Herman Nohl und der Pädagogische Bezug als

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Herman Nohl und der Pädagogische Bezug als
Vertiefungsseminar: Klassiker/innen der Sozialpädagogik
Dozentin: Anja Wilharm
Modul: 19605000 Sozial- und Ideengeschichte der SA/SP
Herman Nohl und der Pädagogische Bezug als Professionsverständnis
Vorgelegt von:
Dipl.-Psych. Hannah Uhle
Veerßer Str. 20
29525 Uelzen
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung...............................................................................................................................1
2. Biographischer Abriss..........................................................................................................1
3. Der „pädagogische Bezug“ als praxisnahe Leitidee Herman Nohls................................4
4. Menschenbild.........................................................................................................................9
5.1 Der „pädagogische Bezug“ in der Sozialpädagogischen Praxis.....................................11
5.2 Die Lehrerpersönlichkeit.................................................................................................13
6. Schlusswort..........................................................................................................................13
Literatur...................................................................................................................................15
1. Einleitung
Schon Bittner (1997: 358) hat in seiner Pestalozzi-Studie deutlich gemacht, dass „jede
Wahrheit über Menschliches und Geschichtliches, also auch jede ‚pädagogische’ Wahrheit“
aus dem „Kontext einer je individuellen Biographie“ (ebd.) entsteht. Dabei bezieht Bittner
sich
explizit
auf
einen
„Vater“
Nohls,
Wilhelm
Dilthey,
wenn
er
von
der
„erkenntnistheoretisch fundamentale Bedeutung der Selbstbiographie“ (ebd.) als Grundlage
des geisteswissenschaftlichen Erkenntnisgewinns schreibt. „Jeder der etwas von der
menschlichen, der sozialen Welt mit ihren Bedeutungshorizonten verstehen will, sieht sich
zuerst auf sein eigenes Leben verwiesen, das für ihn das unmittelbar gegebene Stück Welt und
Leben überhaupt darstellt“ (ebd.).
In diesem Sinne wird, ausgehend von einer biographischen Skizze Herman Nohls, eine
zentrale Frage seiner ‚Theoriebildung’ dargelegt und in Anbetracht der Fülle seiner Werke
(und Kontexte) auf den für das pädagogische – oder spezieller lehrende - Umfeld zentralen
Aspekt des „Pädagogischen Bezuges“ fokussiert, um daraus Rückschlüsse über Nohls
Menschenbild ableiten zu können. Schließlich wird diese historische und theoretische
Annäherung in kritischen Überlegungen zur Anwendbarkeit in sozialpädagogischen
Einrichtungen und berufsbildenen Schulen münden.
2. Biographischer Abriss
Herman Nohl ist am 7. Oktober 1879 in Berlin geboren. Er wächst mit zwei Geschwistern,
Ella und Johannes, auf. (Vgl. Blickenstorfer 1998: 27, Klika 2000: 133) Dabei stammt er aus
einer Pädagogenfamilie, der Vater arbeitet als Gymnasiallehrer (vgl. Blickenstorfer 1998: 27)
und die Mutter – über die allerdings wenig bekannt ist – hat zumindest in Berlin einen Kurs
für Kindergärtner1 absolviert (vgl. Klika 2000: 133). Nach Klika (ebd.) war der Verlust seiner
Mutter mit drei Jahren schmerzlich und konnte durch die Zuwendungen seitens des Vaters
nicht kompensiert werden. Die Autorin sieht darin einen Grund für Nohls Hinwendung zur
Tiefenpsychologie und seinem anthropologischen Modell (vgl. ebd.: 137). Nohl selbst
bezeichnet die Familie „als das vitale Gehäuse, das der Mensch fast schneckenhaft wie ein
Stück seines eigenen Seins sein lebenslang mit sich herumträgt, und wo sie einen Bruch hatte,
1
Im Folgenden wird das generische Maskulinum verwendet, um die Leserlichkeit des Textes zu bewahren. Es
wird darum gebeten, dabei das weibliche Geschlecht mitzudenken.
1
macht sich das im Charakter des Kindes bemerkbar“ (Nohl 1970: 171) und beschreibt damit
auch ein Stückweit seine eigene Lebenserfahrung. Der Vater holt zur haushälterischen
Unterstützung seine Schwester Hermine nach Berlin, die resolut den Haushalt führt und damit
für die Wilheminische Ära ein ungewöhnliches Frauenbild verkörpert (vgl. Klika 2000: 138f).
Auch hier muss Nohl erneut den Verlust einer Verwandten hinnehmen, als diese 1889 in ihr
Elternhaus zurückkehrt. Hinzu kam nun die Verantwortung für den Hausstand. 1891 heiratet
Herman Nohls Vater erneut. Aus dieser Ehe gehen zwei weitere Kinder, Doris Elise Lotte
und Marie Hildegard, hervor. (Vgl. Klika 2000: 141). Nach Klika (2000: 187) wird durch die
Trennungserfahrungen die Bedeutung von Gemeinschaft für Nohl bereits biographisch
einsichtig.
