Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen

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Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen
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Janusz-Korczak-Gesamtschule
Schuljahr 1998 / 99
13.Jahrgang / LK Deutsch / Bialké
Projekt “Literatur des 20. Jahrhunderts”
Heinrich Mann
Professor Unrat
oder
Das Ende eines Tyrannen
von Jan Lorbach
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Die nachfolgende Arbeit entstand als sogenannte Facharbeit im Schuljahr 1998/99 im Rahmen des Leistungskurses
Deutsch der 13. Jahrgangsstufe der Janusz-Korczak-Gesamtschule in Neuss. Mit Genehmigung der Schulaufsicht
wurde die zweite Klausur des ersten Schulhalbjahres durch diese Facharbeit ersetzt.
Die fachlichen Grundlagen für die Realisation dieses Projektes wurden durch die bisherige gemeinsame Arbeit gelegt:
Kurshalbjahr
Kursthemen, Unterthemen
1.
11/2
2.
1.
12/1
2.
1.
2.
12/2
13/1
1.
2.
Die Rolle der Liebe und von Partnerschaft im gesellschaftlichen Gefüge: Liebeslyrik in verschiedenen literarischen Epochen an
ausgewählten Beispielen
Text und Wirklichkeit: der Roman und die Novelle am Ende des 19. Jahrhunderts
Fontane “Effi Briest” und Keller “Romeo und Julia auf dem Dorfe”
Der Aufklärungsgedanke im bürgerlichen Trauerspiel des 18. Jahrhunderts am Beispiel von:
a.) G. E. Lessing “Nathan der Weise”
b.) Friedrich Schiller “Kabale und Liebe”
Der Aufklärungsgedanke in der Literatur des 20. Jahrhunderts am Beispiel von:
a.) Bertold Brecht “Das Leben des Galileo Galilei”
b.) Max Frisch “homo faber”
Die Wandlung des Realitätsbegriffes in der Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts am Beispiel von Franz Kafka
Die Kurzgeschichte (bes. nach 1945) als Widerspiegelung zeitgeschichtlicher Entwicklungen und geistesgeschichtlicher
Strömungen
Die Weimarer Klassik am Beispiel von Goethes “Faust I”
Die Kunsttheorie der Klassik
Die Facharbeit wurde realisiert im Rahmen des Unterrichtsvorhabens “Projekt: Literatur des 20. Jahrhunderts”: Aus
einer vorgegebenen Liste von Titeln der (deutschsprachigen) Literatur des 20. Jahrhunderts hatte jede Schülerin /
jeder Schüler einen Titel zu wählen, wobei es möglich war, selbst Autoren bzw. Werke vorzuschlagen, die in der
Liste nicht erfasst waren. Es durfte allerdings kein Autor von zwei Schülerinnen / Schülern zugleich bearbeitet
werden. Die Gesichtspunkte der Untersuchung des gewählten Werkes waren vorgegeben: Sie spiegeln sich in den
Kapitelüberschriften wider.
Es war darüber hinaus Auflage, die Facharbeit - formatiert nach vorgegebenen Kriterien - auf Diskette und als
Ausdruck vorzulegen. Jeder Schülerin / jedem Schüler stand ein Beratungstermin für seine Facharbeit zur
Verfügung: Bei dieser Gelegenheit konnte man sich Hilfestellungen und Tipps holen.
Ins Internet gestellt wurden die Arbeiten, welche mit der Note “ausreichend” und besser bewertet wurden. Bis auf
drei zufällige Ausnahmen wurden alle Arbeiten (ähnlich wie bei Abiturarbeiten) nicht nur von mir, als dem
Fachlehrer, sondern von Kolleginnen / Kollegen als “Zweitkorrektoren/Innen” beurteilt. (Die dabei feststellbaren
Abweichungen in der Bewertung waren in der Regel gering und nur in einem Fall gravierend: Die Zweitkorrektorin
bewertete - zutreffend - eine Arbeit mit “mangelhaft”, im Unterschied zu mir, der ich zunächst “ausreichend” erteilt
hätte.) Insgesamt erwies sich, dass die Erstellung einer solchen Facharbeit ein Leistungsvermögen erfordert, das
unter gewissen Gesichtspunkten höher ist als das bei einer “normalen” Klausur.
