Bedarfsprüfung durchzuführen ist. Sie ist allerdings zulässig bei sog. Systemversagen, d.h. wenn
der öffentliche Träger trotz gesetzlicher Verpflichtung rechtswidrig eine Leistung nicht
oder nicht rechtzeitig erbringt und der Leistungsberechtigte aufgrund der Art und Dringlichkeit des Hilfebedarfs zur Selbsthilfe greifen musste (§ 36a III
SGB VIII).
E.
Andere Aufgaben der Jugendhilfe
I.
Allgemeines
Wie schon oben angesprochen haben sich die „anderen Aufgaben“ aus den polizeilichen und kontrollierenden Aufgaben der Jugendhilfe entwickelt. Es war das Versorgen
verwahrloster eltern- und heimatloser Kinder nach dem ersten Weltkrieg, das Schützen
von Pflegekindern, die als billige Arbeitskräfte ausgebeutet wurden, die Unterstützung
von ledigen Müttern mit Kindern bei der Klärung der Vaterschaft und der Durchsetzung
von Unterhaltsansprüchen. Von Anfang an ging es aber weniger darum, die „öffentliche
Sicherheit und Ordnung wiederherzustellen“ (= Aufgabe der Polizei), sondern im Interesse der Kinder und Jugendlichen auf sie und ihre Umgebung pädagogisch einzuwirken, um sie zu rechtschaffenen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen. Als echte
polizeiliche Aufgabe ist heute nur noch die Inobhutnahme übrig geblieben (s. unten
2.2). Allerdings teilen alle weiteren „anderen Aufgaben“ das Schicksal der Inobhutnah-
42
me, indem die Freiwilligkeit belanglos ist. Dies ist so mit Pflege- und Betriebserlaubnissen, Mitwirkung in Gerichtsverfahren, staatlicher Rechtsfürsorge (Vormundschaft,
Pflegschaft, Beistandschaft) und urkundlicher Tätigkeit. Wenn man es vom Ergebnis
her sieht, könnte man allerdings auch alle (freiwilligen) Hilfen, d.h. alle Leistungen der
Jugendhilfe (D. II.), dazu rechnen, die gegen den Willen des Personensorgeberechtigten erbracht werden, nachdem diesem das Recht der Inanspruchnahme von Hilfe zur
Erziehung (= Teil der elterlichen Sorge) gemäß § 1666 BGB entzogen und auf einen
Pfleger (§ 1909 BGB) übertragen worden ist.
Der Begriff des Staatlichen Wächteramts ist nur teilidentisch mit den „anderen Aufgaben“. Das Wächteramt ist weiter. Es wirkt auch bei der Gewährung von Hilfen, indem
es beobachtet und Unterstützung anbietet. Es entfaltet sich auch schon vorbeugend
und wartet nicht, bis „das Kind in den Brunnen gefallen ist“
II.
Intervention bei Gefährdung
1.
Einordnung
Die staatliche Intervention bei Gefährdung eines Kindes ist die offensichtlichste Form
des Staatlichen Wächteramts. Dieses ist nicht „andere Aufgabe“, sondern permanenter
und allseitiger Arbeitsauftrag aller staatlichen Behörden, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben. Es ist integraler Bestandteil aller sozialen Arbeit. Es ist daher folgerichtig im Allgemeinen Teil des SGB VIII (Erstes Kapitel: §§ 1-10 SGB VIII) geregelt,
und hier in § 1 III Nr.3 und § 8a. Beide Paragrafen gehen davon aus, dass das Jugendamt - und nicht nur dieses - einen Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung hat,
der jegliche fachliche Tätigkeit begleitet. Wie an dem a-Paragrafen ersichtlich, ist dieser erst später eingefügt worden, und zwar 2005. Anlass war die traurige Tatsache,
dass in den letzten Jahren immer wieder Kinder zu Tode kamen oder völlig verwahrlost
aufgefunden wurden, obwohl die Familien oftmals mit dem Jugendamt Kontakt hatten.
Er wurde deshalb, obwohl dieser Auftrag des Jugendamtes nach § 1 III Nr.3 schon
immer existiert hatte, noch einmal in einer neuen Vorschrift hervorgehoben, um dem
letzten Jugendamt und dem letzten Jugendamtsmitarbeiter deutlich zu machen, was
für eine Verpflichtung er hat. Darüber hinaus hat der Gesetzgeber diese Novelle dazu
genutzt, auch freien Trägern der Jugendhilfe diese Aufgabe aufzuerlegen und sich
nicht hinter seiner Schweigepflicht (§ 203 StGB) verschanzen zu können.
2. Abschätzung des Gefährdungsrisikos
Im Einzelnen sieht § 8a Folgendes vor:
- Werden dem Jugendamt wichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls
eines Kindes oder Jugendlichen bekannt, so hat es das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte abzuschätzen.
- Soweit der wirksame Schutz des Kindes oder Jugendlichen nicht in Frage gestellt
wird, sind die Personensorgeberechtigten sowie das Kind oder der Jugendliche einzubeziehen.
- Hält das Jugendamt zur Abwendung der Gefährdung die Gewährung von Hilfen für
geeignet und notwendig, so hat es diese den Personensorgeberechtigten anzubieten (Abs.1).
- Hält das Jugendamt das Tätigwerden des Familiengerichts für erforderlich, so hat es
das Gericht anzurufen.
- Das Gericht ist auch anzurufen, wenn die Personensorgeberechtigten nicht bereit
oder in der Lage sind, bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos mitzuwirken.
- Besteht eine dringende Gefahr und kann die Entscheidung des Gerichts nicht abgewartet werden, so ist das Jugendamt verpflichtet, das Kind oder den Jugendlichen
in Obhut zu nehmen (Abs.3).
43
Wann ein Kind oder ein Jugendlicher gefährdet ist, wird vom Gesetz nirgendwo präzisiert. Was nur ausgeführt wird, ist, dass die Gefährdung im körperlichen, geistigen und
seelischen Bereich vorkommen kann. Der Begriff kommt in verschiedenen Rechtsnormen vor (wichtigste Vorschrift: § 1666 BGB) und wird dort sozusagen als bekannt
vorausgesetzt. Das bedeutet aber lediglich, dass er immer neu ausgelegt und ermittelt
werden muss. Eine Definition wäre überhaupt nicht möglich. Der Rechtsanwender, sei
es der Richter oder der Sozialarbeiter/ Sozialpädagoge muss in jedem Einzelfall auf
der Basis der individuellen Situation des Minderjährigen (Alter, Anlagen, soziale Umgebung) ermitteln, ob eine Gefährdung vorliegt. Das macht diese Aufgabe so schwierig. Oft besteht die Meinung, dass noch keine Gefährdung gegeben sei, wenn die
Betreuungspersonen mit einer Hilfe einverstanden sind. Dass dies aber oft nur zur
Verschleppung der nötigen Hilfe führt, wird nicht akzeptiert.
Wenn die Einschätzung der Fachkräfte ergibt, dass ein Gefährdung vorliegt und dass
es nicht ausreicht, wenn die Eltern sich mit einer Hilfe einverstanden erklären oder sich
an der Feststellung der Gefährdung gar nicht beteiligen, dann ist sicher, dass etwas
geschehen muss. Was, hängt nun davon ab, wie akut die Gefahr ist. Im „Normalfall“ ist
das Jugendamt keine Eingriffsbehörde. Für Eingriffe ist primär das FamG zuständig.
Wenn es also noch verantwortet werden kann, ist das FamG einzuschalten. Dieses
hat - in solchen Fällen in der Regel auf der Basis des § 1666 BGB - zwei Instrumente
zur Verfügung:
- das normale gerichtliche Verfahren oder
- das sog. einstweilige Verfahren.
Ein einstweiliges Verfahren führt, wenn der Antrag auf Eingriff in das Sorgerecht nicht
abgelehnt wird, zu einer sog. einstweiligen Anordnung. Diese kann ergehen, wenn dem
Gericht die Voraussetzungen des § 1666 BGB (Gefährdung des Kindeswohls; elterliches Fehlverhalten; Kausalität zwischen den beiden Voraussetzungen; Unfähigkeit
oder Unwilligkeit der Eltern, die Gefahr abzuwenden) glaubhaft gemacht werden. Sie
müssen nicht bewiesen sein. Deshalb kann die Anordnung sehr schnell ergehen,
durchaus auch am Telefon.
Der Antrag auf Durchführung eines normalen Verfahrens muss parallel dazu gestellt
werden. In diesem müssen nun die Voraussetzungen des § 1666 BGB nicht nur glaubhaft, sondern bewiesen werden. Dazu ist oftmals die Einholung eines Sachverständigengutachtens erforderlich, was nicht selten sehr lange dauert. Mit der Entscheidung
im Hauptverfahren (Beschluss) wird die einstweilige Anordnung hinfällig.
Bevor das Jugendamt ein Kind oder einen Jugendlichen wegen einer Gefährdung selber in Obhut nimmt, müssen gedanklich die beiden Gerichtsverfahren als vorrangig
ausgeschlossen werden können. Erst wenn die Situation so akut ist, dass nicht einmal
eine einstweilige Anordnung in Betracht kommt, kann das Jugendamt den Minderjährigen in Obhut nehmen.
3.
Inobhutnahme
Die Inobhutnahme ist eine „andere Aufgabe“. Sie betrifft drei Sachverhaltskonstellationen, in denen das Gesetz (§ 42 SGB VIII) davon ausgeht, dass die Situation so dringlich ist, dass das Jugendamt ohne Einschaltung des Gerichts handeln können muss.
1. Wenn ein Kind oder ein Jugendlicher um Obhut bittet
2. wenn eine dringende Gefahr die Inobhutnahme erfordert
3. wenn ein ausländischer unbegleiteter (ohne Personensorgeberechtigten im Inland)
Minderjähriger in Deutschland eintrifft.
Das deutsche Rechtsinstitut der Inobhutnahme ist einerseits eine Reaktion auf die in
jüngerer Zeit immer häufiger anzutreffenden Konflikte zwischen Eltern und älteren Kindern und Jugendlichen und andererseits eine Reaktion auf die Tatsache, dass
44
Kinder sich oftmals in gefährlichen Situationen befinden, die von den Eltern verursacht
sein, aber auch völlig ohne ihr Zutun entstanden sein können. Die Vorschrift des
§ 42 SGB VIII sieht für alle drei Fallkonstellationen Lösungen der Jugendhilfe (nicht der
Polizei, die kann sowieso handeln) vor. Daneben bleiben selbstverständlich alle beschriebenen gerichtlichen Befugnisse bestehen.
(1) Kommt ein Minderjähriger ins Jugendamt und macht glaubhaft, dass er nicht zu
seinen Eltern zurückkehren wolle (sog. Selbstmelder), dann ist das Jugendamt zunächst verpflichtet, den Minderjährigen in Obhut zu nehmen (d.h. in einer Bereitschaftspflegestelle, einer Einrichtung oder einer sonstigen betreuten Wohnform vorläufig unterzubringen), bis die pädagogische und juristische Situation des jungen Menschen geklärt ist. In jedem Fall muss mit den Eltern Kontakt aufgenommen werden.
Der „Fall“ kann sich nun in verschiedene Richtungen entwickeln.
-
-
-
-
-
Die schwierige Situation, die der Minderjährige behauptet, stellt sich als richtig heraus. Bei einer Rückkehr wäre er gefährdet. Die Eltern widersprechen einer Fremdunterbringung ihres Kindes nicht. Dann kann das Kind ohne Einschaltung des Gerichts untergebracht werden.
Wie im Fall vorher, jedoch die Eltern widersprechen. Dann muss das Gericht eingeschaltet und den Eltern zumindest ein Teil ihres Sorgerechts weggenommen
werden. Anschließend kann das Kind unter Zustimmung eines Pflegers (§ 1909
BGB) untergebracht werden.
Die schwierige Situation besteht nicht oder kann mit Zustimmung und Beteiligung
der Eltern beseitigt werden. Das Kind ist bereit zurückzugehen. Dann wird das Gericht nicht eingeschaltet.
Wie im Fall vorher, aber das Kind ist nicht bereit zurückzugehen. Die Eltern stimmen einer Unterbringung zu. Dann kann das Kind trotzdem nicht im Rahmen von
Jugendhilfe untergebracht werden, weil es an einem erzieherischen Defizit fehlt.
Die Eltern sind gar nicht auffindbar. Dann ist das Gericht einzuschalten und hat
über die Unterbringung und die elterliche Sorge zu entscheiden.
(2) Das Kind oder der Jugendliche befindet sich an einem anderen Ort als das Jugendamt in dringender Gefahr (z.B. Zehnjährige nachts um ein Uhr im Bahnhofsgelände
einer Großstadt; Zweijährige unbeaufsichtigt im Elternhaus; Einjähriges in der Wohnung seiner völlig betrunkenen Mutter). Dann kann das Jugendamt (die Polizei sowieso), das eigentlich keine polizeilichen Kompetenzen hat, den Minderjährigen in Obhut
nehmen, sofern die Eltern nicht widersprechen oder das FamG nicht erreichbar ist. Die
vorher dargestellten Sachverhaltskonstellationen sind hier genauso zu behandeln.
Im Normalfall hat das Jugendamt - wie schon dargestellt - keine Möglichkeiten in Elternrechte einzugreifen. Wenn es einen Eingriff für erforderlich hält, muss es das Familiengericht einschalten. In den Fällen der Inobhutnahme hat das Jugendamt jedoch
vorübergehend Eingriffskompetenzen. Es muss aber, wenn der Eingriff auf Dauer Bestand haben soll, nachträglich das Gericht einschalten und zwar „unverzüglich“ (Abs.3
Satz 2 Nr. 2).
Aufgrund der Inobhutnahme hat das Jugendamt bestimmte Kompetenzen. Diese sind
in Abs. 2 beschrieben. Es hat in gewisser Hinsicht Befugnisse wie Eltern. Dies gilt alles
so lange bis endgültig geklärt ist, was mit dem Kind oder dem Jugendlichen geschehen
wird.
45
III.
Mitwirkung der Jugendbehörden bei den Aufgaben der Gerichte
1.
Allgemeines
Sowohl die Vormundschafts- und Familiengerichte als auch die Jugend(straf)gerichte
haben - neben den natürlich weiterhin in Einzelfällen notwendigen gerichtlichen Sachverständigen - einen einzigen Ansprechpartner, der ihnen hilft, psychosoziale Sachverhalte zu ermitteln und zu beurteilen, nämlich das Jugendamt (§§ 50-52 SGB VIII und
die korrespondierenden Normen in den gerichtlichen Verfahrensgesetzen FGG und
JGG). Dieses ist in den Verfahren vor den genannten Gerichten, sobald Minderjährige
beteiligt sind, obligatorisch vom Gericht „anzuhören“. Ein Verstoß gegen diese Pflicht
stellt die Verletzung verfahrensrechtlicher Bestimmungen dar und ist daher ein möglicher Anlass, eine ergangene Entscheidung aufzuheben. Für das Gericht bedeutet diese Regelung, dass es die Sachkunde des Jugendamtes anfordern muss.
Wie das Jugendamt darauf reagieren muss, ist nicht so klar. Immerhin sagt das Gesetz, dass das Jugendamt das Gericht „unterstützen“ muss. Aus der Tatsache, dass
nur die Unterstützung als solche gefordert wird, ist zu folgern, dass das „Wie“ der Unterstützung der Fachlichkeit der Jugendbehörden überlassen ist. Jedenfalls besteht
zwischen Gericht und Jugendamt keine Weisungsgebundenheit in der Weise, dass das
Gericht dem Jugendamt vorschreiben könnte, was es zu tun hat. Vielmehr entscheidet
dies das Jugendamt, das Teil der Exekutive ist, unabhängig von den Wünschen der
Gerichte, die der Jurisdiktion angehören.
2.
Vormundschafts- und Familiengerichtshilfe
Allerdings enthält § 50 SGB VIII, der die Familien- und Vormundschaftsgerichtshilfe
betrifft, durchaus einige „Eckpunkte“, mit denen auf der Basis des sozialarbeiterischen
Fachwissens gewisse Standards erarbeitet werden können.
(1) So ist es klar, dass eine gutachtliche Stellungnahme (sozialpädagogisches/ psychosoziales Gutachten) des Jugendamtes 57 auf Fakten beruhen muss, die sich in
der sog. Vorgeschichte wieder finden.
(2) Ferner sollten die Fakten zu einem Befund verarbeitet werden, der das relativ konstante Erleben und Verhalten der Beteiligten beschreibt.
(3) Dieses sollte, soweit es abweichend ist, diagnostiziert, d.h. fachlich erklärt und
kategorisiert werden.
(4) Ferner sollte das im Befund Festgestellte in die Zukunft projiziert und darauf hin
untersucht werden, wie es sich mutmaßlich mit und ohne Intervention des Gerichts
entwickeln wird (Prognose).
(5) Schließlich sollten diese Erkenntnisse unter die Rechtsnorm subsumiert werden,
um die es in dem jeweiligen Verfahren geht (z.B. Sorgerechtsregelung bei Scheidung, Umgangsregelung, Eingriffe ins Sorgerecht, Adoption, Ersetzung der Einwilligung in eine Adoption) (Zusammenfassende Beurteilung)
(6) und es sollte daraus ein Entscheidungsvorschlag für das Gericht gewonnen werden.
Vereinfachend kann man sagen, dass es in den Verfahren vor dem Familien- und vor
dem Vormundschaftsgericht im Wesentlichen um die Frage geht, ob etwas dem Kindeswohl dient, ihm widerspricht, im Interesse des Kindeswohls erforderlich ist etc.
3.
Jugendgerichtshilfe (JGH)
Um anderes geht es in den Jugendstrafverfahren. Hier ist es das Ziel, dem Gericht
einen fachlich qualifizierten Vorschlag hinsichtlich einer Sanktion zu machen. Inhaltlich
57
Vgl. Hierzu Oberloskamp/ Balloff/ Fabian (2001), (2007 in Vorbereitung)
46
ist dabei genau dasselbe zu tun wie bei den gutachtlichen Stellungnahmen für das
Familien- und Vormundschaftsgericht.
(1) Allerdings muss bei 14-18jährigen zunächst einmal erarbeitet werden, ob sie Verantwortungsreife besitzen (§ 3 JGG). Ist dies nicht der Fall, werden sie trotz
der begangenen Straftaten wie Kinder behandelt und der Jugendhilfe mit ihren
erzieherischen Hilfen überantwortet.
(2) Bei den 18-21jährigen muss festgestellt werden, ob sie trotz Volljährigkeit etwa
noch nicht eigenverantwortlich und gemeinschaftsfähig sind und somit nicht nach
Erwachsenen-, sondern nach Minderjährigenstrafrecht behandelt werden (§ 105
JGG).
(3) Ist es klar, dass (1) oder (2) zutrifft, geht es um die Empfehlung einer Sanktion.
Hier unterscheidet das Jugendstrafrecht zwischen Jugendstrafe, Zuchtmitteln und
Erziehungsmaßregeln.
- Nur die erstere ist eine echte Strafe und wird daher auch ins Strafregister eingetragen. Der Jugendliche ist dann vorbestraft.
- Die Zuchtmittel dienen dazu, einen jungen Menschen „zur Raison zu rufen“. Sie
sind der Paukenschlag, der sie wieder auf den richtigen Weg lenken soll.
- Die Erziehungsmaßregeln schließlich dienen dazu, den „unerzogenen“ jungen
Menschen zu erziehen. Sie sollen in gewisser Weise das nachholen, was die Eltern versäumt haben. Sie haben sehr viele Gemeinsamkeiten mit den Hilfen zur
Erziehung des SGB VIII.
Alle drei Kategorien von Sanktionen kommen stationär und ambulant vor. Die Jugendstrafe (§ 17 JGG), die in der Regel nicht länger als 10 Jahre dauern kann, kann verbüßt werden müssen oder zur Bewährung ausgesetzt werden. Die Zuchtmittel können
in Form von Arrest (so wie Eltern den Kindern „Haus“- oder „Stuben-Arrest“ „aufbrummen“) (§ 16 JGG) oder als Auflagen oder Verwarnung verhängt werden. Die Erziehungsmaßregeln schließlich können als Heimerziehung oder als Weisungen (§ 10
JGG) verschiedenster Art (z.B. Sozialstunden, Entschuldigung, Täter-Opfer-Ausgleich)
verhängt werden.
Denkbar ist es auch, dass bereits Staatsanwalt (§ 47 JGG) oder später Gericht (§ 47
JGG) das Verfahren einstellen, weil der Minderjährige sich schon Hilfen des Jugendamtes unterstellt hat. Im Zusammenhang mit oder ohne eine Bewährungsstrafe kann
der junge Mensch einen Bewährungshelfer bekommen, der in der Regel ein Mitarbeiter
der Jugendhilfe ist.
Stationäre und ambulante Sanktionen gemäß JGG
Sanktion
stationär
Jugendstrafe
Verhängung:
§§ 17 ff. JGG
§§ 17, 18 JGG
Zuchtmittel
Jugendarrest:
§§ 13 ff. JGG
§ 16 JGG
Erziehungsmaßregeln
HzE in Einrichtung:
§§ 9 ff. JGG
§ 12 Nr.2 i.V.m. § 34 SGB
VIII
ambulant
Aussetzung
zur Bewährung:
§§ 21-26a JGG
Straftat:
Widerruf, § 26 JGG
Verwarnung
und Auflagen:
§§ 14, 15 JGG
Nichterfüllung:
Jugendarrest,
§ 15 III 2 JGG
HzE als ErzBeistandschaft
und Weisungen:
§§ 10, 12 Nr.1 JGG
i.V.m. § 30 SGB VIII
Nicht Nachkommen:
Jugendarrest,
§ 11 III JGG
47
IV.
1.
Rechtliche Fürsorge für Minderjährige
(Beistandschaft, Pflegschaft, Vormundschaft) 58
Grundsatz: elterliche Sorge
Im deutschen Recht ist mit rechtlicher Fürsorge die Fürsorge gemeint, die zum Ziel hat,
die gesetzliche Vertretung des nicht volljährigen jungen Menschen sicher zu stellen,
damit er am Rechtsleben teilhaben kann.
Normalerweise steht ein Minderjähriger unter elterlicher Sorge (§ 1626 BGB), deren
Bestandteil die gesetzliche Vertretung ist (1629 BGB) 59. Aufgrund
- tatsächlicher (Tod, Unerreichbarkeit, subjektiv empfundene Unfähigkeit) oder
- rechtlicher Ereignisse (Minderjährigkeit, Entzug des Sorgerechts, Geschäftsunfähigkeit, Interessenkonflikt)
kann es sein, dass die Eltern ihre Aufgabe nicht erfüllen können. Dann muss jemand
anders anstelle der Eltern diese Funktionen ausfüllen.
2.
Ausnahme: staatliche Rechtsfürsorge
Das deutsche Recht kennt - unabhängig vom Alter des Minderjährigen - drei Rechtsfiguren, die dieses Ziel verfolgen:
-
3.
den Vormund, der im Bereich der gesamten elterlichen Sorge gesetzlicher Vertreter ist (§ 1773 BGB),
den Pfleger, der in Teilbereichen anstelle der Eltern gesetzlicher Vertreter ist
(§ 1909 BGB)
den Beistand, der den Elternteil nicht ersetzt, sondern neben ihm gesetzlicher Vertreter ist (§ 1712 BGB) und zwar nur in den Teilbereichen Vaterschaftsfeststellung
und Unterhaltsgeltendmachung .
Eintritt der Rechtsfürsorge
Diese die Eltern ganz oder teilweise ersetzenden Personen können durch Entscheidung des Gerichts oder automatisch, das heißt kraft Gesetzes, in diese Funktionen
gelangen. Den automatischen Eintritt staatlicher Rechtsfürsorge gibt es im Bereich der
Vormundschaft, wenn
- eine nicht voll geschäftsfähige ledige Mutter ein Kind zur Welt bringt (§ 1791c BGB),
- Eltern in die Adoption ihres Kindes eingewilligt haben oder ihre Einwilligung gerichtlich ersetzt worden ist (§ 1751 Abs.1 Satz 4 BGB) und
- im Bereich Beistandschaft, wenn ein allein erziehender Elternteil für die Aufgabenfelder Vaterschaffeststellung oder Unterhalt einen Beistand anfordert (§§ 1712, 1713
BGB).
Der Regelfall ist die gerichtliche Anordnung (§ 1774 BGB), die von Amts wegen zu
erfolgen hat.
4.
Abgrenzung Vormundschaft - Pflegschaft
Ob ein staatlicher Rechtsfürsorger Vormund oder Pfleger ist, richtet sich also nicht wie in manchen Rechtsordnungen - nach dem Alter des Mündels/ Pfleglings, sondern
nach der Größe seines Aufgabenkreises. In keinem Fall sind - wiederum wie in manchen Rechtsordnungen - Vormund oder Pfleger verpflichtet, mit dem Minderjährigen
zusammen zu leben. Wenn das Aufenthaltsbestimmungsrecht Teil seiner Befugnisse
ist, dann kann er entweder mit dem Minderjährigen zusammen leben oder diesen z.B.
58
Vgl. hierzu Wiesner / Wiesner §§ 52a-58a; Kunkel / Mollik / Opitz §§ 52a-58a
59
Zu den Einzelheiten s. o. C.I.3
48
in einem Internat, einem Erziehungsheim, einer Pflegefamilie, einer Wohngemeinschaft
oder einem privaten Zimmer unterbringen.
5.
Inhalt von Vormundschaft- Pflegschaft
Was den Inhalt der Befugnisse betrifft, so sind sie an die elterliche Sorge angelehnt
(§ 1793, § 1915 BGB). Allerdings ist die Kontrolle über Vormund und Pfleger stärker
als die von Eltern. Eltern werden in manchen Fällen insoweit kontrolliert, als sie eine
Genehmigung des Vormundschaftsgerichts brauchen (z.B. § 1631b BGB). Für Vormünder und Pfleger trifft dies in viel mehr Fällen zu (vgl. §§ 1822, 1823 BGB).
6.
Person des Vormunds 60 oder Pflegers 61
Die „Person“, die die staatliche Rechtsfürsorge wahrnimmt, kann
- eine natürliche Person oder
- ein anerkannter rechtsfähiger Verein (§ 1791a BGB) oder
- das Jugendamt (§ 1791b BGB)
sein. Bei der richterlichen Bestellung eines staatlichen Rechtsfürsorgers stehen dem
Richter im Rahmen des Grundsatzes der Subsidiarität alle drei Möglichkeiten zur Verfügung. Beim automatischen Eintritt der staatlichen Rechtsfürsorge dagegen kann es
diese Wahl nicht geben. Hier ist es nur das Jugendamt, das kraft Gesetzes diese Funktion erhält. Allerdings kann es gemäß dem Grundsatz der Subsidiarität durch einen
Verein oder eine Einzelperson abgelöst werden.
Die staatliche Rechtsfürsorge ist immer Jugendhilfe, egal wer der Rechtsfürsorger ist.
Selbst wenn das Jugendamt es nicht selber ist, hat es die Verpflichtung, das Gericht
beim Finden von als staatlicher Rechtsfürsorger geeigneten Personen zu unterstützen
und diesen nachher bei der Durchführung ihrer Arbeit Hilfestellung zu geben (§ 53
SGB VIII). Die Werbung von Privatpersonen für die ehrenamtliche Arbeit als Vormund
oder Pfleger ist sehr wichtig, wird aber von den Jugendämtern sehr häufig vernachlässigt. Dann bleibt am Ende dem Gericht nichts anderes übrig, als das Jugendamt zum
Vormund oder Pfleger zu bestellen. Wenn in einem Jugendamtsbezirk eine größere
Anzahl von Einzelvormündern oder Einzelpflegern vorhanden ist, kann es sinnvoll sein,
diese irgendwie zusammen zu führen. Man spricht von organisierter Einzelvormundschaft und Einzelpflegschaft. In diesen Gruppen können die Betroffenen ihre Erfahrungen austauschen und sich gegenseitig unterstützen. Auch ist die Beratungs- und Unterstützungsarbeit durch das Jugendamt für eine Gruppe leichter zu leisten als wenn
jede Einzelperson allein beraten werden muss. Möglich ist es auch, diese sog. Querschnittsarbeit den freien Trägern, die als Vereinsvormünder tätig sind, zu übertragen.
7.
Beistandschaft 62
Die Beistandschaft ist ein spezielles Rechtsinstitut, das allein erziehenden Eltern helfen
soll, zwei ganz bestimmte Probleme zu lösen:
- die Vaterschaft für ein Kind
- die Unterhaltszahlungen für ein Kind.
Früher (bis 1998) hatte es in diesen Fällen für die Mütter nichtehelicher Kinder die sog.
Amtspflegschaft gegeben, die automatisch mit der Geburt des Kindes eintrat, durch
das Jugendamt ausgeübt wurde und erst wieder durch das Gericht aufgehoben werden
konnte. Sie wurde, auch wenn sie an sich sehr hilfreich war, zunehmend als diskrimi-
60
Am Ende des Jahres 2004 gab es 9.554 gesetzliche Amtsvormundschaften und
30.935 bestellte.
61
Ende 2004 gab es 26.049 (bestellte) Amtspflegschaften
62
Ende 2004 bestanden 684.062 Beistandschaften
49
nierend empfunden. Der Gesetzgeber ersetzte daher die alte Amtspflegschaft durch
die neue Beistandschaft. Der Unterschied ist, dass sie nicht automatisch eintritt, jedoch
kraft Gesetzes, wenn der Elternteil es beim Jugendamt erklärt. Außerdem gilt die Beistandschaft für alle Elterntypen, wenn sie nur allein erziehend sind. Schließlich kann
sie auch auf eine der beiden Aufgaben beschränkt werden. Anders als bei der
Amtspflegschaft ist mit ihr kein Verlust des Sorgerechts verbunden. Vielmehr steht der
Beistand neben den Eltern. Er ist zwar allein handlungsfähig, wenn der Elternteil ihn
aber nicht mehr will, kann er dies dem Jugendamt kundtun, und die Angelegenheit ist
erledigt.
Da die Beistandschaft kraft Gesetzes eintritt, kann sie nur durch das Jugendamt ausgeübt werden. Es ist auch kein Subsidiaritätsprinzip vorgesehen, so dass es keine Ablösung durch eine Einzelperson gibt.
Die Arbeit des Beistands ist primär darauf gerichtet, die Schwierigkeiten außergerichtlich zu lösen. Das bedeutet hinsichtlich der Klärung der Vaterschaft, dass er darauf
hinwirkt, dass diese freiwillig anerkannt wird (§ 1592 Nr.2 BGB) 63. Klappt das nicht,
weil der Vater nicht bekannt ist, sich weigert oder weil die Mutter nicht zustimmt, dann
muss prozessiert werden. In diesem Vaterschaftsfeststellungsverfahren 64 (§ 1592 Nr.3
BGB) ist der Beistand allein (nicht neben der Mutter) klagebefugt.
63
64
Im Jahr 2004 wurden 97.546 Vaterschaften freiwillig anerkannt. Wie viele davon aufgrund der Aktivitäten eines Beistands ist nicht bekannt.
Auf diesem Wege wurden 2004 8.272 Vaterschaften geklärt.
50
Anhang
Abkürzungsverzeichnis
AB / EG
Arbeitsblatt der Europäischen Union
AdVermiG
Adoptionsvermittlungsgesetz
AG
Ausführungsgesetz
BEEG
Bundeselterngeld und -elternzeitgeld
BErzGG
Bundeserziehungsgeldgesetz
BGB
Bürgerliches Gesetzbuch
BGBl.
Bundesgesetzblatt
BKGG
Bundeskindergeldgesetz
BVerfG
Bundesverfassungsgericht
EMRK
Europäische Menschenrechtskonvention
EStG
Einkommenssteuergesetz
FamG
Familiengesetz
FGG
Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit
GG
Grundgesetz
GTK
Gesetz über Tageseinrichtungen für Kinder
GV Bl / GV
Gesetz- und Verordnungsblatt
HzE
Hilfe zur Erziehung
Inspe
Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung
JGG
Jugendgerichtsgesetz
JuSchG
Jugendschutzgesetz
JWG
Jugendwohlfahrtsgesetz
KJFöG
Kinder- und Jugendförderungsgesetz
KJHG
Kinder- und Jugendhilfegesetz
LJA
Landesjugendamt
MuSchG
Mutterschutzgesetz
NW / NRW
Nordrhein-Westfalen
OVG
Oberverwaltungsgericht
Reha
Rehabilitation
RVO
Reichsversicherungsordnung
SGB
Sozialgesetzbuch
SpfH
Sozialpädagogische Familienhilfe
StGB
Strafgesetzbuch
VerWG
Verwaltungsgericht
VwGO
Verwaltungsgerichtsordnung
51
Länderbericht Belgien
Vorwort
Die Möglichkeiten der Mobilität innerhalb der Europäischen Union führen zu Familiengründungen über Kultur- und Ländergrenzen hinweg. Somit kommt es vor, dass Familien oder einzelne Mitglieder einer Familie für eine bestimmte Zeit in einem anderen
Land als ihrem Herkunftsland leben. In der Euregio Maas-Rhein beschäftigt diese Entwicklung in zunehmendem Masse auch die Praxis der Jugendhilfe. Der Umzug ins
Nachbachland einer Pflegefamilie oder eines Elternteils nach einer Trennung, die Therapie in einer Klinik im Ausland.... sind nur einige Beispiele, mit denen die Fachkräfte in
ihrer alltäglichen Arbeit umgehen müssen. Dabei ist die Kenntnis über die Jugendhilfestrukturen und die entsprechende Gesetzgebung der Nachbachregion erforderlich.
Diese Mobilität kann bei fehlenden Absprachen und Kenntnis der grenznahen Behörden für die Betroffenen zu praktischen und auch rechtlichen Problemen führen. Zum
anderen führt diese Mobilität jedoch auch dazu, dass auf wertvolles Fachwissen und
Angebote anderer Länder zurückgegriffen wird.
Die Deutschsprachige Gemeinschaft als kleinster Gliedstaat in Belgien mit dennoch
nicht unbedeutenden Befugnissen, greift gerne auf die Erfahrungen und das Fachwissen seiner innerbelgischen und euregionaler Kollegen zurück. Im Bereich der Jugendhilfe besteht bereits ein enger Kontakt zwischen den grenznahen Diensten, sowie Vereinbarungen, die diese Zusammenarbeit strukturell fördern. Die persönlichen Kontakte
zu den Kollegen im grenznahen Raum machen es im Alltag wesentlich einfacher auch
für Einzellfall entsprechende Lösungen zu finden.
Einige Vertreter der grenzüberschreitenden Arbeitsgruppe, die durch eine Vereinbarung in 1999 ins Leben gerufen wurde, haben sich zur Aufgabe gestellt eine Gesamtübersicht der Jugendhilfesysteme in den drei grenznahen Regionen zu erstellen. Dies
mit dem Ziel den Fachleuten eine Hilfe in der Bewältigung ihrer alltäglichen Arbeit zu
geben. Ein anspruchsvolles aber sehr sinnvolles Unterfangen, das den Partnern großen Einsatz abverlangt hat.
Ich bin der Überzeugung, dass auch dieses grenzüberschreitende Projekt ein weiterer
Schritt ist, die Länder- und Kulturgrenzen virtuell abzubauen und die Zusammenarbeit
zwischen den verschiedenen Behörden und Dienste zu fördern im Interesse eines jeden Hilfeantragstellers, der von der Möglichkeiten der Mobilität Gebrauch macht.
Für die Deutschsprachige Gemeinschaft
Bernd Gentges
Vize-Ministerpräsident,
Minister für Ausbildung und Beschäftigung,
Soziales und Tourismus
52
53
Länderbericht
Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens
Michael Fryns, Eupen
Inhaltsübersicht
A. Begriff und Aufgabe der Jugendhilfe
57
B. Rechtliche und politische Rahmenbedingungen der
Kinder- und Jugendhilfe
57
I. Verfassungsrechtliche Grundlagen der Jugendhilfe
57
II. Internationalrechtliche Grundlagen der Jugendhilfe
58
1.
UN-Kinderrechtskonvention
58
2.
Fakultativprotokoll zu dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes
betreffend Kinderhandel, Prostitution und Kinderpornografie
59
3.
Übereinkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht,
die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet
der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von
Kindern vom 19.10.1996 (KSÜ)
59
4.
EG-Verordnung Nr. 2201/2003
59
III. Nationale Rechtsgrundlagen der Jugendhilfe
60
IV. Jugendhilfe im System des Sozialstaates
61
1.
2.
Förderung von Kindern/Jugendlichen durch finanzielle Zuwendungen an
sie oder ihre Eltern
61
1.1
1.2
1.3
1.4
1.5
61
62
63
64
64
Der Mutterschaftsurlaub
Geburtsprämie und Familienzulagen
Nach dem Mutterschaftsurlaub
Steuerliche Regelung
Unterhaltszahlung
Das Bildungssystem
65
2.1
2.2
2.3
2.4
2.5
2.6
65
65
65
66
69
70
Die Schulpflicht
Die Schulnetze
Die freie Schulwahl und Einschreibepflicht der Schulen
Die Struktur des Unterrichts in der Deutschsprachigen Gemeinschaft
Die PMS-Zentren
Studienbeihilfen
C. Strukturmerkmale der Jugendhilfe
71
I. Die Rechtsstellung von Eltern und Kindern im Rahmen der Jugendhilfe 71
1. Die freiwillige Jugendhilfe
2. Die gerichtliche Jugendhilfe
71
71
54
3. Die elterliche Gewalt
3.1
3.2
3.3
3.4
II.
Allgemeines
Was ist der Unterschied zwischen dem Hauptbeherbergungsrecht und
dem Umgangsrecht?
Bevorzugung der abwechselnden Beherbergung von Kindern bei
getrennt lebenden Eltern
Nichteinhaltung von festgelegten oder vereinbarten Regelungen bezgl.
der Beherbergung und des Umgangsrechts
72
72
74
74
75
Öffentliche Jugendhilfe als Teil der Staatlichen Verwaltung
75
1. Staatsaufbau und Verwaltungsstruktur
75
2. Jugendhilfedienst und Jugendgerichtsdienst
77
2.1
2.2
Der Jugendhilfedienst
Der Jugendgerichtsdienst
3. Doppelstruktur der Jugendhilfe
3.1
3.2
3.3
Allgemeines
Staatliches Wächteramt/Eingriffsverwaltung
Leistungserbringung
D. Leistungsrecht
77
77
78
78
79
79
80
I.
Rechtsanspruch oder objektives Recht
80
II.
Arten von Leistungen
80
1. Standardleistungen
80
1.1
1.2
1.3
1.4
1.5
1.6
Hilfeleistungen im Rahmen der freiwilligen Erziehungshilfe
Hilfeleistung im Rahmen der gerichtlichen Jugendhilfe
Jugendschutzmaßnahmen
Jugendhilfeleistung, die durch die privaten oder öffentlichen Träger
in der Deutschsprachigen Gemeinschaft angeboten werden
Kostenbeteiligung
Adoption
2. Hilfen für besondere Personengruppen
2.1
2.2
2.3
Rechtliche Grundlagen
Leistungsvoraussetzungen
Hilfen
3. Hilfen für junge Volljährige
3.1
3.2
3.3
3.4
Rechtliche Grundlagen
Leistungsvoraussetzungen
Ende der Maßnahme
Kosten
III. Verfahren und gerichtliche Kontrolle
1. Antrag
1.1 Freiwillige Jugendhilfe
1.2 Gerichtliche (zwingende) Jugendhilfe
1.3 Jugendschutz
80
82
83
85
87
88
89
89
89
90
90
90
90
90
90
91
91
91
91
91
55
2. Mitwirkung
2.1
2.2
Freiwillige Jugendhilfe
Gerichtliche (zwingende) Jugendhilfe
93
4. Örtliche und sachliche Zuständigkeit
94
Freiwillige Jugendhilfe
Gerichtliche (zwingende) Jugendhilfe
IV. Leistungserbringungsrecht
94
95
95
1. Jugendhilfeplanung
95
2. Zulassung von Leistungserbringern
95
E. Andere Aufgaben der Jugendhilfe/Staatliches Wächteramt
96
Intervention bei Gefährdung und Scheitern der freiwilligen
Jugendhilfe
96
1. Voraussetzungen der zwingenden Jugendhilfe
96
1.1
1.2
1.3
II.
92
93
3. Datenschutz
4.1
4.2
I.
92
Gefährdungssituation (allgemeine Anspruchsvoraussetzung der
Jugendhilfe)
Scheitern der freiwilligen Jugendhilfe
Erforderlichkeit
96
96
97
Mitwirkung der Jugendbehörden bei den Aufgaben der Gerichte
97
1. Der Jugendhilfedienst
97
2. Jugendgerichtshilfe und Jugendschutz
97
III. Rechtliche Fürsorge für Minderjährige
98
1. Grundsatz: elterliche Gewalt (siehe C.I.3.)
98
2. Ausnahme: Die Vormundschaft
98
3. Zuständiger Friedensrichter
98
4. Bezeichnung des Vormundes
98
5. Der Gegenvormund
99
6. Aufgaben des Vormundes
100
7. Konflikte zwischen dem Minderjährigen und dem Vormund
101
8. Informationsmöglichkeit des Friedensrichters
101
9. Rechenschaftsablegung des Vormundes
101
10.Klagemöglichkeit des Minderjährigen
101
11.Mündigkeitserklärung des Minderjährigen
101
56
57
A.
Begriff und Aufgabe der Jugendhilfe
Die Jugendhilfe ist eine spezialisierte Erziehungshilfe, die im Rahmen des Jugendhilfedekretes dem Jugendlichen gewährt wird, dessen physische oder/und psychische Integrität, dessen affektive, moralische, kognitive oder soziale Entwicklung oder dessen
Erziehung durch sein eigenes Verhalten, das seiner Erziehungsberechtigten oder Drittpersonen, durch seine Lebensumstände, durch Beziehungskonflikte oder durch besondere Ereignisse gefährdet ist. Die Erziehungsberechtigten können die Jugendhilfe
beanspruchen, wenn sie bei der Erziehung eines Kindes erhebliche Schwierigkeiten
haben und wenn dies zur Folge hat, dass eine dem Wohl des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht mehr gewährleistet werden kann und eine Leistung der Jugendhilfe für seine Entwicklung sich als geeignet und notwendig erweist 65.
Die Maβnahmen im Rahmen der Jugendhilfe haben zum Ziel, den Erziehungsberechtigten Hilfe bei der Erziehung, und dem Jugendlichen Hilfe bei der Stärkung seines
Verantwortungsbewusstseins sowie seiner sozialen und gegebenenfalls beruflichen
Eingliederung zu geben. Dabei werden die Erziehungsberechtigten in hohem Maße mit
beteiligt.
Der Vater und die Mutter sind gemäß der Zivilgesetzgebung in erster Linie für Unterhalt, Erziehung und Aufsicht des Jugendlichen verantwortlich. Jugendliche dürfen daher nur von den zuständigen Behörden in begründeten Fällen und im Rahmen einer
nachprüfbaren Entscheidung nach den anzuwendenden Rechtsvorschriften zu ihrem
Wohl von den Eltern getrennt werden 66.
Erst wenn alle Bemühungen ergebnislos sind, weil die Eltern nicht bereit oder nicht in
der Lage sind, alleine oder mit Hilfestellung die Gefahr für den Jugendlichen abzuwenden, kann der Jugendliche vorübergehend oder langfristig aus seiner familiären Umgebung herausgelöst werden. Wird ein Jugendlicher aus seiner familiären Umgebung
herausgelöst, behalten die Eltern die Rechte und Pflichten der elterlichen Gewalt.
Durch die Herauslösung können diese lediglich nicht mehr in gleichem Maße und gleicher Form ausgeübt werden. Die Entscheidungsbefugnis bezüglich wesentlicher Fragen, die das Kind betreffen (Ausbildung, Ehe, chirurgische Eingriffe....) obliegt weiterhin den Eltern. Der Jugendrichter interveniert dann, wenn die Entscheidung der Eltern
nicht im Interesse des Jugendlichen getroffen wurde.
Die Jugendhilfe zielt zudem darauf ab, der Familie als Grundeinheit der Gesellschaft
und natürliche Umgebung für das Wachsen und Gedeihen all ihrer Mitglieder, insbesondere der Kinder, den erforderlichen Schutz und Beistand zu gewähren damit sie
ihre Aufgaben innerhalb der Gesellschaft erfüllen kann. 67
B.
Rechtliche und politische Rahmenbedingungen der Kinder- und Jugendhilfe
I.
Verfassungsrechtliche Grundlagen der Jugendhilfe
In Belgien steht in der Normenhierarchie der nationalen Normen die Belgische Verfassung, koordiniert (bereinigt) am 17.02.1994 (nachfolgend B.V. genannt)an oberster
65
Artikel 2 des Dekretes vom 20.03.1995 über die Jugendhilfe
66
Artikel 4, §1 des Dekretentwurfes über die Jugendhilfe
67
Artikel 4, §1 des Dekretentwurfes über die Jugendhilfe
58
Stelle. Mit einer Änderung am 23.03.2000 wurde die Grundlage für die Kinderrechte
(Art. 22bis) eingefügt.
Das Recht auf ein menschenwürdiges Leben gem. Art. 23 B.V. bestimmt das Sozialstaatsprinzip. Der nationale Gesetzgeber, die Gemeinschaften und die Regionen müssen wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte garantieren, um diese Bestimmung
der Verfassung umzusetzen. Das umfasst gem. Abs. 2 u. a. das Recht auf soziale Sicherheit, auf soziale und rechtliche Hilfe sowie auf soziale Entfaltung. Aus Art. 23 B.V.
kann kein unmittelbarer Rechtsanspruch abgeleitet werden. Die Umsetzung der sozialen Grundrechte erfolgt durch die nationale, Gemeinschafts- und Regionalgesetzgebung.
Das staatliche Wächteramt begründet sich in Art. 22bis B. V., denn „jedes Kind hat ein
Recht auf Achtung seiner moralischen, körperlichen, geistigen und sexuellen Unversehrtheit. Das Gesetz, das Dekret oder die in Artikel 134 erwähnte Regel gewährleistet
den Schutz dieses Rechtes.“ Das Privat- und Familienleben ist gem. Art. 22 B.V. geschützt, außer in den Fällen und unter den Bedingungen, die durch Gesetz festgelegt
sind.
Die Gesetze und Dekrete der Gemeinschaften müssen im Einklang mit dem Gleichheitsgrundsatz (Art. 10 B.V.) und dem Diskriminierungsverbot (Art. 11 B.V.) stehen.
II.
Internationalrechtliche Grundlagen der Jugendhilfe
In Belgien geht das internationale und supranationale Recht, soweit es direkt gegenüber den Bürgern gilt, dem nationalen Recht vor. Dementsprechend genießt es auch
Vorrang vor der B.V.. Wenn aus Dringlichkeitsgründen das ausländische Recht nicht
geprüft werden kann, wird belgisches Recht angewandt.
Der König schließt gem. Art. 167 der Verfassung internationale Verträge ab, die durch
das föderale Parlament ratifiziert werden. Dies gilt nicht für Verträge in den Angelegenheiten, in denen die Gemeinschafts- und Regionalregierungen sachlich zuständig sind.
Das Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft ist für die Zusammenarbeit zwischen den Gemeinschaften sowie die internationale Zusammenarbeit einschließlich
des Abschlusses von Verträgen in personenbezogenen und kulturellen Angelegenheiten sowie im Bereich des Unterrichtswesens zuständig (Art. 130-§ 1 der Verfassung).
1.
UN-Kinderrechtskonvention
Belgien hat dem „Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20.11.1989“ durch
ein Gesetz vom 25.11.1991 (UN-Kinderrechtskonvention) zugestimmt. Die Deutschsprachige Gemeinschaft hat den Vertrag mit einem Dekret vom 25.06.1991 gebilligt.
Die Kinderrechtskonvention haben weltweit alle Länder außer den USA und Somalia
ratifiziert. Das Übereinkommen ist kein bindendes, anwendbares Recht. Die Vertragspartner sind jedoch verpflichtet, ihr nationales Recht so zu gestalten, dass es den Anforderungen der Konvention entspricht.
Auf Grund eines Kooperationsabkommens zwischen den Gemeinschaften und dem
Föderalstaat wurde in Belgien eine nationale Kommission für die Rechte der Kinder
eingesetzt.
59
2.
Fakultativprotokoll zu dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes
betreffend Kinderhandel, Prostitution und Kinderpornografie
Das „Fakultativprotokoll zu dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend Kinderhandel, Prostitution und Kinderpornografie“, ist am 25.05.2000 in Kraft getreten. Belgien hat das Zusatzprotokoll im September 2000 unterzeichnet. Es beinhaltet, dass die Vertragsstaaten ihre Maßnahmen ausweiten sollen, um einen Schutz des
Kindes vor Kinderhandel, Pornografie und Kinderprostitution zu gewährleisten.
Die für diese Handlungen Verantwortlichen sollen aufgespürt werden und strafrechtlich
verfolgt werden. Durch den Vertrag werden die Mitgliedsstaaten aufgefordert, die Öffentlichkeit stärker zu sensibilisieren, um die Nachfrage zu vermindern, die zu Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornografie führt. Die Vertragsstaaten sind verpflichtet, die Opfer zu informieren, zu schulen und zu unterstützen (Art. 8 und 9).
