Flucht + Vertreibung 1945/46 - Heimatbund für das Oldenburger

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Flucht + Vertreibung 1945/46 - Heimatbund für das Oldenburger
Flucht und Vertreibung 1945/46
Neue Heimat im Oldenburger Münsterland
1. Zeitzeugen berichten von Flucht und Vertreibung
Seite
1.1. Von Klinthenen, Ostpreußen, nach Goldenstedt
2
1.2.
Von Rosenau, Westpreußen, nach Vechta
4
1.3.
Von Mittelwalde, Schlesien, nach Lohne
7
1.4. Von Leisersdorf, Schlesien, nach Vestrup
1.5.
Von Breslau über Vestrup ins Schwabenland
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11
2. Karten
2.1.
Deutschlandkarte Übersicht (1926/29)
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2.2.
Ostpreußen mit Danzig (1926/29)
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2.3.
Schlesien, Ausschnitt (1913)
16
3. Mögliche Aufgabenstellung zu den Berichten der Vertriebenen
17
4. Zur Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen im Oldenburger Münsterland
4.1. Gemeindedirektor a. D. Franz Wiese aus Garrel berichtet
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4.2.
22
Bericht zur Aufnahme der Flüchtlinge und Vertriebenen in Goldenstedt
5. Zahlenreihen
5.1.
Bevölkerungsentwicklung im Oldenburger Münsterland 1939-1955
23
5.2.
Bevölkerung, Konfessionsverteilung und Anteil der Vertriebenen im
Oldenburger Münsterland 1950
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5.3.
Anteil der Nichteinheimischen in den Städten und Gemeinden des Landkreises
Cloppenburg 1949
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5.4.
Hauptherkunftsgebiete der Vertriebenen im Landkreis Cloppenburg (1949)
26
5.5.
Mögliche Aufgabenstellung zu den Zahlenreihen und Hinweise zur Interpretation
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2
1. 1. Von Klinthenen, Kreis Gerdauen, Ostpreußen, nach Goldenstedt
(Aus: Stumme Schreie. Flucht und Vertreibung 1944/45. Hrsg. vom BdV, Kreisverband Vechta o. J. (2003), S. 18 ff.)
Beginn der Flucht war der 24. Januar 1945 in Klinthenen. Sie endete am 22. März 1945 in Vechta.
Als Ehefrau und Erbhofbäuerin des Erbhofbauern Karl Fritz Schmidt/Klinthenen, zu damaliger Zeit
in der 4. Armee im Raum Heiligenbeil kämpfend – dort in den Märztagen 1945 gefallen, führte ich
im Dorftreck 3 Wagen, einen Schlitten und 9 Pferde mit.
Meine Familie bestand aus mir, 23,5 Jahre alt, meinem Sohn Herbert, 1 1/4 Jahre alt und meiner
Schwiegermutter, 64,5 Jahre alt.
Am 24.01.1945 gegen 18 Uhr – ohne Treckbefehl – mussten wir unser Dorf Klinthenen im Kreis
Gerdauen in Ostpreußen vor der anrückenden, mörderischen russischen Armee verlassen. Das
Thermometer zeigte 15 Grad minus, der Schnee lag über einen Meter hoch. Nachdem wir das Vieh
von den Ketten gelassen und die Futterkrippen noch einmal gefüllt hatten, stiegen wir auf den
schwankenden, hochbepackten Leiterwagen, der gegen Nässe und Kälte mit einem Holzdach verschlossen war, von 4 Pferden gezogen vom Hof. Die gepflasterten Straßen waren alle mit Flüchtlingstrecks und Militärfahrzeugen verstopft. Wir kamen nur langsam auf vereisten Nebenstrecken
vorwärts. Unser Treck, bestehend aus 12 Wagen, brauchte für die Strecke bis zum Frischen Haff
(ca. 100 km-Luftlinie) fast 6 Wochen. Wir fuhren Tag und Nacht, manchmal im Kreis, oft mussten
wir den nachrückenden Truppen weichen und in Gräben und Felder hineinfahren; unser Schlitten
behinderte uns sehr, und so kippten wir ihn nach kurzer Zeit in den Graben.
Wir wurden von russischer Infanterie und Artillerie beschossen und sprangen vor russischen Tieffliegern in Deckung. Es ist unbegreiflich, dass unser Treck das Haff ohne Menschenverluste erreichte, obwohl die Säuglinge und Kleinkinder weder Milch noch wärmende Speisen bekamen.
Schwiegermutter fütterte unseren Sohn nach Vogelart, so entging er der gefürchteten Durchfallerkrankung, da die Lebensmittel bei der Kälte alle gefroren waren. Ab und zu erhielten wir etwas aus
einer Feldküche oder konnten den mitgeführten Sauerteig bei längerem Lager aufbacken. Es war
Ende Februar, als wir in der Nähe von Braunsberg das Haff vor uns liegen sahen. Nun begann der
Elendsweg über das Eis. Es gab nur eine Sorge. Hatten die übermüdeten Pferde (zwei schöne Kaltblüter) sich bis dahin nach jedem Halt im Treck wieder vom Rauhfutter des vorherfahrenden Wagens zum Weiterziehen anreizen lassen, so fiel das nun bei der Fahrt über das Eis fort. Wir mussten
50 m Abstand halten. Es hatte inzwischen etwas getaut, und dadurch war unter der oberen Eisschicht eine verharschte Decke, in welche die Pferde immer wieder einbrachen. In einer unabsehbaren Kette fuhren die Wagen über das Eis.
Immer wieder eingebrochene Wagen mit Pferden, aber auch Menschenleichen. Dazwischen liefen
Fußgänger mit Schlitten, auf denen die Jüngsten und Ältesten saßen. Wir fuhren hauptsächlich
nachts, da über Tage die Tiefflieger kamen. Sie flogen so niedrig, dass wir die Piloten sehen konnten. Viele sprangen kopflos vom Wagen, die Pferde gingen durch und brachen ins Eis. Ich konnte
meine sich aufbäumenden Pferde kaum halten, aber es ging gut. Viele Menschen wälzten sich
schreiend auf dem Eis, es war ein grauenvoller Anblick. Viele fuhren jetzt rücksichtslos auf das
Ufer zu. Noch einmal griffen die Flieger an, dann war zunächst Ruhe. Wir bargen die Verletzten
und brachten sie ans Ufer. Es wird niemals festgestellt werden können, wie viele Menschen den
Schreckensweg über das Haff machen mussten und wie vielen es zum Grab wurde.
Nun sollten wir die schmale Nehrung entlang in Richtung Westpreußen. Aber auf diesen Weg hatte
sich die russische Artillerie eingeschossen, die sich bei Tolkemit in Stellung gebracht hatte. Darum
entschloss ich mich mit meinem Nachbarn, in der Nacht auf dem Eis entlang der Küste weiterzufahren. Die Wagen mussten alle hintereinander fahren, denn abseits des mit Stangen gekennzeichneten
Weges hielt das Eis nicht mehr.
(…..)
Nach 3 Tagen erreichten wir endlich bei Stutthof (Danziger Bucht) festes Land, es war der 20. Februar 1945. (…..)
3
Tauwetter erschwerte nun die Weiterfahrt und Futtermangel für die Pferde wurde zur Katastrophe.
Wir mochten die Pferde nicht anhalten, denn wir fürchteten, sie würden nicht wieder anziehen. So
treckten wir durch den Werder und erreichten eine Stunde vor Brückensprengung die Stadt Dirschau an der Weichsel. Spätere Trecks wurden mit Fähren übergesetzt, oft unter russischen Artilleriebeschuss. Mit 3 Wagen aus unserem Dorf ging es weiter Richtung Pommern. Im letzten Dorf vor
der pommerschen Grenze zogen meine Pferde nicht mehr; ich blieb mit meiner Schwiegermutter
und meinem Sohn zurück. (…..)
Nach mehreren vergeblichen Versuchen kamen wir mit einem pferdebespannten Militärwagen weiter, stiegen auf einen Lastwagen um und gelangten schließlich auf einem Sanitätswagen unter häufigem Artilleriebeschuss nach Gotenhafen (= Gdingen).
Wir bezogen eine Baracke. In der Nach wurde die Nachbarbaracke von einer Granate zerfetzt. Als
Mutter eines Kleinkindes bekam ich eine Schiffskarte. Wir machten uns zu Fuß auf den Weg zu
dem angegebenen Hafenbecken. Immer wieder fiel meine Schwiegermutter hin, das letzte Stück
kroch sie zum Schiff. Es war ein kleines Vorpostenboot. Hätte ich geahnt, welche Sicherheit die
kleinen Schiffe im Gegensatz zu den Großen gaben, ich wäre bei der Abfahrt nicht so verzweifelt
gewesen.
Wir fuhren am 15. März 1945 als Geleit für zwei große Passagierschiffe nach Westen. Oft gab es
Torpedoalarm. Als ich es einmal wagte an Deck zu gehen und rückwärts schaute, wurde ich Zeuge,
wie eines der großen Schiffe, mit Flüchtlingen beladen, sank. Es war auf eine Mine gelaufen. Vor
Swinemünde erlebten wir einen Fliegerangriff auf die Stadt. Als wir uns endlich dem Landungssteg
näherten, müde, abgekämpft, verzweifelt, brachen wir in hysterisches Schreien aus. Wir durften
nicht an Land, sondern stiegen auf ein Küstenfahrzeug um. Dabei verlor ich meine Schwiegermutter
aus den Augen. Über das Stettiner Haff wurden wir nach Ueckermünde gebracht. Wir waren zunächst der Hölle entronnen.
Irgend jemand sagte: „Von hier aus fahren Züge nach dem Westen“. Alles stürmte zum Bahnhof.
Nach vielen Stunden fuhr ein Zug ein. Wir drängten uns hinein. Niemand wusste, wohin er fuhr.
Wir saßen eine Nacht hungrig im kalten Zug. Hätten nicht reichere Flüchtlinge uns etwas zu essen
gegeben, so wäre mein Jung nun doch wohl gestorben. Über Stralsund ging es nach Bremen und
weiter nach Vechta.
Dort trafen wir abends um 18 Uhr am 28. März 1945 ein. Es war ein milder Frühlingstag. RotKreuz-Schwerstern standen bereit, um Alte und Kranke auf Wagen abzutransportieren. Alle anderen wurden in Schäfers Gasthaus untergebracht. Freundliche Helfer kümmerten sich um uns. Nach
zehn Wochen Flucht schliefen wir das erste Mal ohne Angstgefühl ein. An den folgenden Tagen
wurden wir auf die Gemeinden in der Umgebung verteilt. (…..)
