64 SPORT - Alsharq

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64 SPORT - Alsharq
Foto: Michael Foley
SPORT
Für viele Pakistaner ist Cricket schon fast Glaubenssache.
Jugendliche spielen auf der Straße vor der
Badshahi-Moschee im Zentrum von Lahore.
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SPORT
Zwischen Religion
und Manipulation
Cricket ist nach Fußball die beliebteste Sportart weltweit:
Nicht nur im Ursprungsland England, auch auf dem indischen Subkontinent
stehen dabei Emotionen, nationale Befindlichkeiten und viel Geld auf dem Spiel.
Kein Wunder, dass die Wettmafia den Sport längst für sich entdeckt hat
Von Christoph Sydow
>> Mumbai, 2. April 2011. Seit mehr als sieben
Stunden läuft das Finale der Cricket-Weltmeisterschaft zwischen Gastgeber Indien und Sri
Lanka. Einsam steht Mahendra Singh Dhoni in
der Mitte des riesigen Stadionovals. Die Augen
der 33 000 Zuschauer im Stadion und knapp einer Milliarde Menschen vor den Fernsehschirmen in aller Welt richten sich auf den Kapitän
der indischen Nationalmannschaft. Er ist der
Schlagmann. Die nächsten Bälle, die auf ihn zufliegen, entscheiden darüber, ob Indien zum
zweiten Mal nach 1983 Cricket-Weltmeister
wird. Nuwan Kulasekara, der Bowler aus Sri Lanka, nimmt einen langen Anlauf, wirft und beschleunigt den Ball auf über 120 Stundenkilometer. Einmal prallt die Kugel vor Dhoni auf.
Der Schlagmann macht einen schnellen Ausfallschritt und trifft den lederumwickelten Korkball genau im richtigen Moment. Im hohen Bogen fliegt die Kugel über die gegnerischen Fänger hinweg auf die Tribüne.
Lange bevor der Ball zu Boden geht, brandet
unter den Zuschauern ohrenbetäubender Jubel
auf. Indiens Spieler liegen sich in den Armen,
über dem Stadion wird ein riesiges Feuerwerk in
den Nachthimmel geschossen. Eine ganze Nation ist am Ziel ihrer Träume, Indien nach 28 Jahren endlich wieder Cricket-Champion. Überall
im Land machen überglückliche Fans die Nacht
zum Tag, in Mumbai, Delhi und Kolkata strömen
hunderttausende auf die Straßen, um den Erfolg ihrer Mannschaft bis in die frühen Morgenstunden mit Hupkonzerten und Freudengesängen zu feiern. Auf dem Subkontinent ist
Cricket mit großem Abstand der beliebteste
Sport. Aber eigentlich ist das Spiel noch viel
mehr: »In Indien ist Cricket eine Religion«, erklärt Abhinav Matthew, Student aus dem
südindischen Chennai. Eine Religion mit Milliarden Anhängern. Eine Leidenschaft, die in dem
Vielvölkerstaat Menschen aller Konfessionen, aller Kasten und sozialen Schichten teilen – die
Straßenfeger genauso wie die Investmentbänker.
Die große Popularität des Sports ist ein Erbe
der britischen Kolonialzeit. Vermutlich im 16.
Jahrhundert wurde das Spiel in England erfunden, knapp 200 Jahre später brachten Seefahrer
der East India Company Cricket nach Indien.
Ende des 18. Jahrhunderts gründete sich mit
dem »Calcutta Cricket and Football Club« der
erste Cricketverein außerhalb der britischen Inseln. Schnell verbreitete sich die neue Sportart
im ganzen Land. Schon bald forderten indische
Teams die Kolonialherren heraus.
Der preisgekrönte indische Film »Lagaan«,
der 2001 für einen Oscar nominiert war, erzählt
die Geschichte eines Dorfes, das Ende des 19.
Jahrhunderts gegen ein Team der Briten antritt.
Viel steht auf dem Spiel: Gewinnt die Dorfmannschaft, werden der ganzen Provinz die drakonischen Steuern (Lagaan) erlassen. Das Spiel
gegen die Briten bringt Hindus, Muslime und
Sikhs zusammen und gemeinsam schlagen sie
die Kolonialherren. Ob diese Geschichte vor
knapp 130 Jahren wirklich so stattgefunden hat,
ist nicht überliefert. Fest steht, dass Lagaan bis
heute der erfolgreichste indische Film ist.
Der Traum vom Sieg
über die Kolonialherren –
im Film wird er wahr
Es liegt jedoch nicht allein an der Kolonialgeschichte, dass Cricket heute die Sportart Nummer Eins in Indien ist. Es ist auch die einzige
Sportart, in der sich die größte Demokratie der
Welt mit den Besten der Welt messen kann. Von
den letzten Olympischen Spielen in Peking 2008
brachten Indiens Sportler gerade einmal drei
Medaillen mit nach Hause. Zum Vergleich: Die
chinesischen Gastgeber standen 100 Mal auf
dem Treppchen. Im zweiten Nationalsport
Hockey hat Indien, immerhin der Rekordolympiasieger, den Anschluss an die Weltspitze längst
verloren. Bei der Weltmeisterschaft im eigenen
Land wurde das Nationalteam im vergangenen
Jahr nur Achter, die Qualifikation für das
Hockeyturnier der Olympischen Spiele 2012 in
London ist ungewiss. »Cricket ist praktisch der
einzige Sport in Indien, für den es adäquate
Sportstätten und gut ausgebildete Trainer gibt«,
berichtet Abhinav Matthew, der in seiner Freizeit selbst leidenschaftlicher Cricketspieler ist.
