Katalog "Dämmern"

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Katalog "Dämmern"
Karen Irmer Dämmern
Stills? Stills?
Über Karen Irmer About Karen Irmer
In einem als zusammenhängende Bildreihe präsentierten Konvolut von Fotografien ­Karen
Irmers wandert der Blick über ferne Landschaften. Es sind stille Erzählungen von weiten
Horizonten und dahin ziehenden Wolken, die sich auflockern und verdunkeln, von der
Feuchtigkeit der Luft und der Bewegung des Windes, von aufklarendem und diffus werdendem Licht, von Nebel, Dunst und Atmosphäre. Nichts passiert, das Bildklima selbst
ist die Handlung. Eines dieser stillen Bilder hält nicht wirklich still. Es ist eine Projektion,
der man dies kaum anmerkt. Projiziert auf denselben Bildträger wie die ihr zugeordneten
Fotografien, dieselben Abmessungen aufweisend und im Ausdruck einer identischen Motivsprache verändert sie sehr langsam ihren Zustand. Über- und Ineinanderblendungen
mehrerer Fotografien schaffen nicht
nur eine komplexe Struktur neuer
Bildebenen, sie entwerfen überhaupt
ein neues Bild, das sich zwischen den
einzelnen Abbildern und deren Gesamtheit zu einem eigenen Komposit
formiert, zu einem dauernden Übergang von Bildzuständen, die sich immer wieder neu entwerfen. Was also
ist das genau, was wir dort sehen? Ein
Stück Natur und eine fotografische
Erzählung über sie, mehrere Bilder ein und derselben Landschaft, oder gar ganz unterschiedliche, vielleicht nur künstlich ineinander komponierte Naturareale, die eine bewegte Ideallandschaft ergeben? Die Beobachtung der subtilen Veränderung des Bildgegenstandes durch das Ablagern seiner Abbilder auf einen imaginären Grund legt permanent
unterschiedliche Erscheinungsformen frei, die wiederum die Frage aufwerfen, ob es den
Bildgegenstand in der Eindeutigkeit, die das Momentane des Blicks zunächst vermuten
lässt, hier überhaupt gibt.
2
meiner Großmutter
dedicated to my grandmother
While strolling along a well considered, lined up collection of displayed images in
Karen Irmer’s photographic work, the gaze travels over distant landscapes. They
are silent tales of wide horizons with clouds drifting towards them, which slowly
dissolve and darken; of the moisture in the air and travelling winds; of light, which
grows bright or dim; of haze, fog and atmospheres. Nothing happens, the image with
its own climate is the scene of the action. One of these still photographs isn’t motionless but is in fact a barely noticeable projection. Having the same proportions, being
projected on the same uniform picture carrier as the group of adjoining photographs
and containing the same motif language, the picture slowly transforms. This crossfading of several photographs provides not only a complex structure
of new imagery planes; it conveys
actually a complete new image. In
between the individual portraits and
their common denominator, this new
image forms its own composition and
is a continuous transition of image
shapes that renew themselves. So
what is it precisely, what we see over
there? A piece of nature and a photographic tale about several pictures of one and the same landscape or completely
different nature areas, which are neatly composed together so as to create a slowly
moving idyllic landscape? Observing the subtle change of a thematic image through
a smooth emerging of its likeness helps to reveal different steadfast appearances.
And basically, a question is being raised here if the object of interest, the presence
of which the gaze has suspected all the way through, in its simple form exists at all.
3
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Dämmern, der gleichermaßen intuitiv wirkende wie programmatisch greifende Werk­
titel dieser und weiterer hier vorgestellter fotografischer Bilder Karen Irmers umschreibt
wesentliche Eigenschaften ihrer Vorgehensweise sehr genau. Changierende Lichtstimmungen, kaum merkliche Übergänge, die sich allmählich vom Hellen ins Dunkle und
wieder zurück bewegen, markieren Landschaften als atmosphärische Innenbilder, die
jedem theoretischen Konstrukt, wie man sie denn nun sehen müsse, mit ästhetischer
Souveränität und intuitiver Leichtigkeit gegenüber treten. Den Fotografien haftet bei aller oft mirakulösen Ausstrahlung nichts Schwülstiges an. In den vergangenen Jahren hat
Karen Irmer eine äußerst sensible Bildsprache entwickelt, deren äußerer Erkennbarkeit,
Lesbarkeit, Erfahrbarkeit fotografierter Landschaften stets eine ganz eigentümliche Verrätselung beigemischt ist. Man sieht, was man sieht, und man fragt sich zugleich, ob das
Gesehene dem Realen entspricht. Oder ob das Auge nicht doch die Atmosphäre des in
den Blick genommenen Bildgegenstandes sieht, statt jenen Gegenstand selbst – ob hier
also im Sehprozess nicht etwas eigentlich Widersprüchliches vor sich geht, für das man
zunächst keine Erklärung findet.
The true mystery of the world is the visible, not the invisible. Mit diesem Aphorismus über das scheinbar so untrüglich Sichtbare in der Welt, den Lord Henry im zweiten Kapitel von The Picture of Dorian Gray 1 ausspricht, fand Oscar Wilde eine ebenso
verblüffende wie provokante Formulierung, die sich an eine auch heute noch aktuelle
künstlerische Debatte um Bedeutung, Sinn und Wert der Oberfläche in der Kunst richtet. Legt doch mit der Zuschreibung des Geheimnischarakters an alles Sichtbare – genau
genommen also zunächst an die Oberflächen der Dinge – der Gedanke Wildes durchaus
eine Umkehrung des traditionell geläufigen Verhältnisses von Außen und Innen, von Oberfläche und Tiefe nahe, die nicht nur eine andere Form der Reflexion, sondern zu gleich auch
eine neue Anforderungsqualität an die Beobachtung des Betrachters nach sich zieht.
Dass beide Seiten der Medaille schon lange argumentativ gegeneinander gesetzt,
nicht selten ausgespielt wurden, ist ein Gemeinplatz, der bis in unseren Alltagssprachge-
1 Oscar Wilde, The Picture of Dorian Gray, London 2011, S. 26
Dawning is a work title that both intuitively and programmatically is well chosen for
the current and also future showcases of Karen Irmer’s photographic work, because
it describes precisely the essential features of her personal approach. Atmospheres
of changing light, hardly noticeable transformations, which move from bright to
dusky and back again, marking landscapes as atmospheric images of inside worlds,
that oppose every applied theoretical reading, of how one ought to look at them,
with aesthetic sovereignty and intuitive lightness. In fact, her photographs with all
their miraculous imaginative charisma don’t exude any pretence. Karen Irmer has
in the past years developed a very sensible figurative language in the photographed
landscapes wherein a characteristic conundrum is mixed with acknowledgment,
readability and perception. You see what you see and at the same time you ask yourself if the viewed has something to do with reality. Or it seems that the eye hasn’t
seen the particular thematic subject, but merely the atmosphere that encapsulates
this. It is a question whether the seeing in this situation doesn’t uncover actually
something self-contradictory, for which one doesn’t have an explanation yet.
