Indien für Anfänger 16 03 14 - Dunedain-SRK

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Indien für Anfänger 16 03 14 - Dunedain-SRK
Indien für Anfänger
Sonntag, 16. März 2014
Um 16:05 startet in Delhi mein Flieger nach Mumbai, wo ich mich mit Hansi,
Gaby, Mariette und Kerstin treffen werde. Die Maschine der indischen Jet
Airways kommt mir noch enger vor als die der Britisch Airways. Die Fläche, die
dem Passagier hier zugestanden wird, verstößt meines Erachtens eindeutig
gegen das Käfighühnerhaltungsgesetz, aber was soll’s. Für zwei Stunden werde
ich das schon überstehen. Zu essen gibt es auf diesem Flug auch nichts. Wer
Hunger hat, muss zahlen. Nur Wasser wird gratis serviert. Auch das stört mich
nicht weiter. Zu Abend essen werde ich im Hotel.
Ich stöpsele meinen IPod in
die Ohren, döse gemütlich
vor mich hin und werde erst
wieder aufmerksam, als
plötzlich zackige Berggipfel
vor meinem Fenster auftauchen. Sie erscheinen so
nah, dass ich das Gefühl
habe, sie mit den Händen
greifen zu können.
Während ich noch überlege,
ob dass auch wirklich passen wird mit den Tragflächen und den Bergen,
kommen die ersten Hochhäuser in Sicht. Nanu? Die Maschine befindet sich im
Sinkflug. Das spüre ich deutlich. Ein Blick an die
Decke klärt mich darüber auf, dass ich mich nun
lieber schleunigst anschnallen sollte, denn wir
steuern tatsächlich auf Chatrapati Shivaji zu (Du
meine Güte, wie habe ich geübt, um diesen
Namen aussprechen zu können) und fliegen so
dicht über die Dächer der Slumhütten hinweg,
dass den armen Leuten da unten die Gläser im
Schrank klirren müssen.
Pünktlich um 18:10 landen wir in Mumbai, und
diesmal gibt es keine Fluggastbrücke. Diesmal
muss ich tatsächlich die Gangway hinuntersteigen und mit einem klapprigen Shuttlebus,
der es in Deutschland niemals durch den TÜV
schaffen würde, zum Terminal fahren. Mein
Koffer hat sich offenbar rücksichtslos vorgedrängelt, denn ich muss kaum zehn Minuten auf
ihn warten, da hüpft er aus dem finsteren Loch
am Ende des Gepäckbandes und rumpelt freudestrahlend auf mich zu. Gemeinsam begeben wir
uns auf die Wanderung durch die unendlichen Weiten des Airports. Pass- und
Zollkontrolle entfallen, da ich mich auf einem Inlandsflug befinde, und so
erreichen wir nach gefühlten zehn Kilometern Fußmarsch den Ausgang. Ich
schreite die schier endlose Reihe der dort wartenden, mit Pappschildern
bewaffneten Herren ab und siehe da: mein Fahrer ist pünktlich zur Stelle.
Eine Anmerkung am Rande: in Indien hat immer alles geklappt, wie ich es
geplant hatte. Die Probleme hatte ich nur in Europa.
Er stellt sich als „Rameesh“ vor, begrüßt mich überschwänglich, dirigiert mich
in rasendem Tempo hinaus vor die Tür und rennt dann hektisch wie ein
Eichhörnchen davon, um den Wagen aus dem Parkhaus zu holen. Puh, immer
mit der Ruhe, mein Junge! Wo bleibt denn da die orientalische Gelassenheit?
Ich bin im Urlaub. Ich habe Zeit, und außerdem bin ich dankbar für eine kleine
Pause. Mumbai ist deutlich wärmer als Delhi, und die Luft ist spürbar feuchter.
Mein Körper muss erstmal von Klimaanlage auf Außentemperatur umschalten
und reagiert mit einem heftigen Schweißausbruch. Ich überlege, ob ich die
Wartezeit für eine Zigarette nutzen sollte, aber mein auf Aschenbecher
geschultes Auge findet kein Zielobjekt, also verkneife ich mir den Impuls.