Die Vertriebenen in Goldenstedt wurden zunächst in den Sälen Oesting, Scheele und Straßburg untergebracht und von dort aus auf die privaten Quartiere verteilt. Es gab kaum ein Haus in der Gemeinde, in dem nicht auch der letzte Raum belegt war. Die außerordentlich beengten Wohnverhältnisse, der Mangel an Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten in den ersten Nachkriegsjahren, die Unterschiede zwischen der schlesischen Mundart und dem Münsterländer Platt und vieles andere
mehr, führten zu manchen Unzuträglichkeiten.
Das konnte bei einem derartigen Eingriff in die Lebensbedingungen aller, Flüchtlingen wie der Einheimischen, gar nicht anders sein. (…..)
4
1. 2. Von Rosenau, Westpreußen, nach Vechta
(Aus: Stumme Schreie. Flucht und Vertreibung 1944/45. Hrsg. vom BdV, Kreisverband Vechta o. J. (2003), S. 31 ff.)
Elsbeth Kreft, geb. Woydeck, geb. 8. Juli 1921 in Rosenau, Kreis Rosenberg, Westpreußen.
Rosenau ein Bauerndorf, ca. 1319 gegründet, 317 Einwohner = 67 Haushalte, Lehmboden, mehr
Weizen als Roggen wurde angebaut.
Zu beklagen sind: 35 Gefallene und Vermisste, 6 Personen daheim von den Russen ermordet; 9
Personen auf der Flucht verstorben.
(…..)
Bis zur Flucht am 21. Januar 1945 war ich als Buchhalterin beim Finanzamt in Rosenberg tätig. Der
Kreis Rosenberg lag östlich der Weichsel und gehörte zum Reg. Bez. Marienwerder. Er wurde nach
der Abstimmung am 11. Juli 1921 der Provinz Ostpreußen zugeschlagen. Der größte Teil Westpreußens wurde ohne Abstimmung polnisch.
Schon Wochen vor der Flucht wurden wir eingeteilt, am Samstagnachmittag oder Sonntags Schützengräben ausheben, aber niemand dachte daran, dass wir von daheim fort mussten.
Der Befehl für die Räumung kam am 20. 01. 1945 und wurde vom Landrat angeordnet, ohne die
Einwilligung des Gauleiters einzuholen. Dieser hätte die Räumung sicher verweigert, wie schon
Tage vorher. Die Flucht war für Sonntag den 21. 01. 1945 festgelegt. Unser Aufnahmekreis sollte
Preußisch Stargard, westlich der Weichsel, sein.
Schon tagelang hörten wir den Kanonendonner immer näher kommen. Der Lärm der Front versetzte
die Bewohner in Furcht. Man wollte an die Vertreibung nicht glauben sondern fasste die Räumung
nur vorübergehend auf. Den Bediensteten des Finanzamtes wurde eine Bescheinigung ausgestellt,
dass sie die Stadt verlassen durften.
Einige mussten bleiben, zu denen gehörte auch ich, wir sollten die Akten des Amtes nach Pr. Stargard bringen. Ich fuhr schnell mit dem Fahrrad nach Hause, vergewisserte mich, dass meine Angehörigen von unserem Nachbarn mitgenommen wurden und raffte schnell die nötigsten Dinge zusammen. Beim Bahnhof in Rosenberg spielten sich unvorstellbare Szenen ab. Es trafen die Menschen aus Deutsch Eylau ein, die am 20. 01. 1945 den Räumungsbefehl erhalten hatten und keine
andere Möglichkeit sahen als zu Fuß Rosenberg zu erreichen, um von dort mit dem Zug weiter zu
kommen. Am Bahnhof trafen diese mit den Rosenbergern zusammen. Es waren Frauen mit Kinderwagen, Kleinkinder, alte Menschen bei minus 20 Grad Kälte.
Matthäus sagt im 24. Kapitel, Vers 20: „Bittet aber, dass eure Flucht nicht im Winter geschehe.“
Am Sonntagmorgen mussten wir noch Akten verbrennen und gegen 17.00 Uhr war endlich die Abfahrt auf einem offenen LKW. Die Stadt war wie ausgestorben. Wir sahen nur einige Volkssturmmänner auf der Straße. Es war kalt und es herrschte dichtes Schneetreiben. Wir kamen vorbei an
endlosen Trecks, die wegen der Glätte kaum vorankamen. Nachts erreichten wir die Weichselbrücke und kamen wohlbehalten in Pr. Stargard an.
In einem Massenquartiert verbrachten wird die Nacht: auf dem Fußboden zwischen weinenden Kindern und alten, stöhnenden Menschen. Am Morgen war der erste Gang zum dortigen Finanzamt.
Arbeit hatte man für uns keine, wir sollten aber die Stadt nicht verlassen und uns jeden Tag dort
melden. Eine ehemalige Kollegin, die nach dort abgeordnet war, nahm mich auf, so dass ich dem
Massenquartier entronnen war. Die Stadt war in heller Aufregung, Offiziere und Wehrmacht rieten
uns, die Stadt recht schnell zu verlassen. Ich wollte aber auf meine Angehörigen warten und blieb in
der Stadt. Ich fragte immer auf der Treckleitstelle nach und hatte Glück. Es war eine Freude, meine
Mutter und Großmutter sowie Nachbarn und Bekannte wieder zu sehen. Der Treck war nicht vollständig beisammen, auf dem Weichseldamm waren durch Glätte und ungeschicktes Kutschieren
einige Wagen ins Rutschen gekommen und umgestürzt. Es waren dabei Menschenverluste zu beklagen. Ich zog nun mit unserem Treck weiter. Wir wurden nach einigen Tagen in einem kleinen
Dorf im Kreis Karthaus untergebracht. Mit 5 Personen bekamen wir ein kleines Zimmer, mit einem
Bett und einer Schütte Stroh auf dem Fußboden. Nachts liefen Mäuse und Ratten über unsere Füße
und fraßen einen Teil unserer Lebensmittel auf. Wir waren beunruhigt, denn wir waren in einem
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polnischen Dorf gelandet. Nachts hörten wir Schritte, tagsüber war alles ruhig, uns war es unheimlich. Auf Bitten von uns Frauen fuhren wir nach einigen Tagen weiter, die Pferde hatten sich inzwischen ausgeruht. Es ging dann immer die Ostseeküste entlang, zu Fuß. Die Pferde mussten geschont
werden. Nur alte Menschen, kleine Kinder und Säuglinge durften auf den Wagen.
Die Verpflegung, die wir mitgenommen hatten, wurde knapp, das Brot war gefroren. Alte Menschen und Säuglinge hatten viel zu leiden. Auch meine 86-jährige Großmutter. Als wir in Kolberg
ankamen, konnte und wollte sie nicht mehr weiter. Was sollten wir tun? So fanden wir ein Altersheim, das sie aufnahm. Wir hofften, dass sie dort in Frieden eingeschlafen ist. Trotz vieler Bemühungen haben wir nichts mehr von ihr gehört. Es war bitter für uns.
Es gab keine Ordnung mehr. Wir fuhren bzw. gingen so lange bis wir eine Unterkunft fanden, oftmals war es sehr spät am Abend. Verpflegung bekamen wir kaum noch. Wir waren froh, wenn die
Kinder Milch erhielten. In der Frühe mussten wir weiter, um für die nachfolgenden Trecks Platz zu
machen. Die Unterkünfte waren in Ställen und Scheunen. Wir wollten auch weiter, um nicht den
Russen in die Hände zu fallen. Einmal waren diese bereits vor uns, aber wir schafften es mit ‚Gottes
Hilfe’ zu entkommen. Ehe die Brücke gesprengt wurde, gelangten wir noch als letzter Treck auf die
Insel Wollin (Odermündung nördl. von Stettin). Dort mussten wir 3 Tage und 4 Nächte im Kugelhagel der Russen auf der Straße ausharren. Verpflegung gab es nicht, aber viele Verluste. Dann
konnten wir endlich über eine schmale Ersatzbrücke nach Swinemünde. Mit den Pferden war es ein
Drama, die wollten nicht über die schmale Brücke; es klappte aber doch noch.
Wir waren glücklich, ohne Verluste wieder auf dem Festland zu sein. Die nächste Station war
Anklam. Dort gab es Futter für die Pferde, für uns Essen und Quartier. Wir hatten auch Spaß dabei:
unser Treckleiter hatte sich verlaufen, es dauerte eine Weile bis wir ihn wieder fanden. bis Waren–
Müritz war ich noch bei unserem Treck, dieser war schon lange nicht mehr vollständig, auch die
Pferde konnten nicht mehr. Ich ging auf die Suche nach Transportmöglichkeiten und hatte Glück.
Ein Zug stand dort und sollte in Stunden oder Tagen nach Westen abfahren. Damals wusste man
nichts mehr genau. Nach langem Warten fuhren wir in Richtung Westen. Wir 7 Personen waren 4
Tage und Nächte unterwegs.
Wir kamen durch Hannover und Bremen, die Städte sahen grauenvoll aus. Am Abend des 18. März
1945 kamen wir in Vechta an. Unser Waggon sollte nach Lohne, also blieben wir nachts im Zug
und trafen am Vormittag des 19. März 1945 in Lohne ein. Wir wurden von der Polizei empfangen
und im HJ-Heim mit belegten Broten und Kakao bewirtet. Man erzählte uns, dass es in Lohne noch
genug Lebensmittel gäbe und wir nicht hungern müssten.
Nach 8 Wochen Flucht sahen wir dementsprechend aus, aber Läuse hatten wir keine. Dann wurden
wir verteilt, d.h. jeder Bauer suchte sich seine Leute aus. Mir war dies zunächst unangenehm, ich
kam mir vor wie ein Sklave. Mich sprach der Ortsbauernführer von Brägel an, ob ich mitkommen
wollte. Ich sage zu, aber nicht ohne meine Mutter. Wir fanden Aufnahme in der guten Stube, sahen
aber, dass die große Familie sehr beengt wohnte. Wir sind noch zweimal umgezogen, zuletzt in ein
Zimmer, wo wir auch selbst kochen konnten. Viele Flüchtlinge waren in Hühner- bzw. Schweineställen oder Baracken untergebracht. Diese waren kalt und ohne Licht.
Nach Kriegsende funktionierte die Verwaltung wieder. Für die Flüchtlinge wurden Bezirksflüchtlingsbetreuer eingesetzt. In Lohne gab es ein Flüchtlingsamt, dieses wurde von Frau Klautke betreut. Ich wurde Flüchtlingsbetreuerin von Brägel. Mit den entlassenen Soldaten, die bei den Bauern
arbeiteten, waren damals in Brägel 100 – 110 Flüchtlinge und Vertriebene untergebracht, davon ca.
25 % Kinder. Bezugsscheine gab es wenig. Am meisten fehlten Kinderschuhe. So begann ein reges
Tauschgeschäft.
Es gab oftmals etwas zu schlichten. Abgesehen von einigen unschönen Dingen, ging es doch recht
gut unter den gegebenen Bedingen. Wir sahen ja, dass wegen der großen Kinderzahl wenig Platz
war. Die Flüchtlinge bemühten sich aber zu helfen, oftmals über ihre eigene Kraft hinaus.