In Belgien fallen diese Aufgaben in den unter die Befugnis des Föderalstaates und
der Gemeinschaften.
3.
Übereinkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die
Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der
elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern
vom 19.10.1996“ (KSÜ)
Dieses Abkommen wurde im Namen der Deutschsprachigen Gemeinschaft durch einen Vertreter der Föderalregierung am 01.04.2003 gezeichnet. Es ist davon auszugehen, dass es in den nächsten Jahren in Kraft treten wird.
Das neue Übereinkommen soll eine Weiterentwicklung und Verbesserung des Minderjährigenschutzabkommens (Übereinkommen über die Zuständigkeit der Behörden und
das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen vom
05.10.1961) sein und dieses ersetzen. Der Anwendungsbereich des Vertrages umfasst
„Maßnahmen zum Schutz der Person oder des Vermögens des Kindes“ (Art. 1 I lit.a
KSÜ). Es gilt für „Kinder von ihrer Geburt bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres“
(Art. 2 KSÜ).
Kern des Übereinkommens sind Regelungen der internationalen Zuständigkeit für die
Anordnung von Schutzmaßnahmen, Schutzverhältnisse und das dementsprechend
anzuwendende Recht (Art. 1 KSÜ). Grenzübergreifende Regelungen sind beispielsweise notwendig in Fällen von Dringlichkeit, der Sicherung des Kindeswohls von
Flüchtlingskindern, in Scheidungsverfahren, bei denen die Eltern und Kinder in unterschiedlichen Staaten wohnen. Die Zuständigkeit der Behörden richtet sich nach dem
gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes (Art. 5 I, 8. 9 KSÜ). Bei der Ausübung ihrer Zuständigkeit wenden die Behörden auf Schutzmaßnahmen eigenes Sachenrecht an
(Art. 15 I KSÜ). Schutzmaßnahmen müssen von allen Vertragsstaaten anerkannt und
für vollstreckbar erklärt werden. Ein weiterer Aspekt des KSÜ ist die internationale Kooperation, die eine Koordination der Entscheidungen und Maßnahmen unter mehreren
betroffenen Staaten ermöglicht. In der Praxis sind das beispielsweise die Übertragung,
Einschränkung oder der Entzug der elterlichen Gewalt, Regelungen von Sorge- und
Besuchsrecht oder Schutzmaßnahmen zur Sicherung des Kindeswohls.
4.
EG-Verordnung Nr. 2201/2003
Für Belgien gilt auch die „EG-Verordnung Nr. 2201/2003 über die Zuständigkeit und
die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG)
Nr. 1347/2000“ (EheGVO bzw. so genannte Brüssel IIbis-VO). Die Verordnung gilt nur
für EU - Mitglieder mit Ausnahme Dänemarks. Die Verordnung erstreckt sich u. a. auf
60
Verfahren über die elterliche Verantwortung, wobei nicht unterschieden wird, ob es sich
um ein eheliches oder nicht-eheliches Kind handelt.
Sie regelt die internationale Zuständigkeit, die Anerkennung und Vollstreckung von
Entscheidungen sowie die internationale Kooperation, nicht aber das anzuwendende
Recht.
Der Anwendungsbereich der Brüssel IIbis-VO bezieht sich gemäß Art. 1 I lit.b auf „die
Zuweisung, die Ausübung, die Übertragung sowie die vollständige oder teilweise Entziehung der elterlichen Verantwortung.“ Dies betrifft besonders Fremdunterbringungen,
Vormundschaften, Pflegschaften, Beistandschaften und Schutzmaßnahmen im Zusammenhang mit der Verwaltung und Erhaltung des Kindesvermögens oder der
Verfügung darüber (Abs. 2). Zuständig ist in der Regel das Gericht am gewöhnlichen
Aufenthaltsort des Kindes (Art. 8 I).
Brüssel IIbis geht dem KSÜ vor, wenn das betreffende Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates hat sowie in den Bereichen, die in beiden Verordnungen geregelt sind.
III.
Nationale Rechtsgrundlagen der Jugendhilfe
Belgien ist ein Föderalstaat. Demzufolge werden die Zuständigkeiten durch verschiedene Gebietskörperschaften ausgeübt. Bei den Gebietskörperschaften handelt es sich
neben der Föderalebene um die Gemeinschaften, die Regionen, die Provinzen und
die Gemeinden.
Die Föderalebene übt ihre Zuständigkeiten in ganz Belgien aus. Die Gemeinschaften
und Regionen hingegen nur für einen begrenzten Teil des Staatsgebietes. Die Rechtsnormen, die die Föderalebene verabschiedet, nennen sich „Gesetze“ und deren Ausführungsbestimmungen „Königliche Erlasse“; die der Gemeinschaften nennen sich
„Dekrete“ und deren Ausführungsbestimmungen „Regierungserlasse“. In der Normenhierarchie sind die Gesetze den Dekreten gleichgestellt und die Königlichen Erlasse
den Regierungserlassen. Bei Zuständigkeitskonflikten entscheidet der Verfassungsgerichtshof. Für die Zuständigkeiten der verschiedenen Gebietskörperschaften verweisen
wir auf C. II.1. Staatsaufbau und Verwaltungsstruktur S. 24.
Die Provinzen und Gemeinden sind untergeordnete Behörden, die im Prinzip unter
Aufsicht der Regionen stehen. Deren Rechtsnormen stehen in der Normenhierarchie
unter denen der Föderalebene, der Gemeinschaften und der Regionen.
Sowohl für die freiwillige als auch für die gerichtliche Jugendhilfe ist in der Deutschsprachigen Gemeinschaft das Dekret vom 20.03.1995 über die Jugendhilfe die wesentliche Grundlage. Dieses Dekret sowie dessen Ausführungsbestimmungen werden bis
Ende 2007 durch ein neues Dekret ersetzt. Vorliegender Länderbericht trägt bereits mit
den Bestimmungen des neuen Dekretes Rechnung.
Im Folgenden sind Rechtsgrundlagen der Jugendhilfe aufgeführt:
•
•
•
•
Zivilgesetzbuch;
Gesetz über den Jugendschutz vom 08.04.1965 zuletzt abgeändert durch die
Gesetze vom 15. Mai 2006 und vom 13. Juni 2006 bezüglich des Jugendschutzes, der Übernahme der Minderjährigen, die eine als Straftat qualifizierte
Handlung begangen haben und die Wiedergutmachung des durch diese Straftat entstandenen Schadens;
Dekret über die Jugendhilfe vom 20. März 1995;
Erlass der Regierung über die Anerkennung, die Festlegung des Pflegegeldes
und der Sonderzulagen für natürliche Personen bezüglich der Betreuung von
untergebrachten Jugendlichen vom 09.01.1998;
61
Erlass der Regierung zur Anerkennung und Bezuschussung von Personen
und Einrichtungen zur Begleitung und Betreuung von Jugendlichen vom
20.12.1995;
Erlass der Regierung über die Anerkennung und die Bezuschussung von juristischen Personen, die Jugendliche stationär oder ambulant betreuen vom
02.03.2001;
Erlass der Regierung zur Beteiligung der unterhaltspflichtigen Personen an
den durch die im Rahmen des Dekretes über die Jugendhilfe durchgeführten
Unterbringungsmaßnahmen entstandenen Kosten vom 10.04.2003;
Dekret zur Adoption vom 21.12.2005;
Erlass der Regierung zur Adoption vom 28.09.2006;
Erlass der Regierung zur Einsetzung der zentralen Behörde der Gemeinschaft
für Adoption vom 19.10.2006;
Dekret zur Schaffung einer Dienststelle der Deutschsprachige Gemeinschaft
für Personen mit einer Behinderung vom 19.06.1990;
Dekret über die Öffentlichkeit von Verwaltungsdokumenten vom 16.10.1995;
Königlicher Erlass zur Ausführung des Gesetzes vom 08.12.1992 über den
Schutz des Privatlebens hinsichtlich der Verarbeitung personenbezogener Daten.
•
•
•
•
•
•
•
•
•
IV.
Jugendhilfe im System des Sozialstaates
1.
Die Förderung von Kindern und Jugendlichen durch finanzielle Zuwendungen an sie oder ihre Eltern 68
1.1
Der Mutterschaftsurlaub
1.1.1 Allgemeines
Der Mutterschaftsurlaub dauert im Normalfall 15 Wochen (also 105 Tage) und bei einer
Mehrlingsgeburt 17 oder sogar 19 Wochen und wird in zwei Kategorien aufgeteilt:
-
den pränatalen Urlaub (vor der Entbindung)
den postnatalen Urlaub (nach der Entbindung)
Generelles Prinzip:
-
Pränataler Urlaub: mindestens 1, höchstens 6 Wochen
Postnataler Urlaub: mindestens 9, höchstens 14 Wochen.
1.1.2 Umwandlung des Mutterschaftsurlaubs in Vaterschaftsurlaub
In besonderen Ausnahmefällen (Krankenhausaufenthalt oder Ableben der Mutter) darf
der Vater den Teil des Mutterschaftsurlaubs beanspruchen, den die Mutter nicht in Anspruch nehmen konnte.
Wenn die Mutter länger als 7 Tage nach der Entbindung im Krankenhaus bleiben muss
und das Neugeborene bereits nach Hause darf, kann der Vater anstelle der Mutter das
Kind in Empfang nehmen und solange den Vaterschaftsurlaub beanspruchen, bis die
Mutter ihrerseits das Krankenhaus verlässt und den Mutterschaftsurlaub fortsetzt.
68
Auszüge aus der Broschüre „Mutterschaft und Beruf, eine Broschüre des Dienstes
für Kind und Familie der Deutschsprachigen Gemeinschaft, Auflage 2006
62
Hierbei dürfen natürlich die 15 Wochen Mutterschaftsurlaub (bzw. 17-19 Wochen bei
einer Mehrlingsgeburt) nicht überschritten werden.
Im Krankheitsfall der Mutter erhält sie weiterhin ihr Ersatzeinkommen durch die Krankenkasse und der Vater erhält 60% seines letzten Bruttogehalts für die Zeit des Vaterschaftsurlaubs, ebenfalls durch die Krankenkasse.
1.1.3 Das Ersatzeinkommen (Krankengeld)
Das Ersatzeinkommen während des Mutterschaftsurlaubs wird durch die Krankenkasse
gezahlt (die Beamten im öffentlichen Dienst erhält eine Lohnfortzahlung) und beträgt:
Während der ersten 30 Tage: 82% des Bruttogehalts, ohne Höchstsatz
Ab dem 31. Tag: 75 % des Gehalts, berechnet auf den letzten Bruttolohn, mit
einem Höchstsatz.
Nach den 15 bzw. 17-19 Wochen Mutterschaftsurlaub ist der Mutterschaftsurlaub
beendet und die Mutter erhält im Krankheitsfall wieder 55 bzw. 60 % des Bruttogehalts mit einem Höchstsatz.
Arbeitssuchende: 79,5 % des letzten Bruttogehalts, mit einem Höchstsatz von
87,10 € pro Tag. Ab dem 31. Tag nach der Entbindung 75% des letzten Bruttogehalts.
o
o
o
o
1.2
Geburtsprämie und Familienzulagen
69
Die gesetzlichen Bestimmungen sehen vor, dass der Elternteil mit dem vorteilhaftesten
Erwerbsstatut die Familienzulagen erhält (z.B. wird die Arbeitnehmerin den Antrag stellen, wenn ihr Partner zur Zeit der Antragstellung arbeitslos war).
Wenn Mann und Frau beide dasselbe Statut haben, muss der Mann den Antrag stellen.
Ab dem 6. Schwangerschaftsmonat (180 Tage Schwangerschaft) und bis spätestens 3
Jahre nach der Entbindung kann die Geburtsprämie bei der Familienzulagenkasse
beantragt werden. Folgende Summen sind (Index zum 01. Oktober 2006) vorgesehen:
- erstes Kind von Mutter oder Vater
- für jedes weitere Kind
- bei Mehrlingsgeburten
: 1.064,79 €
: 801,13 €
: 1.064,79 €/Kind
Neben der einmaligen Geburtsprämie erhält jede Mutter monatlich Familienzulagen (=
Kindergeld). Der Grundbetrag der Familienzulage pro Monat ist:
- für das erste Kind
- für das zweite Kind
- für das dritte und alle nachfolgenden
:
:
:
78,59 €
145,43 €
217,13 €
Zuzüglich zum Grundbetrag wird ein Alterszuschlag gewährt, und zwar für folgende
Altersstufen:
- von 6 bis 12 Jahre
- von 12 bis 18 Jahre
- ab 18 Jahre bis zum Ende des Anrechts
69
:
:
:
27,30 €
41,72 €
53,05 €
Wenn man von Familienbeihilfen oder Familienzulagen spricht, ist immer der im einfachen Sprachgebrauch benutzte Begriff ‚Kindergeld’ gemeint.
63
Das Anrecht endet in jedem Fall, wenn der Jugendliche 25 Jahren alt wird. Das Anrecht endet vorher, wenn der Jugendliche ein eigenes Einkommen bezieht.
Die Berechnung der Familienzulage ist komplex und kann durch verschiedene Faktoren von den oben genannten Summen abweichen (Sozialzuschlag, Behinderung, gekürzter Alterszuschlag, …).
1.3
Nach dem Mutterschaftsurlaub
Es gibt folgende verschiedene Urlaubsformen im privatrechtlichen Arbeitsverhältnis, die
in Anspruch genommen werden können und die mittelbar oder unmittelbar mit der Geburt eines Kindes in Zusammenhang stehen:
1.3.1 Der Elternurlaub
Der Elternurlaub darf innerhalb von:
o
o
o
4 Jahren nach der Entbindung beansprucht werden;
innerhalb von 8 Jahren, wenn das Kind zu 66% behindert ist
innerhalb von 6 Jahren im privatrechtlichen Arbeitsverhältnis.
Den Elternurlaub kann man:
a.
b.
c.
während 3 Monaten vollzeitig beanspruchen
oder während 6 Monaten teilzeitig beanspruchen
oder während 15 Monaten zu 1/5 beanspruchen.
Während des Elternurlaubs wird bei einer Vollzeitunterbrechung eine Entschädigung in
Höhe von 615 €/Monat (Stand 2006) gezahlt.
1.3.2 Laufbahnunterbrechung (Freistellung) wegen Krankenpflege
Die Laufbahnunterbrechung wegen Krankenpflege (offiziell heißt diese Urlaubsform:
LBU im Rahmen des medizinischen Beistands) erlaubt dem/der Arbeitsnehmer(in)
seine/ihre Tätigkeit ganz oder teilweise einzustellen, um ein Mitglied des Haushalts
(oder einen Verwandten bis zum zweiten Grad), der an einer „schweren Krankheit“
leidet, zu pflegen.
Diese LBU darf im Prinzip nicht verweigert werden.
‚Schwere Krankheit’ bedeutet: medizinische Eingriffe, chronische oder längere Krankheiten, die eine familiäre und soziale Unterstützung erfordern.
Die Arbeit wird pro Antrag für mindestens 1 Monat und höchstens 3 Monate unterbrochen, die Gesamtdauer beträgt 12 Monate.
Die vollständige Unterbrechung kann bis zu 24 Monaten betragen, wenn ein Kind, das
den Beistand benötigt, unter 16 Jahre alt und man ist gleichzeitig allein stehend ist und
das Kind steuerlich zu Lasten hat.
Während der Laufbahnunterbrechung wird eine Entschädigung gezahlt, die bei einer
Vollzeitunterbrechung bei 615 €/Monat (Stand 2006) liegt.
64
1.3.3 Die Zeitkredite
Am 01.01.2002 wurde die ehemalige Gesetzgebung über die gewöhnliche Laufbahnunterbrechung für die Arbeitnehmer im privatrechtlichen Arbeitsverhältnis durch die
Zeitkredit-Gesetzgebung ersetzt.
Die Zeitkredite werden prinzipiell allen Arbeitnehmern (ob männlich oder weiblich) gewährt, aber die Bedingungen und die Dauer sind sehr unterschiedlich. Der Antrag kann
für 3 Monate bis zu einem Jahr gestellt werden:
Es gibt hier 3 Varianten:
a.
b.
c.
Die vollständige Unterbrechung (Zeitkredit zu 100%);
Die Arbeitszeitreduzierung von 50% bis 75%;
Die Arbeitszeitreduzierung um 1/5;
Zur Beanspruchung eines Zeitkredites müssen der/die Betroffene in Belgien oder in
einem Land der Europäischen Union wohnhaft sein. Die Personen dürfen nur in Ausnahmefällen eine Nebentätigkeit ausüben.
Die Gesamtzeit aller Zeitkredite darf 60 Monate (5 Jahre) nicht übersteigen (Der Elternschaftsurlaub in Form einer Laufbahnunterbrechung oder die LBU wegen Krankenpflege sind keine Zeitkredite und werden demnach nicht zu den Zeitkrediten addiert).
Die Entschädigung bei einem Zeitkredit zu 100% liegt bei 376 €/Monat bei weniger als
5 Dienstjahren und bei 501 €/Monat bei mehr als 5 Dienstjahren (Stand 2006).
1.4
Steuerliche Regelung
Die Person, die eine oder mehrere Personen zu seinen Lasten hat, genießt einen
steuerlichen Vorteil in Form einer Erhöhung des steuerbefreiten Einkommensanteils.
Als Personen steuerlich zu Lasten können in Betracht gezogen werden (unter der Bedingung, dass das Einkommen der Betroffenen einen Höchstbetrag nicht überschreitet
und dass die Betroffenen im gleichen Haushalt wohnen):
•
Die leiblichen Kinder oder Adoptivkinder, Enkel und Urenkel;
•
die Kinder, die einer Person anvertraut wurde und ausschließlich oder hauptsächlich zu seinen Lasten sind;
•
Die Eltern oder Großeltern usw.;
•
Die Geschwister;
•
diejenigen Personen, zu deren Lasten die Person in seiner Kindheit war.
1.5
Unterhaltszahlung
Der Betrag einer Unterhaltsrente oder einer Beteiligung an den Kosten für die Kinder
muss entsprechend den Möglichkeiten der beiden Parteien bestimmt werden. Wenn
diese sich nicht einigen können, wird der Richter entscheiden. Eine Unterhaltsrente
muss demjenigen, der sie bekommt, die Möglichkeit bieten, seine Existenz unter ähnlichen Umständen wie vorher zu sichern. Die Unterhaltsrente nach einer durch Verschulden ausgesprochenen Ehescheidung darf nicht mehr als ein Drittel des Nettoeinkommens des Schuldners betragen. Entsprechend der Entwicklung der Situation der
Parteien kann die Unterhaltsrente erhöht, verringert oder gestrichen werden. In Belgien
65
gibt es kein verpflichtendes Rechenmodell zum Errechnen der Höhe des Unterhaltsgeldes.
Betreiben von Unterhaltszahlungen:
Der Dienst für Unterhaltsforderungen wurde gegründet, um geschuldete und rückständige Unterhaltsrenten bei den Schuldnern beizutreiben. Dieser Dienst nimmt im
Verhältnis zu den Einkünften des Schuldners auch Zahlungen von Vorschüssen auf
Unterhaltsrenten vor. Der Begünstigte muss weder selbst gerichtliche Schritte einleiten,
noch die Gerichtskosten übernehmen. Er zahlt allerdings 5% des beigetriebenen Betrags. Die Bedingungen, um diesen Dienst in Anspruch nehmen zu können sind folgende:
Wohnsitz in Belgien;
dass eine Unterhaltsrente im Lauf der 12 Monate vor dem Antrag zweimal ganz
oder teilweise unbezahlt geblieben ist;
dass der Betrag der Unterhaltsrente aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung
oder in einer notariellen Urkunde festgesetzt wurde.
•
•
•
2.
Das Bildungssystem 70
2.1
Die Schulpflicht
Das Gesetz vom 29. Juni 1983 legt das Ende der Pflichtschulzeit (Vollzeit- und Teilzeitschulpflicht) auf das Alter von 18 Jahren (12 Schuljahre) fest. Diese Reform verfolgte das Ziel, den Schülern eine bessere Qualifizierung zu gewährleisten und ihnen somit
einen leichteren Einstieg ins Berufsleben zu ermöglichen. Da dieses Gesetz den Eintritt
in die Arbeitswelt verzögerte, trug es gleichsam dazu bei, die ständig ansteigende Zahl
junger Arbeitsloser zu verringern. Die Teilzeitschulpflicht gilt ab 15 Jahren und ermöglicht es dem Jugendlichen, sich für eine alternierende Ausbildung entweder im Handelsgewerbe und Industrie oder aber im Teilzeitunterricht zu entscheiden.
Während der Pflichtschulzeit ist der Zugang zum Unterricht unentgeltlich. Es darf kein
Schulgeld verlangt werden. Die Schulträger und das Ministerium der Deutschsprachigen Gemeinschaft übernehmen einen Teil der Kosten für die klassischen Lehrmittel.
Besondere Dienstleistungen können jedoch zu Lasten der Eltern gehen. Den schulpflichtigen Schülern, die zur nächstgelegenen Schule der freien Wahl per Bus eine
gewisse Strecke fahren müssen, werden die Fahrtkosten zu einem Großteil erstattet.
2.2
Die Schulnetze
Die Deutschsprachige Gemeinschaft unterscheidet drei Schulnetze: das freie subventionierte Unterrichtswesen, das offizielle subventionierte Unterrichtswesen und das Gemeinschaftsunterrichtswesen.
2.3
Die freie Schulwahl und Einschreibepflicht der Schulen
Der Schulpakt sowie auch die Belgische Verfassung verpflichten die Gemeinschaften
in Belgien zu gewährleisten, dass die Eltern die Unterrichtsart für ihre Kinder frei wählen können. Das Gesetz unterscheidet zwischen konfessionellen, nicht konfessionellen
70
Auszug au seiner Broschüre der Abteilung Unterrichtswesen des Ministeriums der
Deutschsprachigen Gemeinschaft
66
und pluralistischen Schulen. Die Erziehungsberechtigten können eine der drei oben
genannten Schularten frei wählen.
Grundsätzlich nehmen die Gemeinschaftsschulen alle Schüler auf, während Gemeindeschulen nur dazu verpflichtet sind, die Kinder aus der eigenen Gemeinde einzuschreiben und jene aus Nachbargemeinden, wenn die Schule für diese Schüler die
nächstgelegene Schule ist.
Freie subventionierte Schulen dürfen die Einschreibung eines Schülers nur verweigern,
wenn die Erziehungsberechtigten des Schülers nicht bereit sind, dem Erziehungsprojekt des Schulträgers und dem Schulprojekt der Schule zuzustimmen.
2.4
Die Struktur des Unterrichts in der Deutschsprachigen Gemeinschaft
Jeder Schüler durchläuft den Kindergarten (im Normalfall drei Jahre), dann die Primarschule (im Normalfall sechs Jahre) und schließlich die Sekundarschule (im Normalfall
sechs Jahre im allgemeinbildenden Unterricht oder sieben Jahre im berufsbildenden
Unterricht). Das erste und zweite Jahr im Sekundarunterricht sollen die spätere Orientierung in den allgemeinbildenden, technischen oder berufsbildenden Unterricht ermöglichen.
In der Deutschsprachigen Gemeinschaft besteht nur eine eingeschränkte Möglichkeit,
Hochschulstudien zu durchlaufen. Ein Studium kurzer Dauer wird in den Bereichen
Lehramt (Kindergarten und Primarschule) und Krankenpflege angeboten. Um anderen
Studiengängen zu folgen, müssen die Abiturienten sich ins belgische Landesinnere
begeben oder ins Ausland gehen.
2.4.1 Der Kindergarten
Im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern ist der Kindergarten in Belgien
fester Bestandteil des Unterrichtswesens. Alle Kinder haben ein uneingeschränktes
Recht auf einen kostenlosen Kindergartenplatz. Zum Kindergarten zugelassen werden
die Kinder, die mindestens 3 Jahre alt sind oder dieses Alter bis zum 31. Dezember
des laufenden Schuljahres erreichen. Obwohl keine Schulpflicht für diese Kinder besteht, geht aus statistischen Erhebungen hervor, dass rund 98% der dreijährigen Kinder regelmäßig den Kindergarten besuchen.
Dies bedeutet also, dass fast alle Kinder den Kindergarten durchschnittlich drei Jahre
lang besuchen.
Im Mittelpunkt der erzieherischen Arbeit im Kindergarten stehen die Sprachförderung,
die Sozialisation und die Persönlichkeitsentfaltung des Kindes. Eine ausgewogene
geistige, körperliche und psychomotorische Entwicklung und die Kreativität der Kinder
sollen gefördert werden. Im Kindergarten soll der Reifeprozess angeregt, die Selbstständigkeit und das Verantwortungsbewusstsein der Kinder entwickelt werden. Die
grundlegenden Lernprozesse zu Beginn der Primarschule sollen mit Hilfe der vorbereitenden Arbeit im Kindergarten erleichtert und die Zusammenarbeit der Kinder gefördert
werden.
2.4.2 Die Primarschule
Die Schüler, die am 31. Dezember des laufenden Schuljahres mindestens 6 Jahre alt
sind, dürfen die Primarschule besuchen. Im Normalfall besuchen die Schüler die Primarschule während sechs Jahren. Es besteht allerdings auch die Möglichkeit, einen
Schüler ein Jahr früher bzw. ein Jahr später einzuschreiben.
Diese Entscheidung liegt, auf der Grundlage eines Gutachtens des Klassenrates und
des zuständigen PMS-Zentrums, im Ermessen der Erziehungsberechtigten. Außerdem
kann der Klassenrat beschließen, dass der Schüler während seiner Primarschulzeit
einmal ein zusätzliches Jahr in einer Stufe verbleibt. Eine Verlängerung der Primarschulzeit um zwei Jahre kann in außergewöhnlichen Fällen von den Erziehungsberech-
67
tigten auf Vorschlag des Klassenrates und auf Grundlage eines Gutachtens des zuständigen PMS-Zentrums beschlossen werden. Die Zertifizierung der Primarschulausbildung erfolgt mit dem Abschlusszeugnis der Grundschule.
Laut Dekret vom 26. April 1999 über das Regelgrundschulwesen umfasst das Unterrichtsangebot der Primarschule verpflichtend folgende Fächer oder Fachbereiche:
•
•
•
•
•
•
•
Muttersprache;
Psychomotorik und Leibeserziehung;
Kunst und Handwerk;
Mathematik;
Weltorientierung;
erste Fremdsprache;
Religion beziehungsweise nichtkonfessionelle Sittenlehre.
Und folgende fächerübergreifenden Bereiche:
•
•
Methodik des Lernens;
soziales Verhalten.
In Belgien ist die Unterrichtssprache prinzipiell die des Sprachgebietes. Dementsprechend ist Deutsch die Unterrichtssprache in allen Schulen der Deutschsprachigen Gemeinschaft, außer in den Grundschulen, die zum Schutz der französischsprachigen
Minderheit in der Deutschsprachigen Gemeinschaft eingerichtet worden sind.
In der Deutschsprachigen Gemeinschaft ist per Gesetz festgelegt, dass die erste
Fremdsprache Französisch ist. Dementsprechend ist Deutsch die erste Fremdsprache
in den französischsprachigen Primarschulen der Deutschsprachigen Gemeinschaft.
2.4.3 Sekundarausbildung
In der Deutschsprachigen Gemeinschaft wird eine Sekundarausbildung angeboten, die
administrativ in drei Stufen mit je zwei Jahrgängen gegliedert ist. Alle Schüler, die den
Grundschulabschluss erhalten haben, besuchen den allgemeinbildenden Unterricht
(gemeinsame 1. Stufe, A-Klassen), für die anderen besteht die Möglichkeit der BKlassen (berufsbildender Unterricht), oft auch Anpassungsklassen bzw. differenzierte
Stufe genannt.
Die erste Stufe, auch Beobachtungsstufe genannt, umfasst die beiden ersten Sekundarschuljahre und verfolgt im Besonderen das Ziel, allen Schülern eine breit gefächerte
Grundbildung zu gewährleisten. In dieser Stufe können die Lehrer die Schüler beobachten, um ihre besonderen Fähigkeiten zu entdecken und zu fördern. Die Beobachtungsstufe soll zu einer bestmöglichen Orientierung der Schüler auf ihrem weiteren
schulischen Weg führen. Da verschiedene Schüler jedoch schon zu Beginn besondere
Defizite in gewissen Bereichen aufweisen, ist es angebracht, sie in einer differenzierten
ersten Stufe aufzunehmen, um sie besser und gezielter fördern zu können. Demnach
unterscheiden wir in der ersten Stufe zum Ersten das 1. und 2. gemeinsame Jahr A
und zum Zweiten die differenzierte erste Stufe mit dem 1. und dem 2. Jahr B des berufsbildenden Unterrichts.
Die zweite Stufe (die Orientierungsstufe) sowie die dritte Stufe (die Bestimmungsstufe)
können wie folgt aufgeteilt werden:
- allgemeinbildender Unterricht;
- technischer Unterricht;
- berufsbildender Unterricht.
68
2.4.4 Alternativen zum Vollzeitsekundarunterricht bei Teilzeitschulpflicht
Im Normalfall führt der Schüler seine Studien nach Abschluss der beiden ersten Sekundarschuljahre (1. Stufe) weiter, meist an derselben Schule, manchmal aber auch an
einer anderen Schule, je nach gewählter Studienrichtung oder Unterrichtsform zu Beginn der 2. Stufe.
Es gibt aber auch verschiedene Möglichkeiten, der Schul- und Ausbildungspflicht bis
zum 18. Lebensjahr Genüge zu leisten, indem man einem Teilzeitunterricht folgt, entweder in einem schulischen Teilzeitzentrum und ausgewählten Betrieben oder in einem
Ausbildungszentrum für gewerbliche, industrielle und handwerkliche Berufe und einem
Betrieb. Die mittelständische Ausbildung mittels eines Lehrvertrages ist nach dem Vollzeitunterricht die häufigste Ausbildungsform.
2.4.5 Teilzeitunterricht (TZU)
Nach einem Jahrzehnt experimentellen Unterrichts ist im Juni 1996 das Dekret zur
Organisation des Teilzeitunterrichts vom Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft verabschiedet worden. Der Teilzeitunterricht ist eine der Möglichkeiten, die es
dem nicht mehr vollzeitschulpflichtigen Schüler erlauben, seiner Schulpflicht bis zum
18. Lebensjahr nachzukommen und gleichzeitig eine gewisse Berufsausbildung in einem Unternehmen zu erfahren.
Diese Unterrichtsform erlaubt es Schülern ab 15 (wenn sie die beiden ersten Sekundarschuljahre besucht haben) oder ab 16 (wenn dies noch nicht der Fall ist), einem
Unterricht zu folgen, der nur zwei Tage Ausbildung im Teilzeitunterrichtzentrum beinhaltet. Die anderen drei Tage erfolgt eine Ausbildung in Betrieben. Die Ausbildung im
Zentrum umfasst Allgemeinbildung und berufsbezogenen Unterricht. Die Zahl der
Schüler im Teilzeitunterricht variiert häufig auch während eines Schuljahres, da der
TZU oftmals als Übergangslösung genutzt wird, um Schülern eine neue Orientierung
zu geben, sei sie schulischer oder aber beruflicher Natur. Ziel ist es, dem Teilzeitschüler eine individuelle soziale und pädagogische Begleitung zu bieten, um so die Motivation zur weiteren Ausbildung wieder zu erlangen. Der Schüler wird mit den nötigen beruflichen aber auch sozialen Kompetenzen ausgestattet, um im späteren Berufsleben
bestehen zu können. Auch Schülern bis zum 25. Lebensjahr, die eine neue berufliche
und soziale Integration mit schulischer Hilfe erlangen möchten, steht dieser Unterricht
offen.
2.4.6 Lehrverträge der mittelständischen Ausbildung
Die duale Ausbildung in Form einer mittelständischen Lehre entspricht den Anforderungen der Teilzeitschulpflicht, die das Gesetz vom 29. Juni 1983 bezüglich der Schulpflicht festlegt.
Die duale Ausbildung bietet eine Schulung des Jugendlichen in alternierender Form an,
d.h. auf Basis eines Lehrvertrags wird der Jugendliche prioritär in einem Betrieb in beruflichtechnischen Fertigkeiten (vier Tage pro Woche) und ergänzend in einer Berufsschule in Allgemein- und Fachkenntnissen (ein Tag pro Woche) ausgebildet. Der Lehrvertrag wird auf Vermittlung eines anerkannten Lehrlingssekretärs vom Ausbildungsbetrieb und den Eltern des Jugendlichen in der auf drei Monate befristeten Periode für
Lehrvertragsabschlüsse zwischen dem 1. Juli und dem 1. Oktober unterzeichnet.
Der erfolgreiche Abschluss einer im Prinzip dreijährigen Lehre wird durch ein Gesellenzeugnis zertifiziert. Den Gesellen eröffnet sich nach der Lehre die Möglichkeit, berufsbegleitend eine zweijährige Betriebsleiterausbildung zu besuchen, deren erfolgreiches Bestehen mit dem Meisterbrief zertifiziert wird.
69
Eine Sonderform des Lehrvertrags ist das kontrollierte Lehrabkommen. Es ist von den
Ausbildungsinhalten her vollkommen identisch mit dem Lehrvertrag. Ein kontrolliertes
Lehrabkommen wird zwischen den Eltern des Jugendlichen und einem anerkannten
Lehrlingssekretär abgeschlossen, wenn der Jugendliche im elterlichen Betrieb ausgebildet wird.
Zur Lehre zugelassen sind die Jugendlichen, die Inhaber des Abschlusszeugnisses der
Grundschule sind, ein zweites Jahr des Sekundarunterrichts bestanden haben und im
Prinzip zumindest 15 Jahre sind.
2.4.7 Autonome Hochschule in der DG
Im Dekret vom 27. Juni 2005 wurde die Gründung der Autonomen Hochschule in der
DG vorgenommen.
Das Lehrprogramm sieht an der Autonomen Hochschule in der Deutschsprachigen
Gemeinschaft die Bachelor-Studiengänge im Bereich Bildungswissenschaften (Kindergärtner/innen, Primarschullehrer/innen) und Gesundheits- und Krankenpflegewissenschaften vor. An der Hochschule werden neben der Erstausbildung auch Weiterbildungen angeboten.
Die Hochschule bereitet durch Lehre und Studium auf berufliche Tätigkeiten vor, die
die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden erfordern. Sie nimmt
gegebenenfalls auch Forschungs- und Entwicklungsaufgaben wahr.
2.4.8 Die Sonderschulen
Für Schüler mit erheblichen Lernschwierigkeiten, mit einer leichten bis schweren geistigen Behinderung oder auch mit körperlichen Schwächen bieten vier Sonderprimarschulniederlassungen und eine Sondersekundarschule in der Deutschsprachigen Gemeinschaft eine adäquate Betreuung und individuelle Förderung an. Nach Bedarf wird
in diesen Primarschulniederlassungen auch eine Kindergartenklasse organisiert. Neben der Betreuung in den hiesigen Sonderschulen bzw. Regelschulen für Schüler mit
erhöhtem Förderbedarf bestehen Abkommen mit Bildungseinrichtungen in NordrheinWestfalen, insbesondere Aachen, für den Unterricht für Kinder mit besonderen physischen Beeinträchtigungen, so z.B. Seh- oder Hörschäden.
2.4.9 Integration
Seit 1998 besteht für die Sonderschüler auch die Möglichkeit in der Regelgrundschule
integriert zu werden. Für jeden Schüler muss ein Projekt erstellt werden mit umfassender Förderdiagnose und präzisem Förderplan, nach dem der Schüler individuell seinen
Bedürfnissen entsprechend gefördert wird. Seitens der Deutschsprachigen Gemeinschaft werden im Rahmen des Möglichen spezifische Fachkräfte zur Verfügung gestellt, um diese Schüler besonders zu unterstützen. Im Schuljahr 2006-2007 werden
184 Projekte gefördert. Die Schüler, die in einem solchen Projekt integriert werden,
werden als „Schüler mit erhöhtem Förderbedarf“ angesehen.
2.5
Die PMS-Zentren
Die Aufgabe der Psycho-Medizinisch-Sozialen Zentren besteht darin, den Schülerinnen
und Schülern Hilfestellungen zu bieten bei ihrer geistigen, psychischen, körperlichen
und sozialen Entwicklung. Die Mitarbeiter sind Psychologen, Krankenpfleger und Ärzte
70
sowie Sozialarbeiter, die in einem Team zusammenarbeiten und somit eine integrative
Vorgehensweise gewährleisten. In der Deutschsprachigen Gemeinschaft gibt es drei
Psycho-Medizinisch-Soziale Zentren: eines für die Gemeinschaftsschulen, eines für die
freien Schulen und eines für die Gemeindeschulen, wobei letzteres durch die Provinz
Lüttich getragen wird. Die PMS-Zentren bieten den Schülern, Eltern und Lehrern verschiedene vorbeugende Dienstleistungen an:
•
•
•
•
•
•
•
Beratung beim Übergang vom Kindergarten in die Primarschule;
Entscheidungshilfen und Begleitung bei der Integration in den Regelunterricht
oder bei der Aufnahme in die Sonderschule;
Information und Beratung beim Übergang von der Primarschule zur Sekundarschule;
Gruppenanimation nach Absprache mit der Schule, um die persönliche Entfaltung der Schüler und das Zusammenleben in der Klassengruppe zu fördern;
Information und Beratung zu schulischen und beruflichen Ausbildungsmöglichkeiten, Studien- und Berufswahl, Lebensprojekt;
Unterstützung der gesundheitsfördernden Schule und der Gesundheitsförderung in den Schulen (Zahnprophylaxe und gesunde Ernährung, Sexualerziehung und Aidsprävention, Suchtprävention, Sicherheit in der Werkstatt und auf
dem Schulhof...);
vorbeugende ärztliche Untersuchungen, Vorsorge bei ansteckenden Krankheiten sowie Impfungen (für die Gemeinschaftsschulen durch das PMS-Zentrum
der DG, für die freien Schulen und die Gemeindeschulen durch die Gesundheitszentren).
Auf Anfrage bieten die PMS-Zentren:
•
•
•
•
Begleitung und Beratung der Eltern und Lehrer in Schul- und Erziehungsfragen;
Hilfestellung und Begleitung von Schülern bei Lernschwierigkeiten, Leistungsdruck, Schulversagen, persönlichen Fragen, kritischen Lebenssituationen, familiären Konflikten, Misshandlung, Beziehungsproblemen, Stress, Essstörungen,
Ängsten ...;
Erstellung von Gutachten für den Sonderschul- bzw. Integrationsunterricht;
Spezifische Untersuchungen z.B. der Schulreife, Intelligenz, Interessen, Fähigkeiten, Entwicklung.
Im Rahmen ihres Auftrages sind die PMS-Zentren Partner der Schulen und arbeiten
mit vielen anderen sozialen Dienststellen zusammen. Die Dienstleistungen sind kostenlos. Die Mitarbeiter sind an die berufliche Schweigepflicht gebunden.
2.6
Studienbeihilfen
In Ausführung des Dekretes vom 26. Juni 1986 bezüglich der Gewährung von Studienbeihilfen gibt es vier verschiedene Kategorien von Studienbeihilfen:
2.6.1 Studienbeihilfen im Sekundarschulwesen
Diese Studienbeihilfen können im Ministerium der Deutschsprachigen Gemeinschaft
von Schülern beantragt werden, die eine Sekundarschule in der Deutschsprachigen
Gemeinschaft besuchen.
2.6.2 Studienbeihilfen im Universitäts- und Hochschulwesen
Diese Studienbeihilfen können im Ministerium der Deutschsprachigen Gemeinschaft
von Studenten beantragt werden, die eine Hochschule in der Deutschsprachigen Ge-
71
meinschaft besuchen oder ein Studium im Ausland absolvieren.
Studenten, die ihr Studium in der Französischen Gemeinschaft absolvieren, stellen den
Antrag auf Studienbeihilfe in der Französischen Gemeinschaft.
2.6.3 Ausgleichsstudienbeihilfen
Falls die Studienbeihilfe, die der Student für ein Studium in der Französischen Gemeinschaft von der dortigen Behörde erhält, niedriger ist als der Betrag, den er in der
Deutschsprachigen Gemeinschaft erhalten würde, wird er automatisch vom Ministerium der Deutschsprachigen Gemeinschaft kontaktiert, das dem Studenten dann die
Differenz erstattet. Bedingung ist, dass der Student während drei Jahren seinen Wohnsitz bereits in der Deutschsprachigen Gemeinschaft hat.
2.6.4 Sonderstudienbeihilfen
Für die Wiederholung eines Studienjahres im Universitäts- und Hochschulwesen kann
eine Sonderstudienbeihilfe seitens der Deutschsprachigen Gemeinschaft gewährt werden. Der Antragsteller muss seinen Antrag ausführlich begründen (z.B. finanzielle Situation, familiäre Änderung, usw.).
Wovon hängt die Höhe der Studienbeihilfe ab?
Die Höhe der Studienbeihilfen hängt von der jeweiligen Situation des Antragstellers ab:
Berücksichtigt werden das Einkommen (des Studenten und/oder der Person, die für
seinen Unterhalt aufkommt), die Personen zu Lasten und ob der Schüler/Student ein
Zimmer mietet (auch Internat) oder nicht. Sonderfälle, die das Einkommen der Familie
betreffen, wie z.B. bei Todesfall, Pensionierung, Frühpensionierung, Scheidung, Trennung, … werden ebenfalls berücksichtigt.
C.
Strukturmerkmale der Jugendhilfe
I.
Die Rechtsstellung von Eltern und Kindern im Rahmen der Jugendhilfe
1.
Die freiwillige Jugendhilfe
Im Rahmen der freiwilligen Jugendhilfe wirken sowohl der Jugendliche als auch die
Eltern wesentlich an der Gestaltung der Hilfe mit. Über eine individuelle Jugendhilfe
kann nur nach vorheriger Anhörung der durch diese Maßnahme betroffenen Personen
entschieden werden.
Die Anhörung des Jugendlichen sowie des Erziehungsberechtigten ist nur dann nicht
verpflichtend, wenn dies im begründeten Ausnahmefall aufgrund des Alters der Person, ihres Gesundheitszustandes, ihrer Reife, ihres unbekannten Wohnortes oder bei
äuβerster Dringlichkeit nicht möglich ist.
Jeder Jugendliche, der angehört wird, kann sich durch eine Person seiner Wahl begleiten lassen. Im Interesse des Jugendlichen können Gespräche getrennt vom Erziehungsberechtigten stattfinden.
Jede Entscheidung über eine individuelle Jugendhilfemaßnahme muss dem Jugendlichen, der das 12. Lebensjahr vollendet hat, insofern er direkt von der Maβnahme betroffen ist, sowie den mit der Erziehung betrauten Personen schriftlich mitgeteilt werden.
72
Als Grundlage für die Ausgestaltung der Hilfemaßnahme führt der Jugendhilfedienst
zusammen mit dem Erziehungsberechtigten und dem Jugendlichen, der die erforderliche Reife besitzt, ein Hilfeplangespräch. Bei diesem Hilfeplangespräch werden der
Bedarf, die notwendigen Leistungen, die Dauer der Hilfe und die Beteiligung der Erziehungsberechtigten an den Kosten der Durchführung der Hilfe besprochen.
Das einvernehmliche Resultat des Hilfeplangesprächs wird in einem Jugendhilfevertrag
festgehalten. Dieser Vertrag wird vom Jugendhilfedienst der Organisation, die mit der
Durchführung des Hilfeprogramms beauftragt wird, den Erziehungsberechtigten und
dem Jugendlichen, der das 12. Lebensjahr vollendet hat, unterzeichnet. Bei mehreren
Erziehungsberechtigten ist die Unterzeichnung des Vertrags durch alle Erziehungsberechtigten nur aufgrund des beeinträchtigten Gesundheitszustandes, des unbekannten
Wohnortes des anderen Erziehungsberechtigten oder im Falle von akuter Gefährdung
nicht verpflichtend. Die Unterschrift einer der beiden Erziehungsberechtigten ist ausreichend, wenn ein offensichtliches Desinteresse des anderen Erziehungsberechtigten
besteht oder wenn durch die Maβnahme die Erziehung des Jugendlichen nicht unmittelbar beeinträchtigt wird.
Der Jugendhilfedienst kann durch die Unterschrift eines Erziehungsberechtigten von
Rechtswegen vom Einverständnis des anderen Erziehungsberechtigten ausgehen, es
sei denn, es liegen offensichtliche Hinweise für eine Verweigerung des Einverständnisses des betroffenen Erziehungsberechtigten vor.
Gegebenfalls kann der Vertrag zusätzlich von dem im Haushalt anwesenden Lebenspartner eines Elternteils unterzeichnet werden, insofern dieser von der Hilfeplanung
betroffen ist.
2.
Die gerichtliche Jugendhilfe
Die gerichtliche Jugendhilfe greift, wenn der Jugendhilfedienst bei Unstimmigkeit zwischen den Betroffenen und dem Mitarbeiter des Jugendhilfedienstes und weiterhin
bestehender Gefährdung des Jugendlichen die Fallsituation an den Prokurator des
Königs übermittelt. Der Prokurator entscheidet über die Befassung des Jugendgerichts.
Es handelt sich auch um eine Form der Jugendhilfe, sie kann aber im Interesse des
Jugendlichen durch das Jugendgericht auferlegt werden. Ab einem Alter von 12 Jahren
ist die Anhörung des Jugendlichen verpflichtend, unter 12 Jahren liegt es im Ermessen
des Richters, das Kind unter Berücksichtigung seiner Reife anzuhören oder nicht. Die
Erziehungsberechtigten werden vom Jugendrichter vor Anordnung der Jugendhilfemaßnahme angehört. Diese Regeln bezüglich der Anhörung gelten auch im Jugendschutzverfahren (straffällige Jugendliche).
3.
Die elterliche Gewalt
3.1
Allgemeines
Gemäß Art. 488 des Zivilgesetzbuches wird die zivile Volljährigkeit mit Vollendung des
18. Lebensjahr erreicht. Der/die Minderjährige untersteht „der Gewalt“ seiner Eltern bis
zu seiner Volljährigkeit oder bis zur Mündigkeitserklärung (Art. 372 des Zivilgesetzbuches).
Leben die Eltern zusammen, so üben sie gemeinsam die Personensorge aus (Art. 373
des Zivilgesetzbuches). Neben der Personensorge umfasst die elterliche Gewalt das
Recht der Verwaltung des Vermögens des Kindes und das Recht seiner Vertretung
(Art. 376 des Zivilgesetzbuches). Daneben steht ihnen das Recht zu, die Einkünfte aus
73
Bestandteilen des Kindesvermögens zu genießen (Art. 384 des Zivilgesetzbuches). Die
Personensorge umfasst das Recht und die Verpflichtung, für das Kind zu sorgen und
zu erziehen.
Können beide Elternteile sich in einzelnen Angelegenheiten der elterlichen Gewalt
nicht einigen, so kann jeder von ihnen das Jugendgericht anrufen. Dieses kann die
Entscheidung in einzelnen Angelegenheiten einem Elternteil übertragen (Art 373 Satz
3 und 4 des Zivilgesetzbuches).
Das Jugendgericht kann aber auch selbst eine eigene Entscheidung im Interesse des
Kindes treffen oder getroffene Entscheidungen abändern (Art. 387bis des Zivilgesetzbuches).
Leben beide Elternteile getrennt, bleibt das Prinzip der gemeinsamen Ausübung der
elterlichen Gewalt bestehen. Bei Uneinigkeit kann das Jugendgericht die ausschließliche Ausübung der elterlichen Gewalt einem Elternteil anvertrauen. Aber auch in diesem Fall kann das Jugendgericht bestimmen, dass bestimmte Entscheidungen nur mit
dem Einverständnis beider Elternteile getroffen werden können (Art 374 des Zivilgesetzbuches). Es bestimmt den Kindesaufenthalt (Art. 374 Satz 5 des Zivilgesetzbuches).
Das Jugendgericht kann auf Antrag der Eltern oder der Staatsanwaltschaft jegliche
Verfügung in Bezug auf die elterliche Gewalt im Interesse des Kindes anordnen oder
abändern (Art. 387bis. Des Zivilgesetzbuches).
Obwohl die elterliche Gewalt das Recht umfasst, das Kind bei sich zu haben und über
seinen Aufenthalt zu bestimmen, bedarf es nach belgischem Recht nicht des Entzugs
der elterlichen Gewalt, um Maßnahmen der zwingenden Jugendhilfe anzuordnen und
durchzuführen. Rechtlich bleiben die Eltern die Inhaber der elterlichen Gewalt, faktisch
sind sie jedoch darin eingeschränkt. Ordnet der/die Jugendrichter/in Maßnahmen der
zwingenden Jugendhilfe an, so setzt er/sie in den dafür notwendigen Teilbereichen die
Ausübung der elterlichen Gewalt für die Dauer der Maßnahme außer Kraft. Bei einer
Fremdunterbringung gegen den Willen der sorgeberechtigten Eltern würde dies beispielsweise die Ausübung des Aufenthaltsbestimmungsrechts betreffen. Andere Teile
der elterlichen Gewalt bleiben unberührt, so dass auch bei einer Fremdunterbringung
die Eltern bei allen wichtigen Entscheidungen befragt werden und ihr Einverständnis
dazu geben müssen. Kommt es dabei erneut zu Konflikten, entscheidet der/die Jugendrichter/in im Interesse des/der Minderjährigen.