»Deshalb ist Cricket auch der einzige Mannschaftssport, in dem wir die Chance, haben Weltmeister zu werden.«
Auch Kashif Mahmood träumt davon, eines
Tages bei einer Cricket-WM aufzulaufen. Das
Problem: Kashif spielt nicht für Pakistan, das
Geburtsland seiner Eltern, sondern für die deutsche Cricket-Nationalmannschaft. Der 21-jährige Wirtschaftsstudent aus Berlin ist das größte
deutsche Cricket-Talent. Alle Jugendteams von
der U-13 bis zur U-19 hat er als Kapitän aufs Feld
geführt, jetzt ist er der jüngste Spieler im Erwachsenen-Team.
Von der Weltspitze ist die Auswahl des Deutschen Cricket Bundes jedoch mindestens soweit
entfernt wie München von Mumbai. Im Mai
verpasste die Elf – beim Cricket stehen genauso viele Spieler im Team wie beim Fußball – von
Coach Keith Thompson in Botswana den Aufstieg in die sechste von acht Weltligen. In einem
Sechser-Turnier gegen den Gastgeber sowie Japan, Kuwait, Nigeria und Norwegen musste sich
das Team mit dem dritten Platz zufrieden geben.
Im Cricket ist Deutschland das, was Indien
und Pakistan im Fußball sind – ein Exot. Etwa
1500 Spieler sind beim Deutschen Cricket Bund
registriert, jede indische oder pakistanische
Kreisauswahl kann aus einem größeren Reservoir an Talenten schöpfen. Dazu kommt:
»Cricket kann man nicht lernen, das Spiel muss
von Geburt an in dir stecken.« Davon ist Kashif >>
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Foto: Viju Agnani
SPORT
KLEINE CRICKET-REGELKUNDE
Im Mittelpunkt des Cricket steht das Duell
zwischen dem Werfer, dem »Bowler«, und
dem Schlagmann, »Batsman«. Der Bowler
versucht mit seinem Wurf ein Ziel, das
»Wicket«, bestehend aus drei Holzstäben,
die hinter dem Schlagmann im Rasen
stecken, zu treffen. Wenn er das schafft,
scheidet der Batsman aus und ein Mitspieler rückt nach. Sind alle Spieler eines Teams
ausgeschieden, wechseln die Mannschaften die Rollen. Andernfalls passiert das nach
einer vorher festgelegten Zahl von Würfen.
Der Schlagmann versucht seinerseits
möglichst lange, sein Wicket zu schützen
und dabei viele Punkte zu sammeln. Dafür
muss er den geworfenen Ball wegschlagen.
Schlägt er den Ball über die Spielfeldgrenzen hinaus, ohne dass die Kugel den Boden
berührt, erhält sein Team sechs Punkte.
Berührt der Ball zuvor einmal den Rasen, bekommt er vier Punkte. Gelingt es dem
Schlagmann nicht, die Kugel hinter die Spielfeldgrenzen zu schlagen, so kann er dennoch Punkte sammeln, in dem er mit seinem Mitspieler möglichst oft die Plätze
tauscht, solange die gegnerische Mannschaft den Ball nicht gefangen und zum
Bowler zurückgeworfen hat.
Mahmood überzeugt. Wenn diese These stimmt,
dürfte es dem deutschen Team schwerfallen, jemals in die Elite der großen Nationen vorzudringen, deren Talente die Cricketbegeisterung
mit der Muttermilch aufsaugen. In der aktuellen deutschen Nationalmannschaft spielen auch
deshalb ausschließlich Akteure, die in England,
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Indien, Sri Lanka, Pakistan oder Bangladesch
geboren wurden, oder deren Eltern aus diesen
Ländern stammen. In der Kabine wird ein Kauderwelsch aus Deutsch, Hindi, Urdu und Englisch gesprochen. Während in der deutschen
Fußballnationalelf Profis mit Migrationshintergrund immer noch von den Medien bestaunt
werden, wartet das deutsche Cricketteam noch
auf den ersten Nationalspieler ohne ausländische
Vorfahren.