Nach dem Besuch des „Berlinischen Gymnasium zum Grauen Kloster“ studiert Nohl von
1898 bis 1904 Philosophie, Germanistik, Geschichte und Pädagogik bei Paulsen und Dilthey
(vgl. Blickenstorfer 1998: 27, Niemeyer 2005: 139). Für Niemeyer (2005: 139) ist der
Ausgangspunkt aus deren Philosophie für den sozialpädagogischen Kontext und die
geistesgeschichtliche Einordnung Nohls relevant. Dilthey spielt im Leben Nohls als Gönner
und Unterstützer eine zentrale Rolle, verhilft ihm zu einem Stipendium und begleitet seine
Dissertation (1904) über „Sokrates und die Ethik“. Er ernennt ihn zu seinem Assistenten und
empfiehlt ihn an Eucken in Jena, wo er sich 1908 mit dem Thema „Die Weltanschauungen
der Malerei“ habilitiert. (Vgl. Blickenstorfer 1998: 27) In Jena pflegt er Umgang mit
Persönlichkeiten der Stadt, v.a. Figuren des romantisch-idealistischen „Serakreises“. In der
Zwischenzeit hat Nohl (1905) Bertha Oser geheiratet. Die beiden haben fünf gemeinsame
Kinder. (Vgl. Klika 2000: 189). Blochmann (1969: 49) stellt diese Jahre vor Ausbruch des
Krieges als ungetrübtes Familienglück dar. Hier zeigt sich ein Widerspruch in der Rezeption
von Nohls Leben: Sieht Niemeyer (2005: 139f) diese Zeit als eine Phase, in der Nohl kaum
etwas veröffentlicht hat, so beschreibt Blochmann (1969: 49) diese Zeit als
Jahre
angestrengter wissenschaftlicher Arbeit.
Ab 1915 leistet Nohl Militärdienst, wo er zur Besatzungsmacht in Gent gehört. Die anfänglich
Kriegsbegeisterung
–
Niemeyer
(2005:
141)
spricht
von
einer
völkischen
und
monarchistischen Einstellung- und Überzeugung der Rechtmäßigkeit des Krieges schlägt im
Verlauf des Krieges – und nach dem Tod mehrerer Freunde – immer mehr in Verzweiflung
um. Er sieht die Verrohung seiner Mitmenschen mit Erschrecken und entwickelt Gedanken
über ein besseres Deutschtum. (Vgl. Blickenstorfer 1998: 28) Blickenstorfer (ebd.: 29) und
2
Niemeyer (2005: 139f) sehen beide in den Kriegserfahrungen Nohls den Ansatzpunkt zur
Hinwendung zu pädagogischen Fragen. Gemeinsam mit Flitner, den er in Jena kennengelernt
hatte (vgl. Klika 2000: 190), setzt sich Nohl nach Kriegsende aktiv für die
Volkshochschulbewegung ein (vgl. Blickenstorfer 1998: 29). Wilhelm Flitner hat zu seinem
Lehrer Nohl ein enges Verhältnis. Dieser hat beispielsweise die Eigenheit, seine Studierenden
zu sich nach Hause einzuladen, und scheint ernsthaft am Leben seiner Studenten interessiert
zu sein. (Vgl. Klika 2000: 190f)
Ab 1919 erhält Nohl einen Ruf auf eine außerordentliche Professur für Philosophie an der
Universität Göttingen, die 1922 in ein Ordinat (auch für Pädagogik) umgewandelt wird. (Vgl.
Niemeyer 2005: 139) 1923 wird Erich Weniger sein Assistent, dieser wird dann 1949 Nohls
Nachfolger auf seinem Lehrstuhl (vgl. Blickenstofer 1998: 29). Nohl wird von seinen
Schülern als charismatisch erlebt und von Flitner als „begnadeter Lehrer“ (Flitner 1991: 22,
zitiert nach Niemeyer 2005: 140) bezeichnet. Niemeyer (2005: 141) sieht seinen großen
Einfluss auf die (Sozial-)Pädagogik dann auch eher in seiner Ausstrahlung als in seinen
Theorien begründet und meint, dass Nohl als Theoretiker eher mit Skepsis zu behandeln sei.