The true mystery of the world is the visible, not the invisible. With this aphorism about the seemingly so unmistakable obviousness in the world, according to
Lord Henry in the second chapter of The Picture of Dorian Gray 1, Oscar Wilde uses
a remarkable and provocative phrasing, that addresses even nowadays the artistic
debate about meaning, sense and value regarding the surface in art. Attributing an
element of mystery to all that is perceptible – initially more precisely to all that on
the surface – makes the thought of Oscar Wilde quite obvious in connection with
a reversal of a traditionally accepted relation between outside and inside, between
surface and depth. This understanding cultivates not only a different form of contemplation, but at the same time demands from the observer a different quality in
the way of perceiving.
1
Oscar Wilde, The Picture of Dorian Gray, London 2011, page 26
brauch hinein seine Fortsetzung gefunden hat. Oberflächlich betrachtet werden Zusammenhänge nicht wirklich erkannt, nur wer hinter die Kulissen schaut, erfasst, worum
es geht. Das Wesen der Dinge liegt im Inneren, das stets von seiner Oberfläche separiert
scheint. Diese hat eher Dekorations-, Effekt- oder Verpackungsstatus, eine Vorstellung
von Substanz und Tiefe scheint sich mit ihr kaum zu verbinden.
Karen Irmers künstlerische Konzeption fasst die spezielle Beschaffenheit der
Oberflächen ihrer fotografischen Arbeiten als einen integralen, das Bild selbst mit aufbauenden Bestandteil auf, der von dessen Innerem nicht zu trennen ist. Beim Betrachten
stellt sich etwas wie ein Eintauchen weniger durch, als in die Oberfläche des Bildes ein,
in eine Bildsphäre, die nicht versiegelt, sondern als ein zum Betrachter hin transparenter Raum erscheint. Rein technisch gesehen löst dabei die Verwendung eines speziellen Metallicpapiers
mit einem matten Überzug eine Dynamisierung aus, die irisierend wirkt, und dem Eigenlicht des Bildes Leben verleiht. Dennoch geht es hier keinesfalls um die Erzielung bloßer Effekte
(auch sonst sind Irmers Fotografien frei von Retuschen, Montagen oder Fakes) oder um den Versuch einer Strategie metaphorischer Überhöhung. Vielmehr kommen Intuition und ein Gespür
für Materialwirkung sowie ganz grundsätzlich eine künstlerische
Haltung zum Ausdruck, die, wie in einem generell die Frage betreffenden Kontext und weiter gefasst formuliert, nicht »das vermeintlich Defizitäre der
Oberfläche« sieht, sondern »das, was sie in erster Linie ist: ein ästhetisches Phänomen, das
von Inhalten nicht ablenkt oder sie schmückt, sondern sie überhaupt erst prägt.« 2
Die Prägung des Inhalts als einer Legierung aus Abbild und Bilderfindung zeigt
sich bei Karen Irmer schon früh. In einem Fotogramm aus dem Jahr 1988 sieht man drei
kugelförmige Gebilde wie Monde durch ein dunkles Nichts schweben. Dazwischen, nur
schwach von ihrem Grund sich abhebend und kaum wahrnehmbar, gläserne Fische in
2 Hans-Georg von Arburg et. al. [HG.], Mehr als Schein. Ästhetik der Oberfläche
in Film, Kunst, Literatur und Theater. Zürich/Berlin 2008, S.7
The fact that both sides of a coin are exploited in a continuous argumentative encounter – but also played off against one another – is a platitude, which has found
its continuation even into our daily conversation. On the surface, similarities are not
being recognised‚ just those who are able to peek around the corner understand what
is essential. And the essential value of all things is present in an innermost world,
which seems constantly separated from its surface. And this surface has gained a
status of decoration, wrapping and effect; it is barely possible to find linkage here
with a depiction of substance and profundity.
In her artistic conception, Karen Irmer considers the special condition of
the surfaces in her photographic work as a complete and unabridged self-building element, which cannot be separated
from its inner life. Observing the photograph, one is more
directed towards diving onto the surface of the image as
opposed to going through it; diving into an imaginative atmosphere, which is not revealed as something sealed up, but
as a transparent space obtainable for the observer. Technically speaking, the use of a special metallic paper with a dim
finishing coat creates a liveliness, which is iridescent and
provides the inherent light quality of the image with vitality. However, by no means is it a matter of aiming for mere
effects (the photographs of Irmer are in any case deprived of retouching, editing or
faking) or of attempting for a strategy of metaphorical promotion. On the contrary,
intuition and a feel for the use of material as well as fundamentally an inventive
attitude is conveyed in her work, which doesn’t reflect »the presumed deficit of the
surfaces«, but »that, which it essentially is: an aesthetic phenomenon, that doesn’t
embellish or deviate from subject matter but actually firstly fosters it« 2
2 Hans-Georg von Arburg et. al. [HG.], Mehr als Schein. Ästhetik der Oberfläche
in Film, Kunst, Literatur und Theater. Zürich/Berlin 2008, page 7
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6
einem seltsam raumlosen Raum. Das Werk ist eine Schülerarbeit, entstanden in einem
Fotokurs, den die Vierzehnjährige im Sommer dieses Jahres absolviert. Ausgrabungen
familiärer Archäologie wie solche sind nicht ungewöhnlich im Werk von Künstlern und
sollten sicher nicht überstrapaziert werden, um auf die Anlage später sich ausbildender
Qualitäten zu verweisen. Interessanter als die Frage nach dem hier schon in verblüffender
Prägnanz sich zeigenden ästhetisch-kompositorischen Talent ist aber etwas anderes: Die
Fische aus Glas sind farblos und durchsichtig. Und feststellbar ist, wenn auch sicher noch
nicht im Kontext einer übergreifenden Idee verankert, die offensichtliche Fokussierung
einer Wahrnehmung, die danach sucht, dem Immateriellen eine Form zu geben. Diese
Suche, etwas zu belichten, das man eigentlich gar nicht sieht, hat bis heute Bestand.
Die in Karen Irmers aktuellen fotografischen Bildern selbst stets offen angelegte
Lichtsituation ist auch ein unsichtbarer Weg von der Intuition zum Material und viceversa, und sie verändert sich subtil doch deutlich wahrnehmbar mit dem Standpunkt des Betrachters. Bewegt dieser sich vor den Fotografien, verschwinden Farbwerte und tauchen
wieder auf, die Wahrnehmung der äußeren, realen Lichteinwirkung korrespondiert mit
derjenigen im Inneren der Bilderzählung. Oder genauer: Außen und Innen verschmelzen zu einer Einheit, die Oberfläche wird quasi zur Haut des Bildes, zu einem sinnlichen
Gestaltungsmodul, das sich in der Wahrnehmung der atmosphärischen Qualitäten der
Fotografien nicht weniger wesentlich niederschlägt, als das Motiv, der Gegenstand, die
Komposition.