Nach Kriegsende fiel der Unterhalt für die Flüchtlinge fort, auch die Sparbücher, soweit diese noch
vorhanden waren, wurden gesperrt, viele hatten kein Geld mehr für Lebensmittel. Wir halfen uns
durch den Verkauf von Raucherkarten. Fast alle Flüchtlinge warteten auf Nachricht von Angehöri-
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gen, auf Vater, den Ehemann, den Sohn, die im Kriege, in Gefangenschaft oder vermisst waren.
Oder auf Angehörige, die vom Treck abgekommen oder in der Heimat verblieben waren. Anfangs
warteten alle auf eine Rückkehr in die Heimat. Einige Schlesier hatten noch nicht alles ausgepackt,
weil sie hofften, es gehe bald zurück. Auch mit dem kath. Glauben musste ich mich erst auseinandersetzen, ich kam aus einem fast rein ev. Gegend. Es gab deswegen oft heiße Diskussionen. Kinder
hatten besonders zu leiden, weil sie einen anderen Glauben hatten. Heute im Zeichen der Ökumene
ist vieles anders geworden. Sicher war es gut, dass beide Seiten den Glauben des anderen kenne
lernten.
(…..)
In Lohne lebten wir noch bis Mai 1954, danach zogen wir nach Vechta. Gearbeitet habe ich bis
1948 beim Bauern, ab 01. 04. 1948 war ich als Hilfsfürsorgerin bei der ev. Kirche in Lohne. Nach
einem Besuch des ev. Seminars für soziale Berufsarbeit in Kassel und dem Examensabschluss am
23. März 1954 wurde ich am 01. 04. 1954 als Sozialarbeiterin und Kreisgeschäftsführerin bei der
Kreisgeschäftsstelle des Diakonischen Werkes in Vechta eingestellt.
(…..)
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1. 3. Von Mittelwalde, Schlesien, nach Lohne
(Aus: Stumme Schreie. Flucht und Vertreibung 1944/45. Hrsg. vom BdV, Kreisverband Vechta o. J. (2003), S. 100 ff.)
Mittelwalde wurde am 09. 05. 1945 von den Russen eingenommen, ohne Widerstand. In Mittelwalde waren die meisten Einwohner in der Stadt geblieben und nicht geflüchtet, nur wenige höhere
Beamte und Parteiangehörige waren in Richtung Sudetenland geflohen. Meine Familie und ich, also
meine Eltern und 8 Kinder im Alter von 3 bis 23 Jahren, machten uns am 07. 05. 1945 bei Nacht
und Nebel auf die Flucht mit einem Wehrmachtskonvoi, der in Richtung Sudetenland unterwegs
war. Wir hatten nur das Notdürftigste mit, was wir in der Eile schnell hatten einpacken können. Vor
allen Dingen Lebensmittel für 10 Personen! Unsere Kolonne ging in Richtung Königgrätz, das ist
etwa 100 km von Mittelwalde entfernt. Wir waren die ganze Nacht bis in den Morgen unterwegs.
Als wir in Königgrätz ankamen, war die Brücke bereits von den Russen besetzt. Die Soldaten kamen gleich in Kriegsgefangenschaft, die männlichen Privat-Personen wurden ebenfalls aussortiert.
Darunter war auch unser Vater, der Rest der Familie wurde in das Schloss einquartiert, wobei uns
gesagt wurde, wir würden alle erschossen!
Die nun folgende Nacht werden wir nie vergessen, die Schreie der Menschen höre ich noch heute.
Die Russen gingen alle Räume des Schlosses durch und suchten sich Mädchen und Frauen aus, um
sie zu vergewaltigen. Die ganze Nacht hörten wir das Schreien, und immer die bange Frage: sind
wir die Nächsten? Nur wer eine gute Ecke erwischt hatte und sich gut verbergen konnte, unter kleinen Kindern und Decken, hatte diese Nacht heil überstanden!
Am nächsten Morgen kam ein russischer Offizier und sagte zu den Leuten: Alles was laufen kann,
soll gehen, was bleibt, wird erschossen! Meine Mutter band meine kleinen Geschwister mit einem
Gürtel zusammen, damit sie nicht verloren gingen und wir machten uns auf den Heimweg nach Mittelwalde, aber nicht etwa die Hauptstraße entlang, so wie wir gekommen waren, nein, auf kleinen
Schleichwegen über die Berge. In der Woche, wo wir unterwegs waren, ernährten wir uns von dem,
was wir in leeren Häusern fanden. Geschlafen haben wir unter freiem Himmel. Unterwegs sahen
wir eine Menge totes Vieh und viele, viele tote Soldaten sowie Privatpersonen.
Zuhause angekommen, waren in unserer Wohnung 2 meiner Tanten. Einen Monat durften wir dort
noch wohnen, dann wurde uns mit 9 Personen unten im Haus 1 Zimmer angeboten, in dem haben
wir noch etwa 1 Jahr bis zur Vertreibung gewohnt. In diesem Jahr haben wir von dem gelebt, was
der Garten noch hergab oder im Keller gebunkert war, wie Kartoffeln, Marmelade und Eingewecktes. Fleisch gab es hin und wieder von Bekannten, Brot gab uns der Pole, der in unserer Wohnung
saß.
Meine Mutter bekam nach einem ¾ Jahr Bescheid, wo mein Vater geblieben war. Der Pole aus unserer Wohnung hatte in Glatz einen Posten in der Festung, von daher wusste er, dass unser Vater
dort festgehalten wurde. Nun fuhren wir regelmäßig nach Glatz, um ihm etwas zu essen zu bringen,
bis wir dann eines Tages wieder packen mussten. Der Pole hatte uns 1 Woche vorher Bescheid gesagt. Wir waren daher nicht ganz unvorbereitet.
In den Morgenstunden des … 03. 46 ging es mit der Familie zum Bahnhof. Dort wurden wir gefilzt
und mussten über Nacht im Bahnhof bleiben. Am nächsten Morgen wieder Gepäckkontrolle und
wieder verschwanen so etliche Habseligkeiten, die uns lieb waren. Der Zug fuhr los und niemand
wusste wohin. Erste Station war Glatz, und welch eine Freude; unser Vater stand am Bahnhof, unter
der Bewachung unseres Polen. Mutter konnte ein letztes Mal für lange Zeit mit ihm sprechen, bis
der Zug weiter in Richtung Breslau fuhr. Mit einigen Unterbrechungen in Breslau und Kohlfurt zur
Entlausung, kamen wir nach langen Tagen endlich in Lohne an.
Wir kamen in der Fabrik Taphorn unter, und blieben dort 3 Tage, bis wir weiter verteilt wurden.
Wir kamen zu verschiedenen Bauern und meine Familie wurde getrennt, da sie zu groß war. Meine
Mutter kam mit den beiden Kleinsten unter, wir anderen Geschwister immer zu zweit, aber in ihrer
Reichweite. Wir mussten alle in der Landwirtschaft helfen, außer Mutter, mit den beiden Kleinen
ging das nicht. Nach 1 Jahr, im Sommer 1947, stand eines Morgens unser Vater vor der Tür. Nun
lebten meine Eltern und 2 Geschwister in einem kleinen Raum, bis 1948 zwei meiner Brüder aus
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der Kriegsgefangenschaft dazu kamen. Da das nun wirklich nicht ging, zogen meine beiden Brüder
ins Ruhrgebiet. Dort gab es für die Zwei Arbeit. Sie blieben dort und haben später dort auch ihre
Familien gegründet.
Wir bekamen 1949 endlich unser eigenes Haus, wo wir mit allen Familienmitgliedern unterkamen.
Alle haben wir in Lohne und Umgebung eine Lehrstelle bekommen. Meine Eltern hielten den Kontakt zu den Mittelwaldern hier in Lohne, wir Kinder haben beides kennen gelernt: die Welt der hiesigen Bevölkerung wie auch das Los der Vertriebenen.
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1. 4. Von Leisersdorf, Schlesien, nach Vestrup
(Aus: 800 Jahre Vestrup – Chronik 1208 – 2008, S. 821 ff.))
Ich bin 1931 in Woitsdorf/Schlesien geboren. Mit meinen Eltern wohnte ich mit noch zwei Geschwistern, meiner Schwerter Gertrud (geb. 1930) und meinem jüngeren Bruder Martin (geb. 1938),
in Leisersdorf, Kreis Goldberg/Haynau, Regierungsbezirk Liegnitz. Zwei größere Brüder wohnten
nicht mehr bei uns, da sie bereits zum Wehrdienst eingezogen waren.
(…..)
Das Dorf war etwas größer als Vestrup und hatte ca. 1000 Einwohner. Bei gutem Wetter konnten
wir von uns aus die Schneekoppe, den höchsten Berg im Riesengebirge, sehen.
Das Land war wie hier, hauptsächlich durch Landwirtschaft geprägt, aber hügeliger und landschaftlich schön gelegen. Meine Eltern hatten einen Bauernhof und betrieben hauptsächlich Ackerbau.
Als Kinder haben wir die ganzen Kriegswirren nicht in dem Maße mitbekommen wie die Erwachsenen. Not haben wir nicht gelitten.
Jetzt traf es uns selbst. Die Front rollte in Richtung Westen. Mein Vater wurde zum Volkssturm
eingezogen und der Rest der Familie war auf der Flucht in westliche Gebiete. Es ging mit Kuh- und
Pferdegespannen in Richtung Tschechoslowakei. Wir lebten auf der Straße und fanden Einquartierung in der Nähe von Hirschberg. Nachdem die Rote Armee über uns hinweg gerollt war, konnten
wir zurück in unser Heimatdorf. Kurz vor Leisersdorf trafen wir unseren Vater wieder.
Das Haus war geplündert. Zunächst hatten die Russen die Oberhoheit, später übte eine polnische
Miliz die Polizeigewalt aus. Am Kriegsende wohnten wir dann in unserem früheren Haus, beengt in
der Räumlichkeit, als Untermieter bei der polnischen Familie.
Dazu möchte ich sagen, dass wir zu der polnischen Familie ein „annehmbares Verhältnis“ hatten.
Die Polen hatten sich die Situation auch nicht freiwillig ausgesucht und waren im Prinzip genau so
schlecht dran wie wir. Wir kamen leidlich zurecht.
Es war im Sommer 1946, als der Befehl der Besatzungsmacht kam, dass wir das Land zu verlassen
haben. Sparbücher und Geld wurden uns abgenommen.
Alles ging ganz schnell und wir durften nur mitnehmen, was wir tragen konnten. Deshalb zogen wir
alles so lange übereinander an, wie es möglich war. Der Rest kam meist in Säcke und Bündel. Mehr
konnte man nicht tragen.
