lesen - Axel-Springer

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Der preis ist scheiSS: Alles über das spektakuläre Kisch-Desaster
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#
13. Mai 2011
Traum und
Wirklichkeit
der Eurovision
Gucken wir zusammen,
Bitte?
Kolumne
V.i.S.d.P.-Herausgeber
Hajo Schumacher
über das Kisch-PreisDesaster und die Folgen
Der Preis
ist Scheiß
Junge Filmemacher und Literaten
kennen das Problem: Wer einen Preis
gewinnt, hat zwar Trophäe und vorübergehende Konto-Entspannung – aber
der Ruf in der Branche leidet. Preisträger
gelten oft als arrogant, widerspenstig
und natürlich viel zu teuer. Die Jury des
Nannen-Preises hat dem Phänomen
„Diskriminierung durch Preise“ eine
besonders perfide Variante hinzugefügt.
Dem SPIEGEL-Redakteur René Pfister
wurde die bis zur vergangenen Woche
anerkannte Auszeichnung für ein Seehofer-Porträt verliehen und dann wieder
aberkannt. Kollege Pfister wird sich
wohl wünschen, den Preis nie erhalten
zu haben.
Der Nannen-GAU (ja, ein schiefes Bild,
aber dieser Geschichte wird auch nicht
eingereicht) illustriert ein paar generelle
Eigenarten von Wettbewerben. So stellt
sich die Frage, was ausgerechnet ein
Porträt über eine politische Weißwurst
in der Kategorie „Reportage“ zu suchen
hat? „Relevanz“ sollte ein Kriterium
sein. Aber Seehofer erfüllt es nicht. Gab
es im ganzen Jahr 2010 wirklich nichts
Spannenderes und vor allem Reportagigeres? Porträts folgen schließlich eigenen Regeln, viele Bausteine werden nicht
durch Kischsches Hingucken gewonnen, sondern aus Gesprächen mit Menschen drumherum. Ohnehin sind viele
Stücke heute Hybride, die sich kaum
Schumacher!
lupenrein klassifizieren lassen in Bericht,
Reportage, Feature, Porträt. Auch zwei
Siegerstücke beim diesjährigen AxelSpringer-Preis, „Ich will´s wieder haben“
von Katrin Blum und „Glücklich ist tot“
von Gerhard Drißner, steigen ein mit
dermaßen Privatem, dass sich Zweifel
ergeben könnten, ob die Autoren tatsächlich alles genauso miterlebt haben.
Der Jury, keinen Deut schlechter besetzt
als bei Nannens, missfiel diese Technik
nicht weiter. Wobei man durchaus die
Frage stellen kann, ob derlei durchaus
gebräuchliche Kniffe, von vielen Stars
seit Jahren vorgemacht, nicht vielleicht
doch zu sehr zur Faction einladen.
Zweite Frage: Ging es beim NannenNachspiel tatsächlich nur um journalistische Super-Sauberkeit, die man bei
den Preisträgern der letzten Jahre auch
noch mal nachprüfen konnte? Oder
sah ein Teil der Jury auch eine willkommene Gelegenheit, den KischMächtigen eines mitzugeben? Ist ja
kein Geheimnis, dass die Preisträger
überwiegend aus Hamburg kommen,
dort, wo der Preis verliehen wird und
die Geldgeber sitzen. Gut möglich, dass
Pfister geprügelt wurde, um seinen
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Arbeitgeber zu treffen, einfach so, aus
Lust am Dissen.
