Materialsammlung - Theater Marburg

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Materialsammlung - Theater Marburg
Aladin und die
Wunderlampe
Materialsammlung
Spielzeit 2010/11
Inhalt1:
1.
Herkunft der „Märchen aus Tausendundeiner Nacht“
S. 3
1.1 Shahrayar
1.2 Scheherazade
1.3 Tausendundeine rettende Geschichte
2. Klassiker der Weltliteratur: Erzählungen aus „Tausend und eine Nacht“
S. 7
3. „Kinder brauchen Märchen“
S. 8
3.1 „Ein dürftiges Buch dummen Geschwätzes“: Von arabischen „Originalen“ und
europäischen „Übersetzungen“
S. 9
3.2 Heilen durch Erzählen: Die Rahmenerzählung von Tausendundeiner Nacht
S. 11
4. Scheherazades Zensoren
4.1 Kontroverse um „Tausendundeine Nacht“ in Ägypten
S. 14
4.2 Zensur: Streit um 1001 Nacht – Im islamischen Königreich Saudi-Arabien steht 1001
Nacht auf dem Index S. 16
4.3 Islamisten wollen „Tausendundeine Nacht“ zensieren
S. 17
5. „Tradition und Innovation“. Die Anwendung von 1001 Nacht als Medium der politischen und
sozialen Kritik in der europäischen und der arabischen Literatur
S. 18
5.1 Goethe, Scheherazade und die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht
S. 23
6. Kurd Laßwitz: Aladins Wunderlampe (1888)
7.
S. 25
Verfilmungen und musikalische Adaptionen von „Aladin und die Wunderlampe“
und die Bildende Kunst
1 Einige der Quelltexte sind gekürzt wiedergeben.
S. 33
1. Herkunft der „Märchen aus Tausendundeiner Nacht“
Im 8. Jahrhundert aus dem Persischen ins Arabische übersetzt, wurden im Laufe der Zeit weitere
Erzählungen verschiedener Herkunft in die Rahmenerzählung der „Alf Laila Wa Laila“ (1001 Nacht) eingefügt,
so zum Beispiel die Geschichten um den Kalifen Harun ar-Raschid, die aus arabischen Quellen stammen.
Der älteste erhaltene arabische Text ist die Galland-Handschrift, die um 1450 entstanden ist. Benannt nach
dem französischen Orientalisten Antoine Galland (1646–1715), der diese Handschrift 1701 erworben hatte,
publizierte er ab 1704 eine französische Übersetzung bzw. Adaption der Geschichtensammlung und leitete
damit die europäische Rezeption der „Märchen aus Tausendundeiner Nacht“ ein. Die Handschrift gelangte
nach seinem Tod 1715 in den Besitz der Bibliothèque du Roi, der heutigen Französischen Nationalbibliothek.
In den arabischen Ländern ist die Märchensammlung wiederholt dem Vorwurf ausgesetzt, unmoralische,
perverse und zügellose Elemente zu enthalten. Die Entscheidung eines ägyptischen Gerichts von 1985, die
Ausgaben einer unzensierten Fassung von „Tausendundeiner Nacht“ konfiszieren zu lassen, löste eine
kontroverse öffentliche Debatte aus. Das Werk wurde einerseits als eines der größten der Weltliteratur
bezeichnet, andererseits argumentierten seine Gegner damit, dass nur der Koran den Stellenwert einer
heiligen und damit unantastbaren Tradition für sich beanspruchen könne.
1.1 Shahrayar
Schahriyâr (persisch), König einer ungenannten Insel „zwischen Indien und China“, ist so schockiert von der
Untreue seiner Frau, dass er sie töten lässt und seinem Wesir die Anweisung gibt, ihm fortan jede Nacht eine
neue Jungfrau zu bringen, die jedoch jeweils am nächsten Morgen umgebracht werden soll.
1.2 Scheherazade
(auch Scharsad von persisch schahrzād), ist die Tochter des Wesirs, die Frau des Königs werden möchte, um
das Morden zu beenden. Sie beginnt, ihm Geschichten zu erzählen. Am Ende der ersten Nacht ist sie an
einer so spannenden Stelle angelangt, dass der König die Fortsetzung unbedingt hören will und die
Hinrichtung aufschiebt. In der folgenden Nacht erzählt Scheherazade die Geschichte weiter, unterbricht aber
am darauffolgenden Morgen wieder an einer spannenden Stelle. Von der Treue Scheherazades überzeugt
und von ihrer Klugheit beeindruckt, beschließt König Shahrayar am Ende, ihr das Leben zu schenken.
(http://www.shahrayar.de/pdf/Shahrayar_Info_Geschichte_web.pdf)
1.3 Tausendundeine rettende Geschichte
Ein düsteres Schicksal steht der Wesirstochter Scheherazade bevor: Sultan Scharyar, ihr künftiger
Ehemann, ist berüchtigt dafür, seine Frauen nach einer Nacht zu töten. Die schlaue Scheherazade aber
schmiedet mit ihrer Schwester Dinharazade einen Plan: Dinharazade soll nachts ins Gemach ihrer
Schwester kommen und um eine Geschichte bitten. Und so geschieht es: Nacht für Nacht zieht
Scheherazade den Sultan mit ihren Erzählungen in den Bann, bricht am spannendsten Punkt ab und rettet
so ihr Leben – tausendundeine Nacht lang…
[Mehrere Nächte schon hat Scheherazade den Sultan mit der Geschichte vom Kaufmann verzückt, dessen
Leben von einem Geist bedroht wird. Nun graut wieder der Morgen, doch Scheherazade zieht ihren Kopf
gekonnt aus der Schlinge…]
„… Hier bemerkte Scheherazade den Tagesanbruch und schwieg. Dinharazade sprach zu ihr: ‚O wie schön
und wundervoll ist deine Erzählung, meine Schwester.’ Scheherazade erwiderte: ‚Was ist dies im Vergleich zu
dem, was ich euch in der folgenden Nacht erzählen werde, wenn mein Herr, der König, mich leben lässt; es
wird noch weit wunderbarer, angenehmer und entzückender sein.’
Das Herz des Königs entbrannte vor Verlangen, die weitere Erzählung zu hören, und beschloss bei sich: Bei
Gott, ich lasse sie nicht umbringen, bis ich das Ende der Geschichte vernommen, und gehört habe, was aus
dem Kaufmann geworden, dann erst will ich sie, nach meiner Gewohnheit, gleich den übrigen Frauen töten
lassen. Er ging hierauf seinen Regierungsgeschäften nach und traf ihren Vater, den Wesir, der darüber sehr
erstaunt war. Bis zur Nacht blieb er im Diwan, ging dann wieder in seinen Palast zurück, begab sich zu Bette,
und nachdem er mit Scheherazade eine Weile geschlafen, sprach Dinharazade: ‚Ich beschwöre dich bei Gott,
meine Schwester! wenn du nicht schläfst, so erzähle uns eine deiner schönen Erzählungen, damit wir den
übrigen Teil der Nacht dabei durchwachen.’ Jene sagte: ‚Es macht mir Vergnügen und Ehre,’ und erzählte:
‚Man behauptet, o glückseliger König, dass, als der Geist den Kaufmann töten wollte, der erste Alte mit der
Gazelle auf jenen zuging und ihm Hände und Füße küsste, und also sprach: ‚O du Krone der Könige der
Geister, wenn ich dir erzähle, was mir mit dieser Gazelle widerfahren, und du meine Erzählung noch
wunderbarer findest, als das, was dir mit dem Kaufmann begegnet, wirst du mir zuliebe ihm ein Drittel seiner
Schuld verzeihen?’ ‚Recht gern,’ entgegnete der Geist. Und der Alte erzählte:
Geschichte des ersten Greises mit der Gazelle
‚Wisse, o Geist, dass diese Gazelle die Tochter meines Oheims ist; sie ist mein Blut und von Kindheit an
meine Frau, denn sie war erst zehn Jahre alt, als ich sie heiratete, und ist folglich erst bei mir mannbar
geworden. Ich lebte dreißig Jahre mit ihr, ohne mit einem Kinde beglückt zu werden; doch hatte ich während
dieser ganzen Zeit ihr immer viel Gutes erzeigt und sie geehrt. Aber ich kaufte noch eine Sklavin, die mir
einen Knaben gebar, schön wie der Mond. Jetzt wurde meine erste Frau eifersüchtig. Als mein Sohn zwölf
Jahre alt war, musste ich eine Reise unternehmen; ich empfahl ihn meiner Frau aufs angelegentlichste, ihn
und seine Mutter. Ein Jahr blieb ich aus. Während meiner Abwesenheit hatte meine Frau die Zauberkunst
gelernt; sie nahm meinen Sohn und verzauberte ihn in ein Kalb, ließ meinen Hirten kommen und übergab
ihm das Kalb und sagte: ‚Lass dieses Kalb mit den Stieren weiden.’ Dann verzauberte sie die Mutter in eine
Kuh und übergab sie ebenfalls den Hirten. Als ich nun bei der Rückkehr meine Frau nach dem Sohn und
seiner Mutter fragte, sagte sie mir, die Mutter sei gestorben und der Sohn vor zwei Monaten davongelaufen;
sie aber habe seither nichts mehr von ihm gehört.