Direkt neben mir versucht ein weißhaarige alte Dame in einem gelb-grün
gemusterten Sari in ein Auto einzusteigen, während der deutlich jüngere Mann
auf dem Fahrersitz gelassen zusieht. Es fällt ihr sichtlich schwer, denn sie ist
nicht gut zu Fuß und die Wagentür fällt ihr immer wieder in die Seite. Ohne
groß nachzudenken greife ich zu und halte die störrische Tür fest, damit sie
beide Hände benutzen kann, um sich ins Auto zu hangeln. Das bringt mir eine
lange Lobeshymne und strahlendes Lächeln von den beiden ein. Besonders der
Fahrer feuert eine lange Tirade auf mich ab, von der ich nicht einmal sagen
kann, ob es Englisch oder Sonstwas ist, was er da spricht. No problem,
murmele ich, koi bat nahin (nicht der Rede wert). Eigentlich wäre es Dein Job,
Deiner Oma in den Wagen zu helfen, denke ich mir, stopfe die Reste von Omas
Sari zu ihr in den Fußraum und werfe die Tür zu. Fröhlich winkend und hupend
brausen sie davon. Ich zücke in Gedanken meine To-Do-Liste und setze einen
Haken hinter den Stichpunkt „Gute Tat“.
Kurz danach fährt mein Wagen vor. Rameesh packt meinen Koffer in den
Kofferraum, überreicht mir die obligatorische Wasserflasche, und ich lasse
mich schnaufend in die weißen Lederpolster sinken; jawohl, weiße Lederpolster! Rameesh startet den Wagen und die übliche Konversation, während
wir uns in das Verkehrschaos mischen: Woher ich komme? Aus Deutschland.
Ja, ich bin zum ersten Mal in Indien. Ja, Indien ist großartig. Ja, ich mag
indisches Essen und indische Musik auch. Ja, das Wasser schmeckt sehr gut
und die Temperatur im Wagen ist angenehm. Sab kuch thik hai (alles ist gut).
Er freut sich wie ein Schneekönig und lobt meine drei Brocken Hindi über den
grünen Klee. Ich widerspreche: meri Hindi acci nahin hai (mein Hindi ist nicht
gut). Daraufhin freut er sich noch mehr und erklärt mir sogleich, sein Hindi sei
auch nicht gut, denn er stamme aus Bengalen. Ach so? Dann sind alle Fragen
und Antworten verbraucht, und wir kurven schweigend durch das Straßenlabyrinth zu unserem Ziel, dem Taj Lands End Hotel.
Ich habe mir dieses Hotel nur aus einem
einzigen Grund ausgesucht: es liegt –
strategisch äußerst günstig – nur etwa
400 Meter von der heiligen Pilgerstätte
entfernt. Es ist ein 5-Sterne-Hotel und
die Übernachtung im Einzelzimmer
kostet umgerechnet etwa 125 €. Das
klingt auf den ersten Blick nach einer
Stange Geld, aber erstens gönnt Frau
sich ja sonst nichts. Und zweitens habe
ich auf Geschäftsreise in Deutschland
auch schon mal 125 € für eine Nacht in
einem Frankfurter Hotel hingelegt, wo ich dann auf dem Klo sitzend den Heizkörper umarmen musste, um meine Knie irgendwie unterzubringen. Das
Zimmer war nur notdürftig geputzt, die Möbel reif für den Sperrmüll, das
Restaurant wegen Gästemangel geschlossen und auf unsere Frage, wo wir
denn jetzt einen Kaffee bekämen, erklärte uns der Mann an der Rezeption ganz
lässig: „Naja, für Euch kann ich ja mal die Kaffeemaschine anschmeißen.“
Ähm… nein, danke. Nun bin ich mächtig gespannt, ob das Taj Lands End in der
Realität hält, was es im Internet verspricht.
Nach etwa einer halben Stunde Fahrt nähern wir uns schließlich unserem Ziel,
und plötzlich gibt es einen kleinen Stau. Mitten auf der Straße lungert eine
kleinere Menschenmenge herum, und bildet gemeinsam mit Taxis und Motorrikshahs ein buntes Knäuel. Rameesh entschuldigt sich wortreich für die
Verzögerung. Hier sei des Öfteren alles
verstopft, erklärt er mir, weil da drüben
ein berühmter Schauspieler wohne. Oh,
really? Mich reitet spontan der Teufel.