Letzter Punkt: Dass die Jury einen Weckruf der Nannen-Enkelin brauchte, um
erst zur hektischen Telefonkonferenz
und dann zur Guillotine zu schreiten,
weist erstens auf mangelndes Selbstbewusstsein der Juroren hin, denen offenbar die eigenen Kriterien nicht ganz klar
waren und zweitens darauf, wie panisch
ansonsten ganz vernünftige Menschen
reagieren, wenn auch nur leisester medialer Wind aufkommt. Umgehend muss
gehandelt werden, egal wie. Genauso
funktionieren WesterwelleMerkelGabriel. Dass die Informationen aus den
Jury-Sitzungen noch reichlicher sprudelten als aus einem Partei-Präsidium,
weist zudem auf ein eigenartiges Loyalitätsverständnis mancher hin. Am Ende
kam alles so, wie wir es jeden Tag in der
Politik erleben: Maximale Thermik, halbgare adhoc-Entscheidung und beträchtliche Schäden, insbesondere für den Ruf
des Kollegen Pfister. Denn im Archiv und
im kollektiven Gedächtnis bleibt nicht
der Hintergrund, sondern die Schlagzeile. Dieser Preis war Scheiß.
Mehr zum Kisch-Desaster ab Seite 22
Update
FREITAG: Der Zeitungsverlegerverband NRWwill gegen
den “Dreistufentest” klagen, mit
dem die Öffentlich-Rechtlichen die
Rechtmäßigkeit ihrer Online-Inhalte
prüfen. Die Zeitungen fürchten gebührenfinanzierte Konkurrenz.
MONTAG: Die FTD bietet ausgewählte Artikel
auf ihrer Seite nur noch gegen Bezahlung an.
Die Politik dahinter: “Bezahlt wird, was es
anderswo nicht gibt”. Weitere Gruner+JahrTitel könnten folgen.
DIENSTAG: Die reichlich rechtsdrallige JUNGE FREIHEIT
wirbt mit Sarrazin-Büchern
um neue Abonnenten.
DIENSTAG: Microsoft kauft
den Online-Telefonie-Dienst
Skype für 8,5 Fantastillionen Dollar. EBay hat 2005 nur 2,6 Milliarden gezahlt.
Die neue Dotcom-Blase schwillt bedrohlich.
DONNERSTAG: Peter Kloeppel ist der beliebteste männliche NachrichtenModerator, so das Ergebnis eine Emnid-Umfrage.
Kleber und Buhrow folgen.
Gewinner
Judith
Rakers
weil die TagesschauSprecherin als EurovisionVorentscheid-Moderatorin
– Überraschung – viel besser
ist, als befürchtet. Dass Anke
Engelke toll ist und Stefan
Raab eher nicht, das war ja zu
erwarten.
Verlierer
Wolfgang
Liebling der Woche Schäuble
Liebe Audrey Tomason, auf dem jetzt
weil der Minister nun seine
Manfred Bissinger glaubt immer noch an
eine Kartell-Lösung für das Problem, dass die
Leute von heute für Journalismus im Netz einfach nicht zahlen mögen.
0,00%
der Zuschauer wollten laut MEEDIA beim Bezahlsender SKY die Bundesligabegegnung VfL
Wolfsburg gegen 1. FC Kaiserslautern sehen.
Fotos: RTL / Stefan Gregorowius
DONNERSTAG: DSDS geht
glanzlos zu Ende. Beim nächsten Mal soll der Gewinner
500.000 Euro bekommen, wenn
es schon mit der SuperstarKarriere ganz ohne Zweifel
nichts werden wird.
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„Wenn also Verleger, Redakteure und
Autoren den Mut fänden
und sich verabredeten, ihre Kunst der Zuspitzung, ihre Kraft zu
Auswahl und Reduzierung, ihre Fähigkeit
zu Recherche auf einen
Schlag kostenpflichtig
zu machen, dann wäre
das Gemurmel um die
Krise des Gedruckten
schnell verstummt.“
Fotos: cc WikiCommons, NDR, SPON (Screenshot)
Das Tagebuch
Update
schon legendären Osama-ExekutionsSituation-Room-Foto sehen Sie zwar aus
wie eine Schülerpraktikantin, haben
aber als “Director for Counterterrorism“
einen so wichtigen Job, dass so gut wie
nichts über Sie bekannt ist. Wer sind
engsten Mitarbeiter filzen
lässt, um herauszufinden,
wer ein internes Papier über
einen möglichen Euro-Austritt Griechenlands an SPIEGEL ONLINE weitergegeben
hatte. Als die Börsen nachgaben, hatte Schäuble noch
dementiert.