Über die Home-page der Schule (unter der Adresse http://www.jkg-neuss.de) bzw. unter der Email-Adresse der
Schule ([email protected]) oder unter der Email-Adresse des verantwortlichen Lehrers ([email protected])
können weitere Informationen eingeholt und - was durchaus erwünscht ist - Kommentare abgegeben werden.
gez. Bialké
(Kursleiter)
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Professor Unrat oder das Ende eines Tyrannen
Roman von Heinrich Mann, erschienen 1905 in München.
Ausgaben: Mchn. 1905. - Lpzg. 1917 (in gesammelte Romane und Novellen, 10 Bde., 6). Bln./DDR 1951 (in AW in Einzelausgabe, Hg. A. Kantorowicz, 13 Bde., 1951 - 1962, 1). - Hbg.
1951; ern. Reinbek 1968 (Der Blaue Engel; rororo). - Bln./Weimar 1966 (in GW, 25 Bde., 1965
ff., 4). - Hbg. 1966 (in GW in Einzelausgabe, 18 Bde., 1958 ff., 8). - Düsseldorf 1976 (in
Werksausw., 10 Bde., 8). - Ffm. 1981 (BS). - Düsseldorf 1983. - Ffm. 1989 (in Studienausgabe
in Einzelbänden; Nachw. R. Wolff; Materialanh. P.-P. Schneider; FiTb).
Verfilmungen: Der blaue Engel, Deutschland 1930 (Regie: Josef von Sternheim). - The Blue
Angel, USA 1959 (Regie: E. Dmytryk).
Zum Inhalt
Inhaltsangabe:
Professor Raat, ein wilhelminischer Schullehrer, wird vom Gymnasium und der ganzen Stadt
nur Unrat genannt. Der gewohnte Ruf übt auf den alten Lehrer seine Wirkung noch so gut aus,
wie schon vor 26 Jahren. Man braucht nur auf dem Schulhof, sobald dieser vorbeikommt
einander zuzuschreien: "Riecht es hier nicht nach Unrat!" und schon zuckt der Alte heftig
zusammen. Prof. Unrats einziges Bestreben ist es, die Schüler zu fassen; ihnen zu beweisen,
daß sie ihn mit dem Wort "Unrat" gemeint haben, und ihnen dafür ihr Fortkommen zu
erschweren, wenn nicht gar unmöglich zu machen. So sorgt er als Lehrer dafür, daß alle, die
ihn bei seinem Spottnamen nennen, das Ziel der Klasse nicht erreichen. Unrat beurteilt ein Jahr
mit gut oder schlecht, je nachdem, ob er einige "faßte", oder ihnen nichts beweisen konnte.
Unrat, der sich von den Schülern hinterrücks angefeindet, betrogen und gehaßt weiß,
behandelt sie seinerseits als Erbfeinde, von denen man nicht genug bei Tests hineinlegen und
vom Ziel der Klasse zurückhalten kann.
Besonders die drei Schüler Lohmann, Kieselsack, und von Erztum machen ihm das Leben
schwer, aber auch umgekehrt. Als Prof. Unrat erfährt, daß eben diese drei verhaßten Schüler
die Barfußtänzerin und Künstlerin Rosa Fröhlich allabendlich in ihrer Garderobe in der
Spelunke "Zum blauen Engel" besuchen, stellt er ihnen nach, um sie zu zerschmettern. Für
Unrat ist es Pflicht sich täglich als erster bei der Künstlerin Rosa Fröhlich einzufinden, und
somit seine Schüler von dieser bunten Weibsperson fernzuhalten, doch sie wird immer
erfreulicher, um so mehr er sich in ihrer Garderobe einlebt. Prof. Unrat verliebt sich in Rosa
Fröhlich, was besonders von Erztum stört, da dieser in sie verliebt ist.