Mit Lastwagen wurde die deutsche Bevölkerung des ganzen Dorfes zum Sammelplatz an der Bahnhofsstation in Haynau gebracht. Auf diesem Weg wurden alle noch einmal nach Wertsachen und
Schmuck durchsucht, die gefundenen Sachen nahm man uns ab. Die Familien blieben zusammen.
Unsere Familie bestand aus beiden Elternteilen und uns drei Kindern. Dort wurden wir in gedeckten
Viehwaggons verfrachtet. Es war ein langer Zug mit zwei Lokomotiven. Wohin es ging, war keinem bekannt, außer, dass es in Richtung Westen gehen sollte. In unserem Wagen waren 36 Personen und zwei Katzen. Ein Eimer diente als Latrine für alle. Immer wenn der Zug einmal anhielt,
wurde der Eimer geleert. Tagelang waren wir so unterwegs. Ab und zu gab es Verpflegung. Es gab
Brote und Wasser.
Ob uns die Russen oder Polen begleitet haben, weiß ich nicht mehr. Nach neun Tagen Fahrt kamen
wir in Uelzen an. Dort wurden viele Formalitäten erledigt, Papiere geprüft, festgelegt in welche
Richtung es weiter gehen sollte und wir bekamen Verpflegung, das erst warme Essen.
Mit einem anderen Zug, wieder in Viehwaggons, ging es dann wieder weiter. Das Ziel war uns
nicht bekannt. Unterwegs, wenn der Zug auf Bahnhöfen hielt, wurden immer wieder Wagen abgehängt. Die Leute wurden dort verteilt.
Für uns ging die Fahrt weiter und am 29. Juli 1946, (es war ein Montag), kamen wir gegen 09.30
Uhr auf dem Bahnhof in Vestrup an. Wir waren in dem letzten Wagen, der abgekoppelt wurde. Die
Sonne schien. Wir stiegen alle aus und warteten draußen im Freien auf das, was nun geschehen möge.
Nach und nach wurden im Laufe des Tages die einzelnen Familien von Einheimischen abgeholt und
im Dorf zur Einquartierung verteilt. Das alles zog sich hin. Ich denke heute, dass die Dorfbevölke-
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rung mit der Situation auch überfordert war, plötzlich so viele Leute aufnehmen zu müssen. Mir ist
nicht bekannt, ob sie darauf vorbereitet wurden oder ob es einen Plan gab. Ich nehme an, dass sporadisch entschieden wurde, wie das Problem gelöst werden konnte. Gegen 19.00 Uhr gab es von der
Wirtin der Bahnhofsgaststätte einige Butterbrote und später brachte sie uns noch eine Pfanne Bratkartoffeln für alle heraus. Als es schon dämmerte, kam der damalige Ortsvorsteher mit einem pferdebespannten Ackerwagen und holte unsere Familie ab.
Wir waren die Letzten. Da wir mit fünf Personen waren und viele Quartiere wahrscheinlich schon
belegt waren, wurden wir zunächst getrennt untergebracht. (…..)
Die Unterbringung meiner Eltern hatte wohl nicht geklappt und der Bezirksvorsteher hat sie dann
gegen Mitternacht wieder aufgelesen und dann noch bei sich untergebracht. In ein Zimmer wurde
Stroh gelegt und das war dann die Behelfsschlafstätte.
Die Einwohner hier sprachen eine Mundart, die wir nicht verstehen konnten. Wir waren komplett
fremd. Es war sehr schwierig für alle, obwohl die Leute freundlich waren.
In den nächsten Tagen, als sich alles einigermaßen beruhigt hatte und man mehr Übersicht bekam,
wurden die Leute anders aufgeteilt, um auch die Familien zusammenzuhalten. (…..)
Ich wechselte zu (…..) Koops. Dort blieben wir. Wir hatten ein gutes Verhältnis zu der Gastfamilie,
Ich habe mitgeholfen wo Arbeit war (Haus, Hof und Garten) und Koops haben mich sogar krankenund sozialversichert.
Noch vor der Währungsreform wurde der alte Fachwerkviehstall, der bei Koops im Hof stand, abgebaut und für uns da, wo er jetzt steht, wieder aufgebaut. Das wurde dann für unsere Familie die
neue Heimat. Mein Vater starb 1954 und meine Mutter 1976. Beide sind hier in Vestrup begraben.
Von den vielen Schlesiern, die hier zunächst untergekommen waren, zogen später einige weiter,
zum Beispiel nach Solingen und ins Rheinland.
(…..)
Was die Kirche angeht, so haben wir in der Anfangszeit unsere Gottesdienste im Saal der Gaststätte
Hönemann gefeiert, da fast alle Flüchtlinge evangelisch waren. Später durften wir mit dem Einverständnis von Pastor Damman mit unserem evangelischen Pastor Grebe auch die Vestruper Kirche
benutzen.
Für meine Eltern war die Vertreibung mit Sicherheit schmerzlicher und schwieriger als für mich.
Meine Eltern haben wahrscheinlich, zumindest vorübergehend, ihre Identität verloren und schwer
gelitten. Verlust der Heimat, Verlust von Hab und Gut, anderer Beruf und die anfängliche Hilflosigkeit in der fremden Welt. Ich war damals 16 Jahre alt und habe mich leichter eingelebt.
In Vechta und Lohne fand ich später Arbeit. Auch wegen der Arbeitsstelle ging ich 1952 für 10
Jahre nach Oldenburg. Danach war ich noch kurze Zeit im Bergischen Land, in Wipperfürth und im
Rheinland. Danach war ich wieder in Vestrup.
Aus meiner Befindlichkeit heraus fühle ich mich hier aufgenommen und auch angenommen. Plattdeutsch habe ich auch gelernt und ist mir nicht mehr fremd.
Meine beiden großen Brüder haben den Krieg überstanden und sind nach dem Krieg in der DDR
sesshaft geworden. Mein jüngerer Bruder Martin lebt in Bakum. Meine Schwester Gertrud lebt in
Oldenburg.
Möge das inzwischen vereinte Europa verhindern, dass nachfolgenden Generationen ein ähnliches
Flüchtlingsdrama widerfährt.
[Hildegard Ueberschär]
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1. 5. Von Breslau über Vestrup ins Schwabenland
(Aus: 800 Jahre Vestrup – Chronik 1208 – 2008, S. 833 ff.)
Mein Name ist Sigrid Krauter geb. Pusch. 1936 wurde ich in Breslau, der Hauptstadt NiederSchlesiens, (…..) geboren.
Als ich 3 Jahre alt war, brach der 2. Weltkrieg aus, trotzdem ist die Erinnerung an meine Kindheit
geprägt von wundervollen Erlebnissen im Kreise beider Großelternpaare und den Geschwistern
meiner Eltern mit Familien. Im September 1942 wurde ich eingeschult. Herrliche Fleckchen der
schlesischen Heimat lernte ich durch Ferienaufenthalte mit meinen Eltern kennen.
(…..)
Nach 1 ½ Jahren Schulzeit wurde im April 1944 meine Schule wegen immer öfter einsetzender
Fliegerangriffe in die Nähe von Militsch evakuiert. Der Hof, auf dem ich einquartiert war, wurde im
Herbst 1944 durch einen Brand im Bienenhaus zerstört. Daraufhin holten mich die Eltern nach
Breslau zurück. Schulunterricht fand nicht mehr statt. Mutter war meine Lehrerin. Anfang Dezember 1944 konnte man schon in der Ferne den Kanonendonner der heranrückenden Front hören. Die
traurige Stimmung der Erwachsenen zu Weihnachten machte auch mir Angst. Mutters Geburtstag
an Silvester 1944 war der letzte in ihrer Heimat.
Der Januar 1945 begann mit ganz viel Schnee und eisiger Kälte. Breslau wurde nun endgültig zur
Festung erklärt. Am 19.01.1945 wurde in Vaters Firma um Mitternacht ein kleinerer Lastwagen
(Marke Holzvergaser) mit Hänger für das Gepäck bereitgestellt, auf dem einige Frauen und Kinder
von Angestellten in das Ferienhaus der Firma im Glatzer Bergland transportiert werden sollten.
Über Freiburg i. Schl. und Schweidnitz kamen wir aber nur bis Reichenbach, dann ging wegen der
Schneemassen nichts mehr, auch musste der Fahrer mit dem Auto zurück nach Breslau. Die Frauen
organisierten nach 5 Tagen Aufenthalt im Wartesaal des Reichenbacher Bahnhofs einen Pferdeschlitten für das Gepäck. Der alte Bauer nahm nur meine Mutter und mich dazugepackt mit. Mutter
hatte ein kaputtes Bein und ich war die Kleinste. Alle anderen kamen 2 Tage später zu Fuß nach.
Am 8. Mai 1945 war Kriegsende, und schon am 9. Mai kamen die Russen (…..) durch unser Gebirgsdörfle gezogen, nahmen Schmuck - Uhren - Geld und Photoapparate gleich mit. Alle jungen
Frauen wurden vor ihnen versteckt. Im Juni 1945 gingen die Lebensmittel zu Ende. Daraufhin entschlossen sich die Frauen mit ihren Kindern zur Heimkehr nach Breslau, das waren 90 km zu Fuß.
Alte organisierte und gut bezahlte Kinderwagen fuhren jetzt das Gepäck, übernachtet wurde in den
3 - 4 Tagen Rückmarsch meistens in Ställen der verlassenen Bauernhöfe.
Die Straße führte durch ehemaliges Kriegsgebiet, rechts und links ab Graben war alles vermint,
riesengroße Kalkhaufen waren über toten Soldaten und auch Pferden aufgeschüttet. Es war Hochsommer, sehr heiß und es stank überall fürchterlich. Die letzte Nacht im Schweinestall eines Gutes
in Zweibrot, kurz vor Breslau, werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Plötzlich stand eine
Horde betrunkener Russen im Stall, alle Frauen mussten raus auf den Hof. Ich ging auch mit, weil
ich mich nie von meiner Mutter trennte. Die Frauen standen zitternd im Kreis, in der Mitte wurde
eine Frau nach der anderen auf dem blanken Steinboden vergewaltigt, das Alter spielte keine Rolle.
Einer der Soldaten hatte ein Gewehr im Anschlag. Ich war 9 Jahre alt und konnte erst mal gar nicht
einordnen, was da geschah. Vor Angst steckte ich den Kopf in Mutters Rock und hielt mir die Ohren zu. Als Mutter aufgefordert wurde, trat ich mutig vor und sagte in Deutsch mit ganz normaler
Stimme: Nicht die Mutter – nehmt mich! Plötzlich stand ein nüchterner russ. Offizier vor uns und
verbot energisch seinen Leuten weitere Grausamkeiten. Von diesem Moment an glaube ich ganz
fest an meinen persönlichen Schutzengel.