Das mag theoretisch klingen, kann aber von jedem, der Karen Irmers Arbeiten in
ihrer jeweils realen Ausstellungssituation betrachtet (und letztlich nur dort) ganz unmittelbar erfahren werden – am zuletzt eindrücklichsten vielleicht in der im Frühjahr 2011 in
Tel Aviv mit Uriel Miron präsentierten Schau The Principle of Moments. Und auch hierin
liegt ein durchaus eigenständiger Werkaspekt. Die Fotografien, von denen wir hier sprechen, können nicht 1:1 publiziert werden. Was sich im Prozess des Sehens wie oben beschrieben vollziehen kann, funktioniert nur im Kontext eines jeweils ganz realen Raumes
This fostering of the subject matter as an alloy of image and inventiveness was
found by Karen Irmer at a young age. In a photogram from 1988 one can see three
spherical creations like moons floating in a dark void. Fishes from glass are hovering
in between, just a bit above the floor in a peculiar space-less space. This work is the
result of an assignment in a school photography course that the fourteen year old
completed in the summer of that year. Digging into the family archives like this isn’t
strange with regard to the work of artists but certainly shouldn’t be used extensively
to find evidence for later gifted qualities. Much more interesting than the question
about the young remarkable precision and noticeable aesthetic and compositional
talent is something else: the glass fish are colourless and transparent. One can already state that the apparent focus of an observation – although not yet anchored in the
context of coinciding ideas – which searches for a way to give something immaterial
a form, is present. The quest of giving light to something, that one actually can’t see
at all has endured up until now.
Nowadays, Karen Irmer applies consequent overt settings of light in her
photographic images and this indicates an invisible route from intuition to material and vice versa. In her own subtle approach, she alters her position noticeably
together with the viewpoint of the observer. If he moves in front of the displayed
photographs, colour qualities appear and disappear and the observation of the outer,
actual light effect will correspond with the innermost story of the pictorial narration. Or even more precisely: outside and inside melt together to a unity, the surface
becomes seemingly the skin of the picture, a sensuous design module where during
the perception of the atmospheric qualities, the photographs find essentially their
expression, as motif, theme or composition.
This may sound quite theoretical, but as a most direct experience anyone
who views Karen Irmer’s work in her from time to time realised exhibition situation
(and principally only there) can take part in it. On balance, the best example for this
und den Wechselwirkungen mit ihm. Insofern ist die gewissermaßen eingeschmuggelte
Form der Projektion eine nur folgerichtige Fortsetzung genau derjenigen Bewegung des
Lichts, die dem mit Dämmern umschriebenen Charakter der statischen Fotografien selbst
schon innewohnt.
Die durchaus auch klassische Schönheit der fotografischen Bilder Karen Irmers
ist in jedem Fall eine vielschichtige. Sie drückt sich aus in einem gleichermaßen klaren
wie irritierenden Bildempfinden, in Metamorphosen eines
Dr. Thomas Elsen
Zwischenbereichs zwischen abgebildeter Realität und eiStudium der Kunstgeschichte,
nem ganz eigenen ästhetischen Entwurf von Wirklichkeit,
Philosophie und Katholischen
der vielleicht mehr die Summe ihrer Möglichkeiten als die
Theologie, Promotion.
Idee ihrer unverrückbaren Faktizität im Blick hat. »Das Leiter / Kurator des H2 – Zentrum
Wort ›Schein‹ hat dieselbe Wurzel wie das Wort ›schön‹
für Gegenwartskunst und der
und wird in der Zukunft ausschlaggebend werden.« 3 An Neuen Galerie im Höhmannhaus,
Augsburg. Zahlreiche
diesen Gedanken Vilém Flussers fühlt man sich hier erinAusstellungen,
Publikationen
nert. Und etwas ihm durchaus V
­ erwandtes macht Karen
und
Lehraufträge
zur
internatio­
Irmers künstlerische Position so homogen. Und so geladen
nalen Gegenwartskunst.
zugleich. In ihren Bildern mag der Betrachter die Welt erkennen wie sie ist. Sicher sein kann er sich nie.
Thomas Elsen, 2011
is the impressive exhibition The Principle of Moments with Uriel Miron, spring 2011,
in Tel Aviv. And there too, an authentic work dimension is predominating throughout.
The photographs, of which I speak, can’t be published on a 1:1 basis. The viewing
process as described above can only happen or function in the context of and interaction with the real space. The smuggled form of projection, if I may put it this way, is
in this respect just a consequent continuation of these movements of light, which are
inherent to the already defined dimly visible characDr. Thomas Elsen
ter of these static photographs.
Studied art history, philosophy
The photographic images of Karen Irmer conand catholic theology;
tain furthermore a classic beauty, which is in any
Leader H2 – Center for Contem­
event multifaceted. They generate both a pure and
porary Art, curator of new
gallery Höhmannhaus, Augsburg. irritating visual experience and express themselves
Numerous exhibitions,
in metamorphoses of an in-between stage depicting
publications; professorship
a pictorial reality and a fully authentic design of rewith regard to international
ality, which has more eye for the sum of possibilities
contemporary art.
than for the idea of its indisputable factuality. The following words of the philosopher Vilém Flusser come
to mind: »The word ›Schein‹ has the same origin as the word ›schön‹ and in the future
this will become decisive.« 3 In this we recognise an affinith with the artistic view of
Karen Irmer, which makes her position so homogeneous, and at the same time so
charged. In her images the observer can acknowledge the world as it is. Though he
will never be certain.