Als ich diese Worte vernahm, entbrannte mein Herz über meinen Sohn und bekümmerte sich um die Mutter.
Ich stellte ein ganzes Jahr Nachforschungen nach meinem Sohn an. Nun kam das große Fest Gottes, ich
schickte zum Hirten hin und ließ ihm sagen, er möge mir eine fette Kuh bringen, damit ich das Fest feiern
könne. Er brachte mir meine verzauberte Frau. Als ich sie nun binden ließ und sie schlachten wollte, weinte
und seufzte sie: ‚Mbu! Mbu!’ und die Tränen liefen ihr über die Wangen herunter: ich war darüber erstaunt,
blieb gerührt vor ihr stehen und sagte dem Hirten: ‚Bringe mir eine andere.’ Da sagte meines Oheims Tochter:
‚Schlachte nur diese, denn er hat keine bessere und keine fettere, wir wollen sie daher am Festtage
verzehren.’ Ich ging wieder auf sie zu, um sie zu schlachten, aber sie schrie wieder: ‚Mbu! Mbu!’ Ich blieb vor
ihr stehen und sagte hierauf zum Hirten: ‚Schlachte du sie, statt meiner.’ Er schlachtete sie und zog ihr die
Haut ab, aber da fand er weder Fleisch noch Fett, es war nichts an ihr als Haut und Knochen.
Ich bereute es, sie geschlachtet zu haben, und sagte zu dem Hirten: ‚Nimm du sie, oder gib sie wem du
willst, und suche mir ein fettes Kalb heraus.’ Er nahm die Kuh und ging fort; ich weiß nicht, was er mit ihr
getan; dann kam er wieder und brachte mir meinen Sohn, die Seele meines Herzens, in der Gestalt eines
fetten Kalbes. Als mein Sohn mich sah, zerriss er das Seil, das an seinem Kopf befestigt war, sprang auf
mich zu und legte seinen Kopf auf meine Füße. Ich wunderte mich darüber, war gerührt und bemitleidete
durch eine geheime göttliche Kraft mein eigenes Blut. Mein Innerstes kam in Bewegung, als ich die Tränen
des Kalbes, meines Sohnes sah, wie sie über seine Wangen herabflossen und wie es dabei mit seinen
Vorderfüßen die Erde scharrte; ich ließ es nun los und sprach zu dem Hirten: ‚Lass dieses Kalb bei der Herde
und verpflege es gut und bring mir ein anderes!’ Da schrie meines Oheims Tochter, diese Gazelle hier:
‚Schlachte kein anderes als dieses Kalb!’ Ich erzürnte mich und sagte: ‚Ich habe dir schon gehorcht, als ich
die Kuh schlachtete, und es hat nichts genützt, nun werde ich dir aber bei diesem Kalb kein Gehör geben und
es nicht schlachten.’ Sie drang aber in mich und sprach: ‚Dieses Kalb muss geschlachtet werden;’ sie nahm
dann ein Messer und ließ das Kalb binden.
Scheherazade bemerkte nun den Tagesanbruch und hörte auf zu erzählen. Dinharazade sprach zu ihr: ‚O
meine Schwester, wie schön und wunderbar ist deine Erzählung.’ Scheherazade erwiderte: ‚Was ist dies im
Vergleich zu dem, was ich euch in der nächsten Nacht erzählen werde, wenn mein Herr, der König, mich
leben lässt; es wird noch viel wunderbarer, angenehmer und entzückender sein.’
Das Herz des Königs brannte vor Verlangen, die weitere Erzählung zu hören, und er beschloss bei sich: Bei
Gott, ich lasse sie nicht umbringen, bis ich das Ende der Geschichte vernommen und gehört habe, was aus
dem Kaufmann geworden […] Bis zur Nacht blieb er im Diwan, und dann ging er wieder in seinen Palast
zurück, begab sich zu Bette, und nachdem er mit Scheherazade eine Weile geschlafen, sprach Dinharazade:
‚Ich beschwör dich bei Gott, meine Schwester, wenn du nicht schläfst, so unterhalte mich mit einer deiner
schönen Erzählungen, damit wir den übrigen Teil der Nacht dabei durchwachen.’ Jene sagte: ‚Es macht mir
Vergnügen und Ehre.’ Da erwiderte Dinharazade: ‚Tu dies aber nicht, ehe dir unser König, Gott erhalte ihn
lange! die Erlaubnis dazu gibt.’ Als hierauf der König sagte: ‚Erzähle!’ da sprach Scheherazade:
Ich habe vernommen, o glückseliger König, dass der Alte mit der Gazelle zu dem Geiste sagte: ‚Ich nahm ihr
das Messer aus der Hand und wollte selbst mein Kind schlachten, da schluchzte und weinte es, legte seinen
Kopf auf meine Füße, streckte die Zunge heraus, gleichsam um mir ein Zeichen zu geben. Ich aber wandte
mich von ihm ab und ließ es los, denn mein Herz war zu gerührt. Hierauf sprach ich zu meiner Gemahlin: ‚Ich
empfehle dir dieses Kalb, das ich eben losgelassen.’ Sie gab sich zufrieden, als ich ihr versprach, es zum
nächsten Feste zu schlachten, und sie willigte ein, jetzt ein anderes zu töten.’
So verging diese Nacht. Am folgenden Morgen, als es hell geworden, kam der Hirte zu mir, ohne dass meine
Frau etwas merkte, und sagte: ‚Mein Herr, ich habe dir eine gute Nachricht zu bringen, wirst du mir deshalb
wohl ein Geschenk machen?’ ‚Du sollst eines haben,’ erwiderte ich; ‚erzähle nur!’ Da sagte er wieder; ‚Ich
habe eine Tochter, die zaubern kann und Beschwörungen gelernt hat; als ich gestern mit dem Kalbe, das du
freigelassen, nach Hause kam, um es mit den anderen jungen Stieren weiden zu lassen, betrachtete meine
Tochter dasselbe und weinte und lachte. Ich fragte sie: ‚Warum weinst und lachst du so?’ Und sie antwortete
mir: ‚Dieses Kalb ist der Sohn unseres Herrn, des Eigentümers dieses Viehes; er ist von der Gemahlin seines
Vaters verzaubert worden, darum lache ich. Weinen muss ich über seine Mutter, die sein Vater geschlachtet
hat.’ ‚Ich konnte kaum die Morgenröte erwarten, um dir diese gute Nachricht vom Leben deines Kindes zu
bringen.’
Als ich, o Geist, dies hörte, schrie ich laut auf und fiel in Ohnmacht. Nachdem ich wieder zu mir gekommen
war, ging ich mit dem Hirten in sein Haus, lief zu meinem Sohne, warf mich über ihn her, umarmte ihn und
weinte. Er wandte seinen Kopf nach mir, aus seinen Augen flossen Tränen und er streckte seine Zunge
heraus, gleichsam um mich auf seinen Zustand aufmerksam zu machen. Ich wendete mich hierauf zur
Tochter des Hirten und sagte zu ihr: ‚Wenn du ihn wieder vom Zauber befreien kannst, so schenke ich dir
mein Vieh und alles, was ich sonst besitze.’ Sie beteuerte mir, dass sie weder nach meinem Vieh noch nach
meinem anderen Besitztum gelüste. ‚Nur unter zwei Bedingungen,’ sprach sie, ‚will ich deinen Sohn befreien:
Erstens musst du mich mit ihm verheiraten, und zweitens musst du mir erlauben, die zu verzaubern, die ihn
in diesen Zustand versetzt hat, denn sonst werde ich immer ihre Bosheit und ihre Ränke gegen ihn zu
befürchten haben.’ Ich erwiderte: ‚Ganz gut, ich gebe dir und meinem Sohne noch mein Vermögen
obendrein; ebenso gebe ich dir volle Macht über die Tochter meines Oheims, die so gegen meinen Sohn
gehandelt und mich überredet hat, seine Mutter zu schlachten; ich will sie dir bringen, du magst mit ihr
verfahren, wie du willst.’ Sie antwortete: ‚Ich will ihr nur das zu kosten geben, womit sie andere speiste.’