Gut, dass ich auf dem Rücksitz sitze
und er nicht sehen kann, wie ich mir
das Grinsen verkneife. „What actor?“
hake ich unschuldig nach. „Shah Rukh
Khan lives here“, sagt er mit der
Ernsthaftigkeit eines Hohepriesters, der
mich von der Existenz Gottes überzeugen will. „He is most famous in this
country, you know?“ No, I don’t. Ja,
natürlich weiß ich das! Darum bin ich ja hier. „Look! This is his house“, fügt
Rameesh eifrig hinzu und zeigt auf das wohlbekannte graue Eisentor. Ich bin
unfair, stelle ich in Gedanken fest, und mime weiterhin die Ahnungslose, um
ihn nicht zu kränken. Im Vorbeirollen erhasche ich einen flüchtigen Blick auf
das Anwesen. Warum sich die Menschenmenge hier versammelt hat, ist mir ein
Rätsel, denn es rührt sich absolut nichts hinter der Mauer oder am Zaun. Keine
Spur von Himself.
Dann sind wir auch schon vorbei und erreichen das Hotel. Mit den Sicherheitsvorkehrungen an den großen Hotels bin ich ja schon in Delhi konfrontiert
worden, aber hier setzen sie noch einen drauf. Gleich drei Wachmänner in
schwarzen Hosen, blütenweißen kurzärmeligen Hemden und mit Schirmmütze
auf dem Kopf erwarten uns an der Einfahrt. Zwei von ihnen öffnen Motorhaube, Kofferraum und sämtliche Türen. Der Dritte inspiziert mithilfe eines
fahrbaren Spiegels den Unterboden. Mit einem überaus freundlichen Lächeln
lassen sie uns passieren. Vor dem Hoteleingang geht es weiter. Mein Koffer
und meine Reisetasche rollen durch einen Scanner. Ich selbst muss durch den
Scanner für Menschen, und das auch noch zu Fuß. Auf der anderen Seite wird
mein Koffer sofort von einem Boy zur Rezeption entführt. Meine Reisetasche
bekommt einen Anhänger mit der Aufschrift „Security checked 16.03.2014“,
und endlich darf ich hinein in das indische Fort Knox. Puh! Fast bin ich geneigt
zu sagen: „My name is Schirmer and I am not a terrorist.“ Aber andererseits:
wer möchte schon gern morgens im Garten aufwachen, weil irgendwer in der
Nacht die Bude in die Luft gesprengt hat?
Okay, das Taj hält, was es verspricht,
stelle ich im nächsten Moment fest.
Wieder empfangen mich unendliche
Weiten. Der Fußboden glänzt wie eine
Eisbahn, und trotzdem laufen mehrere
Houseboys mit ihren Wischmops durch
die Gegend und wienern unentwegt, wo
es nichts zu wienern gibt. Ab sofort
muss ich nichts mehr selbst tun, merke
ich. Ein sehr freundlicher junger Mann
im schwarzen Anzug schnappt sich
meinen Koffer, entreißt mir meine
Reisetasche, führt mich zum Fahrstuhl
und begleitet mich hinauf in mein Zimmer. Auf dem Weg nach oben die übliche
Konversation: woher ich komme, ob ich zum ersten Mal in Indien bin und wie
es mir gefällt. Langsam beginne ich zu begreifen, wie Mr. Khan sich auf
Pressekonferenzen fühlen muss, und spule routiniert wie ein Profi meine
Antworten ab. Die Kunst des Meisters, die immer gleichen Antworten jedes Mal
neu klingen zu lassen, muss ich allerdings noch üben.
Auch das Zimmer ist riesig; das Bett
wahrhaftig „King size“. Ich kann mir
aussuchen, ob ich längs oder quer darin
schlafen möchte. Aber zuerst muss ich
mit dem jungen Mann die Hausaufgaben erledigen und den Gästevertrag
unterschreiben, bevor er mir die
Schlüsselkarte aushändigt. Er notiert
sich die Nummer meiner Visa-Karte und
fragt nach meiner „business card“. Hä?