Thomas Elsen, 2011
3 Vilém Flusser, Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie
der Medien. Bensheim/Düsseldorf 1993, S. 284
3 Vilém Flusser, Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie
der Medien. Bensheim/Düsseldorf 1993, page 284
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Wiederauffangschleife | Looploop
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Wiederauffangschleife | Looploop
Still II, 2010
Cross fade
100 cm × 180 cm
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Wiederauffangschleife | Looploop
Wiederauffangschleife | Looploop
Still III, 2010
Cross fade
100 cm × 180 cm
Still V, 2010
Cross fade
100 cm × 180 cm
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Wiederauffangschleife | Looploop
Wiederauffangschleife | Looploop
Still VI, 2010
Cross fade
100 cm × 180 cm
Stills, 2010
Cross fade
100 cm × 180 cm
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Dämmern
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Dämmern
Moor, 2010
C-Print
100 cm × 150 cm
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Dämmern
Dämmern
Strauch, 2010
C-Print
100 cm × 150 cm
Überfahrt, 2010
C-Print
100 cm × 150 cm
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The Principle of Moments
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The Principle of Moments
The Principle of Moments
Distinctly and visibly, 2009
C-Print
100 cm × 150 cm
Quite clearly, 2009
C-Print
100 cm × 150 cm
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The Principle of Moments
Well defined, 2009
C-Print
100 cm × 150 cm
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Don’t come back
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Don’t come back
Hill, 2011
C-Print
100 cm × 150 cm
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Don’t come back
Don’t come back
Far, 2011
C-Print
100 cm × 150 cm
Migration II, 2011
C-Print
100 cm × 150 cm
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Don’t come back
Migration I, 2011
C-Print
100 cm × 150 cm
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Don’t come back
Wave, 2011
C-Print
100 cm × 150 cm
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Dunkeln
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Dunkeln
Jellyfish in Space, 2010
C-Print
100 cm × 150 cm
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Dunkeln
Innen weit, 2010
C-Print
100 cm × 150 cm
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Dunkeln
Tief draussen, 2010
C-Print
100 cm × 150 cm
nicht zu sehen not to see
Reflexionen Reflexions
Das Werk von Karen Irmer ist eine Reflektion über Wahrnehmung. Sie mögen mir dar- The photographic work of Karen Irmer is a reflection on perception. You might want
auf antworten, dass jedes gute Kunstwerk eben dies auch leistet. Aber hier, vor diesen to reply to me by saying that simply every good piece of art accomplishes precisely
Arbeiten, passiert etwas anderes: die Reflektion über Wahrnehmung wird buchstäblich. that. But right here, in front of these works, something else happens: the reflection on
Das zeigt sich schon an der Unterscheidung zwischen Reflexion alias Überlegung und perception becomes literal. It becomes apparent in the act of distinguishing between
Reflektion alias Widerspiegelung, zwischen x und kt. Karen Irmer macht uns ein x für ein the word reflexion as contemplation and its twin, reflection as mirroring, between -x
kt vor, ließe sich hier behaupten und wir sind wieder auf der Ebene der Buchstäblichkeit. and -ct. As it becomes evident here, Karen Irmer conjures up visions for us of an -x
Ein Bild entsteht durch die Reflektion (mit kt) von Lichtstrahlen auf einer Ober- as a -ct and once more we are on a level of taking things literally.
fläche. Das Erkennen ist dabei immer doppelt: wir sehen das Bild und wir sehen dessen A photograph is made through the reflection (with -ct) of rays of light on
Reflektion. Die dunklen bis zur Unkenntlichkeit aufgelösten Objekte in den Arbeiten von a surface. The acknowledgment thereof is always two-fold: we see the photo and
Karen Irmer nehmen wir wahr. Aber es gibt einen Punkt dabei, wo das Gesehene mit dem we see its reflection. We are distinguishing the dusky and almost unrecognisable
Sehen wollen in Eintracht gebracht werden will. Erst im Versuch, beides in Übereinstim- vanishing objects in the work of Karen Irmer. However, there is a moment where the
mung zu bringen, gelingt es uns ein Bild zu erfassen. So ist die Reflektion auch immer viewed wants to be unified with the act of wanting to view. Only after attempting to
eine Projektion. Jedes Sehen aber ist auch eine Projektion dessen, was wir schon gesehen reconcile both, are we able to grasp the image. So this reflection is therefore always a
haben. Gerade im Moment der Wahrnehmung, wo das spezifische Objekt noch nicht ent- projection. Every act of seeing is a projection as well, namely of that which we have
schlüsselt ist, begegnen sich Projektion und Reflektion.
already seen. Just in that particular moment where the specified object hasn’t been
Wir merken das nicht, weil wir umgeben sind von Foto-Bildern, die keine weitere decoded yet, the projection meets with the reflection.
Entschlüsselung mehr brauchen. Vor den Bildern – und ich benutze bewusst den Begriff We don’t notice this because we are surrounded by photographic images,
Bild statt den des Foto – von Karen Irmer aber beginnen wir zu zweifeln. Sehen wir das, which are not in need of further decoding. Nevertheless, for the images of Karen
was wir sehen? Tatsächlich scheint mir das die eigentliche Frage hinter diesen Arbeiten Irmer – and deliberately I use the concept of image rather than picture – we are
zu sein. Und das lässt sich als Reflexion der Wahrnehmung, diesmal mit x, verstehen. starting to question if we see what we are seeing. This seems, in fact, for me the esUnd wir können das sogar noch ausdehnen: Nehmen wir wahr, was wir wahrnehmen? sential question behind her work. And this permits it to be understood as a reflexion
Damit verknüpft sich auch wieder das Problem der Wirklichkeit und Wahrheit. Muss of perception, this time with an -x. We can elaborate on this a bit further: do we
Wahrheit Wirklichkeit sein? In dieser Frage steckt ein Momentum, dass die Arbeiten perceive what we are perceiving? And thus the problem of reality and truth pops up.
von Karen Irmer mit dem Reich der Literatur verknüpft. Denn einige Motive wirken wie Does truth have to be reality? This question contains a momentum, which links the
die Madeleine, das berühmte Teegebäck von Marcel Proust in seinem Roman Auf der work of Karen Irmer to the world of literature. Then several motifs function as the
Suche nach der verlorenen Zeit, das ihn wieder erinnern lässt an die verlorene Zeit.
madeleine, the illustrious teacakes out of In Search of Lost Time by Proust letting
him reminisce about the lost time.
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Dunkeln
KojKoj, 2010
C-Print
100 cm × 150 cm
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Das liegt sicherlich auch an dem Formeninventar, das hier in diesen Arbeiten erscheint.
In spezifischer Art und Weise referieren sie für mich auch auf die Frühzeit der Fotografie,
wie sie deutlich wird in den Arbeiten von Henry Fox Talbot oder Daguerre. Und ich sehe
ein weiteres Momentum in diesen Arbeiten, die uns spezifisch die Kunst der Fotografie
nahe bringt. Denn hier ist es nicht ein kleiner digitaler Pinsel eines Computerprogramms,
sondern die konkrete Bewegung vor dem Negativ. Die Unterscheidung zwischen digital
und analog gerät immer mehr in den Hintergrund. An den Arbeiten von Karen Irmer
lässt sich diese Unterscheidung und deren Bedeutung noch nachvollziehen. Hier ist die
Realität sowohl künstlich als auch natürlich. Der digitale
Thomas Wulffen
Körper aber ist nur künstlich. Und angesichts der KörperStudium der Philosophie und
welten in einigen Bildern von Karen Irmer fühlt man sich Linguistik. Seit 1982 als Kurator
erinnert an Edgar Allen Poes Sturz in den Malstrom. So
in Berlin tätig für Kunstforum
eignet diesen Bildern auch eine literarische Qualität, weil
International, Flash Art u.a.
sie entziffert werden wollen … Und einige dieser Bilder Seit 2001 Mitarbeiter der Berliner
Seiten der FAZ und des artist
kommen einem wie wiedergefundene Palimpseste vor.
kunstmagazins.