Er ist „für die Profession weit wichtiger (…) als für die Disziplin“ (Niemeyer 2005: 141) –
will heißen: Für die (sozial-)pädagogische Praxis ist Nohl bedeutsamer als für die
wissenschaftliche Theoriebildung. Er führt in pädagogischen Seminaren spezifische
didaktische Kurse für Lehrer und verbindet in einer angeschlossenen Schulklasse theoretische
Erkenntnisse mit der pädagogischen Praxis. Außerdem stellt die sozialpädagogische
Ausbildung einen weiteren Schwerpunkt in seiner Arbeit dar: Nohl führt während der
zwanziger Jahre regelmäßig sozialpädagogische Kurse durch und regt die Gründung
sozialpädagogischer Einrichtungen an. (Vgl. Blickenstorfer 1998: 29) Zwischen 1933/1935
veröffentlichte er sein Hauptwerk „Die pädagogische Bewegung in Deutschland“ und
gemeinsam mit Pallat das „Handbuch der Pädagogik“ (vier Bände 1928-1933). Trotz des
Hinweises von Niemeyer (2005: 141), dass Nohl missverständliche Äußerungen gegenüber
den Nationalsozialisten geäußert haben soll, wird Nohl 1937 seines Amtes enthoben und 1943
zur Fabrikarbeit herangezogen. Nohl konnte in dieser Phase weiterarbeiten und veröffentlichte
u.a. „Einführung in die Philosophie“, „Die ästhetische Wirklichkeit“ (1935) und „Charakter
und Schicksal“ (1938) sowie „Die sittlichen Grunderfahrungen“ (1939). (Vgl. Blickenstorfer
1998: 30) Im Zuge der Entnazifizierung im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg ist Nohl am
Wiederaufbau der Universität und der Lehrerbildung in Göttingen beteiligt, wo er 1946/47
Dekan wird. 1947 wird Nohl emeritiert und widmet sich der seit 1945 erscheinenden
3
Zeitschrift „Die Sammlung. Zeitschrift für Kultur und Erziehung“. (Vgl. Blickenstorfe 1998:
30; Niemeyer 2005: 139) Herman Nohl stirbt nach kurzer Krankheit am 27. September 1960
in Göttingen (vgl. ebd.).
3. Der „pädagogische Bezug“ als praxisnahe Leitidee Herman Nohls
Herman Nohl gilt als einer der Stammväter der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, der in
der Tradition seines Doktorvaters, Wilhelm Dilthey, der Pädagogik im Gewande der
Sozialpädagogik
den
Rang
eines
geisteswissenschaftlichen
Zentrums
sowohl
im
wissenschaftlichen Feld als auch im Praxisfeld zuweisen wollte. (Vgl. Niemeyer 2001: 1065,
2005: 150f) In seinem Hauptwerk „Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre
Theorie“ (Nohl 1933/35) bemüht er sich darum, die pädagogische Bewegung seiner Zeit als
sozialpädagogische Bewegung zu lesen und strebt die Anwendung allgemein-pädagogischen
Wissens in der Arbeit mit einer besonderen Klientel an. (Vgl. Niemeyer 2001: 1065)
Nohls Grundlage ist dabei die „Erziehungswirklichkeit“, die im als Ausgangspunkt für eine
allgemeingültige Theorie der Bildung dient. Grundlage seines Bildungsbegriffs ist Diltheys
Konzept, das Bildung als eine „planmäßige Tätigkeit, durch welche Erwachsene das
Seelenleben von Heranwachsenden zu bilden suchen“ (GS IX: 190, zitiert nach Uhle 2003:
69) zu verstehen ist. Nohl misst im Bildungsprozess dem „pädagogischen Bezug“ eine
zentrale Rolle zu. Er sieht in der Gewinnung eines pädagogischen Bezuges die Voraussetzung
für ein pädagogisches Verhältnis überhaupt. (Vgl. Colla 1999: 347f)
Was aber bedeutet „pädagogischer Bezug“ im Kontext der Erziehungswirklichkeit? Der
„pädagogische Bezug“ im Sinne Nohls ist von ihm selbst mit folgenden Parametern bestimmt
worden:
„Grundlage der Erziehung ist die Bildungsgemeinschaft zwischen dem Erzieher und dem
Zögling mit seinem Bildungswillen“ (Nohl 1933: 21) Dieses wesentliche Element des
pädagogischen Bezugs rekurriert auf zwei zentrale Sachverhalte: So wird hier einerseits die
Wechselseitigkeit im Erziehungsprozess betont. Nur in einer Gemeinschaft ist ein
Bildungsprozess vollziehbar. Gemeinschaft im Sinne Nohl bedeutet eine Arbeitsgemeinschaft
des Aufeinanderangewiesensein von Zögling und Erzieher. Andererseits zeigt sich hier Nohls
Menschenbild, wenn er darauf verweist, dass jeder Heranwachsende einen Bildungswillen,
ein Wachstumspotential wie Rogers es wohl nennen würde (vgl. Biermann-Ratje 2003: 86ff),
4
hat. Nach Uhle (2008) bedeutet Bildung im Sinne Nohls, dass jeder Mensch an seiner
Weiterentwicklung bzw. Höherentwicklung interessiert ist, also einen Bildungswillen besitzt.
„Die Grundlage der Erziehung ist das leidenschaftliche Verhältnis eines reifen Menschen zu
einem werdenden Menschen, und zwar um seiner selbst willen, dass er zu seinem Leben und
seiner Form komme“ (Nohl 1933: 22)
Wie bei seinem Ziehvater Dilthey bildet auch für Nohl das Verhältnis eines erwachsenen
Menschen zu einem jüngeren Menschen die Grundlage für erzieherisches Handeln. Auf diese
Weise wird Erziehung nicht mehr nur in den asymmetrischen Verhältnissen (z.B. ElternKind), sondern auch als eine persönliche, von Sympathie getragene Wahl nach dem Modell
der Gleichaltrigen-Gruppe gedacht (vg. Colla 1999: 347f). Uhle (2008) verweist darauf, dass
Nohl durch diese Bestimmung des pädagogischen Bezuges den reformpädagogischen
Gedanken, Jugend erzieht Jugend, ablehnt. Erziehung im Kontext des pädagogischen Bezuges
geschieht zwischen Eltern und Kindern, Lehrer und Schüler oder Sozialpädagogen und
Jugendlichen (Uhle 2008). Es wird nicht bestimmt, wer dieser „reifere Mensch“ sein soll. Das
kann ein Pädagoge sein, aber auch eine Bezugsperson aus einem anderen Kontext. Die
Beziehung zwischen Erzieher und Zögling soll dabei ein „leidenschaftliches Verhältnis“ sein.