Hierauf füllte sie eine Schüssel mit Wasser, sprach den Zauber darüber, beugte sich dann zu meinem Sohne
und sagte: ‚O du Kalb, bist du ein Geschöpf des Allgewaltigen, Allmächtigen, so bleibe unverändert! Bist du
aber treulos verzaubert, so verlasse diese Gestalt und nimm mit Erlaubnis des Schöpfers der Welt wieder
eine menschliche an!’ Sie bespritzte ihn dann mit dem Wasser aus der Schüssel, und er ward wieder ein
Mensch wie früher; es dauerte aber nicht lange, da fiel ich ohnmächtig auf ihn hin.
Als ich wieder zu mir gekommen war, erzählte er, was die Tochter meines Oheims, diese Gazelle hier, ihm
und seiner Mutter getan. Ich sagte ihm: ‚Nun, mein Sohn hat uns ein Wesen gesandt, das für dich, deine
Mutter und mich an ihr Rache nehmen wird.’ Hierauf verheiratete ich meinen Sohn mit der Tochter des
Hirten, die schön war wie der Vollmond, dabei sehr geschickt, gelehrt und kenntnisreich, viele Dichter
gelesen und Zauber und Schwarzkunst gelernt hatte. Sie verzauberte die Tochter meines Oheims hier in die
Gestalt einer Gazelle und sagte: ‚Dir zu lieb habe ich sie in eine schöne Gestalt verzaubert, damit ihr Anblick
dir nicht zum Abscheu werde.’ Und sie blieb Jahre und Monate bei uns; dann starb die Frau meines Sohnes,
die Tochter des Hirten, und mein Sohn reiste in das Land des jungen Mannes, mit dem dir dieses Abenteuer
begegnet ist. Ich ging nun, meinen Sohn zu besuchen, und nahm die Tochter meines Oheims, diese Gazelle
hier, mit mir, und so kam ich hierher zu euch. Dies ist meine Geschichte; ist sie nicht sonderbar und
wundervoll?’ ‚Nun’, antwortete der Geist, ‚ich schenke dir den dritten Teil seiner Schuld.’
Hierauf, o erhabener König, kam der zweite Alte, der mit den beiden schwarzen Hunden und sprach: Auch ich
will dir erzählen, was mir mit meinen Brüdern, diesen beiden schwarzen Hunden, widerfahren ist; du wirst
sehen, dass meine Erzählung noch wunderbarer und unglaublicher als die dieses Mannes ist. Wirst du, wenn
ich dir sie erzähle, mir auch einen Drittteil seiner Schuld schenken?’ ‚Jawohl,’ antwortete der Geist…“
Aus Band 1 der Übersetzung von Gustav Weil, siehe http://gutenberg.spiegel.de/index.php
(http://www.g-geschichte.de/pdf/plus/1001nacht_tausendundeine_rettende_geschichte.pdf)
Galland-Handschrift
(arabisches Manuskript des 14. Jahrhunderts, Bibliothèque nationale de France)
2. Klassiker der Weltliteratur: Erzählungen aus „Tausend und eine Nacht“
Sie haben viele von uns durch die Kindheit begleitet: Sindbad, Aladin und Ali Baba. Die arabischen
Geschichten sind exotischer, aber nicht weniger blutig als die Märchen der Brüder Grimm. Denn "Tausend
und eine Nacht" verdanken wir der Rachsucht eines Jungfrauen mordenden Sultans.
Sein Name ist Schariyar und er ist der Herrscher über die Sassaniden. Als er herausfindet, dass seine Frau
ihn betrügt, lässt er sie töten. Und weil er ein rachsüchtiger Sultan ist, will er das weibliche Geschlecht dafür
bestrafen. Er beauftragt seinen Wesir, ihm jede Nacht eine Jungfrau zu bringen, mit der er die Nacht
verbringen will, um sie am nächsten Tag zu töten - damit sie gar nicht erst die Gelegenheit bekommt, ihn zu
betrügen.
Die List der Scheherazade
Eines Tages tritt die Tochter des Wesirs, Scheherazade, an ihren Vater heran und bittet ihn, sie als nächste
zum Sultan zu führen: Sie wolle dem Morden ein Ende bereiten. Der Wesir gibt ihr nach und Scheherazade
bedient sich einer List, um nicht das Schicksal der anderen teilen zu müssen: Sie erzählt dem Sultan in der
Nacht eine so spannende Geschichte, dass Schariyar darauf brennt, das Ende zu hören. Doch das enthält sie
ihm vor und vertröstet ihn auf die nächste Nacht. Und so überlebt sie 1.001 Nächte. Schließlich hat sie mit
ihren Geschichten das Herz des Herrschers erobert und ihn von seiner Rachsucht befreit. Die beiden
heiraten und werden glücklich.
Von Indien über Persien und Arabien nach Europa
Dichtkunst kann Leben retten. Scheherazade ist nicht nur eine wunderschöne und äußerst belesene Frau sie erfindet mit ihrer Überlebensstrategie auch den heute sogenannten Cliff-Hanger, ein Stilmittel, ohne das
kein Drehbuchautor mehr auskommt. Sie erzählt die Geschichte von Aladin und dem Geist in der
Wunderlampe, von Ali Baba und der Räuberbande und von Sindbad, dem Seefahrer mit dem fliegenden
Teppich. Das erzählerische Vorbild für Sindbad könnte der berühmte chinesische Kapitän Zhen He gewesen
sein. Denn ab dem elften Jahrhundert wanderten nicht nur Handelswaren über die Ländergrenzen, auch
Geschichten verbreiteten sich auf diesem Weg. Die älteste Erzählung aus "Tausend und eine Nacht" stammt
wahrscheinlich aus Indien. Nach dem neunten Jahrhundert wurden die Geschichten in Persien und den
arabischen Ländern weitererzählt.
Im 18. Jahrhundert kam die Erzählungssammlung durch den Orientalisten Antoine Galland nach Europa, der
die älteste schriftliche Version der Sammlung erworben und übersetzt hatte. Inwieweit die eine oder andere
Geschichte von Galland selbst stammt, liegt im Unklaren - gut möglich, dass Ali Baba die Erfindung eines
Franzosen ist.
Ali Baba stieg nicht sogleich vom Baume herab. "Sie könnten", sprach er bei sich selbst, "etwas vergessen
haben, das sie wieder umzukehren nötigte und dann würden sie mich ertappen." Er verfolgte sie mit den
Augen, bis er sie aus dem Gesichte verloren hatte, und stieg zur größeren Sicherheit erst lange nachher
herab. Da er die Worte, kraft deren der Räuberhauptmann die Türe geöffnet und wieder geschlossen, wohl in
seinem Gedächtnisse behalten hatte, so wandelte ihn die Lust an, einen Versuch zu machen, ob sie
vielleicht dieselbe Wirkung haben würden, wenn er sie ausspräche. Er drängt sich daher durch das
Gesträuch, fand die Türe, die von demselben verdeckt war, stellt sich vor sie hin, sprach die Worte: "Sesam,
öffne dich!" und siehe da im Augenblick sprang die Tür angelweit auf.
http://www.br-online.de/br-alpha/klassiker-der-weltliteratur/tausend-und-eine-nacht-arabische-erzaehlungen-scheherazadeID125691269415.xml
3. „Kinder brauchen Märchen“
Bei genauer Lektüre der „Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht“, die von Frauen hassenden Königen,
Unzucht treibenden Ehefrauen, vergnügungssüchtigen Kalifen oder gevierteilten Dieben zu berichten
wissen, drängt sich unweigerlich die Frage auf, ob diese Geschichten überhaupt noch der Kinderliteratur
oder nicht vielmehr der vergnüglichen Erbauungsliteratur für Erwachsene zugehörig sind. Zumindest
beflügeln und beeinflussen sie, den Volksmärchen der Gebrüder Grimm nicht unähnlich, als Teil der Kindheit
die Gedanken, Gefühle und Phantasien ihrer Leser.
Josef von Hammer-Purgstall äußert sich darüber wie folgt:
„Tausend und eine Nacht! – Wen ergreift nicht eine süße Wehmut bei diesem Titel; wer fühlt sich nicht durch
den magischen Klang dieser vier Worte in die glücklichen Stunden des Frühlings unseres Lebens versetzt,
als der Genius der Märchen in unseren Busen den verwandten Genius ansprach, als unsere Phantasie noch
ungetrübt und uneingeschnürt von einer drückenden Wirklichkeit, sich leicht in das Zauberreich schwang,
das sich vor unsern kindlich-gläubigen Blicken
auftat, und wir uns so leicht mit den sinnvollen Gestalten, welche sich darin bewegen, befreundeten?“
(Ammann, Ludwig: Östliche Spiegel. Ansichten vom Orient im Zeitalter seiner Entdeckung durch den
deutschen Leser 1800–1850, Hildesheim usw. 1989, S. 81)
Einen verwandten Genius fanden die Märchen im Busen des Kindes Johann Wolfgang Goethe.