Leute
9
Leute
Die wechsel der Woche
Iris Woehrle hat die Chefredaktion von
BRAVO GIRL übernommen. Sie folgt auf
Ann Thorer, die zur MAXI wechselte.
Anton Notz, Online-Chef der Gruner+JahrWirtschaftsmedien, geht zurück zur FTD.
Das FTD-Gründungsmitglied folgt als
Kommentarchef auf Ulrike Sosalla, die
nun stellvertretende Ressortleiterin Politik
und Wirtschaft ist.
Der ehemalige ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender wird Kolumnist: Im Wechsel
mit Michael Rutz und Johann Michael
Carolin Streck ist ab sofort stellvertretende Möller schreibt er „Briefe an die Bundeskanzlerin“ in der ZEIT-Beilage CHRIST &
VITAL-Chefredakteurin. Sie war bisher
WELT/RHEINISCHER MERKUR.
„Ressortleiterin Text“ bei der GRAZIA.
Fotos: NDR,,Bauer Verlag, Jalag, G+J/Klaus Knuffmann, Archiv
Andreas Gerling leitet den neu geschaffenen Programmbereich „Quiz und Showentwicklung/ZDFneo“ des ZDF. Gerling war
vorher beim NDR für die Primetime-Shows
zuständig.
Abpfiff
Udo Lattek hört auf. Nach 750 Sendungen „Doppelpass“ hat die 74-jährige Trainerlegende genug
davon, einer Million Zuschauern jeden Sonntag die
Bundesliga zu erklären. Schiri, Telefon!
Die
Zukunft
des EurotraSh
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Gucken wir
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zusammen?
Wenn morgen Abend ganz Europa vor
dem Fernseher sitzt, um sich wie jedes
Jahr ein wildes Varieté an blinkenden Eurotrash-Schlagern zu Gemüte
zu führen, dann fragt man sich ganz
willkürlich: Warum machen wir das
eigentlich nicht öfter? Nun, es gibt
ein paar Gründe dafür, dass pan-europäisches Fernsehen bisher nicht so
richtig funktioniert hat.
Eurocops: Sieben europäische Anstalten produzierten eine gemeinsame Krimiserie (1988 bis 1993).
Text: Till Schröder
Nur zwei Mal im Jahr setzt
Warum eigentlich? Es wäre doch
ziemlich interessant zu erfahren:
Wer fängt bei den Litauern die Bösen?
Wer empfiehlt in Italien gute Bücher?
Wann belächeln die Portugiesen
Klar, knapp 61 Prozent aller Fiction-Formate im europäischen Fernsehen kommen aus den USA, da
bleibt neben den nationalen Produktionen nicht viel Raum für
Europa. Auch mangelt es nicht an
Reisereportagen und Boulevardmeldungen aus dem europäischen Ausland. Aber kaum ein Fernsehmacher,
der nicht in irgendeine Europa-
Alle Fotos: (cc) Jonas Fischer/re:publica
sich Europa zusammen vor den
Fernseher: beim Eurovision Song
Contest, der morgen Abend aus Düsseldorf auf den ganzen Kontinent
übertragen wird, und zum Finale
der Champions League. Wahrhaft
europäisch ist Fernsehen also nur
beim Schlager und im Stadion. Unsere
Nachbarn interessieren uns erst,
wenn wir uns aneinander messen.
Den Rest des Jahres guckt jede Nation
wieder ihren eigenen Kram. Paneuropäisches Fernsehen gibt es nicht.
ihre Regierung? Und bei welchem
Serienhelden schmachten die Türken? Auf solche Fragen gibt das
Fernsehen keine Antwort. Früher
war die Kiste gleichzeitig Abbild des
Lebens im eigenen Land und Fenster
zur Welt. Dem Fernsehen ist das
Verständnis für andere Kulturen
abhanden gekommen.