Uhle (2008) gibt zu bedenken, dass die Bindungsforschung Belege dafür liefert, dass quasierotische Körperkontakte zu Kindern eine notwendige Wachstumsbedingung sind. Dabei
wehrt sich Nohl (1933) gegen ein rein sexuelles Verständnis vom Liebesverhältnis des
Erziehers zum Zögling, es hat durchaus sexuelle Implikationen, soll aber zunehmend eine
Leidenschaft für die Talente des Kindes werden. Es enthält „viel mehr als das sexuelle
Moment“ (Nohl 1933: 23). Die Leidenschaft – mit seinen Leiden und Qualen – soll darauf
verweisen, dass der Erzieher kein bezahlter Profi ist, sondern über pädagogischen Eros
verfügt und dass Ziel hat, die Potentiale des Heranwachsenden hervorzulocken und seine
Individualität wahrzunehmen und zu fördern und gleichzeitig sicherstellen, dass er
gesellschaftsfähig bleibt. Für Nohl liegt dabei der Schwerpunkt auf dem Aspekt „um seiner
selbst willen“, d.h. der Erzieher ist nicht Agent objektiver Mächte, sondern muss den
hilfsbedürftigen Menschen in seinem Selbst-Sein absolut bejahen. Nicht die Ansprüche der
Gesellschaft, sondern die Befindlichkeiten und Lernbedürftigkeiten des Heranwachsenden
selbst sind der Ausgangspunkt. Die Erziehung geht hier davon aus, welche Schwierigkeiten
das Kind hat, nicht von denen, die es dem Erzieher oder den Eltern macht. (Vgl. Colla 1999:
348)
5
„Die wahre Liebe des Lehrers ist die hebende Liebe und nicht die begehrende… Die
pädagogische Liebe zum Kind ist die Liebe zu seinem Ideal... So fordert die pädagogische
Liebe Einfühlung in das Kind und seine Anlagen, in die Möglichkeiten seiner Bildsamkeit,
immer im Hinblick auf sein vollendetes Leben“ (Nohl 1933: 23)
Ein pädagogischer Bezug im Sinne Nohls fordert vom Erzieher gleichzeitig Nähe zum
Zögling und Distanz zu seinen Idealen. Nohl verlangt vom Erzieher Respekt vor der
„Spontaneität und dem Eigenwesen des Zöglings“ (Nohl 1933: 24). Die Fundierung der
pädagogischen Beziehung ist für Nohl die pädagogische Liebe nach dem Vorbild der Mutterund Vaterliebe, die von ihrem instinktiven Verhalten gelöst wird, aber mit sinnlichen
Momenten behaftet bleibt. Nohl versteht „hebende Liebe“ als ein geistiges Verhalten eigener
Art, dass sich auf die höhere Form des werdenden Menschen richtet. (Vgl. Colla 1999: 349)
Colla (2006: 102) verweist darauf, dass in der aktuellen Pädagogik, der pädagogische Eros in
Ungnade gefallen ist. Bei Pestalozzi, Ziller, Don Bosco, Wichern, Korczak und Spranger
hatte er noch einen großen Stellenwert. Heute spricht man anstelle von Liebe eher von
Verlässlichkeit, Orientierung an Gerechtigkeit (vgl. Colla 2006.: 102) und einfühlende
Führsorge im Sinne Rogers (vgl. Bierman-Ratjen et al. 2003). Uhle (2004) benennt für diesen
Perspektivwechsel zum einen ein professionsstrategisches Moment, in der Erziehung als
bezahlte Dienstleitung vollzogen wird sowie den Erkenntnissen zum sog. Helfersyndrom, die
zeigen, dass selbstlose Hilfe für andere eigene Schwächen kompensieren soll. Zudem verweist
Uhle (2004) auf Giesecke, der eine Gefahr darin sieht, dass affektive Bezugssystem von
Familie in öffentliche Einrichtungen hineinzutragen. Die Qualität eines speziellen
Interaktionsverhältnisses ist inzwischen ein zentraler
Gegenstand der (klinischen)
Therapieforschung geworden, wobei die Forschungsbefunde zu einer rein auf Empathie
gegründeten Hilfe nicht eindeutig ausfallen (vgl. Davison et al. 2002: 37).