Unter gewissen schwerwiegenden Umständen, kann den Eltern die elterliche Gewalt
entzogen werden (Artikel 32 bis 35 des Jugendschutzgesetzes vom 8. April 1965).
Dies ist unter folgenden Umständen der Fall:
1.
2.
Wenn der Elternteil für ein Vergehen (Haftstrafe von 8 Tagen bis 5 Jahre) oder
ein Verbrechen (Haftstrafe über 5 Jahre) gegenüber seinen Kindern verurteilt
wurde oder ein Vergehen oder ein Verbrechen mit Hilfe einer seiner Kinder
begangen hat;
Wenn der Elternteil durch schlechte Behandlung, Autoritätsmissbrauch, offensichtliches Fehlverhalten oder schwere Vernachlässigung die Gesundheit, die
Sicherheit oder die Moral des Kindes gefährdet hat;
Der Entzug der elterlichen Gewalt wird durch die Staatsanwaltschaft beantragt und
durch das Jugendgericht ausgesprochen.
74
Das Jugendgericht kann dem Elternteil alle seine Rechte entziehen oder nur einen Teil
seiner Rechte.
Bei Entzug der elterlichen Rechte bezeichnet das Jugendgericht eine Person, die die
entzogenen Rechte ausübt. Werden die elterlichen Rechte nur einem Elternteil entzogen, übt der andere Elternteil die alleinige Gewalt über das Kind aus, es sei denn, dies
steht im Widerspruch zum Interesse des Kindes.
3.2
Was ist der Unterschied zwischen dem Hauptbeherbergungsrecht und dem
Umgangsrecht?
Das Hauptbeherbergungsrecht bestimmt, wo das Kind hautsächlich lebt. In dieser Gemeinde wird das Kind auch in das Bevölkerungsregister eingetragen.
Das Umgangsrecht ist das Recht, mit dem Kind regelmäßige Kontakte zu pflegen. Dieses Recht hat der Elternteil, bei dem das Kind nicht wohnt. Der Richter verbietet den
Umgang mit dem Kind nur, wenn sehr gravierende Gründe vorliegen.
Der Gesetzgeber hat auch den Großeltern des Kindes sowie jeder Person, die nachweisen kann, dass sie eine ganz besondere Beziehung zum Kind hat, ein Umgangsrecht zugesprochen. Sollten es bei der Ausübung dieses Rechtes Probleme geben,
werden die Ausübungsmodalitäten dieses Umgangsrechtes durch das Jugendgericht
festgelegt.
3.3
Bevorzugung der abwechselnden Beherbergung von Kindern bei getrennt
lebenden Eltern
Das Gesetz vom 8. Juli 2006 legt u. a. die Bedingungen zur Wahl des Beherbergungsmodells fest.
Hintergrund des Gesetzes ist die Erkenntnis, dass die Bindung des Kindes zu beiden
Elternteilen erforderlich ist und Gerichtsverfahren zur Regelung der Konflikte im Bereich der Beherbergung für das Kind schädlich sind. Somit gilt es, diese auf ein Minimum zu reduzieren. Da der Gesetzgeber bisher kein Beherbergungsmodell festlegte,
ist jeder Richter nach bestem Gewissen frei, zu entscheiden, welches Modell er im
Einzelfall vorsieht. Somit ist jeder Elternteil eher angehalten, den Richter von seinem
Modell zu überzeugen, anstatt ein Einvernehmen im Rahmen einer Vermittlung zu erzielen.
Durch das Gesetz vom 13. April 1995 wurde bereits festgelegt, dass beide Elternteile
auch nach der Trennung die elterliche Gewalt gemeinsam ausüben. Durch das Gesetz
vom 8. Juli 2006 wird nun die Wahl des Modells für die Beherbergung des Kindes, als
ein Teil der Ausübung der elterlichen Gewalt, an gesetzlichen Bedingungen gebunden.
Durch das Gesetz wird kein Beherbergungsmodell auferlegt, jedoch das Einvernehmen
der Eltern an die erste Stelle gestellt. Bei fehlendem Einvernehmen muss der Richter,
wenn ein Elternteil dies beantragt zunächst die Möglichkeit der abwechselnden Beherbergung in Betracht ziehen. Sollte der Richter zum Entschluss kommen, dass das abwechselnde Modell nicht im Interesse des Kindes ist, kann er ein anders Beherbergungsmodell festlegen. In jedem Fall muss der Richter begründen, warum er das abwechselnde Modell verwirft und ein anderes vorzieht. Begründet werden muss diese
Entscheidung unter Berücksichtigung der konkreten Umstände, des Interesse des Kindes und der Eltern. Objektive Kriterien für die Wahl des Richters können das Alter des
Kindes, die Verfügbarkeit jeden Elternteils und die Entfernung der Wohnorte zwischen
beiden Elternteile sein.
Da das Einvernehmen der Eltern als Priorität angesehen wird, muss der Richter die
Parteien nicht nur über das mögliche Vermittlungsverfahren sondern auch über das
Interesse, eine solche Vermittlung vorzunehmen, informieren. Damit die Parteien Zeit
75
haben sich über einen Vermittlungsprozess zu erkundigen und diesen zu beginnen,
kann das Gericht das Verfahren für höchstens einen Monat aussetzen. Wird der Vermittlungsprozess erfolgreich beendet, bestätigt der Richter die Einigung, es sei denn,
diese würde offensichtlich dem Interesse des Kindes widersprechen.
Um das Verfahren zu vereinfachen und die Kosten zu reduzieren, sieht das Gesetz
auch vor, dass nach dem ersten Befassen eines Jugendgerichts die Akte dort bis zur
Mündigkeitserklärung oder bis zur Volljährigkeit des Kindes anhängig bleibt. Sollten
sich neue Elemente ergeben, kann die betroffene Partei das Gericht erneut durch einfache Hinterlegung von Schlussfolgerungen oder mittels einer schriftlichen Anfrage
befassen.
3.4
Nichteinhaltung von festgelegten oder vereinbarten Regelungen bezüglich
der Beherbergung und des Umgangsrechts
Zweiter Schwerpunkt des Gesetzes vom 8. Juli 2006 ist die Festlegung von Maßnahmen in dem Fall, wo eine festgelegte Regelung bezüglich der Beherbergung oder des
Umgangsrechts nicht eingehalten wird. Auch hier bleibt im Prinzip der Richter zuständig, der die Entscheidung, die nicht eingehalten wird, getroffen bzw. bestätigt hat.
Wird eine vereinbarte oder festgelegte Entscheidung nicht eingehalten, kann der Richter eine neue Entscheidung bezüglich der Ausübung der elterlichen Gewalt oder der
Beherbergung treffen. Diese neue Entscheidung basiert mit Ausnahme der Dringlichkeit auf:
-
einer neuen Untersuchungsmaßnahme, wie z.B. einer neuen Sozialuntersuchung oder Expertise,
einer Schlichtung zwischen den Parteien;
einer Vermittlung.
Auch wenn die Nichteinhaltung der Beherbergungsregelung weiterhin eine Straftat
bleibt, sieht das Gesetz nun ausdrücklich vor, dass der Richter der klagenden Partei
erlauben kann, Zwangsmassnahmen einzusetzen, wenn die neue Regelung nicht eingehalten wird. Der Richter legt die Art der Zwangsmaßnahme fest und unter Berücksichtigung der Interessen des Kindes die Modalitäten zur Umsetzung. Wenn er es für
erforderlich hält, kann der Richter eine Person bezeichnen, die den Gerichtsvollzieher
bei der Umsetzung der Maßnahme begleitet. Der Richter kann auch ein Zwangsgeld
aussprechen, um die Ausführung seiner Entscheidung zu erzwingen. Der diesbezügliche Antrag bei Gericht ist kostenfrei. Wird ein Kind entgegen der Beherbergungs- oder
Umgangsregelung von einem Elternteil ins Ausland gebracht, finden die entsprechenden internationalen Bestimmungen Anwendung.
Um Zwangsmaßnahmen zu beantragen, muss der Kläger belegen, dass er den Beklagten in Verzug gesetzt hat und dass dieser sich daraufhin weiterhin geweigert hat,
seinen Verpflichtungen nachzukommen.
II.
Öffentliche Jugendhilfe als Teil der staatlichen Verwaltung
1.
Staatsaufbau und Verwaltungsstruktur
Die Staatsform des Königreiches Belgien ist eine konstitutionelle repräsentative Monarchie. Es hat sich zu einem föderalisierten Staat entwickelt. Belgien ist gegliedert in
Sprachgebiete, Regionen und Gemeinschaften, die jedoch unterschiedliche Zuständigkeiten haben und territorial nicht deckungsgleich sind. Die Zuständigkeiten der Regio-
76
nen sind vor allem wirtschaftlicher Art, während die Zuständigkeiten der Gemeinschaften eher kultureller Art (vor allem bildungspolitischer Art) und personenbezogen sind.
Die unterste Ebene der Selbstverwaltung sind die 589 Gemeinden.
Die belgische föderale Exekutive setzt sich aus dem König und der föderalen Regierung zusammen. Das föderale Parlament bildet die Legislative (Der König interveniert
auch auf Ebene der Legislative). Es besteht aus der Abgeordnetenkammer und dem
Senat. Die Abgeordnetenkammer hat die Entscheidungsgewalt in Haushaltsangelegenheiten sowie der Vertrauensfrage. Der Senat besitzt eine Beratungsfunktion und
entscheidet bei Interessenskonflikten zwischen den regionalen Parlamenten.
Auf föderaler Ebene werden die Ministerien als „Föderaler Öffentlicher Dienste“ (FÖD)
bezeichnet. So besteht der FÖD-Justiz, FÖD-Finanzen, .. .
Sprachgebiete:
Belgien ist in vier Sprachgebiete eingeteilt: das deutsche Sprachgebiet, das französische Sprachgebiet (Wallonie), das niederländische Sprachgebiet (Flandern) und das
zweisprachige Gebiet Brüssel-Hauptstadt. In den deutschsprachigen Gemeinden Amel,
Büllingen, Burg-Reuland, Bütgenbach, Eupen, Kelmis, Lontzen, Raeren und St.Vith hat
die geschützte Minderheit der französischsprachige Bürger Sonderrechte.
Regionen:
Der Föderalstaat besteht aus den eigenständigen Gebietskörperschaften Wallonische
Region, Flämische Region und Brüsseler Region. Sie sind für gebietsbezogene Materien zuständig wie Teile der Wirtschaftpolitik, Bodenschätze, Umweltpolitik, Neugestaltung ländlicher Gebiete und Erhaltung der Natur, Wohnungswesen, Wasserpolitik, Teile der Energiepolitik, Aufsicht über untergeordnete Behörden, Beschäftigungspolitik,
öffentliche Arbeiten, Verkehrswesen, Forsten, Jagd und Fischerei. Die Regionen haben
eigene direkt gewählte Parlamente (Räte mit rechtlichen Befugnissen), Regierungen
und ein eigenes Ministerium für die Wahrnehmung ihrer Zuständigkeiten. Sie besitzen
eine begrenzte eigene Finanz- und Steuerhoheit. Die Ministerpräsidenten und Minister
werden von den Parlamenten gewählt und sind diesem gegenüber verantwortlich. Die
Regionen besitzen keine eigenen Verfassungen. Ihre Verfassungsordnung ist Gegenstand der Föderalen Verfassung und nationaler Gesetze.
Die Regionen (mit Ausnahme der Region Brüssel-Hauptstadt) sind in zehn Provinzen
unterteilt. Diese sind zu administrativen Zwecken in Arrondissements (Bezirke) gegliedert, die keine eigenen Organe besitzen.
Gemeinschaften:
Die Gemeinschaften sind wie die Regionen eigenständige Gebietskörperschaften. Die
Unterteilung in Sprach- und Kulturgemeinschaften umfasst die Flämische Gemeinschaft, Französische Gemeinschaft und Deutschsprachige Gemeinschaft. Entsprechend der Verfassung sind sie für Bildung einschließlich Hochschulwesen, personenbezogene Angelegenheiten des Sozialwesens (Gesundheit, Soziales und Jugend),
Sprache und Kultur sowie zwischengemeinschaftliche und internationale Beziehungen
zuständig.
Die Gemeinschaften verfügen jeweils über ein eigenes direkt gewähltes Parlament,
eine diesem Parlament verantwortliche Regierung und ein Ministerium für die Wahrnehmung ihrer Zuständigkeiten.
77
Die Deutschsprachige Gemeinschaft in Ostbelgien verwaltet sich weitgehend selbst.
Mit Sitz in Eupen hat sie ihr eigenes, direkt gewähltes 25-köpfiges Parlament. Die Mitglieder gehen dieser Aufgabe nebenberuflich nach. Die Regierung ist dem Parlament
gegenüber verantwortlich. Das Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft verabschiedet seine Dekrete, Stellungnahmen und Gutachten in Sitzungen des Plenums.
Die Deutschsprachige Gemeinschaft (ca. 73.000 Einwohner) umfasst die beiden
deutschsprachigen Kantone Sankt Vith und Eupen und gehört zur Wallonischen Region. Der Deutschsprachigen Gemeinschaft wurde die Ausführung gewisser regionaler
Zuständigkeiten durch die Wallonischen Regionen übertragen wie z.B. die Aufsicht
über die Gemeinden und die Beschäftigungspolitik.
2.
Jugendhilfedienst und Jugendgerichtsdienst
2.1
Der Jugendhilfedienst
Der Jugendhilfedienst ist ein Teil des Ministeriums der Deutschsprachigen Gemeinschaft. Das Personal des Dienstes wird wie das übrige Personal des Ministeriums von
der Regierung bezeichnet. Die Aufgaben des Jugendhilfedienstes umfassen die Untersuchung und Bearbeitung von Hilfeanfragen, die von Jugendlichen, ihren Erziehungsberechtigten an sie gestellt werden und von Situationen, die dem Jugendhilfedienst
anderweitig bekannt geworden sind. Auch die Staatsanwaltschaft kann den Jugendhilfedienst mit einer Untersuchung beauftragen.
Der Dienst bietet Beratung und Information für die Jugendlichen, die Erziehenden und
andere von der Problemsituation Betroffene. Außerdem werden Betroffene an beratende, unterstützende, therapeutische oder betreuende Personen oder Einrichtungen vermittelt.
Die territoriale Zuständigkeit richtet sich nach dem Wohnsitz des Jugendlichen, der
sich bei Minderjährigen grundsätzlich bei den Eltern befindet.
2.2
Der Jugendgerichtsdienst
Der Jugendgerichtsdienst ist wie der Jugendhilfedienst ein Teil des Ministeriums, dessen Personal von der Regierung bezeichnet. Die Mitarbeiter/innen des Jugendgerichtdienstes betreuen die ihnen zugewiesenen Fälle in eigener Verantwortung. Die territoriale Zuständigkeit des Jugendgerichtsdienstes richtet sich nach der des Jugendgerichtes.
Der Jugendgerichtsdienst wird durch den/die Jugendrichter/in, das Jugendgericht oder
die Staatsanwaltschaft beauftragt und führt bei Bedarf die Voruntersuchungen in ihrem
Auftrag durch. Diese beinhaltet in der Regel die Erstellung einer Sozialuntersuchung
und eines Sozialberichtes.
Innerhalb der Sozialuntersuchung werden die Familien- und die Lebenssituationen der
Minderjährigen, die zu der Anfrage geführt haben, detailliert untersucht und festgehalten. Zu den Familien, zu Schulen und gegebenenfalls zu anderen Diensten, die bereits
tätig geworden sind, wird Kontakt hergestellt. Die Sozialuntersuchung kann unterbleiben, wenn bereits ein Sozialbericht des Jugendhilfedienstes vorliegt.
Anhand der Sozialuntersuchung erstellt der/die zuständige Mitarbeiter/in einen Sozialbericht, den er/sie an den jeweiligen Auftraggeber weiterleitet. Dieser beinhaltet Handlungs- und Lösungsvorschläge.
Eine andere Aufgabe des Jugendgerichtsdienstes ist es, die vom/von der Jugendrichter/in oder dem Jugendgericht angeordneten Maßnahmen auszuführen.
Die Mitarbeiter/innen des Jugendgerichtsdienstes begleiten, koordinieren und kontrollieren die Maßnahmen. Auf Basis der Entscheidungen des/der Jugendrichters/in oder
78
des Jugendgerichtes schließt der/die Mitarbeiter/in Verträge mit den durchführenden
Diensten und Organisationen ab. Er/sie hält Kontakt zu den Familien und Jugendlichen
und verfolgt deren Situation.
Neben den hier beschriebenen Aufgaben in Bezug auf gefährdete Kinder und Jugendliche ist der Jugendgerichtsdienst ebenfalls im Rahmen des Jugendschutzes tätig bei
Jugendlichen, die Taten begangen haben, die bei Erwachsenen als Straftaten gelten.
3.
Doppelstruktur der Jugendhilfe
3.1
Allgemeines
Die öffentliche Jugendhilfe (freiwillige und die gerichtliche Jugendhilfe) in der Deutschsprachigen Gemeinschaft wird vom Jugendgerichtsdienst (JGD) und vom Jugendhilfedienst (JHD) wahrgenommen. Die Aufgaben dieser Ausführungsorgane sind im Dekret
über die Jugendhilfe festgeschrieben. Der Jugendschutz (straffälliger Jugendlicher) ist
auf föderaler Ebene durch das Gesetz vom 08.04.1965 geregelt, das kürzlich einer
grundlegenden Reform unterzogen wurde.
Jugendlicher im Sinne des Dekretes über die Jugendhilfe ist jede Person unter 18 Jahren und jede Person unter 21 Jahren, der bereits vor ihrem 18. Lebensjahr Jugendhilfe
gewährt wurde und die eine Verlängerung beantragt hat. Die Jugendhilfe soll dann
eingreifen, wenn das physische oder psychische Wohl des Kindes, seine Entwicklung
oder Erziehung aufgrund seiner Lebensumstände, seiner Beziehungskonflikte, seines
Verhaltens oder des Verhaltens seiner Erziehungsberechtigten in Gefahr ist. Zudem
richtet sie sich an Erziehungsberechtigte, die eine dem Kindeswohl entsprechende
Erziehung nicht/nicht mehr gewährleisten können.
Die erste Aufgabe der Jugendhilfe ist unter denen im Dekret über die Jugendhilfe festgelegten Bedingungen das Erbringen von Hilfeleistungen. Neben dieser Aufgabe ist
auch die Jugendhilfeplanung und die Prävention wichtiger Bestandteil der Jugendhilfe. Sowohl für die Jugendhilfeplanung als auch für die Prävention ist der Begleitausschuss der Jugendhilfe zuständig. Dieser setzt sich aus Vertretern der Akteure der
Jugendhilfe und der angrenzenden Bereichen zusammen.
Das Jugendschutzgesetz richtet sich an straffällige Jugendliche. Im Gegensatz zu der
Jugendhilfe beinhaltet der Jugendschutz keine Sozialleistungen. Durch das Jugendschutzgesetz wird auf das strafrechtliche Verhalten (strafbare Handlungen im Strafgesetzbuch) der Jugendlichen reagiert. Das Jugendschutzgesetz antwortet nicht unmittelbar mir Strafen sondern in erster Linie mit Erziehungsmaβnahmen. Durch die im
Jahr 2006 durchgeführte Reform wird der Schwerpunkt auf die Wiedergutmachung,
das Verantwortungsbewusstsein des straffälligen Jugendlichen und seiner Erziehungsberechtigten gelegt.
Unter Wiedergutmachung versteht man die Vermittlung zwischen der Person, die im
Verdacht steht, eine als Straftat qualifizierte Tat begangen zu haben, den Personen,
die ihr gegenüber die elterliche Gewalt ausüben und dem Opfer, mit dem Ziel, dass
das Opfer auβergerichtlich für seinen Schaden direkt vom vermutlichen Täter entschädigt wird und dem straffälligen Jugendlichen die Möglichkeit gegeben wird, gemeinsam
und mit Hilfe eines unparteiischen Vermittlers sich insbesondere mit den die Beziehungsebene betreffenden und materiellen Folgen einer als Straftat qualifizierten Tat
auseinanderzusetzen.
Im Rahmen der Reform wird dem Jugendlichen auch die Möglichkeit gegeben dem
Jugendrichter ein persönliches Projekt zur Wiedergutmachung seiner Straftat vorzuschlagen.
79
Wenn keine der Erziehungsmaβnahmen greift, kann der Jugendrichter dem Jugendlichen ab 16 Jahre unter gewissen Bedingungen an eine gesonderte Kammer des Jugendgerichts verweisen, die sich aus zwei Jugendrichtern und einem Strafrichter zusammensetzt. Diese Kammer kann gegenüber dem Jugendlichen das allgemeine
Strafrecht anwenden. Wird der Jugendliche zu einer Haftstrafe verurteilt, muss er diese
in einer dafür geschaffenen Einrichtung (föderale Jugendschutzzentren) absitzen. Neben diesen neuen Maβnahmen gegenüber Jugendlichen hat der Jugendrichter nun
auch die Möglichkeit Eltern ein Elternpraktikum aufzuerlegen. Bedingung ist, dass die
Eltern offensichtliche Gleichgültigkeit gegenüber dem straffälligen Verhalten des Jugendlichen zeigen. Ziel des Elternpraktikums ist es, das Bewusstsein der Personen,
die die elterliche Gewalt über Minderjährige ausüben, hinsichtlich des kriminellen Verhaltens der Minderjährigen für die sie die elterliche Gewalt ausüben zu schärfen, diesen Personen im Rahmen von Begleitmaßnahmen aufzuzeigen, welche ihre Verpflichtungen als Verantwortliche für die Erziehung ihrer Kinder sind, und ihr Verantwortungsgefühl zu stimulieren. Das Elternpraktikum muss als motivierende Maßnahme eingesetzt werden und jegliche Stigmatisierung vermeiden. Das Elternpraktikum besteht aus
einer individualisierten und aus einer kollektiven Phase. Die Nachsorge wird individuell
oder kollektiv ausgestaltet.
3.2
Staatliches Wächteramt/Eingriffsverwaltung
Die gerichtliche (zwingende) Jugendhilfe wird vom Jugendgericht angeordnet. Sie wird
vom Jugendgerichtsdienst durchgeführt. Die gerichtliche Jugendhilfe interveniert, wenn
im Rahmen der freiwilligen Jugendhilfe keine Zusammenarbeit mehr zwischen dem
Jugendhilfedienst, dem Jugendlichen und den Erziehungsberechtigten möglich ist.
Stellt der Jugendhilfedienst diese fehlende Zusammenarbeit bei bleibender Gefährdung des Jugendlichen fest, befasst der Dienst die Jugendstaatsanwaltschaft. Die Jugendstaatsanwaltschaft entscheidet, das Jugendgericht zu befassen oder nicht.
Wird der Jugendliche der Obhut der Erziehungsberechtigten im Rahmen der richterlichen Jugendhilfe entzogen, behalten die Eltern weiterhin die Rechte und Pflichten der
elterlichen Gewalt. Es findet weder eine Enthebung der Rechte der elterlichen Gewalt
statt noch wird eine Form der Vormundschaft organisiert. Das bedeutet, dass die Eltern
alle wichtigen Entscheidungen mitentscheiden müssen, auch wenn ihr Kind in einer
Jugendhilfeeinrichtung untergebracht ist. Bei Konflikten zwischen Eltern und Unterbringungseinrichtung oder zwischen den Eltern bezüglich Entscheidungen, die das Kind
betreffen, entscheidet der Jugendrichter jeweils unter Berücksichtigung des Interesses
des Jugendlichen.
3.3
Leistungserbringung
Die Leistungen der Jugendhilfe werden von freien und von öffentlichen Trägern erbracht. In der Deutschsprachigen Gemeinschaft muss jeder Träger, der Leistungen in
der Jugendhilfe erbringt, von der Regierung anerkannt sein. Der detaillierte Auftrag, die
Qualitätskriterien und die entsprechende Finanzierung werden jeweils in einem Vertrag
(„Geschäftsführungsvertrag“) zwischen dem jeweiligen Träger und der Regierung festgelegt.
Im Rahmen der freiwilligen Jugendhilfe haben der Jugendliche und der Erziehungsberechtigte bei der Wahl der Jugendhilfereinrichtung aktiv mitzuwirken, da die Jugendhilfeleistung am Ende in einen Jugendhilfevertrag mündet, der von allen Betroffenen unterzeichnet werden muss. Die finanzielle Eigenbeteiligung der Erziehungsberechtigten richtet sich nach dem Familieneinkommen. Ob der Jugendliche bei einem
öffentlichen oder privaten Träger unterkommt und begleitet wird, ist unerheblich für die
Höhe der Eigenbeteiligung.
In den meisten Fällen wird die Jugendhilfeleistung nicht direkt vom Jugendhilfedienst
erbracht, sondern durch einen öffentlichen oder privaten Träger. Letztere arbeiten somit im Auftrag des Jugendhilfedienstes.
80
Aus diesem Grund unterschreibt der Vertreter des Trägers, der mit der Durchführung
der Jugendhilfe beauftragt wird, neben den Erziehungsberechtigten, dem Jugendhilfedienst und dem Jugendlichen (ab 12 Jahre) auch den Jugendhilfevertrag.
Im Rahmen der gerichtlichen Jugendhilfe und insbesondere im Rahmen der
Jugendschutzmaβnahmen entscheidet der Jugendrichter auf Grundlage des Berichtes
des Jugendgerichtsdienstes darüber, wo der Jugendliche untergebracht oder von wem
er begleitet wird.
D.
Leistungsrecht
I.
Rechtsanspruch oder objektives Recht
Das Dekret über die Jugendhilfe sieht vor, dass jeder Jugendliche und Erziehungsberechtigte ungeachtet seiner Herkunft, seiner Staatsangehörigkeit, seiner religiösen,
philosophischen und politischen Ansichten ein Recht auf die im Rahmen vorliegenden
Dekretes organisierte Hilfe hat.
Diese Hilfe zielt darauf ab, dem Jugendlichen ein angemessenes Leben zu ermöglichen und seine Entwicklung unter den bestmöglichen Bedingungen zu fördern.
Ein Rechtsanspruch ist jedoch nicht gegeben, da dieses Recht nicht einklagbar ist. Der
Jugendhilfedienst entscheidet aufgrund der von ihm durchgeführten Sozialuntersuchung, ob eine Jugendhilfemaßnahme zuerkannt wird oder nicht. Ist der Jugendhilfedienst der Meinung, dass keine Gefährdung eines Jugendlichen im Sinne des Dekretes
vorliegt, wird der Fall eingestellt, ohne, dass die Betroffenen ein Einspruchsrecht gegen
diese Entscheidung haben. Besteht Uneinigkeit zwischen dem Erziehungsberechtigten,
dem Jugendlichen und dem Jugendhilfedienst im Rahmen der Fallarbeit, kann jedoch
ein Vermittlungsverfahren eingeleitet werden.
Der Jugendliche kann eine Jugendhilfe beantragen, insofern der Jugendliche in seiner
•
•
•
psychischen oder physischen Integrität,
affektiven, moralischen, intellektuellen oder sozialen Entwicklung,
Erziehung
bedroht ist. Bedroht sein können sie durch ihr eigenes Verhalten, ihre Lebensumstände, durch Beziehungskonflikte oder andere besondere Ereignisse.
Darüber hinaus hat jede Person, die Schwierigkeiten bei der Ausübung der elterlichen
Gewalt oder der Erziehung hat, das Recht, Jugendhilfe zu beantragen.
II.
Arten von Leistungen
1.
Standardleistungen
1.1
Hilfeleistungen im Rahmen der Freiwilligen Jugendhilfe
Im Rahmen der freiwilligen Jugendhilfe ist der Jugendhilfedienst frei, die Art und Form
der Hilfeleistung vorzuschlagen. Das Dekret über die Jugendhilfe schreibt jedoch Ziele
verschiedener Hilfeleistungen vor, die im Rahmen des Jugendhilfevertrages berücksichtigt werden müssen. Das Jugendhilfedekret legt diese Ziele für folgende 4 Formen
der Jugendhilfe fest:
81
1.1.1 Stationäre Betreuung
Die Unterbringung in teil- oder vollstationären Einrichtungen:
•
•
•
Unterbringung in einer teilstationären Einrichtung bis zu höchstens einem
Jahr;
Unterbringung in einem Empfangs- und Orientierungszentrum für höchstens
30 Tage;
Eine stationäre Unterbringung in Ausnahmen und höchstens für 2 Jahre;
Stationäre Betreuung meint die Erziehungshilfe in einer Einrichtung über Tag und
Nacht oder in einer anders betreuten Wohnform.
Jugendliche sollen entsprechend ihres Alters und Entwicklungsstandes in ihrer Entwicklung gefördert werden. Dabei soll entsprechend der Bedingungen in der Herkunftsfamilie:
•
eine Rückkehr in die Familie versucht werden.
•
die Aufnahme in eine andere Familie vorbereitet werden.
•
eine längerfristige Unterbringungsmöglichkeit mit Verselbstständigungshilfen
geboten werden.
1.1.2 Ambulante Betreuung
Die ambulante Betreuung findet im Rahmen einer sozial-pädagogischen Begleitung
innerhalb der Familie oder bei dem selbstständig lebenden Jugendlichen statt.
Die Begleitung eines selbstständig lebenden Jugendlichen soll ihn/sie in seiner/ihrer
Verselbstständigung fördern und ihn/sie bei Alltags- und Entwicklungsproblemen unterstützen.
Die Begleitung der Familie hat zum Ziel, dass Jugendhilfe und Eltern zum Wohl des
Jugendlichen zusammenarbeiten, um eine Rückkehr des Jugendlichen in die Ursprungsfamilie zu ermöglichen. Ist das nicht in einem vertretbaren Rahmen möglich, so
soll gemeinsam mit den Betroffenen eine andere langfristige Lebensperspektive für
den Jugendlichen erarbeitet werden.
1.1.3 Intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung
Die intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung kann sowohl stationär als auch ambulant durchgeführt werden. Sie dient dazu, die Jugendlichen intensiv bei Problemen
der sozialen Integration und Verselbstständigung zu unterstützen. Diese Hilfe ist in der
Regel längerfristig angelegt.
1.1.4 Betreuung in einer Pflegefamilie
Die Hilfe zur Erziehung in einer Pflegefamilie soll je nach Lebenssituation des Jugendlichen eine zeitlich befristete Erziehungshilfe, eine Pflegepatenschaft oder eine auf
Dauer angelegte Lebensform bieten.
Die Bedingungen der Anerkennung und Regelungen der Pflegeentschädigung hat die
Regierung in einem Ausführungserlass geregelt. Der Pflegefamiliendienst hat folgende
Aufgaben:
1)
2)
3)
Die Auswahl der Pflegefamilien;
Vorbereitung der Pflegefamilie durch Gespräche und Schulungen auf die Aufnahme eines Kindes;
Abschluss eines Vertrages zwischen Pflegeeltern und Pflegefamiliendienst,
welcher im Rahmen der durch die Regierung festgelegten Bedingungen die
Rechte und Pflichten beider Parteien festlegt;
82
4)
5)
1.2
Begleitung, Beratung und Unterstützung der Pflegefamilien während der Dauer der Unterbringung in allen Fragen des Pflegeverhältnisses;
Regelmäßige Berichterstattung über die Entwicklung des Kindes an die Einrichtung, die die Unterbringung des Kindes vereinbart oder veranlasst hat.
Hilfeleistung im Rahmen der gerichtlichen Jugendhilfe
Im Gegensatz zum Jugendhilfedienst ist das Jugendgericht im Rahmen der zwingenden Jugendhilfe an einen im Dekret festgelegten Maβnahmenkatalog gebunden. Aufgrund dieses Maβnahmenkatalogs kann das Jugendgericht auf Basis der durch die
zuständigen Sozialdienste durchgeführten Sozialuntersuchung und des erstellten Sozialberichts mit Ausnahme der besonderen, begründeten Dringlichkeit eine oder mehrere
der folgenden Maßnahmen im Rahmen des vorhandenen Angebots und unter Berücksichtigung der im Dekret für die jeweilige Art der Maβnahme festgelegten Zielsetzungen anordnen:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
dem Jugendlichen und/oder den Personen, die dem Jugendlichen gegenüber
die elterliche Aufsicht ausüben oder die ihn in ihrer Obhut haben für höchstens
zwei Jahre eine pädagogische oder therapeutische Begleitung auferlegen,
wenn dies zum Wohl des Jugendlichen erforderlich ist;
den Personen, die dem Jugendlichen gegenüber die elterliche Gewalt haben
oder die ihn in ihrer Obhut haben und die offensichtlich nicht mehr in der Lage
sind, die Aufsicht im Interesse des Jugendlichen auszuüben, die Teilnahme an
einem durch die Regierung anerkannten Elternerziehungsprogramm auferlegen, wenn dies zum Wohl des Jugendlichen erforderlich ist;
dem Jugendlichen und den Personen, die dem Jugendlichen gegenüber die
elterliche Gewalt haben oder die ihn in ihrer Obhut haben für höchstens zwei
Jahre eine Familienbegleitung durch eine anerkannte Einrichtung auferlegen;
den Jugendlichen, gegebenenfalls zusammen mit den Personen, die ihm gegenüber die elterliche Gewalt haben oder die ihn in ihrer Obhut haben, wenn
dies zum Wohl des Jugendlichen erforderlich ist, für höchstens zwei Jahre einem Projekt in der Jugendhilfe anvertrauen;
den Jugendlichen für die Dauer von höchstens zwei Jahren unter die Aufsicht
des Jugendgerichtsdienstes stellen;
den Jugendlichen für die Dauer von höchstens zwei Jahren einer intensiven
Erziehungsbegleitung und einer individuellen Begleitung durch einen Referenzerzieher oder einer intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung unterstellen;
den Jugendlichen, der das 12. Lebensjahr vollendet hat, für eine Dauer von
höchstens sechs Monaten in seiner familiären Umgebung belassen, unter einer oder mehrerer der folgenden Bedingungen:
a.
regelmäβig dem Schulunterricht beiwohnen;
b.
eine Ausbildung machen;
c.
an einer oder mehreren aufwertenden kulturellen, sportlichen oder sozialen Aktivitäten teilnehmen;
d.
andere Bedingungen oder Verbote, die das Gericht festlegt, einhalten.
Der Jugendgerichtsdienst wird mit der Überprüfung und der Kontrolle der Einhaltung der Bedingungen beauftragt. Bei Nichteinhaltung einer durch den
Richter festgelegten Bedingungen oder Verbote informiert der Jugendgerichtsdienst unmittelbar den Richter. Der Richter kann daraufhin auf Vorschlag
des Jugendgerichtsdiensts die festgelegte Maβnahme abändern.
dem Jugendlichen für höchstens sechs Monate ein Erziehungsprogramm auferlegen;
den Jugendlichen, der das 16. Lebensjahr vollendet hat, unter regelmäßiger
Aufsicht selbstständig wohnen lassen;
83
10.
11.
12.
13.
14.
15.
1.3
den Jugendlichen der Begleitung eines anerkannten Empfangs- und Orientierungszentrums unterstellen;
den Jugendlichen für höchstens sechzig Tage der Begleitung eines von der
Regierung anerkannten Beobachtungszentrums oder für den gleichen Zeitraum zur Beobachtung in eine psychiatrische Einrichtung oder psychiatrische
Abteilung eines Krankenhauses unterstellen;
die Betreuung des Jugendlichen in Anwendung von Artikel 16, 3. in einer familiären Umgebung anordnen;
dem Jugendlichen ausnahmsweise und für höchstens zwei Jahre eine stationäre Betreuung in einer geeigneten offenen Einrichtung auferlegen oder für
höchstens ein Schuljahr einem Internat anvertrauen;
den Jugendlichen, der das 14. Lebensjahr vollendet hat, stationär in einer geeigneten geschlossenen Einrichtung betreuen lassen, wenn nachgewiesen
wurde, dass diese Maßnahme zur Integration des Jugendlichen erforderlich
ist;
den Jugendlichen für höchstens zwei Jahre nur einem der Elternteile anvertrauen.
Jugendschutzmaßnahmen
Die Jugendschutzmaßnahmen werden gegenüber den straffälligen Jugendlichen und
gegebenenfalls gegenüber ihren Erziehungsberechtigten ausgesprochen. Im Jahr 2006
wurde das Jugendschutzgesetz grundlegend reformiert. Das Herzstück der Reform
besteht darin, die Erziehungsberechtigten und den straffällig gewordenen Jugendlichen
stärker in die Verantwortung einzubeziehen und der Wiedergutmachung einen zentralen Platz einzuräumen.
Neben erzieherischen Maßnahmen zugunsten des straffällig gewordenen Jugendlichen
erachtet das Gesetz jetzt auch dessen Bestrafung als erforderlich. In diesem Kontext
wird es ab Januar 2009 zwei Jugendstrafanstalten geben.
Der Jugendrichter kann Maßnahmen gegenüber den Erziehungsberechtigten und
dem straffällig gewordenen Jugendlichen anordnen.
So kann er die Erziehungsberechtigten verpflichten, ein Elternpraktikum zu absolvieren. Das Elternpraktikum wird rechtlich auf Ebene des Jugendgerichts als Strafe
gegenüber den Erziehungsberechtigten eines straffällig gewordenen Jugendlichen gewertet. Es ist eine die Strafe für den Jugendlichen ergänzende Maßnahme und soll
dazu führen, die Erziehungskompetenz der Eltern zugunsten des Wohles ihres Kindes zu stärken. Begründet wird es damit, dass bestimmte Erziehungsberechtigte nur
durch Zwang einem solchen Praktikum nachkommen.
Für eine strafrechtliche Verfolgung eines Jugendlichen unter 12 Jahren ist relevant,
dass ihm sein normativ abweichendes Verhalten bewusst sei. Aus diesem Grund sieht
das Jugendschutzgesetz für diese Kategorie Jugendliche Maßnahmen zum Grunde
vor, die vom Jugendgericht fakultativ ergriffen werden können. Dabei handelt es sich
um:
1.
die Durchführung eines Wiedergutmachungsangebots in der Form einer Vermittlung. In die Vermittlung sind der Jugendliche, der im Verdacht steht, eine als
Straftat qualifizierte Tat begangen zu haben, seine Erziehungsberechtigten oder
die Personen, die rechtlich oder effektiv ihm gegenüber das Sorgerecht besitzen,
das Opfer sowie ein neutraler Vermittler involviert. Ziel ist es, mit Hilfe des Vermittlers eine kollektive Auseinandersetzung mit den Folgen der Tat anzugehen
und eine Lösung zur Entschädigung des Opfers zu finden;
84
2.
3.
4.
5.
das Erstellen eines individuellen Projekts durch den Jugendlichen, das er dem
Jugendrichter vorschlägt;
eine Verwarnung des Jugendlichen oder dessen Eltern;
die Unterstellung unter die Aufsicht des zuständigen Sozialdienstes;
eine intensive Erziehungsbegleitung, die durch einen Referenzerzieher gewährleistet werde.
Eine Unterbringung eines straffällig gewordenen Jugendlichen unter 12 Jahren in einer
geschlossenen Einrichtung ist nicht möglich. Wenn diese Maßnahmen nicht greifen,
muss der Richter den Jugendlichen wieder an die Staatsanwaltschaft verweisen, die
versuchen kann, eine geeignete Maßnahme auf Ebene der Jugendhilfe durchzuführen.
Für Jugendliche über 12 Jahren können folgende Maßnahmen durch das Jugendgericht angeordnet werden:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
die Verrichtung von Arbeit im Allgemeininteresse;
eine ambulante Begleitung durch spezialisierte Dienste;
das Absolvieren einer Ausbildung oder einer organisierten Aktivität – z.B. sportlicher Art;
den Jugendlichen einer Vertrauensperson oder privaten Einrichtung anvertrauen,
die sich um dessen Beherbergung, Behandlung, Erziehung und Ausbildung sowie berufliche Ausbildung kümmert. Die traditionelle Zielsetzung der Erziehung
ist somit um die Komponente der Integration ergänzt worden;
die Unterbringung in einer öffentlichen Einrichtung. Dafür müssen bestimmte Bedingungen beachtet werden, so das Alter des Jugendlichen, die Schwere der
Straftat und das dafür vorgesehen Strafmaß. Es handelt sich hier um offene oder
geschlossene Einrichtungen. Da es keine derartige geschlossene Einrichtung in
der Deutschsprachigen Gemeinschaft gibt, werden die Jugendlichen aus der
Deutschsprachigen Gemeinschaft im Rahmen eines Zusammenarbeitsabkommens in den Einrichtungen (I.P.P.J.) der Französischen Gemeinschaft untergebracht.
eine medizinisch-psychologische Untersuchung durch einen Krankenhausdienst;
die Überstellung an einen Dienst zur Bekämpfung von Drogen- und Alkoholabhängigkeit bzw. jeder anderen Abhängigkeit;
die Unterbringung in einer offenen oder geschlossenen kinderpsychiatrischen
Einrichtung;
der bedingte Verbleib in der Familie – eventuell unter Berücksichtigung einer Altersbegrenzung;
eine Aussetzung der Unterbringung – verbunden mit einer Frist von sechs Monaten und gemeinnütziger Arbeit im Umfang von höchstens 150 Stunden.
Folgende Maßnahmen kann die Staatsanwaltschaft ergreifen:
1.
2.
3.
4.
Mahnschreiben an den Jugendlichen und seine Erziehungsberechtigten richten;
den Jugendlichen und seine Erziehungsberechtigten vorladen;
die Durchführung einer Vermittlung vorschlagen;
ein Elternpraktikum vorschlagen. Im Gegensatz zum Jugendrichter ist er nicht
berechtigt, dieses aufzuerlegen.
Eine bedeutende Änderung hat es auch bei der Entbindung des Jugendgerichts aus
seiner Zuständigkeit gegeben. Wenn ein Jugendlicher zwischen 16 und 18 Jahren eine
schwerwiegende Straftat begangen habe, er sich einer pädagogischen Betreuung verweigert und bereits angeordnete erzieherische Maßnahmen nicht gefruchtet haben,
kann der Jugendrichter nun eine Sozialuntersuchung und eine medizinischpsychologische Untersuchung in Auftrag geben, um sich ein Bild davon zu verschaffen,
85
ob weitere Jugendschutzmaßnahmen noch sinnvoll sind. Auf Grundlage der Resultate
fast der Jugendrichter den Beschluss, den Jugendlichen an ein Strafgericht zu verweisen oder dies zu unterlassen. Ab dem 10. September 2007 kann dieser Verweis nur
noch an eine neu eingerichtete Drei-Richter-Kammer des Jugendgerichts erfolgen.
Diese Kammer besteht aus zwei Jugendrichtern und einen Strafrichter. Bei einer
Überstellung findet das Strafrecht für Erwachsene Anwendung. Bei schwerwiegenden
Verbrechen ist sogar eine Verweisung an den Assisenhof möglich.
In diesem Zusammenhang werden zwei Jugendstrafanstalten errichtet. Wenn eine
Entbindung des Jugendgerichts aus der Zuständigkeit erfolgt, muss der Jugendliche in
dieser Anstalt untergebracht werden. Die Zeit der Unterbringung, die als eine Form der
Untersuchungshaft betrachtet werden kann, wird von der Haftstrafe, die gegen ihn verhängt wird und die der Jugendliche ebenfalls in dieser Anstalt ableisten muss, abgezogen.
1.4
Jugendhilfeleistung, die durch die privaten oder öffentlichen Träger in der
Deutschsprachigen Gemeinschaft angeboten werden
1.4.1 Das SPZ (sozial-psychologisches Zentrum)
Das SPZ bietet zu verschiedenen Bereichen Beratung und Therapie an, z.B.:
•
•
•
•
•
•
Sucht- und Drogenberatung;
Partnerschaftsberatung;
Gruppentherapie;
ambulante psychiatrische Betreuung;
Kindertherapie, Kindertherapiezentrum;
Erziehungsberatung
1.4.2 Der Dienst für Kind und Familie
Das erste Ziel des Dienstes für Kind und Familie ist die Förderung eines gesunden
Lebensstils der schwangeren Frauen und der Familien, um die optimale Entwicklung
aller Kinder auf gesundheitlicher und emotionaler Ebene zu unterstützen und ihre Persönlichkeitsentwicklung zu stärken.
Das zweite Ziel ist, die Kompetenzen der Familien und das Selbstvertrauen der Eltern
in ihre Erziehungsfähigkeit zu stärken und so einen Beitrag zum Wohlbefinden der Familien in unserer Gemeinschaft zu leisten.
Aus gesundheitlicher Sicht erfüllt der Dienst für Kind und Familie zentrale Aufgaben,
unter anderem gewährleistet er den Impfschutz von Säuglingen und Kleinkindern und
sorgt durch die Organisation regelmäßiger Untersuchungen schon im frühesten Lebensalter für das Feststellen von Erkrankungen, die bei fehlender Früherkennung zu
Langzeitschäden führen könnten.
Der DKF bietet ferner jeder Familie in der DG, die dies wünscht, eine individuelle
Betreuung durch Hausbesuche an und ist ein wichtiger Ansprechpartner für Familien in
sozialen Notlagen.
Darüber hinaus ist der Dienst für Kind und Familie zuständig für die Förderung, Gestaltung und Aufsicht von Kinderbetreuungsstrukturen.
86
1.4.3 Die Dienste der häuslichen Versorgung
Die Dienste der häuslichen Versorgung, die von der Deutschsprachigen Gemeinschaft
finanziell unterstützt werden, haben als Aufgabe, vorrangig Familien mit Kindern, Alleinerziehenden, Alleinstehenden, älteren Menschen, Kranken, Behinderten, Dienste
anzubieten, die die alltägliche Versorgung zu Hause gewährleisten.
1.4.4 Die Frühhilfe Ostbelgien
Die Frühhilfe Ostbelgien ist ein Dienst der Dienstelle für Personen mit Behinderungen.
Sie bietet Information und Beratung für Menschen mit Behinderungen zu den Themen
Unterbringungsmöglichkeiten, Wohnungsanpassungen und Integration an. Außerdem
informieren und berät Sie Familien mit behinderten oder entwicklungsverzögerten
Kleinkindern von der Geburt bis zum 7. Lebensjahr.
1.4.5 Das sozial-pädagogische Zentrum für Kinder- und Jugendbetreuung „Mosaik“ genannt, das in Trägerschaft des Sozialhilfezentrums Eupen betrieben wird
Das Zentrum gewährleistet die stationäre Betreuung von Jugendlichen für die ein offenes Erziehungssystem innerhalb einer Lebensgruppe pädagogisch sinnvoll ist und deren Verhalten keine ernsthafte Gefährdung für andere Gruppenmitglieder oder das
Betreuungspersonal darstellt.
Darüber hinaus gewährleistet das Zentrum eine ambulante Begleitung von Jugendlichen oder Familien.
Das Zentrum gewährleistet:
-
die stationäre Aufnahme von 28 Jugendlichen
darüber hinaus dringende Unterbringungen für 8 Jugendliche unter 14 Jahren.
die ambulante Begleitung von 24 Familien oder selbständig wohnenden Jugendlichen
1.4.6 Die Wohngemeinschaften SIA und OIKOS
Für Jugendliche unter 18 Jahren muss die Anfrage, dort zu wohnen, beim Jugendhilfedienst gestellt werden. Über 18jährige können sich direkt an die Einrichtungen wenden.
Die Wohngemeinschaft „S.I.A.“ versteht sich als therapeutische Wohngemeinschaft.
Die Mitarbeiter/innen (Psychologen/innen, Sozialarbeiter/innen und Erzieher/innen)
unterstützen die Bewohner/innen sowohl in ihrer beruflichen, als auch in ihrer sozialen
Integration, sie begleiten sie bei Behördengängen, vermitteln bei Bedarf Therapieplätze
und bereiten gemeinsam den Übergang in eine selbständige Wohnsituation vor.
„OIKOS“ ist eine Vereinigung, die mehrere Wohngemeinschaften betreibt. Die Antragstellung erfolgt wie bei der SIA. Auch hier unterstützen die Mitarbeiter/innen die Bewohner/innen in ihrer beruflichen und sozialen Integration, begleiten sie bei Behördengängen, vermitteln bei Bedarf Therapieplätze und bereiten gemeinsam die Verselbständigung vor.
Neben den Wohngemeinschaften organisiert „OIKOS“ im gesamten Gebiet der DG die
ambulante Betreuung von Familien und Jugendlichen, die allein wohnen.
87
1.4.7 Courage
Courage betreut Jugendliche überwiegend in der Euregio Maas-Rhein (B/D/NL). Courage VoG als belgischer individual-pädagogischer Träger arbeitet auf der Grundlage
einer Konvention mit dem Ministerium der Deutschsprachigen Gemeinschaft.
Courage bietet individualpädagogische Hilfen in ambulanter und stationärer Form an.
Dazu gehören:
1.5
aufsuchendes Clearing
intensive ambulante Einzelfallbetreuung
Eltern- und Familienberatung
Freizeit- und Beschäftigungsprojekte
Patenfamilienbetreuung
stationäre Einzelfallbetreuung
Kostenbeteiligung
1.5.1 Eigenbeteiligung bei Unterbringungsmaßnahmen im Rahmen der Jugendhilfe
Eine Eigenbeteiligung der Unterhaltspflichtigen wird gemäß einer Tabelle berechnet.