Ich brauche zehn Sekunden, um zu
begreifen, dass er eine Visitenkarte von
mir möchte. Zum Glück habe ich
welche dabei, denn schließlich bin ich ja nicht geschäftlich hier. Im Gegenzug
überreicht er mir seine, und ich erfahre, dass ich es mit Herrn Sumit
Chatterjee, dem Chef-Concierge, zu tun habe. Ah, gut zu wissen. Wehe Dir,
wenn die Klospülung nicht funktioniert. Hoppla, ich merke, wie ich langsam
großspurig werde. I start feeling pompous, und das kann ich an anderen schon
nicht leiden, aber an mir selbst erst recht nicht. Also packe ich mich in Gedanken am Kragen und hole ich mich schleunigst auf den Boden der Tatsachen
zurück.
Dann bin ich allein im Zimmer und verbringe die nächste halbe Stunde damit,
die Hightech-Anlage, die alles steuert, zu studieren. Hier geht nichts von Hand,
sondern alles automatisch. Sobald man die Schlüsselkarte aus ihrem „Parkplatz“ neben der Tür entfernt, schließen sich die Vorhänge. Das bringt mich in
den folgenden Tagen gleich zweimal in die blöde Situation, plötzlich im
Dunklen zu stehen, als ich mit der Karte in der Hand noch mal zurück ins
Zimmer gehe, weil ich etwas vergessen habe. Inzwischen schließen sich die
Vorhänge, und ich muss mich in der Finsternis mühsam zum Ausgang tasten.
Das Bad ist ein Traum mit dem kleinen
Schönheitsfehler, dass die Dusche fest
an der Wand montiert ist und man sie
nicht abnehmen kann, um bestimmte
Körperstellen einer gründlicheren
Spülung zu unterziehen. Aber irgendwas
ist ja immer. Und außerdem gibt es
dafür in dem kleinen, extra abgeteilten
Raum, in dem sich das Klo befindet, ein
Bidet. Du lieber Himmel, ich habe noch
nie im Leben ein Bidet zur Verfügung
gehabt; geschweige denn benutzt!
Ich mache mich ein wenig frisch und brauche dann noch mal fünf Minuten, um
herauszufinden, wie man das Licht im Bad löscht. Natürlich könnte ich es
einfach brennen lassen, aber meine Umweltschützerseele weigert sich, auf
diese Art Ressourcen zu verschwenden. Kurz bevor ich tatsächlich aufgeben
will, entdecke ich schließlich den entsprechenden Knopf im Flur. Das Deckenlicht ist aus, aber unter dem Waschtisch brennen immer noch zwei Lampen.
Nach weiteren drei Minuten finde ich auch den dafür zuständigen Schalter und
bin regelrecht stolz auf mich, dass ich dieses Problem allein gelöst habe.
Ich überlege, ob ich noch nach Mannat pilgern soll, aber mittlerweile ist es
nach Acht. Mein Magen stemmt bereits die Hände in die Hüften und verlangt
energisch nach Nahrung. Außerdem bin ich nicht sicher, ob ich mich wirklich
ganz allein draußen in der Dunkelheit herumtreiben sollte. Also begebe ich
mich hinunter in die Lobby und beschließe, das hauseigene Restaurant „Masala
Bay“ auszuprobieren. Wie gewohnt führt mich ein weiterer netter junger Mann
in einem weiteren schwarzen Anzug zu meinem Tisch, rückt mir den Stuhl
zurecht und breitet die Serviette über meinem Schoß aus. Langsam gewöhne
ich mich daran, nach Strich und Faden verhätschelt zu werden. Doch, es hat
etwas.
Ich versuche, ein Bitter Lemon zu bestellen und scheitere kläglich. Der Kellner
ist untröstlich, und ich glaube es nicht. Hundert Jahre haben die Briten dieses
Land unter ihrer Knute gehabt, und es gibt kein Bitter Lemon? Na schön, dann
eben Cola. Cola gebe es leider auch nicht, bedauert der Kellner, nur Pepsi.
Witzbold, denke ich mir und nicke die Pepsi ab.