Möglicherweise haben Inhalt und Stil der von seiner Mutter Katharina Elisabeth vorgetragenen
Erzählungen sein Interesse am Orient erst geweckt und sein eigenes dichterisches Werk („West-östlicher
Divan“) inspiriert.
Der US-amerikanische Psychoanalytiker und Therapeut Bruno Bettelheim jedenfalls ist vom Nutzen der
Märchen für die geistige und persönliche Entwicklung des Kindes überzeugt, wie er im Titel der deutschen
Fassung seines 1977 erschienenen Buches programmatisch zusammenfasst: „Kinder brauchen Märchen“.
In der gesamten Kindheit, so Bettelheim, sei nichts so fruchtbar und befriedigend für die Herausbildung von
Vorstellungs- und Verstandeskraft wie das Volksmärchen. Seine hohen literarischen Qualitäten führten zu
jener Verzauberung, die Märchen im Leser auslösten. Wie keine andere Kunstform würden sie das Kind
gänzlich erfassen.
Anderenorts wird ihnen diese Wertschätzung hingegen nicht zuteil: In den arabischen Ländern bleibt die
Märchensammlung „Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht“ weiterhin dem Vorwurf
ausgesetzt, unmoralische, perverse und zügellose Elemente zu enthalten. Dabei liegt der Schwerpunkt der
Erzählungen nicht auf der obszönen Darstellung von Sexualität und Gewalt, sondern auf Aspekten religiöser
Hingabe und asketischer Frömmigkeit. Zu dieser Einsicht gelangt aber nur derjenige, der sich überhaupt erst
einmal zur Lektüre der Texte bereit erklärt.
Im Gegensatz zu arabischen Vorlagen wurden in den Sprachen des europäischen Zielpublikums aus den
Tausendundeinen Geschichten für Erwachsene gerne auch Kindermärchen angefertigt. In
Bombay, Kairo und Beirut dienten die Texte dagegen häufig zum Erlernen des Arabischen oder als
Schulbuchlektüre an christlichen Schulen. Diese Editionen wichen zum Teil deutlich von anderen Ausgaben
ab und wurden im Zuge der Zensur vollkommen unverständlich. Nach Klärung der Frage nach der
Zugehörigkeit der „Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht“ zur Kinderliteratur soll der Text selbst zur
Sprache kommen, um letzten Endes zu folgender Erkenntnis gelangen zu können: Das Tausendundeine
Nacht, wie es der Leser aus seiner Kindheit kennt, ist mehr Neuschöpfung europäischer Autoren als Werk
orientalischer Erzählkunst. Thierry Hentsch zieht daraus den Schluss: „The Orient is in our minds.“ – „Der
Orient existiert in unserer Vorstellung.“2
2 Freitag, Ulrike: „The Critique of Orientalism“, in: Bentley, Michael (Hrsg.): Companion to Historiography, London – New York 1997, S.
620–638, S. 620.
3.1 „Ein dürftiges Buch dummen Geschwätzes“: Von arabischen „Originalen“ und europäischen
„Übersetzungen“
Im Frühjahr 2004 erschien die jüngste deutsche Übersetzung von Tausendundeiner Nacht. Der von Claudia
Ott vorgelegte Text wird vom Verlag als „das arabische Original – erstmals in deutscher Übersetzung“
beworben. Gleichwohl ist in dieser Edition eine den meisten Lesern bekannte Erzählung wie „Aladin und die
Wunderlampe“, die sich in Enno Littmanns vollständiger, dem arabischen Urtext folgenden Ausgabe in
sechs Bänden (1921–1926) sehr wohl findet, nicht vorhanden. Somit gilt es, das Verhältnis von arabischem
Original und europäischen Ausgaben nach dem heutigen Stand der Forschung genauer zu beleuchten. Das
Augenmerk gilt dabei insbesondere der ersten Neuschöpfung in europäischer Sprache, der französischen
Publikation „Mille et une nuits[?]“ (veröffentlicht in zehn Bänden zwischen 1704–1717) von Antoine Galland
(1646–1715). Ihm gelang es, eines aus Syrien stammenden arabischen Manuskripts aus der 2. Hälfte des 15.
Jahrhunderts und der somit ältesten vorliegenden Handschrift von Tausendundeiner Nacht (Originaltitel:
„Kitab alf laila walaila, Das Buch der tausendundeinen Nacht) habhaft zu werden; der irakische Arabist
Muhsin Mahdi publizierte 1984 die vollständige kritische Edition der in der französischen Nationalbibliothek
aufbewahrten Handschrift. Mahdi zufolge handelt es sich bei Gallands Werk zu großen Teilen (drei von zehn
Bänden) nicht um eine Übersetzung, sondern um literarische Fiktion. Er ergänzte, da er den arabischen Titel
missverstand und glaubte tausendundeine Erzählung zusammenstellen zu müssen, seine angebliche
französische Übersetzung aus verschiedenen mündlichen und schriftlichen Quellen und dichtete einige gar
selbst hinzu. Das handelte ihm das Misstrauen seiner Zeitgenossen ein. Einer von ihnen, James Beattie,
äußerte sich über den Plagiator: „Ob die Geschichten wirklich arabische sind oder eher von Monsieur Galland
erfunden, habe ich nie richtig herausfinden können. Wenn sie orientalisch sind, sind sie jedenfalls mit
unverantwortlicher Lässigkeit übersetzt: der ganze Tenor der Geschichten entspricht der französischen Art.
Der Kalif von Bagdad wird ebenso wie der Kaiser von China in einem Zeremoniell angesprochen, wie es am
französischen Hof üblich ist.“3
Das arabische Manuskript aus dem 15. Jahrhundert enthält nur zweihundertzweiundachtzig Geschichten,
deren letzte mittendrin abbricht; tatsächlich war mit 'laila' (übersetzt „Tausend Nächte“) im Titel eine große
Zahl gemeint, die aber keinesfalls wörtlich zu nehmen ist, sondern aufgrund ihrer alliterierenden Wirkung
gewählt wurde. Gallands Werk war trotzdem ein großer Erfolg beschienen, da es durch Neuformulierungen,
Ausschmückungen, Straffungen des Erzählflusses, Überspringen überflüssiger Gedichte und Auslassung
möglicher anstößiger Textstellen dem Geschmack der Pariser Salons entsprach. Zudem galt die
Übertragung eines ausgangssprachlichen in einen zielsprachlichen Text weder als ungewöhnlich noch als
verwerflich. Europäische Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts nahmen für sich in Anspruch, korrigierend
in ihre Vorlagen eingreifen zu dürfen; sie sahen es geradezu als ihre Aufgabe an, in der Zielsprache ein
größeres Kunstwerk zu schaffen, als es in der Ausgangssprache vorzufinden war.
Der Primat lag auf der Anpassung an die Lesegewohnheiten des Zielpublikums und nicht auf der engen
Anlehnung an den Text der Ausgangssprache. Somit können alle europäischen Übersetzungen von
Tausendundeiner Nacht als individuelle Deutungen der Autoren gewertet werden. Die unentwegten
Neuauflagen, mit denen das Finden und Erfinden von Manuskripten einhergeht, sind in der Hauptsache
kommerziell begründet, wie ein merkwürdiger Vorfall rund um das Thema Angebot und Nachfrage zeigt, von
dem Hammer-Purgstall Zeugnis ablegt: „Ein englischer Reisender sei 1801, des Arabischen gänzlich
unkundig, aber laut Alf Laila wa-Laila rufend durch die Straßen von Kairo gezogen, und man habe ihm
tatsächlich eine Handschrift gebracht. Es sei die erste vollständige Handschrift überhaupt gewesen, auf die
ein Europäer stieß, doch sei sie kurz darauf bei einem Schiffbruch […] durch Wassereinwirkung unleserlich
geworden.“4
Die Volksmärchen aus Tausendundeiner Nacht, die über die Jahrhunderte zusammengetragen wurden,
dienten als Grundlage für das Verständnis von 'dem Orient', der in diesem Fall von China bis nach Ägypten
reichte. Die Vorstellung von einem einheitlichen, unveränderlichen, passiven Orient, auf den sich sowohl
positive als auch negative Wünsche und Vorstellungen projizieren ließen, hat das Denken und Fühlen der
Menschen in Europa und ihre wissenschaftliche Forschung maßgeblich beeinflusst. Die Leser des 18.
