Mexiko - Kolumbien - Venezuela Nr. 6 + 7 der 7 Summits der Anden

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Mexiko - Kolumbien - Venezuela Nr. 6 + 7 der 7 Summits der Anden
Mexiko - Kolumbien - Venezuela 2013;
Besteigung von Nr. 6 + 7 der Seven Andinos
Am 8. November 2013 startete ich Richtung Mexiko, um eine Gruppe von 12 Bergsteigern durch das Land
und auf hohe Berge zu führen. Als meine Kunden 18 Tage später die Rückreise nach Deutschland
antraten, ging ich nicht mit an Bord. Ich hatte noch eine Rechnung zu begleichen. Und dazu musste ich
einen Abstecher nach Kolumbien und Venezuela machen - nochmals zweieinhalb Wochen. Dort warteten
zwei weitere Gipfel auf mich - nicht irgendwelche, sondern genau die zwei, die mir noch fehlten, um ein
großartiges Projekt abzuschließen: die "7 Summits der Anden", die Besteigung des jeweils höchsten
Andengipfels aller sieben Andenländer.
Die höchstgelegenen Punkte von Argentinien, Chile, Bolivien und Ecuador habe ich bereits in den letzten
Jahren mehrfach bestiegen, und im Juli 2013 den Huascaran in Peru. Nur der Pico Bolivar und der
Ritacuba Blanco standen noch auf meiner To-Do-Liste. Zwar warten die beiden mit einer deutlich
geringeren Meereshöhe auf als die anderen Riesen, dafür erfordert jedoch der Pico Bolivar
klettertechnische Fähigkeiten. Außerdem bieten die beiden Andenländer den Reisenden nicht nur
bergsteigerische und gesundheitliche Herausforderungen, sondern erweisen sich vor allem in
organisatorischer Hinsicht als anspruchsvolle Ziele: In den Bergregionen Kolumbiens und Venezuelas
existiert eine rudimentäre touristische Infrastruktur, die Kriminalitätsrate ist besonders hoch, die politische
Situation instabil: Bedingungen, die mir ein unwohles Gefühl im Magen bereiteten.
Leider war die gesamte Reise nicht vom Wetterglück gesegnet. Während in Reiseführern zu lesen ist, dass
in Mexiko im November nur durchschnittlich zwei Regentage zu erwarten sind, gönnte uns der "Wettergott"
ganze zwei Tage ohne Regen! Zum Glück setzte sich hin und wieder die Sonne kurzzeitig durch, sodass
wir die Eingehberge und den 5286 Meter hohen Ixtaccihuatl wie geplant besteigen konnten. Nur der
höchste Berg Mexikos, der Pico de Orizaba, hüllte sich in Nebel und Sturm und zwang unsere Gruppe in
zwei Drittel Höhe zum Rückzug. Als Alternative bot sich der 5000er Sarcofago an, den alle Gipfelaspiranten
erreichten. Ohne Einschränkungen konnten wir im Anschluss Kultur- und Natur-Highlights erkunden:
Mexiko Stadt, Teotihuacan, Chichen Itza, Tulum, Cenoten und Höhlen, das warme Wasser und die Wellen
der Karibik.
Ritacuba Blanco, der höchste Andenberg Kolumbiens, liegt in der Sierra Nevada del Cocuy, einer sehr
abgeschiedenen Region. Eine zwölfstündige Fahrt im Nachtbus führt von der Hauptstadt Bogota ins
Bergdorf Cuican. Nach der Registrierung im Nationalpark geht es mit Allrad weiter zum Ausgangspunkt, wo
ich mich für eine Nacht einquartieren will. Doch ausgerechnet an diesem Tag ist die Hütte ausgebucht „Ocupado!“ Nur mit heftigem Protest lässt sich der Abstieg zu einer 200 Hm tiefer liegenden Hütte
vermeiden und man gönnt mir ein Plätzchen auf dem Boden, in einer Ecke des Gastraumes, in dem sich
dreißig johlende Jugendliche vergnügen. Zudem sind die Hütten in dieser unwirtlichen Gegend primitiv,
schäbig, kalt, feucht, mit offenen Feuerstellen, ohne Kamin, die Fenster ohne Glasscheiben … - also in
keinster Weise mit unserem Standard vergleichbar.