Als es zu einem Prozeß gegen die drei Schüler Lohmann, Kieselsack und von Erztum wegen
mutwilliger Beschädigung eines Hünengrabes (= vorgeschichtliche Grabanlage aus mächtigen
Steinblöcken, die ursprünglich von Erdhügeln abgedeckt waren) kommt, wird auch die
Künstlerin Fröhlich als Zeugin geladen, da sie bei der Tat auch anwesend war. Rosa Fröhlich
sieht die Zeugenaussage als Möglichkeit, ihrem alten Unrat auf dem Umwege über den
Gerichtshof hinweg die Wahrheit zu gestehen. So erfährt Unrat von Rosas "Nebendingen" mit
seinem Schüler Kieselsack und von von Erztums Heiratsantrag. Unrat ist entsetzt und
schockiert und glaubt, daß seine Rosa auch Nebendinge mit Lohmann, seinem größten Feind,
treibt...
Nach diesem Prozeß, bei dem er eine Rede führt, die sich gegen die großbürgerliche Kaste,
den dekadenten Adel und die korrumpierten Kleinbürger wendet, die sich repräsentativ in den
drei pubertären Sündenböcken Lohmann, von Erztum und Kieselsack zeigen, wird Unrat von
der Schule entlassen. Unrat und die Künstlerin Rosa Fröhlich versöhnen sich wieder und
heiraten. Nun wandelt sich der Tyrann zum Anarchisten (= Es gelten keine Gesetze zur
Ordnung des Lebens). Die Ideale der bürgerlichen Umwelt, die er früher gepredigt hat, sind
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jetzt Opfer seiner Rachsucht. Und die zielt auf Entsittlichung der Stadt. In seiner "Villa vor dem
Tor" frönen die Bürger dem Glücksspiel; sie wird zu einer Stätte nächtlichen Vergnügens, was
natürlicherweise noch mehr Getuschel in der Kleinstadt zur Folge hat. Als Unrat vor lauter Haß
gegen Lohmann ihm seine Brieftasche stiehlt, wird er selbst dabei gefaßt und verhaftet, und die
Stadt kann vom Druck ihres eigenen Lasters befreit zur scheinheiligen Ordnung zurückkehren.
Stilistik
Die Handlung wird weitgehend von einer Schulgeschichte getragen, die mit einer
ungewöhnlichen Liebesgeschichte verknüpft ist. Die gradlinige Erzählweise und der mäßige
Umfang (das Taschenbuch hat 153 Seiten) beugen jegliche Überforderung bei der Lektüre vor.
Zudem spricht der satirische Stil meiner Meinung nach jugendliche Leser an. Allerdings ist zu
bedenken, daß die Gesellschafts- und Schulverhältnisse der Gegenwart eine Identifikation mit
den Schülern im Roman beeinträchtigen.
Die Handlung führt zu einer doppelte Negation der Satire auf die kleinstädtisch-bürgerlichen
Verhältnisse und dem Vexierbild des “Menschenfeindes”
Biographische Bezügei
Biographie des Autors Heinrich Mann
Heinrich Mann: 1871 (Lübeck, Deutschland) - 1950 (Santa Monica, Kalifornien)
Heinrich Mann begann nach dem Abgang vom Gymnasium eine Buchhandelslehre, 1891 bis
1892 volontierte er im S. Fischer Verlag, Berlin, gleichzeitig Gasthörer an der Universität; freier
Schriftsteller; 1893 Parisaufenthalt, bis 1914 längere Italienaufenthalte, später München, ab
1928 Berlin; 1931 wurde er zum Präsident der Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie
der Künste zu Berlin gewählt. Die Verfilmung seines Romans Professor Unrat (unter dem Titel
"Der blaue Engel" mit Marlene Dietrich) machte ihn weltberühmt. Februar 1933 erzwungener
Ausschluß aus der Akademie; Emigration nach Frankreich (Paris, Nizza), dann über Spanien
und Portugal 1940 nach Kalifornien. 1949 nahm er die Berufung zum Präsident der neu zu
gründenden Deutschen Akademie der Künste zu Berlin/DDR an. Heinrich Mann starb 1950 in
Santa Monica/Kalifornien. Seine Urne ist auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin
beigesetzt.