Die restlichen Frauen, Mutter und ich blieben deshalb von dieser Art Folter verschont. Am anderen
Tag traf unsere kleine Karawane körperlich und seelisch am Ende in Breslau ein. Was wir sahen,
war nur noch das Gerippe einer Stadt, das aus rauchenden Trümmern, Ruinen und Leichen bestand.
Alle weinten bitterlich. Unsere Wohnung im 1. Stock des Hauses Bismarkstrasse 8 war von Sprengu. Brandbomben zerstört. Unterschlupf fanden wir bei Mutters Eltern, deren Haus auch schwer beschädigt war, aber man konnte dort wohnen. Die Großeltern waren in der Festung geblieben und
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haben diese bis auf ein paar Kratzer überlebt. Ende Juli 1945 bekam ich Scharlach, Diphtherie und
anschließend Typhus. Durch Zufall traf Mutter meinen ehemaligen Kinderarzt; er war Wolgadeutscher und arbeitete unter Leitung einer polnischen Professorin im Kinderhospital. Ich hatte Glück
und wurde dort gerettet. Mutter verkaufte die letzten Wertgegenstände auf dem Schwarzmarkt für
Slotti um die für mich notwendigen Medikamente zu kaufen. Es gab kaum etwas zu essen. Morgens
um 4.00 Uhr mussten sich die Frauen nach Brot anstellen. Mutter musste ohne Lohn arbeiten; sie
saß auf dem Dach einer Schule und klopfte Ziegel ab. Russen und Polen beherrschten unser Leben,
das eigentlich keines mehr war.
Im Frühjahr 1946 zwangen uns die Polen zur Anerkennung ihrer Nationalität und vor allem der
polnischen Sprache, andernfalls sollten wir gehen. Da wir auch nichts von Vater wussten, der im
Februar 1945 an die Ostfront abkommandiert war, entschloss Mutter sich schweren Herzens wieder
einmal zum Verlassen der Heimat. Vom Freiburger Bahnhof aus fuhren wir in Güterwagen, die
verschlossen und je mit ca. 40 Personen belegt waren. Der lange Zug wurde von polnischer Miliz
mit Gewehren begleitet und fuhr quer durch Deutschland bis Friedland.
Dort wurde uns in alle vorhandenen Öffnungen unserer Kleidung Entlausungspulver gespritzt. Alle
Kinder sahen danach aus wie Greise. Wir bekamen aber zu Essen und einen Ausweis. Nach 2 Tagen Aufenthalt fuhren wir in einem richtigen Abteilwagen der Eisenbahn bis Vechta. Hier hieß es
umsteigen in den „Pingel-Anton“, der uns nach Vestrup brachte.
Dort trafen wir und viele andere Schlesier gegen Mittag ein. Das Bahnhofsgebäude sah wie ein
normales Wohnhaus aus. Es muss so um den 25. 03. 1946 gewesen sein. Alle Türen und Fenster
waren verschlossen, man traute uns wohl nicht, aber der Toilettenanbau war zum Glück geöffnet.
Herr Thoben, der Bahnhofschef, Frau Anna N. und Herr B. kümmerten sich um uns. In meiner Erinnerung wurden zuerst die Familien, die eventuell als Arbeitskräfte in Frage kamen, aussortiert und
auf Bauernhöfe in Pferdewagen abtransportiert. Zum Schluss blieben meine Mutter und ich übrig,
weil wir nicht so richtig zweckmäßig eingeordnet werden konnten. Anna N. nahm uns erst spät abends, es war schon dunkel, mit unserem bisschen Gepäck mit zum Meyer-Hof. Ich hatte die voll
gepackte Büchertasche auf dem Rücken und in der Hand einen kleinen Koffer. Mutters Koffer war
etwas größer und außerdem trug sie in einer Wolldecke zusammengerollt ein Federbett mit Kopfkissen. Das war unser ganzes Hab und Gut, als wir die Küche der Familie Meyer betraten. Es war
Abendbrotzeit. An einem langen Tisch saßen der Chef des Hauses Heinrich Meyer, seine Mutter,
die der Queen Viktoria von England verblüffend ähnlich sah und die für mich später Oma Meyer
wurde.
Dann waren da noch Tante Marie, (…..), Florian aus Ostpreußen und Familie Papke aus Pommern.
Trotz großem Hunger verweigerte ich die mir angebotene „Mäusgensuppe“ (Buttermilchsuppe), da
ich von gekochten Mäusen ausging. Die Sprache verstand ich nicht.
Vestrup wurde aber für mich trotz alledem zur zweiten Heimat. Hier fühlte ich mich geborgen und
nicht mehr von irgendwelchen Menschen bedroht. Ich ging im Dorf zur Schule, zuerst zu Fräulein
Kallage, dann zu ihrem Vater Herrn Kallage. Hier auf dem Meyerhof feierte ich meinen 10. Geburtstag. Jeden Sonntagmorgen ging ich zusammen mit den Mädchen von Vestrup und Hausstette
zum Hochamt in die katholische Kirche, obwohl ich evangelisch war, nachmittags dann in den Saal
von Hönemann zum evangelischen Gottesdienst. Erst später durften dann die evangelischen Christen auch in der Kirche Gottesdienst feiern.
Von Onkel Heini Meyer lernte ich sehr viel über den Jahresablauf der Landwirtschaft. Er war der
beste Lehrer, stets ruhig und geduldig. Ackerbau und Viehzucht sowie der Umgang mit Tieren aller
Art waren mir bald geläufig. Auch bekam ich manche Aufgaben zugeordnet, zum Beispiel Gartenwege „schuffeln“ und dann schön ordentlich harken. Wenn Erntezeit für Heu, Getreide, Kohl, Rüben oder Kartoffeln war, brachte ich mit dem Fahrrad, verpackt in einem Korb, Brote und Kaffee zu
den Helfern aufs Feld. Besonders mochte ich die Kartoffelernte, da gab es für einen Tag „Kartoffeln
suchen“ 5 Mark. So sparte ich auch für mein erstes eigenes Fahrrad, das mir Herr Kellermann aus
drei verschiedenen alten Rädern zusammenschraubte und auf das ich sehr stolz war. Inzwischen
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ging ich nach Vechta zur Schule, die von den katholischen Nonnen „Unserer lieben Frau“ geleitet
wurde. Lyceum für Mädchen nannte sich das Ganze.
(…..)
Mein Vater war inzwischen aus Russland auch nach Vestrup gekommen. Er arbeitete auf dem Meyerhof als Knecht. Sonntags bewachte er auf dem Schulhof mitten im Dorf die Fahrräder der Kirchgänger für ein paar Groschen. Er fuhr auch Zeitungen aus, war Kreisflüchtlingsrat, organisierte
schlesische Heimatabende und wunderschöne Weihnachtsfeiern, tatkräftig unterstützt von Flüchtlingsfrauen.
Im Juli 1948 heiratete Onkel Heini eine hübsche junge Frau mit Namen Maria Hoyer. Es war für
mich eine wundervolle große Hochzeit, in deren Vorfeld lernte ich Buttercremetorten backen und
verzieren. Gefeiert wurde auf der Diele, es waren furchtbar viele Leute da. Den Brauttanz mit Mia
startete mein Vater, da Onkel Heini durch ein krankes Bein gehandikapt war. Vater war schon immer ein guter Tänzer und ich war beeindruckt, weil er in der Hand am Rücken der Braut sein
schneeweißes Taschentuch hielt, damit ja nichts dem schönen Kleid passiert. Das Hochzeitfoto mit
der ganzen Gästeschar in Meyers Garten halte ich noch heute in Ehren. (…..)
Im Frühjahr 1950 zogen wir nach Hochelsten. Dort hatte Onkel Heini ein kleines Haus für Familie
Papke und uns gebaut. Im August 1950 wurde Vater schwer krank. Er lag ein gutes halbes Jahr im
Vechtaer Krankenhaus und kämpfte, aber sein von der russischen Gefangenschaft ausgemergelter
Körper wollte nicht mehr gesunden. Im Februar 1951 durfte er heimgehen. Auf dem Friedhof in
Vestrup fand er seine letzte Ruhestätte.
Aus Geldmangel musste ich leider die Schule in Vechta verlassen. Mein Patenonkel besorgte mir
eine Lehrstelle als Industrie-Kauffrau in einem mittelständigen Familienbetrieb in Schorndorf (östlich von Stuttgart) in Baden-Württemberg. 1960 heiratete ich an meinem 24. Geburtstag einen echten Schwaben und bekam 3 Kinder – 2 Buben und 1 Mädchen. (…..)
Jetzt genießen wir den Ruhestand mit der Arbeit in Haus und Garten.
Die Erinnerung an die prägenden Kinderjahre in Vestrup hat mich nie losgelassen. Vestrup hat einen festen Platz in meinem Herzen. Auch meine Kinder lernten während verschiedener Ferienaufenthalte auf dem Hof von Meyers Vestrup kennen. Selbst die 2. und 3. Meyer-Generation schaut zu
unserer großen Freude ab und zu bei Sigrid und Ernst Krauter in Schorndorf vorbei, übrigens die
Geburtsstadt von Gottlieb Daimler und meine 3. Heimat.
(…..)
14
2. Karten:
2. 1. Deutschlandkarte Übersicht (1926/29)
(Entnommen aus: Heimatatlas für die Provinz Ostpreußen, S. 9, Melchior Verlag, Wolfenbüttel)
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2. 2. Ostpreußen mit Danzig (1926/29)
(Entnommen aus: Heimatatlas für die Provinz Ostpreußen, S. 10, Melchior Verlag, Wolfenbüttel)
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2. 3. Schlesien, Ausschnitt (1913)
(entnommen aus: Heimatatlas für die Provinz Schlesien, S. 10/11, Melchior Verlag, Wolfenbüttel)
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3. Mögliche Aufgabenstellung zu den Berichten der Vertriebenen
Vorbemerkung:
Der allgemeine Kontext von Flucht und Vertreibung 1945/46 (Rassen- und Expansionspolitik Hitlers, der Verlauf des Zweiten Weltkriegs und die Konferenzen der Alliierten) sollten den Schüler/innen in Grundzügen bekannt sein.
Aufgaben:
(gleich lautend für alle 5 Berichte, die arbeitsteilig in 5 Gruppen bearbeitet werden können.)
1. Gliedere den Bericht in mehrere große Abschnitte.
2. Was erfährst Du über die Familie, den ursprünglichen Wohnort und die dortigen Verhältnisse?
3. Rekonstruiere mit Hilfe der Karten den Weg, den die Flüchtlinge nehmen!
4. Welche Umstände oder Erlebnisse auf der Flucht erscheinen Dir besonders eindrucksvoll?
5. Wie kamen die Flüchtlinge im Oldenburger Münsterland unter und wie war ihr weiterer Lebensweg?
6. Wie beurteilen die Verfasser die Aufnahme durch die einheimische Bevölkerung im Oldenburger Münsterland?
Was war hinderlich und was war förderlich für eine „Integration“?