Dabei werden das Netto-Einkommen und die Haushaltszusammensetzung berücksichtigt.
Der Jugendhilfedienst bzw. der Jugendrichter legt die Höhe der Eigenbeteiligung unter
Berücksichtigung der oben erwähnten Tabelle fest. Diesen sind alle relevanten Angaben zu übermitteln. Wird das verweigert, kann der Höchstbetrag festgelegt werden.
Die Eigenbeteiligung wird auf ein Konto des Ministeriums überwiesen. Verpflichtet sich
der Unterhaltspflichtige die Kosten der Maßnahme direkt an den zuständigen Träger zu
zahlen, wird keine Eigenbeteiligung festgelegt. War ein Unterhaltspflichtiger vor der
Unterbringungsmaßnahme verpflichtet, Unterhaltszahlungen für den Jugendlichen zu
leisten, so entspricht die Eigenbeteiligung mindestens der Höhe der Unterhaltszahlungen.
1.5.2 Verringerung der Eigenbeteiligung
Die Eigenbeteiligung kann niedriger festgelegt werden, wenn finanzielle oder soziale
Schwierigkeiten dies rechtfertigen, z.B.:
•
•
•
Bezug von Eingliederungseinkommen;
Bezug von Arbeitslosenunterstützung;
wenn mehrere Kinder einer Familie untergebracht sind.
Der Mindestbetrag beträgt pro Familie 10 €/Monat.
1.5.3 Kostenbeteiligung bei Volljährigkeit des Untergebrachten
Wird die Maßnahme über die Volljährigkeit hinaus verlängert, ist die Eigenbeteiligung
weiter zu zahlen.
Endet hingegen die Unterhaltspflicht, muss der junge Volljährige die Eigenbeteiligung
selbst zahlen, unter Berücksichtigung seines Nettoeinkommens.
88
1.6
Adoption
Jede Adoption muss nachvollziehbar begründet sein. Das höhere Interesse des Kindes und die Achtung der ihm in internationalem Recht zuerkannten Grundrechte haben
Vorrang.
1.6.1 Bedingungen für eine Adoption
Sowohl bei einer einfachen Adoption (Beibehaltung gewisser Bindungen zur Herkunftsfamilie), als auch bei einer Volladoption (Abbruch aller Bindungen zur Herkunftsfamilie) müssen mehrere Voraussetzungen erfüllt sein:
•
Die Adoptionsbewerber müssen mindestens 25 Jahre alt sein und es muss ein
Altersunterschied von mehr als 15 Jahren zwischen ihnen und dem Adoptierten bestehen. Im besonderen Fall eines Kindes des Ehepartners oder des Zusammenwohnenden werden das Alter des Adoptierenden auf 18 Jahre und
der Altersunterschied auf 10 Jahre gesenkt.
•
Die Adoption steht (verheirateten, nicht miteinander verwandten gesetzlich
zusammenlebenden und nicht miteinander verwandten, seit mindestens drei
Jahren zusammenwohnenden) Paaren verschiedenen oder gleichen Geschlecht, sowie alleinstehenden Personen offen.
•
Der Adoptierende bzw. die Adoptierenden müssen vom Jugendrichter als
tauglich und qualifiziert beurteilt werden, d.h. sie müssen die notwendigen soziopsychologischen Eigenschaften besitzen.
•
Die leiblichen Eltern des minderjährigen Kindes müssen der Adoption zustimmen.
•
Ein Kind im Alter von mindestens 12 Jahren muss seiner Adoption zustimmen.
Für eine internationale Adoption sind gewisse mit den Rechtsvorschriften des Herkunftslandes des Kindes verbundene Auflagen zu erfüllen, insbesondere hinsichtlich
des Alters des/der Adoptierenden, des Adoptierten, des Altersunterschieds zwischen
beiden, des Personenstands der Adoptierenden sowie deren Gesundheit.
1.6.2 Zu unternehmende Schritte
Die Adoption wird durch eine von den Gemeinschaften zugelassene Einrichtung oder in Ermangelung derselben – durch die gemeinschaftliche Zentrale Behörde zugelassene Einrichtung begleitet.
Der Adoptionsprozess eines Kindes umfasst mehrere Etappen: die Vorbereitung, die
Bewertung der Eignung (Tauglichkeit), die Vermittlung, die Adoptionsentscheidung und
die Betreuung nach der Adoption. Je nachdem, ob es sich um eine interne oder internationale Adoption handelt, verlaufen diese Phasen etwas unterschiedlich. Insbesondere im Rahmen der internationalen Adoption muss die im Ausland erzielte Adoptionsentscheidung von der föderalen Zentralen Behörde anerkannt werden.
Vor jeglichem Adoptionsschritt müssen die Adoptionsbewerber eine Vorbereitung
durchlaufen haben. Hierzu wird ein Antrag auf Anmeldung zu den Vorbereitungszyklen
an die gemeinschaftliche Zentrale Behörde gerichtet. Diese wird auch die Adoptionsentscheidung treffen. Die Vermittlung besteht in der Bestimmung einer Adoptivfamilie,
die als geeignet erscheint, den Bedürfnissen, Merkmalen und dem bisher Erlebten des
Kindes am besten zu entsprechen.
89
Das Jugendgericht führt eine Bewertung der Eignung der Personen durch, die adoptieren möchten, insbesondere auf Grundlage einer sozialen Untersuchung.
Die postadoptive Betreuung wird durch die Gemeinschaften organisiert. Sie bieten
einen Ort der Aufnahme und des Zuhörens an und stellen bei Schwierigkeiten nach der
Adoption gegebenenfalls die Verbindung zu spezialisierten Fachleuten her.
2.
Hilfen für besondere Personengruppen
2.1
Rechtliche Grundlagen
•
•
das Dekret vom 19.7.1990 zur Schaffung einer Dienststelle der deutschsprachigen Gemeinschaft für Personen mit einer Behinderung
der Geschäftsführungsvertrag zwischen der Regierung der Deutschsprachigen Gemeinschaft und der Dienststelle für Menschen mit Behinderung
In Belgien gibt es keine besonderen Bestimmungen für Kinder und Jugendliche mit
Behinderungen. Sie fallen sowohl in den Anwendungsbereich der Jugendhilfe (siehe
Frühhilfe Ostbelgien), als auch in den des Dienstes für Menschen mit Behinderungen.
Im folgenden Teil werden die Leistungsvoraussetzungen, Hilfen und Anbieter im Bereich des Dienstes für Menschen mit Behinderungen beschrieben.
2.2
Leistungsvoraussetzungen
Anspruchsberechtigte (Art.18 ff. Dekret vom 19.7.1990) sind Menschen mit Behinderung, die ihren Wohnsitz in der DG haben und im Besitz der belgischen Staatsangehörigkeit sind oder seit mindestens 5 Jahren ohne Unterbrechung in Belgien wohnhaft
sind oder seit 10 Jahren einen Aufenthalt in Belgien geltend machen. Von den Voraussetzungen der Staatsangehörigkeit, der 5jährigen Wohnsitznahme oder dem
10jährigen Aufenthalt kann, unter von der Regierung festgelegten Bedingungen, abgesehen werden, z.B. bei Staatenlosen oder Flüchtlingen.
Hilfen können Personen mit einer körperlich, geistig und /oder sensorischen Behinderung und z. T. mit einer psychischen Krankheit oder Behinderung in Anspruch nehmen.
Darüber hinaus kann sich jede in der Deutschsprachigen Gemeinschaft wohnende
Person in Fragen, die mit Behinderung zu tun haben, mündlich oder schriftlich an die
Dienststelle wenden.
Wird ein Antrag auf Hilfen gestellt, erfolgt durch die Dienststelle eine Klärung des konkreten Bedarfs (Clearing).
Zunächst wird ein Gutachten erstellt, ob die jeweiligen Hilfen notwendige Voraussetzung zur sozialen Integration sind. Anschließend wird der individuelle Dienstleistungsplan (IPD) erarbeitet.
Ziel der Hilfe ist es, unter Berücksichtigung der individuellen Lebenssituation die Menschen mit Behinderung zu fördern, in Bezug auf:
•
•
•
•
die berufliche (Wieder-)Eingliederung
Wohnen
Freizeit
materielle und soziale Hilfen
90
2.3
Hilfen
Angebote für Kinder und Jugendliche von 0 bis 18 Jahren:
•
•
•
•
•
•
Soziopädagogische und lebenspraktische Unterstützung und Beratung der
Familien; Vermittlung, Koordination und Finanzierung von Unterbringungen im
In- und Ausland, sofern es keine geeigneten Einrichtungen innerhalb der
Deutschsprachigen Gemeinschaft gibt.
Übernahme von Restkosten für therapeutische Behandlungen, therapeutischtechnische Hilfen, besondere pädagogische Hilfsmittel und operative Eingriffe.
Bezuschussung von materiellen und sozialen Hilfen zur Realisierung eines
selbstbestimmten Lebens (Grundlage bzw. Höhe der Zuschüsse sind zu finden im „Buch der Regelungen - Materielle und soziale Hilfen“, Hrsg: Verwaltungsrat der Dienststelle).
Ausbildung im Betrieb (AIB) in Zusammenarbeit mit den Zentren des Teilzeitunterrichts.
Für Jugendliche ab 15 Jahren die Vermittlung an spezialisierte Einrichtungen
und Zentren der Berufsberatung.
Kooperation mit Diensten im Familien- und Unterrichtsbereich, besonders des
Jugendhilfedienstes.
3.
Hilfen für junge Volljährige
3.1
Rechtliche Grundlagen
Das Jugendhilfedekret sieht vor, dass Jugendliche, die vor Vollendung des 18. Lebensjahres an einer Maßnahme teilgenommen haben, eine Verlängerung der Maβnahme
beantragen können. Dies gilt sowohl bei einer vom Jugendhilfedienst organisierten, als
auch vom Jugendgerichtsdienst auferlegten Maßnahme. Die Verlängerung soll die Jugendlichen bei der Persönlichkeitsentwicklung unterstützen und sie zu einer eigenständigen Lebensführung befähigen.
3.2
Leistungsvoraussetzungen
Die Verlängerung wird von den Jugendlichen selbst spätestens einen Monat vor Erreichen der Volljährigkeit oder vor Ablauf einer bereits beschlossenen Verlängerung beantragt. Im Antrag wird angegeben, wie lange die Jugendlichen die Verlängerung wünschen. Der Antrag wird bei der zuständigen Fachabteilung des Ministeriums gestellt.
Diese beauftragt dann die Behörde, die die laufende Maßnahme bewilligt hat, und den
Träger der laufenden Maßnahme jeweils mit der Erstellung eines Gutachtens. Eine
Verlängerung muss schriftlich beantragt und begründet werden. Sie kann maximal bis
zum 21. Lebensjahr verlängert werden.
3.3
Ende der Maßnahme
Jeder Jugendliche über 18 Jahre kann eine Maßnahme vor Ablauf der Verlängerung
beenden. Es genügt eine Mitteilung an das zuständige Ministerium.
3.4
Kosten
Wird die Verlängerung genehmigt, werden die Kosten in gleicher Höhe wie vorher vom
Ministerium übernommen.
Leben die Jugendlichen selbstständig, werden nach Genehmigung der Verlängerung
lediglich die Kosten der Betreuung übernommen. In diesem Fall kann der Jugendliche
einen Antrag auf Sozialhilfe beim zuständigen Öffentlichen Sozialhilfezentrum beantragen.
91
III.
Verfahren und gerichtliche Kontrolle
1.
Antrag
1.1
Freiwillige Jugendhilfe
Um Hilfen in Anspruch nehmen zu können, stellen die Betroffenen eine Anfrage beim
Jugendhilfedienst der Deutschsprachigen Gemeinschaft. Der Jugendhilfedienst wird
nicht nur auf Antrag des Kindes, des Jugendlichen oder der Familie (Selbstmeldung)
tätig, sondern kann zudem sowohl eigeninitiativ als auch auf Meldung von Schule, Einrichtung oder Privatperson (Fremdmeldung) hin oder im Auftrag der Staatsanwaltschaft
aktiv werden. Ob ein Hilfebedarf besteht oder eine Gefährdung vorliegt, entscheidet im
Einzelfall der Jugendhilfedienst oder der Jugendstaatsanwalt.
Jede Anfrage wird durch einen entsprechenden Registereintrag dokumentiert.
Der Jugendhilfedienst erstellt im Zuge der Anfrage einen Sozialbericht, in dem Informationen zur Problematik, zu bereits durchgeführten oder begonnenen Interventionen und
der Art der Gefährdung dargestellt werden. Der Jugendhilfedienst kann bei Bedarf ein
Gutachten durch eine medizinische, psychologische oder juristische Fachkraft beantragen.
1.2
Gerichtliche (zwingende) Jugendhilfe
Das Jugendgericht bzw. der Jugendrichter wird durch die Staatsanwaltschaft mit einem
Jugendhilfefall befasst. Die Staatsanwaltschaft wird bis auf einige Ausnahmen immer
über den Jugendhilfedienst mit einer Jugendhilfeakte befasst.
Während der Vorbereitungsphase im Vorfeld eines Verfahrens in der Sache wird der
Jugendrichter befasst. Diese Vorbereitungsphase dient:
•
•
•
dringend notwendigen Maßnahmen,
den Untersuchungen zur Persönlichkeit des Minderjährigen,
der Ermittlung des Bedarfs an weitergehenden notwendigen Schutzmaßnahmen.
Nach der Vorbereitungsphase kann die Sache auf Antrag der Staatsanwaltschaft zur
Anordnung einer endgültigen, aber weiterhin abänderbaren Maßnahme dem Jugendgericht zum Verfahren in der Sache vorgetragen werden.
Das Jugendgericht wird erst im Verfahren in der Sache (öffentliche Gerichtssitzung)
befasst, wenn eine Sache verhandlungsreif ist. Das Jugendgericht ist zuständig bei
Streitigkeiten über die Ausübung der elterlichen Rechte oder des Umgangsrechts oder
bei Adoptionen Minderjähriger.
Im Gegensatz zum Jugendrichter ist das Jugendgericht zwar zur Strafermittlung berechtigt, ist jedoch kein Strafgericht, da es keine Strafmaßnahmen im Sinne des Strafrechts festlegt. Im Sinne der o. g. Personalunion interveniert der Jugendrichter innerhalb desselben Falls auch als Richter am Jugendgericht.
1.3
Jugendschutz
Das Jugendgericht wird durch die Staatsanwaltschaft mit dem Fall eines straffälligen
Jugendlichen befasst. Der Staatsanwalt kann vor der Befassung des Jugendgerichts
auch bereits einige Maßnahmen anordnen (siehe Jugendschutzmassnahmen).
92
2.
Mitwirkung
2.1
Freiwillige Jugendhilfe
Im Bereich der freiwilligen Jugendhilfe bedarf jede Hilfemaßnahme, unabhängig vom
Alter des Minderjährigen, der vorherigen Anhörung aller durch die Maßnahmen betroffenen Personen und der schriftlichen Einwilligung der Personen, die die elterliche Gewalt ausüben bzw. derer, die die regelmäßige Aufsicht über den Minderjährigen führen.
Bei der Anhörung kann sich der Jugendliche von einer Person seiner Wahl begleiten
lassen, in seinem Interesse kann zudem eine getrennte Anhörung durchgeführt werden.
Ausnahmen von der vorherigen Anhörungspflicht sind nur möglich aufgrund des Alters
der Person, ihrer Reife, ihres Gesundheitszustands, eines unbekannten Wohnorts oder
äußerster Dringlichkeit, und müssen vom fallverantwortlichen Mitarbeiter schriftlich
begründet werden.
Alle Entscheidungen über individuelle Hilfemaßnahmen werden dem Jugendlichen, der
das 12. Lebensjahr vollendet hat, und den mit der Erziehung beauftragten Personen
schriftlich mitgeteilt. Eine die Lebenssituation verändernde Entscheidung über Hilfemaßnahmen ohne das schriftliche Einverständnis des Jugendlichen, der das 12. Lebensjahr vollendet hat, zu treffen, ist dem Jugendhilfedienst untersagt.
Darüber hinaus bedürfen alle Maßnahmen der Jugendhilfe der schriftlichen Fixierung in
einem sog. Jugendhilfevertrag.
Inhalte der Hilfepläne, der in einem Jugendhilfevertrag fixiert wird, sind:
•
•
•
•
die Bedarfsbeschreibung,
die notwendigen Leistungen,
die Dauer der Maßnahme,
die Kostenbeteiligung der Erziehungsberechtigten.
Zur Auswertung der Eignung und Notwendigkeit der Hilfemaßnahmen und zur Entscheidung über Fortführung, Änderung oder Beendigung der Hilfen finden zwischen
Jugendhilfedienst und Betroffenen in regelmäßigen Abständen sog. Bilanzgespräche
statt. Diese finden im Abstand von 6 Monaten statt, bei längerfristigen Unterbringungen
ist ein Bilanzgespräch pro Jahr vorgesehen.
Beteiligte Akteure an den vom fallverantwortlichen Mitarbeiter des Jugendhilfedienstes
geleiteten Treffen sind die Betroffenen, die Vertreter der Hilfseinrichtung und weitere
Vertreter des Jugendhilfedienstes. Andere Personen, Dienste oder Einrichtungen, die
für die Durchführung der Hilfe hinzugezogen werden, sind an der Erstellung und Überprüfung des Hilfeplans zu beteiligen.
Der o. g. Jugendhilfevertrag ist zu unterzeichnen vom:
•
•
•
Vertreter des Jugendhilfedienstes;
Erziehungsberechtigten, in dessen Wohnsitz der Jugendliche gemeldet ist,
und ggf. von dem im Haushalt anwesenden Lebenspartner eines Elternteils,
sofern dieser von der Hilfeplanung betroffen ist;
Jugendlichen, der das 12. Lebensjahr vollendet hat.
93
2.2
Gerichtliche (zwingende) Jugendhilfe und Jugendschutz
Jugendliche, Kinder und ihre Familien werden an Gerichtsverfahren in folgendem Umfang beteiligt:
•
•
•
•
•
•
•
•
3.
Jeder Jugendliche, der das 12. Lebensjahr vollendet hat, muss vor Verkündung einer ihn betreffenden Maßnahme des Jugendschutzes oder der Jugendhilfe durch den Jugendrichter angehört werden.
Im Jugendhilfe- und im Jugendschutzverfahren ist der Minderjährige in der
Regel Partei.
Jeder Jugendliche, der das 12. Lebensjahr vollendet hat, muss laut in Verfahren vor dem Jugendrichter oder dem Jugendgericht, in denen die Inhaber der
elterlichen Gewalt über seine Person, die Verwaltung seiner Güter oder das
Besuchsrecht streiten, zur Anhörung vorgeladen werden.
In diesen Verfahren ist der Minderjährige in der Regel nicht Partei. In Anlehnung an die Internationale Konvention über die Rechte des Kindes gestattet
die Rechtsprechung Minderjährigen, die das notwendige Unterscheidungsvermögen besitzen, in Verfahren, die ihre Interessen betreffen, und in denen
sie nicht Partei sind, den eigenen Willen vorzutragen und als Partei eigene
Forderungen zu stellen.
Dem Minderjährigen wird ein Rechtsanwalt zugewiesen, sobald der Jugendrichter mit einer Sache befasst wird.
Wird eine einstweilige Verfügung gegen einen Jugendlichen, der das 12. Lebensjahr vollendet hat, erlassen, muss er vom Jugendrichter persönlich angehört werden. Die persönliche Anhörungspflicht entfällt, wenn der Jugendliche
nicht aufzufinden ist, er aufgrund seines Gesundheitszustands nicht anhörungsfähig ist oder wenn er sich verweigert.
Der Jugendliche und die Parteien haben nach der Zustellung der Vorladung
die Möglichkeit, bei der Gerichtskanzlei die Jugendakte einzusehen. Davon
ausgenommen sind Schriftstücke, die sich auf die Persönlichkeit oder Umwelt
des Jugendlichen beziehen.
Während der Untersuchung des Falles in der Vorphase des Verfahrens in der
Sache darf der Jugendrichter den Jugendlichen vorladen, muss dies jedoch
nicht.
Der Jugendliche kann gegen ein Säumnisurteil, das in Folge von Abwesenheit
bei einer Sitzung ergeht, einen einschlägigen Einspruch einlegen.
Jeder Minderjährige, der über das notwendige Unterscheidungsvermögen
verfügt, kann laut Artikel 931 Abs. 3 des Gerichtsgesetzbuches in den ihn
betreffenden Zivilverfahren auf eigenen Antrag oder kraft richterlicher Entscheidung und mit seinem Einverständnis durch den Richter angehört werden.
Diese Anhörung findet unter Ausschluss der Parteien statt; die Parteien dürfen
zwar das Anhörungsprotokoll einsehen, es jedoch nicht kopieren.
Datenschutz
Die Regelungsinhalte zum Datenschutz finden sich im Dekret über die Jugendhilfe.
Demnach müssen alle an der Ausführung des Dekretes beteiligten Personen Angaben,
von denen sie im Rahmen ihres Auftrags oder auf ihren Auftrag bezogen Kenntnis erlangen, vertraulich behandeln. Bei Verstößen sind die an der Ausführung des Dekretes
beteiligten Personen gem. Artikel 458 des Strafgesetzbuches zur Verantwortung.
Angaben, von der eine an der Ausführung des Dekretes beteiligte Person im Rahmen
persönlicher oder erzieherischer Hilfe in befugter Weise Kenntnis erlangt, darf diese
ohne strafrechtliche Konsequenzen unter folgenden Voraussetzungen weitergeben:
•
wenn der Anvertrauende seine Einwilligung zur Weitergabe gegeben hat oder
94
•
•
•
an denjenigen Mitarbeiter, der wegen eines Wechsels der Fallzuständigkeit
für die Gewährung oder Erbringung der Jugendhilfe verantwortlich ist oder bei
der Vorbereitung oder Ausführung der Hilfemaßnahme beteiligt ist oder wird
oder
an zur Einschätzung des Gefährdungsrisikos hinzugezogene Fachkräfte,
an Mitarbeiter der zuständigen Fachabteilung des Ministeriums zu Verwaltungszwecken.
Die zur Erfüllung der verschiedenen Aufgaben der Jugendhilfe erhobenen Angaben
dürfen nur aufgrund eines unmittelbaren Sachzusammenhangs in Akten oder auf anderen Datenträgern zusammengeführt werden. Daten, die zum Zwecke der Jugendhilfeplanung gespeichert und genutzt werden, sind sofort zu anonymisieren.
Ein Recht auf Kenntnis der während des freiwilligen Jugendhilfeverfahrens in Akten
oder auf Datenträgern zu seiner Person gespeicherten Daten hat nach Vollendung
des 18. Lebensjahres jeder Jugendliche, der Gegenstand einer Jugendhilfemaßnahme war, soweit nicht ein berechtigtes Interessen Dritter entgegensteht.
Vor Vollendung des 18. Lebensjahres kann dem Jugendlichen Einsicht in die Daten
gewährt werden, sofern er über die erforderliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit verfügt
und kein berechtigtes Interesse Dritter die Verweigerung der Einsicht in die Daten verhindert.
4.
Örtliche und sachliche Zuständigkeit
4.1
Freiwillige Jugendhilfe
Die freiwillige und außergerichtliche Jugendhilfe Belgiens liegt in der Zuständigkeit der
jeweiligen Gemeinschaften. In der Deutschsprachigen Gemeinschaft wird die Hilfe
durch den Jugendhilfedienst angeboten. Die freiwillige Jugendhilfe geschieht i. d. R.
ohne Beteiligung der Gerichte, die erst in Übergangsfällen zwischen freiwilliger und
zwingender Jugendhilfe, also in Fällen des Jugendschutzes, tätig werden.
Der Jugendhilfedienst ist für Anfragen auf Hilfe zuständig, wenn sich der Wohnsitz des
Jugendlichen im deutschen Sprachgebiet Belgiens befindet. Hält er sich im deutschsprachigen Gebiet auf, ohne dort seinen Familienwohnsitz zu haben, wird die örtliche
Zuständigkeit des Jugendhilfedienstes durch seinen Aufenthaltsort bestimmt, insofern
eine akute Gefährdung vorliegt. Bei einem Wohnsitzwechsel außerhalb der DG kann
der Jugendhilfedienst unter gewissen Bedingungen in einer Übergangszeit von höchstens 6 Monaten den Jugendlichen weiter betreuen.
Die sachliche Zuständigkeit des Jugendhilfedienstes ist gegeben wenn:
Die physische oder/und psychische Integrität, die affektive, moralische, kognitive oder
soziale Entwicklung oder die Erziehung des Jugendlichen durch sein eigenes Verhalten, das seiner Erziehungsberechtigten oder von Drittpersonen, durch seine Lebensumstände, durch Beziehungskonflikte oder durch besondere Ereignisse gefährdet ist.
Die Kindesgefährdung kann durch die Verwirkung der elterlichen Gewalt und/oder die
Vernachlässigung des Kindes und/oder durch das unverschuldete Versagen der Eltern
und/oder durch das Verhalten Dritter entstehen. Erkannt werden kann die Kindesgefährdung durch die Feststellung von Grundrechtsverletzungen an Kindern. Zudem interveniert der Jugendhilfedienst auf Anfrage jedes Erziehungsberechtigten, der bei der
Erziehung eines Kindes erhebliche Schwierigkeiten hat und wenn dies zur Folge hat,
dass eine dem Wohl des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht mehr gewährleistet werden kann und eine Leistung der Jugendhilfe für seine Entwicklung sich als
geeignet und notwendig erweist.
95
4.2
Gerichtliche (zwingende) Jugendhilfe
Da Belgien per Gesetz in verschiedene Gerichtsbezirke unterteilt wurde, ist jedes Jugendgericht ausschließlich für seinen Bezirk zuständig. Die belgischen Jugendgerichte
besitzen somit keine Zuständigkeit für das gesamte belgische Staatsgebiet. Die örtliche
Zuständigkeit des Jugendgerichts wird im Jugendschutzgesetz geregelt. Die Zuständigkeit des Jugendgerichts ist auch ausschlaggebend für die Zuständigkeit des Jugendgerichtsdienstes. Die Zuständigkeit des Jugendgerichts ergibt sich aus dem
Wohnsitz der Eltern, des Vormundes oder der Personen, die die Aufsicht über den
Minderjährigen ausüben. Wenn diese Personen keinen Wohnsitz in Belgien haben
oder ihr Wohnsitz ist unbestimmbar oder unbekannt, richtet sich die örtliche Zuständigkeit des Gerichts nach seinem Aufenthaltsort oder nach dem Sitz der Jugendhilfeeinrichtung, der er anvertraut wurde.
Die Voraussetzungen der sachlichen Zuständigkeit sind das Kindeswohl- und Entwicklungsgefährdung.
IV.
Leistungserbringungsrecht
1.
Jugendhilfeplanung
In der Deutschsprachigen Gemeinschaft wurde ein Begleitausschuss für die Jugendhilfe eingesetzt. Dieser Begleitausschuss ist mit der Jugendhilfeplanung und der Prävention beauftragt.
Die Zusammensetzung und die Organisation des Begleitausschusses werden durch
die Regierung in einem Ausführungserlass festgelegt.
Der Begleitausschuss hat im Rahmen der Jugendhilfeplanung folgende Aufgaben:
1.
2.
3.
4.
Die Organisation eines jährlichen Jugendhilfeforums. An diesem Forum nehmen die betroffenen Akteure des Jugendhilfebereichs und anderer betroffener
Bereiche teil. Bei diesem Forum werden alle Teilnehmer angehalten, ihre
Kenntnisse und Erfahrungen bei der Ermittlung des Bedarfs einzubringen.
Die kontinuierliche Ermittlung des Bedarfs an Hilfeleistungen unter Berücksichtigung der Bedürfnisse und Interessen der Jugendlichen und der Erziehungsberechtigten und die Vorraussetzungen zur Deckung des Bedarfs; dabei
muss darauf geachtet werden, dass auch ein unvorhergesehener Bedarf abgedeckt werden kann;
Initiativen fördern, die dem ermittelten Bedarf entsprechen;
Die Angemessenheit geplanter Initiativen auf ihre Wirksamkeit hin zu prüfen.
Aufgrund der Erkenntnisse des Jugendhilfeforums und der Tätigkeitsberichte des Jugendhilfe- und des Jugendgerichtsdienstes legt die Regierung jeweils die Schwerpunkte in der Jugendhilfe für die kommenden zwei Jahre fest.
2.
Zulassung von Leistungserbringern
Jede natürliche oder juristische Person, die im Rahmen des Dekrets über die Jugendhilfe regelmäßig Jugendliche aufnimmt oder begleitet, muss zu diesem Zweck von der
Regierung anerkannt werden. Um anerkannt zu werden, muss der Antragsteller auf
dem Gebiet der Jugendhilfe tätig sein, gemeinnützige Ziele verfolgen und aufgrund
96
der fachlichen und personellen Vorraussetzungen erwarten lassen, dass er imstande
ist, einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Erfüllung der Aufgaben der Jugendhilfe zu
leisten.
Darüber hinaus müssen die Träger der Jugendhilfe die durch die Regierung in ihren
Ausführungsbestimmungen festgelegten Bedingungen erfüllen. Diese beziehen sich u.
a. auf:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
Art, Ziel und Qualität des Leistungsangebots;
den in der Einrichtung, dem Dienst oder durch die natürliche Person zu
betreuenden Personenkreis;
die Anzahl und Qualifikation des Personals;
die betriebsnotwendigen Anlagen und Vorraussetzungen der Einrichtung oder
des Dienstes;
die Versorgung, den Unterricht, die Berufsausbildung und das Erziehungssystem der Jugendlichen sowie
die Finanzierung des Leistungsangebotes.
Die Anerkennung wird durch die Regierung auf Basis des Gutachtens der zuständigen
Fachabteilung des Ministeriums für einen erneuerbaren Zeitraum von sechs Jahren
gewährt. Neben der Anerkennung kann die Regierung mit den einzelnen Trägern einen
Geschäftsführungsvertrag abschließen, in dem spezifisch für den betroffenen Träger
die Erwartungen, die Qualitätsgarantien und die Finanzierung festgelegt sind.
E.
Andere Aufgaben der Jugendhilfe/Staatliches Wächteramt
I.
Intervention bei Gefährdung und Scheitern der freiwilligen Jugendhilfe
1.
Voraussetzungen der zwingenden Jugendhilfe
Bevor das Jugendgericht bzw. der Jugendrichter sich mit einer Sache befasst, müssen
in Anwendung des Dekretes über die Jugendhilfe folgende Bedingungen erfüllt sein:
1.1
Gefährdungssituation (Allgemeine Anspruchsvoraussetzung der Jugendhilfe)
Wie die freiwillige Jugendhilfe richtet sich auch die zwingende Jugendhilfe an gefährdete Minderjährige. Ihre Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass ihre physische oder/
und psychische Integrität, ihre affektive, moralische oder soziale Entwicklung oder die
Erziehung gefährdet ist. Die Gefährdung kann von ihrem eigenen Verhalten, das ihrer
Erziehungsberechtigten oder vom Verhalten von Drittpersonen ausgehen. Sie kann
bedingt sein durch die Lebensumstände, durch Beziehungskonflikte oder durch besondere Ereignisse.
Gleiches gilt, wenn die Erziehungspersonen so erhebliche Erziehungsschwierigkeiten
haben, dass eine dem Wohl entsprechende Erziehung eines/r Minderjährigen nicht
mehr gewährleistet ist und Maßnahmen notwendig werden.
1.2
Scheitern der Freiwilligen Jugendhilfe
Zunächst erfolgt eine Intervention des Jugendhilfedienstes im Rahmen der freiwilligen
Jugendhilfe. Diese hat in der Regel immer Vorrang. Die Staatsanwaltschaft hat die
Möglichkeit, sich in bestimmten Ausnahmefällen direkt, d.h. ohne vorherige Intervention des Jugendhilfedienstes, an das Jugendgericht zu wenden.
97
In drei Fällen ist diese Vorgehensweise möglich:
1.
2.
3.
Es besteht der Verdacht, dass ein Erwachsener eine Straftat an einem Minderjährigen begangen hat und eine Maßnahme zum Schutz dieses Jugendlichen notwendig ist.
Das Jugendgericht ist bereits aufgrund von Straffälligkeit eines Minderjährigen
mit einer Sache befasst. Der/die Staatsanwalt/Staatsanwältin hält für den/die
Minderjährige/n oder ein anderes minderjähriges Familienmitglied eine Maßnahme des Jugendschutzes für erforderlich.
Nach Beendigung einer gerichtlichen Maßnahme für eine/n Jugendliche/n wird
erneut eine Maßnahme vor Ablauf eines Jahres notwendig.
Erst wenn eine Zusammenarbeit gescheitert ist und weiterhin eine Gefährdungssituation vorliegt, kann durch den Jugendhilfedienst eine Meldung an die Staatsanwaltschaft
erfolgen.
1.3
Erforderlichkeit
Liegt ein Scheitern der freiwilligen Jugendhilfe vor, so muss gleichzeitig eine der im
Dekret über die Jugendhilfe erwähnten gerichtlichen Maßnahmen erforderlich sein.
Mit Abgabe der Akte an die Staatsanwaltschaft ist im Prinzip die Intervention des Jugendhilfedienstes beendet.
II.
Mitwirkung der Jugendbehörden bei den Aufgaben der Gerichte
1.
Der Jugendhilfedienst
Leitet der Jugendhilfedienst eine Jugendakte an die Jugendstaatsanwaltschaft weiter
zwecks Befassung des Jugendrichters, so wird der Weiterleitungsakte ein Sozialbericht
des Jugendhilfedienstes über den Jugendlichen beigefügt. Dieser Bericht hilft sowohl
der Staatsanwaltschaft als auch dem Jugendrichter bei der Entscheidungsfindung.
2.
Jugendgerichtshilfe und Jugendschutz
Der Jugendgerichtsdienst wird im Rahmen der Jugendgerichtshilfe oder des Jugendschutzes durch den/die Jugendrichter/in, das Jugendgericht oder die Staatsanwaltschaft beauftragt und führt bei Bedarf die Voruntersuchungen in ihrem Auftrag durch.
Diese beinhaltet in der Regel die Erstellung einer Sozialuntersuchung und eines Sozialberichtes.
Innerhalb der Sozialuntersuchung werden die Familien- und die Lebenssituationen der
Minderjährigen, die zu der Anfrage geführt haben, detailliert untersucht und festgehalten. Zu den Familien, zu Schulen und gegebenenfalls zu anderen Diensten, die bereits
tätig geworden sind, wird Kontakt hergestellt. Sie kann unterbleiben, wenn bereits ein
Sozialbericht des Jugendhilfedienstes vorliegt.
Der Jugendgerichtsdienst wird zu den Sitzungen des Jugendgerichts eingeladen.
In ausschließlich zivilrechtlichen Akten (Ehescheidung, Ausübung der elterlichen Gewalt...) führen die Justizassistenten (Mitarbeiter des Justizhauses) die Sozialuntersuchungen über die Familiensituation auf Anfrage des Magistrats durch.
98
III.
Rechtliche Fürsorge für Minderjährige
1.
Grundsatz: elterliche Gewalt (siehe C.I.3.)
Im belgischen Recht gehört der Stand der Minderjährigkeit zu den „Schutzstatuten“.
Bei diesen „Schutzstatuten“ geht es sich in erster Linie um den Schutz der „schwächeren“ Person, im vorliegenden Fall des Minderjährigen, bei Rechtshandlungen. Ziel ist
es die gesetzliche Vertretung des Minderjährigen sicher zu stellen, damit dieser am
Rechtsleben teilhaben kann.
Normalerweise steht ein Minderjähriger unter elterlicher Gewalt, deren Bestandteil die
gesetzliche Vertretung ist. Aufgrund des Ablebens beider Elternteile, bei Entzug der
elterlichen Gewalt oder im Fall eines Interessenskonfliktes nimmt ein Vormund die
rechtlichen Aufgaben und Pflichten der elterlichen Gewalt wahr.
2.
Ausnahme: Die Vormundschaft
Im Falle wo bei der Geburt keine Abstammung besteht oder beim Ableben der beiden
Elternteile, informiert der Standesbeamte innerhalb von drei Tagen nach Eintragung
den Friedensrichter.
In dem Fall wo Vater und Mutter verschollen sind, wird innerhalb von 6 Monaten provisorisch eine Vormundschaft organisiert.
Für die Handlungen, für die der Vormund die Erlaubnis des Friedensrichters benötigt,
müssen die Eltern im Prinzip auch die Erlaubnis des Friedensrichters beantragen.
Die Vormundschaft wird in folgenden Fällen eröffnet:
o
o
o
3.
Ableben des Vaters und der Mutter;
Vater und Mutter sind gesetzlich unbekannt;
Vater und Mutter ist es grundsätzlich unmöglich, die elterliche Gewalt auszuüben. Diese Unmöglichkeit wird durch das Gericht Erster Instanz auf Antrag
des Prokurators festgestellt (außer bei Entmündigung, verlängerte Minderjährigkeit und erklärter oder vermuteter Abwesenheit). Der Prokurator handelt
von Amts wegen oder auf Antrag jeder Person, die ein Interesse an einer derartigen Feststellung hat. Der 12-jährige Minderjährige wird getrennt durch das
Gericht angehört.
Zuständiger Friedensrichter
Der zuständige Friedensrichter ist der des Wohnsitzes des Mündels und in Ermangelung eines Wohnsitzes der des Aufenthaltsortes. Der Friedensrichter bleibt immer zuständig, auch beim Wechsel des Wohnsitzes des Mündels.
Dennoch kann der Friedensrichter von Amts wegen oder auf Anfrage des Vormundes
den Fall an den Friedensrichter des Wohnortes oder des Aufenthaltsortes des Mündels
übergeben. In diesem Fall ist dieser Friedensrichter verpflichtet, den Fall anzunehmen.
4.
Bezeichnung des Vormundes
Die Eltern können einen Vormund durch Testament, Erklärung vor dem Friedensrichter
oder vor dem Notar bezeichnen. Beim Ableben eines der Elternteile bleibt diese Erklärung gültig, es sei denn, der Überlebende widerruft sie oder bezeichnet einen anderen
Vormund. Jeder der Elternteile kann die gemeinsame Bezeichnung des Vormundes
ebenfalls einzeln widerrufen (z.B. bei Scheidung).
99
Wenn die bezeichnete Person die Vormundschaft annimmt, beglaubigt der Friedensrichter die Bezeichnung, es sei denn, schwerwiegende Gründe im Interesse des Kindes verbieten dies.
Wenn kein Vormund zuvor bezeichnet wurde, wählt der Friedensrichter eine Person,
die fähig ist, den Minderjährigen zu erziehen und seine Güter zu verwalten. Vorzugsweise bezeichnet er einen aus dem engen Familienkreis.
Die Bezeichnung erfolgt unter Vorraussetzung der Annahme des Betroffenen. Der
Mündel muss ab dem Alter von 12 Jahren vor der Bezeichnung seines Vormundes
angehört werden. Der Friedensrichter hört bzw. lädt die Großeltern, die volljährigen
Geschwister des Minderjährigen und Geschwister der Eltern des Minderjährigen vor.
Der Friedensrichter kann zudem jede andere Person anhören, wenn er dies für notwendig erachtet.
Der Friedensrichter kann einen Vormund für die Person und einen für die Güter des
Mündels bezeichnen. Der Friedensrichter regelt die eventuellen Konflikte zwischen den
beiden Vormunden. Für die Handlungen, die die Person und die Güter betreffen, ist
das Einverständnis beider Vormunde erforderlich.
Wenn der Vormund legitime Gründe vorträgt, kann der Friedensrichter ihn während der
Vormundschaft von seiner Funktion freistellen.
Wenn der Vormund die Vormundschaft nicht annimmt, muss das ÖSHZ die Vormundschaft übernehmen.
In keinem Fall Vormund sein dürfen:
-
Personen, die nicht frei über ihre eigenen Güter verfügen können;
Personen, denen durch den Jugendrichter Maßnahmen auferlegt wurden;
Personen, die einen offensichtlichen schlechten Lebenswandel haben;
Personen, deren Vermögensverwaltung Unfähigkeit und Untreue bestätigen;
Personen oder deren Ehepartner, Mitbewohner, Nach- oder Vorfahren, die
einen Prozess mit dem Minderjährigen führen, von dem der bürgerliche
Stand, das Vermögen oder ein großer Teil des Vermögens des Minderjährigen betroffen sind.
Die Absetzung des Vormundes erfolgt durch den Friedensrichter von Amts wegen, auf
Antrag der Staatsanwaltschaft oder des Gegenvormundes.
Die Funktion des Vormundes geht nicht auf die Erben über.
5.
Der Gegenvormund
In jeder Vormundschaft wird ein Gegenvormund bezeichnet. Dieser muss seine Funktion zuvor annehmen.
Wenn der Vormund verwandt oder verschwägert mit dem Minderjährigen ist, wird der
Gegenvormund vorzugsweise in der anderen Linie gewählt.
Der Gegenvormund überwacht den Vormund. Wenn er feststellt, dass dieser Fehler in
der Erziehung des Minderjährigen oder der Verwaltung seiner Güter begeht, informiert
er unverzüglich den Friedensrichter. Der Vormund muss mit dem Gegenvormund zusammenarbeiten, um diesem die Ausübung seiner Kontrollfunktion zu ermöglichen.
100
Im Falle eines Interessenskonfliktes mit dem Vormund interveniert der Gegenvormund.
Im Fall eines Interessenskonfliktes mit dem Gegenvormund wird ein Vormund ad hoc
und eine Gegenvormund ad hoc bezeichnet.
Wenn die Funktion des Vormundes endet, wird der Gegenvormund nicht automatisch
Vormund. Der Gegenvormund hat die Verpflichtung, die Bezeichnung eines neuen
Vormundes zu beantragen.
6.
Aufgaben des Vormundes
Er versorgt den Minderjährigen. Er erzieht ihn nach den ggf. von den Eltern angewandten Prinzipien.
Er vertritt den Minderjährigen in allen zivilen Handlungen.
Er verwaltet die Güter des Minderjährigen als guter Familienvater und ist für den Schaden aufgrund einer schlechten Verwaltung verantwortlich. Er kann sich nach Erlaubnis
des Friedensrichters durch andere Personen Beistand suchen.
Er verwendet die Einkünfte des Minderjährigen, um den Unterhalt und die Pflege des
Mündels zu gewährleisten. Er beantragt die Anwendung der Sozialgesetzgebung für
den Minderjährigen.
Innerhalb des Monats nach Beginn seiner Funktion erstellt er ein Inventar über die Höhe des Vermögens des Minderjährigen. Der Friedensrichter kann die Frist auf 6 Monate verlängern. Wird das Inventar nicht in dieser Frist erstellt, beauftragt der Friedensrichter einen Notar damit auf Kosten des Vormundes.
Innerhalb eines Monats nach Hinterlegung des Inventars und nach Anhörung des Vormundes, des Gegenvormundes und des Minderjährigen ab dem Alter von 15 Jahren
legt der Friedensrichter den Handlungsspielraum des Vormundes fest.
Der Vormund muss die vorherige Erlaubnis (je nach Reife des Minderjährigen kann er
zuvor angehört werden) für folgende Handlungen beantragen:
-
Den Verkauf von Gütern des Minderjährigen mit Ausnahme von nicht brauchbaren Gegenständen;
Anleihen aufnehmen;
Güter des Minderjährigen als Sicherheit geben oder eine Hypothek auf Güter
aufnehmen;
einen Mietvertrag über 9 Jahre abschließen und die Erneuerung eines geschäftlichen Mietvertrags;
eine Erbschaft ablehnen oder annehmen ohne Inventarantrag;
eine Schenkung annehmen;
den Minderjährigen vor Gericht vertreten (außer beim einverständlichen Teilungsverfahren, Antrag auf Versiegelung, Erstellung des Inventars bei einer
Erbschaft);
einen Unteilbarkeitspakt abschließen;
eine Immobilie kaufen;
Einwilligung eines Antrags oder eines Gerichtsurteils;
einen Vergleich oder eine Vergleichskonvention abschließen;
einen Handel weiterführen, den der Minderjährige aufgrund einer Erbschaft
erhalten hat;
Andenken oder andere persönliche Gegenstände von geringem Wert verkaufen. Sie werden im Prinzip bis zur Volljährigkeit behalten.
101
Die Immobilien und beweglichen Güter werden öffentlich verkauft, es sei denn der Friedensrichter erlaubt den freihändigen Verkauf im Interesse des Minderjährigen.
Der Vormund und der Gegenvormund dürfen nur mit Erlaubnis des Friedensrichters
Güter des Minderjährigen anmieten. Der Friedensrichter bestimmt die Modalitäten.
Grundsätzlich dürfen der Vormund und der Gegenvormund nicht die Güter des Minderjährigen kaufen.
7.
Konflikte zwischen dem Minderjährigen und dem Vormund
Wenn gravierende Konflikte zwischen dem Minderjährigen und dem Vormund oder ggf.
mit dem Gegenvormund bestehen, kann der Mündel sich in den Angelegenheiten, die
seine Person betreffen ab dem 12. Lebensjahr (ab 15 Jahren für die Angelegenheiten,
die sein Vermögen betreffen) schriftlich oder mündlich an den Prokurator des Königs
wenden. Der Prokurator holt alle erforderlichen Informationen ein. Wenn er die Anfrage
des Minderjährigen als begründet ansieht „ruft“ er den Friedensrichter an, um den Konflikt zu lösen. Der Friedensrichter entscheidet nach Anhörung des Minderjährigen, des
Vormundes und des Gegenvormundes.
8.
Informationsmöglichkeit des Friedensrichters
Der Friedensrichter kann alle Maßnahmen treffen, um über sich ein Bild über die Familiensituation, die moralische und materielle Situation und Lebensbedingungen des Minderjährigen zu machen. Er kann insbesondere beim Prokurator eine Sozialuntersuchung durch den zuständigen Sozialdienst anfragen.
9.
Rechenschaftsablegung des Vormundes
Der Vormund hinterlegt beim Friedensgericht jährlich einen Rechenschaftsbericht bezüglich seiner Verwaltung. Diesen Bericht erhalten auch der Gegenvormund und der
Minderjährige ab 15 Jahren. Der Friedensrichter kann von Amts wegen oder auf Antrag
des Gegenvormundes den Vormund zwecks Erläuterung vorladen. Die Form und den
Inhalt des Rechenschaftsberichts wird durch Königlichen Erlass festgelegt.
Jährlich hinterlegt der Vormund auch einen Bericht über die Erziehung des Minderjährigen und über die Maßnahmen, die eine freie Entfaltung des Minderjährigen ermöglicht haben. Der Gegenvormund hat auch Einsicht in diesen Bericht.
Am Ende der Vormundschaft oder bei Übergabe muss der Vormund einen definitiven
Rechenschaftsbericht vorlegen. Vor Gutheißung des definitiven Rechenschaftsberichts
darf kein Vertrag zwischen dem Vormund und dem Minderjährigen abgeschlossen werden.
10.
Klagemöglichkeit des Minderjährigen
Die Klagemöglichkeit des Minderjährigen gegen den Vormund oder Gegenvormund
verjährt nach 5 Jahren ab dem Alter der Volljährigkeit, auch wenn der Minderjährige
zuvor für mündig erklärt wurde.
11.
Mündigkeitserklärung des Minderjährigen
Der Minderjährige ab 15 Jahren, der weder Vater noch Mutter hat, kann für mündig
erklärt werden, wenn der Vormund und der Gegenvormund ihn für fähig beurteilen. Der
Vormund und der Gegenvormund hinterlegen den Antrag beim Jugendgericht. Wenn
sie sich uneinig sind, hinterlegt einer der beiden den Antrag. In diesem Fall muss der
Jugendrichter denjenigen anhören oder zumindest vorladen, der den Antrag nicht gestellt hat.
102
Wenn der Vormund keine Schritte zur Mündigkeitserklärung unternommen hat, obwohl
einer oder mehrere Verwandten oder Schwager bis zum vierten Grad des Minderjährigen ihn diesbezüglich für fähig ansehen, können diese Personen beim Prokurator beantragen, dass dieser das Jugendgericht zwecks Mündigkeitserklärung befasst.
Der Minderjährige kann auch alleine den Antrag beim Prokurator einreichen. Dem
mündig erklärten Minderjährigen wird ein Pfleger zur Seite gestellt. Der mündig erklärte
Minderjährige darf mehr Handlungen als ein „normaler“ Minderjähriger tätigen, aber
weniger als ein Volljähriger.