Präsident der
Gleichzeitig aber kann man sie auch als Konstruktionen
deutschen Sektion der Interder Wahrheit verstehen, Titel einer Gruppenausstellung,
nationalen Assoziation der
an der die Künstlerin teilgenommen hat.
Kunstkritiker AICA.
In diesem Sinne ist die Unterscheidung zwischen
Reflexion der Wahrnehmung mit x und der Reflektion der Wahrnehmung bedeutsam.
Nehmen wir es buchstäblich: in den Fotoarbeiten von Karen Irmer wird unsere Wahrnehmung in Frage gestellt. Wie sehen wir mit welchen Mitteln welche Bilder? Karen Irmer
gibt mit ihren Bildern eine Antwort darauf, die gleichzeitig äußerst reduziert erscheint
und doch einen Kosmos erahnen lässt.
Thomas Wulffen, 2010
This surely must have something to do with the summing up of style and manner,
which is reflected in these photographic works. In their own specific way they remind me also of the early days of photography, as one can recognise in the work of
Henry Fox Talbot or Louis Daguerre. And I recognise an additional momentum in
Karen Irmer’s work, which specifically lets us look into the art of photography more
closely: it is not a miniature digital brush of a software programme, but the factual
movement in front of the negative. Distinguishing between digital and analogue
becomes more and more a background detail. Within these works the differentiation
and its significance can however be distinguished.
Thomas Wulffen
Here, the reality is artificial as well as natural. Yet the
Studied philosophy and lin­
digital body is only artificial. Face to face with physiguistics; Since 1982 working as
curator in Berlin, e.g. Kunstforum cal worlds in certain images of Karen Irmer, Edgar
Allan Poe and his Descent into the Maelstrom comes
International, Flash Art; Since
2001 contributing to the Berlin
to mind. This literary quality is part of these photos,
pages of FAZ-magazine and
because they ask to be deciphered and subsequently
­artist art magazine; President
some of them turn up as recovered palimpsests. At
of the German section of AICA
the same time, the pictures can be understood as
(International Association of
constructions
of truth, just like the title of a group exArt Critics).
hibition, wherein the artist has participated.
The differentiation between reflexion (with -x) of perception and the other
reflection of perception becomes rather significant in this framework. And let’s take
this literally: in the photographs of Karen Irmer our perception is being challenged.
How do we see with which means, which image? Karen Irmer does give us an answer
with her photographs, which seem fairly reduced at the same time that they have the
sensation of a cosmos.
Thomas Wulffen, 2010
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Draussen in mir
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Draussen in mir
Baum, 2008
C-Print
100 cm × 150 cm
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Draussen in mir
Draussen in mir
Wandern I, 2008
C-Print
100 cm × 150 cm
Wandern II, 2008
C-Print
100 cm × 150 cm
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Draussen in mir
Zweig, 2008
C-Print
100 cm × 150 cm
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Draussen in mir
Mensch, 2008
C-Print
100 cm × 150 cm
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Draussen in mir
Weise, 2008
C-Print
100 cm × 150 cm
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Draussen in mir
Weite, 2008
C-Print
100 cm × 150 cm
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Abends in mir
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Abends in mir
Tal, 2009
C-Print
40 cm × 60 cm
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Abends in mir
Abends in mir
Drei, 2009
C-Print
40 cm × 60 cm
Tannen, 2009
C-Print
40 cm × 60 cm
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Abends in mir
Abends in mir
Gnom, 2009
C-Print
40 cm × 60 cm
Licht, 2009
C-Print
40 cm × 60 cm
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Dickicht
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Dickicht
5 + 4, 2009
C-Print
24 cm × 16 cm
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Dickicht
Dickicht
2 + 7, 2009
C-Print
24 cm × 16 cm
6 + 3, 2009
C-Print
24 cm × 16 cm
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Dickicht
1 + 8, 2009
C-Print
24 cm × 16 cm
Von hier aus
Draussen in mir
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Loss of sight control
Kontrollverlust des Sehens The photographs of Karen Irmer transform at the edge
Karen Irmers Bilder changieren am Rande der Einbildung of imagination
Es ist ein Wintermärchen – und Spuk zugleich. Wie Eisblumen haben sich surreale Gewächse einer exotisch wirkenden Vegetation an den fünf hochformatigen Fenstern im
Obergeschoss des Museums festgefroren. Und so verwandelt sich auf nahezu magische
Weise der mit seinen Klinkersteinen sehr festungsartig wirkende Bau des Künstlerhauses Marktoberdorf zu einem Schauraum auf ein Vexierrätsel der Natur. Erst nach einer
Weile schält sich heraus, dass sich hinter Karen Irmers auf die Fensterscheiben aufgezogenen, transluzenten Fotoansichten keineswegs das Fantasy-Gebilde eines bizarr vereisten Dschungels verbirgt, sondern vielmehr ein etwas ungewöhnlicher Ausschnitt von
an sich gewöhnlichem deutschen Wald. Die rhizomartige Verflechtung der Naturformen,
die krause Struktur der Botanik ist in ihrer illusionären Erscheinung durch raffinierte
fotografische Spiegelungen respektive Doppelbelichtungen erzeugt. Karen Irmer transformiert den Ausstellungsraum in eine Wunderkammer der sich von ihrer obskuren Seite
darstellenden Waldlandschaft. Keine Frage, das Schattendasein der Natur und ihrer unheimlichen Kräfte ist ein Topos der Romantik. Doch in dem gleichen Maße, wie Karen
Irmer an der Konstruktion des Geheimnisvollen feilt, entschlüsselt sie das von ihr aufgestellte Mysterium auch wieder. Die Motive entstammen quasi dem Wald um die Ecke,
also einer hiesigen Menschen durchaus vertrauten Umgebung.
Karen Irmer wird durch das Erwecken von trügerischer Vertrautheit der Thematik der Gruppenausstellung Von hier aus auf ungezwungene und doch überlegte Weise gerecht. »Erst wenn man versucht, etwas Bekanntes anders anzuschauen, dann changiert es
auch«, sagt sie. Zudem stehen in ihrer räumlich präzisen Installation als Antwort auf die
nebulöse Durchlässigkeit der fotografisch illuminierten Fenster an der gegenüberliegenden Wand fünf Bildblöcke am Boden wie Gedenktafeln parat. Sie verdoppeln auf demonstrative Weise das Gemauertsein der Wand, indem die darauf erscheinenden Motive in
Schwarz-Weiß den Verbund aus dunklen Fugen und hellerem Stein imitieren und einen
zugemauerten Torbogen vorgaukeln. Tatsächlich gab es an dieser Stelle des fotografierten
Gebäudes einmal den Durchgang einer Tür. Das etwas Klaustrophobische des Ziegelbaus
Von hier aus
Einwand, 2009
Installation, C-Prints
each 310 cm × 100 cm
It’s a winter’s tale – and at the same time an eerie story. Surreal plant growth of
exotic vegetation has encroached upon five large portrait-shaped windows on the
upper floor of the museum like patterns of frost. And thus in an almost magical way
the Künstlerhaus Marktoberdorf as a sturdy stronghold with its ornate brickwork
changes into a showroom for picture puzzles of mother nature. Only after a short
moment is it revealed that Karen Irmer’s translucent photographic images on the
window panes are not at all a phantasy composition of a bizarrely iced jungle, but
rather unfamiliar cut-outs of a seemingly normal German forest. The illusionary
effect of this rhizomatic entanglement of natural forms and wrinkled botanic structure has been created by sophisticated photographic reflexions, more accurately
by double exposures. Karen Irmer transforms the exhibition room into a magical
space of an obscurely presented forest landscape. There is no doubt that the shadowy presence of nature with its enigmatic powers is a topos of romanticism. And
in the same manner in which Karen Irmer polishes the composition of this arcane
environment, she decodes her self-erected mystery over and over again. The motifs
originate seemingly from the forest around the corner, so to say, the completely familiar environment for a local person.