7. Diskutiert in der Gruppe, inwieweit die Berichte das Geschehene wahrheitsgetreu abbilden!
8. Erkundige Dich, ob Familien in Deiner Verwandtschaft / Nachbarschaft von Flucht und Vertreibung betroffen waren und evtl. berichten können!
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4. 1. „Gemeindedirektor a. D. Franz Wiese berichtet aus Garrel“ (1996)
(Aus: Use Dörpblatt. Mitteilungen des Heimatvereins Garrel e.V., Dezember 1996, S. 10 ff.)
(…..)
Wie war die Aufnahme der Vertriebenen in der zugewiesenen neuen Heimat – bei uns in der Gemeinde Garrel? In der Gemeindechronik Garrel lesen wir hierzu folgendes: Es war schwer, in einer
abgebrannten Gemeinde Wohnraum zu schaffen, zumal schon 456 Evakuierte, Menschen, die in
den großen Städten Westdeutschlands durch Bombenangriffe ihre Wohnung verloren hatten, in der
Gemeinde Unterkunft fanden. Hinzu kamen im Laufe des Sommers die sogenannten B-Soldaten,
die infolge der Besetzung ihrer Heimat durch die Russen und Polen nicht nach Hause zurückkehren
konnten. Im September 1945 zählte man in Garrel 188 B-Soldaten, tüchtige Menschen, die für die
Landwirte eine große Hilfe bedeuteten. Im September 1945 wurde nun der Gemeinde mitgeteilt,
daß sie mit der Aufnahme von etwa 1500 Flüchtlingen (Vertriebene) zu rechnen habe. Der Kreis
sollte etwa 20000 aufnehmen. Am 03.Oktober 1945 wurden die ersten Flüchtlingszüge aus Oldenburg angemeldet. In Garrel kam der erste Treck im November 1945 an. Am 04. Dezember 1945
kam ein weiterer Transport von 285 Personen. Dabei waren viele, die vorher wegen Bombenangriffen aus dem Rheinland und Westfalen nach Schlesien evakuiert waren. Diese zogen zum Teil schon
nach einigen Wochen in die alte Heimat weiter. Es blieben von dem Transport 137 Personen in der
Gemeinde.
Heute ist es kaum vorstellbar, wie es möglich war, die zugewiesenen Personen in der Gemeinde
Garrel unterzubringen, obwohl im April 1945 infolge von Kriegseinwirkungen 98 Wohnhäuser total
zerstört und 44 schwer beschädigt worden waren. Der ohnehin schon sehr knappe Wohnraum sollte
aber noch knapper werden. Ein großer Transport mit 376 Vertriebenen aus dem Kreise Ohlau / Niederschlesien traf am 20. Juni 1946 auf dem Bahnhof in Garrel ein. Es war der Fronleichnahmstag.
Die Gemeinde hatte allen Bezirksvorstehern aufgetragen, mit Pferdefuhrwerken zum Bahnhof zu
kommen, um die Vertriebenen des Transportes abzuholen. Der Transport traf mit zweistündiger
Verspätung kurz vor Mittag auf dem Bahnhof ein. Die bereitstehenden Fuhrwerke brachten die Ankömmlinge mit ihren geretteten Habseligkeiten zum Schulplatz im Ort. Dort sollte die Verteilung
auf die einzelnen Bezirke (Bauerschaften) erfolgen.
Aus Anlaß des Fronleichnahmsfestes waren an diesem Tag für die Fronleichnahmsprozession die
Straßen festlich mit Fahnen, Blumen und Sträuchern geschmückt. Bei den Vertriebenen kam der
Gedanke auf, ihnen sei ein festlicher Empfang bereitet worden. Doch dieser Gedanke schwand, als
man die Fronleichnahmsprozession durch den Ort ziehen sah. Kaum waren die Fuhrwerke entladen,
da setzte ein starkes Gewitter ein. Der Gewitterregen, der nicht aufhören wollte, hielt bis zum späten Nachmittag an. Die Vertriebenen, Alte, Männer und Frauen, Mütter mit ihren Kindern, Jungen
und Mädchen, saßen auf den mitgebrachten (geretteten) Sachen und ließen sich durchregnen. Eine
Unterstellmöglichkeit war nicht vorhanden. Der ganze Schulplatz war übersät mit kleinen Gruppen,
sprich Familien. Trotz des Regens erfolgte die Aufteilung der Angekommenen auf die einzelnen
politischen Bezirke, insgesamt 10 an der Zahl. Nun begann die Verteilung durch die Bezirksvorsteher auf die Haushalte (Familien) ihres Bezirkes. Bei Eintritt der Dunkelheit sollte die Aktion abgeschlossen sein. Schließlich mußten auch die durchnäßten Bekleidungsstücke gegen trockene Stücke
gewechselt werden. Dies blieb jedoch bei den allermeisten eine Illusion.
Was sich bei der Unterbringung in den einzelnen Häusern verschiedentlich an unliebsamen Vorkommnissen abgespielt hat, wird in einer Aufzeichnung aus damaliger Zeit wie folgt beschrieben:
Bei der Verteilung dieser Armen geschehen in einigen Familien lieblose und unchristliche Auftritte.
Diese Aufzeichnung mag heute als hart und unverständlich erscheinen. In der damaligen Zeit gab es
in den Häusern aber keine Unterbringungsmöglichkeiten mehr, so daß die Verweigerung weiterer
Aufnahmen erklärlich war. Die Vertriebenen, die ohne ein Dach über dem Kopf dastanden, haben
unter der Verweigerung sehr gelitten. Nach manchem Hin und Her erfolgte dann zumeist eine Unterbringung. Oft wurden Wohnstuben belegt. Auch erfolgte die Unterbringung in Nebengebäuden
(Ställen, Scheunen und Wagenremisen). Zwangsläufig mußten auch Familien getrennt werden.
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Kinder konnten nicht bei den Eltern (Mutter) bleiben. Sogar Eheleute wurden getrennt untergebracht. Jugendliche, und das war keine Seltenheit, mußten mit einheimischen Jungen und Mädchen
ein Bett teilen. Für die Bezirksvorsteher wie auch für die Gemeindeverwaltung war es in dieser Zeit
nicht einfach, Ruhe und Ordnung zu halten. Im Gemeindebüro kam es nicht selten zu heftigen Auseinandersetzungen. Sogar von einem tätlichen Angriff auf den Bürgermeister wird berichtet. Derjenige, der sich in dieser Zeit den Anordnungen verweigerte, hatte bei der damaligen Militärregierung
mit unliebsamen Konsequenzen zu rechnen.
Etwa die gleichen Vorkommnisse wie bei dem Transport aus dem Kreise Ohlau / Niederschlesien
wiederholten sich bei der Unterbringung eines weiteren Vertriebenentransportes aus dem Kreise
Neustadt / Oberschlesien, der mit 404 Personen, zumeist aus Riegersdorf, am 02. Juli 1946 in Garrel ankam. Aus Breslau kamen weitere 32 Vertriebene am 10. Dezember 1946 und zwei Tage später
nochmals 44 Vertriebene in Garrel an.
In den Aufzeichnungen dieser Zeit lesen wir dazu: Die Familien unserer Gemeinde helfen oftmals
den armen Vertriebenen und geben ihnen neben der Wohnung auch noch Bekleidung, Beköstigung
und Heizung. In allen Familien kann es leider nicht so sein, weil die Flüchtlinge anmaßend sind und
sich nicht in das Familienleben einfügen wollen. Dann entstehen Spannungen auf beiden Seiten.
Nicht alle Vertriebene, die der Gemeinde Garrel zugewiesen waren, blieben hier. In den Jahren der
Zuweisung war es ein Kommen und Gehen. Durch die Einführung einer behördlichen „Zuzugsgenehmigung“ wurden Fort- und Zuzüge eingeschränkt. Mit der zumeist nur vorläufigen Unterbringung der Vertriebenen war die Not der Menschen aber noch nicht behoben. Wenn auch, wie vorstehend beschrieben, einheimische Familien oftmals neben der Wohnung mit weiteren Dingen geholfen haben, so fehlte es durchweg an allem, was zum Leben notwendig war. Neben der politischen
Gemeinde und der Kath. Pfarrgemeinde half auch die Caritas, die größte Not zu lindern. Es wurden
Sammlungen durchgeführt und Kollekten abgehalten. Die Spendenbereitschaft der Einheimischen
wird als zufriedenstellend bezeichnet. 70 Mark im Monat, so die Caritas, müssten es für den Lebensunterhalt des Einzelnen schon sein. Aber für die Reichsmark war nichts zu bekommen. Speck
und andere Lebensmittel waren bis zum 20. Juni 1948 die Währung. Hierüber verfügten die Vertriebenen aber nicht.
Neben den Nöten in der eigenen Gemeinde galt es weiter den Vertriebenen im Norden Oldenburgs,
in der Diaspora, zu helfen, Hierfür wird am 05. Oktober 1946 eine Geld- und Sachsammlung durchgeführt. Hierzu hatte der Bischöfliche Offizial in Vechta aufgerufen. Die Sammlung in unserer Gemeinde geht nach Oldenburg. Es sind drei große Lastwagen voll.
Eine Statistik von September 1949 der Gemeinde Garrel verrät uns über die Herkunftsländer der
Flüchtlinge (Vertriebene) und Zugewanderten folgendes:
Zugewanderte aus der britischen Zone
115
Zugewanderte aus der russischen Zone
48
Zugewanderte aus der französischen Zone
2
Flüchtlinge aus Pommern
55
Flüchtlinge aus Pommern, östlich der Oder
86
Flüchtlinge aus Westpreußen
111
Flüchtlinge aus Brandenburg, östlich der Oder
13
Flüchtlinge aus Schlesien, östlich der Neiße
519
Flüchtlinge aus Oberschlesien
417
Flüchtlinge aus Ostpreußen
127
Flüchtlinge aus der Slowakei
25
Flüchtlinge aus Bosnien
1
Flüchtlinge aus anderen Gebieten
7
1526
20
Nach und nach kehrten entlassene Kriegsgefangene auch zu den Familien der Vertriebenen zurück.
Mitgekommene Kinder wurden größer und Kinder neu geboren. Die ohnehin schon beengten
Wohnverhältnisse wurden so immer enger. Auf verschiedenen Höfen, auf denen Vertriebene untergebracht waren, wurde nach Möglichkeiten gesucht, den Familien zu einer besseren Wohnung zu
verhelfen. So war es möglich, bestehende Spannungen zwischen Wohnungseigentümern und Vertriebenen, aber auch innerhalb der Vertriebenenfamilien abzubauen.