Heinrich Mann war der ältere Bruder von Nobelpreisträger Thomas Mann, ebenfalls
Schriftsteller, aber bei uns nicht so bekannt. Er wandelt sich von einem eher konservativen
Schriftsteller in seiner Frühzeit zu einem engagierten, politisch linksstehenden Autor. So
wendet er sich gegen die Kriegsbegeisterung beim Ausbruch des 1. Weltkrieges und arbeitet
aktiv gegen die Nationalsozialisten, in dem er mit Engagement gegen die Nazis, Militarismus
und Untertanenmentalität schreibt. Mit Beginn der Nationalsozialistischen Herrschaft wurden
Manns Bücher im Dritten Reich 1933 von den Nationalsozialisten verboten und der Autor zur
Emigration gezwungen, aus der er nicht mehr zurückkehren sollte. Er lebte bis 1940 im
französischen Exil und floh dann in die USA. Kurz vor seiner Rückkehr nach Deutschland starb
er.
In der Romantrilogie "Das Kaiserreich" beschreibt er die Zustände im wilhelminischen
Deutschland aus einer sehr kritischen Perspektive.
In der Emigration entstehen seine beiden Romane "Die Jugend des Königs Henri Quatre" und
"Die Vollendung des Königs Henri Quatre"; beide kann man als Gleichnisse vom guten König
bezeichnen. Aus der Frühzeit von Heinrich Mann stammt "Professor Unrat" (der unter dem Titel
"Der blaue Engel" verfilmt wurde) und der neben "Der Untertan" zu seinen bekanntesten
Romanen gehört und sich mit dem selbstgefälligen Bürgertum auseinander setzt. In seinen
Memoiren "Ein Zeitalter wird besichtigt" läßt er die deutsche Geschichte und die eigene
Biographie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts noch einmal Revue passieren.
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Wie sein Hauptfigur leidet auch der Autor an der von ihm analysierten und kritisierten
Gesellschaft. Zum ersten mal in Heinrich Manns Werken steht der doppelten Negation, nämlich
der Satire auf die kleinstädtisch-bürgerlichen Verhältnisse und dem Vexierbild des
Menschenfeindes eine Figur gegenüber, die sich in den Rahmen ausformulierter
demokratischer und sozialethischer Utopie (=Wunschtraum) fügt: In der Gestalt von Rosa
Fröhlich, dem Mädchen aus dem Volk. Dem komischen Fall des Schultyrannen mit seinen
unumstößlichen Grundsätzen liegt die Geschichte einer Verfallenheit zugrunde, die aus der
wilhelminischen Autorität einen verkappten Anarchisten hervorholt.
Nach dem Ende des Dritten Reiches fand in der DDR eine rege Beschäftigung mit seinem
Werk statt.
Bewertungen
Angeregt durch eine Zeitungsmeldung, schrieb Heinrich Mann den Roman "Professor Unrat
oder das Ende eines Tyrannen" 1903 und 1904 in Florenz und Ulten, Südtirol; 1905 erschien
das Buch in München bei Albert Langen, der bereits die vorausgehenden Romane des Autors “Im Schlaraffenland”, “Die Göttinnen oder die drei Romane der Herzogin von Assy” und “Die
Jagt nach Liebe” herausgebracht hatte. Die Niederschrift nahm nach Aussage des Autors nur
wenige Monate in Anspruch. Doch blieb Professor Unrat zunächst unbeachtet - wie die meisten
Werke Heinrich Manns vor dem ersten Weltkrieg. Mit dem Einverständnis des Autors entstand
1931 eine Filmfassung von Carl Zuckmayer unter dem Titel "Der blaue Engel" (Regie: Josef
von Sternberg, in den Hauptrollen Emil Jannings und Marlene Dietrich). Hier endet der
Gymnasialprofessor aber auf klägliche und mitleiderregende Weise. Durch den Film sieht man
Heinrich Manns Werk als karikierende Schulsatire. Bei genauer Betrachtung aber ist es
möglich, die Doppelsinnigkeit, die in siebzehn Kapiteln locker erzählt wird, zu sehen. Die
Handlung (Ein tyrannischer verknöcherte Gymnasialprofessor lernt bei der nächtlichen Jagd auf
Schüler die Künstlerin Rosa Fröhlich kennen, verliebt sich in sie, wird geächtet und verliert
deswegen seine Stellung) bewahrt ganz den Anschein satirischer Lächerlichkeit; daß aber
diese "lebensfeindliche" Lehrerfigur unversehens die bürgerliche Umwelt enthemmt und eine
anarchistische Revolte gegen sie unternimmt, verstört das Lachen des Lesers.