Nach einem dreistündigen Erkundungsaufstieg im Regen kämpfe ich mich durch eine ungemütliche
Hüttennacht und starte um 5 Uhr morgens Richtung Gipfel. 1000 Hm sind in mittelsteilem Geröll auf
ausgetretenem Weg zu überwinden, danach 300 Hm über einen flachen Gletscher. Das Wetter zeigt sich
zunächst gnädig, doch Punkt 8 Uhr umzingelt mich dichter Nebel. Ich muss umkehren!
Am nächsten Morgen starte ich zwei Stunden früher, brauche eine Stunde länger, und der Nebel überfällt
mich eine Stunde vorher. Bei Ankunft auf dem 5410 m hohen Gipfel legen sich riesige Wattebäusche aus
dem „Oriente“ um mich. Nur 10 Minuten später hätte ich keine Chance mehr gehabt, den höchsten Punkt
zu finden. Meine einsame Aufstiegsspur geleitet mich glücklicherweise wieder sicher über den Gletscher.
4 Std. und 3 Min. habe ich für den Aufstieg gebraucht, eine Zeit die meine Erwartungen weit übertraf:
Wenigstens eine 3 hätte ich mir an erster Stelle gewünscht. So eile ich im Dauerlauf zurück zur Hütte, wo
ich nach knapp 1 ¾ Stunden wieder im Regen stehe.
Mehrere hundert, vorwiegend kolumbianische Touristen wandern jährlich bis zur Gletschergrenze
des Ritacuba Blanco. Den Gipfel erreichen pro Jahr nur etwa 50 Bergsteiger; alpine Erfahrung und
entsprechende Ausrüstung sind unerlässlich. Ausländische Touristen trifft man kaum, es gibt keine
Landkarten, nahezu niemand spricht Englisch, Deutsch schon gar nicht.
Noch am gleichen Nachmittag begebe ich mich auf eine Odyssee Richtung Venezuela: 15 Stunden
Busfahrt, natürlich ohne Semicama (Liegesitze gibt es hier nirgends), bei frostigen Temperaturen, auf
knapp 4000 m hoch gelegenen, nicht enden wollenden Passstrassen - hinunter zur kolumbianischen
Grenzstadt Cucuta, wo auf 400 m Meereshöhe der Schweiß schon am frühen Tag rinnt und die Strapazen
andauern: Grenzformalitäten, die sich über mehrere Stunden hinziehen, unsympathische Beamte, penible
Gepäckkontrollen (Drogen?), Entkleidung nach Wunsch des Zöllners in einem abgesperrten ZweiQuadratmeter-Verschlag und die ständige Angst, aus irgendeinem Grund abgewiesen zu werden, wie der
Tourist vor mir. Ich habe Glück und komme durch. Großes Glück sogar, denn drei Tage später wird die
Grenze wegen der Kommunalwahlen in Venezuela bis auf Weiteres geschlossen.
Auf der venezolanischen Seite angekommen, will ich Geld aus einem ATM ziehen. Etwa fünfzehn
Einheimische planen das Gleiche und stehen vor mir in der Schlange. Endlich, nach einer halben Stunde,
stehe ich vor dem Automaten. Bei jedem hat er funktioniert - bei mir nicht! Nach mehreren erfolglosen
Versuchen überlasse ich meinen Platz den zwanzig Einheimischen, die sich schon wieder ungeduldig hinter
mir aufgereiht haben. Ein Polizist (!) zeigt Mitleid und führt mich zu einem Geschäft, wo ich illegal ein paar
Euro tauschen kann.
Der grösste Hunger lässt sich nun stillen, die nächste Busfahrt bezahlen. Ich stelle fest, dass mein bisschen
venezolanisches Geld weit länger reicht als gedacht. Tatsächlich, so wurde mir später bestätigt, bringt ein
Tausch auf dem Schwarzmarkt achtmal soviel wie ein regulärer Wechsel in einer Bank oder am Automaten!
Ein wiederholter illegaler Tausch im Flughafen brachte mir leider nur das Fünffache ein. Um den
Überwachungskameras zu entwischen, fand die Geldübergabe in einem Aufzug statt.
Eine 6-stündige Busfahrt bringt mich weiter: von San Cristóbal nach Merida. Der Lüftungsschlitz über
meinem Sitz bläst ununterbrochen kalte Luft auf meinen Kopf. Der Busfahrer lässt trotz mehrmaliger
Bitte, die Folter abzustellen, keine Gnade walten. Frierend, eingepackt in Anorak, Mütze und Kapuze, blicke
ich durch´s Fenster hinaus in die sengende Hitze.