„Das Verhältnis des Erziehers zum Kind ist immer doppelt bestimmt: von der Liebe zu ihm in
seiner Wirklichkeit und von der Liebe zu seinem Ziel: dem Ideal des Kindes.“ Die
pädagogische Gemeinschaft wird getragen „von zwei Mächten: Liebe und Autorität, oder
vom Kinde aus gesehen: Liebe und Gehorsam.“ (Nohl 1933: 25)
Nohl konkretisiert hier das Verhältnis von Erzieher und Zögling, indem er auf die
Wechselseitigkeit der Beziehung hinweist. Dabei stehen sich die gegenseitige Liebe des
Erziehers und des Zöglings und die Autorität des Erziehers und das Gehorsam des Zöglings
gegenüber. Die Liebe im Sinne Nohls darf nicht einseitig sein, sondern muss beim
6
Heranwachsenden auf Gegenliebe stoßen. Erziehung als Beziehung wie Nohl sie versteht,
muss hergestellt werden, d.h. der Erzieher muss sich durch Kenntnisse und Einfühlung die
Gunst des Zöglings erwerben. Die Autorität des Erziehers soll sich aus den personalen
Eigenschaften des Erziehers entwickeln. Pädagogische Beziehungen herzustellen bedeutet
demnach Anerkennungsverhältnisse aufzubauen. Dies wird einerseits durch Zuwendung und
Eros andererseits durch die Wertschätzung von Leistungen erreicht. (Vgl. Uhle 2008) Nohl ist
sich Bewusst, dass erzieherisches Handeln den Charakter eines Wagnisses besitzt, das
scheitern kann (vgl. Colla 1999: 350).
„Die Erziehung endet da, wo der Mensch mündig wird, das heißt nach Schleiermacher, wenn
die jüngere Generation auf selbständige Weise zur Erfüllung der sittlichen Aufgabe
mitwirkend der älteren Generation gleichsteht, die Pädagogik hat also das Ziel sich selbst
überflüssig zu machen und zur Selbsterziehung zu werden.“ (Nohl 1933: 21)
Nohls Erziehungsziel besteht in der Auflösung der Gemeinschaft sobald der Heranwachsende
selbst eine reife Persönlichkeit geworden ist, d.h er verlangt vom Erzieher, dass er sich eng
auf eine Beziehung einlässt und gleichzeitig die Ent-Bindung zum obersten Ziel erklärt. (Vgl.
Uhle 2008) Das zunächst asymmetrische Verhältnis soll sich im zeitlichen Verlauf des
Bezuges verändern. Die Autorität sowie das Gehorsam sollen mit zunehmender Reife
abnehmen und in ein symmetrisches Verhältnis münden. Gelingt der pädagogische Bezug
nicht, dann muss ein Milieuwechsels in Betracht gezogen werden. (Vgl. Colla 1999: 350f)
Klika (2000: 43) veranschaulicht dieses Spannungsverhältnis graphisch (siehe Abbildung 1),
indem sie Erzieherverhalten und Zöglingsbedürfnisse einander gegenüberstellt.
7
Doppelte Spannung des pädagogischen Bezuges:
Zögling
Selbstbewahrung  Hingabe
Liebe  Gehorsam
Erzieher
Zurückhaltung   Veränderungswille
Liebe  Autorität
Beziehung ist getragen von zwei Potentialen,
realisiert in Bildungsgemeinschaft  keine Zweck-Mittel-Beziehung
Basis: gegenseitiges Vertrauen
Abbildung 1: Struktur der pädagogischen Beziehung nach Klika (2000: 43)
Der Erzieher hat bei Nohl eine Doppelfunktion: Er ist sowohl Anwalt der Kultur und ihrer
Werte und Sinngehalte und er ist Anwalt des Kindes. Diese Spannungszustände muss der
Erzieher bei Nohl aushalten können. (Vgl. Uhle 2008)
Ein zentrales Element in der Theorie des pädagogischen Bezuges ist der auf Herbart (1802)
zurückgehende Grundgedanke eines pädagogischen Taktes, der es dem Erzieher erst
ermöglicht die genannten Spannungszustände für den Zögling förderlich umzudeuten (vgl.
Colla 1999: 349). „(…) deren feinster Ausdruck ein pädagogischer Takt ist, der dem Zögling
auch da nicht ‚zu nahe tritt’, wo er ihn steigern oder bewahren möchte, und der spürt, wenn
eine große Sache nicht pädagogisch klein gemacht werden darf“ (Nohl 1933: 24).