Verschiedene Landwirte wie auch Gewerbetreibende hatten überhaupt keine Vertriebenen aufnehmen können. Ziel des Gemeinderates und des Hauptausschusses der Gemeinde Garrel war es aber,
zu einer Lösung zu kommen, die eine gerechte Lastenverteilung in der Flüchtlingsunterbringung auf
alle Besitztümer im Gemeindebereich ermöglichte. Da mit der Reichsmark nicht viel anzufangen
war, war ein rein finanzieller Lastenausgleich nicht möglich.
Mit der Währungsreform am 20. Juni 1948 trat eine Wende ein. Die Reichsmark wurde durch die
Deutsche Mark abgelöst. Nach kurzer Zeit konnte man wieder Baumaterial kaufen, damit bauen
und so weiteren Wohnraum schaffen. Nach Beratung verschiedener Möglichkeiten billigte der Gemeinderat am 02. Juni 1949 bezüglich einer gerechten Verteilung der Lasten in der Flüchtlingsunterbringung den folgenden Vorschlag des Hauptausschusses: Als Grundlage einer Umlage dient bei
den Gewerbetreibenden der Einheitswert und bei den Landwirten der Hektarsatz. Gewerbetreibende
haben je nach Leistungsfähigkeit für 2.500,- bis 3.500,- Mark und Landwirte für 7 Hektar Grund
und Boden Wohnraum für einen Flüchtling zu schaffen. Es wurden hiernach zum Beispiel für
10.000,- Mark Einheitswert 3 bzw. 4 Personen und für eine Betriebsgröße von 21 Hektar 3 Personen in Ansatz gebracht. Für die Ablösung konnten sich Betriebe zusammentun und entsprechend
ihres Solls Wohnraum erstellen. In Bezirksversammlungen wurden die entsprechenden Verhandlungen mit den betr. Betriebsinhabern geführt, die erstaunlicher Weise durchweg erfolgreich verliefen. Über diese Umlage sind dann zahlreiche Flüchtlingswohnheime gebaut worden. Die Wohnheime hatten einen Eingang mit Abstellraum und zwei bis drei Wohnräume. Eine WC-Anlage befand sich draußen in einem kleinen Häuschen. Ein 200 qm großer Garten gehörte dazu.
Die Familien, die ein solches Wohnheim zugewiesen bekamen, waren froh, ein eigenes Zuhause zu
haben und einen eigenen Haushalt führen zu können.
Verschiedene Familien, die infolge von Kriegseinwirkung ihr Wohnhaus bzw. Wohn- und Wirtschaftsgebäude verloren hatten, haben nach Kriegsende vom ehemaligen Flugplatz Varrelbusch
eine Baracke bekommen und auf der Hofstelle wieder aufgebaut. Nachdem das zerstörte Anwesen
wieder errichtet worden war, wurden die Baracken wieder frei und in den allermeisten Fällen für die
Unterbringung von Flüchtlingen zur Verfügung gestellt. Dieser Wohnraum hat zusätzlich geholfen,
die Wohnungsnot in der Gemeinde Garrel zu lindern. Mit der Zeit wurde das Verhältnis zwischen
den Einheimischen und den Ostvertriebenen immer besser. Man hatte sich näher kennen gelernt und
half sich gegenseitig. Einvernehmlich wurden Dinge mit dem Ziel angegangen, die Lebensverhältnisse zu verbessern.
Nach und nach fanden die Flüchtlinge Arbeit und Brot. Sie wurden bodenständig und schafften sich
mit Hilfe von öffentlichen Mitteln selbst Wohnraum. In den Baugebieten „Hinterm Forde“ und
„Roslaes Höhe“ haben viele Familien aus dem Kreise der Ostvertriebenen ein Baugrundstück erworben und hierauf ein Wohnhaus mit Nebengebäude errichtet.
Nach der Ausweisung sind fast alle Vertriebenen aus den Ostgebieten schon einmal in ihrer ehemaligen Heimat gewesen. Sie haben dort die heutigen Lebensverhältnisse kennengelernt und sich hierüber ihre eigenen Gedanken gemacht. Obwohl der Heimatgedanke nicht schwindet, möchten doch
die allermeisten der dort früher ansässigen Menschen nicht mehr in ihre alte Heimat zurückkehren.
Bis hierher mein Erlebnisbericht über die Vertreibung vor 50 Jahren.
Dieser Bericht sollte nicht beendet werden, bevor der damalige Flüchtlingsamtsleiter Richard
Herrmann, Garrel, inzwischen 82 Jahre alt, zu Wort gekommen ist. Selbst mit dem „Ohlauer Transport“ nach Garrel gekommen, hat er die Vertreibung und den Neuanfang in der Gemeinde Garrel
hautnah miterlebt und den Ostvertriebenen in 35 Jahren mit Rat und Tat zur Seite gestanden.
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Er führt aus: Dem Bericht des Verfassers, der damals als Bediensteter der Gemeinde die Unterbringung der Vertriebenen miterlebt und mitgeholfen hat, die Not der Betroffenen zu lindern, kann ich
vollauf zustimmen.
Es ist richtig, daß die Unterbringung der Vertriebenen in der durch Kriegseinwirkung sehr schwer
getroffenen Gemeinde Garrel nicht einfach gewesen ist. Hierbei ist es auch zu unliebsamen Ereignissen gekommen. Durchweg haben die Garreler Bürger die Not der Vertriebenen aber verstanden
und waren bereit, zu helfen. Im gemeinsamen Handeln und mit Hilfe der Gemeinde (Gemeinderat
und Verwaltung) ist es in einigen Jahren gelungen, für alle ein zufriedenes Miteinander zu schaffen.
Die Lösung der Wohnverhältnisse war letztlich durch den Bau von 34 Flüchtlingswohnheimen und
die im Laufe der Jahre frei werdenden Wohnbaracken möglich. Das gegenseitige Verstehen wuchs
behutsam. Die anfänglich unliebsamen Begegnungen sind vergessen. im Großen und Ganzen muß
ich sagen, dass meine Vermittlungsverhandlungen von den Beteiligten in all den Jahren durchweg
verstanden und angenommen worden sind. Das Miteinander in der Gemeinde war zufriedenstellend. Als Mitglied carativer und öffentlicher Vereine konnte ich auch deren Hilfe in Anspruch nehmen.
Ich bin stolz darauf, so Richard Herrmann weiter, daß die Gemeinde Garrel, das Deutsche Rote
Kreuz (DRK), der Verband der Kriegs- und Wehrdienstopfer, Behinderten und Sozialrentner (VdK),
der Verband der Heimatvertriebenen und weitere Organisationen meine Bemühungen in etlichen
Bereichen mit verschiedenen Auszeichnungen gewürdigt haben. Dem Rat der Gemeinde Garrel
gehörte ich 25 Jahre an. Die Zusammenarbeit mit den Ratsherren und Ratsfrauen war stets einvernehmlich. Vom Rat bin ich mit dem Wappenteller der Gemeinde Garrel ausgezeichnet worden.
50 Jahre lebe ich nun schon in der Gemeinde Garrel. Diese Gemeinde habe ich lieb gewonnen, hier
viele Freunde gefunden; sie ist meine zweite Heimat geworden. Dasselbe sagen mit mir die hier
noch lebenden Heimatvertriebenen: Wir alle sind dafür dankbar, in der Gemeinde Garrel eine neue
Heimat gefunden zu haben.
So weit Richard Herrmann.
Zum Abschluß der vorstehenden Ausführungen bleibt die Feststellung, daß die Vertreibung von
Menschen auch in unseren Tagen noch nicht aufgehört hat. Haben die Verantwortlichen für die
Unmenschlichkeit eines solchen Handelns kein Einsehen, frage ich mich immer wieder. Leider,
leider nicht. Wir wollen hoffen und darum beten, daß der Friede einmal eine Heimstatt unter allen
Völkern unserer Erde findet und allen Menschen ihre Heimat erhalten bleibt.
(…..)
22
4. 2. Bericht zur Aufnahme der Flüchtlinge und Vertriebenen in Goldenstedt
(2003)
(Aus: Stumme Schreie. Flucht und Vertreibung 1944/45, Hrsg. vom BdV, Kreisverband Vechta, o. J. (2003), S. 20)
(…..)
In der Gemeinde Goldenstedt wurden 320 Ostpreußen, 110 Pommern und 43 Brandenburger untergebracht. (Stand 01.06.1946). Insgesamt also fast 500 Flüchtlinge. Im Laufe des Jahres 1946 kamen
doppelt so viele Vertriebene dazu, sämtlich Schlesier. Sie alle mussten nach einem turbulenten Jahr
unter Russen und Polen ihre Heimat doch noch verlassen.
(…..)
Im Laufe des Jahres 1946 trafen in Goldenstedt vier Transporte vertriebener Schlesier ein:
05. 03. 46
10. 05. 46
28. 07. 46
Dez. aus
Breslau
Breslau
Haynau, Goldberg, Grüditzberg
Breslau
etwa
"
"
"
310 Personen
270 "
440 "
100 "
Die Vertriebenen wurden zunächst in den Sälen Oesting, Scheele und Straßburg untergebracht und
von dort aus auf die privaten Quartiere verteilt. Es gab kaum ein Haus in der Gemeinde, in dem
nicht auch der letzte Raum belegt war. Die außerordentlich beengten Wohnverhältnisse, der Mangel
an Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten in den ersten Nachkriegsjahren, die Unterschiede zwischen
der schlesischen Mundart und dem Münsterländer Platt und vieles andere mehr, führten zu manchen
Unzuträglichkeiten.
Das konnte bei einem derartigen Eingriff in die Lebensbedingungen aller, der Flüchtlinge wie der
Einheimischen, gar nicht anders sein. Die Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen stieg vom Jahreswechsel 46/47 (1568 Personen) noch stetig an, nicht durch neue Transporte, sondern durch einzeln
eintreffende entlassene Kriegsgefangene und Verschollene, die zu ihren Angehörigen fanden. Der
Höchststand wurde um den Jahreswechsel 49/50 erreicht, als 1726 Personen gezählt wurden. Es
handelte sich um:
1132
388
118
88
Schlesier
Ostpreußen
Ostpommern
Ostbrandenburger und andere.
Dann setzte eine lang andauernde Abwanderung ein, weil sich anderswo (im Westen und Südwesten der Bundesrepublik) bessere Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten fanden. Am 01. 01. 1956
waren noch 1058 Flüchtlinge und Vertriebene in der Gemeinde Goldenstedt, und am 10. 07. 1964
waren nur noch 821 Vertriebene und 27 Sowjetzonenflüchtlinge registriert. Die Abwanderung hörte
allmählich auf, weil sich auch hier die Verhältnisse normalisierten. Die Währungsreform kam und
die Wirtschaft blühte auf.
(…..)
23
5. 1. Bevölkerungsentwicklung im Oldenburger Münsterland 1939 – 1955
(Quelle: Nieders. Amt f. Landesplanung und Statistik, bearbeitet;
entnommen aus: A. Eckhardt (Hrsg.), Oldenburg um 1950, Beitrag von Christoph Reinders-Düselder, S. 50)
Stadt- / Landkreis
…..
