Mature age literature Kleine Ausschnitte aus einer Arbeitsbeziehung

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Mature age literature Kleine Ausschnitte aus einer Arbeitsbeziehung
august|
Auf ein Wort
Kleine Ausschnitte
aus einer Arbeitsbeziehung
Steckbrief
© privat
Tobias Scheffel, geb. 1964
in Frankfurt am Main,
arbeitet seit Abschluss
seines Romanistikstudiums
als Übersetzer. Seit 1992
zahlreiche Übersetzungen von Romanen, Essays
sowie Kinder- und Jugendbüchern aus dem
Französischen, u. a. von Georges Perec, Robert
Bober, Fred Vargas, Marie-Aude Murail, Timothée
de Fombelle und Claude Ponti. Auszeichnungen:
Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis (2005), Deutscher
Jugendliteraturpreis für „Simpel“ von Marie-Aude
Murail (2008). Er lebt in Freiburg.
18 | eselsohr august 2010
te, aus der ich erfahre, welche persönlichen
Erfahrungen der Autorin u. a. in die Figur des
Barnabé eingeflossen sind: Ihr Sohn hatte als
Dreijähriger tatsächlich eine Schreckschusspistole bekommen (natürlich ohne Munition!), die
er stolz mit sich trug und die ihn eine Zeitlang
sehr zu beruhigen schien – bis die Themen Gewalt
und Sicherheitsbedürfnis bei ihm durch waren.
„Man könnte glauben, wir seien etwas seltsame
Eltern gewesen!“, schreibt sie – aber meine Frage ist geklärt. Später scheitert die Übersetzung
„Schreckschusspistole“ leider am Widerspruch
des deutschen Lektorats.
Juni 2006: Meine Übersetzung von Simpel (Fischer
Schatzinsel 2007) ist fertig, aber es gibt doch noch
eine Frage an Marie-Aude
Murail: Eine wichtige Figur
des Romans heißt im Original „Kléber“ – und mehrere
jugendliche Leser des noch
unfertigen Manuskripts
hatten sich an dem Namen gestört: „Kleber“ wie
„Uhu“? Natürlich sollte der
Name im Deutschen nicht auf unsinnige Fährten
führen. Auf die Frage an die Autorin, was hinter
ihrer Wahl für „Kléber“ stand, kommt eine rasche
Antwort, aufgrund derer schnell ein Äquivalent
für die deutsche Ausgabe gefunden ist.
April 2010: Vorerst letzter Mailwechsel: Eine gemeinsame Veranstaltung mit Schülern, bei der
es ums Schreiben und Übersetzen gehen sollte, muss wegen des kleinen Vulkans abgesagt
­werden.
Aber es geht weiter: Die deutsche Ausgabe von
„Maité Coiffure“ (dt. Über kurz oder lang, Fischer Schatzinsel 2010) ist im Frühjahr erschienen, „La fille du docteur Baudoin“ ist lektoriert
und im Satz, „Miss Charity“ wird die nächsten
Monate den Schreibtisch nicht verlassen – ausreichend Stoff für weiterhin ebenso gelegentlichen wie wichtigen Austausch.
Warum diese Auflistung? Der seligen Erinnerung wegen? Nein. Um zu zeigen, wie wichtig es
beim Übersetzen ist oder zumindest sein kann,
auch den Menschen zu kennen, dessen Bücher
man übersetzt. Je besser man weiß, wie jemand
„tickt“, worauf es ihm ankommt, welche Ansichten er hat, um so leichter, um so richtiger
und um so getreuer kann man die immer wieder
auftauchende Frage „Wie hätte der Autor sich
entschieden, wenn er selbst deutsch schreiben
könnte?“ beantworten.
Tobias Scheffel
© Marine Ludin
April 2000: Der erste Kontakt mit „meiner“ Autorin, per Mail: „Chère Marie-Aude Murail …“.