103
Verwendete Kürzel
•
•
JHD:
BV:
•
•
•
JGD:
PFD:
UN-Kinderrechtskonvention:
•
B.V. :
•
KSÜ:
•
Brüssel IIbis-VO:
•
JSG:
•
LBU:
•
PMS-Zentrum:
•
•
TZÜ:
MDG:
•
I.P.P.J.:
•
•
SPZ :
DKF :
•
DPB:
•
PDG :
•
Mosaik:
•
•
•
SIA:
ÖSHZ:
ZBA:
Jugendhilfedienst
Belgische Verfassung von 1831
bereinigt (im belgischen Sprach
gebrauch spricht man von „koordiniert) am 17.02.1994
Jugendgerichtsdienst
Pflegefamiliendienst
Übereinkommen über die Rechte
der Kinder vom 20.11.1989
Belgische Verfassung (koordiniert
bereinigt) am 17.02.1994
Übereinkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht,
die Anerkennung, Vollstreckung
und Zusammenarbeit auf dem
Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maβnahmen zum
Schutz von Kindern vom
19.10.1996
EG-Verodnung Nr. 2201/2003
über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von
Entscheidungen in Ehesachen und
in Verfahren betreffend die elterliche
Verantwortung und zur Aufhebung
der Verordnung Nr. 1347/2000
Jugendschutzgesetz (straffällige
Jugendliche)
Laufbahnunterbrechung (im deutschen Sprachgebrauch mit dem
Begriff „Freistellung“ gleichzustellen)
Psycho-Medizinisch-Sozial Zentrum
Teilzeitunterricht
Ministerium der Deutschsprachigen Gemeinschaft
Institution public de protection de
la jeunesse (öffentliche
Jugendschutzeinrichtung)
Sozial Psycologisches Zentrum
Dienst für Kind und Familie
Dienststelle für Personen mit einer
Behinderung
Parlament der Deutschsprachigen
Gemeinschaft
Sozial pädagogisches Zentrum für
Kinder- und Jugendbetreuung
Soziale Integration und Alltagshilfe
Öffentliches Sozialhilfezentrum
Zentrale Behörde für Adoption in
der Deutschsprachigen Gemeinschaft
104
105
Länderbericht Niederlande
Vorwort
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
in zunehmendem Masse sind auch im Europäischen Bereich Bürger in Bewegung. Die
Grenzen zwischen den Staaten werden immer leichter passiert und dies bringt öfters
Schwierigkeiten mit sich.
Diese Schwierigkeiten entstehen auch durch verschiedene Gesetze in den angrenzenden Ländern. Entwicklungen im Europäischen Bereich geben für die Zukunft einige
Hoffnung für gemeinschaftliche Aktionen, aber am heutigen Tag ist dies leider noch
nicht so weit.
Im Bereich der Jugendhilfe sind schon seit Mitte der 90iger Jahre Initiativen entwickelt
worden, um die Probleme der grenzüberschreitenden Mobilität einschätzen und gut
darauf reagieren zu können.
So gibt es einige Übereinkommen zwischen dem Landesverband Rheinland und dem
Bureau Jeugdzorg Limburg über die Jugendhilfe an deutsche Bürger, die in der Provinz
Limburg wohnhaft sind. Dennoch gibt es in diesem Kontext immer wieder Probleme.
In den letzten Jahren haben stets mehr Niederländer ihren Anlass gefunden, in die
Bundesrepublik Deutschland zu ziehen. Dasselbe gilt für grenzüberschreitende Wohnortwechsel von belgischen und niederländischen Bürgern.
Im Jahr 2005 hat eine Arbeitsgruppe des LVR die Initiative ergriffen, einen Vergleich
der Rechtssysteme der drei Länder zu erstellen. Diese Zusammenarbeit ist durch uns
stark unterstützt worden. Ein Ergebnis dieser Arbeitsgruppe ist diese Broschüre, die ich
Ihnen gerne empfehlen möchte.
Es bestand hier eine enge Zusammenarbeit von Praktikern der Jugendhilfe aus den
drei Ländern. Dabei geht es um de Raad voor de Kinderbescherming und das Bureau
Jeugdzorg Limburg aus der Provinz Limburg, um die Deutschsprachige Gemeinschaft
Belgiens und um das Landesjugendamt Rheinland (LVR) und die Jugendämter des
Kreises Heinsberg und der Stadt Herzogenrath.
Die Arbeitsgruppe wurde fachlich sehr gut unterstützt durch die Fachhochschule Köln,
wobei Frau Prof. Kötter und Frau Prof. Oberloskamp diese Broschüre durch ihre Arbeit
möglich gemacht haben. Die Rechtsanwältin Frau Handelmann und Herr Prof. Roggendorf von der Fachhochschule Aachen haben durch ihr Engagement mit daran gearbeitet, dass hier eine professionelle Arbeit vorliegt, die hoffentlich in der Praxis der
Jugendhilfe viel genutzt wird.
Ich bin froh, dass wir, als Provinz Limburg, die Erstellung der Broschüre durch die
Übernahme der Dolmetscherkosten erheblich unterstützen konnten.
Ich wünsche allen Teilnehmern einen schönen und erfolgreichen Tag am 27. November und hoffe, dass diese Broschüre ein Ansatz ist, für die weitere Zusammenarbeit im
grenznahen Bereich.
Odile Wolfs
Deputierte Jeugdzorg der Provinz Limburg
106
107
Länderbericht Niederlande
Die Jugendhilfe in der Provinz Limburg
Prof. Dr. Ute Kötter, Fachhochschule Köln
unter Mitwirkung von
Hein Engels, Bureau Jeugdzorg Limburg und
Ilona Pijls, Raad voor de Kinderbescherming Maastricht
Inhaltsangabe
A.
Begriff und Aufgabe der Jugendhilfe
111
1.
Begriff der Jugendhilfe
111
2.
Aufgaben der Jugendhilfe
111
B.
Rechtliche und politische Rahmenbedingungen
112
I.
Verfassungsrechtliche Grundlagen der Jugendhilfe
112
II.
Internationalrechtliche Grundlagen der Jugendhilfe
112
1.
Supranationale Rechtsquellen
112
2.
Staatsvertragliche multilaterale Rechtsquellen
113
Nationale Rechtsgrundlagen der Jugendhilfe
114
1.
Gesetze
114
2.
Nachrangige Gesetzgebung
115
III.
IV.
Jugendhilfe im System des Wohlfahrtsstaates
115
1.
Die Förderung von Kindern und Jugendlichen durch finanzielle
Zuwendungen an sie oder ihre Eltern
115
1.1
115
1.2
1.3
1.4
1.5
1.6
2.
Freistellung wegen Schwangerschaft, Geburt,
Kindererziehung, Pflege
Kindergeld
Besondere Leistungen für behinderte Kinder
Leistungen bei Kinderbetreuung durch Dritte
Leistungen bei Unterhaltsausfall
Sonstige Sozialleistungen und steuerliche Regelungen
117
117
118
118
119
Das Bildungssystem
119
2.1 Kindergarten
2.2 Grundschule
2.3 Weiterführende Schule
2.4 Berufsbildender Unterricht
2.5 Hochschule
2.6 Akademische Grade
2.7 Erwachsenenbildung
2.8 Kosten der Bildung
120
120
120
121
121
122
122
122
108
123
C.
Strukturmerkmale der Jugendhilfe
I.
Rechtsstellung von Eltern und Kindern im Rahmen der Jugendhilfe 123
II.
1.
Anspruch auf Jugendhilfe
123
2.
Eltern
123
3.
Elterliche Sorge
123
Öffentliche Jugendhilfe als Teil der staatlichen Verwaltung
125
1.
Staatsaufbau und Verwaltungsstruktur
125
1.1 Das Reich
1.2 Die Provinzen
1.3 Die Gemeinden
125
126
126
Die Doppelstruktur der Jugendhilfe
126
2.1 Büro für Jugendhilfe (Bureau Jeugdzorg)
2.2 Jugendschutzbehörde (Raad voor de Kinderbescherming)
127
128
Die Leistungserbringung
128
2.
3.
D.
Das Leistungsrecht
129
I.
Rechtsanspruch auf indizierte Jugendhilfe
129
II.
Arten von Jugendhilfe
130
1.
Der Anspruch auf Jugendhilfe gem. Art. 3 Wjz i. V. m. Art. 2 UWjz
130
1.1 Jugendhilfe i. e. S.
1.2 Unterbringung
1.3 Observationsdiagnostik
130
131
133
2.
Leistungen psychischer Gesundheitsfürsorge
133
3.
Hilfen für leicht geistig behinderte Jugendliche
133
4.
Unterbringung in einer justiziellen Jugendeinrichtung als zivilrechtliche
Kinderschutzmaßnahme
133
5.
Nicht-indizierte Jugendhilfe
133
6.
Adoption
134
6.1 Allgemeines
6.2 Verfahren
6.3 Voraussetzungen der Adoption
6.4 Folgen der Adoption
134
135
135
136
109
III.
IV.
Die Finanzierung der Jugendhilfe
136
1.
Grundsätze
136
2.
Beitrag der Eltern
137
Verfahren und gerichtliche Kontrolle
137
1.
Antrag
137
2.
Feststellung des Hilfebedarfs/ Indikationsstellung
138
3.
Erbringung von Leistungen der Jugendhilfe
138
4.
Evaluation der Leistungserbringung und Nachsorge
139
5.
Mitbestimmung der Klienten
139
5.1 Beteiligungsrechte
5.2 Vertrauensperson
5.3 Klientenrat
139
140
140
Außergerichtliche und gerichtliche Kontrolle
140
6.1 Überblick
6.2 Beschwerdeverfahren in der Jugendhilfe
6.3 Das Beschwerdeverfahren bei Maßnahmen des Kindesschutzes
140
140
141
6.
V.
Das Leistungserbringerrecht
142
1.
Die Leistungserbringer
142
2.
Die Planung
142
2.1 Die Planung durch die Provinzen
2.2 Die Planung durch das Reich
142
143
Qualitätssicherung
144
3.
F.
Andere Aufgaben der Jugendhilfe
144
I.
Allgemeines
144
II.
Gerichtlicher Kindesschutz und Mitwirkung der Jugendbehörden
145
1.
Einleitung des Verfahrens des Kinderschutzes
145
2.
Die Untersuchung
145
3.
Schutzaufsicht
146
3.1 Voraussetzungen der Schutzaufsicht
3.2 Verfahren
3.3 Durchführung der Schutzaufsicht
3.4 Unterbringung (Uithuisplaatsing) Art. 1:261 BW
146
146
147
148
110
4.
5.
6.
Suspension und Entzug der elterlichen Sorge
148
4.1 Die Suspension der elterlichen Sorge
4.2 Der Entzug der elterlichen Sorge
148
149
Rechtliche Fürsorge für Minderjährige
149
5.1 Die Bestellung eines Vormunds
5.2 Die Bestellung eines Pflegers
149
150
Mitwirkung der Jugendbehörden bei den Aufgaben der Gerichte
150
6.1 Die Mitwirkung der Jugendbehörden im Verfahren der Ehescheidung
6.2 Die Mitwirkung der Jugendhilfebehörden im Jugendstrafverfahren
6.3 Jugendbewährungshilfe
150
150
151
111
A.
Begriff und Aufgabe der Jugendhilfe
1.
Begriff der Jugendhilfe
In den Niederlanden ist der Begriff Jugendhilfe (jeugdzorg) 71 in Art. 1c Wet op de
Jeugdzorg (Wjz) 72 gesetzlich definiert. Das am 1.1.2005 73 in Kraft getretene Gesetz
über die Jugendhilfe regelt mit der Definition des Begriffs Jugendhilfe seinen sachlichen Anwendungsbereich. Gem. Art. 1c Wjz ist Jugendhilfe die Unterstützung von und
Hilfe für Jugendliche, ihre Eltern, Stiefeltern oder andere, die einen Jugendlichen als
Teil ihrer Familie versorgen und erziehen, bei Entwicklungs- und Erziehungsproblemen
oder beim Drohen solcher Probleme. Der Begriff der Jugendhilfe des Art. 1c Wjz umfasst dabei auch die Hilfe und Unterstützung bei Entwicklungs- und Erziehungsproblemen für Jugendliche mit psychischen Problemen oder geistig behinderte Jugendliche
und ihre Eltern, und die Erziehungs- und Entwicklungshilfe für Jugendliche, die aufgrund eines (zivil-) richterlichen Beschlusses in einer Einrichtung für Jugendliche untergebracht sind.
Schließlich zählen zur Jugendhilfe auch die allgemein an Kinder und Jugendliche gerichteten Maßnahmen der Jugend(sozial)arbeit oder der Schulsozialarbeit, die in anderen Gesetzen als dem Gesetz über die Jugendhilfe geregelt sind. 74 Das Wet op de
Jeugdzorg sieht insoweit eine Abstimmung zwischen den Maßnahmen der allgemeinen
Kinder- und Jugendarbeit und der Jugendhilfe im Sinne des Wet op de Jeugdzorg vor.
Zur Jugendhilfe werden aber nicht nur die freiwilligen Leistungen nach dem Wet op de
Jeugdzorg gezählt, sondern auch zwingende Maßnahmen des Kinder- und Jugendschutzes bei pädagogisch oder physisch verwahrlosten Jugendlichen oder bei physisch oder psychisch misshandelten Jugendlichen auf der Basis der Bürgerlichen Gesetzbuchs (Burgerlijk Wetboek – BW). 75
Jugendhilfe ist daher die Gesamtheit von freiwilligen und zwingenden Hilfen bei drohenden oder bereits bestehenden Entwicklungs- und Erziehungsproblemen von Jugendlichen.
2.
Aufgaben der Jugendhilfe
Aus der Definition des Begriffs Jugendhilfe lässt sich als Aufgabe der Jugendhilfe die
Unterstützung und Hilfe bei Erziehungs- und Entwicklungsproblemen von Jugendlichen
ableiten. Die Rechtsgrundlagen für diese Hilfe und Unterstützung finden sich in verschiedenen Gesetzen: für die Jugendhilfe im engeren Sinn im Wet op de Jeugdzorg,
für die psychologische und psychiatrische Jugendhilfe und Jugendhilfe für leicht geistig
behinderte Jugendliche im Algemene Wet Bijzondere Ziektekosten (AWBZ), für die
Unterbringung in einer justiziellen Jugendeinrichtung im Beginselenwet Justitiële Jeugdinrichtingen und für die kommunale Jugendhilfe im Wet Maatschappelijke Ondersteuning (WMO). 76
71
Der Begriff jeugdzorg ist ein modernerer Terminus technicus, der die älteren Begriff jeugdhulpverlening
und jeugdbescherming ersetzt.
72
Gesetz über die Jugendhilfe.
73
Davor galt das Wet op de jeugdhulpverlening (wjhv). Zum Wet op de Jeugdzorg vgl. K.S. Klompe-Toet,
PS-special: Wet op de jeugdzorg, Deventer, 2005; A.A.W. van Unen, Wet op de jeugdzorg. Tekst en uitleg, Den Haag, 2005.
74
J.E. Doek, P. Vlaardingerbroek, Jeugdrecht en jeugdzorg, 5. Aufl., Den Haag, 2006, S. 589.
75
Vgl. Doek/Vlaardingerbroek, S. 696 ff.; Klompe-Toet, S. 31.
76
Zu den Gesetzen im Einzelnen vgl. unten.
112
B.
Rechtliche und politische Rahmenbedingungen
I.
Verfassungsrechtliche Grundlagen der Jugendhilfe
Die niederländische Verfassung (Grondwet - GW) enthält kein ausdrückliches Recht
auf Jugendhilfe. In der Diskussion um die Einführung des neuen Wet op de Jeugdzorg
wurde auch die Verankerung eines Grundrechts auf Jugendhilfe in der Verfassung diskutiert. Dieser Vorschlag wurde jedoch aus grundsätzlichen und finanziellen Gründen
verworfen.
In der Literatur wird aus Art. 22 Abs. 1 GW eine Pflicht des Staates (insb. der Legislative und der Exekutive) abgeleitet, ausreichende Möglichkeiten der Gesundheitsversorgung für den Bürger sicherzustellen. Art. 22 Abs. 1 GW regelt, dass der Staat Maßnahmen zur Förderung der Volksgesundheit ergreift: „De overheid treft maatregelen ter
bevordering van de volksgezondheid.“ Dazu zählen sowohl die körperliche als auch die
geistige Gesundheitsversorgung, wozu auch die Jugendhilfe gerechnet wird. 77 Es
handelt sich hierbei nicht um ein klassisches (Abwehr-)Grundrecht, sondern um ein
soziales Grundrecht. Soziale Grundrechte sind in Art. 18 – 23 GW geregelt. Sie sind
Teile des Sozialstaatsgebots. Aus ihnen lassen sich jedoch keine unmittelbaren
Rechtsansprüche des Bürgers gegen den Staat ableiten.
Eine Verpflichtung des Staates zum Schutz der Kinder (staatliches Wächteramt) findet
sich in der niederländischen Verfassung nicht. Allerdings stützt sich das in § 245 Bürgerliches Gesetzbuch geregelte Verbot der Anwendung von Gewalt von Eltern gegenüber ihren Kindern auf das in Art. 11 GW geregelte Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit.
Ein staatliches Wächteramt wird darüber hinaus aus internationalen Normen abgeleitet. 78 Art. 3 Un-KInderrechtskonvention enthält einen Auftrag an den Staat, Kindern den
Schutz und die Sorge zu sichern, die sie benötigen. Vorrangig verantwortlich für diesen
Schutz und diese Sorge sind die Eltern. Wenn diese ihre Aufgabe nicht erfüllen können
oder Probleme bei der Erziehung haben, muss der Staat sie unterstützen. Wenn das
Kind vor seinen Erziehungsberechtigten geschützt werden muss, muss der Staat intervenieren. 79
II.
Internationalrechtliche Grundlagen der Jugendhilfe
1.
Supranationale Rechtsquellen
Gemäß Art. 92 GW können die Niederlande durch völkerrechtliche Verträge Hoheitsrechte auf völkerrechtliche Organisationen übertragen. Soweit diese zur Rechtssetzung
befugt sind, gilt dann ihr Recht vorrangig vor dem nationalen Recht.
Die Niederlande sind Gründungsmitglied der Europäischen Gemeinschaften. Die Normen der Europäischen Union sind grundsätzlich vorrangig vor nationalem Recht. Während europäische Richtlinien gem. Art. 249 EGV noch in nationales Recht umgesetzt
werden müssen, bevor sie unmittelbar anwendbar sind, gelten europäische Verordnungen direkt. Im Bereich der Jugendhilfe sind vor allem zwei EG-Verordnungen bedeutsam:
•
die VO (EG) Nr. 1347/ 2000 des Rates über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren
betreffend die elterliche Verantwortung für die gemeinsamen Kinder der Ehegatten vom 29.5.2000 80 (Sprachgebrauch: „Brüssel II“),
77
Van der Linden, Om wie het gaat in het jeugdbeschermingsrecht, in FJR 1995, 8, S. 174.
78
Doek/Vlaardingerbroek, S. 30 f.
79
Vgl. Doek/Vlaardingerbroek, S. 588.
80
ABl. EG 2000, Nr. L 160, S. 19.
113
•
die VO (EG) Nr. 2201/ 2003 des Rates über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren
betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der VO (EG) Nr.
1347/ 2000 vom 27.11.2003 81 (Sprachgebrauch: „Brüssel IIa“), die die Verordnung Brüssel II weitestgehend abgelöst hat.
2.
Staatsvertragliche multilaterale Rechtsquellen
Die Niederlande haben eine Reihe von internationalen Verträgen geschlossen, die Bedeutung für den Bereich der Jugendhilfe haben. Ihre unmittelbare rechtliche Bindungswirkung gegenüber den Bürgern hängt davon ab, dass diese Verträge vom Parlament
ratifiziert worden sind (Art. 91 GW). Art. 93 GW bestimmt, dass Vertragsbestimmungen
und Beschlüsse völkerrechtlicher Organisationen in den Niederlanden, die sich ihrem
Inhalt nach an jedermann richten, rechtsverbindlich sind, sobald sie bekannt gemacht
wurden. Sie haben dann Vorrang vor nationalem niederländischem Recht (Art. 94
GW). Niederländische Gesetze, die nicht mit den vorrangigen internationalen Normen
vereinbar sind, dürfen nicht angewandt werden. Daneben gibt es noch internationale
Verträge, die nur die vertragszeichnenden Staaten binden und die keine unmittelbare
Wirkung im nationalen Recht haben.
Zu den multilateralen Verträgen mit Bezug zur Jugendhilfe zählen die folgenden Abkommen: die UN-Kinderrechtskonvention (IVRK), das Haager Minderjährigenschutzabkommen (MSA), das Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ) und das Kinderschutzübereinkommen (KSÜ). 82
Die von den Niederlanden am 24.11.1994 83 ratifizierte UN-Kinderrechtskonvention vom
20.11.1989 (Internationale Verdrag inzake de Rechten van het Kind - IVRK) hat für die
Jugendhilfe eine besondere Bedeutung. 84 Zwar sind die darin festgelegten Standards
zum Schutz der Kinder kein unmittelbar geltendes Recht. Die Konvention entfaltet ihre
Wirkung aber über die Verpflichtung der Vertragspartner zu einer den Anforderungen
der Konvention entsprechenden Ausgestaltung ihres nationalen Rechts. Die Einhaltung
dieser Verpflichtung wird durch das Kinderrechtskomitee der Vereinten Nationen anhand der periodisch durch die Unterzeichnerstaaten zu erstellenden Berichte überprüft.
Die von der Kinderrechtskommission festgestellten Defizite in der Kinder- und Jugendhilfepolitik der Niederlande waren Anlass für den Nationalen Aktionsplan Kinder 2004
(Nationaal Actieplan Kinderen 2004), in dessen Zuge die Regelung, die den Eltern die
Anwendung von psychischer und physischer Gewalt bei der Erziehung ihrer Kinder
untersagt, in das Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen wurde. Die Kinderrechtskonvention bildete auch einen wichtigen Maßstab für das neue Wet op de Jeugdzorg. 2007
soll dem Kinderrechts-Komitee der Vereinten Nationen ein neuer niederländischer Bericht vorgelegt werden, der eine Übersicht über die Entwicklungen in den letzten fünf
Jahren enthält.
Unmittelbar in den Niederlanden geltendes Recht enthält die Konvention zum Schutz
der Menschenrechte und Grundfreiheiten 85 des Europarats. Nach Erschöpfung des
nationalen Rechts können sich alle Bürger der Niederlande vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte darauf berufen. Für den Bereich der Jugendhilfe spielt
vor allem Art. 8 EMKR eine Rolle. Er schützt das Familienleben und lässt einen
81
ABl. EG 2003, Nr. L 338, S.1.
82
Haagse Kinderbeschermingsverdrag 1996, Gesetz vom 16.2.2006, Stb. 2006, 122.
83
Stb. 1994, 862. Die UN-Kinderrechtskonvention ist am 8.3.1995 in den Niederlanden in Kraft getreten.
84
Zur Bedeutung der UN-Kinderrechtskonvention für Pflegekinder vgl. A.P. Versteeg/A.M. Weterings, De
onbeschermde positie van het pleegkind, een juridisch en maatschappelijk probleem met en o.a. aandacht voor de betekenis van de artikelen 3, 16, en 20 IVRK, in: FJR 2000 (7/8), S. 161 – 166.
85
Gesetz vom 28.7.1954. Der Verdrag tot Bescherming van de Rechten van de Mens en Fundamentele
Vrijheden ist am 31.8.1954 in den Niederlanden in Kraft getreten.
114
behördlichen Eingriff nur zu, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwenig ist. 86
III.
Nationale Rechtsgrundlagen der Jugendhilfe
1.
Gesetze
Das Gesetz über die Jugendhilfe (Wet op de Jeugdzorg - Wjz) 87 bildet seit dem
1.1.2005 die wichtigste gesetzliche Grundlage der Jugendhilfe. Es regelt den Anspruch
auf Jugendhilfe und den Zugang zur Jugendhilfe. Es regelt darüber hinaus die Planung, Steuerung, Finanzierung der Jugendhilfe nach dem Wet op de jeugdzorg.
Die Ansprüche auf psychische Gesundheitsversorgung von Jugendlichen und die Jugendhilfe für geistig behinderte Jugendliche finden sich hingegen weiterhin im Algemene Wet Bijzondere Ziektekosten (AWBZ - Allgemeines Gesetz Besondere Krankheitskosten) 88. Das AWBZ ist die Rechtsgrundlage der niederländischen Kranken- und
Pflegevolksversicherung.
Die Rechtsgrundlagen für die Unterbringung eines Jugendlichen in einer stationären
justiziellen Einrichtung sind im Beginselenwet Justitiële Jeugdinrichtingen (BJJ Grundsatzgesetz Justizielle Jugendeinrichtungen) 89 enthalten.
Für die allgemeine Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit und Schulsozialarbeit gilt seit dem
1.1.2007 das Gesetz Soziale Unterstützung (Wet Maatschappelijke Ondersteuning –
WMO), 90 das das Welzijnswet 1994 ablöst. Es regelt die Kooperationsebenen und Beziehungen zwischen den nationalen, provinzialen und kommunalen Behörden im sozialen Bereich, darunter auch die Bereiche der sozialen Wohlfahrt, die Jugendliche besonders betreffen. Diese allgemeine Jugendarbeit und (Jugend-)Sozialarbeit fällt in den
Zuständigkeitsbereich der Gemeinden. Mit dem Wet Maatschappelijke Ondersteuning
wurde den Gemeinderäten eine größere Verantwortung für die allgemeine Jugendarbeit und (Jugend-)Sozialarbeit zugewiesen (Art. 9 WMO). Die Kommunen haben mit
dem Ministerium für Jugend und Familie der Regierung Balkenende IV eine Vereinbarung geschlossen, nach der in jeder Gemeinde ein Zentrum für Jugend und Familie
unter Verantwortung der Gemeinden errichtet werden soll, das für die Beantwortung
einfacher Erziehungsfragen zuständig ist.
Die letztgenannten Gesetze und sie ergänzende Gesetze, wie das Kwaliteitswet Zorginstellingen (Qualitätsgesetz Pflege- und Gesundheitseinrichtungen), 91 Gezondheidswet (Gesundheitsgesetz) 92, enthalten auch Bestimmungen über die Steuerung, die
Finanzierung und die Aufsicht der Jugendhilfe. Der Zugang zu allen Formen der Jugendhilfe erfolgt jedoch einheitlich auf der Basis der Bestimmungen des Wet op de
jeugdzorg über das jeweilige Büro für Jugendhilfe.
86
Zur Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention für den rechtlichen Status von Pflegefamilien vgl. M.L.C.C. de Bruijn-Lückers, Pleegzorg met visie en het EVRM, in: FJR 2000 (11), S. 252, 253).
87
Gesetz vom 22.4.2004, Stb. 2004, 306.
88
Gesetz vom 14.12.1967, Stb. 1967, in der bereinigten Fassung Stb. 1992,392.
89
Vom 2.11.2001, Stb. 2001, 481.
90
Gesetz vom 29.6.2006, Stb. 2006, 351.
91
Gesetz vom 18.1.1996, Stb. 1996, 80.
92
Stb. 1956,51, zuletzt geändert durch Gesetz vom 20.10.2006, Stb. 2006, 555.
115
2.
Nachrangige Gesetzgebung
Die Gesetze können durch Rechtsverordnungen der Regierung, Algemene Maatregel
van Bestuur (AmvB), 93 und der Ministerien (Ministeriële Regeling) weiter konkretisiert
werden. 94
Wichtige Rechtsverordnungen zum Wet op de Jeugdzorg sind
die Verordnung zur Ausführung des Gesetzes über die Jugendhilfe (Uitvoeringsbesluit Wet op de jeugdzorg - Uwjz) 95, die Einzelheiten der Rechtsansprüche auf
Jugendhilfe, die Ansprüche von Ausländern auf Jugendhilfe, die Formen der psychischen Gesundheitsfürsorge für Jugendliche, die Ansprüche in Eilfällen, den
Inhalt des Indikationsbeschlusses des Büro für Jugendhilfe, die Qualität und Arbeitsweise der Büros für Jugendhilfe, die Zusammenarbeit zwischen der Stiftung
Büro für Jugendhilfe und dem Kinderschutzbehörde, die Rechtspersönlichkeit
und die Aufgaben der Vertrauensperson für die Klienten der Jugendhilfe und die
eigenen Beiträge der Klienten zu den Kosten der Jugendhilfe regelt,
die befristete Verordnung über die Leistungen der Jugendhilfe (Tijdelijk besluit
uitkeringen jeugdzorg),
die Übergangsregelung Planung Jugendhilfe (Overgangsregeling planning jeugdzorg),
die Reichssubventionsregelung zur Finanzierung der Jugendhilfe (Rijsksubsidieregeling bekostiging jeugdzorg),
die Regelung zur Finanzierung der Jugendhilfe (Regeling bekostiging jeugdzorg),
die Regelung über Normbeträge Jugendhilf (Regeling normbedragen jeugdzorg).
Die Verordnung zu den justiziellen Jugendeinrichtungen (Reglement justitiële jeugdinrichtingen 96) regelt Einzelheiten der Unterbringung von Jugendlichen in justiziellen Jugendanstalten.
VI.
Jugendhilfe im System des Wohlfahrtsstaates
Der niederländische Staat unterstützt die Eltern bei der Versorgung und Erziehung
ihrer minderjährigen Kinder durch Sozialleistungen 97 und durch die Gewährleistung
eines qualitativ hochwertig und quantitativ ausreichenden Bildungssystems.
1.
Die Förderung von Kindern und Jugendlichen durch finanzielle Zuwendungen an sie oder ihre Eltern
1.1
Freistellung wegen Schwangerschaft, Geburt, Kindererziehung, Pflege 98
Das Wet Arbeid en Zorg 99, das am 1.12.2001 in Kraft getreten ist, regelt Rechtsansprüche auf Freistellung von der arbeitsvertraglichen Arbeitspflicht bei Schwanger-
93
Art. 89 Grondwet.
94
Vgl. J.W.P. Verheugt, Inleiding in het Nederlandse Recht, 9. Aufl., Gouda, 1997, S. 60 f.
95
Gesetz vom 16.12.2004, Stb. 2004, 703.
96
Stb. 2001, 350.
97
Zu den folgenden Sozialleistungen vgl. De kleine gids voor de Nederlandse Sociale Zekerheid, Kluwer,
2007.1.
98
Vgl. dazu die Angaben auf der Website des Ministeriums für Soziale Angelegenheiten und Arbeit (Ministerie voor Sociale Zaken en Werkgelegenheid - SZW): www.szw.nl
99
Gesetz vom 29.11.2001, Stb. 2001, 568.
116
schaft, Geburt, Wochenbett, Adoption, Pflege, Erziehung und Unterbrechung der Arbeit. Während der Freistellung besteht weiterhin Versicherungspflicht in den Sozialversicherungen. Bei manchen Formen der Freistellung bestehen Ansprüche auf (teilweise)
Lohnfortzahlung und/oder Sozialleistungen in Höhe von 100 % des früheren Lohns bis
zu einer Maximumgrenze. Ansprüche auf Sozialleistungen haben auch Selbständige.
Das Gesetz regelt auch Ansparoptionen für Arbeitnehmer/innen zur Finanzierung der
Freistellungsperioden.
1.1.1 Schwangerschaft
Bei Schwangerschaft haben Arbeitnehmerinnen einen Anspruch auf mindestens 16
Wochen Schwangerschaftsurlaub (zwangerschaps- en bevallingsverlof). Die Schwangere kann im Zeitraum von sechs bis vier Wochen vor dem berechneten Geburtstermin
selbst den Anfangtermin für den Schwangerschaftsurlaub bestimmen. In diesem Zeitraum wird eine Sozialleistung in Höhe des früheren Gehalts, aber höchsten in Höhe
des Maximaltageslohns 100 gewährt.
Der Partner der Schwangeren hat nach der Geburt Anspruch auf zwei Tage Urlaub mit
Lohnfortzahlung (kraamverlof). Der Urlaub muss innerhalb von vier Wochen nach der
Geburt des Kindes genommen werden. Während dieser Zeit wird das Gehalt in voller
Höhe weiterbezahlt.
1.1.2 Adoption bzw. Aufnahme eines Pflegekindes
Arbeitnehmer/innen und Selbständige haben bei Adoption eines Kindes oder bei Aufnahme eines Pflegekindes einen Rechtsanspruch auf Adoptions- bzw. Pflegeurlaub
(adoptie-, pleegzorgverlof) im Umfang von vier Wochen um den Zeitpunkt der Adoption
bzw. der Aufnahme des Pflegekindes herum. In dieser Zeit haben sie Anspruch auf
eine Sozialleistung in Höhe ihres Erwerbseinkommens bis zu einer maximalen Höhe
eines Tageslohns. Sowohl der Schwangerschafts-, als auch der Adoptions- bzw. Pflegeurlaub müssen spätestens drei Wochen vor Beginn des Urlaubs beim Arbeitgeber
gemeldet werden.
1.1.3 Erziehungsurlaub
Arbeitnehmer/innen, die seit mindestens einen Jahr in einem Arbeitsverhältnis stehen,
haben Anspruch auf unbezahlten Teilzeiturlaub zur Versorgung und Erziehung von
Kindern bis zum Alter von acht Jahren. Voraussetzung für diesen Erziehungsteilzeiturlaub (Ouderschapsverlof) ist, dass der Arbeitnehmer/die Arbeitnehmerin ihre Arbeitszeit um höchstens die Hälfte der normalen Zeit für ein halbes Jahr reduziert. Es kann
auch eine höhere Reduzierung der Arbeitszeit für einen kürzeren Zeitraum oder eine
niedrigere Reduzierung für einen längeren Zeitraum gewählt werden.
Der Erziehungsurlaub dauert in der Regel 13-mal die wöchentliche Arbeitszeit und wird
nicht bezahlt. Es besteht aber die fiskalisch begünstigte Möglichkeit, einen Teil des
Bruttolohns für Zeiten der Freistellung anzusparen (levensloopregeling). Sinkt das Einkommen unter das Sozialhilfeniveau, kann Sozialhilfe beantragt werden, ohne dass
eine Pflicht zur Bewerbung besteht.
1.1.4 Urlaub wegen Erkrankung von Familienangehörigen
Bei Erkrankung des Kindes, des Partners oder eines Elternteils eines Arbeitnehmers/einer Arbeitnehmerin besteht ein Anspruch auf Pflegeurlaub (zorgverlof). Während des Pflegeurlaubs werden 70 % des Lohns bzw. wenigstens der Mindestlohn gezahlt. Die Höchstdauer des Pflegeurlaubs beträgt zweimal die wöchentliche Arbeitszeit
des/der Arbeitnehmers/Arbeitnehmerin.
100
Ab 1. Juli 2007 beträgt der maximale Tageslohn, der der Berechnung von Lohnersatzleistungen
zugrunde gelegt wird, €174,64.
117
1.1.5 Lebenslaufregelung
Das Wet Arbeid en Zorg ermöglicht es Arbeitnehmern, bis zu 12 % ihres Bruttojahreslohns einschließlich des Urlaubsgeldes für Perioden der Freistellung bis zu einem
Höchstbetrag von 2,1 Jahresgehältern zu sparen. Auf diesen Teil des Gehalts sind
Arbeitnehmerbeiträge zu den Sozialversicherungen zu entrichten, so dass lohnorientierte Sozialleistungen nicht verringert werden. Der Arbeitgeber kann sich steuerfrei an
den Sparleistungen beteiligen. Der Arbeitnehmer bedarf der Zustimmung seines Arbeitgebers zur Freistellung. Diese kann jedoch nur bei besonders schwerwiegenden
betrieblichen oder beruflichen Interessen verweigert werden. Bei den oben genannten
gesetzlichen Freistellungsansprüchen kann die Zustimmung nicht verweigert werden.
1.2
Kindergeld
Das Allgemeine Kinderzulagengesetz (Algemene Kinderbijslagwet) 101 gewährt Eltern,
die in den Niederlanden wohnen und arbeiten, finanzielle Unterstützung bei der Versorgung oder dem Unterhalt von Kindern bis zum Alter von 18 Jahren. Der sog. Kinderzuschlag ist nach dem Alter der Kinder gestaffelt. Bei Kindern, die vor dem 1.1.1995
geboren wurden, richtet sich die Höhe des Zuschlags bei Kindern von 12 – 17 Jahren
auch nach der Anzahl der Kinder in der Familie: 102
Kinder geboren vor dem 1.1.1995
Für Kinder zwischen 12 und 17 Jahren in Familien mit:
1 Kind
2 Kindern
3 Kindern
4 Kindern
5 Kindern
6 Kindern
€ 267,40
€ 301,09
€ 312,20
€ 336,63
€ 351,28
€ 361,06
Kinder geboren am oder nach dem 1.1.1995
0 – 5 Jahre
6 – 11 Jahre
12 – 17 Jahre
1.3
€ 187,42
€ 227,58
€ 267,74
Besondere Leistungen für behinderte Kinder
Auf der Grundlage der Gesetzes über Zuschüsse zu den Unterhaltskosten zuhause
wohnender körperlich behinderter Kinder (TOG-Regeling) 103 können Eltern, die ein
behindertes Kind zu Hause versorgen, zusätzlich zum Kindergeld einen weiteren staatlichen Zuschuss zu den Unterhaltskosten erhalten. Die Leistung wird gewährt,
- wenn die Behinderung Folge einer körperlichen, geistigen oder seelischen
Krankheit ist, die auch die Aufnahme in eine stationäre Einrichtung rechtfertigen
würde,
- das Kind durch die Behinderung in höherem Umfang abhängig von Versorgung,
Begleitung und Aufsicht ist als ein Kind gleichen Alters
- und das Kind mindestens 3 Jahre alt und nicht älter als 17 Jahre ist.
101
Gesetz vom 26.4.1962, Stb. 160; bereinigt in Stb. 1990, 128.
102
Vgl. De kleine gids voor de nederlandse sociale zekerheid, 2007.1, S. 165 f.
Regeling Tegemoetkoming onderhoudskosten thuiswonende meervoudig en ernstig
lichamelijk gehandicapte kinderen, Staatscourant 1997, Nr. 67, S. 10 ff.
103
118
Seit dem 1.7.2007 beträgt die Höhe der Leistung € 206,24 pro Quartal. Die Leistung ist
steuerfrei und wird nicht auf den Kinderzuschlag (algemene Kinderbijslag) angerechnet.
1.4
Leistungen bei Kinderbetreuung durch Dritte
Seit dem 1.1.2005 besteht auf der Grundlage des Gesetzes über die Kinderbetreuung
(Wet Kinderopvang) 104 ein Rechtsanspruch auf einen staatlichen Zuschuss zu den
Kosten der Kinderbetreuung (kinderopvangtoeslag). Voraussetzung ist, dass beide
Eltern Erwerbstätigkeit und Kinderbetreuung kombinieren. 105 Der Zuschuss zu den
Kosten der Kinderbetreuung wird nur gezahlt, wenn das Kind in einer registrierten Kinderbetreuungseinrichtung untergebracht wird, z.B. bei einer Tagesmutter, in einer Kindertagesstätte oder einer Kindergrippe. Der Zuschuss setzt sich zusammen aus einem
Pauschalbetrag, der ein Drittel der Kosten der Kinderbetreuung abdeckt, und einem
einkommensabhängigen Teil. Seit dem 1.1.2007 muss der Arbeitgeber einen Teil des
Pauschalbetrags finanzieren. Der einkommensabhängige Teil des Kinderbetreuungszuschlags wird vom Staat getragen. Die Höhe dieses Teils des Kinderbetreuungszuschlags richtet sich nach dem Einkommen, der Art der Betreuung des Kindes und der
Anzahl betreuter Kinder in der Familie. Dabei sind die Kosten der Kinderbetreuung
gedeckelt: 2007 beträgt der maximale Stundentarif für Kindertagesstätten (dagopvang)
und Tagespflege durch Tagesmütter/väter für 0 – 4jährige Kinder € 5,86 und für Horte
und Tagespflege für 4 – 12jährige Kinder € 6,02. Der Kinderbetreuungszuschlag wird
vom Finanzamt ausgezahlt.
1.5
Leistungen bei Unterhaltsausfall 106
Eltern haben das Recht und die Pflicht ihre Kinder zu versorgen und zu erziehen (Art.
1:247 Abs. 1 BW). Eltern sind daher verpflichtet, die Kosten der Versorgung und Erziehung ihrer minderjährigen Kinder zu tragen (Art. 1:404 Abs. 1 BW). Diese Pflicht trifft
aber auch die Stiefeltern (Art. 1:404 Abs. 2 BW), den Partner eines Elternteils, der gemeinsam mit diesem die elterliche Sorge für das Kind hat (Art. 1:253sa, 253t – 253 w
BW) 107 und unter bestimmten Umständen 108 auch den leiblichen Vater eines (nicht von
ihm anerkannten) Kindes (Art. 1:394, 406a BW) und den Vormund (Art. 1:282 Abs. 6
BW). 109
Für volljährige Kinder, die noch studieren, besteht eine Unterhaltspflicht nur bis zum
21. Lebensjahr. Danach besteht die Unterhaltspflicht nur noch, wenn das Kind bedürftig ist und nicht für sich selbst sorgen kann. Die Unterhaltspflicht hängt von der wirt-
104
105
Gesetz vom 9.7.2004, Stb. 2004, 455.
Unter bestimmten Umständen besteht auch dann ein Anspruch, wenn nur ein Elternteil erwerbstätig
ist, z.B. wenn der andere eine Einkommensersatzleistung bezieht und an einer Maßnahme zur Reintegration in den Arbeitsmarkt teilnimmt. Vgl. De kleine gids voor de Nederlandse Sociale Zekerheid,
2007.1, S. 92.
106
Informationen in deutscher Sprache finden sich auf der Website des Europäischen justiziellen Netzes
für Zivil- und Handelssachen: http://ec.europa.eu/civiljustice/index_de.htm.
107
Übt eine Person, die kein Elternteil des Kindes ist, gemeinsam mit einem Elternteil des Kindes das
Sorgerecht für dieses Kind aus, so hat diese Person eine Unterhaltsverpflichtung gegenüber dem Kind
(Artikel 1:253w Bürgerliches Gesetzbuch). Der Unterhaltsanspruch besteht für eine ebenso lange Zeit
wie die gemeinsame elterliche Sorge gedauert hat. Sie endet jedenfalls mit dem 21. Geburtstag des
Kindes.
108
Der leibliche Vater eines Kindes ist verpflichtet, für den Unterhalt des von ihm gezeugten (nicht anerkannten) Kindes aufzukommen, solange das Kind keine rechtliche familiäre Beziehung zu ihm oder
zu einem anderen Mann besitzt (d.h., solange kein gesetzlicher Vater existiert).Dieselbe Verpflichtung
gilt auch für den Lebenspartner einer Mutter, der einem zur Zeugung des Kindes geeigneten Akt zugestimmt hat.
109
Dies gilt nicht für Vormünder, denen aufgrund der Regeling Pleegzorg die Sorge für ein oder mehrere
Kinder übertragen wurde.
119
schaftlichen Leistungsfähigkeit der Eltern ab. Bei minderjährigen Kindern und volljährigen Kindern bis zum 21. Lebensjahr besteht die Unterhaltspflicht unabhängig von der
tatsächlichen Bedürftigkeit des Kindes. Soweit ein Gericht Maßnahmen des Kinderschutzes für ein Kind festlegt, können die Eltern zugleich zur Zahlung eines Beitrags zu
den Kosten dieser Maßnahme verurteilt werden (Art. 69 ff. Wjz).
Kommen Eltern ihrer Verpflichtung nicht nach, kann das Landesbüro für die Einziehung
von Unterhaltsleistungen (Landelijk Bureau Inning Onderhoudsbijdragen LBIO) 110 mit
Sitz in Gouda, diese Verpflichtung feststellen und die Einziehung vornehmen. Das
LBIO kann die Einziehung vornehmen, es leistet aber keinen Unterhaltsvorschuss.
Das LBIO muss zur Einziehung des Unterhalts vom Unterhaltsgläubiger oder dem Unterhaltsschuldner ermächtigt werden. Das LBIO kann, falls notwendig, die Einziehung
mittels Zwangsvollstreckung durchführen. Es kann beispielsweise das Gehalt, die Sozialleistungen oder bewegliches und unbewegliches Eigentum des Unterhaltsschuldners pfänden. Die Inanspruchnahme der Dienste des LBIO ist nicht kostenlos. Bei Zahlungsrückständen muss der Unterhaltsschuldner die Kosten des LBIO für die Einziehung bezahlen. Das LBIO erhebt für die Einziehung eine Strafgebühr in Höhe von
10 % des ausstehenden Betrags. Die Kosten für gerichtliche Verfahren und Vollstreckungen werden ebenfalls beim Unterhaltsschuldner beigetrieben.
1.6
Sonstige Sozialleistungen und steuerliche Regelungen
In einer Reihe weiterer Sozialgesetze werden Kinder bei der Berechnung der Beiträge
oder der Leistungen berücksichtigt. So sind auch Kinder unter 18 Jahren nach dem seit
2006 geltenden Zorgverzekeringswet (Zvw) verpflichtet, eine private Krankenversicherung abzuschließen. Sie müssen aber weder einen einkommensabhängigen Beitrag
bezahlen, da dieser nur auf Erwerbseinkommen und Sozialleistungen erhoben wird,
noch einen nominalen Beitrag, da dieser erst nach dem 18. Lebensjahr zu zahlen ist. 111
Das Allgemeine Angehörigengesetz (Algemene Nabestaandenwet – Anw) regelt Ansprüche auf Waisenrenten bei Tod eines Unterhaltspflichtigen. In der Sozialhilfe (Wet
Werk en Bijstand) werden Kinder leistungssteigernd mitberücksichtigt.
2.
Das Bildungssystem 112
Die niederländische Verfassung garantiert mit der Freiheit des Unterrichts die Gründung von privaten Schulen und die weitgehende Freiheit der Schulen bei der Auswahl
der Lehrmaterialien und der Unterrichtsgestaltung. In den Niederlanden gibt es ca. 600
freie Schulträger. 70 % aller Schulen sind private, häufig weltanschaulich oder religiös
geprägte Schulen. Sie erhalten die gleichen Subventionen wie die öffentlichen Schulen, unterliegen wie diese der staatlichen, in der Regel kommunalen Aufsicht. Die Festlegung verbindlicher Lernziele, landesweit durchgeführte Abschlussprüfungen und
staatliche Inspektionen sollen ein vergleichbares Niveau der Ausbildung und der
Schulabschlüsse gewährleisten. Die Mitbestimmung der Eltern und Erziehungsberechtigten im Bildungsbereich wird seit 1992 durch das Gesetz zur Mitbestimmung im Bil-
110
Das LBIO wurde durch das Wet van 23 maart 1995, Stb. 1995, 198 ab 1.1.1997 mit dieser Aufgabe
betraut.
111
Vgl. De Kleine Gids van de Nederlandse Sociale Zekerheid, 2007/1, S. 12.
112
Die Informationen zu den Ausführungen in diesem Kapitel wurden den folgenden Websites entnommen:
www.uni-oldenburg.de/niederlandistik/alt/bildungswesen.html
www.dija.de
120
dungsbereich (Wet Medezeggenschap Onderwijs) geregelt. Die Eltern können frei zwischen allen Schulen wählen.
2.1
Kindergarten
Der Kindergarten wurde 1985 abgeschafft und in die seither achtjährige Grundschule
integriert.
2.2
Grundschulen
Die Schulpflicht ist im Lernpflichtgesetz (Leerplichtwet) geregelt und beginnt in den
Niederlanden mit dem 5. Lebensjahr, d.h. ab dem ersten Schultag des Monats, der auf
den fünften Geburtstag folgt. Die meisten Kinder gehen bereits mit vier Jahren zur
Schule. Die Schulpflicht dauert grundsätzlich bis zum Ende des Schuljahres, in dem
der/die Schüler/in 16 Jahre alt wird oder in dem sie/er 12 Schuljahre absolviert hat. Bis
zur Volljährigkeit besteht weiterhin eine Unterrichtspflicht im Umfang von 2 Tagen pro
Woche. Für Jugendliche, die noch nicht ausreichend für den Arbeitsmarkt qualifiziert
sind, besteht seit dem 1.8.2007 die Schulpflicht bis zum 18. Lebensjahr. Das Lernpflichtgesetz bestimmt, dass die Gemeinden die Einhaltung der Lernpflicht kontrollieren.
Die Kinder besuchen zunächst acht Jahre lang die Grundschule (Basisschool) in sogenannten Gruppen (groepen) (= Klassen). Für Kinder mit geistigen oder körperlichen
Behinderungen oder problematischem Sozialverhalten bestehen spezialisierte Schulen, die neben dem regulären Unterricht zusätzliche Förderung anbieten. Die Grundschulen stellen auf der Basis gesetzlicher Vorschriften jeweils ihren eigenen Lehrplan
für ein Jahr auf. Im letzten Grundschuljahr wird eine vom Staatlichen Institut für Testentwicklung (Centraal Instituut voor Toets Ontwikkeling - CITO) entwickelte und ausgewertete Prüfung abgelegt, die zusammen mit einer Beratung durch den Gutachter
der Schule Grundlage für die Entscheidung der Eltern über den Besuch einer weiterführenden Schule ist.
2.3
Weiterführende Schulen
Es gibt drei Arten von weiterführenden Schulen: die Schulen für berufsvorbereitenden
Sekundarunterricht (Voorbereidend Middelbaar Beroepsonderwijs - VMBO), die Schulen für höheren allgemeinbildenden Sekundarunterricht (Hoger Algemeen Voortgezet
Onderwijs - HAVO) und die Schulen für den studienvorbereitenden Sekundarunterricht
(Voorbereidend Wetenschappelijk Onderwijs - VWO). In allen drei Schultypen findet
zunächst eine je nach Schultyp zwei bis drei Jahre dauernde Grundausbildung (Basisvorming - BAVO) statt, deren Ziel eine interdisziplinäre Behandlung von Themen und
die Vermittlung vergleichbarer Kenntnisse in einem breit angelegten Kanon von 15
Pflichtfächern wie etwa Niederländisch, Englisch, Geschichte und Mathematik ist. Damit soll ein Wechsel des Schultyps innerhalb der ersten zwei bis drei Jahre ermöglicht
werden.