Redaktion ausgelagert wurde, interessiert sich für europäischen Alltag.
So etwas läuft in „Auslandsjournal“
und „Weltspiegel“.
gibt es besonders viele Wissenschaftssendungen, nicht erst seit der „KnoffHoff-Show“. Wer fernsieht, hat ein
schlechtes Gewissen.
Und es gibt natürlich ARTE, den
deutsch-französischen Bildungsauftrag in 625 PAL/SECAM-Bildzeilen,
der außerhalb Europas durchaus als
europäisches Fernsehen wahrgenommen wird. Aber bei uns selbst bleibt
ARTE ein Nischenprogramm, gespeist
aus dem sehr deutsch-französischen
Selbstverständnis: Fernsehen hat zu
bilden. So galt in Frankreich bis vor
Kurzem ein stinknormales Diktat als
TV-Straßenfeger schlechthin: die
jährliche Buchstabier-Olympiade
„Dicos d‘Or“ mit Literaturpapst
Bernard Pivot. Und in Deutschland
Da haben die meisten anderen
Europäer eine pragmatischere Beziehung zu ihrem Fernsehen: Ihnen
dient es schlicht der Unterhaltung.
In ganz Italien flimmern die Kisten
nebenher – in Bars, Kiosken oder
Haushalten. Hinschauen tut niemand, TV ist Hintergrundrauschen.
In Spanien ist das größte TV-Ereignis des Jahres die landesweite Weihnachtslotterie, bei der herausgeputzte
Kinder die gezogenen Zahlen singen.
In der Türkei besteht das Hauptabendprogramm aus epischen Soaps,
deren Folgen à 90 Minuten nachei-
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Gucken wir
Kommissar Rex: Verkauft in 150 Länder, erfolgreichste Krimiserie aller Zeiten (1994 bis 2004)
nander ablaufen, so dass ein Türke
abends im Schnitt fast 200 Minuten
Serienschmonzette konsumiert, auf
fast jedem Kanal, fast jeden Tag.
Die Idee, ein supranationales
Vollprogramm könnte diese disparaten Vorlieben und kulturellen
Besonderheiten bündeln und somit
die Einheit Europas fördern, spukt
seit 1965 durch Politik und Medien.
Damals wollte die Europäische Rundfunkunion (EBU), der Verbund der
öffentlich-rechtlichen Sender Europas, ein mehrstündiges Programm
starten. Das verhinderten die Grenzen der damaligen Technik.
Das Europäische Parlament
wollte nach seiner Gründung 1979
das Zusammenwachsen der Staaten
auch der Bevölkerung schmackhaft
machen. Tatsächlich sendete 1982
EURIKON für ein paar Wochen in
sechs Sprachen – allerdings unter
Ausschluss der Öffentlichkeit, zu
sehen nur für Politiker und Journalisten. Es fehlte das Geld für Lizenzen. 1985 folgte EUROPA TV, ein
Projekt des deutschen, niederländischen, italienischen und irischen
öffentlich-rechtlichen Rundfunks.
Nach einem Jahr scheiterte auch
dieses Experiment am redaktionellen Aufwand, fehlenden Werbeeinnahmen, Sprachbarrieren und vor
allem den rechtlichen Schwierigkeiten, Lizenzen für grenzübergreifende Ausstrahlungen zu erwerben.
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zusammen?
Mankells Wallander: schwedische Serie auf
Grundlage der Krimi-bestseller, seit 2005
Die Lizenzen bleiben bis heute
die größte Hürde für paneuropäisches Fernsehen. Es bleibt für einen
Sender wenig attraktiv, eine (sehr
viel) höhere Lizenzgebühr zu entrichten, um „europäische“ Rechte
zu erwerben, wenn sein Markt oder
sein öffentlich-rechtlicher Auftrag
auf einen einzelnen Mitgliedstaat
beschränkt ist. EUROSPORT und
EURONEWS sind da zaghafte Ausnahmen, aber auch nur, weil sich
ihr Programm aus dem überschüssigen Bildmaterial der EBU-Mitglieder speist, die das gar nicht alles
selbst versenden könnten.