Während ich warte, beginne ich mit Gaby zu simsen, um den Plan für morgen
abzusprechen. Gaby und der Rest der Truppe wohnen im Ramee Guestline in
Juhu. Gegen zehn Uhr soll ich bei ihnen im Hotel aufschlagen und meinen
Badeanzug mitbringen, denn wir wollen erst zum Strand – ein bisschen Holi
gucken – und uns danach oben auf dem Dach an den Pool legen. Das klingt
nach einem entspannenden Plan. Ich tippe meine Antwort, als plötzlich ein
Wassertropfen auf meinem Handy landet. Zuerst denke ich, meine Gleitsichtbrille, mit der ich sowieso auf Kriegsfuß stehe, spielt mir einen Streich, aber
nein: es ist eindeutig Wasser auf dem Display. Ich schaue verwirrt zur Decke,
aber dort ist außer einer Lüftungsöffnung der Klimaanlage nichts zu sehen;
keine weiteren Tropfen und kein nasser Fleck. Na gut, mein Verstand hat
offenbar die Hitze draußen nicht vertragen und gaukelt mir merkwürdige Dinge
vor.
Nein, tut er nicht. Schon kommt der nette junge Mann wieder an meinen Tisch,
entschuldigt sich überschwänglich und komplimentiert mich zu einem anderen
Tisch, wo es nicht von der Decke tropft. Gott sei Dank; ich bin also doch noch
nicht restlos verkalkt.
Hier bedient mich eine hübsche junge Dame in einem schicken roten Blazer. Es
sei die Woche der südindischen Küche, erklärt sie mir, und deshalb gebe es
neben der normalen Karte noch eine zweite mit speziellen südindischen
Gerichten. If I would like something of that? Hm, keine Ahnung. Ich weiß, dass
es die indische Küche sowieso nicht gibt, und ob die wenigen Gerichte, die ich
von meinem Inder in der Heimat kenne, nun aus dem Norden, Süden, Osten
oder Westen stammen, war mir bisher immer ziemlich egal. Aber ich bin ja
schließlich nicht nur wegen Mr. Khan hier, sondern auch, um Neues zu
entdecken, also her damit…
Sie kommt mit zwei Bilderrahmen im DIN-A-3-Format zurück, die jeweils mit
blauem und rotem Pannesamt bezogen sind. Donnerwetter, so eine Speisekarte habe ich noch nie gesehen! Die Auswahl ist eher minimalistisch, und zum
ersten Mal auf dieser Reise habe ich das Problem, ratlos vor einer Speisekarte
zu sitzen. Hier kann man nicht einfach die Nummer 118 bestellen wie zu Hause
beim Chinesen. Hier muss man die merkwürdigen Vokabeln aussprechen
können, wenn man nicht verhungern will. Oder man muss mit dem Finger auf
das entsprechende Gericht zeigen, aber damit ist mein Ehrgeiz nun überhaupt
nicht einverstanden. Ich werde das schon irgendwie hinkriegen. Das wäre ja
gelacht.
Ok, zur Sache: die südindische Karte sagt mir so gar nichts. Es ist sehr viel
Fisch und Meeresgetier dabei. Ich habe nichts gegen Fisch, sofern er von
Captain Iglo geliefert wird, aber hier bekomme ich es mit Hummern und
Krebsen zu tun, was mir eher unheimlich ist. Und überall ist Chili dabei. Leider
schreiben sie nicht dazu, wie viel Chili. Im Übrigen sind die Preise nicht nur
gesalzen, sondern auch gepfeffert.
Ich wende mich also der anderen Karte zu, und da ist es nicht viel besser. Die
Beschreibungen klingen äußerst elitär; fünf Sterne eben. Solche einfachen,
selbst mir bekannten Gerichte wie Tandoori Chicken oder Alu Ghobi sucht man
hier vergebens. Schließlich entscheide ich mich für ein Dhal-Gericht aus gelben
Linsen und roten Bohnen. Damit kann ich nicht viel falsch machen, denke ich
mir, frage aber vorsichtshalber die Bedienung, ob es nicht zu scharf sei. Sie
mustert mich prüfend und überlegt anscheinend, was eine Europäerin wohl
unter „scharf“ versteht. Nein, es sei nicht zu scharf, beruhigt sie mich dann.
Welche Beilagen ich gern dazu hätte? Gute Frage. Woher soll ich das wissen,
wenn ich noch nicht einmal weiß, was ich gerade bestellt habe? Nun gut, etwas
Reis kann nicht schaden, oder? Sicher, nickt sie, weißen Reis? Basmati?