121
Dies wird auch dadurch erleichtert, dass die verschiedenen Schultypen oft in einem
Gebäude (Gesamtschule) untergebracht sind. Der vierjährige berufsvorbereitende Sekundarunterricht (voorbereidend middelbaar beroepsonderwijs - VMBO) berechtigt zum
Besuch des berufsbildenden Unterrichts. Nach einer Grundausbildung können die
Schüler sich für einen Schwerpunktbereich (Technik, Versorgung, Verwaltung, Landwirtschaft) entscheiden. Der bis zu fünfjährige allgemein bildende Sekundarunterricht
(hoger algemeen voorgezet onderwijs - HAVO) berechtigt nach dem mit dem Fachabitur vergleichbaren Abschluss zum Besuch der Fachhochschulen.
Das Abschlusszeugnis des sechsjährigen vorwissenschaftlichen Unterrichts (voorbereitend wetenschappelijk onderwijs – VWO) befähigt zum Studium an der Universität. Es
werden drei Arten von Schulen des vorwissenschaftlichen Unterrichts unterschieden:
das Gymnasium, auf dem die alten Sprachen (Latein, Griechisch) Pflicht sind, das
Athenäum, auf dem anstelle der alten Sprachen die modernen Sprachen gelehrt werden und das Lyceum, das eine Kombination aus beiden darstellt.
2.4
Berufsbildender Unterricht
Die Berufsausbildung findet in den Niederlanden in der Regel auch in Form der Schulausbildung statt. 1996 wurde die Lehrlingsausbildung mit dem Berufsschulunterricht in
sog. regionalen Ausbildungszentren (ROC) zusammengelegt (Gesetz über Erwachsenenbildung und berufsbildenden Unterricht - Wet Educatie en Beroepsonderwijs/WEB),
in denen auch die Erwachsenenbildung untergebracht ist. Es bestehen zwei verschiedene Ausbildungsformen, die sich danach unterscheiden, welchen Anteil das schulische Lernen bzw. die praktische Ausbildung an der Berufsausbildung haben. Es gibt
seither die Berufsausbildung (beroepsopleiding – BOL) mit einem Praxisanteil von
mindestens 20 % und höchstens 60 % und die Berufsbegleitung mit einem Praxisanteil
von mindestens 60 % (beroepsbegleiding – BBL). Die Ausbildungen können auf vier
verschiedenen Niveaus absolviert werden.
2.5
Hochschulen
In den Niederlanden gibt es zwei Hochschularten, die Fachhochschulen, die Studiengänge der höheren Berufsausbildung anbieten (Hoger Beroepsopleiding -HO), und die
Universitäten (Wissenschaftlicher Unterricht – WO). Im Rahmen des Bolognaprozesses wurden seit September 2002 Bachelor- und Masterstudiengänge eingeführt. An
den Universitäten wird der Bachelorgrad nach drei Jahren, an den Fachhochschulen
nach vier Jahren erlangt. Nach Abschluss des Bachelorstudiums können sich die Studierenden in einem Masterstudiengang weiter spezialisieren.
122
Das Masterstudium dauert je nach Studienfach ein bis zwei Jahre, im Fach Medizin
drei Jahre. Nach dem Masterstudium können sich die Absolventinnen und Absolventen
weiter spezialisieren oder sich der Forschung widmen. Insgesamt gibt es in den Niederlanden neun allgemeine Universitäten, drei technische, und eine landwirtschaftliche.
2.6
Akademische Grade
Je nach Studiengang werden mit dem erfolgreichen Abschluss des Studiums der Bachelor- bzw. Mastergrad oder die traditionellen Titeln erreicht. Die traditionellen Titel
der Absolventen der Fachhochschulen sind „ingenieur“ (ing.) oder „Baccalaureus“ (B.),
die der Absolventen der Universitäten „ingenieur“ (ir.), „doctorandus“ (drs.) oder, bei
Abschluss eines Jurastudiums, „meester in de rechten“ (mr.). Anstelle dieser Titel kann
auch der Mastertitel (M.) geführt werden. Wer promoviert, erwirbt den Doktorgrad (dr.).
Diese akademischen Grade sind gesetzlich geschützt.
2.7
Erwachsenenbildung
Die Erwachsenenbildung wird seit den 80er Jahren von der Politik gefordert und gefördert. Ihre gesetzliche Grundlage ist das Gesetz über den berufsbildenden Unterricht
und die Erwachsenenbildung (WEB-Wet). Träger der Erwachsenenbildung sind staatliche, kommunale, aber auch private Einrichtungen, deren Zertifikate unter bestimmten
Bedingungen staatlich anerkannt werden. Nahezu alle oben beschriebenen Unterrichtsarten werden auch in der Erwachsenenbildung angeboten: Seit 1984 besteht in
Heerlen die Fernuniversität (Open Universiteit), an der auch ohne Abitur Hochschulabschlüsse erworben werden können. Eine wichtige Rolle in der Erwachsenenbildung
spielen auch die ca. 110 Volkshochschulen (volksuniversiteiten, volkshogescholen). Im
Abend- und Tagesunterricht für Erwachsene (Avond- en dagonderwijs voor volwassenen) können Schulabschlüsse nachgeholt werden. Die Zentren für die Handwerksausbildung (Centra voor vakopleiding) dienen der beruflichen Fortbildung, z.B. zur Vorbereitung auf Meisterprüfungen.
2.8
Kosten der Bildung
Eltern brauchen für den Schulbesuch ihrer Kinder bis zu deren 16. Lebensjahr nichts
zu zahlen. Für Schulbücher und andere Lehrmittel, die im Sekundarunterricht eingesetzt werden, müssen sie allerdings aufkommen. Ab 2009 sollen Lehrbücher wieder
kostenlos sein.
Ab dem 16. Lebensjahr sind dann ein Schulgeld in Höhe von € 936 pro Jahr oder Studiengebühren in Höhe von € 1476 pro Jahr zu zahlen. Das Schulgeld bzw. die Studiengebühren sind für die meisten Ausbildungsgänge gleich.
Schüler und Studenten müssen ab ihrem 18. Lebensjahr für ihre Ausbildung bezahlen.
Ab dem 18. Lebensjahr erhalten jedoch alle Schüler und Studenten auf der Basis des
Ausbildungsförderungsgesetzes (Wet Studiefinanciering) vom Staat ein einkommensunabhängiges Grundstipendium und eine Ermäßigungskarte für die öffentlichen Verkehrsmittel (OV-Jaarkaart). 113 Dieses Grundstipendium wird automatisch in ein Darlehen umgewandelt, wenn nicht mindestens 50 % der Kurse des jeweiligen Schul- oder
Studienjahrs bestanden wurden. 2007 beträgt das Grundstipendium € 90,77 für Studierende, die noch bei ihren Eltern wohnen, und € 252,73 für diejenigen, die zur Miete
außerhalb des elterlichen Haushalts wohnen. Daneben gibt es ein (eltern-) einkommensabhängiges Darlehen als aufstockende Leistung für Studierende, die ihr Studium
vor dem 30. Lebensjahr begonnen haben. Diese Leistung wird höchstens für vier Jahre
gewährt. Dieses Stipendium muss nur zurückgezahlt werden, wenn der/die Studierende nicht innerhalb von 10 Jahren nach Studienbeginn sein/ihr Examen abgelegt hat.
113
Vgl. hierzu und zum Folgenden www.ib-groep.nl unter dem Stichwort studiefinanciering.
123
C.
Strukturmerkmale der Jugendhilfe
I.
Rechtsstellung von Eltern und Kindern im Rahmen der Jugendhilfe
1.
Anspruch auf Jugendhilfe
Anspruch auf Jugendhilfe haben gem. Art. 3 Abs. 1 Wet op de Jeugdzorg Klienten mit
Ausnahme der sich nicht rechtmäßig in den Niederlanden aufhaltenden Ausländern.
Klienten der Jugendhilfe sind gem. Art. 1 d Wjz nicht nur die Jugendlichen, sondern
auch ihre Eltern und Stiefeltern und diejenigen, die den Jugendlichen als zu ihrer Familie gehörend versorgen.
Jugendlicher ist, wer die Volljährigkeitsgrenze noch nicht erreicht hat, d.h. noch nicht
18 Jahre alt ist (Art. 1b Nr. 1 Wjz i.V.m. Art. 1:233 BW). Der Begriff des Jugendlichen
umfasst damit auch Kinder ab der Geburt. Als Jugendliche gelten aber auch diejenigen, die älter als 18 Jahre sind und jünger als 21 und denen eine Jugendstrafe gem.
Art. 77g ff. Wetboek van Strafrecht (Strafgesetzbuch) auferlegt wurde (Art. 1b Nr. 3
Wjz). Schließlich gelten als Jugendliche auch diejenigen, die älter als 18 aber noch
keine 23 Jahre alt sind, und für die die Fortsetzung der Jugendhilfe, die vor dem Erreichen der Volljährigkeit begonnen wurde, notwendig ist, oder bei denen nach der Beendigung der Jugendhilfe innerhalb eines halben Jahres eine Wiederaufnahme der Jugendhilfe erforderlich ist (Art. 1b Nr. 3 Wjz).
Art. 3 Abs. 1 Wjz gewährt ausländischen Jugendlichen nur dann einen Anspruch auf
Jugendhilfe, wenn sie sich rechtmäßig in den Niederlanden aufhalten. Art. 7 Uitvoeringsbesluit Wjz konkretisiert dies aber dahingehend, dass auch Jugendliche unter 18
Jahren, die sich nicht rechtmäßig in den Niederlanden aufhalten, Anspruch auf Jugendhilfe haben, allerdings – außer unter besonderen Umständen - nicht auf Unterbringung in einer Pflegefamilie.
Bei Kindern unter 12 Jahren entscheiden die sorgeberechtigten Eltern(teile) über die
Inanspruchnahme von Jugendhilfe. Jugendliche ab 16 Jahren können dies selbst entscheiden, Jugendliche zwischen 12 und 16 Jahren gemeinsam mit ihren Eltern. Im
Konfliktfall hat der gut überlegte Wunsch des Jugendlichen, Jugendhilfe in Anspruch
nehmen zu wollen, Vorrang.
2.
Eltern
Unter Eltern werden im juristischen Sprachgebrauch die Mutter und der Vater verstanden, die nach dem Gesetz Mutter und Vater sind. Im normalen Sprachgebrauch wird
Eltern zumeist mit biologischen Eltern gleichgesetzt, die jedoch nicht in jedem Fall die
gesetzlichen Eltern sind.
Die Mutter des Kindes ist die Frau, die das Kind geboren hat oder die es adoptiert hat
(Art. 1:198 BW).
Der Vater des Kindes ist in jedem Fall
- der Ehemann der Mutter, wenn die Mutter bei der Geburt des Kindes verheiratet ist;
- der Mann, der das Kind anerkannt oder adoptiert hat;
- der Mann, dessen Vaterschaft gerichtlich festgestellt wurde (Art. 1:199 BW).
Die Eltern des Kindes sind die Mutter und der Vater gemäß der obigen Definition.
Die Partner eines Elternteils oder der Vormund/die Vormünder sind nicht Eltern.
3.
Elterliche Sorge
Das Sorgerecht besteht aufgrund elterlicher Verantwortung oder Vormundschaft. Die
elterliche Sorge (Art. 1:245 Abs. 1 BW) umfasst die Pflicht und das Recht, für das minderjährige Kind zu sorgen und es zu erziehen (Art. 1:247 Abs. 1 BW). Unter Versorgung und Erziehung werden u. a. die Verantwortung für das psychische und physische
Wohlbefinden des Kindes und die Förderung der Entwicklung seiner Persönlichkeit ver-
124
standen (Art. 1:247 Abs. 1 BW). Die sorgeberechtigten Eltern treffen wichtige Entscheidungen im Leben des Kindes wie die über den Wohnort des Kindes und über die
Schule, die es besucht.
Die sorgeberechtigten Eltern sind gesetzliche Vertreter des Kindes. Minderjährige Kinder dürfen in vielen Fällen nicht rechtlich selbständig handeln. Dies übernimmt die sorgeberechtigte Person für das Kind oder im Namen des Kindes. Grundsätzlich haftet der
gesetzliche Vertreter solange, bis das Kind 14 Jahre alt ist, auch für Schäden, die das
Kind verursacht.
Die sorgeberechtigten Eltern verwalten das Einkommen und das Vermögen des Kindes, mit Ausnahme von Taschengeld und eventuell Arbeitslohn, über das/den das
minderjährige Kind selbst verfügt. Mit zunehmendem Alter werden mehr Eigenverantwortung und die zugehörige Entscheidungsbefugnis in bestimmten Bereichen auf das
minderjährige Kind übertragen, beispielsweise in Bezug auf die Verwendung seines
Geldes und den Abschluss von Arbeitsverträgen.
Eltern sind verpflichtet, ihre Kinder ohne Gebrauch psychischer oder physischer Gewalt bzw. anderer Formen herabwürdigender Behandlung zu erziehen.
Die elterliche Sorge kann von beiden Eltern gemeinsam oder auch nur durch einen
Elternteil (Art. 1:245 BW) ausgeübt werden. Generell werden drei Fälle unterschieden:
-
Verheiratete Eltern/eingetragene Partner
Es wird davon ausgegangen, dass die Eltern während der Ehe die Sorge für ihre
minderjährigen Kinder gemeinsam ausüben. Das Sorgerecht wird ihnen kraft Gesetzes mit der Geburt des Kindes übertragen (Artikel 1:251 Absatz 1 BW). Auch
Eltern, die eine eingetragene Partnerschaft eingegangen sind, erhalten mit der
Geburt des Kindes automatisch das Sorgerecht für das Kind. Voraussetzung ist
jedoch, dass der männliche Partner das Kind anerkannt hat (Artikel 1:253aa BW).
-
Unverheiratete Eltern
Unverheiratete Eltern können die elterliche Sorge für ihre minderjährigen Kinder
gemeinsam ausüben. Sie erhalten das Sorgerecht jedoch nicht automatisch,
sondern müssen es beim Landgericht (rechtbank) beantragen.
-
Ledige Mutter
Die ledige Mutter erhält nach dem Gesetz bei der Geburt des Kindes das Sorgerecht, es sei denn, sie ist zu diesem Zeitpunkt zur Übernahme der Verantwortung
nicht berechtigt (Art. 1:253b BW). Dies ist beispielsweise der Fall, wenn sie selbst
noch minderjährig ist. Die Mutter kann jedoch bei Gericht eine Volljährigkeitserklärung beantragen.
Die elterliche Sorge kann auch vom sorgeberechtigten Elternteil und einem Nichtelternteil gemeinsam wahrgenommen. Ein Nichtelternteil kann beispielsweise der/die Partner/in einer eheähnlichen Gemeinschaft des Elternteils sein, der/die das Kind zusammen mit dem Elternteil pflegt und erzieht. Gemeinschaftliche Verantwortung kann auch
von den Eltern zusammen mit dem Betreuer (Pflegemutter/Pflegevater) des Kindes
ausgeübt werden (Art. 1:253t BW).
Anstelle der Eltern kann auch ein Vormund (Art. 1:245 Abs. 2 BW) sorgeberechtigt
sein. Vormund kann eine natürliche Person oder das Büro für Jugendhilfe (Bureau
Jeugdzorg) sein. Bei der gemeinschaftlichen Vormundschaft üben der Vormund und
sein Partner die elterliche Sorge aus. Das Büro für Jugendhilfe kann nicht gemeinsam
mit einer anderen (natürlichen oder juristischen) Person die Vormundschaft ausüben.
125
II.
Öffentliche Jugendhilfe als Teil der staatlichen Verwaltung 114
1.
Staatsaufbau und Verwaltungsstruktur
Die Niederlande sind eine erblich konstitutionelle Monarchie mit parlamentarischem
Regierungssystem. Das Parlament als Organ der Legislative besteht aus zwei Kammern. Die 75 Mitglieder der ersten Kammer werden indirekt über die Parlamente der 12
Provinzen gewählt, während die zweite Kammer direkt gewählt wird. Das Parlament
setzt die rechtlichen Rahmenbedingungen der Kinder- und Jugendhilfe.
Der dezentralisierte Einheitsstaat der Niederlande hat eine dreigliedrige Struktur:
neben dem Reich (rijk) erfüllen die 12 Provinzen (provincies) und die Gemeinden (gemeenten) Aufgaben der Legislative und Exekutive.
1.1
Das Reich
An der Spitze der niederländischen Verwaltung steht die Krone, die sich aus der derzeit amtierenden Königin Beatrix und den Ministern des Reichs zusammensetzt. Für
die Jugendpolitik war bis Februar 2007 das Ministerium für Gesundheit, Wohlfahrt und
Sport hauptverantwortlich. Die Angelegenheiten der Kinder und Jugendlichen wurden
von der Afdeling Jeugdzorg (Abteilung Jugendhilfe) der Directie Jeugdbeleid (Hauptabteilung Jugendpolitik) im Directoraat-Generaal Maatschappelijke Zorg (Generaldirektion
Soziale Fürsorge) bearbeitet.
Seit der Bildung der neuen niederländischen Regierung im Februar 2007 (Balkenende
IV) ist für den Bereich Jugend und Familie (Jeugd en Gezin) ein dem Ministerium für
Gesundheit, Wohlfahrt und Sport zugeordneter sog. Programmminister zuständig. 115
Dabei handelt es sich um einen Minister ohne Portefeuille dessen Aufgabe es ist, den
Zusammenhang von Jugend-, Familien-, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik sicher zu
stellen. Die Neustrukturierung der ministeriellen Zuständigkeit beruht auch auf den Ergebnissen der Arbeit, der sogenannten Operation Jung (Operatie Jong) 116, deren Aufgabe es war, die Kooperation zwischen den verschiedenen mit der Jugendhilfe befassten Ministerien und zwischen den Kinder- und Jugendhilfeinstitutionen zu verbessern.
Neben dem Ministerium für Gesundheit, Wohlfahrt und Sport haben auch das Justizministerium, das Innenministerium, das Ministerium für Soziale Angelegenheiten und
Arbeit und das Ministerium für Bildung, Kultur und Wissenschaft Aufgaben im Bereich
der Jugendpolitik.
Im Justizministerium ist die Generaldirektion Prävention, Jugend und Sanktionen (Directoraat-Generaal Preventie, Jeugd en Sancties) für den Bereich des Jugendschutzes
und der Jugendkriminalität zuständig. Dieser Generaldirektion ist die Kinderschutzbehörde (Raad voor de Kinderbescherming) zugeordnet.
Das Ministerium für Gesundheit, Wohlfahrt und Sport koordiniert die interministerielle
Jugendpolitik. Die dort angesiedelte Inspektion Jugendhilfe (Inspectie Jeugdzorg) steht
unter gemeinsamer Verantwortung des Justizministers und des Ministers für Gesundheit, Wohlfahrt und Sport. Sie hat die Aufsicht über die Jugendhilfebüros (Bureau
Jeugdzorg), die Einrichtungen der Jugendhilfe, die Kinderschutzbehörde (Raad voor de
Kinderbescherming), die Jugendstrafanstalten, die Organisationen für Auslandsadoptionen sowie die Aufnahme und die Vormundschaft von unbegleiteten minderjährigen
Flüchtlingen. Darüber hinaus erstellt sie Berichte und unterbreitet den Verwaltungsbehörden der Provinzen sowie dem Ministerium für Gesundheit, Wohlfahrt und Sport und
dem Justizministerium Vorschläge zur Verbesserung der Qualität der Kinder- und Jugendfürsorge und dem Kinder- und Jugendschutz. Sie veröffentlicht Jahresberichte
über ihre Aufsichts- und Kontrolltätigkeit.
114
Ich danke Herrn Dipl.-Sozialarbeiter Marcel Smits (M.A.) für die Vorarbeiten zu diesem Teil des Landesberichts.
115
Der Jugend- und Familienminister ist derzeit André Rouvoet.
116
Vgl. www.operatie-jong.nl
126
1.2
Die Provinzen
Jede der 12 Provinzen wird gemeinsam vom Kommissar der Königin (Commissaris
van de Koningin) und dem Parlament der Provinz (Provinciale Staten) bzw. dem aus
seinen Reihen gebildeten Deputiertenausschuss (Gedeputeerde Staten) verwaltet. Der
Kommissar der Königin ist sowohl Organ des Reiches als der Provinz und damit eine
wichtige Verbindung zwischen Reich und Provinz.
Die dezentralisierte Verwaltungsstruktur prägt auch die Kinder- und Jugendhilfe, die
primär die Aufgabe der Provinzen (und Kommunen) ist. Die Provinzen sind für die
Durchführung der im Wet op de jeugdzorg geregelten Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe verantwortlich und verwalten die zur Finanzierung dieser Aufgaben vom
Reich zur Verfügung gestellten Mittel. Die Büros für Jugendhilfe als Institutionen der
Provinzen entscheiden über die konkreten Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe. Die
Kinderschutzbehörden (Raad voor de Kinderbescherming) als Unterteil der Justizverwaltung sind an den jeweiligen Gerichtsbezirken (arrondissementen) angesiedelt. In
Limburg gibt es Niederlassungen der Kinderschutzbehörden in Maastricht und Roermond.
1.3
Die Gemeinden
Die unterste Verwaltungsebene bilden die Städte und Gemeinden, die sowohl Aufgaben der Selbstverwaltung als auch der Auftragsverwaltung erfüllen. Ihr oberstes Organ
ist der Gemeinderat (Gemeenteraad), der zusammen mit dem Kollegium aus Bürgermeister und Beigeordneten (College van Burgermeester en Wethouders) und dem
Bürgermeister die Gemeinde leitet. Die Verwaltung der Gemeinde ist in verschiedene
Fachabteilungen gegliedert. Im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe sind die Gemeinden für allgemeine Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe (allgemeine Jugend(sozial-)arbeit und präventive Maßnahmen), aber auch für die Durchsetzung der
Schulpflicht verantwortlich. Die allgemeinen Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe
sind meistens an alle Kinder und Jugendlichen gerichtet und sollen die Entwicklung der
Kinder fördern und die Eltern bei ihren Erziehungsaufgaben unterstützen. Hierzu gehören die allgemeine Jugendsozialarbeit und die Schulsozialarbeit. Die finanziellen Mittel
für die Kinder- und Jugendhilfe werden den Gemeinden auf der Grundlage des Wet
Maatschappelijke Ondersteuning (WMO) entweder vom Reich zugewiesen oder von
ihnen aus eigenen Haushaltsmitteln aufgebracht.
2.
Die Doppelstruktur der Jugendhilfe
Die zentralen Einrichtungen der Jugendhilfe in den Niederlanden sind die Büros für
Jugendhilfe (Bureau Jeugdzorg) und der Kinderschutzbehörde (Raad voor de Kinderbescherming). Während die Kinderschutzbehörde im Bereich des Kinderschutzes, der
Adoption, in Scheidungsverfahren und bei Strafverfahren gegen Minderjährigen tätig
ist, sind die Büros für Jugendhilfe die zentrale Instanz für die Gewährung von Leistungen der (freiwilligen) Kinder- und Jugendhilfe. Mit der Reform des Jugendhilferechts
durch das Wet op de Jeugdzorg wurde die Integration der freiwilligen und der zwingenden Jugendhilfe in einem System angestrebt. Die Büros für Jugendhilfe und die Kinderschutzbehörden ergänzen und unterstützen einander in ihren jeweiligen Aufgabengebieten. So hat das Büro für Jugendhilfe eine Reihe von Aufgaben im Bereich des
Kinderschutzes: u. a. ist es Beratungs- und Meldepunkt bei Kindesmisshandlung 117
und es stellt häufig auch die Familienvormünder bei Schutzaufsicht.
117
Art. 10 Abs. 1 e Wjz.
127
2.1
Büro für Jugendhilfe (Bureau Jeugdzorg)
Die Träger der Büros für Jugendhilfe sind Stiftungen, deren örtliche Zuständigkeit sich
auf das Gebiet einer Provinz bzw. einer großstädtischen Region wie Amsterdam, Rotterdam, Den Haag 118 erstreckt. Die zentrale Aufgabe der Büros für Jugendhilfe ist es,
den Bedarf an Leistungen der Jugendhilfe für den einzelnen Jugendlichen und seine
Familie festzustellen und die Klienten bei der Inanspruchnahme von Jugendhilfeleistungen zu unterstützen. Nur der Indikationsbeschluss eines Büros für Jugendhilfe öffnet den Zugang zu den Angeboten der sog. indizierten Jugendhilfe, d.h. der allgemeinen Jugendhilfe, der psychischen Gesundheitsfürsorge und den Leistungen der Jugendhilfe für leicht geistig behinderte Jugendliche der Volkskranken- und pflegeversicherung (AWBZ) und der Jugendhilfe aufgrund zivilrichterlichen Beschlusses in einer justiziellen Jugendeinrichtung.
Unter der Geltung des Wet op der Jeugdhulpverlening, des Vorgängergesetzes des
Wet op de Jeugdzorg, bestanden für die unterschiedlichen Leistungsbereiche der Jugendhilfe unterschiedliche Indikationsverfahren, obwohl das Hilfeangebot ähnlich war.
Der Mangel an Koordinierung der verschiedenen Hilfebereiche führte zu Über- und
Unterkapazitäten im Hilfeangebot. Mit dem Wet op de Jeugdzorg wurde daher angestrebt, die Indikationsstellung nur noch durch eine Stelle, das Büro für Jugendhilfe,
durchführen zu lassen, die auch dafür Sorge trägt, dass die verschiedenen Maßnahmen der Jugendhilfe für einen Jugendlichen aufeinander abgestimmt sind.
Das Wet op de Jeugdzorg strebt darüber hinaus eine deutliche Trennung von Indikation und Leistungserbringung an. Daher werden die Hilfen/Leistungen der Jugendhilfe in
der Regel nicht von den Büros für Jugendhilfe selbst angeboten, sondern von Trägern
der Jugendhilfe, die in den Bereichen der allgemeinen Jugendhilfe, des Jugendschutzes, der Jugendbewährungshilfe, der psychologischen und psychiatrischen Versorgung
von Jugendlichen mit seelischen Problemen (psychischen Gesundheitsfürsorge für
Jugendliche) und der (befristeten) Hilfe für leicht geistig behinderte Jugendliche tätig
sind.
Die Büros für Jugendhilfe haben neben der Indikationsstellung und der Begleitung des
Klienten während der Inanspruchnahme von Jugendhilfemaßnahmen auch noch die
Aufgabe der Durchführung zivilrichterlicher Beschlüsse über die Unterbringung in einer
justiziellen Jugendeinrichtung (Art. 11 a BJJ), der Jugendbewährungshilfe und der
Amtsvormundschaft. Gem. Art. 11 Wjz ist das Büro für Jugendhilfe Beratungs- und
Meldepunkt bei Kindesmisshandlung (advies- en meldpunt kindermishandeling - AMK).
In dieser Funktion untersucht es Anzeigen von Kindesmisshandlung und beschließt, ob
und welche weiteren Schritte vorzunehmen sind. Ggf. meldet es die Kindesmisshandlung der Kinderschutzbehörde (Raad voor de Kinderbescherming) (Art. 9 Abs. 2 Wjz),
der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht. Das Büro für Jugendhilfe berät auch Personen, die einen Fall von Kindesmisshandlung vermuten, über mögliche Schritte. Es tritt
aber auch als Familienvormund bei Schutzaufsicht über ein Kind auf und unterstützt
und leitet andere Familienvormünder oder Vormünder an.
Eine weitere Aufgabe des Büros für Jugendhilfe ist die telefonische Beratung von Kindern und Jugendlichen durch ehrenamtlich Tätige, das sog. Kindertelefon (kindertelefoon).
Die Büros für Jugendhilfe können selbst nur sog. nichtindizierte Jugendhilfe erbringen,
z.B. Beratung für Jugendliche, die keinen Bedarf an Jugendhilfe im Sinne des Wet op
de jeugdzorg haben, oder die Einrichtung eines Beratungsbüros für Baby- und Kleinkinderziehung. Die nichtindizierte Jugendhilfe darf einen maximalen Umfang von 5 Gesprächen haben (Art. 10 Wjz). Bei anderem Beratungsbedarf sollen die Klienten an die
allgemeinen Instanzen nach dem Wet Maatschappelijke Ondersteuning verwiesen
werden.
118
Den großstädtischen Regionen von Rotterdam, Amsterdam und Den Haag können Aufgaben der Provinzen im Bereich der Jugendhilfe übertragen werden. Vgl. Art. 2 Wjz.
128
2.2
Jugendschutzbehörde (Raad voor de Kinderbescherming)
Die Kinderschutzbehörde (Raad voor de Kinderbescherming) 119 hat ihren Sitz in Utrecht und Niederlassungen in 13 Regionen. Das Ministerium für Justiz hat die Rechtsund Fachaufsicht über die Arbeit der Kinderschutzbehörde und kann auch Weisungen
in Einzelfällen erteilen. Die Kinderschutzbehörde beschäftigt zur Erfüllung ihrer Aufgaben Fachpersonal.
Die Kinderschutzbehörde übernimmt eine Schlüsselrolle beim Kindesschutz (Art. 1:238
ff. BW). 120 Sie hat eine Garantiefunktion für die Rechte der Kinder im Sinne der UNKinderrechtskonvention. Sie führt Untersuchungen auf eigene Initiative oder auf Initiative anderer Behörden, insbesondere der Büros für Jugendhilfe, der Polizei oder eines
Richters durch und beantragt ggf. Kinderschutzmaßnahmen bei Gericht. Ein direkter
Zugang zur Kinderschutzbehörde ist nur in Krisenfällen möglich, da die Kinderschutzbehörde eine sog. Einrichtung in zweiter Linie ist. Wenn die Kinderschutzbehörde einen solchen Fall untersucht, teilt sie dies dem Beratungs- und Meldepunkt Kinderschutz des zuständigen Büros für Jugendhilfe mit. Umgekehrt meldet das Büro für Jugendhilfe der Kinderschutzbehörde, wenn ein Verdacht auf Kindesmissbrauch oder
Vernachlässigung von Kindern vorliegt. Ihre Ermittlungen werden innerhalb von drei
Monaten abgeschlossen. In 60 % der Fälle werden gerichtliche Kinderschutzmaßnahmen erlassen.
Die Kinderschutzbehörde führt auch die Aufsicht über die Maßnahmen der Büros für
Jugendhilfe im Bereich des Kinderschutzes.
Die Kinderschutzbehörde hat über den Kinderschutz hinaus auch wichtige Aufgaben in
Scheidungsverfahren. Wenn die Eltern sich nicht über den Umgang und den Wohnsitz
des Kindes einigen können, können sie eine gerichtliche Entscheidung beantragen.
Das Gericht kann bei Bedarf die Kinderschutzbehörde um ihre Expertise bitten.
In Jugendstrafverfahren begleitet die Kinderschutzbehörde den Jugendlichen während
des Strafverfahrens und koordiniert die Aktivitäten von Staatsanwaltschaft, Polizei und
des Büros für Jugendhilfe, Abteilung Jugendresozialisierung. Die Kinderschutzbehörde
kann auch ein Gutachten über den Jugendlichen für das Verfahren erstellen. Sie berät
die Strafverfolgungsorgane über Strafverfolgung, Strafe und Hilfsmaßnahmen und koordiniert bei Verurteilung des Jugendlichen zu gemeinnütziger Arbeit die Ausführung
der Strafe.
Im Adoptionsverfahren erstellt die Kinderschutzbehörde u. a. Eignungsgutachten über
die potentiellen Adoptiveltern.
3.
Die Leistungserbringung
Die Leistungen der Jugendhilfe werden nicht durch die Büros für Jugendhilfe oder die
Kinderschutzbehörde erbracht, sondern durch von der Provinz subventionierte Leistungsanbieter. 121 Leistungsanbieter können alle natürlichen oder juristischen Personen
sein, die im Europäischen Wirtschaftsraum niedergelassen sind, und in deren Statuten
die Erbringung von Jugendhilfe als Ziel benannt wird (Art. 18 Wjz).
119
Die in den Broschüren des niederländischen Justizministeriums gewählte Übersetzung „Jugendamt“
wird hier nicht verwendet, da die Kinderschutzbehörde nur einen Teil der Aufgaben des deutschen Jugendamtes ausführt. Zum Raad op de Kinderbescherming vgl. auch www.kinderbescherming.nl.
120
Die Rechtsgrundlagen für die Arbeit der Jugendschutzbehörde finden sich nicht nur im Bürgerlichen
Gesetzbuch, sondern auch im Zivilprozessrecht (Wetboek van Burgerlijke Rechtsvordering), im Strafrecht (Wetboek van Strafrecht) und im Strafprozessrecht (Wetboek van Strafvordering), und in der Verordnung über die Organisation der Jugendschutzbehörde (Organisatiebesluit Raad voor de Kinderbescherming, KB van 25 april 2006, Stb. 2006, 192).
121
Das Gesetz unterscheidet zwischen zorgaanbieder (Art. 1 g Wjz), d.h. dem Leistungsanbieter, der
Leistungen der Jugendhilfe erbringt, auf die aufgrund des Wjz Anspruch besteht, und aanbieder van
zorg (Art. 1 h Wjz), d.h. dem Leistungsanbieter, der andere Leistungen der Jugendhilfe erbringt.
129
Das Wet op de Jeugdzorg kennt die Einteilung der Leistungserbringer nach Leistungsarten (voorzieningen) nicht mehr. Die Leistungsanbieter müssen sog. Module, d.h.
standardisierte Leistungseinheiten, anbieten. Diese Leistungseinheiten müssen den
Anforderungen an Art, Inhalt und Umfang entsprechen, die in einer Rechtsverordnung
für die Planung und Finanzierung der Jugendhilfe vorgegeben sind. Für jedes Modul
wird ein bestimmter Preis festgesetzt. Im jeweiligen Hilfeplan werden die einzelnen für
den Jugendlichen notwendigen Module zusammengefasst. Die Gesamtkosten der Jugendhilfe für den einzelnen Jugendlichen ergeben sich dann aus der Zahl und dem
Preis der jeweiligen im Indikationsbeschluss als für ihn erforderlich benannten Module.
Der Leistungsanbieter erhält von der Provinz für eine bestimmte Menge an Leistungen
der definierten Module eine Subvention. Der subventionierte Leistungsanbieter hat im
Rahmen der finanziellen Grenzen seiner Subvention die Pflicht zur Annahme von
Klienten der subventionierenden Provinz (Art. 19 Wjz). Der Leistungsanbieter muss
dem Büro für Jugendhilfe den Beginn und die Beendigung einer Leistung mitteilen und
das Büro für Jugendhilfe über den Fortgang der Hilfe informieren (Art. 20 Wjz). Außerdem muss er dem Büro für Jugendhilfe die erforderlichen Daten für die Evaluation der
Hilfe mitteilen.
Die Leistungsanbieter können sog. Hilfeeinheiten (zorgeenheid) bilden, die ein bestimmtes abgegrenztes Leistungsspektrum anbieten.
D.
Leistungsrecht
I.
Rechtsanspruch auf indizierte Jugendhilfe
Seit der Einführung des Wet op de Jeugdzorg besteht in den Niederlanden ein allgemeiner Rechtsanspruch auf Jugendhilfe, geregelt in Art. 3 Abs. 1 Wjz. Dieser Rechtsanspruch auf Jugendhilfe setzt gem. Art. 3 Abs. 3 Wjz einen Indikationsbeschluss des
Büros für Jugendhilfe oder einen gleichgestellten Beschluss anderer Organe der Jugendhilfe voraus, nämlich
-
das Urteil eines Strafrichters gem. Art. 77s Abs. 1 WvS
den Beschluss eines Auswahlbeamten gem. Art. 16 III BJJ
den Beschluss des Direktors einer justiziellen Jugendhilfeeinrichtung gem. Art. 31
BJJ über Jugendhilfe, die zusätzlich zur Unterbringung erforderlich ist.
Ein Anspruch auf Jugendhilfe ohne Indikationsbeschluss besteht nur in Eilfällen (Art.
14 Wjz).
Der Rechtsanspruch auf indizierte Jugendhilfe ist in einer Rechtsverordnung, dem Uitvoeringsbesluit Wet op de Jeugdzorg (Uwjz), näher beschrieben. Gem. Art. 2 Uwjz
umfasst der Anspruch Jugendhilfe, Unterbringung und Beobachtungsdiagnostik. Der
Anspruch auf indizierte Jugendhilfe richtet sich gegen die Provinzen.
Rechtsansprüche auf psychische Gesundheitsfürsorge für Jugendliche und auf Leistungen für behinderte Jugendliche waren schon vorher und sind noch im Algemene
Wet Bijzondere Ziektekosten (AWBZ) geregelt. Sie richten sich an die Träger der
Volkskranken- und Pflegeversicherung.
Der Rechtsanspruch auf Unterbringung in einer justiziellen Einrichtung der Jugendhilfe
gem. Art. 11 a BJJ richtet sich an das Justizministerium.
Trotz der unterschiedlichen Rechtsgrundlagen der verschiedenen Formen von Jugendhilfe entscheidet nur ein Organ, nämlich das Büro für Jugendhilfe über das Vorliegen der Voraussetzungen der Jugendhilfe (Art. 5 II Wjz).
Auf die von den Gemeinden getragenen Formen der allgemeinen Jugendhilfe, wie Jugend(sozial-)arbeit und der Schulsozialarbeit, besteht kein Rechtsanspruch. Sie sind
aber ohne Indikationsbeschluss zugänglich.
Gem. Art. 5 Abs. 4 S. 1 Wjz soll die Jugendhilfe dem Ziel dienen, eine ungefährdete
Entwicklung des Jugendlichen zu gewährleisten und soll sich nach dem Bedarf des
130
Klienten richten. Die Jugendhilfe ist daher so schonend wie möglich, so nahe wie möglich am dauerhaften Aufenthaltsort des Klienten und so kurz wie möglich zu erbringen (Art. 5 Abs. 4 S. 2 Wjz). In den Niederlanden werden diese Leitlinien als „zozo-zo-beleid“ bezeichnet, frei übersetzt: So-so-so-Grundsatz. Der So-so-so-Grundsatz,
der auch an anderer Stelle im Wet op de Jeugdzorg wiederholt wird (z.B. Art. 31 Abs. 4
Wjz) hat verschiedene Auswirkungen: Er bedeutet, dass präventive Maßnahmen Vorrang haben, dass ambulante Hilfe Vorrang vor stationärer Hilfe hat und dass freiwillige
Jugendhilfe Vorrang vor zwingender Jugendhilfe hat. Schließlich enthält er ganz allgemein die Anforderung der Verhältnismäßigkeit von Mitteln und Zielen und der Subsidiarität. 122 Damit wird der Bedarf des Jugendlichen zum Ausgangspunkt der Jugendhilfe
gemacht. Die Jugendhilfe soll nach dem Willen des Gesetzgebers nicht mehr durch
das Angebot, sondern durch die Nachfrage gesteuert werden.
II.
Arten von Jugendhilfe
1.
Der Anspruch auf Jugendhilfe gem. Art. 3 Wjz i.V.m. Art. 2 UWjz
Art. 2 UWjz nennt als Formen der Jugendhilfe i.w.S. die Jugendhilfe i.e.S, die Unterbringung und die Observationsdiagnostik. Die in den Art. 3 – 6 UWjz enthaltenen Beschreibungen der einzelnen Formen der Jugendhilfe sind allerdings sehr abstrakt
gehalten. Ziel dieser abstrakten Formulierung des Hilfeanspruchs ist es, eine flexible
Gestaltung des Hilfeangebots, innovative Angebote und eine schnellere Anpassung an
die sich ständig ändernden Standards der Jugendhilfe zu ermöglichen, auch wenn dies
zu Lasten einer leichten Erkennbarkeit der Rechtsansprüche durch die Klienten und zu
weniger Rechts- und finanzieller Sicherheit führt. 123 Konkretisiert werden die Ansprüche durch den Indikationsbeschluss, der die Leistungen, auf die Anspruch besteht, in
Modulen beschreibt. Dieser Leistungsbeschreibung entsprechen die in Modulform gefassten Leistungsangebote der Leistungserbringer der Jugendhilfe.
1.1
Jugendhilfe i. e. S.
Die Jugendhilfe i.e.S. ist in Art. 3 Abs. 1 a UWjz dahingehend konkretisiert, dass sie
die Behandlung und Begleitung von Jugendlichen umfasst, deren Ziel die Beseitigung,
Verringerung, die Verhinderung der Verschlimmerung oder der Umgang mit den Folgen seiner psychosozialen, psychischen oder Verhaltensprobleme ist. Es kann sich
aber auch um die Begleitung und Behandlung eines Klienten handeln, der nicht der
Jugendliche ist, mit dem Ziel solche Fertigkeiten zu erwerben, die es ihm ermöglichen,
die psychosozialen, psychischen oder Verhaltensprobleme in der Familie zu bewältigen (Art. 3 Abs. 1 b UWjz). Die Jugendhilfe umfasst daher u. a. Erziehungsberatung
durch Pädagogen, Sozialarbeiter, sozialpädagogische Kräfte, die in Erziehungsberatungsstellen oder freiberuflich tätig sind, die Erziehungshilfe z.B. durch Beratungszentren/Gemeindeschwestern (für Kinder bis 4 Jahre) für medizinische und soziale/emotionale Entwicklung (Gemeentelijke Gezondheidsdienst -GGD/ Jeugdgezondheidszorg-JGZ) oder durch „Videohometraining“ (mit Videoaufnahmen wird Erziehungshilfe und Beratung zu Hause vermittelt), oder Maßnahmen des Familie-FirstProgramms (die intensive Betreuung der Familie, um die Unterbringung eines Kindes
zu vermeiden).
Art. 3 Abs. 2 a UWjz enthält den Subsidiaritätsgrundsatz. Danach besteht kein Anspruch auf Jugendhilfe, wenn die Probleme des Jugendlichen durch ihn selbst oder
seine Eltern oder andere Erziehungsberechtigte, evtl. mit Hilfe seiner direkten Umgebung oder Hilfen der nicht indizierten Jugendhilfe bewältigt werden können.
122
Vgl. Doek/Vlaardingerbroek, S. 630 ff.
123
Klompe-Toets, S. 125.
131
Ein Anspruch auf Jugendhilfe i.e.S. besteht gem. Art. 3 Abs. 2 b UWjz auch dann nicht,
wenn die Probleme des Jugendlichen durch psychiatrische Erkrankungen (mit-) verursacht werden, die einen psychiatrischen Ansatz erforderlich machen. In solchen Fällen
sind Maßnahmen psychischer Gesundheitsfürsorge zu ergreifen.
1.2
Unterbringung
Gem. Art. 4 Abs. 1 UWjz ist die Unterbringung (verblijf) das Angebot eines stationären
oder teilstationären Aufenthalts mit passender pädagogischer Umgebung bei Pflegeeltern oder in der Einrichtung eines Leistungserbringers (Internat) oder auch in Form des
selbständigen Wohnens in einer Wohngemeinschaft. Auch hier gilt der oben beschriebene Subsidiaritätsgrundsatz. Über den Subsidiaritätsgrundsatz hinaus ist die Unterbringung nachrangig gegenüber der Jugendhilfe i. e. S. Jugendliche mit einer geistigen, körperlichen Behinderung oder einer Behinderung der Sinnesorgane oder mit
psychiatrischen Krankheiten oder Einschränkungen, die aufgrund ihrer Behinderung
einer Unterbringung mit persönlicher Versorgung, unterstützender oder aktivierender
Begleitung und Behandlung gem. Art. 2 Abs. 1 Besluit Zorgaanspraken AWBZ bedürfen, haben keinen Anspruch auf Unterbringung auf der Rechtsgrundlage des Wet op
de Jeudzorg, sondern aufgrund der krankenversicherungsrechtlichen Regelung.
1.2.1 Unterbringung bei Pflegeeltern
Bei der Unterbringung bei Pflegeeltern 124 geht es im Kern um Versorgung und Erziehung eines Kindes in einer häuslichen Umgebung durch Privatpersonen unter der Verantwortung eines Leistungserbringers der Jugendhilfe. Die Unterbringung kann in Vollzeit erfolgen, aber auch nur für einzelne Tage in der Woche, z.B. am Wochenende.
Pflegeeltern sind gem. Art. 1u Wjz Personen, die im Rahmen der Jugendhilfe 125 einen
Jugendlichen, der nicht das eigene oder Stiefkind ist, als zu ihrer Familie gehörend
versorgen und erziehen. Voraussetzung für diese Art von Jugendhilfe ist immer ein
Indikationsbeschluss des Büros für Jugendhilfe (Bureau Jeugdzorg). 126 Die im Wet op
de Jeugdzorg enthaltenen Regeln für die Pflegesorge (Art. 22 f. Wjz) gelten für alle
Formen von Pflege, die aufgrund eines Indikationsbeschlusses des Büros für Jugendhilfe erfolgen. 127
Die Pflegeeltern müssen nicht der Familie des Kindes oder dem sozialen Umfeld des
Kindes angehören. Sie können dem Kind auch völlig fremd sein.
In der aktuellen Diskussion um Innovation und Qualitätsverbesserung in der Pflege
werden zwei Typen von Pflege unterschieden: kurzfristige Pflege als Teil der Jugendhilfe und die dauerhafte Unterbringung in einer Pflegefamilie als Erziehungsarrangement. 128 Die kurzfristige Pflege dient der Verbesserung der Familiensituation des Kindes. Durch intensive Hilfe für die Eltern des Kindes soll die Situation soweit verbessert
werden, dass das Kind wieder in die Familie zurückkehren kann. Nur wenn dies nicht
möglich ist, kommt eine dauerhafte Unterbringung in einer Pflegefamilie mit dem Ziel
der Schaffung einer neuen primären Umgebung des Kindes in Betracht.
124
Mit Pflegeeltern sind in diesem Text auch Alleinerziehende gemeint.
125
Neben der Unterbringung in einer Pflegefamilie als Leistung der Jugendhilfe können Kinder auf der
Grundlage privater Absprachen zwischen den Eltern (bzw. dem Vormund) und Dritten, diesen für eine
bestimmte Zeit anvertraut werden. Vgl. Broek/Vlaardingerbroek, S. 269. Eine Pflegeelternschaft kann
auch der Adoption vorausgehen. Vgl. Broek/Vlaardingerbroek, S. 272.
126
Vgl. Art. 19 Abs. 1 UWjz.
127
Für Unterbringungen aufgrund privater Verträge gilt das Pflegekindergesetz vom 21.12.1951 (pleegkinderenwet), Stb. 1951, 595, das die Möglichkeit kommunaler Kontrolle privater Pflegeelternschaft regelt. Es
gilt auch für die durch ihre potentiellen Adoptiveltern aufgenommen ausländischen Pflegekinder.
128
Eine Untersuchung von E.C.C. Punselie, Pleegzorg met visie. Juridische haken en ogen. Onderzoeksrapport (Universiteit Leiden: VOG Utrecht, März 2000), beschreibt die rechtlichen Möglichkeiten und
Grenzen der Umsetzung dieses Konzepts. Problematisch sind die fehlenden gesetzlichen Grundlagen
für die Übertragung des Sorgerechts auf die Pflegeeltern, aber auch für die Entziehung des Sorgerechts.
Vgl. auch ders., FJR 2000 (11), S. 245 – 251.
132
Für die Information der Bürger und die Anwerbung und Auswahl potentieller Pflegefamilien sind die sog. Zentralen für Pflegesorge (centrale voor pleegzorg), die vom Staat
finanziert werden, zuständig.
Die Pflegeeltern werden auf der Grundlage eines Vertrages tätig, den sie mit einem
Anbieter von Jugendhilfeleistungen geschlossen haben. Dieser Vertrag muss bestimmte durch das Ministerium in der Regeling Pleegzorg 129 fest gesetzte Kriterien erfüllen.
So muss im Vertrag z.B. die Pflicht der Pflegeeltern geregelt werden, dem für das Kind
durch den Pflegeanbieter aufgestellten Hilfeplan zu folgen und an der Durchführung
des Umgangsrechts der leiblichen Eltern mitzuwirken. Im Vertrag ist aber auch die
Pflicht des Leistungsanbieters zur Begleitung der Pflegeeltern zu regeln. Art. 22 Wjz
verpflichtet den Leistungsanbieter, zu überwachen, dass die Versorgung und Erziehung des Jugendlichen durch die Pflegeeltern vertragsgemäß geschieht. Er muss
überprüfen, ob die Pflegeeltern unter Berücksichtigung ihre Erziehungsmöglichkeiten,
des Alters des Kindes, der Zusammensetzung ihrer Familie und der zu erwartenden
Dauer der Pflege für die Pflege geeignet sind (Art. 2 Regeling Pleegzorg). Darüber
hinaus muss die Kinderschutzbehörde (Raad van de Kinderbescherming) feststellen,
ob in der Person des/der Bewerbers/in keine der Pflege und Erziehung eines Pflegekindes widersprechenden Umstände vorliegen (z.B. Gefängnisstrafen).