Colla (1999: 349) sieht im pädagogischen Takt das Bindeglied zwischen (empirischer)
pädagogischer Wissenschaft und pädagogischer Praxis verwirklicht. Das Wissen um die
Komplexität der Aufgabe bei gleichzeitiger Sensibilität für die Situation gibt dem Erzieher
Sicherheit für sein tägliches handeln. Der pädagogische Takt ist seit Herbart ein Element der
pädagogischen Kunst, das angewiesen ist auf den Beitrag der Theorie. Als kontaktsteuernde
Funktion ermöglicht er dem Erzieher im richtigen Moment situationsadäquat zu handeln. Er
kann auf dieser Grundlage dem Zögling den notwendigen Freiraum geben, damit der Zögling
unter der Dominanz des Erwachsenen seine Selbständigkeit bewahren kann und ermöglicht
8
dem Erzieher Raum für Beobachtung und Selbstkontrolle. (Vgl. Colla 1999: 349) Nohl
erweitert das dyadische Konzept des pädagogischen Bezuges 1952 auf Gruppenprozesse. Die
Spannung des Schülers besteht dann eher zu der sozialen Gruppe, in die er hineinwachsen
will. Der Lehrer bzw. Erzieher wird mehr zum Helfer bei der Lebensbewältigung (vgl. Colla
1999: 351)
Ein kritischer Blick auf die Theorie des pädagogischen Bezuges könnte mit der Frage
eingeleitet werden, ob eine pädagogische Beziehung generell so umfassend, eng, emotional
und undistanziert sein darf, wie Nohl es in den genannten Grundlagen des pädagogischen
Bezuges fordert. Uhle (2008) bemerkt, dass Lehrer oder Erzieher, die sich umfassend an der
Person orientieren, schnell dem Vorwurf ausgesetzt sind, dass sie in die Privatsphäre des
Heranwachsenden eingreifen. Ein sagenumwobener pädagogischer Takt ist nur scheinbar eine
Lösung, da er in seiner Unschärfe und mit seiner Konnotation von „Kunst“ schwer
realisierbar scheint. Uhle (2008) rekurriert auf Giesecke und fordert in seinem Sinne eine
Form der affektiven Neutralität, die sowohl Ganzheitlichkeit als auch Professionalität
einschließt. Giesecke spricht sich aber gleichzeitig gegen eine Überformung von affektiver
Neutralität aus. Es soll nicht zu Gleichgültigkeit und Kälte führen. An die Stelle von Liebe
sollte statt dessen Verlässlichkeit, die Orientierung an Gerechtigkeit und empathische
Einfühlung treten. Sowohl Colla (1999) als auch Uhle (2008) sehen in der Theorie des
pädagogischen Bezuges ein Modell – oder Schema – das zum Weiterdenken auffordern soll.
Für beide Autoren heißt das, Erziehung nicht als Geschäftspartnerschaft misszuverstehen und
die problematische Relation von Nähe und Distanz wissenschaftsgeleitet zu reflektieren.
4. Menschenbild
Aus den oben genannten Ausführungen zum pädagogischen Bezug lassen sich Rückschlüsse
auf Nohls Menschenbild ableiten. Das Primat der Person, also die spezifische Eigenart des
Zöglings gegenüber gesellschaftlich bedingten Anforderungen, zeigt Nohls Ablehnung
jeglicher Lenkung der pädagogischen Arbeit durch kulturelle, kirchliche, wirtschaftliche oder
politische Institutionen. Die individuelle Selbstentfaltung der Heranwachsenden unter
Anleitung eines reifen Menschen macht das Spezifikum eines gelungenen pädagogischen
Verhältnisses und damit der Heranbildung eines mündigen Menschen aus. Ein „höheres
Selbst“ bildet sich jedoch nicht lediglich autopoietisch, sondern muss intentional gesteuert
werden (vg. Klika: 42). Damit grenzt er sich von der durchaus mit Hochachtung beobachteten
Jugendbewegung ab.
9
Nach Nohl gibt es zwei grundlegende - und für Erziehung unverzichtbare- Sichtweisen des
Menschen: Eine realistische Sichtweise, die den Menschen in seinem wirklichen So-Sein, den
Menschen mit seinen Gewohnheiten, seinem Verhalten und seinem Handeln, seiner
Lebenswelt, wahrnimmt. Und eine ideale Sichtweise, die in dem Menschen die Potentiale,
verborgenen Fähigkeiten und Bestimmungen erkennt. (Vgl. Maier 1992: 69) Uhle (2008)
beschreibt diese zwei Positionen als Ist-Zustand und Soll-Zustand des Menschen.
„Die Grundeinstellung, mit der der Pädagoge dem Kinde gegenübersteht, ist also eine
eigentümliche Mischung von realistischem und idealem Sehen, die sich ergibt aus der
Einsicht in die Zweiseitigkeit im Wesen des Menschen“ (Nohl 1979: 16).
Die Beschreibung und Akzeptanz dieser dialektische Spannung ist die Grundlage dafür, Nohl
einem idealistisch-naturalistischen Menschenbild (Colla 1999: 352) zuordnen zu können. Als
Ziehsohn Wilhelm Diltheys steht er in der Tradition einer geisteswissenschaftlichen
Pädagogik, wenn er sich auch von Dilthey entfernt, indem er dessen Grundlegung der
Pädagogik als psychologische interpretiert (vgl. Blickenstorfer 1998: 94f). Seinem
Menschenbild folgend ist der Mensch zuallererst ein Geistesprodukt und besonders die
Psychoanalyse droht mit ihrem deterministisch-materialistischen Blick auf die menschlichen
Abgründe die Freiheit des Geistes zu beschneiden (vgl. Niemeyer 2005: 156).