Jahrhunderts glaubten, in den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht ein geschlossenes Kulturmilieu
erkennen zu können, das historisch und geografisch identifizierbar war. Unmittelbarer Ausdruck dieser
Sichtweise sind außerdem die orientalisierenden Werke der europäischen schönen Künste des 18. und 19.
3 Irwin, Robert: Die Welt von Tausendundeiner Nacht, Frankfurt am Main – Leipzig 1997, S. 27.
4 Walther, Wiebke: Tausendundeine Nacht. Eine Einführung, München – Zürich 1987 S. 32.
Jahrhunderts. Zu nennen wären beispielsweise Mozart und Delacroix, Händel und Byron, Lessing und Hugo.
Im 18. Jahrhundert ließen zahlreiche Motive in den Geschichten sowie die Konstruktion der
Rahmenerzählung vermuten, der Urtext von Tausendundeiner Nacht sei indischer oder altpersischer
Herkunft. In Wirklichkeit jedoch wurde die Märchensammlung in der Frühzeit der islamischen Geschichte
aus verschiedenen Sprachen, Ländern und Kulturkreisen zusammengetragen. Gustav von Grunebaum
konturiert diese Entwicklung: „Sprache und Lokalkolorit verschleiern in wirksamer Weise den fremden
Ursprung. Islamischer Geist hat Geschichten jüdischer, buddhistischer oder hellenistischer Erfindung
durchdrungen; islamische Institutionen, islamische Sitten, islamischer Volksbrauch ersetzten ohne
Aufhebens die kulturellen Eigentümlichkeiten des Quellenmaterials und gaben der Sammlung jene
atmosphärische Einheitlichkeit, die für die islamische Zivilisation so bezeichnend ist, und die den
Beobachter daran hindert, auf den ersten Blick die bunte Parade heterogener Elemente zu erfassen, auf
denen sie aufgebaut ist… […] Der durchaus andere Kulturhintergrund und zumal die so gänzlich
verschiedene religiöse Atmosphäre erzwangen ein Zurechtrücken und Anpassen der überlebenden
Elemente, die auf Verdunkelung ihrer Herkunft hinwirken mußte. […] Indisches und persisches, jüdisches
und griechisches, babylonisches und ägyptisches Gut wurde mit echt arabischen Elementen in eins
geschmiedet.“5
Das Textcorpus, wie es heute vorliegt, wuchs zwischen dem 15. und Ende des 18. Jahrhunderts von einer
kleinen Sammlung relativ einheitlicher Erzählungen, die die Handschrift eines einzigen Erzählers tragen, zu
einer riesigen 'offenen' Sammlung heterogener Geschichten an. Sie vereint fiktionale Textgattungen wie
Märchen, Romane, Novellen, Sagen, Legenden, lehrhafte Geschichten, Humoresken und Anekdoten. Muhsin
Mahdi bemerkt zu dieser Vielfalt: „Was während des 13. und 14. Jahrhunderts als bescheidenes Büchlein
begonnen hatte, entwickelte sich zu einem Kontainer, fast möchte man sagen, einem Faß ohne Boden, in
das Schreiber all jene Geschichten hineinwarfen, die nicht zu den bekannten Prosawerken mittelalterlicher
arabischer Literatur gehörten.“6
Erste Hinweise auf schriftliche Fixierungen finden sich im 9. nachchristlichen Jahrhundert. Das syrische
Handschriftenfragment trägt den Titel „Kitab ƒihi hadith alf laila“ („Ein Buch mit Geschichten aus tausend
Nächten“). Die darin enthaltenen Erzählungen wurden mündlich weitergegeben und dienten der abendlichen
Unterhaltung. Auf die mündliche Erzählform verweist das so genannte „ungewöhnliche qala“, wobei es sich
um Einschübe außerhalb der Dialoge und des erzählerischen Zusammenhangs handelt, die jedoch auf
einen Erzähler verweisen, der alle Geschichten, auch die Rahmenerzählung, vorträgt (Beispiele für diese
Phrasen: 'Der Geschichtenerzähler spricht' oder 'Der Überlieferer erzählt'). Sie strukturieren den Text und
werden deshalb von den Kopisten hervorgehoben, um als visueller Leitfaden und Hinweis, der den
Vortragenden zu stimmlicher Veränderung veranlasst, einen Wechsel in der Erzählebene zu verdeutlichen, z.
B. am Ende eines Gedichtes oder nach Abschluss einer kleineren Erzählung, die in eine größere eingebettet
ist. Für die „Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht“ sind zwei Formen der Überlieferung bezeichnend: die
Weitergabe über schriftliche Quellen und die mündliche Wiedergabe durch professionelle Märchenerzähler.
Während die Manuskripte des 18. und 19. Jahrhunderts Ergebnisse der Arbeit gebildeter Herausgeber
darstellen, bedient sich das älteste arabische Manuskript einer 'dritten Sprache', die sich aus der
Umgangssprache einerseits und der Literatursprache andererseits zusammensetzt. In den späteren
Editionen haben die Herausgeber die Texte umgeschrieben, indem sie die Schreibweise einzelner Wörter
dem Hocharabischen anglichen, umgangssprachliche Wendungen durch literarische ersetzten, Dialoge
standardisierten und grammatikalische Strukturen den Regeln des klassischen Arabischen anpassten. Erste
Hinweise auf die Existenz einer arabischen Märchensammlung geben zwei Gelehrte des 10. Jahrhunderts,
wenngleich den Arabern bereits zu Mohammeds Lebzeiten bekannt war, dass die Perser eine Vorliebe für
Volksmärchen, insbesondere Tierfabeln besaßen. Da diese ergötzlicher als die Verse des Korans erschienen,
wurden den Überbringern von persischen Fabeln harte Strafen angedroht: Koran 31:6-7 „Unter den Menschen
gibt es manch einen, der ergötzende Unterhaltung einhandelt, um (die Menschen) vom Wege Gottes ohne
(rechtes) Wissen abirren zu lassen und ihn zum Gegenstande des Spottes zu nehmen. Für solche ist eine
schmähliche Pein bestimmt. Und wenn ihm unsere [Verse] verlesen werden, kehrt er sich hochmütig ab, als
hätte er sie nicht gehört, als wäre eine Schwerhörigkeit in seinen Ohren. So verkünde ihm eine schmerzhafte
Pein. […]“
Sowohl der Polyhistor al-Mas'udi als auch der Buchhändler aus Bagdad Ibn an-Nadim erwähnen im 10.
5 Grotzfeld, Heinz und Sophia: Die Erzählungen aus „Tausendundeiner Nacht“, Darmstadt 1984, S. 69–70.
6 Mahdi, Muhsin (Hrsg.): The Thousand and one Nights from the Earliest Known Sources, 2 Bde., Leiden 1984–1994, Bd. I, S. 8.
Jahrhundert ein arabisches Buch mit dem Titel „Hezar Aƒsaneh“ („Tausend Abenteuer“), das im Arabischen
>Alƒ laila< („Tausend Nächte“) heißt. Die Perser hätten die ersten Abenteuergeschichten verfasst und
daraus Bücher gemacht. Unter den Sassaniden sei jene Literatur stark verbreitet gewesen und dann von
Arabern, die Iran von jener Dynastie eroberten, ins Arabische übertragen und weiter entwickelt worden.
Derselbe Ibn an-Nadim urteilte über „Alƒ laila wa-laila“, es sei „ein dürftiges Buch dummen Geschwätzes“.
Als Teil der umgangssprachlichen Volksliteratur hielten gebildete Araber die Märchen für trivial, armselig und
albern. Trotzdem setzte die Sammlung „Alƒ laila wa-laila“ ihren Siegeszug fort und wuchs während der
abbasidischen Herschaft zwischen dem 8. und dem 13. Jahrhundert enorm, ergänzt vor allem durch
phantastische Abenteuergeschichten aus Ägypten. Doch auch in der Folgezeit kommunizierten die Texte
aus Tausendundeiner Nacht mit der Erzählliteratur, die sie in Raum und Zeit umgab (griechische Romane,
indische und persische Prosaliteratur, arabische biographische, anekdotische und Reiseliteratur), so dass
sich das Textcorpus bis Anfang des 19. Jahrhunderts stetig veränderte, nicht zuletzt durch den starken
Einfluss europäischer Herausgeber und Übersetzer, deren neu hinzugefügte Geschichten wiederum in die
arabischen Ausgaben übernommen wurden.
3.2 Heilen durch Erzählen: Die Rahmenerzählung von Tausendundeiner Nacht
Während über die Zusammensetzung und Herkunft der einzelnen Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht
nach wie vor gestritten wird, besteht doch Einigkeit hinsichtlich der Rahmenerzählung, die im Folgenden auf
ihre Leitgedanken hin überprüft werden soll. Vorab ein kurze inhaltliche Zusammenfassung: Zwei Könige,
Brüder, herrschen über entfernte Länder, der eine über Samarkand, der andere über Indien und China.