Die Pflegeeltern erhalten für die Versorgung und Erziehung des Jugendlichen vom
Pflegeanbieter eine Vergütung, die aus einem - eventuell nach dem Lebensalter gestaffelten - Basisbetrag und Zuschlägen besteht. Die Höhe der Vergütung ist in der
Regeling Pleegzorg geregelt. Bei Übertragung der Vormundschaft auf ein PflegeElternteil wird ein Zuschlag gezahlt. Wenn zwei Pflegeeltern gemeinsam die Vormundschaft erhalten, werden sie unterhaltspflichtig und erhalten keine finanzielle Unterstützung mehr. Pflegeeltern müssen bestimmte Voraussetzungen hinsichtlich der Höchstzahl von Kindern in der Pflegefamilie und ihrer Eignung als Pflegeeltern erfüllen, die in
der Regeling Pleegzorg festgelegt sind.
Artt. 1:253s und 1:336a BW enthalten Schutzvorschriften zugunsten der Pflegeeltern.
War ein Pflegekind mit Zustimmung seiner leiblichen Eltern mehr als ein Jahr lang in
einer Pflegefamilie untergebracht, können die leiblichen Eltern das Kind nicht ohne
Zustimmung der Pflegeeltern aus der Pflegefamilie nehmen. Diese Regelung gilt nur
für Unterbringungen im Rahmen von freiwilligen Jugendhilfemaßnahmen, nicht aber
bei vorläufiger Vormundschaft oder Unterbringung mit richterlicher Zustimmung bei
Schutzaufsicht. 130 Ihr Ziel ist die Gewährleistung einer kontinuierlichen Pflege und Erziehung des Kindes.
Pflegeeltern haben auch das Recht, eine Schutzaufsicht für das Kind (Art. 1:254 Abs. 2
BW) oder die Entziehung der elterlichen Sorge (Artt. 1:269 Abs. 1e, 1:270 Abs. 2 BW)
oder die Übertragung der Vormundschaft (Art. 1:299a BW) zu beantragen.
1.2.2 Jugendhilfeeinrichtungen
Die Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung kann freiwillig erfolgen, aber auch
durch zivil- oder strafrichterlichen Beschluss. Hinsichtlich der stationären Jugendhilfeeinrichtungen lassen sich zwei Entwicklungen beobachten. Zum einen wird seit den
70er Jahren nach weniger eingreifenden Formen der stationären Jugendhilfe gesucht.
So werden zunehmend alternative Formen der Unterbringung angeboten, meistens in
Form kleinerer Wohneinheiten in normalen Wohngebieten. Gleichzeitig nimmt aber seit
Ende des 20. Jahrhunderts die Zahl der Unterbringung in stationären Einrichtungen im
Rahmen des justiziellen Jugendschutzes und der Jugendbewährungshilfe zu. 131
129
Regeling van de Staatssecretaris van Volksgezondheid, Welzijn en Sport, houdende regels ten aanzien
van het pleegcontract, aan pleegouders te stellen eisen en vaststelling van de pleegvergoeding van
22.12.2004.
130
Vgl. Doek/Vlaardingerbroek, S. 275.
131
Vgl. die Tabelle bei Doek/Vlaardingerbroek, S. 701.
133
1.3
Observationsdiagnostik
Die Observationsdiagnostik umfasst die Untersuchungen, die erforderlich sind, um die
Daten zu erheben, die das Büro für Jugendhilfe für seinen Indikationsbeschluss benötigt (Art. 5 Abs. 1 und 3 UWjz), soweit dafür eine stationäre oder teilstationäre Unterbringung erforderlich ist. Die Observationsdiagnostik dauert in der Regel nicht länger
als sechs Wochen, kann aber – falls erforderlich - einmal um höchstens sechs Wochen
verlängert werden (Art. 5 Abs. 4 UWjz).
2.
Leistungen psychischer Gesundheitsfürsorge
Erziehungs- und Entwicklungsprobleme von Jugendlichen können auch psychische
Ursachen haben. Hilfen bei internalisierten Problemen (Ängsten, Depressionen, Wahnvorstellungen, Zwangshandlungen etc.) und externalisierten Problemen (Aufsässigkeit,
Aggression, anti-soziales Verhalten etc.) oder anderen psychischen Erkrankungen
(z.B. Essstörungen, Psychosen, psychosomatischen Störungen, posttraumatischen
Störungen) werden neben oder an Stelle der Jugendhilfe durch Kinder- und Jugendpsychologen und –psychiater in den Jugendabteilungen der GGZ (geestelijke gezondheidszorg) 132, Polikliniken und Jugendabteilungen der allgemeinen psychiatrischen
Krankenhäuser, Polikliniken und Kliniken der Einrichtungen für Kinder- und Jugendpsychiatrie erbracht.
Die Anspruchsgrundlage für Leistungen psychischer Gesundheitsfürsorge für Jugendliche mit psychiatrischen Krankheiten oder Einschränkungen, Verhaltensproblemen oder
psychischen oder psychosozialen Problemen findet sich in Art. 3 – 9 Besluit Zorgaanspraken AWBZ. Leistungen psychischer Gesundheitsfürsorge sind hauswirtschaftliche Versorgung, persönliche Versorgung, Pflege, unterstützende und aktivierende
Begleitung, Behandlung oder Unterbringung (Art. 9 UWjz).
3.
Hilfen für leicht geistig behinderte Jugendliche
Die Jugendhilfe umfasst auch Teile der Hilfen für geistig behinderte Jugendliche. Es
geht dabei um Hilfen für geistig behinderte Jugendliche oder ihre Eltern bei (drohenden) Entwicklungs- und Erziehungsproblemen. Die Indikation dieser Leistungen durch
die Büros für Jugendhilfe wird aber voraussichtlich erst ab dem 1.1.2008 erfolgen. 133
4.
Unterbringung in einer justiziellen Jugendeinrichtung als zivilrechtliche
Kinderschutzmaßnahme
Die Kapazität der justiziellen Jugendeinrichtungen ist seit 2004 von 2447 (davon 611
Plätze in geschlossenen Abteilungen) auf 2558 Plätze (davon 663 Plätze in geschlossenen Abteilungen) angestiegen. 134 Dennoch reichen die Kapazitäten nicht. Derzeit
wird ein Gesetzesentwurf 135 diskutiert, der vorsieht ab 2010 Jugendlich nicht länger in
den justiziellen Jugeneinrichtungen unterzubringen, sondern eigene vom Ministerium
für Gesundheit, Wohlfahrt und Sport finanzierte Einrichtungen zu schaffen, in denen
die Jugendlichen auch in geschlossenen Abteilungen untergebracht werden können.
5.
Nicht-indizierte Jugendhilfe
Ohne Indikation durch die Büros für Jugendhilfe sind bestimmte, v.a. kommunale Hilfen
und Beratungen zugänglich, wie Spielmöglichkeiten für Kleinkinder (peuterspeelzaalwerk), Kinderbetreuung, schulbezogene Sozialarbeit und Betreuung Jugendlicher so132
früher RIAAG (Regeling pleegzorg).
133
Kamerstukken 2005/2006, 29 815, Nr. 79.
134
Doek/Vlaardingerbroek, S. 592, Rz. 4.
135
Wetsvoorstel inzage gedragsbeïnvloedende maatregel, Kamerstukken 30 332
134
wie Unterstützung von Seiten der Jugendgesundheitsfürsorge. In den Schulen bestehen z.B. sogenannte Z.A.T.s (Zorg Advies Teams), in denen Lehrkräfte gemeinsam mit
Trägern der Jugendhilfe Entwicklungs- oder andere Probleme der Jugendlichen besprechen und Ziele setzen, und wenn nötig, die Jugendlichen an andere Träger überweisen. Diese Formen nicht-indizierter Jugendhilfe erfüllen wichtige präventive Funktionen durch pädagogische Hilfen für die Sorgeberechtigten und durch das Melden von
Problemen an die Kinderschutzbehörde. 136 Der Minister für Jugend und Familie plant
innerhalb von vier Jahren in jeder Gemeinde mindestens ein Zentrum für Jugend und
Familie einzurichten (in Schulen, Beratungsstellen, Gesundheitseinrichtungen), an das
sich Eltern von Kindern bis 18 Jahren mit Erziehungsfragen wenden können und hat
dafür 440 Millionen Euro bereitgestellt. 137
An der Schnittstelle induzierter und nicht-induzierter Jugendhilfe bieten einzelne Träger
befristete Hilfen an: So bietet das Bureau Jeugdzorg der Provinz Limburg Jugendlichen, bei denen keine Indikation für Jugendhilfe festgestellt wurde, und/oder ihre Eltern
bzw. Sorgeberechtigten Beratungsgespräche an. Diese (durchschnittlich fünf) Beratungsgespräche werden vom Bureau Jeugdzorg der Provinz Limburg selbst erbracht,
um Überweisungen an andere Leistungsträger und die damit verbundenen Wartezeiten
zu vermeiden.
Auf der Ebene der kommunalen Jugendhilfe sollen in Zukunft auch verschiedene Informationssysteme organisiert werden. Der „verwijsindex“ sammelt Risikomeldungen
über Jugendliche bis 23 Jahre verschiedener Hilfeerbringer und fördert so den Austausch und die Zusammenarbeit zwischen und innerhalb der Gemeinden. Die Meldungen sollen über die Website www.verwijsindex.nl oder automatisch über die geplante
elektronische Kinderakte erfolgen. Es werden jedoch keine inhaltlichen Angaben über
die Probleme der Jugendlichen gemacht.
Die Jugendabteilungen der gemeindlichen Gesundheitsdienste (GGD) sind auch zuständig für die Überwachung der Gesundheit von Kindern zwischen 0 und 4 Jahren
und im Schulbereich von 4 bis 12 Jahren durch Reihenuntersuchungen. Sie sollen Datenbanken mit entsprechenden Kinderakten anlegen. Ab 2008 soll jedes Kind, das in
den Niederlanden geboren wird, eine elektronische Kinderakte (Elektronisch kinddossier) bekommen. Ab 2009 soll die Führung der elektronischen Kinderakten obligatorisch sein. In die Akte werden Informationen über das Kind, seine Familiensituation und
seine Umgebung aufgenommen. Die Akten werden vom Jugendgesundheitsdienst
(jeugdgezondheidszorg) geführt. Andere Einrichtungen können Informationen liefern,
haben aber kein Einsichtsrecht. 138
6.
Adoption
6.1
Allgemeines
Erst 1956 wurde in den Niederlanden die Adoption im Bürgerlichen Gesetzbuch (Titel
12, Buch 1 BW, Art. 227-232) und im Prozessrecht geregelt (Titel 8 Buch 3, Art. 970 984 Rv). Während anfangs die Interessen des Kindes im Vordergrund standen, wurden
im Rahmen mehrerer Reformen des Adoptionsrechts die Rechte der potentiellen Adoptiveltern gestärkt: seit 1973 müssen die Adoptiveltern vor der Adoption das Kind nur ein
Jahr (anfangs drei Jahre) lang versorgt haben und eine Adoption ist auch möglich,
wenn ein Adoptivelternteil vor Ablauf dieser Zeit verstirbt. Seit 1979 besteht die Möglichkeit der Stiefelternadoption. Seit 1998 können nicht nur Ehepaare, sondern auch
Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft und Einzelpersonen ein Kind adoptieren. Die
Mindest- (18 Jahre) und Höchstgrenzen (50 Jahre) für den Altersunterschied zwischen
Adoptiveltern und – kind wurden auf die Mindestgrenze von 18 Jahren reduziert. Ein
136
Klompe-Toets, S. 176.
137
Vgl. www.jeugdengezin.nl/nieuwsberichten/2007/440-miljoen-voor-cjg.asp
138
Vgl. www.EKD.nl.
135
Höchstalter der Eltern für die Adoption niederländischer Kinder besteht nicht mehr. Das
Vetorecht des Elternteils bei der Stiefelternadoption wurde ersetzt durch ein durch den
Richter zu beurteilendes Widerspruchsrecht. Das Kind kann seiner Adoption nun schon
mit 12 Jahren statt mit 15 Jahren widersprechen. Seit dem 1.4.2001 können auch zwei
Personen gleichen Geschlechts ein Kind adoptieren. Diese Möglichkeit ist allerdings
bisher auf niederländische Kinder beschränkt. Das niederländische Parlament diskutiert derzeit eine Gesetzesänderung, nach der auch ausländische Kinder durch gleichgeschlechtliche Paare adoptiert werden können.
6.2
Verfahren
Die Adoption erfolgt in den Niederlanden in einem zweistufigen Verfahren. Zunächst
wird die Eignung der potentiellen Adoptiveltern festgestellt und dann in einem zweiten
Verfahren die Zustimmung zu einer konkreten Adoption gegeben.
Personen, die ein niederländisches Kind adoptieren wollen, müssen dies schriftlich der
Kinderschutzbehörde mitteilen. Anträge von Personen über 35 werden nicht behandelt.
Die potentiellen Adoptiveltern müssen der Erteilung eines polizeilichen Führungszeugnisse und einer medizinischen Untersuchung zustimmen. Verwaltungsvorschriften der
Kinderschutzbehörde regeln das Verfahren zur Bestimmung der Eignung als Adoptiveltern, das in der Regel ein Jahr dauert. Gegen den Beschluss der Kinderschutzbehörde
über die Eignung der potentiellen Adoptiveltern kann Widerspruch beim Justizministerium und ggf. Klage beim Verwaltungsgericht eingelegt werden. Im Falle eines positiven Beschlusses kann den potentiellen Adoptiveltern ein niederländisches Kind durch
die Kinderschutzbehörde oder ein Büro für Jugendhilfe zugewiesen werden.
Für internationale Adoptionen gelten davon abweichende Bestimmungen aufgrund des
am 1.10.1998 in den Niederlanden in Kraft getretenen Haager Abkommens und des
gleichzeitig in Kraft getretenen Gesetzes über die Adoption von ausländischen Pflegekindern (Wet Opneming Buitenlandse Pleegkinderen ter Adoptie - WOBKA).
Danach müssen Ehepaare oder Einzelpersonen, die ein ausländisches Kind adoptieren wollen, beim Justizministerium einen Antrag auf eine sog. grundsätzliche Zustimmung (beginseltoestemming) stellen. Dieser Antrag muss die erforderlichen Auskünfte
und Erklärungen enthalten. Die Antragssteller sollten nicht älter als 42 Jahre sein.
Wird der Antrag angenommen, führt die Kinderschutzbehörde ein Verfahren zur Feststellung der Eignung der potentiellen Adoptiveltern durch, die zuvor an einem Informationskurs teilnehmen müssen. Nach Feststellung der Eignung der potentiellen Adoptiveltern und der Erklärung der grundsätzlichen Zustimmung durch das Justizministerium
können diese sich an ein niederländisches Adoptionsvermittlungsbüro wenden. Gegen
die Entscheidung des Justizministeriums können Widerspruch und Klage bei der Abteilung Verwaltungsrechtsprechung des Staatsrates (Raad van State, Afdeling Bestuursrechtspraak) eingelegt werden.
6.3
Voraussetzungen der Adoption
Zentrale Voraussetzung der Adoption ist, dass sie im Interesse des Kindes liegt (Art. 1:
227 Abs. 3 BW). Dies setzt auch voraus, dass zum Zeitpunkt des Adoptionsantrags
und in der Zukunft vernünftigerweise vorhersehbar ist, dass das Kind nichts mehr von
seinen leiblichen Eltern/seinem elterlichen Elternteil zu erwarten hat. Kindern ab 12
Jahren ist Gelegenheit zu geben, ihre Meinung zu der geplanten Adoption zu äußern.
Wenn das Kind sich gegen eine Adoption ausspricht, wird der Adoptionsantrag durch
den Richter abgewiesen. Die leiblichen Eltern dürfen zum Zeitpunkt der Adoption kein
Sorgerecht für das Kind mehr haben. Widersprechen sie der Adoption, muss der Richter den Adoptionsantrag abweisen. Dies gilt nicht, wenn
der widersprechende Elternteil nicht oder kaum mit dem Kind im Familienverband
gelebt hat
oder das Kind missbraucht
136
-
oder seine Erziehung und Versorgung verwahrlost hat
oder verurteilt ist wegen eines Verbrechens gegen das zu adoptierende Kind.
Wie bereits dargestellt können Ehepaare, Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft
oder einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft, die vor dem Antrag mindestens drei
Jahre zusammengelegt haben, aber auch Einzelpersonen ein Kind adoptieren. Die
Volljährigenadoption ist in den Niederlanden grundsätzlich nicht möglich. Der Altersunterschied zwischen Kind und Adoptiveltern muss mindestens 18 Jahre betragen. Es
besteht keine Höchstgrenze für den Altersunterschied mehr. (Ehe-)Paare müssen das
Kind mindestens ein Jahr lang, Einzelpersonen mindestens drei Jahre lang im eigenen
Haushalt versorgt haben.
6.4
Folgen der Adoption
Durch die Adoption entstehen familienrechtliche Beziehungen zwischen dem adoptierten Kind, seinen Adoptiveltern und deren Familien (Art. 1: 229, Abs. 1 BW). Die Adoptiveltern erhalten die elterliche Sorge, können den Nachnamen des Kindes bestimmen.
Das Kind erhält das gesetzliche Erbrecht. Zu den leiblichen Eltern bestehen keine familienrechtlichen Beziehungen mehr. Haben leibliche Eltern im Zeitpunkt der Adoption
Umgang mit dem Kind, kann das Adoptionsgericht bestimmen, dass die leiblichen Eltern und das Kind ein Umgangsrecht miteinander behalten (Art. 1: 229 Abs. 4 BW). Die
Adoption ist grundsätzlich unwiderruflich. Der/die Adoptierte kann allerdings frühestens
zwei Jahre und spätestens fünf Jahre nach seiner/ihrer Volljährigkeit die Aufhebung
der Adoption beantragen (Art. 1: 231 BW). Das Gericht wird der Aufhebung zustimmen,
wenn sie im Interesse des/der Adoptierten liegt. Mit der Aufhebung der Adoption lebt
die rechtliche Situation vor der Adoption wieder auf.
III.
Finanzierung der Jugendhilfe
1.
Grundsätze
Die Finanzierung der Jugendhilfe ist jeweils in dem Gesetz geregelt, das den Anspruch
auf eine bestimmte Art von Jugendhilfe regelt.
Die Finanzierung der psychischen Gesundheitsfürsorge für Jugendliche und der Hilfen
für leicht geistig behinderte Jugendliche erfolgt durch die Volksversicherung gegen
besondere Krankheits- und Pflegekosten auf der Basis des Allgemeinen Gesetzes für
besondere Krankheitskosten (Algemene Wet Bijzondere Ziektekosten - AWBZ) aus
Beiträgen der Versicherten.
Die Jugendhilfe, auf die nach dem Wet op de Jeugdzorg Anspruch besteht, wird durch
die Provinzen finanziert. Diese erhalten dafür vom Reich zweckbestimmte Finanzmittel
für die Büros für Jugendhilfe und die Leistungen der Jugendhilfe. Die Mittel für die Arbeit der Büros für Jugendhilfe umfassen zum einen die Mittel zur Erfüllung der folgenden Aufgaben: Indikation, Schutzaufsicht, Vormundschaft, Jugendbewährungshilfe,
Beratungs- und Meldepunkt Kinderschutz. Zum andern die Mittel für die Beratung, Information und Weiterbildung, die Kontakte mit anderen insbesondere kommunalen
Einrichtungen der Jugendhilfe und Schulen, telefonische Beratung und eigene Jugendhilfeangebote.
Aus den Mitteln für die Leistungen der Jugendhilfe werden die Leistungen der Leistungserbringer finanziert. Die Leistungserbringer stellen dazu einen Subventionsantrag
bei der Provinz, der Art, Inhalt und Umfang der angebotenen Produkte in Modulform
beschreibt und den Preis dafür benennt. Die Provinz beschließt dann die Menge und
den Preis der subventionierten Leistungen. Am Ende des Jahres legt der Leistungserbringer eine durch einen Wirtschaftsprüfer beglaubigte Abrechnung vor, aus der sich die
tatsächlichen Kosten ergeben. Wurden weniger Leistungen erbracht als dem Subventionsbeschluss zugrundegelegt wurden, wird entsprechend weniger Subvention an den
Leistungserbringer gezahlt.
137
2.
Beitrag der Eltern
Bei teilstationären und stationären Erziehungshilfen sehen Artt. 69 – 70 Wjz eine Eigenbeteiligung der Eltern entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit vor. Eine Ausnahme
gilt bei Unterbringung in einer Krisensituation. In diesem Fall müssen für maximal 6
Wochen keine Beiträge gezahlt werden. Das Büro für Jugendhilfe meldet dem Landesbüro für die Einziehung von Unterhaltsansprüchen (Landelijk Bureau Inning Onderhoudsbijdragen), wann eine teilstationäre oder stationäre Erziehungshilfe, für die
eigene Beiträge der Eltern vorgeschrieben sind, beginnt und endet (Art. 12 Wjz).
Die Höhe der Beiträge der Eltern zu den Kosten der Unterbringung ist in Art. 70 UWjz
festgelegt. Sie wird jährlich angepasst und hängt ab vom Alter des Kindes, der Art der
Unterbringung und der Anzahl der Tage der Unterbringung. Sie beträgt ab 1.1.2007 pro
Monat:
Tage pro Woche
1
2
3
4
5
6 und mehr
IV.
Stationäre Unterbringung
Alter des Kindes
0-5
6-11
12-20
8,72 11,99 15,26
17,4
3
26,1
5
34,8
7
43,5
9
65,3
8
23,97
30,51
35,96
45,77
47,95
61,02
59,93
76,28
89,90
114,42
Teilstationäre Unterbringung
Alter des Kindes
0-5 6-11 12-20
6,5 8,99 11,44
4
13, 17,9 22,88
08 8
19, 26,9 34,33
61 7
26, 35,9 45,77
15 6
32, 44,9 57,21
69 5
32, 44,9 57,21
69 5
Verfahren und gerichtliche Kontrolle
Nicht-indizierte Jugendhilfe kann von den Jugendlichen oder den Sorgeberechtigten
ohne Indikationsbeschluss in Anspruch genommen werden. In allen anderen Fällen ist
ein Indikationsbeschluss erforderlich, sog. indizierte Jugendhilfe.
1.
Antrag
Die indizierte Jugendhilfe wird i.d.R. von Eltern bzw. Sorgeberechtigten oder den Kindern/Jugendlichen selbst beim Büro für Jugendhilfe beantragt. Anträge auf Jugendhilfe
können sowohl die Jugendlichen selbst stellen, als auch ihre Eltern, Sorgeberechtigten
und Personen, die das Kind in ihren Haushalt aufgenommen haben und für es sorgen.
Eltern oder Dritte können ohne Zustimmung des Jugendlichen keinen Antrag auf Jugendhilfe für diesen stellen (Art. 7 Abs. 2 Wjz). Wenn er jünger ist als 12 Jahre oder
älter, aber nicht zu einer vernünftigen Einschätzung seiner Belange fähig, ist die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters erforderlich (Art. 7 Abs. 3 Wjz). Nach dem bis
zum 31.12.2004 geltenden Wet op de jeugdhulpverlening hatten die Eltern eine Vetorecht hinsichtlich von Maßnahmen der Jugendhilfe: ohne ihre Zustimmung konnten
keine Jugendhilfeleistungen erbracht werden. Art. 7 Abs. 4 -5 Wjz regelt nun, dass Jugendliche ab 16 Jahren selbst über die Jugendhilfemaßnahmen entscheiden. Bei Jugendlichen zwischen 12 und 16 Jahren entscheiden die Eltern und der Jugendliche
gemeinsam. Verweigern die Eltern ihre Zustimmung zum Antrag auf Jugendhilfe, so
kann diese auf ausdrücklichen Wunsch des Jugendlichen doch gewährt werden, wenn
der Jugendliche mit vernünftiger Begründung an diesem Wunsch festhält. Verweigert
138
der Jugendliche seine Zustimmung zum Antrag der Eltern bzw. Sorgeberechtigten,
kann das Büro Jugendhilfe dennoch einen Indikationsbeschluss fassen, wenn die Hilfe
nötig ist.
Darüber hinaus kann das Büro für Jugendhilfe gem. Art. 7 Abs. 6 Wjz bei der Ausführung der ihm im Rahmen der zwingenden Jugendhilfe übertragenen Aufgaben (Vormundschaft, Familienvormundschaft, Jugendbewährungshilfe) und bei Anträgen der
Kinderschutzbehörde (Raad voor de Kinderbescherming) und der Staatsanwaltschaft
(Openbaar Ministerie) ohne Antrag des Klienten einen Indikationsbeschluss erlassen.
Das Büro für Jugendhilfe kann aber auch ohne Antrag der Anspruchsberechtigten, z.B.
auf einen Hinweis einer Schule oder eines Sportvereins hin, tätig werden (sog. outreachende taak, Art. 5 Abs. 3 Wjz). In diesen Fällen nimmt das Büro für Jugendhilfe von
sich aus Kontakt mit den Betroffenen zur Klärung des Hilfebedarfs auf. Bei fehlender
Mitwirkungsbereitschaft der Eltern oder in schwerwiegenden Fällen kann im Benehmen
mit der Kinderschutzbehörde (Raad voor de Kinderbescherming) geprüft werden, ob
eine Maßnahme zum Schutz des Jugendlichen erforderlich ist (Art. 9 Wjz).
2.
Feststellung des Hilfebedarfs/ Indikationsstellung
Das Büro für Jugendhilfe bestimmt, ob der Klient Hilfe benötigt und welche Hilfe in
Betracht kommt. Ein Indikationsbeschluss ist nicht nur für die Inanspruchnahme von
Jugendhilfe im engeren Sinn, sondern auch für die psychische Gesundheitsfürsorge für
Jugendliche, für die Jugendhilfe für geistig behinderte Jugendliche und für die zivilrechtliche Unterbringung in einer justiziellen Jugendeinrichtung erforderlich. Die psychische Gesundheitsfürsorge für Jugendliche durch die Einrichtungen für psychische
Gesundheitsfürsorge ist auch über die Überweisung durch den Hausarzt zugänglich.
Der Landesjugendhilfeplan 2005 strebt aber an, dass der Zugang auch zu den Einrichtungen für psychische Gesundheitsfürsorge zunehmend über die Büros für Jugendhilfe
erfolgt. 139 Ab 2008 soll die Indikationsfeststellung für leicht geistig behinderte Jugendliche nicht mehr durch die Centra voor Indicatie Zorg (CIZ), sondern durch die Büros für
Jugendhilfe erfolgen.
Schwierig ist dabei insbesondere die Feststellung des Hilfebedarfs von leicht geistig
behinderten Jugendlichen (LVG-doelgroep) und für diejenigen, die Jugendhilfe durch
Einrichtungen der psychischen Gesundheitsfürsorge benötigen. Für letztere ist ein besonderes Protokoll entwickelt worden.
Der Indikationsbeschluss enthält Regelungen darüber, welche Art von Jugendhilfe erforderlich ist und für welche Problematik, den Inhalt, die Dauer und das Ziel der Jugendhilfe, und die Frist, binnen der der Anspruch auf Jugendhilfe geltend gemacht
werden muss (Art. 6 Abs. 1 Wjz). Soweit Koordinierungsbedarf besteht (z.B. bei mehreren Leistungserbringern) wird im Indikationsbeschluss auch angegeben, welche Instanz die Koordinierung übernehmen sollte (Art. 6 Abs. 2 Wjz). 140
3.
Erbringung von Leistungen der Jugendhilfe
Die Jugendhilfe muss innerhalb von 13 Wochen nach Erlass des Indikationsbeschlusses in Anspruch genommen werden, sonst ist eine erneute Indikation erforderlich (Art.
24 UWjz). Das Büro für Jugendhilfe unterstützt den Jugendlichen und seine Sorgeberechtigten bei der Realisierung des Anspruchs auf Jugendhilfe und bei der Auswahl der
Leistungserbringer. Der Jugendliche kann das Büro für Jugendhilfe bevollmächtigen.
Es achtet auf die Abstimmung zwischen verschiedenen Leistungserbringern und auf
die Erstellung eines Hilfeplans durch den/die Leistungserbringer (Art. 17 Abs. 2 Wjz).
139
Doek/Vlaardingerbroek, S. 615.
140
Art. 15 – 20 Uwjz.
139
Der Hilfeplan beschreibt auf der Basis des Indikationsbeschlusses anhand der sog.
SMART-CP-Kriterien 141 Ziele, die den Wünschen und Möglichkeiten der Jugendlichen
entsprechen.
Die Verantwortung für ein ausreichendes Angebot an Jugendhilfemaßnahmen liegt bei
den Provinzen bzw. den großstädtischen Regionen (Art. 3 Abs. 2 Wjz). Die Leistungserbringer, die von den Provinzen Subventionen erhalten, sind verpflichtet, Jugendhilfe
an Klienten mit Indikationsbeschluss der Provinzen, von denen sie subventioniert werden, zu erbringen. Dies gilt nicht, wenn sie überhaupt nicht subventioniert werden, oder
die subventionierten Kapazitäten bereits erschöpft sind. Allerdings gibt es im Bereich
der Jugendhilfe teilweise erhebliche Wartezeiten auch im ambulanten Bereich. 142 Um
Wartezeiten zu vermeiden, kann auf eine andere Hilfe ausgewichen werden, die im
Indikationsbeschluss benannt ist, die sog. second best option (Art. 15 UWjz). Ihre Inanspruchnahme ändert nichts am Anspruch auf die eigentlich indizierte Hilfe. Sobald
diese verfügbar ist, kann sie in Anspruch genommen werden.
Die Leistungserbringung erfolgt in der Regel durch freie Leistungserbringer und nur in
Ausnahmefällen durch das Büro für Jugendhilfe 143. Dies ist der Fall, wenn der Jugendliche nur einfache (=nicht induzierte) ambulante Hilfe benötigt. In Limburg wird diese
Hilfe im sog. Fünf-Gespräche-Modell erbracht. Das Fünf-Gespräche-Modell soll verhindern, dass bei einfachem Hilfebedarf Zeit durch Verweisung an einen anderen Hilfeerbringer verloren wird. Diese einfache ambulante Hilfe ist nach Absprache zwischen
den Gemeinden und dem Büro für Jugendhilfe von den Gemeinden zu finanzieren.
4.
Evaluation der Leistungserbringung und Nachsorge
Während der Durchführung der Hilfemaßnahme(n) ist das Büro für Jugendhilfe weiterhin Ansprechpartner für den Klienten und hilft ihm bei der Realisierung seines Leistungsanspruchs. 144
Das Büro für Jugendhilfe evaluiert die Leistungserbringung. Dazu steht es im engen
Kontakt mit den Leistungserbringern, die ihm die erforderlichen Informationen übermitteln.
5.
Mitbestimmung der Klienten
Das Wet op de Jeugdzorg sieht verschiedene institutionelle Formen der Mitbestimmung, aber auch Beteiligungsrechte der Klienten vor.
5.1
Beteiligungsrechte
Grundsätzlich erfolgt eine Untersuchung zum Zwecke der Indikation nur auf Antrag
oder mit Zustimmung des Klienten (Art. 7 Wjz). Kinder ab 12 Jahren sind im Indikationsverfahren anzuhören. Der Jugendhilfeplan des Büros für Jugendhilfe und der Jugendhilfeplan des jeweiligen Leistungserbringers müssen mit dem Klienten besprochen
werden (Art. 12 Abs. 3 S. 2, Art. 24 Abs. 5 S. 1 Wjz). Der Hilfeplan des Leistungserbringers bedarf der Zustimmung des Klienten, es sei denn es handelt sich um eine
Maßnahme des Kinder- und Jugendschutzes. Wenn der Klient jünger als 12 Jahre alt
ist oder älter als 12 Jahre, aber nicht imstande seine eigenen Interessen vernünftig zu
beurteilen, ist die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters erforderlich.
Die Klienten haben auch ein Recht zur Einsichtsnahme von Berichten und Akten und
eine Recht auf Kopien
141
Spezifisch, messbar, aktuell, realistisch, zeitgebunden – konkret und positiv.
142
Vgl. den Brief der Staatssekretärin des Ministeriums für Gesundheit, Wohlfahrt und Sport vom Mai
2006, Kamerstukken 2005/2006, 29 815, Nr. 71, S. 1. Vgl. Doek/Vlaardingerbroek, S. 643 ff.
143
144
Ambulante Jugendhilfe, soweit im Jugendhilfeplan der Provinz vorgesehen (Art. 10 Abs. 2 b Wjz).
Doek/Vlaardingerbroek weisen auf die wichtige Rolle des Büros für Jugendhilfe bei wenig motivierten
Klienten hin.
140
5.2
Vertrauensperson
Die Klienten der Jugendhilfe sollen darüber hinaus die Möglichkeit haben, sich an eine
Vertrauensperson zu wenden (Art. 57 Abs. 1 Wjz). Die Provinz kann dazu unabhängige
Einrichtungen bezahlen, deren Leistungen dann von den Klienten in Anspruch genommen werden können (Art. 41 Abs. 4 Wjz). Die Organisation von Vertrauenspersonen auf Provinzebene soll eine größere Unabhängigkeit und eine bessere Schulung,
Unterstützung und Begleitung der Arbeit der Vertrauenspersonen gewährleisten. 145
5.3
Klientenrat
Gem. Art. 58 ff. Wjz müssen die Büros für Jugendhilfe und die Leistungserbringer einen Klientenrat als Interessenvertretung der Klienten einrichten. Sie müssen den Klientenrat bei einer Vielzahl von Angelegenheiten anhören, z.B. bei der Veränderung der
Aufgabenstellung einer Einrichtung, bei einer teilweisen Aufhebung, einem Umzug
oder umfangreichem Umbau einer stationären Einrichtung, bei der Ernennung von
Personen mit Leitungsfunktionen auf oberster Ebene, bei der Aufstellung des Haushalts und der Jahresabrechnung, bei allgemeinen Fragen der Verpflegung und der Geschäftsführung auf den Gebieten der Sicherheit, der Gesundheit, Hygiene, bei Freizeitangeboten für Jugendliche etc.
6.
Außergerichtliche und gerichtliche Kontrolle
6.1
Überblick
Art. 67 – 68 Wjz regeln das Verfahren bei Beschwerden von Klienten über das Verhalten von Mitarbeitern der Büros für Jugendhilfe und der Leistungserbringer im Rahmen
der Jugendhilfe. Die Regelung lehnt sich an die im Bereich des Gesundheitssystems
geltende Regelung des Gesetzes über das Beschwerderecht der Klienten des Gesundheitssystems (Wet klachtrecht cliënten zorgsector - WKCZ) 146 an, das auch für die
psychische Gesundheitsfürsorge für Jugendliche gilt. Sie gilt für die freiwillige Jugendhilfe. Im Bereich der zwingenden Jugendhilfe (Kinderschutz) gibt es ein besonderes
Verfahren für die Kinderschutzbehörde. Für die justiziellen Jugendeinrichtungen enthält
das Beginselenwet Justitiële Jeugdinrichtingen die Beschreibung der Rechtsposition
der in einer justiziellen Jugendeinrichtung untergebrachten Jugendlichen und ihrer
Rechtsschutzmöglichkeiten.
6.2
Beschwerdeverfahren in der Jugendhilfe
Die Büros für Jugendhilfe und die Leistungserbringer müssen gem. Artt. 67 – 68 Wjz
ein formelles Beschwerdemanagement einführen, insbesondere eine unabhängige
Beschwerdekommission einrichten und eine Regelung über das Beschwerdeverfahren
aufstellen. Beschwerden über die Behandlung des Kindes, den Umgang mit dem Kind
und/oder seinen Eltern müssen entsprechend der Regelung des Beschwerdeverfahrens bei der jeweiligen Einrichtung erhoben werden. Nach Ablauf des internen Beschwerdeverfahrens kann die Beschwerde dem nationalen Ombudsmann vorgelegt
werden. 147
145
Klompe-Toets, S. 84.
146
Wet van 29 mei 1995, Stb. 1995, 308.
147
S. www.stichtingdeombudsman.nl.
141
6.3
Das Beschwerdeverfahren bei Maßnahmen des Kindesschutzes
6.3.1 Beschwerde und Klage gegen die Kinderschutzbehörde
Das Beschwerde- und Klagerecht im Kinderschutzverfahren ist im Beschluss Beschwerdebehandlung Kinderschutzbehörde (Besluit Klachtbehandeling Raad voor de
Kinderbescherming) 148 geregelt. Dieser sieht ein zweistufiges Verfahren vor. Beschwerde über das Verhalten eines Mitarbeiters der Kinderschutzbehörde im Rahmen
eines Kinderschutzverfahrens können beim jeweiligen Niederlassungsleiter eingelegt
werden. Der Leiter der Niederlassung versucht durch Gespräche und Mediation zu
einer für den Beschwerdeführer befriedigenden Lösung des Konflikts zu kommen.
Wenn dies nicht gelingt, trifft der Leiter der Niederlassung der Kinderschutzbehörde
eine Entscheidung nach Anhörung der Parteien. Dagegen kann der Beschwerdeführer
schriftlich Klage bei einer Klagekommission einreichen. In den Niederlanden gibt es
fünf solcher Klagekommissionen. Die Klagekommission entscheidet innerhalb von
sechs Wochen nach Anhängigkeit mit schriftlichem Beschluss nach Anhörung der Parteien. Bei (auch teilweiser) Begründetheit der Klage muss der Leiter der Niederlassung
innerhalb von drei Wochen nach Zugang des Beschlusses mitteilen, welche Konsequenzen daraus gezogen werden.
6.3.2 Beschwerderecht und Klagerecht in justiziellen Jugendeinrichtungen
Das Beschwerderecht in justiziellen Jugendeinrichtungen ist im Kapitel XII des Beginselenwet Justitiële Jeugdinrichtingen geregelt. Es gilt für alle Jugendlichen, die in einer
justiziellen Jugendeinrichtung untergebracht sind. Sie bzw. ihre (Stief- oder Pflege-)
Eltern oder ihr Vormund können sich gem. Art. 64 BJJ mit Beschwerden an den zuständigen Mitarbeiter der justiziellen Jugendeinrichtung (maandcommissaris) mit der
Bitte um Vermittlung wenden. Die Beschwerde kann sich sowohl gegen Beschlüsse als
auch gegen das Verhalten des Direktors der Einrichtung gegenüber dem Jugendlichen
richten. Der Mitarbeiter legt innerhalb von 6 Wochen einen Vermittlungsvorschlag vor,
der jedoch weder den Jugendlichen noch den Direktor bindet. Der Direktor muss innerhalb von vier Wochen mitteilen, ob er den Vermittlungsvorschlag annimmt. Lehnt er
dies ab, kann der Jugendliche innerhalb von sieben Tagen Klage dagegen erheben.
Dieses Klagerecht ist in Kapitel XIII des Beginselenwet Justitiële Jeugdinrichtingen
geregelt. In der bei der Klagekommission (beklagcommissie) innerhalb von sieben Tagen nach Kenntnisnahme des Beschlusses einzureichenden Klageschrift müssen der
Beschluss und die Gründe für die Klage dargelegt werden (Art. 66 Abs. 1 und 3 BJJ).
Die Klagekommission setzt sich aus drei Vertretern der Aufsicht über die Justiziellen
Jugendeinrichtungen (commissie van toezicht) zusammen. Den Vorsitz kann nur ein
Richter ausüben.
Gegen den Beschluss der Klagekommission können beide Parteien innerhalb von sieben Tagen Berufung bei der Berufungskommission gem. Art. 74 BJJ einlegen. Die
Kommission besteht aus drei Mitgliedern, die durch den Rat für Strafrechtsanwendung
und Jugendschutz benannt werden. Die Berufungskommission muss so schnell wie
möglich einen Beschluss fassen (Art. 76 BJJ).
In Unterbringungsangelegenheiten (Unterbringung, Verlegung, Urlaub, Urlaub auf Probe, Schulungs- und Trainingsauflagen, Strafunterbrechung) gilt ein anderes Verfahren,
das sich an das allgemeine Verwaltungsrecht (Algemene Wet Bestuursrecht) anlehnt.
Gem. Art. 18 BJJ kann der Jugendliche Widerspruch bei der Instanz einlegen, die über
die Unterbringung entschieden hat. Hilft diese dem Widerspruch nicht ab, hat er die
Möglichkeit gegen diese Entscheidung eine Klage bei der Berufungskommission einzulegen (Art. 77 Abs. 1 BJJ).
148
Besluit van 24 juni 1996, Stb. 330.
142
Jugendliche, die in justiziellen Jugendeinrichtungen untergebracht sind, können gem.
Art. 66 – 61 Reglement justitiële jeugdinrichtigen auch gegen eine medizinische Behandlung vorgehen. Sie können bei einer besonderen Stelle (medisch adviseur) Vermittlung beantragen oder eine Klage bei einer Berufungskommission einlegen, die sich
aus zwei Ärzten und einem Juristen zusammensetzt.
V.
Das Leistungserbringerrecht
Das Leistungserbringerrecht ist nur teilweise im Wet op de jeugdzorg geregelt. Die
Details der Beziehungen zwischen Leistungserbringern und Leistungsträgern (Provinzen, Büros für Jugendhilfe) finden sich im Uitvoeringsbesluit Wet op de Jeugdzorg.
1.
Die Leistungserbringer
Anbieter von Jugendhilfe (zorgaanbieders) sind natürliche oder juristische Personen,
die Leistungen der Jugendhilfe, auf die gem. Art. 3 Wjz Anspruch besteht, erbringen
(Art. 1 g Wjz). Diese können in den Niederlanden oder im gesamten Gebiet des Europäischen Wirtschaftsraums niedergelassen sein. Vom Begriff des Anbieters von Jugendhilfe ist der Begriff der Leistungserbringers (zorgeenheid) zu unterscheiden: Der
Leistungserbringer ist eine durch den Jugendhilfeanbieter organisierte Einheit, die ein
bestimmtes Leistungspaket anbietet. Jeder Leistungserbringer muss den gesetzlichen
Qualitätsnormen entsprechen und die gesetzlich vorgeschriebenen Mitbestimmungsverfahren für die Klienten gewährleisten.
Die Leistungserbringer sollen ihr Angebot modularisieren, um es transparenter zu machen und es besser auf die Bedürfnisse der Jugendlichen abstimmen zu können.
Die Provinzen als Träger der Jugendhilfe tragen die Gewährleistungsverantwortung,
d.h. sie müssen dafür sorgen, dass die verschiedenen Formen der Jugendhilfe in ausreichendem Umfang vorhanden sind. Der Anspruch auf Jugendhilfe muss innerhalb
einer redlichen Frist erfüllt werden.
Gem. Art. 3 Abs. 6 Wjz dürfen nur Leistungsanbieter in Anspruch genommen werden,
die durch die Provinz subventioniert werden. Diese müssen nicht unbedingt im Gebiet
der Region ansässig sein. Auch Leistungsanbieter, z.B. aus grenznahen Gebieten anderer Provinzen oder anderer Staaten können subventioniert werden. Ausnahmsweise
– bei sehr seltenen Hilfen, für die es nur wenige Anbieter gibt - können auch Leistungsanbieter in Anspruch genommen werden, die nicht durch die Provinz subventioniert werden, wenn eine andere Provinz sie subventioniert und mit dieser Absprachen
bestehen.
Für subventionierte Leistungsanbieter besteht eine Pflicht zur Akzeptanz von durch das
Büro für Jugendhilfe indizierten Klienten.
2.
Die Planung
Die Planung der Jugendhilfe erfolgt sowohl auf der Ebene des Reichs, als auch auf der
Ebene der Provinzen, die die Gewährleistungsverantwortung für ein ausreichendes
Angebot an Jugendhilfe und die Funktionsfähigkeit der Büros für Jugendhilfe haben.
2.1
Die Planung durch die Provinzen
Die Jugendhilfeplanung durch die Provinzen ist in Art. 30 ff. Wjz geregelt. Die Provinzen kommen ihrer Planungsverantwortung durch die Aufstellung des Provinciaal Beleidskader Jeugdzorg (Rahmenplan Jugendhilfe der Provinz) und des Durchführungsprogramms Jugendhilfe nach. Der Rahmenplan Jugendhilfe der Provinz enthält die
Vorgaben für die Jugendhilfepolitik für vier Jahre und bestimmt das finanzielle Budget
dafür. Er wird alle vier Jahre nach Anhörung aller Beteiligten durch die Gedeputeerde
143
Staten verabschiedet. Durch die Beratung mit der Stiftung Büro für Jugendhilfe, den
Leistungsanbietern und der Kinderschutzbehörde sollen das Angebot und die Nachfrage an Jugendhilfe aufeinander abgestimmt werden. Daneben erfolgt eine Abstimmung
zwischen den verschiedenen Trägern der Jugendhilfe durch die Beratung mit den Gemeinderäten (colleges van burgemeester en wethouders) als Trägern der allgemeinen
Jugendarbeit/Jugendhilfe, den Krankenversicherungen als Trägern der Leistungen
nach dem AWBZ und dem Justizministerium als Träger der justiziellen Jugendhilfeeinrichtungen. Der Rahmenplan Jugendhilfe der Provinz muss auch Übersichten über die
Jugendhilfepläne der anderen Träger enthalten. Schließlich sind auch die Klientenorganisationen bei der Jugendhilfeplanung der Provinzen zu beteiligen. Die zuständigen
Ministerien müssen gem. Art. 31 Abs. 7 Wjz eine Abschrift des Jugendhilfeplans erhalten, um diesen auf die Übereinstimmung mit der Jugendhilfeplanung des Reichs und
anderen ministeriellen Vorgaben überprüfen und ggf. eine Anpassung der provinzialen
Jugendhilfeplanung fordern zu können (Art. 33 Wjz).
Der Rahmenplan Jugendhilfe der Provinz ist jährlich auf seine Aktualität zu überprüfen
und so weit erforderlich anzupassen. Anpassungen sind den zuständigen Ministerien
mitzuteilen.
Das jährlich gem. Art. 32 Wjz aufzustellende Durchführungsprogramm Jugendhilfe benennt die dem Rahmenplan Jugendhilfe der Provinz entsprechenden Aufgaben des
Büros für Jugendhilfe und der Leistungsanbieter in der Provinz für das jeweilige Jahr
und die entsprechenden Subventionen. Für die Aufstellung des Durchführungsprogramms Jugendhilfe gelten die gleichen Verfahrensvorschriften wie für den Rahmenplan Jugendhilfe der Provinz. Das Durchführungsprogramm Jugendhilfe bildet die Basis für die Rechtsbeziehungen mit den Leistungsanbietern.
2.2
Die Planung durch das Reich
Auch auf der Ebene des Reichs ist gem. Art. 34 Wjz alle vier Jahre ein Landesrahmenplan Jugendhilfe durch die zuständigen Ministerien nach Anhörung der Klientenorganisationen aufzustellen. Der Landesrahmenplan Jugendhilfe stützt sich auf die Rahmenplanung der Provinzen der vorangegangen vier Jahre.
Er legt die Eckpunkte für die Rahmenpläne Jugendhilfe der Provinzen fest und bestimmt die Mittel, die das Reich den großstädtischen Regionen und den Provinzen für
die Jugendhilfe zur Verfügung stellen will. Dies sind zum einen die Mittel für die Stiftungen Büro für Jugendhilfe (Art. 37 Abs. 1 a Wjz) und für die Jugendhilfe nach dem
Wjz (Art. 37 Abs. 1 b Wjz). Der Landesrahmenplan Jugendhilfe enthält darüber hinaus
eine Übersicht über die nicht nach dem Wjz finanzierte Jugendhilfe der Gemeinden,
Krankenversicherungsträger und des Justizministeriums. Der Landesrahmenplan ist in
Abschrift an beide Kammern des Parlaments und an die Provinzen zu senden. Wie die
Jugendhilfepläne der Provinzen ist er jährlich zu überprüfen und ggf. anzupassen. Die
Ministerien müssen darüber hinaus einen jährlicher Fortschrittsbericht Jugendhilfe
(Voortgangsrapportage jeugdzorg) mit Übersichten über die (geplante oder erfolgte)
Zuweisung der Finanzmittel im kommenden und in den letzten beiden Jahren und den
Ausgaben der Provinzen für Jugendhilfe im vorangegangen Jahr erstellen.
Derzeit gilt der Landesrahmenplan Jugendhilfe 2005 – 2008, dessen Ziele
•
eine aneinander anschließende Kette von Jugendhilfe,
•
die Verbesserung der Qualität der Büros für Jugendhilfe und der Abbau von Bürokratie,
•
die Verbesserung der Qualität, Effektivität u. Effizienz des Jugendhilfeangebots,
•
die Verbesserung des Zugangs, insbesondere die Verringerung von Wartezeiten
und die Verbesserung der Beteiligung von Klienten zu/an den Dienstleistungen
der Jugendhilfe sind.
Wichtige Maßnahmen zur Erreichung dieser Ziele sind die Verpflichtung der Leistungserbringer und der Büros für Jugendhilfe Qualitätssicherungssysteme einzuführen und
die Verpflichtung der Leistungserbringer, für jeden Klienten einen Hilfeplan aufzustellen.
144
3.
Qualitätssicherung
Die Anbieter von Jugendhilfe erklären sich mit der Anfrage von Subventionen auf der
Basis des Durchführungsprogramms Jugendhilfe bereit, bestimmte Aktivitäten aus dem
Durchführungsprogramm zu realisieren. Bei mehreren Anbietern findet eine Auswahl
durch die Provinz nach Qualität und Preis der angebotenen Leistungen statt.