Der Roman stellt sich als sozialpathologische Studie dar, in der die psychologische Motivation
des Leidens und Handelns den einzelnen auch dann noch prägt, wenn er den politischen
Mechanismus seiner Gesellschaft durchschaut und gegen sie revoltiert. Professor Raat ordnet
sein Verhältnis zu den Schülern psychologisch demselben Machtprinzip unter, das er - ein
glühender Chauvinist (Chauvinismus = übertriebenes Nationalgefühl) - politisch vertritt. Seiner
tyrannischen Herrschsucht, die sich in unumstößlichen Strafen, ungerechten Zensuren und
sinnwidrigen Anordnungen zeigt, entspricht innere Ohnmacht und der Verdrängung des
Triebes. Durch seine Sucht, die Schüler zu fassen, es den Aufsässigen zu beweisen und seine
Erbfeinde an ihrer Laufbahn zu hindern, verirrt er sich in einen fremdartigen, verwirrend erotischen Dunstkreis; seine Machtvorstellung wird allmählich von der bislang
zurückgedrängten, triebhaften Sinnlichkeit untergraben. Je öfter Professor Unrat bei Rosa
Fröhlich verkehrt, desto mehr untergräbt er seine autoritäre Stellung bei den Schülern und rückt
den von ihm Tyrannisierten immer näher; der in seiner Macht geschwächte Tyrann begegnet
seinen Untertanen auf der gleichen Stufe: als ein Untertan.
Heinrich Mann behandelt in seinen Werken vorwiegend den Verfallszustand der bürgerlichen
Gesellschaft. Er beschreibt und kritisiert die politischen und gesellschaftlichen Zustände des
wilhelminischen Kaiserreichs, und setzt sich mit dem Imperialismus dieser Zeit auseinander.
Das Frühwerk Heinrich Manns wurde vom Fin de siecle (= frz. Jahrhundertende; die dekadente
Überfeinerung von Gefühl und Geschmack am Ende des 19. Jahrhunderts) geprägt. Auch zeigt
Mann Tendenzen zum Konservatismus. Er besaß eine konsequent demokratische
Weltanschauung, und war starker Gegner des Nationalsozialismus. Heinrich Mann wendet sich
gegen den Chauvinismus und Militarismus. Auch das zentrale Problem von Kunst und leben
behandelt er in einer Reihe von Novellen.
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Im Buch "Professor Unrat" wird der Konflikt zwischen Macht und Liebe behandelt, besonders
aber das Tyrann-Untertan-Verhältnis. Dieses Verhältnis wird in dem Buch "Der Untertan"
wieder aufgenommen und weiterbehandelt. Die Vertreibung und Ausbürgerung Heinrich Manns
bei der Preußischen Akademie der Künste durch die Nationalsozialisten sowie seine
überragende Bedeutung als Symbolfigur der antifaschistischen Exilanten dokumentieren Manns
singuläre Erscheinung als "demokratischer Ideenbildner". Der ist er als Schriftsteller zuerst im
Roman Professor Unrat. Hier überwindet er den Ästhetizismus und verbindet zum ersten Mal
sein generelles Hauptthema, den Konflikt zwischen Macht und Liebe, mit seiner Vorstellung von
Demokratie. In "Professor Unrat" ist Mann ein Meister der Satire und Groteske, noch mehr aber
in dem Roman "Der Untertan". Die norddeutsche Kleinstadt in der das ganze Buch spielt ist
unschwer als das Lübeck des Schülers Heinrich Mann zu erkennen. Der Schüler Lohmann
weist viele Gemeinsamkeiten mit dem Autor auf. Eine Äußerung Heinrich Manns: "Unrat, dieses
lächerliche Scheusal hatdoch einige Ähnlichkeit mit mir" und die groteske Umkehrung der
kleinstädtischen Verhältnisse weisen darauf hin, daß die Hauptfigur nicht nur als typisiertes
Objekt der Satire, sonders auch als Vexierbild des Satirikers zu verstehen ist (Vexierbild ein
Rätselbild, aus dem ein verborgen gezeichnetes anderes Bild herausgefunden werden soll.)