LK Vechta
LK Cloppenburg
…..
Land Oldenburg
insg.
Bevölkerung
1939
abs.
.….
52.176
68.598
.….
577.648
Index
.….
100
100
.….
100
1946
abs.
.….
75.623
90.881
.….
747.431
Index
.….
145
132
.….
129
1950
abs.
.….
79.125
94.794
.….
810.905
Index
.….
152
138
.….
140
1955
abs.
.…..
75.607
91.408
.…..
774.455
Index
…..
145
133
…..
134
Aufgabe: Verdeutliche die Bevölkerungsentwicklung in den beiden Landkreisen und stelle einen
Bezug zur Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen her!
24
5.2. Bevölkerung, Konfessionsverteilung und Anteil der Vertriebenen 1950
(Quelle: Nieders. Amt f. Landesplanung und Statistik, bearbeitet;
entnommen aus: A. Eckhardt (Hrsg.), Oldenburg um 1950, Beitrag von Christoph Reinders-Düselder, S. 52/53)
Gemeinde
Einwohner
Konfession
ev.
Land
Oldenburg insg.
kath.
von der Bev. waren
Zugewandert aus
Vertriebene
SB u. Berlin
810.905
554.149
220.085
195.647
28.530
Landkrs.
Cloppenburg
94.794
22.438
71.962
19.763
1.361
Cloppenburg
Friesoythe
Altenoythe
Barßel
Bösel
Cappeln
Emstek
Essen
Garrel
Lastrup
Lindern
Löningen
Markhausen
Molbergen
Neuscharrel
Ramsloh
Scharrel
Strücklingen
13.822
4.762
3.621
6.173
3.441
4.257
7.057
8.175
6.615
5.385
4.122
10.291
1.683
4.446
705
2.609
3.273
4.357
3.113
900
1.862
1.640
752
1.047
1.533
2.006
831
1.099
649
2.437
131
740
66
646
912
2.074
10.616
3.831
1.741
4.503
2.677
3.206
5.493
6.141
5.782
4.277
3.463
7.825
1.541
3.693
633
1.958
2.342
2.240
2.957
570
520
864
692
1.262
1.825
2.214
1.423
1.423
798
2.567
257
915
104
420
569
559
373
85
68
53
32
109
70
105
66
66
43
118
13
36
3
19
60
38
Landkr. Vechta
79.125
16.927
61.934
19.453
1.523
Vechta
Lohne
Holdorf
Langförden
Lutten
Bakum
Damme
Dinklage
Goldenstedt
Neuenkirchen
Steinfeld
Visbek
13.097
11.993
3.775
3.012
1.851
5.615
9.921
7.655
5.580
3.439
5.890
7.297
3.401
1.787
1.130
648
355
1.198
1.708
1.407
2.053
1.012
865
1.363
9.616
10.177
2.631
2.358
1.495
4.412
8.160
6.242
3.501
2.411
5.003
5.928
3.066
2.403
1.090
805
464
1.350
2.613
1.796
1.547
934
1.484
1.901
495
188
90
62
22
60
172
108
85
66
67
108
Aufgaben: 1. Errechne für Deine Gemeinde/Stadt den Anteil der Vertriebenen und Zugewanderten
an der Bevölkerung im Jahre 1950!
2. Vergleiche – vor dem Hintergrund, dass vor 1945 in den meisten Gemeinden Südol
denburgs nur wenige evangelische Christen lebten – die Zahl der Vertriebenen mit der
Zahl der evangelischen Christen.
3. Diskutiere die Bedeutung der Konfession für die Integration der Neuankömmlinge!
25
5. 3. Anteile der Nichteinheimischen in den Städten und Gemeinden des Landkreises Cloppenburg am 1. 10. 1949
(aus Karl Sieverding in: „Fern vom Paradies – aber voller Hoffnung, Oldenburg 2009, S. 61)
Stadt/Gemeinde
Altenoythe
Barßel
Bösel
Cappeln
Cloppenburg
Emstek
Essen
Friesoythe
Garrel
Lastrup
Lindern
Löningen
Markhausen
Molbergen
Neuscharrel
Ramsloh
Scharrel
Strücklingen
Landkr. Cloppenburg
Anteil der Flüchtlinge und
Vertriebenen
11,6 %
18,8 %
21,2 %
31,4 %
20,3 %
31,1 %
26,7 %
11,7 %
20,1 %
30,2 %
21,8 %
27,3 %
16,8 %
22,7 %
19,7 %
17,0 %
19,9 %
16,3 %
Anteil der Umquartierten
und Zugewanderten
5,9 %
4,1 %
2,9 %
3,9 %
9,9 %
1,0 %
3,7 %
1,5 %
2,4 %
1,6 %
1,1 %
6,3 %
2,1 %
3,0 %
6,1 %
1,6 %
4,0 %
3,3 %
22,5 %
4,2 %
Aufgaben: 1. Setze die Zahlenreihe in Kreis- oder Säulendiagramme um!
2. Im Nordkreis Cloppenburg wurden in den letzten Kriegstagen viele Häuser zerstört.
Erkennst Du dies an den Zahlen?
26
5. 4. Hauptherkunftsgebiete der Heimatvertriebenen im Landkreis Cloppenburg
(aus Karl Sieverding in: „Fern vom Paradies – aber voller Hoffnung, Oldenburg 2009, S. 61)
Herkunft
Cappeln
CLOPPENBURG
FRIESOYTHE
LÖNINGEN
Molbergen
Saterland
Lkrs.
CLP
Barßel
Bösel
01.10.1949
1
2
12
13
14
Insgesamt
1.174
709
1.352
2.825
2.197
2.206
1.427
1.350
1.640
945
2.915
1.015
1.807
21.562
Posen-WPr.
0,9%
5,1%
27,3%
10,3%
7,7%
4,4%
4,4%
8,2%
4,6%
10,0%
10,8%
12,5%
3,2%
8,4%
Pommern
4,9%
22,8%
11,0%
14,9%
39,1%
19,5%
12,4%
10,4%
10,7%
8,5%
22,0%
10,4%
9,5%
16,5%
Schlesien
81,5%
58,1%
30,0%
55,9%
37,1%
38,3%
61,5%
68,9%
35,7%
26,5%
39,9%
50,4%
72,9%
49,4%
Ostpreußen
7,5%
12,6%
21,7%
12,8%
15,5%
35,2%
17,9%
9,1%
45,9%
51,8%
25,6%
19,1%
8,3%
21,6%
Sonstige
5,2%
1,4%
10,0%
6,1%
0,6%
2,6%
3,8%
3,4%
3,1%
3,2%
1,7%
7,6%
6,1%
4,1%
3
4
Emstek
5
Essen
6
7
Garrel
8
Lastrup
Lindern
9
10
11
Aufgaben: 1. Setze die Zahlenreiche für Deine Stadt/Gemeinde in ein Kreisdiagramm um!
2. Suche die Herkunftsgebiete auf den Karten 2.1. – 2.3.!
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5. 5. Mögliche Aufgabenstellung zu den Zahlenreihen und Hinweise
zur Interpretation:
Zu 5. 1. Bevölkerungsentwicklung 1939 – 1955
Aufgabe: Verdeutliche die Entwicklung und stelle einen Bezug zur Eingliederung der Flüchtlinge
und Vertriebenen her!
Hinweis: Abzulesen ist ein starker Anstieg von 1939 auf 1946, der natürlich im Wesentlichen auf
den Zuzug der Flüchtlinge und Vertriebenen zurückzuführen ist. Das leichte Absinken
bis 1955 erklärt sich aus der Abwanderung (vornehmlich von Vertriebenen, aber auch
von Einheimischen) aus dem strukturschwachen Südoldenburg in wirtschaftlich stärkere
Regionen wie das Ruhrgebiet im beginnenden „Wirtschaftswunder“.
In den Zahlen enthalten ist ein natürlicher Geburtenüberschuss ab 1946, der in Südoldenburg stärker war als im Land Oldenburg insgesamt. Dies ist an der Tabelle nicht ablesbar.
Zu 5. 2. Bevölkerung, Konfessionsverteilung und Anteil der Vertriebenen 1950
Aufgaben: 1. Errechne für Deine Gemeinde/Stadt den Anteil der Vertriebenen und Zugewanderten
an der Bevölkerung im Jahre 1950!
Hinweis: Die Ergebnisse liegen leicht unter den Zahlen der Tab. 5.3. (1949)
2. Vergleiche – vor dem Hintergrund, dass vor 1945 in den meisten Gemeinden Südoldenburgs nur wenige evangelische Christen lebten – die Zahlen der Vertriebenen mit
der Zahl der evangelischen Christen!
3. Diskutiere die Bedeutung der Konfession für die Integration der Neuankömmlinge!
Hinweis: In fast allen Städten und Gemeinden liegt die Zahl der evangelischen Christen leicht unter der Zahl der Vertriebenen. Daraus lässt sich – cum grano salis –
schließen, dass die Vertriebenen in unserer Region eine protestantische Minderheit
bildeten und dass die Mehrzahl der Protestanten Vertriebene waren. Nur Goldenstedt,
Neuenkirchen, Altenoythe, Barßel und das Saterland hatten bereits vor 1945 einen
nennenswerten evangelischen Bevölkerungsanteil.
Im Anschluss könnte die Neugründung evangelischer Kirchengemeinden u. a. thematisiert werden.
Zu 5. 3. Anteile der Nichteinheimischen 1949
Aufgabe: 1. Setze die Zahlenreihe in Kreis- oder Säulendiagramme!
2. Im Nordkreis Cloppenburg wurden in den letzten Kriegstagen viele Häuser zerstört.
Erkennst Du dies an den Zahlen?
Hinweis: Die auffallend geringen Anteile in Friesoythe und im Nordkreis Cloppenburg sind dadurch zu erklären, dass diesen Gemeinden wegen der Zerstörungen von Wohnraum in
den letzten Kriegstagen weniger Vertriebene zugewiesen wurden.
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Zu 5. 4. Hauptherkunftsgebiete der Vertriebenen im Landkreis Cloppenburg 1949
Aufgabe: 1. Setze die Zahlenreihe für Deine Stadt/Gemeinde in ein Kreisdiagramm um!
2. Suche die Herkunftsgebiete aus den Karten 2.1. – 2.3.!
Hinweis: Es ist noch nicht hinreichend geklärt, wie die Zuweisung der Vertriebenen „von oben“
erfolgte. Eine vordergründige Erklärung liegt darin, dass die in Südoldenburg ankommenden Züge jeweils mit 1.500 – 2.000 Personen aus einem bestimmten Herkunftsgebiet besetzt waren und die Zuweisung eher aus der Not geboren war.