Šahriyar, der Ältere, und Šahzaman, der Jüngere, sind sassanidische Herrscher und gehören zur letzten im
Iran herrschenden Dynastie vor der Eroberung durch die muslimischen Araber. Als Šahzaman sich auf Bitten
seines Bruders auf den Weg zu ihm macht, kehrt er noch einmal um und kehrt in sein Schloss nach
Samarkand zurück. Dort findet er seine Frau in den Armen eines Küchenjungen. Er erschlägt sie beide und
setzt seine Reise fort. Vor Gram über das ihm angetane Unrecht wird er dünn und blass. Sein Bruder bemerkt
dessen Kummer und fordert ihn auf, davon zu erzählen. Doch Šahzaman schweigt. Eines Tages bricht
Šahriyar zur Jagd auf und lässt den leidenden Bruder in seinem Schloss zurück. Dort macht dieser eine
Entdeckung, die ihn schlagartig von seinem Kummer heilt. Heimlich beobachtet er, wie sich die Frau seines
Bruders mit zehn weißen Sklavinnen und zehn schwarzen Sklaven verlustiert.
Während die Sklaven mit den Sklavinnen Unzucht treiben, ruft ihre Herrin einen weiteren schwarzen Sklaven
herbei, der sich zu ihr legt. Šahzaman ist sofort von seinem Leiden befreit, denn seinem Bruder, der doch so
viel reicher und mächtiger ist als er selbst, geht es viel schlechter als ihm. Als dieser von der Jagd
zurückkehrt, bemerkt er natürlich, dass sein Bruder genesen ist. Auf Šahriyars Drängen berichtet dieser ihm
schließlich alles und er legt sich selbst auf die Lauer, um seine Gemahlin und seine Sklaven und Sklavinnen
bei deren schändlichem Treiben zu beobachten. Aus Wut und Empörung entschließt er sich sodann,
zusammen mit seinem Bruder seinem bisherigen Leben den Rücken zu kehren: „Finden wir jemanden,
dessen Unglück noch gewaltiger als unseres ist, so kehren wir zurück. Wenn nicht, streifen wir durch die
Länder und werden kein Verlangen mehr nach Königsherrschaft haben.“ Tatsächlich begegnen sie einem
mächtigen Dämon, den die von ihm entführte und gefangen gehaltene Frau überlistet und bereits mit
unzähligen Männern betrogen hat. Die Brüder kehren nach Hause zurück, und da „die Tücke von Euch
Weibern ungeheuerlich ist“, beschließt König Šahriyar sich niemals an eine Frau zu binden. Er tötet seine
Gemahlin, alle Sklaven und Sklavinnen und heiratet fortan jede Nacht eine andere, die jeden Morgen sterben
muss. Als seinem Reich die Jungfrauen ausgehen, bietet sich die älteste Tochter seines Wesirs zur Heirat
an. Šahrazad ist eine kluge, verständige, gebildete und weise junge Frau. Sie plant, den König entweder von
seinem Tun abzubringen oder ihn notfalls zu töten. Sollte ihr Plan misslingen, nimmt sie ihren eigenen Tod in
Kauf. Da der Wesir seine Tochter nicht von ihrem Vorhaben abbringen kann, lässt er sie den König heiraten.
Seine jüngere Tochter aber wird von Šahrazad verabredungsgemäß in das Gemach des Königs gerufen,
damit diese sie auffordern kann, ihr eine Geschichte zur Nacht zu erzählen. Somit beginnt der Erzählreigen,
der Šahrazads Leben rettet und den König von seinem Hass auf die Frauen erlöst.
Nachweislich hat die Rahmenerzählung ihren Ursprung in Indien. Sowohl das Grundthema „Aufschub von
irgendetwas durch Erzählen“, das nicht nur den dritten Prolog der Rahmenerzählung bestimmt, sondern in
den einzelnen Geschichten immer wieder auftritt, als auch das Strukturprinzip eines Rahmens selbst sind
indischer Herkunft. Neben diesen beiden Grundprinzipien, die für die Sammlung insgesamt geltend gemacht
werden können, ist eine weitere Leitidee der Rahmenerzählung in der Schwere der Kränkung zu sehen, die
sich von mal zu mal steigert.
Zuerst wird der jüngere, weniger mächtige König Šahzaman von seiner Frau mit einem Küchenjungen
betrogen, dessen Hautfarbe keine Erwähnung findet. Dann wird er selbst Zeuge der viel größeren Schmach
seines Bruders: Šahriyars Frau umgibt sich nicht nur mit zwanzig kopulierenden weißen Sklaven und
Sklavinnen, sondern sie selbst empfängt einen schwarzen Sklaven, der auf ihren Befehl wie ein Affe von
einem Baum springt. Die rassistische Komponente der Erzählung erreicht hier ihren Höhepunkt. Schwarze
Sklaven standen in den muslimischen Ländern auf der untersten Stufe der Rangordnung und verrichteten
zumeist niedere Dienste als Lastenträger, Hausdiener, Angestellte im öffentlichen Bad oder Eunuchen.
Šahriyar erfährt somit durch seine Frau eine tiefe Demütigung in seiner gesellschaftlichen Stellung,
Persönlichkeit und Männlichkeit. Gleichzeitig gerät die Erzählung durch ihre groteske Übersteigerung zur
Burleske; komisch, geradezu haarsträubend wirkt das Bild der massenhaften Untreue, die
Vorstellung von den Unzucht treibenden Sklaven und ihrer Herrin. Auf der Suche nach jemandem, dessen
Unglück noch gewaltiger ist als ihres, sprich eines noch mächtigeren männlichen Wesens, welches auf noch
ungeheuerlichere Weise von seiner Frau betrogen wird, stoßen die Brüder auf den Dämon. Er hatte eine
junge Frau vor ihrer Hochzeit entführt und sie in eine Truhe gesperrt, die er auf dem Grund eines Sees
verwahrte. Dennoch gelang es der Frau, sich an ihrem Entführer zur rächen, indem sie sich jeden Mann
nahm, der ihr begegnete, sobald der Dämon sie aus ihrem Verlies befreit hatte und eingeschlafen war.
Qualitativ erfährt die Schmach des Mannes dadurch eine Steigerung, dass der gewaltige Dämon von der
Frau mit Menschen betrogen wird, quantitativ dadurch, dass es, die Königsbrüder eingerechnet, nun nicht
mehr einer oder zehn, sondern hundert oder nach anderen Versionen sogar fünfhundertzweiundsiebzig
Männer sind, die seine Gefangene zum Beischlaf genötigt hat.
Eine Steigerung erfährt diese Erzählung zusätzlich durch den fast grausam zu nennenden Humor, mit dem
über die Geschichte des betrogenen Dämons berichtet wird. Šahriyar und sein jüngerer Bruder aber
begreifen nicht, dass sie den Dämon und damit letztlich sich selbst der Lächerlichkeit preisgeben, indem sie
seiner Gefangenen helfen, sich durch Beischlaf mit anderen Männern an ihrem Entführer zu rächen.
Sexueller Betrug, so die Quintessenz der ersten beiden Prologe der Rahmenerzählung, ist das Schlimmste,
was eine Frau einem Mann antun kann. Das Schlimmste, was ein Mann einer Frau antun kann, ist, sie zu
töten.
Mit Hilfe der im 20. Jahrhundert entwickelten Psychoanalyse lässt sich der Rahmenerzählung ein weiterer
Leitgedanke zuordnen, das >Heilen durch Erzählen<. Nach Bettelheim leiden die beiden Königsbrüder
aufgrund des Betrugs durch ihre Frauen an der Überzeugung, niemand könne sie mehr richtig lieben.
Šahriyar verliert jedwedes Vertrauen in die Menschheit und nimmt sich vor, keiner Frau mehr die Möglichkeit
einzuräumen, ihn zu betrügen. Erlösung erfährt er schließlich erst durch Šahrazad, die Tochter des Wesirs,
die ihm solange Geschichten erzählt, bis er nicht mehr das Bedürfnis verspürt, sie zu töten. Šahrazad rettet
sich und unzählige andere Frauen durch Geschichtenerzählen vor dem Tod.
Gleichzeitig heilt sie König Šahriyar von seinem Frauenhass und von dem Gefühl, nicht wirklich geliebt zu
werden und nicht mehr lieben zu können. Nur eine große Anzahl unterschiedlicher Erzählungen, die den
König immer wieder mit seinen eigenen Obsessionen konfrontieren, führt dazu, dass er von seiner tiefen
Depression befreit wird und seine zerfallene Persönlichkeit sich wieder integrieren kann. Durch die
persönlichkeitsverändernde Macht des Märchens, so Bettelheim, wird mörderischer Hass in tragfähige Liebe
umgewandelt.