Doch warum ist es augenscheinlich so schwierig, ein guter Cricketspieler zu werden, also ein
Spiel zu beherrschen, dass für den Laien einfach
nur aus Werfen und Schlagen besteht? »Cricket
wird mit dem Kopf entschieden, nicht mit dem
Körper«, erläutert Nachwuchstalent Kashif
Mahmood: »Es ist ein bisschen wie Schach.«
Weniger die körperliche Fitness, sondern vielmehr die mentale Stärke und taktische Raffinesse der einzelnen Spieler bestimme über Sieg
und Niederlage. Hinzu kommen Konzentration und Ausdauer. Ein WM-Spiel ist auf 300
Würfe pro Team angesetzt und kann leicht bis
zu acht Stunden dauern. Bei den so genannten
Test Matches, der Königsdisziplin des Cricket,
stehen sich die Mannschaften gar fünf Tage lang
gegenüber, lediglich unterbrochen von den traditionellen Lunch- und Teepausen. Impulsive
Heißsporne, die nach einem misslungenen Wurf
die Nerven verlieren, kann kein Cricketteam in
seinen Reihen gebrauchen. So verwundert es
auch nicht, dass sich unter dem Trikot zahlreicher Weltklassespieler ein kleines Bäuchlein
wölbt und viele noch mit fast 40 Jahren zur
Weltelite gehören.
»Cricket wird mit
dem Kopf entschieden,
nicht mit dem Körper«
Das Duell beider Teams beginnt, lange bevor
der erste Ball geworfen wird, mit dem Münzwurf. Die Mannschaft, die diesen gewinnt, darf
aussuchen, ob sie zuerst werfen oder schlagen
möchte. Bei der Entscheidung sind viele Faktoren zu berücksichtigen. Wie stark ist der Wind?
Wie schnell ist der Platz? Wie verändern sich
die Bedingungen möglicherweise bei einem
Spiel, das den ganzen Tag dauern wird? Wie lange dauert es nach Einbruch der Dunkelheit, bis
sich Tau auf den Grashalmen absetzt und das
Spielfeld dadurch nasser und schneller wird? All
diese Punkte gilt es zu beachten.
Dann muss der Mannschaftskapitän über die
Einteilung der Werfer und Fänger entscheiden.
Mit welchem Bowler hat der Schlagmann eher
Probleme? Mit dem Werfer, der den Ball hart
aber gerade wirft, oder mit einem sogenannten
Spinbowler, der die Bälle raffiniert anschneidet
und sie dadurch schwer berechenbar macht?
Der Schlagmann wiederum muss in Sekundenbruchteilen ausrechnen, wie der Ball bei
ihm ankommen wird. Gleichzeitig muss er aus
den Augenwinkeln erkennen, wie sich die Fänger des gegnerischen Teams platzieren, um zu
verhindern, dass die seinen geschlagenen Ball
sofort auffangen. Für den Laien ist die Komplexität des Spiels schwer zu entschlüsseln, aber
gerade sie führt zu erhitzten Debatten auf Schulhöfen und in Teehäusern zwischen Lahore und
Chittagong.
Wie wichtig die richtige Taktik im Cricket
ist, habe die jüngste Weltmeisterschaft eindrucksvoll bewiesen, so Kashif Mahmood: »Indien hatte von allen Teams die besten Schlagmänner, aber die schlechtesten Bowler. Sie haben trotzdem gewonnen, weil sie ihre Bowler
taktisch sehr clever aufgestellt haben.« Doch
möglicherweise war Indiens WM-Triumph
nicht nur das Ergebnis einer schlauen Taktik,
sondern hatte auch andere Gründe. Besonders
in Pakistan kursiert ein schwerwiegendes
Gerücht: Das Halbfinale zwischen den beiden
Staaten soll manipuliert gewesen sein. Auch
Kashif glaubt, dass bei der Partie unter den Augen der beiden Regierungschefs Singh und Gilani nicht alles mit rechten Dingen ablief. Mehrere Bälle, die Pakistans Spieler leicht hätten
fangen können, seien ihnen plötzlich aus den
Händen geglitten. Der Video-Schiedsrichter,
der nach einer strittigen Entscheidung von den
Indern zur Hilfe gerufen wurde, habe eine offensichtliche Fehlentscheidung zu Ungunsten
Pakistans getroffen und dadurch Indiens Sieg
begünstigt. Nach Einschätzung vieler Beobachter sind Wettbetrügereien und gekaufte Schiedsrichter im Cricket keine Seltenheit. Kashif
Mahmood gibt sich illusionslos: »Ich glaube
mittlerweile, dass fast jedes zweite Spiel manipuliert wird.«
Erst im letzten Jahr geriet ausgerechnet die
pakistanische Cricketauswahl ins Zentrum eines gewaltigen Wettskandals. Gleich drei Spielern wurde vorgeworfen, in einem Match gegen England an bestimmten, vorher mit der
Wettmafia vereinbarten Punkten des Spiels, absichtlich ungültige Bälle geworfen zu haben, bei
denen bestimmte Spielfeldmarkierungen vorsätzlich übertreten wurden.
Die drei Nationalspieler wurden mit Hilfe
des inzwischen eingestellten englischen Boulevardblattes News of the World überführt und
für mehrere Jahre suspendiert. Die strafrechtlichen Ermittlungen laufen noch. Das gesamte
Ausmaß der Manipulationen ist bislang nicht
aufgeklärt worden. Spätestens seit dem diesen
Ereignissen gilt auch für den sich gerne so vornehm und aristokratisch gebenden Cricketsport: Der Verdacht spielt mit.
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