Das Durchführungsprogramm enthält zum Zweck einer besseren Marktübersicht auch
eine Übersicht über die Aktivitäten der letzten beiden Jahre und die Höhe der an die
einzelnen Leistungsanbieter gezahlten Subventionen, sowie eine Übersicht über die
geplanten Aktivitäten der übrigen Träger der Jugendhilfe.
Gem. Art. 20 – 24 Wjz müssen die Anbieter von Jugendhilfe Hilfe auf einem guten Niveau anbieten, die jedenfalls effektiv, effizient und klientenorientiert ist (sog. verantwortete Hilfe). Qualitätsverpflichtungen gelten aber nicht nur für die Anbieter von Jugendhilfe, sondern auch für das Büro für Jugendhilfe. Diese leiten sich aus den Anforderungen des Gesetzes „Qualität von Einrichtungen der Gesundheitspflege“ (Kwaliteitswet zorginstellingen) 149 ab, die auch für die Büros für Jugendhilfe gelten.
Für die Kontrolle der Qualitätsverpflichtungen ist im Bereich der Jugendhilfe nach dem
Wjz die Inspectie Jeugdzorg, im Bereich der freiheitsbeschränkenden Jugendhilfemaßnahmen der Rat für die Strafrechtsanwendung und Jugendschutz (Raad voor de
Strafrechtstoepassing en Jeugdbescherming), im Bereich der psychischen Gesundheitsfürsorge für Jugendliche und der Hilfen für leicht geistig behinderte Jugendliche
die Inspektion Gesundheitspflege (Inspectie Gezondheitszorg) zuständig.
Das Wjz verpflichtet die Anbieter von Jugendhilfe zur Einführung von Qualitätssicherungsmaßnahmen (kwaliteitssystemen) und Hilfeplänen.
Neue Leistungsanbieter sollen in Zukunft anhand eines Qualitätsprotokolls geprüft
werden, ehe ihnen Kinder und Jugendliche zugewiesen werden. Dieses Qualitätsprotokoll wird vom Ministerium für Gesundheit, Wohlfahrt und Sport gemeinsam mit der
interprovinzialen Arbeitsgemeinschaft (IPO: interprovinciaal overleg) und der Inspektion
Jugendhilfe (inspectie jeugdzorg) entwickelt.
F.
Andere Aufgaben der Jugendhilfe
I.
Allgemeines
Der Schutz von Kindern und Jugendlichen ist Aufgabe der Kinderschutzbehörde und
Gerichte. Mit dem Wet op de Jeugdzorg sollte der Kinder- und Jugendschutz mit der
freiwilligen Jugendhilfe zusammengeführt werden, um Jugendlichen mit einer Jugendschutzmaßnahme den Zugang zu allen Formen von Jugendhilfe zu eröffnen. Daher
wurde das Büro für Jugendhilfe auch mit einer Anzahl von Aufgaben im Bereich des
Jugendschutzes betraut (Art. 10 Abs. 1 Wjz), die es in Zusammenarbeit mit anderen
Akteuren der zwingenden Jugendhilfe, wie den Gerichten und der Kinderschutzbehörde erfüllt:
149
die Ausübung der Vormundschaft und der vorläufigen Vormundschaft,
Ausübung der Schutzaufsicht (Art. 1: 254 BW) = Familienvormundschaft,
Hilfe für die und Unterstützung der Sorgeberechtigten während der Schutzaufsicht (Art. 1:257 BW),
Begleitung und Aufsicht während der Bewährungszeit bei straffälligen Jugendlichen,
Aufsicht über die und Begleitung der Jugendlichen während der Schulungs- und
Trainingsprogramme,
die Aufgabe einer Beratungs- und Meldestelle bei Misshandlung von Kindern.
Gesetz vom 18.1.1996, Stbl. 1996, S. 80.
145
Die Kinderschutzbehörde wurde dadurch zu einer Einrichtung in zweiter Linie, die nur
noch über das Büro für Jugendhilfe erreichbar ist.
II.
Gerichtlicher Kindesschutz und Mitwirkung der Jugendbehörden 150
Gerichtliche Maßnahmen zum Kindesschutz sind im niederländischen Bürgerlichen
Gesetzbuch (Burgerlijk Wetboek – BW) geregelt. Das niederländische Zivilgesetzbuch
kennt drei gesetzliche Kindesschutzmaßnahmen: die Schutzaufsicht, die Enthebung
von der elterlichen Sorge und die Entziehung der elterlichen Sorge. In den beiden letzteren Fällen ist ein Vormund einzusetzen.
1.
Einleitung des Verfahrens des Kindesschutzes
Ein Verfahren zum Schutz des Kindes wird auf Anzeige von Dritten (Nachbarn, Familienmitglieder, Lehrer) oder des Kindes selbst oder auf Initiative des Büros für Jugendhilfe eingeleitet. Die Büros für Jugendhilfe unterhalten dazu die Beratungs- und Meldestellen für Kindesmisshandlung (Advies- en Meldpunt Kindermishandeling – AMK), 151
die über die Telefonnummer 0900-1231230 telefonisch erreichbar sind. Das Büro für
Jugendhilfe entscheidet darüber, ob eine Einschaltung der Kinderschutzbehörde erforderlich ist. In diesem Fall gibt es die entsprechenden Informationen an die Kinderschutzbehörde (Raad voor de Kinderbescherming) weiter, die dann ein Untersuchungsverfahren einleitet. 152 In Einzelfällen kann die Kinderschutzbehörde auch auf
eigene Initiative tätig werden, z.B. wenn sie im Rahmen eines bereits laufenden gerichtlichen Verfahrens von Umständen Kenntnis erhält, die ein Eingreifen der Kinderschutzbehörde erforderlich machen.
2.
Die Untersuchung
Die Untersuchung der Kinderschutzbehörde soll ein umfassendes und klares Bild der
Situation des Kindes und seiner Familie ergeben. Der Mitarbeiter der Kinderschutzbehörde (raadsonderzoeker) führt dazu Gespräche mit den Familienmitgliedern und Menschen aus deren direkter Umgebung, sowie anderen Personen, wie dem Hausarzt,
Sozialarbeitern und Lehrern. Falls erforderlich können neben internen Experten (Psychologen, Juristen) auch externe Experten zugezogen werden. Am Ende der Untersuchung erstellt der Untersuchungsleiter ein Gutachten, das neben einer Beschreibung
der Untersuchung die Schlussfolgerungen und die Empfehlung der Kinderschutzbehörde enthält und auch der richterlichen Entscheidung über den Erlass einer Schutzmaßnahme zugrunde gelegt wird. Das Gutachten ist für den Richter jedoch nicht bindend. Die Klienten können den Entwurf des Gutachtens einsehen und Anmerkungen
zur Korrektur oder Ergänzung machen. Sie erhalten Gelegenheit, das endgültige Gutachten im Büro der Kinderschutzbehörde einzusehen und erhalten grundsätzlich eine
Abschrift. Die Abschrift kann aus verschiedenen Gründen verweigert werden, u.a.
wenn durch die Abschrift die Verhinderung oder Verfolgung einer Straftat beeinträchtigt
werden könnte, oder dies zum Schutz des Betroffenen oder Dritter erforderlich ist. Für
die Erstellung des Gutachtens bestehen Richtlinien des niederländischen Justizministeriums, die sog. Normen 2000. 153 Die Richtlinien beschreiben u. a., wie eine Untersu150
Für die Vorarbeiten zu diesem Teil im Rahmen des Europäischen Kooperationsseminars des Masterstudiengangs „Beratung und Vertretung im Sozialen Recht“ an der Fachhochschule Köln danke ich Nathalie Pichler (Dipl.-SA, M.A.) und Sandra Wirbelauer (Dipl.-SA, M.A.).
151
www.amk-nederland.nl
152
Vgl. die Broschüre des Justizministeriums, Wenn das Erziehen ein Problem ist – Über das Jugendamt,
Mai 2004 (Übersetzung der Broschüre: Als opvoeden een probleem is – Over de Raad van de Kinderbescherming).
153
Die Normen 2000 sind auf der Website der Kinderschutzbehörde zu finden
(www.kinderbescherming.nl). Vgl. Justizministerium, N 82, S. 3.
146
chung durchgeführt wird, welche Informationen im Bericht erfasst werden, und wie lange die Untersuchung dauern darf. Die Kinderschutzbehörde hat verschiedene Qualitätssicherungsmaßnahmen eingeführt, u.a. ein Model des Niederländischen Qualitätsinstituts (Instituut Nederlandse Kwaliteit – INK), und arbeitet mit der Klientenorganisationen wie der Plattform Service und Dienstleistungen für Klienten in Jugendhilfe und
Familienrecht (Platform Service- en Dienstverlening aan Cliënten in Jeugdzorg en Familierecht – SCJF) 154 zusammen.
Die Klienten können sich während der Erstellung der Untersuchung und bei weiteren
Kontakten mit der Kinderschutzbehörde durch eine Vertrauensperson begleiten lassen.
Eine Schutzmaßnahme wird nur angeordnet, wenn freiwillige Hilfe nicht (mehr) ausreichend ist, oder die Eltern keine Hilfe akzeptieren und die Untersuchung bestätigt, dass
die Entwicklung des Kindes ernsthaft gefährdet ist. 155
3.
Schutzaufsicht
Die Schutzaufsicht 156 kann durch den Kinderrichter angeordnet werden, wenn einem
Kind körperlicher oder seelischer Schaden droht. Ziel der Schutzaufsicht ist es, dem
Minderjährigen und den mit der Sorge betrauten Eltern oder Dritten Hilfe und Unterstützung zu bieten (Art. 1:257 Abs. 1 BW). Die elterliche Sorge wird durch die Schutzaufsicht nicht berührt.
3.1
Voraussetzungen der Schutzaufsicht
Der Kinderrichter kann einen Minderjährigen nach Untersuchung durch die Kinderschutzbehörde der Schutzaufsicht (Onder-Toezicht-Stelling) eines Büros für Jugendhilfe unterstellen, wenn der Minderjährige unter Umständen aufwächst, die seine sittlichen oder psychischen Interessen oder seine Gesundheit ernsthaft bedrohen und anderen Mittel zur Abwendung dieser Bedrohung gescheitert sind oder wahrscheinlich
scheitern werden (Art. 1:254 Abs. 1 BW) und die Schutzaufsicht im Interesse des Jugendlichen ist (Art. 1:254 Abs. 4 BW). Mit der Anordnung der Schutzaufsicht ist kein
Entzug der elterlichen Sorge verbunden. Der Jugendliche erhält einen fachlich dafür
qualifizierten Mitarbeiter des Büros für Jugendhilfe als Familienvormund (gezinsvoogd,
gezinsvoogdijwerker) zugewiesen. Den Eltern ist die Verantwortung für die Versorgung
und Erziehung so weit wie möglich zu belassen (Art. 1:257 Abs. 2 BW). Primäres Ziel
der Schutzaufsicht ist die Unterstützung der Eltern bei der Erziehung. Obwohl die
Schutzaufsicht eine weniger belastende Maßnahme ist als die Entziehung des Sorgerechts, wird derzeit diskutiert, andere weniger eingreifende Schutzmaßnahmen einzuführen. 157
Die vorläufige Schutzaufsicht kann auf Antrag der Kinderschutzbehörde durch den
Richter angeordnet werden, wenn ein Kind ernsthaft und unmittelbar gefährdet ist. Die
vorläufige Schutzaufsicht dauert höchstens 3 Monate.
3.2
Verfahren
Den Antrag auf eine Kinderschutzmaßnahme kann ein Elternteil oder ein Dritter, der
das Kind als zu seiner Familie gehörend versorgt und erzieht, die Kinderschutzbehörde
(Raad voor de Kinderbescherming) oder die Staatsanwaltschaft (Openbaar Ministerie)
(Art. 1: 254 Abs. 4 BW) beim Jugendrichter stellen.
154
Vgl. Doek/Vlaardingerbroek S. 755.
155
Vgl. Justizministerium, N 82, S. 4.
156
In der deutschen Literatur, aber auch in Übersetzungen der niederländischen Behörden finden sich
Begriffe wie Erziehungsbeistandschaft, der im deutschen einen anderen Inhalt hat, oder Anordnung der
Aufsicht über Minderjährigen oder Familienvormundschaft.
157
Vgl. Doek/Vlaardingerbroek, S. 699. Eine solche Maßnahme könnte z.B. darin bestehen, die Eltern zur
Inanspruchnahme von Erziehungshilfe zu drängen.
147
Die Kinderschutzbehörde ist kraft Gesetzes befugt, von sich aus die Versorgungs- und
Erziehungssituation eines Kindes zu untersuchen, um festzustellen, ob seine sittlichen,
seelischen oder gesundheitlichen Interessen gefährdet sind.
Das Büro für Jugendhilfe kann, wenn es im Rahmen eines Indikationsfeststellungsverfahrens Maßnahmen der zwingenden Jugendhilfe erwägt, weitere Untersuchungen bei
der Kinderschutzbehörde beantragen. Während dieser Untersuchungen kann eine vorläufige Schutzaufsicht für einen Zeitraum angeordnet werden.
Durch das Gesetz zur Reform der Maßregel der Schutzaufsicht (Onder-ToezichtStelling – OTS) vom 26.4.1995 158 wurde den Büros für Jugendhilfe eine neue Aufgabe
im Bereich der gerichtlichen Jugendhilfe zugewiesen. Bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes waren die Jugendrichter (kinderrechter) nicht nur zuständig für die Anordnung
der Schutzaufsicht, sondern auch für die Überwachung ihrer Durchführung. Nun sind
beide Funktionen getrennt. Der Jugendrichter ordnet die Schutzaufsicht an, die Büros
für Jugendhilfe als Einrichtungen der Familienvormundschaft führen sie aus.
Die Schutzaufsicht dauert höchstens ein Jahr (Art. 1:254 Abs. 1 BW), kann aber auf
Antrag des Büro für Jugendhilfe durch den Jugendrichter jeweils um ein Jahr verlängert
werden bis zum 18. Geburtstag des Minderjährigen (Art. 1:256, Abs. 1 und 2 BW). Die
Kinderschutzbehörde führt die Aufsicht über die Durchführung der Schutzaufsicht
durch das Büro für Jugendhilfe. Sie kann auch gegen den Willen des Büros für Jugendhilfe die Verlängerung der Schutzaufsicht beantragen.
Kinder ab dem 12. Lebensjahr haben das Recht, vor Ernennung des Vormunds gehört
zu werden und haben ein eigenes Antrags- und Beschwerderecht.
3.3
Durchführung der Schutzaufsicht
Die Büros für Jugendhilfe überwachen den Jugendlichen und sorgen dafür, dass dem
Minderjährigen und seinen sorgeberechtigten Eltern Hilfe und Unterstützung gewährt
wird, um so die Gefährdung der sittlichen oder psychischen Belange des Jugendlichen
oder seiner Gesundheit abzuwenden (Art. 257 Abs. 1 BW.) Dazu sind bei den Büros
für Jugendhilfe Fachkräfte angestellt, die pädagogische Familienhilfe gewähren und als
Familienvormund bezeichnet werden. Sie erstellen - wie in den Fällen der freiwilligen
Jugendhilfe - eine Diagnose des Hilfebedarfs des Jugendlichen und stellen – möglichst
im Zusammenwirken mit dem Jugendlichen und seiner Familie - einen Familienvormundschaftshilfeplan auf. Wenn neben der zwingenden Jugendhilfe freiwillige Jugendhilfe erbracht werden soll, müssen die Hilfepläne aufeinander abgestimmt werden. Angebote zur Hilfe für die und Unterstützung der Eltern sollen den/m mit der elterlichen
Sorge betrauten Eltern(teil) die Verantwortung für die Versorgung und Erziehung des
Kindes soweit wie möglich überlassen (Art. 1:257 BW). Bei Entscheidungen mit erheblichen Folgen für das Kind, wie z.B. die Schulwahl, ist die Zustimmung der Eltern zwingend erforderlich. Wenn der Alters- und Entwicklungsstand des Minderjährigen und
dessen Fähigkeit, selbständig zu handeln, dazu Anlass geben, sind Hilfe und Unterstützung nicht nur an die Erziehungsberechtigten zu richten, sondern auch auf die Förderung der Selbständigkeit des Minderjährigen. Der Familienvormundschaftsplan wird
mit den Pädagogen/Psychologen des Büros für Jugendhilfe besprochen.
Der Familienvormund kann den Eltern und dem Minderjährigen bei fehlendem Einvernehmen schriftliche Anweisungen geben, die diese zu befolgen haben (Art. 1:258 Abs.
2 BW). Gegen diese Anweisungen können die Eltern gerichtlich vorgehen (Art. 1: 259
BW). 159
158
159
Stb. 1995, 255.
Untersuchungen im Auftrag des Justizministeriums haben ergeben, dass die Familienvormünder zu
wenig Zeit für die direkten Kontakte mit den Klienten haben (ca. 17 % ihrer Arbeitszeit). Möglichkeiten
zur Verbesserung der Arbeit der Büros für Jugendhilfe im Rahmen der Schutzaufsicht wurden vom
1.10.2002 – 1.1.2005 im Rahmen des Modellprojekts „Deltaplan Kwaliteitsverbetering Gezinsvoogdij“
erprobt. Nach Absprachen zwischen dem Justizministerium, dem Rat der Provinzen (Inter Provinciaal
Overleg) und der Branchenorganisation der Jugendhilfe (MO-Groep) soll der Deltaplan ab 2006 landesweit eingeführt werden.
148
3.4
Unterbringung (Uithuisplaatsing) Art. 1:261 BW
Die Schutzaufsicht kann auch mit einer Fremdunterbringung verbunden sein. Die
Fremdunterbringung kann auf Antrag des Büro für Jugendhilfe oder der Kinderschutzbehörde durch den Kinderrichter angeordnet werden (Art. 1:261 BW). Ein Antrag der
Kinderschutzbehörde ist nur möglich in Fällen, in denen das Kind erstmalig durch den
Kinderrichter unter Schutzaufsicht gestellt wird. Die Minderjährigen werden dann in
einer Pflegefamilie oder bei einem anderen Träger oder in einer justiziellen Jugendeinrichtung untergebracht (Art. 14 Abs. 1 BJJ, Art. 22 Abs. 1 UWjz)). Die Fremdunterbringung ist befristet. Sie wird durch das Büro für Jugendhilfe beendet, wenn die Erziehung
des Kindes nicht mehr gefährdet ist (Art. 262 BW). Während der Unterbringung sollen
die Eltern weiterhin den Kontakt zu dem Jugendlichen und dem Familienvormund aufrechterhalten und sich aktiv an der Erziehung beteiligen.
In Eilfällen kann eine sofortige Unterbringung ohne vorherige Anordnung erfolgen. Das
Gericht muss in diesen Fällen innerhalb von zwei Wochen alle Beteiligten anhören und
danach einen definitiven Beschluss fassen. In diesen Fällen wird der Beschluss verbunden mit einer vorläufigen Schutzaufsicht, wenn nicht schon früher eine Schutzaufsicht angeordnet worden war. Die Dauer der vorläufigen Schutzaufsicht ist auf drei
Monate beschränkt.
Das Büro für Jugendhilfe muss den Jugendlichen innerhalb von 13 Wochen nach de
Beschluss des Richters bei einem Leistungserbringer unterbringen (Art. 23 UWjz). 160
Bisher wurden die Jugendlichen gemeinsam mit Jugendlichen, die zu einer Jugendstrafe verurteilt worden waren, in justiziellen Jugendeinrichtungen untergebracht. Das
niederländische Parlament (Tweede Kamer) hat am 3.7.2007 beschlossen, dass Jugendliche mit ernsten Verhaltensproblemen in Zukunft in besonderen geschlossenen
Einrichtungen der Jugendhilfe untergebracht werden sollen. Die Verantwortung für diese Einrichtungen trägt das Ministerium für Gesundheit, Wohlfahrt und Sport. Bis zum
1.1.2010 soll für mehr als 1000 Jugendliche durch den Neubau von Einrichtungen und
die Umwidmung einer Anzahl von justiziellen Jugendeinrichtungen zu Einrichtungen
der geschlossenen Jugendhilfe ein ausreichendes Angebot an Hilfeplätzen geschaffen
werden sollen.
4.
Suspension und Entzug der elterlichen Sorge
Zum Schutz der Kinder kann auch die elterliche Sorge eingeschränkt werden und einem anderen übertragen werden. Das niederländische Recht kennt zwei Formen der
Einschränkung der elterlichen Sorge: die Suspension der elterlichen Sorge (ontheffing,
Art. 1:241 BW) und der Entzug der elterlichen Sorge (ontzetting, Art. 1:269 ff. BW). In
beiden Fällen ist ein Vormund zu ernennen.
4.1
Die Suspension der elterlichen Sorge
Eine Einschränkung der elterlichen Sorge ist auf Antrag der Kinderschutzbehörde
(Raad voor de Kinderbescherming) oder der Staatsanwaltschaft (OM) und grundsätzlich nur mit Zustimmung der Eltern möglich. Allerdings sieht das Gesetz in Art. 1:268
BW Ausnahmen vom Erfordernis der elterlichen Zustimmung vor (erzwungene Suspension). Voraussetzung der Suspension der elterlichen Sorge ist, dass ein Minderjähriger keine Sorgeberechtigten hat oder diese Sorge nicht ausgeübt wird, oder dass ein
Elternteil oder beide Eltern ungeeignet und unfähig sind, seiner/ihren Pflicht zur Versorgung und Erziehung des Kindes nachzukommen (Art 1: 266 BW). In dringenden
Fällen ist eine vorläufige Suspension für die Dauer von höchstens 6 Wochen zulässig.
Der Jugendrichter kann diese Frist auf längstens 12 Wochen verlängern.
160
sog. Versilber-Frist (verzilveringstermijn).
149
4.2
Der Entzug der elterlichen Sorge
Das Sorgerecht kann den Eltern wegen Missbrauchs der elterlichen Gewalt, wegen
grober Verletzung der Unterhalts- und Erziehungspflichten, wegen Führung eines
schlechten Lebenswandels, Bestrafung wegen bestimmter gesetzlich benannter
Verbrechen oder Vergehen, Nichtbefolgen der Anordnungen des Vormunds und wegen
der Befürchtung, dass der betreffende Elternteil das Kind von einer anderen Person,
die die Versorgung und Erziehung des Kindes übernommen hat, zurückholen werde,
entzogen werden, wenn dies zum Wohle des Kindes erforderlich ist (Art. 1:269 ff BW).
In der Praxis erfolgt ein Entzug der elterlichen Sorge allerdings sehr selten.
Wird nur einem Elternteil die elterliche Sorge entzogen, steht sie dem anderen Elternteil zu. Bei Entzug der elterlichen Sorge behalten die Eltern ein Informationsrecht hinsichtlich der Angelegenheiten ihres Kindes und ein Umgangsrecht. Der Vormund ist
außerdem verpflichtet, die Kinder über ihre Abstammung aufzuklären. Die Eltern können auch einen Antrag auf Wiederherstellung der elterlichen Sorge beim Kinderrichter
stellen, der prüft, ob die Voraussetzungen dafür erfüllt sind.
5.
Rechtliche Fürsorge für Minderjährige
5.1
Die Bestellung eines Vormunds
Der Richter bestellt einen Vormund für Minderjährige, die nicht unter (elterlicher) Sorge
stehen und für deren Vormundschaft nicht in gesetzlicher Weise gesorgt ist (Art. 1:293
BW). In den Fällen der Suspension oder der Entziehung der elterlichen Sorge wird ein
Vormund durch eine Kammer des Landgerichts ernannt, in anderen Fällen, wie z.B.
der Schutzaufsicht, durch den Jugendrichter des Landgerichts (kinderrechter) als Einzelrichter.
Vormundschaft ist die Sorgerechtsausübung durch eine dritte Person. Diese wird durch
elterliche testamentarische (Art. 1:292 f. BW) oder richterliche (Art. 1:295 ff. BW) Anordnung begründet. Die Vormundschaft erstreckt sich auf die Sorge für die Person des
Minderjährigen (Art. 1:336 BW), die rechtliche Vertretung bei zivilrechtlichen Handlungen (Art. 1:337 Abs. 1 BW) und die Vermögensverwaltung (Art. 1: 337 Abs. 2 BW).
Der Vormund benötigt zu einer Reihe von wichtigen Rechtsgeschäften die Genehmigung des Vormundschaftsgerichts und untersteht der Aufsicht des Vormundschaftsgerichts (Art. 1:344 ff. BW).
Die Ausübung der Vormundschaft erfolgt i.d.R. durch die Büros für Jugendhilfe. 161 Diese übernehmen damit die Verantwortung für die Versorgung und Erziehung des Jugendlichen. Diese Aufgabe erfüllt das Büro für Jugendhilfe jedoch nicht selbst, sondern beauftragt damit professionelle Leistungserbringer. Ältere Jugendliche können
ggf. auch selbständig z.B. in einer Wohngemeinschaft wohnen.
Das Büro für Jugendhilfe soll in jedem Fall kontinuierlichen Kontakt zu dem Jugendlichen halten und ihn auch nach Beendigung der Vormundschaft auf Wunsch begleiten
und unterstützen. Das Büro für Jugendhilfe soll aber auch Kontakte zur Herkunftsfamilie fördern und die Jugendlichen über ihre Abstammung aufklären.
Neben den Büros für Jugendhilfe sind bislang mehrere landesweit aktive Vormundschaftsträger (gezins-)voogdij-instellingen) tätig, die aber bis 2008 diese Aufgabe an
die Büros für Jugendhilfe abgeben und danach nur noch als Leistungserbringer der
Jugendhilfe tätig sein sollen. 162 Dies sind die William Schrikker Groep für leicht geistig
behinderte Jugendliche, die Heilsarmee (Leger des Heils Jeugdzorg en Reclassering),
die Stiftung Reformierte Jugendwohlfahrt (Stichting Gereformeerd Jeugdwelzijn) und
die Stiftung Nidos. Die Stiftung Nidos übernimmt die Vormundschaft für unbegleitete,
minderjährige Flüchtlinge und Asylbewerber und sorgt für deren Versorgung, Unter-
161
Vgl. hierzu und zum Folgenden Doek/Vlaardingerbroek, S. 709 ff. Die Bestellung von Privatpersonen im
Bereich der Kinderschutzmaßnahmen ist eher selten.
162
Mit Ausnahme der Stiftung Nidos.
150
bringung und Erziehung. Kinder zwischen 5 und 15 Jahren werden in Pflegefamilien
oder in Kinderwohngruppen mit 8 – 12 Kindern mit Betreuung durch Mentoren untergebracht. Kinder von 16 – 17 Jahren wohnen in kleinen Wohneinheiten oder selbständig. Wenn Kinder keine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung haben, werden sie in einer zentralen Einrichtung (Centrale Opvang – COA) untergebracht. Nidos ist auch zuständig für die Schutzaufsicht über Kinder aus Flüchtlingsfamilien.
Kinder ab dem 12. Lebensjahr haben das Recht, vor der Ernennung eines Vormunds
gehört zu werden und haben ein eigenes Beschwerderecht.
5.2
Die Bestellung eines Pflegers
Gem. Art. 1:250 BW kann ein Pfleger (bijzonder curator) bestellt werden, wenn in Angelegenheiten, die die Versorgung und Erziehung bzw. das Vermögen des Minderjährigen betreffen, die Interessen der/des mit der Sorge betrauten Eltern/Elternteils bzw.
des Vormundes im Widerspruch zu denen des Minderjährigen stehen. Aufgabe des
Pflegers ist es, den Minderjährigen in der entsprechenden Angelegenheit sowohl gerichtlich als auch außergerichtlich zu vertreten.
6.
Mitwirkung der Jugendbehörden bei den Aufgaben der Gerichte
6.1
Die Mitwirkung der Jugendbehörden im Verfahren der Ehescheidung
Wenn sich die Eltern eines Kindes im Verfahren der Ehescheidung nicht über die elterliche Sorge einigen können, kann das Gericht die Kinderschutzbehörde hinzuziehen. 163
Grundsätzlich sind geschiedene Eltern gemeinsam sorgeberechtigt. Der Scheidungsrichter kann zum Wohle des Kindes die elterliche Sorge auch einem Elternteil allein
übertragen. Der nicht sorgeberechtigte Elternteil hat dann weiterhin ein Umgangsrecht
und ist über die Belange des Kindes zu informieren und anzuhören. Auch diese Rechte
können allerdings durch eine richterliche Entscheidung weiter eingeschränkt werden.
Bei Uneinigkeit über die Verteilung der elterlichen Sorge kann der Richter die Eltern an
einen (privaten) Vermittler, z.B. einen Freund oder ein Familienmitglied, an einen (professionellen) Mediator oder an das Büro für Jugendhilfe verweisen. An einigen Gerichten besteht auch die Möglichkeit, während der mündlichen Verhandlung die Kinderschutzbehörde mit der Unterstützung bei der Einigung über die elterliche Sorge zu
betrauen.
Wenn keine Einigung zustande kommt, entscheidet der Richter, der sich zuvor von der
Kinderschutzbehörde beraten lassen kann.
Die Kinderschutzbehörde versucht zunächst durch Vermittlung zu einer Einigung zwischen den Eltern zu kommen. Gelingt dies nicht, so führt die Kinderschutzbehörde ggf.
in einem multidisziplinären Team (Teamleiter, Verhaltenspsychologe, Jurist) eine Untersuchung entsprechend der Normen 2000 mit dem Ziel der Bestimmung der langfristig im Interesse des Kindes am besten geeigneten Lösung durch. Die Kinderschutzbehörde berichtet dem Richter über die Untersuchung und gibt Empfehlungen zur Regelung der elterlichen Sorge ab.
6.2
Die Mitwirkung der Jugendhilfebehörden im Jugendstrafverfahren
Im Jugendstrafverfahren wirkt die Kinderschutzbehörde durch die Untersuchung und
die Erstellung eines Berichts über die Situation des Kindes und seiner Familie, durch
Beratung der Strafverfolgungsbehörden hinsichtlich eventueller Straf- und Hilfsmaß-
163
Vgl. hierzu die Broschüre des niederländischen Justizministeriums, Wenn Eltern
sich scheiden lassen.
151
nahmen und die Begleitung des Kindes während des Strafverfahrens mit. Die Kinderschutzbehörde überwacht die Aktivitäten der Strafverfolgungsbehörden.
Für Jugendliche gelten besondere Sanktionen (Art. 77g Abs. 1 WvS). Die Hauptstrafen
sind bei einem Verbrechen: Freiheitsstrafe, Geldstrafe und Alternativstrafen (Art. 77h
Abs. 1 a WvS); bei einem Vergehen: Geldstrafe oder Alternativstrafe (Art. 77h Abs. 1 b
WvS). Die Alternativstrafen sind die Arbeitsauflage und die Erziehungsauflage oder die
Kombination aus beiden (Art. 77h Abs. 2 WvS).
Im Rahmen einer Arbeitsauflage muss der Jugendliche gemeinnützige Arbeit ohne
Entlohnung verrichten. Bei Verurteilung zu gemeinnütziger Arbeit koordiniert die Kinderschutzbehörde die Ausführung dieser Strafe, sie sucht nach einer passenden Arbeit
für den Klienten und informiert die Staatsanwaltschaft über den Verlauf der Arbeit.
Im Rahmen einer Erziehungsauflage ist der Jugendliche verpflichtet, einen Lehrgang
zu absolvieren, z.B. ein Antiaggressionstraining, eine Schulung zum Umgang mit Sexualität, ein Sozialverhaltenstraining etc. Die Durchführung von Erziehungsauflagen
wird von den Büros für Jugendhilfe kontrolliert und begleitet. Sie sind auf der Basis des
Beginselenwet Justitiële Jeugdinrichtigen auch zuständig für die Überwachung und
Begleitung der Jugendlichen beim Urlaub auf Probe.
6.3
Jugendbewährungshilfe
Die Durchführung der Jugendbewährungshilfe ist mit dem Inkrafttreten des Wet op de
Jeugdzorg ebenfalls Aufgabe der Büros für Jugendhilfe geworden (Art. 10 Abs. 1 c
Wjz). Ziel der Jugendbewährungshilfe ist die pädagogisch orientierte Resozialisierung
eines straffälligen Jugendlichen. Die Abteilungen für Jugendbewährungshilfe der Büros
für Jugendhilfe begleiten die Jugendlichen während der Bewährungszeit, erbringen
aber keine Jugendhilfe im engeren Sinne. Soweit diese nach dem Indikationsbeschluss
des Büros für Jugendhilfe erforderlich sind, werden damit Leistungserbringer betraut.
Für die Jugendbewährungshilfe wird ein Hilfeplan erstellt.
Die Jugendbewährungshilfe betreut Jugendliche auf Antrag der Staatsanwaltschaft,
des Richters oder der Kinderschutzbehörde. Sie übernimmt auch die Betreuung während einer zeitlich (i.d.R. auf die Nacht) beschränkten Inhaftierung mit regulärem
Schulbesuch während einer Untersuchungshaft.
Die Kinderschutzbehörde kontrolliert die Erfüllung der Aufgaben der Jugendbewährungshilfe durch Besprechungen mit den Mitarbeitern und durch Überprüfung und Beurteilung des Hilfeplans, durch Beurteilung besonderer Ereignisse, wie Rückfälle oder
Untersuchungshaft und mit Hilfe des Abschlussberichts (Art. 77 hh WvS).
152
Anhang
Abkürzungsverzeichnis
AMK
AmvB
Awb
AWBZ
Bjj
BW
EVRM
GGZ
GW
IVRK
LBIO
Stb
Stcrt
Uwjz
Wjz
WMO
WvS
Advies- en meldpunkt kindermishandeling
Algemene maatregel van bestuur
Algemene wet bestuursrecht
(Allgemeines Verwaltungsgesetz)
Algemene wet bijzondere ziektekosten
(Allgemeines Gesetz Besondere
Krankheitskosten)
Beginselenwet justitiële jeugdinrichtingen
(Grundsatzgesetz justizielle
Jugendeinrichtungen)
Burgerlijk Wetboek (Bürgerliches Gesetzbuch)
Europees Verdrag tot bescherming van de
rechten van de mens en de fundamentele
vrijheden
(Europäische Menschenrechtskonvention
Geestelijke gezondheidszorg
Grondwet (niederländische Verfassung)
Internationaal Verdrag inzake Rechten van het
Kind
(UN-Kinderrechtskonvention)
Landelijk bureau inning onderhoudsbijdragen
Staatsblad
Staatscourant
Uitvoeringsbesluit Wet op de Jeugdzorg
(Durchführungsverordnung zum Gesetz über die
Jugendhilfe)
Wet op de Jeugdzorg (Gesetz über die
Jugendhilfe)
Wet maatschappelijke ontwikkeling (Gesetz
gesellschaftliche Entwicklung)
Wetboek van Strafrecht (Strafgesetzbuch)
153
(Rechts-)Grundlagen grenzüberschreitender Jugendhilfe
I.
Vereinbarung über die Unterbringung belgischer Kinder/Jugendlicher in
Erziehungshilfeeinrichtungen des Rheinlands
- zwischen der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens
und dem Landschaftsverband Rheinland/ Landesjugendamt
Im Rahmen der am 26.03.1998 geschlossenen Vereinbarung verpflichtet sich das Landesjugendamt, der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens auf Nachfrage im Einzelfall bei der Unterbringung deutschsprachiger Kinder/ Jugendlicher belgischer Nationalität behilflich zu sein und diese über die in Betracht kommenden Erziehungshilfeeinrichtungen des Rheinlands in Kenntnis zu setzen. Der Vertrag besteht aus der Grundvereinbarung, welcher die Rechte und die Pflichten der Deutschsprachigen Gemeinschaft und des Landesjugendamtes regelt, und einem Musterbetreuungsvertrag, der
die Abwicklung der Erziehungsmaßnahme zwischen der Deutschsprachigen Gemeinschaft und der Einrichtung beinhaltet.
II.
Vereinbarung im Rahmen der Hilfen für Deutsche im Ausland gem. § 85
Abs. 2 Nr. 9 SGB VIII i. V. mit § 6 Abs. 3 SGB VIII
- zwischen der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens/der Stichting
voor Jeugdbescherming Limburg NL/jetzt: Bureau Jeugdzorg Limburg NL
und dem Landschaftsverband Rheinland/ Landesjugendamt
Die am 27.01.1999 geschlossenen Vereinbarung dient dem Zweck, im Rahmen einer
grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zugunsten von Deutschen im Ausland Jugendhilfeleistungen entsprechend des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (SGB VIII)
durch eine fachkompetente ausländische Behörde/ Institution zeitgerecht einzuleiten,
die notwendigen Hilfen schnellstmöglich zu gewähren und durchzuführen.
Mit der Vereinbarung erklären sich die Vertragspartner in Belgien und den Niederlanden bereit, im Rahmen ihrer Möglichkeiten bestimmte Aufgaben für das Landesjugendamt Rheinland wahrzunehmen.
Eltern, die in der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens bzw. in der Provinz Limburg/Niederlande wohnen und Jugendhilfeleistungen nach dem SGB VIII beantragen
wollen, wenden sich direkt an die ausländische Institution vor Ort.
154
155
Ansprechpartner, Adressen
Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens
Ministerium der Deutschsprachigen
Gemeinschaft
Familie, Gesundheit und Soziales
Herr Michael Fryns
Gospert 1
4700 Eupen
Tel. +32 (0)87/59 63 46
[email protected]
Jugendhilfedienst
der Deutschsprachigen Gemeinschaft
Frau Nathalie Miessen
Hostert 22
4700 Eupen
Tel. +32 (0)87/744959
[email protected]
Pflegefamiliendienst
der Deutschsprachigen Gemeinschaft
Frau Véronique Schumacher
Gospert 1
4700 Eupen
Tel. +32 (0)87/596347
vé[email protected]
Zentrale Behörde der Gemeinschaft
für Adoption
Herr Günter Manz
Gospert 1
4700 Eupen
Tel. +32 (0)87/596350
[email protected]
Jugendgerichtsdienst
der Deutschsprachigen Gemeinschaft
Herr Kurt Struck
Hostert 22 a
4700 Eupen
Tel. +32 (0)87/742 447
[email protected]
Strafvermittlungsdienst für Jugendliche
der Deutschsprachigen Gemeinschaft
Herr Marc Hamel
Hostert 22 a
4700 Eupen
Tel. +32 (0)87/742447
[email protected]
Staatsanwaltschaft
Frau Nathalie Corman
Rathausplatz 8
4700 Eupen
Tel. +32 (0)87/596540
[email protected]
Jugendgericht
Herr Jean-Marie Frères
Rathausplatz 8
4700 Eupen
Tel. +32/ (0)87/596560
[email protected]
156
Provinz Limburg/Niederlande
Ministerie van Justitie
Raad voor de Kinderbescherming
Regio Limburg
Frau Pijls
Postbus 3002
6202 NA Maastricht
Tel. +31 (0)43/35 14 300
[email protected]
Ministerie van Justitie
Raad voor de Kinderbescherming
Regio Limburg
Postbus 279
6040 AG Roermond
Tel. + (0)475/363363
[email protected]
Ministerie van Justitie
Raad voor de Kinderbescherming
Regio Limburg
Frau van Wijk
Postbus 3002
6202 NA Maastricht
Tel. +31 (0)43/35 14 300
[email protected]
Bureau Jeugdzorg Limburg
Herr Hein Engels
Postbus 34
6040 AA Roermond
Tel. +31 (0)475/335808
[email protected]
Bureau Jeugdzorg
Kloosterweg 26
6412 CN Heerlen
Tel. +31 (0)45/5725757
[email protected]
Bureau Jeugdzorg
Kosterbeemden 45
6461 EA Kerkrade
Tel. +31 (0)45/5471717
[email protected]
Bureau Jeugdzorg (Heuvelland)
Adelbert van Scharnlaan 170
6224 JX Maastricht
Tel. +31 (0)43/3627000
[email protected]
Bureau Jeugdzorg
De Bosquetplein 1
6211 KJ Maastricht
Tel. +31 (0)43/3501400
[email protected]
Bureau Jeugdzorg
Mgr. Buckxstraat 8
6134 AP Sittard
Tel. +31 (0)46/4580808
[email protected]
Bureau Jeugdzorg
Maria Gardestraat 64
6041HM Roermond
Tel. +31 (0)475/316245
[email protected]
Bureau Jeugdzorg
Prinsenstraat 4
5913 ST Venlo
Tel. +31 (0)77/3540959
[email protected]
Bureau Jeugdzorg
Noorderhof 14
5804 BV Venray
Tel. +31 (0)478/517484
[email protected]
Bureau Jeugdzorg
Roermondseweg 10-12
6004 AS Weert
Tel. +31 (0)495/596565
[email protected]
Gerichte:
Rechtbank Maastricht
Sector Civiel Unit Familie
Postbus 1988
6201 BZ Maastricht
Tel. +31 (0)43/3465465
www.rechtspraak.nl
Rechtbank Roermond
Sector Civiel Unit Familie
Postbus 950
6040 AZ Roermond
Tel. +31 (0)475/352222
www.rechtspraak.nl
157
Rheinland/Deutschland
Jugendämter
Kreisverwaltung
Jugendamt
Postfach 50 04 51
52088 Aachen
Tel. +49 (0)241/5198-0
[email protected]
Stadtverwaltung
Jugendamt
Postfach 12 10
52058 Aachen
Tel. +49 (0)241/432-0
[email protected]
Stadtverwaltung
Jugendamt
Postfach 13 40
52463 Alsdorf
Tel. +49 (0)2404/50-0
[email protected]
Kreisverwaltung
Jugendamt
Postfach 10 11 48
52348 Düren
Tel. +49 (0)2421/22-0
[email protected]
Stadtverwaltung
Jugendamt
Kaiserplatz 2 – 4
52349 Düren
Tel. +49 (0)2421/25-0
[email protected]
Stadtverwaltung
Jugendamt
Postfach 10 08 64
46428 Emmerich
Tel. +49 (0)2822/75-0
[email protected]
Stadtverwaltung
Jugendamt
Postfach 11 51/11 56
41801 Erkelenz
Tel. +49 (0)2431/85-0
[email protected]
Stadtverwaltung
Jugendamt
Postfach 13 28
52233 Eschweiler
Tel. +49 (0)2403/71-0
[email protected]
Kreisverwaltung
Jugendamt
Jülicher Ring 32 a
53879 Euskirchen
Tel. +49 (0)2251/15-0
[email protected]
Stadtverwaltung
Jugendamt
Postfach 14 48
47594 Geldern
Tel. +49 (0)2831/398-0
[email protected]
Stadtverwaltung
Jugendamt
Postfach 10 05 51
47565 Goch
Tel. +49 (0)2823/320-0
[email protected]
Kreisverwaltung
Jugendamt
Postfach 13 26
52523 Heinsberg
Tel. Nr. +49 (0)2452/13 51 55
[email protected]
Stadtverwaltung
Jugendamt
Postfach 12 20
52516 Heinsberg
Tel. +49 (0)2452/14-0
[email protected]
Stadtverwaltung
Jugendamt
Postfach 12 80
52134 Herzogenrath
Tel. Nr. +49 (0)2406/83- 525
[email protected]
Stadtverwaltung
Jugendamt
Postfach 13 60
41825 Hückelhoven
Tel. +49 (0)2433/82-0
[email protected]
Stadtverwaltung
Jugendamt
Postfach 12 55
47612 Kevelaer
Te. +49 (0)2832/122-0
[email protected]
158
Kreisverwaltung
Jugendamt
Postfach 15 52
47515 Kleve
Tel. +49 (0)2821/85-0
[email protected]
Stadtverwaltung
Jugendamt
Postfach 1955
47517 Kleve
Tel. +49 (0)2821/84-0
[email protected]
Stadtverwaltung
Jugendamt
Postfach 18 20
52222 Stolberg
Tel. +49 (0)2402/13-0
[email protected]
Kreisverwaltung
Jugendamt
Postfach 10 07 62
41707 Viersen
Tel. +49 (0)2162/39-0
[email protected]
Stadtverwaltung
Jugendamt
Postfach 10 11 52
41711 Viersen
Tel. +49 (0)2162/101-0
keine E-Mai-Anschrift
Kreisverwaltung
Jugendamt
Postfach 10 11 60
46471 Wesel
Tel. +49 (0)281/207-0
[email protected]
Stadtverwaltung
Jugendamt
Postfach 11 60
52135 Würselen
Tel. +49 (0)2405/67-0
keine E-Mail-Anschrift
Landesjugendämter
Landschaftsverband Rheinland
Landesjugendamt
Herr Nörtershäuser/Frau Vöpel
50663 Köln
Tel. +49 (0)221/809-6286/-6313/-6770
[email protected]/[email protected]
Landschaftsverband Westfalen-Lippe
Landesjugendamt
Warendorfer Str. 25
48133 Münster
Tel. +49(0)251/591-01
www.lwl.org
Familiengerichte
Landgerichtsbezirk Aachen
Amtsgericht Aachen
Adalbertsteinweg 90
52070 Aachen
Tel. +49 (0)241/9459-0
www.amtsgericht-aachen.de
Amtsgericht Düren
August-Klotz-Str. 14
52349 Düren
Tel. +49 (0)2421/493-0
www.amtsgericht-dueren.de
Amtsgericht Eschweiler
Peter-Paul-Str. 1
52249 Eschweiler
Tel. +49 (0)2403/7007-0
www.amtsgericht-eschweiler.de
Amtsgericht Geilenkirchen
Konrad-Adenauer-Str. 225
52511 Geilenkirchen
Tel. +49 (0)2451/991-0
www.amtsgericht-geilenkirchen.de
Amtsgericht Heinsberg
Schafhausener Str. 47
52525 Heinsberg
Tel. +49 (0)2452/109-0
www.amtsgericht-heinsberg.de
Amtsgericht Jülich
Wilhelmstr. 15
52428 Jülich
Tel. +49 (0)2461/681-0
www.amtsgericht-juelich.de
159
Amtsgericht Monschau
Laufenstr. 38
52156 Monschau
Tel. +49 (0)2472/9907-0
www.amtsgericht-monschau.de
Amtsgericht Schleiden
Marienplatz 10
53937 Schleiden
Tel. +49 (0)2444/9507-0
www.amtsgericht-schleiden.de
Landgerichtsbezirk Bonn
Amtsgericht Euskirchen
Herzogenring 33
46483 Wesel
Tel. +49 (0)281/144-0
[email protected]
Landgerichtsbezirk Duisburg
Amtsgericht Wesel
Kölner Str. 40 – 42
53879 Euskirchen
Tel. +49 (0)2251/951-0
www.ag-euskirchen.nrw.de
Landgerichtsbezirk Kleve
Amtsgericht Emmerich
Seufzerallee 20
46446 Emmerich am Rhein
Tel. +49 (0)2822/694-0
www.ag-emmerich.nrw.de
Amtsgericht Geldern
Nordwall 51
47608 Geldern
Tel. +49 (0)2831/123-0
[email protected]
Amtsgericht Kleve
Schoßberg 1 (Schwanenburg)
47533 Kleve
Tel. +49 (0)2821/87-0
www.ag-kleve.nrw.de
Landgerichtsbezirk Krefeld
Amtsgericht
Steegerstr. 61
41334 Nettetal
Tel. +49 (0)2153/9151-0
[email protected]
Landgerichtsbezirk Mönchengladbach
Amtsgericht Erkelenz
Kölner Str. 61
41812 Erkelenz
Tel. +49 (0)2431/9602-0
[email protected]
Amtsgericht Viersen
Dülkener Str. 5
41747 Viersen
tel. +49 (0)2162/373-6
www.ag-viersen.nrw.de
160
161
Mitglieder der Arbeitsgruppe „Vergleich der Jugendhilfesysteme“:
Herrn Hein Engels / Bureau Jeugdzorg/Roermond
Herrn Michael Fryns / Ministeriums der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens/Eupen
Frau Ruth Handelmann / Rechtsanwältin/Aachen
Frau Prof. Dr. jur. Ute Kötter / Instituts für Soziales Recht der Fachhochschule
Köln/Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften
Herr Bernd Krott / Stadtjugendamt Herzogenrath
Herrn Nörtershäuser / Landesjugendamtes Rheinland/Köln
Frau Ilona Pijls / Ministrie van Justitie/Raad voor de Kinderbescherming/Maastricht
Frau Prof. Dr. jur. Helga Oberloskamp / Instituts für Soziales Recht der Fachhochschule Köln/Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften
Herr Prof. Dr. jur. Peter Roggendorf / Kath. Fachhochschule Aachen / Fachbereich
Sozialwesen / Lehrgebiet Rechtswissenschaft
Herrn Hartmut Schuck / Kreisjugendamtes Heinsberg
Impressum
Landschaftsverband Rheinland
Landesjugendamt
Amt für Verwaltung und erzieherische Hilfen
50663 Köln
Redaktion und Gestaltung
Brigitte Vöpel
Tel.
: +49 (0)221/809-6770
Fax
: +49 (0)221/8284-1337
E-Mail : [email protected]
September 2007
Dieses Projekt wird von der Europäischen Union kofinanziert.
Frau Vöpel / Landesjugendamtes Rheinland/Köln
Landesjugendamt
Rheinland
Vergleich der Jugendhilfesysteme
Vergleich der
Jugendhilfesysteme
Deutschsprachige Gemeinschaft
Belgiens
Niederlande
Deutschland
Ministerie van Justitie
Raad voor de Kinderbescherming