Because of her creations of deceptive familiarity Karen Irmer complies in
an informal and yet thought-out approach with the subject matter of the group exhibition Von hier aus. »Only when you try to observe something familiar in a dif­
ferent way, does it transform«, she says. In addition, five blocks with images like
commemorative plaques are arranged on the floor alongside the opposite wall. In
her accurate three-dimensional installation they serve as an answer to the nebulous
transparency of the photographic illuminated windows. They double the rock-solid
quality of the wall in a demonstrative way, whereupon the emerging motifs in black
and white imitate the bond between the darker joints and lighter stones and conjure
up a walled up archway. And actually a passageway with door did once exist at this
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wird durch das fotografische Trompe l’oeil der exakt in der Dimension der Fenster gehaltenen Tafeln zwar imaginär aufgebrochen, aber zugleich besiegelt. Irritierend neben dieser
Ambivalenz ist auch, dass bei der fotografischen Simulation einer Mauer kleine Narben,
Abnutzungsspuren, Schrammen eingeblendet werden. Karen Irmer holt urbane Duftmarken in den gemeinhin cleanen Museumsraum, erinnert wenn auch in homöopathischen
Dosen an potentielle menschliche Geschichten.
Im Grunde finden sich alle Kriterien, die Karen Irmers künstlerische Arbeit bislang auszeichneten, in der Installation für Marktoberdorf wie unter einem Brennglas fokussiert. Es geht ihr um die Transformation von bereits Vorhandenem, um das Herauskristallisieren von atmosphärischen Möglichkeiten, die in
einem Raum existieren. So hat sie zusammen mit Dunja
Bergmeir und Robert Strauch bereits 2002 und in einem zweiten Anlauf 2003 den Raum einer ehemaligen
­Polsterfabrik in Augsburg durch fotografische Interventionen in seiner schönen Hinfälligkeit zur Darstellung
gebracht. Gelbliche Farbspuren an der Wand, poetische
Risse im Putz oder auch drastischere Verfallsindizien
auf der Haut der Innenarchitektur wurden durch 12 Fo­
tografien mit identischen, aber koloristisch leicht veränderten Ansichten der Wandoberfläche gespiegelt. In
diesen Vortäuschungsmanövern lässt sich – wenn auch auf hochgradig abstrakte Weise
– das Doppelgängermotiv der Romantik wiederfinden. So minimal die Eingriffe in der Fabrikräumlichkeit auch sein mochten, es wurde eine gespenstische Atmosphärik des Vergehens und Versehens am Rande der schieren Einbildung beschworen.
»Ich konnte mich noch nie für High-End-Fotografie begeistern«, erklärt Irmer. Und
tatsächlich gelang es ihr immer wieder, mit experimentellen fotografischen Methoden
kleine Sensationen des Wahrnehmens, Erkennens und Wiederauslöschens ­herzustellen.
spot of the photographed building. Because of the photographic trompe l’oeil of the
exactly fitted plaques in the windows, the claustrophobic feature of the brick building is in fact hypothetically broken up while at the same time it is being endorsed.
One irritating effect next to this ambivalence is the small changes of texture, traces
of erosion, scratches, which become blended with the photographic simulation of a
wall. Karen Irmer brings into this generally sterile museum space urban identification marks that are even in small doses reminiscent of potential human stories.
All criteria, in which the artistic works of Karen Irmer so far have excelled,
find themselves unified in the Installation for Marktoberdorf as being under a magnifying glass. For her it is important to stress the
transformation of what is already there, to re-crys­
tallise atmospheric possibilities that exist in a sin­
gle space. In 2002 and a second time in 2003, together with Dunja Bergmeir and Robert Strauch,
she utilised the inner space of a former upholstery
factory in Augsburg in all its beautiful decay by
use of photographic interventions. Twelve almost
identical photographs with a slightly altered but
almost identical colour palette mirrored the walls
of the inner architecture characterised with yellow traces of paint, poetic cracks in the plasterwork and also more drastic decay.
This tendency of conjuring up visions reminds us – despite the strongly abstract
style – of the doppelganger motif during the Romantic period. However minimal the
interference in the factory environment might be, a ghostly atmosphere of decay
and deception was summoned at the edge of pure imagination.
»I was never really enthusiastic about high-end photography«, explains
Irmer. And actually she managed over and over again to construct with experimen-
Dabei geht sie oft wie etwa bei ihrer Installation Mehrmals täglich Hände waschen in tal photographic methods small sensations of observing, acknowledging and letting
der Münchner Akademie der Bildenden Künste in die gemeinhin nicht beachteten Ni- it fade away again. With that, she enters the usual not so well observed niches of arschen der Architektur. Ihre auf Transparentpapier ansichtigen Fotomotive deckten 2004 chitecture as with her installation Mehrmals täglich Hände waschen in the Academy
halbtransparent die Kacheln um ein Waschbecken im Akademieraum ab. Zwischen of Fine Arts in Munich. In 2004 her on transparent paper depicted photographic
Waschzwang und Gebilden von Seifenhaltern, die in Irmers Version allerdings eher an motifs covered only partially transparent the tiles around a washbasin in an acadKakerlaken erinnerten, öffnete sich ein von Wiederholungen gezeichnetes Panoptikum emy space. In between compulsive hand washing and constructions of soap holders,
irrationaler Alltäglichkeit und Rituale.
which in Irmer’s variant reminded us foremost of cockroaches, a repetitive waxwork
Für Aufsehen sorgte sie in jüngerer Zeit vor allem durch ihre silbrigen CPP-Prints, show full of irrational platitudes and rituals was exposed.
in denen sich die Formen nur schemenhaft vom Grund abzeichnen. Als seien die Bilder Karen Irmer caused in earlier times quite a stir with her silvery CPP-prints,
mit fettem Graphitstift übermalt wor­
wherein the shapes only showed
den, lassen sich erst unter Veränderung
up dimly against the backdrop
des Blickwinkels all die Dinge identifisetting. It is like the pictures have
zieren, die auf dem Bild enthalten sind.