Wildreis oder gebratenen? Hilfe! Nein, ich will keinen wilden Reis. Ich will ganz
normalen Reis von Uncle Ben’s, der friedlich auf meinem Teller liegenbleibt,
damit ich ihn in Ruhe verspeisen kann. Sie nickt wieder. Vielleicht noch etwas
Naan dazu oder Roti? Ah, endlich bekannte Vokabeln. Naan, das Fladenbrot,
kenne ich, und das esse ich ausgesprochen gern. Na also, dann haben wir es
doch endlich. Sie zieht zufrieden von dannen, und ich schnaufe erleichtert
durch. Puh, ist das anstrengend! Ich freue mich wie Bolle auf morgen und das
Treffen mit den Mädels. Endlich mal wieder Deutsch reden können!
Der nette junge Mann kommt wieder an meinen Tisch und stellt mir ein
silbernes Gefäß von der Größe einer durchschnittlichen Obstschale, gefüllt mit
Krabbenchips auf den Tisch. Er bemerkt sofort, dass ich meine Pepsi mittlerweile niedergemacht habe, und fragt nach meinen weiteren Getränkewünschen. Nicht noch mehr Cola, warnt mich eine innere Stimme, denn ich
muss auf meinen Blutzucker achten, also bestelle ich seufzend „sparkling
water“. Gleich darauf ist er zurück und präsentiert mir das kleine blaue
Fläschchen auf den offenen Händen, damit ich das Etikett begutachten soll.
Ähm… Wohlgemerkt, es handelt sich hier nicht um einen 1870er Rothschildt –
oder wie das edle Zeug auch heißen mag –, sondern um schlichtes, einfaches
Mineralwasser. Du lieber Himmel, gibt es wirklich so überkandidelte Leute, die
auf so etwas achten? Früher trank man das Wasser aus der nächstbesten
Quelle. Seit das nicht mehr geht und wir das Flugzeug erfunden haben, neigen
wir dazu, die Sache zu verkomplizieren, und lassen es uns von den Fiji-Inseln
einfliegen.
Ok, der Junge macht nur seinen Job, und er macht ihn gründlich, also
genehmige ich das Wässerchen mit einem sanften Nicken. Er freut sich und
schenkt mir ein. Gleich darauf kommt auch mein Essen. Das Dhal entpuppt
sich als eine Art Linsensuppe. Mit Reis und Brot dazu schmeckt sie ganz gut,
begeistert mich aber nicht wirklich. Das mag vor allem daran liegen, dass ich
seit meiner Kindheit ein gespanntes Verhältnis zu Linsen-, Erbsen-, Kartoffelund Bohnensuppen habe, weil meine Mutter immer diesen ekligen Speck und
den noch ekligeren Schweinebauch hineinzutun pflegte, den ich dann mit
Todesverachtung hinunterwürgen musste. Nun, dafür kann der Koch hier ja
nichts. In dieser Suppe schwimmt weder Speck noch Schweinebauch, und
meinem Magen ist inzwischen sowieso alles egal. Also löffle ich fleißig vor mich
hin.
Plötzlich taucht die nette junge Dame mit einem Tablett neben mir auf. Darauf
befindet sich ein Weinglas mit einer grünen Flüssigkeit. Am Rand des Glases
stecken eine Limettenscheibe und ein Minzblatt. Ich habe doch ein Bitter
Lemon haben wollen, erklärt sie mir auf meinen erstaunten Blick, mit dem sie
leider nicht dienen könne. Aber sie habe extra für mich diesen Drink gemixt
aus Limettensaft und Minzsirup mit verschiedenen Gewürzen. Den müsse ich
unbedingt probieren. Der werde mir ganz sicher schmecken. Ah, ok, wenn sie
es sagt.
Ich nehme einen vorsichtigen Schluck und muss ihr im nächsten Moment
hundertprozentig Recht geben. Weiß der Teufel, was sie da alles hineingerührt
hat, aber das Ergebnis ist einfach umwerfend; viel besser als Bitter Lemon. Ich
bin von Haus aus kein Gourmet. Essen muss möglichst schnell gehen, und seit
ich allein lebe, schiebe ich fast nur noch Pizza und Fertiggerichte in den Ofen.
Aber hier in Indien lerne ich wieder, dass es sich lohnt, etwas mehr Zeit und
Mühe in die Sache zu investieren. Die Krabbenchips im „Woks“ in Delhi waren
die besten, die ich je gegessen habe. Die gegrillte Gemüseplatte im „The Grill“
nebenan war perfekt gewürzt, und jetzt dieser Drink! Meine verschlafenen
Geschmacksnerven sind plötzlich hellwach und verlangen aufgeregt nach mehr.