Die Therapie, der Šahriyar unterzogen wird, besteht in dem Prozess seiner psychologischen und emotionalen
Gesundung durch das Erzählen von Märchen. Šahrazad kämpft um ihr Leben, um das Leben anderer junger
Frauen und nicht zuletzt auch um die Gesundheit und das Leben des Königs. Sie kämpft mit Worten, nicht
mit Taten! In den arabischen Texten werden ihre Eloquenz, ihre Belesenheit, ihre Höflichkeit, ihre Weisheit,
ihre Gewitztheit und ihre Klugheit hervorgehoben. Sie stellt keine schöne Heldin dar, sie wird in ihrer
Körperlichkeit ganz einfach nicht beschrieben, denn nicht ihr Körper, sondern ihr Geist ist wesentlich für die
Handlung der Geschichte. Männliche Autoren in Europa sahen über diese literarische Funktion der Šahrazad
gerne hinweg und korrigierten ihre Nacherzählungen entsprechend mit Beschreibungen ihrer körperlichen
Vorzüge. Sie erweckt Verlangen, aber es ist kein sexuelles, sondern ein Verlangen nach Wissen. Gemeint ist
ein Wissen darum, was als nächstes im Märchen geschieht, um seinen Ausgang. Šahrazad spielt die aktive
Rolle in diesem Drama, in dem Šahriyar im Bann ihrer Erzählung nur noch reagiert. Als Teil einer Erzählung
der Rahmenhandlung ist Šahriyar ebenso wie Šahrazad dabei gleichzeitig ein Zuhörer, der sich von den
erzählten Märchen aus der Realität in die Trance einer Traumwelt entführen lässt, in der es keine Angst,
keine Verzweiflung und keine Depression mehr gibt. Am Ende erwacht der König aus seiner Trance als an
Geist und Seele gesunder Mann. Somit hat die schöne Kunst des Erzählens den Sieg über die böse Tat des
Tötens errungen.
Weiterführende Literatur:
- Grotzfeld, Heinz und Sophia: Die Erzählungen aus « Tausendundeiner Nacht“, Darmstadt 1984.
- Irwin, Robert: Die Welt von Tausendundeiner Nacht, Frankfurt am Main – Leipzig 1997.
- Mommsen, Katharina: Goethe und 1001 Nacht, Frankfurt am Main 1981.
- Walther, Wiebke: Tausendundeine Nacht, München u. a. 1987. Ott 2004: Ott, Claudia (Übersetzerin): Tausendundeine
Nacht, München 2004.
Buchseite (Quelle: Hanebutt-Benz, Eva et. al. (Hrsg.): Sprachen des Nahen Ostens und die Druckrevolution. Eine interkulturelle
Begegnung, Mainz 2002)
Quelle:
http://www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de/veranstaltungen/ringvorlesungen/kinderliteratur/1001Nacht_web.pdf
4. Scheherazades Zensoren
4.1 Kontroverse um „Tausendundeine Nacht" in Ägypten“ von Samir Grees
Immer wieder werden in der arabischen Welt Stimmen laut, die "Tausendundeine Nacht" zensieren oder gar
verbieten lassen wollen, da sie die Märchensammlung anstößig finden - so auch in Ägypten, wo jüngst eine
Gruppe konservativer Anwälte gegen eine Neuauflage des Werkes geklagt hat.
Fundamentalisten ein Dorn im Auge: In Ägypten hatten religiöse Eiferer bereits 1985 mit einer Klage Erfolg,
als "Tausendundeine Nacht" zwischenzeitlich vom Markt genommen werden musste. Es gibt wohl kaum ein
Werk, das die Leser in der ganzen Welt so begeistert hat wie "Tausendundeine Nacht". Für manche rücken
die Geschichten von Scheherazade in der Beliebtheitsskala gleich hinter die Bibel oder die Dramen von
Shakespeare.
Etliche Schriftsteller berufen sich ausdrücklich auf die Geschichten aus "Tausendundeiner Nacht" und
erklären, von diesem aus dem Indischen, Persischen und Arabischen stammenden Werk beeinflusst worden
zu sein - so zum Beispiel Voltaire oder Borges, ganz zu schweigen von Goethe, wie dies etwa Katharina
Mommsen in ihrer Studie über den Dichterfürsten ausführlich dargestellt hat.
Ein rotes Tuch für Puritaner und religiöse Eiferer
Doch die Märchensammlung "Tausendundeine Nacht" war schon immer ein umstrittenes Werk, das oft der
Zensur zum Opfer fiel. So entschärfte bereits der französische Orientalist Antoine Galland erotische und
auch religiöse Passagen des Textes oder klammerte sie ganz aus, als er als erster Europäer Anfang des 18.
Jahrhundert das Werk ins Französische übertrug.
In der arabischen Welt nahm und nimmt man bis heute vor allem Anstoß an den vielen sexuellen Details des
Werkes, doch für einige ist das gesamte Werk ein rotes Tuch.
So steht "Tausendundeine Nacht" in Saudi-Arabien auf dem Index, und in Ägypten hat vor kurzem eine
Gruppe von Rechtsanwälten gegen eine Neuauflage des Werkes geklagt. Eine Neufassung müsse vor einem
Neudruck von "schamlosen sexuellen Worten" zu bereinigt werden, da sie "die Moral schädigten". Kinder und
Jugendliche sollten sie daher nicht lesen, wie Ayman Imam, einer dieser Rechtsanwälte, in einem Interview
sagte.
"Die islamische Kultur blühte erst mit der Freiheit auf"
Die umstrittene Neuauflage erschien in Kairo in einer preisgünstigen, staatlichen Reihe namens "AlDhakhair" (Die Schätze), die vom bekannten Romancier Gamal al-Ghitani herausgegeben wird. Al-Ghitani
sieht in dieser Klage eine Kampagne der Islamisten gegen ägyptische Intellektuelle insgesamt und einen
Versuch, die Regierung unter Druck zu setzen, damit sie das Werk verbietet.
Der renommierte Schriftsteller und Journalist Gamal al-Ghitani sieht in der Klage gegen seinen Verlag eine
Kampagne der Islamisten gegen ägyptische Intellektuelle. Im Interview sagt al-Ghitani: "Die Anklage richtet
sich zwar gegen 'Tausendundeine Nacht', in Wirklichkeit aber ist sie ein Teil der fundamentalistischen
Bewegung in Ägypten, die einen religiösen Staat gründen will."
Die Extremisten, fügt al-Ghitani hinzu, lehnen das arabische Kulturerbe selbst ab. "Sie sprechen und
beschlagnahmen alles nach ihrem Gutdünken im Namen der Religion. Dabei hat doch die islamische Kultur
ihre höchste Blüte in einer Zeit der uneingeschränkten Meinungsfreiheit erlebt."
Das sei der Grund, sagt er weiter, warum er diese Reihe gegründet habe. Er wolle "die einzigartigen Texte des
arabischen Erbes neu auflegen, die aufgrund des zunehmenden Einflusses der Wahhabiten in der Region
kaum mehr gedruckt werden dürften".
Weltweites Interesse an Scheherazades Geschichten
„Tausendundeine Nacht ist ein Teil des menschlichen Kulturerbes, wie Homers Illias und Odyssee“, sagt alGhitani weiter und verweist auf den internationalen Ruhm, den das Werk genießt. Deshalb interessieren sich
auch viele Universitäten auf der ganzen Welt für dieses Werk, wie z.B die Universität von Erlangen, die am 25.
Mai dieses Jahr diesem Werk eine internationale Konferenz widmet.
Eine andere große Konferenz fand in Abu-Dhabi im Dezember 2009 statt. "Ich war überrascht", sagt alGhitani, "welchen Einfluss Tausendundeine Nacht in Japan, Indien und Südostasien hatte. Das Werk ist
Weltliteratur, deshalb ist es die Aufgabe aller Intellektuellen auf der ganzen Welt, dieses Buch in Schutz zu
nehmen".
Für schriftstellerische Freiheit und gegen Zensur: Die bekannte Arabistin und "Tausendundeine Nacht"Übersetzerin lehnt textliche Veränderungen oder Streichungen dieses Klassikers der Weltliteratur strikt ab.
Dieser Meinung ist auch die deutsche Orientalistin Claudia Ott, die "Tausendundeine Nacht" aus dem
Arabischen 2004 neu übersetzt hat. Die bekannte Arabistin lehnte es strikt ab, dass man unter moralischen
Vorwänden Teile des Buches zensiere oder Sätze streiche.