Produzenten und Verleiher teilen weiterhin die Rechte entlang
von Staatsgrenzen auf und pochen
auf Verschlüsselungstechniken, um
ein „Überschwappen“ über die Grenzen zu verhindern. Sie verweisen
gern auf kulturelle Eigenheiten und
Zuschauervorlieben in den einzelnen Staaten. Faustregel: Im Süden
schaut man anders und später als
im Norden. Dass ARTE sein Programmschema umstellte und sich
an der deutschen Gewohnheit orientierte, das Hauptprogramm um
20:15 Uhr zu beginnen, statt um
20:45 Uhr wie in Frankreich, galt als
Revolution.
Die große Geste, das gesamteu-
ropäische Funkhaus, die EurovisionHymne, all das ist ziemlich obsolet.
Die große europäische Öffentlichkeit gibt es heute weniger denn je
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Gucken wir
Engrenages: Düstere französische Flic-Serie,
seit 2005 in 70 Länder verkauft
– schließlich sind auch die nationalen Öffentlichkeiten zersplitterter.
„Microcasting“ nennt sich der Trend
zu Spartenkanälen. Außerdem
schauen gerade junge Leute gern
Fernsehen im Internet, egal woher
es kommt. Ein Sender für alle, so
etwas wird es jedenfalls nicht mehr
geben.
Gerade diese Zersplitterung
erweist sich als Chance für gemeinsame, grenzüberschreitende Fernsehgewohnheiten in Europa: Die
vielen Nischen-Sendeplätze werden
gern mit gutem, aber günstigem
europäischen Fernsehen gefüllt.
Wenn es ein Genre gibt, das europäisches Verständnis existentiell
bestimmt, dann ist es der Krimi.
Kein Format wird so viel getauscht,
gehandelt und adaptiert. Wallander,
Barnaby, Derrick sind die Fenster
nach Europa. Liebe, Hass, Tod, Depression, Bürokratie und unterbezahlte
Polizisten gibt es eben überall.
In Großbritannien avancierte
Hauptkommissarin Laure Berthaud
aus „Engrenages“ zur Kultfigur, Frankreichs Antwort auf „The Wire“. Der
hyperreale Krimi ist die meistverkaufte französische Serie aller Zeiten. Chronisch depressive Skandinavier ermitteln schon lange in
großer Zahl auf europäischen Bildschirmen. Und „Allein gegen die
Mafia“ formte das deutsche Italienbild so nachhaltig wie „La Dolce
Vita“ in den 1950ern. Im Gegenzug
reimen sich die Italiener mit Vor-
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zusammen?
Allein gegen die Mafia: italienische Serie als
Straßenfeger in Deutschland (1984 bis 2001)
liebe österreichische und deutsche
Polizeitugenden per „Kommissar
Rex“ und „Derrick“ zusammen. Und
bei den „Eurocops“ konnte der Kontinent gleich mehrere Fahnder parallel vergleichen. Für Deutschland
war Heiner Lauterbach im Rennen.
In den Segmenten Kinderformate
und Dokus sieht es ähnlich aus.
Gerade bei den Dokus zwingt der
Trend zu aufwendigen Spezialeffekten die Macher, sich Koproduzenten
in Europa zu suchen. Und sogar
„Scripted Reality“ und Gameshows
sorgen für europäische Harmonisierung. Endemol, Fremantle Group
und die BBC bestücken das europäische Fernsehen unablässig mit Formaten wie „Big Brother“, die anscheinend problemlos übertragbar sind.
Auf der diesjährigen Weltfernsehmesse MIPCOM verkauften sich
europäische Formate ähnlich gut
wie amerikanische.
Der europäische TV-Pathos hat
sich also einfach selbst abgeschafft.
Gut erzählte Geschichten und unterhaltende Ablenkung setzen sich
auch ohne didaktische Kulturbeflissenheit durch, egal in welcher Sprache.