Die junge Dame schlendert wieder heran und erkundigt sich, wie es mir
schmeckt. Ich lobe ihren Drink aus vollem Herzen und versuche aus ihr
herauszukitzeln, was da außer Saft und Sprudel noch alles drin ist. Sie lächelt
milde und schweigt. Klar, Betriebsgeheimnis, sonst könnte es ja jeder. Stattdessen greift sie zur Suppenschüssel und füllt mir ungefragt einen Nachschlag
auf meinen Teller. Ich gucke verdutzt aus der Wäsche. Eigentlich bin ich
pappsatt, und mein Magen ist soeben dabei, die Schotten zu schließen, damit
er mit den Aufräumungsarbeiten beginnen kann. Ich frage sie scherzhaft, if
she wants to feed me und meine damit, ob sie mich mästen will. Leider
vergesse ich das kleine, aber wichtige Wörtchen „up“ am Ende meines Satzes;
die Tücke der Fremdsprache. Sie versteht, ob sie mich füttern will, und
antwortet völlig ernsthaft, das täte sie liebend gern, wenn sie könnte. Dabei
schaut sie mich mit ihren schwarzen Kulleraugen und ihrem strahlenden
Lächeln so treuherzig an, dass man sie einfach liebhaben muss.
Also nehme ich pflichtschuldig noch zwei Löffel, aber damit muss es nun gut
sein. Es ist inzwischen nach halb Zehn und ich habe noch ein paar Kleinigkeiten zu erledigen. Ich muss mir einen Wagen bestellen für morgen früh und
muss noch herausfinden, wo in diesen unendlichen Weiten das Frühstück
serviert wird. Und ich muss ein Feuerzeug auftreiben. Seit die Security am
Flughafen in Delhi mir meines abgeknöpft hat, hantiere ich mit Streichhölzern,
und das stinkt mir gewaltig. Obwohl ich seit 36 Jahren rauche wie ein Schlot,
habe ich bis heute nicht gelernt, wie man sich draußen eine Kippe mit einem
Streichholz anzündet, ohne sich dabei die Finger zu verbrennen.
Ich winke also nach der Rechnung. Ah, der grüne Drink geht aufs Haus, stelle
ich erfreut fest, vermutlich wegen des Wassertropfens auf meinem Handy.
Sehr nett, dafür finde ich einen anderen Fehler. Nein, mein Name ist nicht
Connors (und ich bin keine Terroristin) und ich wohne nicht in Zimmer 1909,
sondern in 1901. Ganz flüchtig streift mich der kriminelle Gedanke, ob ich nicht
mit dem falschem Namen unterschreiben und dann schnell verduften soll, aber
sofort springt mein Anstand aus seiner Ecke und haut dieser unverschämten
Idee eins aufs Maul. Also wirklich! Ich rufe das Mädel zurück und erkläre ihr
das Problem. Sie ist untröstlich und entschuldigt sich lang und breit. Macht
nichts, wiegele ich ab, so was kann schon mal passieren. Sie rennt eilig davon,
um die Rechnung zu korrigieren, und Minuten später ist endlich alles geregelt.
Nun begebe ich mich hinaus in die
Lobby und versuche mich zu
orientieren. Welcher der vielen
dienstbaren Geister hinter den vielen
Tresen mag wohl für mein Anliegen
zuständig sein? Ich steuere auf blauen
Dunst das „Bell desk“ an, was immer
das auch heißen mag. Der junge Mann
dahinter strahlt mich mit filmreifem
Lächeln an. Sein schwarzer Gehrock
ist zu heiß gebügelt worden, bemerkt
mein Hausfrauenauge. Das sieht man
an den glänzenden Flecken auf seiner
Schulter. Ich frage nach einem Wagen für den nächsten Morgen und er fühlt
sich sofort zuständig. Sehr gern, für wie viel Uhr? Gute Frage, das hängt davon
ab, wie lange man braucht bis dorthin. Er überlegt. Normalerweise eine halbe
Stunde, aber da morgen Holi sei, könne es auch eine Stunde werden. Das
heißt, dass ich um Neun schon losfahren muss? Och nö, ich will schließlich
noch in Ruhe frühstücken. Ich entscheide mich spontan für halb Zehn und
gehe das Risiko ein, etwas verspätet bei den Mädels aufzuschlagen. Er hackt
alle Daten in seinen Computer. Just to drop, fragt er, oder möchte ich später
wieder abgeholt werden? Noch eine gute Frage. Da ich nicht weiß, wie sich der
Tag gestalten wird, kann ich auch noch nicht sagen, wann ich zurückfahren
möchte. Just to drop, bestätige ich. Wie ich zurück komme, wird sich dann
schon finden. Alles klar. Das Frühstück wird auf Level 2 in der „Vista Lounge“
serviert, erfahre ich noch und, nein, ein Feuerzeug habe er nicht. Er könne mir
höchstens Streichhölzer anbieten, was ich dankend ablehne. Ansonsten solle
ich es drüben in der Bar versuchen, denn dort verkaufen sie auch Zigaretten.