Skizze eines produktorientierten Interpretationsansatzesii
Mit dem 1904 verfaßten Professor Unrat, dessen Niederschrift nach eigener Aussage des
Autors nur wenige Monate in Anspruch nahm, wandte sich Heinrich Mann unmittelbar der
deutschen Provinz zu. Bislang hatte er die bürgerliche Gesellschaft in seinen seit 1900
veröffentlichten Romanen vorwiegend an ihrem ästhetischen Erscheinungsbild gemessen und
ihren spätzeitlichen Verfallszustand analysiert.
Zunächst scheint sich die Geschichte eines wilhelminischen Schullehrers in einer
norddeutschen Kleinstadt (die im übrigen nicht schwer als das Lübeck des Schülers Heinrich
Mann zu vertifizieren ist) scheint sich den Schulsatiren Wedekinds, Thomas, Hauptmanns und
Hesses zuzuordnen. Das Werk als eine karikierende Schulsatire zu verstehen, wird vor allem
durch die entstandene Filmfassung Carl Zuckmayers von 1931 unter dem Titel Der “Blaue
Engel” unterstrichen. Doch eine werkgetreuere Interpretation vermag die Doppelsinnigkeit der
in siebzehn Kapiteln aneinandergereihten Einzelzehnen zu beschreiben - entgegen der im Film
nivellierten Schlußwendung (ein Gymnasiallehrer endet auf klägliche und mitleiderregende
Weise).
Der Anschein, satirischer Lächerlichkeit, wird zunächst dadurch bewahrt, daß ein tyrannischer,
verknöcherter Lehrer auf der nächtlichen Jagt nach seinen ihm verhaßten Schülern die
Sängerin und Barfußtänzerin Rosa Fröhlich kennenlernt, sich in sie verliebt und deswegen
seine Stellung verliert. Doch daß diese “Lebensfeindliche” Lehrerfigur ihre bürgerliche Umwelt
enthemmt und eine anarchistische Revolte gegen sie unternimmt, verstört das Lachen des
Lesers und läßt an der anfänglichen Übereinstimmung mit dem Autor Zweifel aufkommen. Eine
bislang wenig beachtete Äußerung Heinrich Manns (“Unrat, dieses lächerliche Scheusal ... hat
doch einige Ähnlichkeit mit mir”; s.o.) und die groteske Umkehrung der kleinstädtischen
Verhältnisse - Agressionslust, strammer Nationalismus und Autoritätsgläubigkeit schlagen in
blinde Anarchie um - weisen darauf hin, daß die Hauptfigur nicht nur als typiesiertes Objekt der
Satire, sondern auch als Vexierbild des Satirikers zu verstehen ist. So stellt sich der Roman als
sozialpathologische Studie dar, in der die psychologische Motivation des Leidens und Handelns
den einzelnen auch dann noch prägt, wenn er den politischen Mechanismus seiner
Gesellschaft durchschaut und dagegen revoltiert.
Raat ordnet sein Verhältnis zu den Schülern psychologisch dem selben Machtprinzip unter, das
er - ein glühender Chauvinist (s.o.), der “über die Pflichttreue, den Segen der Schule und die
Liebe zum Waffendienst” Aufsätze schreiben läßt - politisch vertritt. Seiner tyrannischen
Herrschsucht, die sich in drakonischen Strafen ungerechten Zensuren und sinnwidrigen
Anordnungen widerspiegeln, entspricht innerer Ohnmacht und Triebverdrängung.