Desaster
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Alle Bilder: © Waberseck/stern
Das Kisch
Desaster
Es war der Skandal der Woche:
Am Freitag verlieh die Henri-Nannen-Preis-Jury René Pfister vom
SPIEGEL den Egon-Erwin-KischPreis für die beste Reportage des
Jahres 2010. Und am Montag nahm
sie ihm die Auszeichnung wieder
weg. Pfister hatte auf der Bühne
treuherzig gestanden, nie in Horst
Seehofers Keller gewesen gewesen
zu sein, den er als Einstieg des ausgezeichneten Porträts ausführlich
schildert. Er hatte die Szenerie nur
recherchiert.
Reicht das?, fragten sich nun viele.
Die Reaktionen in den Tagen
darauf stehen jedenfalls im harten
Kontrast zu den Bildern der festlichen Gala, die wir auf den folgenden Seiten zeigen. Stifter-Enkelin
Stephanie Nannen, offenbar bestens vertraut mit den internen
Auseinandersetzungen der prominentest besetzten Chefredakteurs-Jury, teilte im HAMBURGER
ABENDBLATT heftig aus: “Pfisters
Text ist ein Betrug an der Wahrheit, ist Verrat dessen, woran Journalisten mindestens zu glauben
vorgeben.“ Harter Tobak – offenbar leitet Nannen aus ihrer familiären Herkunft besondere
Kompetenz beim Beurteilen der
Nannen-Preis-Würdigkeit ab.
Die Jury stritt sich dann eineinhalb Stunden lang am Telefon und
verpasste Pfister, der kurz zuvor
noch ganz oben war, die Tracht
Prügel seines Lebens. Was bleibt
ist ein geschmähter Schreiber
und ein wütender SPIEGEL. Der
wichtigste deutsche Journalistenpreis wird in Zukunft weniger
wert sein wird als noch vor einer
Woche.
Wenigstens einer bleib gelassen.
Horst Seehofer, der in Pfisters Porträt überaus schlecht wegkommt, sagt der SÜDDEUTSCHEN
ZEITUNG: “Das ist mir egal.”
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Das Kisch-
Desaster
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Andreas Petzold (Chefredakteur stern), Gerhard Steidl (Verleger), Ulrich Reitz (Chefredakteur WAZ), Frank Schirrmacher
(Herausgeber FAZ), Peter-Matthias Gaede
(Chefredakteur GEO), Elke Heidenreich
(Journalistin), Helmut Markwort (Herausgeber Focus), Ines Pohl (Chefredakteurin taz),
Anke Degenhard (Kuratorin und Galeristin), Mathias Müller von Blumencron (Chefredakteur Der Spiegel), Giovanni di Lorenzo
(Chefredakteur Die Zeit), Jan-Eric Peters
(Chefredakteur der Welt-Gruppe), Thomas
Höpker (Fotograf und Dokumentarfilmer),
Kurt Kister (nicht auf dem Bild, Chefredakteur Süddeutsche Zeitung).
Gaede, Schirrmacher, Kister und Blumencron
stimmten gegen das Aberkennen, der Rest der
Die Skandal-Jury
Jury war dafür.
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Das Kisch-
Desaster
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GEO-Chef Peter-Matthias Gaede überreicht René Pfister
die irderne Nannen-Büste. Später sagte er dem HAMBURGER ABENDBLATT:
“Ich war durchaus überrascht
davon, dass René Pfister den
Keller des Herrn Seehofer nicht
persönlich betreten hat. Doch
muss man sich fragen, ob es nicht
ein viel entscheidenderes Kriterium für die Bewertung des Textes
gibt: Hatte René Pfister authentische Quellen (nämlich die Quelle
Seehofer selber), hat er die Wahrheit geschrieben, hat er plausible
und legitime Schlüsse gezogen?
Davon gehe ich nach wie vor aus.”