Ah, gut zu wissen.
Der Barkeeper bedauert. Nein, Feuerzeuge verkaufen sie leider nicht, aber er
könne mir eins geben. Und schon greift er in die Tasche und drückt mir seines
in die Hand. Wieder bin ich völlig verdattert von soviel Nettigkeit. Wie, einfach
so? Einfach so, nickt er. Mir schießt es siedendheiß durchs Hirn, dass ich schon
wieder keine müde Rupie in der Tasche habe für ein Trinkgeld, aber ich bin so
daran gewöhnt, überall mit meiner Zimmernummer zu bezahlen, dass ich
regelmäßig vergesse, Bares einzustecken. Reichlich beschämt bedanke ich
mich ausgiebig und trete den Rückzug an.
Jetzt aber ab nach oben! Es ist nach Zehn, und wenn ich morgen einigermaßen
pünktlich sein will, werde ich mir den Wecker stellen müssen, denn hier neige
ich zum Verschlafen. Ich werfe mich in mein Schlafgewand, genehmige mir
noch einen Ananassaft und ein paar Nüsschen aus der Minibar, schalte den
Fernseher ein und zappe durch die Kanäle. Hauptsächlich interessiert mich, ob
sie endlich das verschwundene Flugzeug gefunden haben, aber es gibt nichts
Neues in der Sache. Auf den indischen Kanälen dreht sich alles um die bevorstehende Wahl. Auf dem nächsten läuft diese Vampirserie und noch einen Klick
weiter „Fluch der Karibik – Dead Mans Chest“. Hach ja, Johnny Depp ist auch
niedlich, aber die Filme habe ich alle auf DVD und kenne sie fast auswendig.
Noch ein paar Klicks weiter höre ich plötzlich vertraute Töne. Tatsächlich, hier
in achttausend Kilometer Entfernung von der Heimat kann man die Deutsche
Welle empfangen. Der Beitrag entlockt mir allerdings nur ein müdes Gähnen.
Er handelt von einem Bauernhof an der Nordseeküste, auf dem jugendliche
Straftäter resozialisiert werden soll. Elitäres Bildungsfernsehen, bäh!
Ich zappe weiter und endlich werde ich fündig. Nach der indischen Variante der
wohlbekannten „Aber Mama, du musst doch auch Ariel nehmen“-Werbung
erscheint er endlich, der Mann im blauen Anzug in seinem neuen Spot für
NDTV. Sein Zwillingsbruder im Pullover ist
auch nicht übel, aber ich stehe auf glatt
rasierte Männer mit Krawatte. Oder doch
den mit dem Drei-Tage-Bart? Irgendwie
kann ich mich nicht entscheiden, aber auf
jeden Fall ist der Abend jetzt gerettet.
Besser kann es nicht mehr werden, also
schalte ich den Fernseher aus und lege mich
zur Ruhe. Die Klimaanlage summt angenehm sanft vor sich hin im Gegensatz zur
ihrer röhrenden Kollegin in dem Hotel in
Delhi. Das rote Lämpchen des Rauchmelders
an der Decke blinkt im Sekundentakt und
gibt mir ein bisschen das Gefühl, unter einem Leuchtturm zu schlafen, aber
was soll’s. Ich mache einfach die Augen zu und träume von meinem neuen
Nachbarn.
(Sorry, Kati, dass ich das Bild von Dir geklaut habe.)