Er verirrt sich auf der Suche nach widerborstigen Schülern in die Spelunke “Zum blauen Engel”,
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wo die leichtlebige “Künstlerin” Rosa Fröhlich gastiert, und aus der Sucht heraus, die Schüler
zu “fassen”, es den vermeintlich Aufsässigen zu “beweisen”, in einen fremdartigen, verwirrenderotischen Dunstkreis; so wird seine Machtvorstellung allmählich von bislang zurückgedrängter,
triebhafter Sinnlichkeit unterhöhlt. Je öfter er bei Rosa Fröhlich verkehrt, je mehr seine
autoritäre Stellung bei den Schülern dadurch untergraben wird, desto näher rückt er den von
ihm Unterjochten; der in seiner Macht geschwächte Tyrann begegnet seinen Untertanen auf
der gleichen Stufe: als ein Untertan. Als dann schließlich “die überreizte Zärtlichkeit des
Menschenfeindes” über alle Hemmungen und Konventionen siegt und Unrat die nach
Sicherheit sich sehnende Fröhlich heiratet, ist seine bürgerliche Stellung verloren. Verteidigt der
anfangs im Prozeß noch die geheiligten Güter staatserhaltender Gesinnung, so bricht im
folgenden der Haß auf die bürgerliche Gesellschaft, die ihn geprägt hat, durch: In einer
geifernden Rede wendet sich Raat gegen die großbürgerliche Kaste, den dekadenten Adel und
die korrumpierten Kleinbürger, wie sie sich in den drei pubertierenden Sündenböcken
Lohmann, von Erzum und Kieselack repräsentativ wiederfinden.
“Auf neue, unvorhergesehene Weise” dehnt sich nun Unrats Kampf aus, als er nach einem
lehrreichen Aufenthalt an der See mit seiner Frau in die Stadt zurückkehrt. Darüber hinaus
mußte er durch einen Seitensprung Rosas erkennen, das erotische Libertinage sowohl die
Bürger, als auch ihn selbst fesselt und unversehens zu Untertanen macht. Aus seiner “Villa vor
dem Tor” macht er eine Stätte nächtlichen Vergnügens und verbotener Glücksspiele, was
natürlich zu noch mehr Getuschel innerhalb der Stadt führt.
Je mehr Unrat die “Entsittlichung der Stadt vorantreibt, desto mehr fällt er jedoch seiner
eigenen Rachsucht zum Opfer. Seine Seele, “ihre Abgrundflüge, ihr fürchterliches Auskohlen,
ihr über alles hinaus selber Verdammtsein”, legt die Disposition des Satirikers bloß, der - wie
seine Hauptfigur - an dieser von ihm analysierten Gesellschaft leidet. Jedoch kann “all dies
fanatisch Überkochende”, in expressionistischen Metaphern zum Sprachbild abgründiger
Dämonie erhöht, nicht letztendlich die Gesellschaft gefährden, da die vormalige bürgerliche
Fassade der Wohlanständigkeit renoviert werden kann, als Unrat eine Brieftasche stiehlt und
dabei verhaftet wird.
Die doppelte Negation, der Satire auf die kleinstädtisch-bürgerlichen Verhältnisse und dem
Vexierbild des “Menschenfeindes”, steht in diesem Roman, zum ersten mal in Heinrich Manns
Werk, eine Figur gegenüber, die sich in dem Roman später ausformulierter demokratischer und
sozialethischer Utopie fügt: In der Gestalt Rosa Fröhlich, dem Mädchen aus dem Volk,
beschrieb der Autor, noch weitgehend ironisch gebrochen, eine Repräsentantin humanen
“Mitleids”; in der Figur des jungen Literaten Lohmann, durch den der Erzähler den Professor
analysieren läßt und der mit dem Lübecker Schüler Heinrich Mann verblüffende Ähnlichkeiten
aufweist, stellt er kritisch den wirklichkeitsfernen Ästheten dar und festigt seinen Standort als
sozialkritischer Realist.
Professor Unrat findet sein stoffliches und thematisches Pendant in dem 1914 fertiggestellten
“Der Untertan”, in der das Tyrann-Untertan-Verhältnis von Mann vor der selben Lübecker
Kulisse wieder aufgegriffen wurde, indem er aber weitaus schärfer gegen den Untergang
liberaler Humanität protestierte.