been drawn over with a thick charOft genug handelt es sich um Unorte
coal pencil so the objects in the picoder auch Unrat, den sie mit ihrer Foto­
ture let themselves be identified
grafie geradezu alchemistisch veredelt.
only under a change of perspecIn der Verunklärung der Motive erhält
tive. Quite often discarded spaces
die Ansicht der Hagia Sophia die gleior random waste are dealt with,
che Bildwertigkeit wie ein Gartenhaus
which Irmer almost alchemistical
mit davor abgestellten Plastikstühlen.
ennobles with her photography. In
»Es ist ein Lehrstück, wenn man beweisen will, dass Fotografie keine Imitation der Na­ the entanglement of motifs the portrayal of the Hagia Sophia in Istanbul gets the
tur ist«, sagt Karen Irmer. Ihre Fotografien besitzen durch das Transzendentmachen des same image value as a portrayal of a gazebo with plastic chairs in front of it. »It is a
Gegenständlichen eine geradezu malerische Attraktivität. Sie schließt dabei mit ihrem didactic process if you want to prove that photography is not an imitation of nature«,
Silberblick auf die Dinge des gewöhnlichen Lebens an die Pionierzeit der Fotografie an. says Karen Irmer. Her photographs contain an almost picturesque charm through
An eine Experimentierphase, als man sich mit den versilberten und polierten Platten der attributing a transcendent quality to everyday objects. With her silver eye on comDaguerrotypien behelfen musste, um der Wirklichkeit einen reflektierenden und deshalb mon objects in everyday life, she associates herself and her work with the pioneering
auch nobel zweideutigen Abdruck abzutrotzen. Doch Karen Irmers Bilder lassen einen era of photography: a linking to the experimental phase when one had to help one-
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nach einer Weile vollends in die Sphäre des Traums abtauchen. Bekanntlich herrscht da
die Unberechenbarkeit des nächsten Augenblicks vor, denn jederzeit kann die vermeintliche Sicherheit der Lokalität zu einem beunruhigenden oder gar unheilvollen Szenarium
umkippen.
Birgit Sonna, 2008
self with silvery and polished plates of the daguerreotypes to extract out of reality a
reflecting and thus a refined ambiguous print. Yet Karen Irmer’s photographs cause
someone ultimately to submerge fully in a dreamy atmosphere. And one knows that
right there the unpredictable next moment reigns, because at any time the assumed
safety of the premises tips over to a perturbed and even ominous scene.
Birgit Sonna, 2008
Dr. Birgit Sonna
Kunsthistorikerin und -kritikerin.
Arbeitet als Korrespondentin für
das Kunstmagazin ART und als
Kunstberaterin. Lebt in Berlin.
Dr. Birgit Sonna
Art historian and critic.
Correspondent for art magazine
ART; Works as art consultant;
Lives in Berlin.
Von hier aus
Einwand, 2009
Installation, C-Prints
each 310 cm × 100 cm
74
Karen Irmer
1974
2012
Amsterdam, Galerie Bart, Zweigstelle Berlin @ Galerie Bart
2012 Augsburg, H2 – Zentrum für Gegenwartskunst im Glaspalast, behind
75
mit Ursula Oberhauser und Jürgen Paas
landscape, mit A. Khoroshilova, T. Paglen, Reynold Reynolds, E. Rokni u.a.
Augsburg, Ecke Galerie, Karen Irmer und Sigurd Rompza
2011 Berlin, Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., EHF 2010
Bobingen,
Kunstverein
Bobingen,
nicht
zu
sehen
Berlin, Georg-Kolbe-Museum, HotSpot Berlin – Eine Momentaufnahme
2011
Tel
Aviv,
Fresh
Paint
Contemporary,
The
Principle
of
Moments
München, showroom von art-report, Save Japan
Berlin, Zweigstelle Berlin, Von Jedem das Beste
mit Uriel Miron
Berlin,
Zweigstelle
Berlin,
nicht
zu
sehen
Augsburg, H2 – Zentrum für Gegenwartskunst im Glaspalast Augsburg
2010
2010
Essen,
Raum3,
Himmel
sehen,
mit
Angela
Stauber
50 Jahre Kunstförderpreis Augsburg
Basel, Scope Basel Art Fair/Zweigstelle Berlin, Karen Irmer
München, Mariandl/Kulturreferat der Stadt München, Zimmer frei
2009
Berlin, Zweigstelle Berlin, draussen in mir
Miami, Galerie Schuster, Berlin Next Generation
2008
2009
Augsburg,
H2 ­
–
Zentrum
für
Gegenwartskunst,
Karen
Irmer
München, Lothringer 13, Städtische Kunsthalle München, Ein Überblick
München,
Weltraum,
Sein
und
Nichts,
mit
Barbara
Ullmann
Gongju (South-Korea), Limlip Museum, 6th Gongju International Biennale
Neu-Ulm,
Landesgartenschau,
gestern
wars
kälter
als
draussen
Berlin, Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, Kunst im Untergrund
2008
Berlin,
Kunstkabine
Berlin,
wahrscheinlich
unwahrscheinlich
Goyang (South-Korea), Artmuseum Goyang, Goyang International Biennale
2007
München,
Akademie
der
Bildenden
Künste,
Debutanten
–
Karen
Irmer
Marktoberdorf, Kunsthaus, Von hier aus
Oberschönenfeld,
Volkskundemuseum
Oberschönenfeld
Berlin, Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., EHF 2010
gestern war heute morgen frische
Berlin, Zweigstelle Berlin, hier & jetzt
München,
Galerie
Zisko,
Nichts
scheint
wie
es
ist
Darmstadt, Darmstädter Tage der Fotografie, Konstruktionen der Wahrheit
2007
2006
Augsburg,
Neue
Galerie
im
Höhmannhaus
München, whiteBox, Klasse Scully 2007
München, Verein für Originalradierung e.V., Jahresgaben
Kunstsammlungen Augsburg, Was sein kann muss sein
Dachau,
KVD-Galerie,
lost
Galerie für Druckgrafik und Multiples
2004
Girona, Centre Cultural de la Merce, En un calaix no hi ha espai per a 5
2006
2005 Berlin, Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., Berlin, EHF – Ein Überblick
Dachau, Neue Galerie der Stadt Dachau, Gedankenstrich, Lichtraum, Sichtraum
Istanbul, Karsi Sanat Çalismalari Gallery, Next Generation
2003
Aichach, Kunstverein Aichach, Trabanten
in Friedberg (Bayern), Deutschland geboren
born in Friedberg (Bavaria), Germany
Karen Irmer lebt und arbeitet in Augsburg, Deutschland
Karen Irmer lives and works in Augsburg, Germany
1995 – 2000 Hochschule Augsburg, Diplom Kommunikationsdesign
University of Applied Sciences, Augsburg, Germany
Diploma Communications Design
2000
École Supérieure des Arts Décoratifs de Strasbourg
Fachbereich Kommunikation/Illustration, Straßburg, Frankreich
École Supérieure des Arts Décoratifs de Strasbourg
Communication/Illustration Faculty, Strasbourg, France
2000 – 2007 Akademie der Bildenden Künste München bei Gerd Winner,
Dieter Rehm und Sean Scully, Diplom Freie Kunst, 1. Staatsexamen
Academy of Fine Arts Munich, Germany under Gerd Winner,
Dieter Rehm and Sean Scully, Diploma Fine Arts, State Examination
2003Arbeitsaufenthalt Lyon, Frankreich
Study visit in Lyon, France
2006Arbeitsaufenthalt Seoul, Süd-Korea: Vortrag und Workshop am
Samsung Art and Design Institute sadi, Seoul, Süd-Korea
Study visit in Seoul, South-Korea: Lecture and workshop at the
Samsung Art and Design Institute sadi, Seoul, South-Korea
2006 – 2010 Lehrauftrag für Visuelle Kommunikation, Hochschule Augsburg
Lectureship for visual communication, foundation course
University of Applied Sciences, Augsburg, Germany
2011 Lehrauftrag für Visuelles Gestalten, Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät, Lehrstuhl für Kunstpädagogik, Universität Augsburg
Lectureship for visual art, Faculty of Philosophy and Social Sciences
Chair of Pedagogics of Art, Augsburg University
Einzelausstellungen | Solo-Shows
Ausstellungsbeteiligungen | Group-Shows
Biografie | Biography
Stipendien, Preise | Scolarships, Grants
Monografische
Kataloge | Monographs
2012 Bemis Center for Contemporary Art, Residenzprogramm
2007 Karen Irmer, Was sein kann muss sein
Omaha, Nebraska, U.S.A.