Für die Pro-Pfister-Fraktion:
Peter-Matthias Gaede
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Das Kisch-
Desaster
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Helmuth Markwort, der sich am Mittwoch von FOCUS
ONLINE interviewen ließ und Verschiedenes zu erkennen gab:
Erstens, dass er den ausgezeichneten Text ohnehin nicht für
würdig befinde: “Ich finde die
Geschichte qualitativ schwach,
keineswegs die beste Reportage,
und habe in der Jury auch gegen
sie gestimmt.”
Zweitens, dass das Krisentelefonat
der Jury auch eine Reaktion auf
die Anwürfe der Nannen-Enkelin
waren: “Nach dem Bekenntnis
Pfisters auf der Bühne und dem
massiven Angriff der Enkelin von
Henri Nannen in der Öffentlichkeit
(‘Hamburger Abendblatt’) durfte
die Jury sich nicht wegducken und
feig schweigen.”
Drittens, welchen anderen Favoriten er hatte: “Wenn es nach
dieser Entscheidung ein Opfer
gibt, dann ist das Christian Schüle
von der ZEIT. Er hat eine hervorragende Reportage mit dem Titel
‘Kein Bock’ geschrieben. Das war
für mich die beste Reportage des
Jahres. Fast alle Juroren sagen,
dass sie nicht für Pfister gestimmt
hätten, wenn sie die Hintergründe
gekannt hätten.”
Für die Kontra-Pfister-Fraktion:
Helmuth Markwort
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Das Kisch-
SPIEGEL-Chefredakteur Mathias Müller von Blumencron im
TAGESSPIEGEL:
„Seine Quellen waren eigene Gespräche mit
Horst Seehofer, zwei ,Spiegel‘-Kollegen, die in
dessen Keller waren, schließlich Archivmaterial, in dem die Modelleisenbahn des Ministerpräsidenten ausführlich beschrieben
wird.“
WELT-Chef Jan-Eric Peters auf seiner Facebook-Seite:
„Dass es sich um keine Lappalie oder eine
gängige Praxis handelt, hat schon das hörbare Erstaunen der vielen Hundert Kollegen bei der Preisvergabe im Schauspielhaus
gezeigt, die eben noch begeistert applaudiert
hatten und dann ungläubig erschraken: Wie?
Er war gar nicht im Keller? Der Jury ging es
nicht anders.“
Desaster
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Frank Schirrmacher in der FAZ:
“So sehr sich die Jury bemüht, in ihrer Preisentzugs-Meldung deutlich zu machen,
dass der Autor allenfalls handwerkliche
Fehler gemacht hat, und so verantwortungsbewusst alle Juroren mit ihrem Urteil
waren – dieser Zug scheint längst abgefahren. Aus einer handwerklichen Diskussion wird eine moralische. Ehrabschneiderische Artikel, in denen Pfister wie ein
Betrüger dasteht, und Journalisten, die die
Ethik des Journalismus verteidigen wollen,
sich selbst und ihre Kollegen aber als „versammelte Journaille“ kennzeichnen, haben
die Geschäftsgrundlage der Debatte nachhaltig verändert. Ehe man also zu der in
der Tat notwendigen Debatte über Preise
im Journalismus, über Formen und Genres
kommt, und auch über Jurys, ist etwas zur
Ehre von René Pfister zu sagen.”
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Das Kisch-
Desaster
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Wolf Schneider, Gründer der Henri-NannenJournalistenschule und von Gruner+Jahr-Chef
Bernd Buchholz mit dem Ehrenpreis
ausgezeichnet, über das Aberkennen des
Preises durch die Jury:
„Ich finde diese Reaktion übertrieben.“
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Das Kisch-
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Weitere Höhepunkte
Die Arbeitsministerin
im Nude-Look
Sabrina Staubitz und
Giovanni di Lorenzo
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Julia Jäkel und
Ulrich Wickert
Das Kisch-
Desaster
Marietta Slomka und
Christof Lang
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Christiane und
Hans-Ulrich Jörges
INBOX
Recht und Rache
Schumachers Beitrag (und andere!) ist
ein weiterer Beleg für die ungeheure
Arroganz europäischer und vor allem
deutscher Intellektueller gegenüber
der US-Primitivkultur und den politischen und geistigen Repräsentanten
der USA. Das hat eine lange Tradition
– und es gehört ja zum guten Ton, bei
jeder sich bietenden Gelegenheit besserwisserisch und belehrend gegenüber
den USA aufzutreten. Da hilft es nicht,
gegen Ende des Beitrags “etwas mehr
Differenzierung” einzufordern.