Filmkritik
Professor Unrat rückte ins volle Licht öffentlichen Interesses, als der österreichischamerikanische Regisseur Josef von Sternheim das Buch 1930 verfilmte und dem Titel “Der
blaue Engel” zu einem Welterfolg verhalf. Die Rezensionen nach der deutschen Uraufführung
in Berlin am 1. April 1930 schlugen allerdings mitunter einen kritischen Ton gegenüber dem
Film an. Der Rezensent der “Weltbühne” sprach von einem “Film gegen Heinrich Mann”. “Bei
der Ufa ist aus der funkelnden Satire die sentimentale Katastrophe einer gutbürgerlichen
Existenz geworden, aus dem gespenstischen Scholarchen eine verwässerte Volksausgabe von
“Traumulus”” (Werner, 1977: 120f.). In einem Beitrag für die “Neue Rundschau” betrachtete
Siegfried Kracauer den Film als eine “Privattragödie, die in dieser Fassung und erst recht heute
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niemanden ernstlich etwas angeht”. Er vermißt die Darstellung der “sozialen Verhältnisse, die
den Gymnasialprofessor und die Diseuse zusammenführen” und tadelte die Vernebelung der
Situation von 1930 (Werner, 1977: 122f.).
Heinrich Mann war bereits einer der angesehensten literarischen Repräsentanten der Weimarer
Republik geworden, ehe Josef von Sternheim seinen Film drehte.
Josef von Sternberg über seinen Film “Der blau Engel”: “Bei meiner Umwandlung des Romans
zu einem Film, der meinen Vorstellungen von visueller Poesie entsprach, fügte ich die Figur
des Clowns ebenso neu ein wie alle Episoden und Einzelheiten, die den Professor schließlich in
die Zwangsjacke bringen. Da es im Vorspann des Films heißt, er sei eine freie Adaption des
Romans von Heinrich Mann nach einem Drehbuch von Robert Liebmann in der Bearbeitung
von Vollmoeller und Zuckmayer, ist wohl eine Erklärung notwendig (...) Der Regisseur ist der
eigentliche Autor eines Films (...) Welche Vorzüge der “Blaue Engel” auch immer aufweist und
welche Fehler (und es gibt nicht wenige) - es sind meine. (...) Den brillianten Dramatiker Carl
Zuckmayer hatte man aufgefordert, seinen Namen für die Bearbeitung herzugeben, da man
fürchtete, meine radikalen Änderungen in Heinrich Manns Roman würden die deutsche Presse
erregen, nicht nur weil zum ersten Mal ein Amerikaner nach Deutschland geholt worden war,
um den wichtigsten Film zu drehen, sondern auch, weil Heinrich Mann politisch auf der
schwarzen Liste der nationalsozialistischen Presse stand.
Leseempfehlung
Ich denke, daß der Roman “Professor Unrat oder das Ende eines Tyrannen” durchaus
empfehlenswert ist; gerade für Schüler: die Handlung wird weitgehend von einer
Schulgeschichte getragen, die mit einer ungewöhnlichen Liebesgeschichte verknüpft ist. Die
gradlinige Erzählweise und der mäßige Umfang (das Taschenbuch hat 153 Seiten) beugen
jegliche Überforderung bei der Lektüre vor. Zudem spricht der satirische Stil meiner Meinung
nach jugendliche Leser an. Allerdings ist zu bedenken, daß die Gesellschafts- und
Schulverhältnisse der Gegenwart eine Identifikation mit den Schülern im Roman
beeinträchtigen.
Der Bruder von Thomas Mann ist bei uns nicht so bekannt. Wenn man sich jedoch für
sozialkritische Literatur interessiert und wer Einblick in die wilhelminische Seele bekommen
möchte, der sollte Heinrich Mann lesen, insbesondere den "Untertan" und "Professor Unrat".
Beide Romane sind nicht nur spannend geschrieben, sondern auch nicht allzu schwer zu lesen.
i
Anmerkung : Quellen bezüglich biographischer Daten bezogen aus dem Internet.
http://www.luebeck.de/tourism/ehrenbg
http://www.ciw.uni-karlsruhe.de.tmg.hmpage.html
ii
Anmerkung : Orientiert an Mayers Literatur-Lexikon