Ich arbeite an der Übersetzung von „Ma vie a
changé“ (dt. Von wegen, Elfen gibt es nicht!,
Fischer Schatzinsel 2004) und habe zwei oder
drei Fragen, die selbst nach langem Nachdenken
noch offen sind. Und dazu eine vielleicht etwas
heikle Bitte: Ob ein Name leicht verändert werden könnte, damit ein Wortspiel auch im Deutschen funktioniert. Die Antwort lässt nicht auf
sich warten, sie trifft bereits eine Stunde später
ein: Wie erhellend der Blick eines Übersetzers
doch für den Autor sei und
außerdem habe sie keinerlei Bedenken gegen die Namensänderung. Uff!
April 2003: Anlässlich eines neuen Buchs erneute
Fragen an die Autorin: Eine
Figur des Romans ändert
zweimal ihr Alter … was
tun? Als Antwort kommt
eine vage Erklärung über
die relative Unwichtigkeit
von Geburtstagen, aber
auch ein präziser Lösungsvorschlag.
Februar 2006: Beginn einer hübschen Diskussion zur politischen Korrektheit: Ich will (aufgeschreckt durch die Reaktion mehrerer junger
Kolleginnen) wissen, ob es sich bei dem „pistolet d’alarme“, die der (geistig behinderte) junge
Held ihres jüngsten Romans bei sich trägt, wirklich um eine „Schreckschusspistole“ (also eine
möglicherweise gefährliche Waffe) oder um eine
„Spielzeugpistole“ handelt.
Wieder kommt die Antwort nur wenige Stunden
später, diesmal in Form einer längeren Geschich-
Mature age
­literature
Ponyvorhang, Launenwechsel, Alkopops und das
furchtbare Gefühl, im behüteten Speckgürtel des
kuscheligen Zuhauses etwas zu verpassen – wer
kennt es nicht? Vor allem, wenn man zwischen
13 und 16 rein physisch den Ausfall einiger Synapsen im Hirn zu beklagen hat, und emotional
gesehen deswegen eine Wanderbaustelle ist, die
den Eltern einiges abfordert beim Aufstellen der
Halteschilder.
taz-Redakteurin Anja Maier ist wohl nicht nur
mit so einem Exemplar gesegnet, sondern auch
in der Lage, köstlich ironisch diese Hybridphase des Menschwerdens einzufangen. Geschildert wird ein entscheidendes Jahr im Leben
der Vierkopffamilie. Schulabschluss, geplanter
Auslandsaufenthalt und … das Jahr der wahren Pubertät. Die Pubertistin, liebevoll auch
die Einsechszigblondine genannt, lässt keine
Station aus, um sich abzugrenzen vom Spieß
der Eltern, die so spießig gar nicht sind und die
Kampfansagen des flügge werdenden Kindes
recht souverän parieren. Bis auf einige Schreiaussetzer und Verzweiflungstaten alles im grünen Bereich.
Das Buch liefert eine echte Steilvorlage für Geduld und Spucke im Umgang mit Pubertierenden.
Pointierte Wahrheit aus der Sicht der geplagten
Mutter. Genau hier beginnt die Schwierigkeit
der Einordnung. Wer soll das Buch lesen? Die
Mütter? In jedem Fall. Die Töchter? Wäre schön,
werden sie nur nicht tun. Hätte der Verlag covermäßig doch einigermaßen Mut bewiesen, hätte
er nicht nur das Logo geändert, sondern auch
den Auftritt. Das Buch gehört in jede Mutter-ItBag, ist also ein It-Book und unverzichtbar bei
Pubertätsbeschwerden. Please, lasst das Buch
im Post-Girlie-Look erscheinen, also für Frau ab
Mitte Vierzig, selbst an der Schwelle der zweiten
Pubertät, wenn durchknallende Küken eine echte Prüfung sind. Ein wunderbares Buch für die
eher reifere Jugend 40+.
Christine Paxmann
Anja Maier: Die Pubertistin. Die willste nicht geschenkt
haben! Baumhaus 2010, 160 S., ab 14, € 10,– (D),
€ 10,30 (A), sFr 17,50. ISBN 978-3-8339-3579-4