Zur Erinnerung: Die Primitivlinge und
Rechtsbrecher aus Übersee haben unter
großen Opfern zwei von den Deutschen
angezettelte Weltkriege beendet, haben
den Kommunismus in der DDR erledigt
und halten überall auf der Welt (sicher
auch aus eigenem Interesse!) ihren
Arsch hin – vor allem da, wo die Deutschen ihn zusammenkneifen.
Insofern: der billige Anti-Amerikanismus im Zusammenhang mit der Erledigung von Bin Laden kotzt mich an.
Jürgen Sabarz per Kommentar
Dieser Artikel vertritt im Ansatz sicherlich einen guten Grundsatz, nämlich
den der Gleichheit. Sei es moralischethisch, oder aber einfach vor dem
Gesetz. Jedoch hinterlässt die polemisierende Machart ein ungutes Gefühl.
Es dürfte unbestritten ein Akt von Rache
sein, der dazu führte, dass Bin Laden
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exekutiert und nicht gefangen genommen wurde. Gleichfalls unbestritten
sollte sein, dass dieser Akt eben den
Grundsätzen zuwiderläuft, die die sogenannten demokratisch-freiheitlichen
Staaten für sich in Anspruch nehmen.
Jedoch wird vergessen und mit keinem
Wort erwähnt, welch brutaler Akt von
Menschenverachtung dazu führte, dass
die USA ihren Erzfeind, die Verkörperung ihrer Verwundbarkeit und Schwäche, hinrichteten, statt ihn einem Gericht
zu übergeben. Etwas mehr Differenzierung hätte dem Autor gut getan.
„Voll Ka“ per Kommentar
Deutschland – ein Kirchentag
Ein sehr bissiger Kommentar, aber wie
so oft steckt im Biss auch Wahrheit,
obgleich sie doch unangenehm wirkt.
Ich wünsche dem Herrn Kaiser jede
Menge Durchhaltevermögen bei der
Verteidigung seiner Meinung.
Andy Dietrich per Facebook
Ich danke Ihnen für diesen Beitrag. Man
kann sich nur noch für die Arroganz
deutscher Kommentatoren schämen.
„hh44“ per Kommentar
Sagen Sie uns Ihre Meinung per Mail
([email protected]), Facebook-Kommentar, Tweet oder kommentieren sie
direkt auf unserer Seite.
ende
Inhaltsverzeichnis
zum anklicken und verteilen
Titelgeschichte
Gucken wir zusammen?
Schumacher
Der Preis ist Scheiß
Update
Liebling der Woche: Audrey Tomason
Das Tagebuch
Zitat der Woche: Manfred Bissinger
Zahl der Woche: SKY
Gewinner/Verlierer: Judith Rakers/
SPIEGEL ONLINE
Leute
Udo Latteck, Andreas Gerling, Iris
Woehrle, Ann Thorer, Carolin Streck,
Anton Notz, Ulrike Sosalla, Nikolaus
Brender, Michael Rutz, Johann Michael
Möller
V.i.S.d.P. – Magazin für Medienmacher
Chefredakteur: Sebastian Esser
Herausgeber: Dr. Hajo Schumacher
Design: Markus Nowak, Supermarkt Studio
Redaktion: Till Schröder, Wendelin Hübner, Susan Mücke,
Frank Joung, Patrick Weisbrod
Lektorat: Carla Mönig
Anzeigen: [email protected]
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