Neue Galerie im Höhmannhaus, Städtische Kunstsammlungen Augsburg
Bemis Center for Contemporary Art, Artist-in-Residence-program
2007 Karen Irmer, zweizweideutig, Akademie der Bildenden Künste München
Omaha, Nebraska, U.S.A.
2007 Karen Irmer, gestern war heute morgen frische
2011 Áras Éanna Residenzstipendium, Aran Islands, Irland
Volkskundemuseum Oberschönenfeld
Áras Éanna Artist in Residency, Aran Islands, Ireland
2004 Karen Irmer: lost, KVD-Galerie Dachau
2010Atelierförderung des Bayerischen Staatsministeriums, München
Studio grant awarded by the Bavarian ministry of culture, Munich
2007 Debutantenpreis, Akademie der Bildenden Künste München
Ausstellungskataloge | Exhibition catalogues
Bayerisches Staatsministerium, München
Debutant Prize awarded by the Academy of Fine Arts Munich
2011
HotSpot Berlin – Eine Momentaufnahme, Georg-Kolbe-Museum, Berlin
and the Bavarian ministry of culture, Munich
2009
Kunstförderpreisträger der Stadt Augsburg 1997 bis 2007
2006 Kunstpreis Schwaben, Arbeitsstipendium für Seoul, Süd-Korea
Städtische Kunstsammlungen Augsburg
Swabian Art Prize, study visit in Seoul, South-Korea
2009
6th Gongju International Biennale, Limlip Art Museum, South-Korea
EHF-Studienstipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., Berlin
2005
2009
Ein Überblick, Lothringer 13, Kulturreferat der Stadt München
EHF-Scholarship awarded by the Konrad-Adenauer-Foundation e.V. Berlin
2009
Goyang International Art Biennale, Goyang Art Museum, South-Korea
2003Arbeitsstipendium des Deutsch-Französischen Kulturrats, Berlin/Paris 2008
Von hier aus, Raumbezogene Arbeiten, Kunsthaus Marktoberdorf
Scholarship awarded by the German-French council for culture, Berlin/Paris
2008
Kunst im Untergrund, Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK), Berlin
2002 Förderpreis Bildende Kunst, Stadt Augsburg
2007 Konstruktionen der Wahrheit, Darmstädter Tage der Fotografie, Darmstadt
Augsburg Art Prize, Augsburg, Germany
2007
Shifting Borders, Junge Kunst in der BMW-Welt, München
2000 Studienstipendium des Bayerisch-Französichen Hochschulrates
2005
Gedankenstrich, Lichtraum, Sichtraum, Neue Galerie der Stadt Dachau
München/Paris
2003
Next Generation, Karsi Sanat Çalismalari Gallery, Istanbul
Scholarship of the Bavarian-French University-Center, Munich/Paris 2003 Trabanten, Kunstverein Aichach, Künstlervereinigung Dachau,
Kunstverein Ebersberg, Künstlervereinigung Fürstenfeldbruck,
Neuer Kunstverein Regensburg
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Gestern war’s kälter
als Draussen
2008
Installation/14 C-Prints
120 cm × 130 cm each
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Gestern war’s kälter
als Draussen
2008
Installation/14 C-Prints
120 cm × 130 cm each
Impressum | Imprint:
Dieser Katalog erscheint anlässlich der Ausstellung in der
Ecke Galerie Augsburg, vom 20. Januar 2012 bis 03. Februar 2012
This catalogue is published on the occasion of the exhibition
at the Ecke Galerie Augsburg 2012.
Texte | Texts: Thomas Elsen, Birgit Sonna, Thomas Wulffen
Übersetzung | Translations: Erick Aufderheyde, wordwords
Konzept & Gestaltung | Concept & Design: Karen Irmer, Robert Strauch
Fotografie | Photography: Nikolaus Steglich (Seiten 66, 67, 68, 73)
Seeblick, www.seeblick.tv; Karen Irmer (sonstige)
Schriften | Typefaces: Interstate; Vela von Holger Königsdörfer
Lazydogs Typefoundry, www.lazydogs.de
Papier | Paper: Luxo Art Samt 150g
Gesamtherstellung | Production: Kehrer Design Heidelberg
Herausgeber | Edited by:
© Kehrer Verlag Heidelberg Berlin, Karen Irmer and the authors
Kehrer Heidelberg Berlin
www.kehrerverlag.com
ISBN 978-3-86828-299-3
Vielen Dank | Thanks to:
Erick Aufderheyde, Thomas Elsen, Jürgen Hefele, Lorenz
Löbermann, Carina Orschulko, Wolfgang Reichert,
Natalija Ribovic, Ilja Sallacz, Angela Stauber, Robert
Strauch, Andreas Stucken, Florian Tutte, Anette Urban
Mit freundlicher Unterstützung von | With kind support by:
Ecke Galerie, www.eckegalerie.de
Arno-Buchegger-Stiftung
VR-Bank Lech-Zusam eG
Künstlervereinigung »Die Ecke«
Zweigstelle Berlin