Dies
Widerspricht Nohls Bild von einem Individuum, dass die Fähigkeit zur Selbstständigkeit und
Mündigkeit besitzt. (Vgl. Maier 1992: 65ff)
10
5. „Pädagogische Bezug“ als Element von pädagogischer Praxis und Professionalität?
5.1 Der „pädagogische Bezug“ in der Sozialpädagogischen Praxis
Thole und Cloos (2006: 123) behaupten, dass das Austarieren von Nähe und Distanz eine
typische, pädagogische Herausforderung ist, die von den professionellen Akteuren der
verschieden
sozialpädagogischen
Praxisfelder
tagtäglich
in
den
unterschiedlichsten
Situationen zu bewältigen ist. Fälschlicherweise nehmen sie jedoch an, dass dieses Thema in
der sozialpädagogischen Theoriebildung stiefmütterlich behandelt wurde. Wie gezeigt wurde
bildet das Spannungsverhältnis zwischen Nähe und Distanz im Bildungsprozess der
Heranwachsenden ein zentrales Element in der Theorie des pädagogischen Bezuges bereits
seit Nohl.
Colla
(1999:
348)
sieht
im
„pädagogischen
Bezug“
die
Voraussetzung
der
sozialpädagogischen Arbeit impliziert. Nohls Theorie setzt Verstehen im Sinne Dilthey
voraus, d.h. in der Lesart von Colla (ebd.): Kenntnis der inneren und äußeren Zustände,
Milieus, der personalen und pädagogischen Situation der Heranwachsenden und erfordert
somit eine sozialwissenschaftliche Analyse der Lebensbedingungen und der individuelle
Förderbedürftigkeit. Dabei ist Colla zufolge jene Wirklichkeit ausschlaggebend, die Kind und
Erzieher bzw. Sozialpädagoge gemeinsam und in derselben Weise erfahren können.
Verstehen gründet sich – so Colla (ebd.) - im gemeinsamen Erleben. Colla (ebd.) berichtet,
dass Jugendliche die Erfahrung eines signifikanten Anderen, einer Beziehung, die mehr ist als
Zweck-Mittel-Relationen als positiv und förderlich erleben. Auch wenn nach Colla (1999) der
pädagogische Bezug im Zeitalter massenmedialer Vernetzung und Indivualisierungstendenzen
neu justiert werden muss, so bietet er doch (immer noch) eine Basis zur Reflexion des eigenen
pädagogischen Handelns. Thole und Cloos (2006: 124) bemängeln gerade die heutige
Vernachlässigung der Erotik im pädagogischen Alltag, der damit verbundenen Ängste und
Verdrängungen durch den Aufbau von Distanz bzw. umgekehrt der Angst, sich durch eine zu
große Nähe zu den Adressaten zu verlieren. Die sozialpädagogischen Praxisfelder z.B. in der
Jugendarbeit unterliegen einem (impliziten) Verhaltenskodex, der von den Akteuren fordert,
sich an den Aktivitäten der Jugendlichen aktiv zu beteiligen und sich dabei so zu verhalten,
als sei man ein Teilnehmer unter anderen, d.h. es wird eine symmetrische Beziehung
gefordert, die Generationsdifferenzen und Rollendistanzen aufzuheben versucht. (Vgl. Thole
11
et al. 2006: 129f) Im Sinne Nohls wird versucht, eine Gemeinschaft entstehen zu lassen, die
von gegenseitigem Vertrauen getragen ist. Problematisch wird es jedoch, wenn diese
(scheinbar) symmetrisch-partnerschaftliche Beziehung institutionell verformt werden (muss).
Thole et al. (2006: 127ff) führen dies exemplarisch an einem Fall vor, bei dem ein
Sozialpädagoge die partnerschaftliche Beziehung zu einem Jugendlichen in eine
Vertragsbeziehung umfunktionieren muss. Der Jugendliche möchte sich zwecks eines
längeren Transportweges das Einrichtungsfahrzeug „ausborgen“. Der Einrichtungsleiter
verweist auf die möglichen Konsequenzen einer Sachbeschädigung und muss eine
vertragliche Regelung in Form einer Austauschbeziehung konstituieren. Die Grundlagen eines
idealtypisch verwirklichten pädagogischen Bezuges sind hierbei verletzt. Ein wissenschaftlich
geschulter Sozialpädagoge kann diesen Konflikt zwar nicht auflösen, muss aber in der Lage
sein, diesen Rollenwechsel wahrzunehmen und erkennen können, dass dieser feldspezifisch
bedingte Rollenwechsel vom Partner zum Leiter für den Jugendlichen nicht sofort einsichtig
sein könnte. Man könnte das Fazit von Thole et al. (2006: 141) als eine Teilabsage an den
„pädagogischen Bezug“ lesen:
„Das Verhältnis von Nähe und Distanz im sozialpädagogischen Alltag lässt sich folglich nicht
allein als das Resultat einer situativ ausgehandelten Beziehung zwischen Profesionellen und
AdressatInnen verstehen, sondern als ein durch habituelle Positionen geformtes, durch
organisationskulturelles Gefüge gerahmtes und durch feldspezifische Regeln situiertes
Verhältnis, das sich situativ stets neu herstellt“ (Thole 2006: 141)
Die Autoren (2006: 136) stellen außerdem fest, dass je höher das Ausbildungsniveau, desto
mehr distanzierte, rollenspezifische Anteile ergeben sich in den habituellen Profilen.