In Merida bringt mich ein junger Taxifahrer zu einem Hotel. Wieder höre ich „Ocupado!“. Wir fahren zum
nächsten ... Nach der fünften Station streikt das Taxi: Plattfuß! Reifenwechsel mitten in der Stadt.
Natürlich bei Regen. Danach geht die Herbergssuche weiter. Endlich ergattere ich ein freies Zimmer.
Und schon taucht das nächste Problem auf: Vorkasse in venezolanischer Währung! Doch meine Bolivares
reichen nicht aus. Seit meiner Gipfeltour habe ich 25 Stunden in klapprigen Bussen und Taxis verbrachte,
45 Stunden sind seit der letzten Bettkantenberührung vergangen, meine Nerven liegen blank. Jetzt platzt
mir der Kragen. - Mit Erfolg. Endlich liege ich im Bett!
Schon im Taxi hatte ich erfahren, dass die berühmte Meridabahn, der Stolz sämtlicher Venezolaner, außer
Betrieb war. Die Teleférico de Merida führt auf die höchstgelegene Bergstation der Welt. Dabei überwindet
sie eine Strecke von 12,5 km und einen Höhenunterschied von 3200 m - ebenfalls ein Weltrekord. Vor 50
Jahren wurde sie gebaut und vor 5 Jahren, nach einem Gondelabsturz, aufgrund internationaler
Empfehlungen außer Betrieb genommen. Der Neubau, den sich die venezolanische Regierung 130
Millionen Euro kosten lässt, sollte längst fertig sein, hatte sich aber immer wieder verzögert.
Schnell wurde mir bewusst, was dies für mein Projekt bedeutet. Die Auffahrt war fester Bestandteil meiner
taktischen Planung, nun galt es einen anderen Weg zu verfolgen.
Um die Aufstiegsroute kennenzulernen, buche ich einen ortskundigen Guide sowie ein Mula mit Treiber für
eine 4-tägige Trekkingtour ab dem Dorf Los Nevados. Alles klappt prima, der tägliche Regen begnügt sich
mit den Nachmittagen. Auf den letzten 160 Hm erwarten uns Kletterpassagen im 2. bis 3.
Schwierigkeitsgrad, die aufgrund der Kälte sowie der frostüberzogenen Griffe heikel sind. Schließlich
erreichen wir am 5. Dezember den Gipfel des 4978 m hohen Pico Bolivar, den höchsten Punkt der
Kordillere von Merida und zugleich von ganz Venezuela. Anstelle eines Kreuzes erinnert ein aus Metall
gegossener Kopf an den Nationalhelden Simon Bolivar. Da durchgehend Abseilstände eingebohrt sind,
packen wir für den Abstieg unser Seil aus.
So konnte ich mein Projekt - die "7 Picos de los Andes" abschließen - ein großer Erfolg! Doch ein kleiner
Wermutstropfen bleibt: Mein Ziel war nicht nur die „normale“ Besteigung, sondern eine sportliche. Ab dem
allgemeingültigen Basispunkt wollte ich alleine, ohne fremde Hilfe und ohne Hochlager an einem Tag
möglichst schnell hinauf zum Gipfel und wieder hinunter. Bei den sechs anderen Bergen war mir dies
gelungen. Doch die Route auf den Pico Bolivar entpuppte sich als völlig ungeeignet für solch ein Vorhaben.
Der schmale, oftmals nicht erkennbare und unbeschilderte Pfad ist mit Büschen überwuchert, sodass
Stöcke eher hinderlich sind. Immer wieder führen Abzweigungen zu kleinen Ansiedlungen und
Weidegebieten. Nur etwa 30 bis 40 Personen pro Jahr nutzen diesen Anstieg durch´s Valle Indio, der für
eine Speedbegehung völlig ungeeignet und in der Nacht trotz GPS-Aufzeichnung nicht zu finden ist. Die
Alternative: eine etwas längere Route, die zwar schwerer, aber ausgetretener sein soll. Fünf weitere Tage
wären zur Erkundung notwendig! Doch meine Zeit ist begrenzt, ich muss mich auf den Heimweg machen eine Erleichterung, denn ich glaube ich schaffe es nicht, noch mal die Kraft aufzubringen. Mein
Motivationspool ist leer. Das Wetter ist noch immer nicht stabil, jeden Nachmittag regnete es. Die Begehung
auf Zeit ist nachzuholen, doch diese Reise muss jetzt zu Ende sein!
Toni Freudig, Dezember 2013