Vielleicht erfordert aber gerade diese empirische Tatsache die Rückbesinnung auf ein
pädagogisches Eros im Sinne Nohls, wenn Colla (1999: 344) in Befragungen Jungendlicher
nachweisen kann, dass dem Moment der Nähe gerade eine heilsame pädagogische Wirkung
zukommt. Die Frage nach dem Bildungsprozess und mithin auf die Qualität des
„pädagogischen Bezuges“ muss bei Erziehung außerhalb des Unterrichts vielleicht mit
besonderer Dringlichkeit (wieder?) gestellt werden. (Vgl. Niemeyer 2005: 148) Nohls
Interesse
galt
der
Rehabilitierung
des
Praktikers
als
eines
nicht
lediglich
wissensanwendenden, sondern „erkennenden Subkekts“ (in der Logik Diltheys), dass in der
Lage ist über einen „pädagogischen Takt“ sowohl eine professionelle Distanz als eben auch
12
eine „leidenschaftliche“ Nähe herzustellen (vgl. Niemeyer 2005: 155). Ersteres scheint
gelungen, letzteres erweiterungsbedürftig.
5.2 Die Lehrerpersönlichkeit
Thole und Kollegen (2006: 123) stellen fest, dass Schüler-Lehrer-Beziehungen an den
alteingessenesen Akademien durch große Distanz geprägt sind. Im Unterricht dominiert –
trotz des Ausrufs einer neuen Lernkultur - die Wissensvermittlung. Zwar kann sich der, der in
Lehrer-Schüler-Verhältnissen denkt, nicht des Auftrags entziehen, Bildungsinhalte zu
vermitteln. Er kann aber immerhin – und dies ist die Lektion von Nohl – auf didaktischem
Weg beeinflussen, ob der Schüler in der Rolle des passiven Rezipienten verbleibt oder selbst
aktiv an der Gestaltung der Lerninhalte und besonders der Beziehung zwischen Lehrer und
Schüler mitwirkt bzw. mitwirken darf. (Vgl. Niemeyer 2005: 148) Dieses konstruktivistisch
orientierte Vokabular kann als Modernisierung der Sprache Nohls verstanden werden, der ja
vom „Bildungswillen“ (Nohl 1933: 21) des Heranwachsenden und von der Erziehung „um
seiner selbst willen“ (Nohl 1933: 22) spricht, also von einem aktiven Individuum, dass sich
sowohl durch Re-, als auch Dekonstruktionen vervollkommnen will.
Auch Nohl selbst hat dieses besondere Schüler-Lehrer-Verhältnis nicht nur theoretisch
beschrieben, sondern praktisch zu realisieren versucht. Durch gemeinsame Wanderungen mit
Seminarteilnehmern und, wie im biographischen Abriss beschrieben, durch persönliche
Anteilnahme an seinen Studenten hat er versucht, einen „pädagogischen Bezug“ zu leben. Die
Studierenden sollten nicht nur theoretisch geschult werden, sondern schon im Studium die
Praxis aus eigener Anschauung kennenlernen. (Vgl. Klika 2000 : 200f) Dies mag ein Grund
sein, warum Blickenstorfer (1998: 99) zu dem Ergebnis kommt, dass Nohl mehr durch seine
Persönlichkeit als durch seine Theorie gewirkt hat.
6. Schlusswort
Die Idee einer pädagogischen Beziehung, die von Leidenschaften, Wechselfällen des Lebens,
von Ambitionen und Realismus getragen ist, scheint auf allen Ebenen der Bildung relevant zu
sein. Der Akzent von einer zu starken Nähe zum Heranwachsenden - wie noch in Pestalozzis
Erziehungsheimen- scheint sich im Zuge zunehmender Professionalisierung verschoben zu
haben. Heute löst eher die Forderung nach emotionaler Hingabe Erstaunen aus. Ist denn das
13
noch eine professionelle Beziehung? Wo müssen dann die Grenzen gesetzt werden? Nohls
Theorie war auf Interaktionen zwischen reifen Menschen und Heranwachsenden beschränkt.
Aber die Fähigkeit, sich auf eine Bindung einzulassen, wird biographisch erworben. Ein
Lehrer in der Berufsschule, der über sein gesamtes Studium hinweg keine Vorbilder erlebt
hat, wird dies mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nicht in seiner Unterrichtsspraxis
verwirklichen können. Ein Erzieher, der in seiner Ausbildung keine persönliche Anteilnahme
eines Berufsschullehrers erfahren hat, wird diese professionelle Nähe vielleicht auch nicht in
seiner sozialpädagogischen Praxis realisieren können. Ohne die Idee des doppelten TheoriePraxis-Bezuges überstrapazieren zu wollen (vgl. Karsten 2003: 354), ergeben sich hieraus
doch einige Ideen für alle Bildungsebenen.
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