Die Märchensammlung löst nicht zum ersten Mal heftige Diskussionen in Ägypten aus. 1985 gelang es einer
Gruppe von Islamisten, dass das Werk per Gerichtsurteil vom Markt genommen werden musste. Dieses Urteil
wurde jedoch im darauffolgenden Jahr durch ein Urteil auf höherer Instanz aufgehoben.
Im letzten Urteil wurden die Geschichten von Scheherazade als "berühmtestes Beispiel der arabischen und
islamischen Folklore" bezeichnet. Zwar könne man einige Worte aus diesem Werk streichen, sagte der
Vorsitzende Richter, doch wer sich das Buch nur deshalb kaufe, um jene sexuellen Passagen zu lesen, der
sei entweder krank oder dumm.
Samir Grees hat Germanistik und Übersetzungswissenschaft in Kairo und Mainz studiert. Er arbeitet als Journalist und Übersetzer. Er
hat zahlreiche Werke deutscher Literatur ins Arabische übertragen, u.a. "Ein liebender Mann" von Martin Walser, "Die
Klavierspielerin" von Elfriede Jelinek und "Der Kontrabass" von Patrick Süskind.
http://de.qantara.de/webcom/show_article.php/_c-299/_nr-796/i.html
4.2 Zensur: Streit um 1001 Nacht – Im islamischen Königreich Saudi-Arabien steht 1001 Nacht
auf dem Index von Anne-Beatrice Clasmann
KAIRO/ISTANBUL (BLK) – Kein Werk der orientalischen Literatur hat die Leser in aller Welt so sehr verzaubert
wie die Geschichte von Scheherazade, die den mordlustigen König Scharayar jede Nacht mit ihren farbigen
Erzählungen bei Laune hält: „Tausendundeine Nacht“ gilt als bedeutendes Stück Weltliteratur. Doch im
Orient wird dieses Meisterwerk, das Elemente aus Indien, Persien und der arabischen Welt enthält, wegen
seiner erotischen Passagen immer wieder angefeindet.
Im islamischen Königreich Saudi-Arabien steht „Tausendundeine Nacht“ auf dem Index. In Kairo befasst
sich der Generalstaatsanwalt gerade mit einer Klage gegen das Werk, die eine Gruppe von Anwälten
eingereicht hat. Die empörten Muslime fordern, die Verantwortlichen einer Behörde zu verurteilen, die
kürzlich eine vom Kulturministerium subventionierte Ausgabe auf den Markt brachte. Die zwei Bände, die
extrem günstig angeboten wurden, waren rasch ausverkauft. Ein Exemplar des Buches, das von hübschen
Sklavinnen, listigen Händlern und abenteuerlustigen Königen handelt, fiel auch den sittenstrengen
ägyptischen Anwälten – zwei Frauen und acht Männer - in die Hände. Am 17. April übergaben sie den
Justizbehörden eine Klageschrift. Darin zitieren sie einige Passagen aus dem Werk, die aus ihrer Sicht
anstößig sind und deshalb „der öffentlichen Moral schaden“. In diesen Auszügen geht es unter anderem um
erotische Spielchen und die Frage, wie man Erektionsprobleme beheben kann.
Zu den Intellektuellen, die in der Klageschrift genannt werden, gehört auch der bekannte ägyptische
Schriftsteller Gamal al-Ghitani („Das Buch der Schicksale“). „Diese Klage ist Teil einer Kampagne gegen
Intellektuelle“, sagt er. Die Islamisten hätten es aber nicht nur auf Kulturschaffende wie ihn abgesehen,
sondern auch auf die Regierung, die sie durch ihre Klage zwingen wollten, Position zu beziehen. Faruk Husni,
der ägyptische Kulturminister, hat dies auch schon getan. Er urteilte, die Forderung, „Tausendundeine
Nacht“ zu zensieren, sei ungefähr so absurd wie die Idee, Statuen und Reliefs des altägyptischen
Fruchtbarkeitsgottes Min zu zerstören. Min wurde teilweise nackt und mit Phallus (erigiertem Penis)
dargestellt.
„Natürlich ist ‚Tausendundeine Nacht“ ein großartiges Werk, aber man sollte einige der Begriffe aus dem
Bereich der Sexualität durch andere Wörter ersetzen. Das Arabische ist eine sehr reiche Sprache, deshalb
wäre es leicht, sprachliche Alternativen zu finden“, hält Magdi Abdul Halim Mohammed dagegen, der zu den
Unterzeichnern der Klageschrift gehört.
Der Kulturminister, der kürzlich mit seiner Kandidatur für den Posten des UNESCO-Generalsekretärs
gescheitert war, hat jedoch erklärt, er werde nicht zulassen, dass „dieses Stück Weltkulturerbe“ zensiert
wird. Dieser Meinung schließt sich auch die Arabistin Claudia Ott von der Universität Erlangen an, von der
2004 eine Neuübersetzung von „Tausendundeiner Nacht“ erschienen ist.
Ott fordert: „Selbstverständlich muss die arabische ‚Tausendundeine Nacht’ in ihrer gesamten, sehr
komplexen Überlieferungsgeschichte respektiert werden. Man darf nicht einfach hingehen und einzelne
Wörter zensieren.“ Es sei Unsinn, das Buch auf die sittlich anstößigen Stellen oder Worte zu reduzieren.
Schließlich stecke das Werk voller Koran-Zitate und der Islam sei „Grundlage der Lebensauffassung in den
Geschichten“.
Es ist nicht das erste Mal, dass sittenstrenge ägyptische Muslime die erotische Komponente der
Erzählungen von Scheherazade zensieren wollen. 1985 hatten Islamisten die Justiz mit einer illustrierten
libanesischen Ausgabe des Werkes konfrontiert, die in Ägypten verkauft worden war. Sie forderten das
Gericht damals auf, zu prüfen, ob der Verlag den authentischen Text veröffentlicht habe. Doch eine
verbindliche Standardfassung der spannenden Erzählungen, mit denen Scheherazade den König davon
abhalten will, sie zu töten, gibt es nicht. Vielmehr kursieren mehrere Versionen, zu denen auch die nun neu
veröffentlichte ägyptische „Bulak-Ausgabe“ zählt.
Die Islamisten hatten damals zunächst ein Verbot des Werkes bewirken können, dieses wurde jedoch im
Januar 1986 wieder aufgehoben. Der Richter sagte damals in seiner Urteilsbegründung, die erotischen
Passagen dürfe man nicht aus dem Zusammenhang reißen. Den Klägern gab er folgenden Satz mit auf den
Weg: „Wenn jemand das Buch nur zur Lektüre dieser Passagen erwirbt, dann muss er entweder krank oder
dumm sein.“
© Die Berliner Literaturkritik, 03.05.10
http://www.berlinerliteraturkritik.de/detailseite/artikel/streit-um-1001-nacht-islamisten-fordern-zensur.html
4.3 Islamisten wollen „Tausendundeine Nacht“ zensieren
Kairo/Istanbul (dpa) - Kein Werk der orientalischen Literatur hat die Leser in aller Welt so sehr verzaubert wie
die Geschichte von Scheherazade, die den König Scharayar jede Nacht mit ihren farbigen Erzählungen bei
Laune hält: "Tausendundeine Nacht" gilt als bedeutendes Stück Weltliteratur. Doch im Orient wird dieses
Meisterwerk, das Elemente aus Indien, Persien und der arabischen Welt enthält, wegen seiner erotischen
Passagen immer wieder angefeindet.
Im islamischen Königreich Saudi-Arabien steht "Tausendundeine Nacht" auf dem Index. In Kairo befasst
sich der Generalstaatsanwalt gerade mit einer Klage gegen das Werk, die eine Gruppe von Anwälten
eingereicht hat. Die empörten Muslime fordern, die Verantwortlichen einer Behörde zu verurteilen, die
kürzlich eine vom Kulturministerium subventionierte Ausgabe auf den Markt brachte. Die zwei Bände, die
extrem günstig angeboten wurden, waren rasch ausverkauft.
Ein Exemplar des Buches, das von hübschen Sklavinnen, listigen Händlern und abenteuerlustigen Königen
handelt, fiel auch den sittenstrengen ägyptischen Anwälten – zwei Frauen und acht Männer - in die Hände.
Am 17. April übergaben sie den Justizbehörden eine Klageschrift. Darin zitieren sie einige Passagen aus dem
Werk, die aus ihrer Sicht anstößig sind und deshalb "der öffentlichen Moral schaden". In diesen Auszügen
geht es unter anderem um erotische Spielchen und die Frage, wie man Erektionsprobleme beheben kann.
Der Kulturminister, der kürzlich mit seiner Kandidatur für den Posten des UNESCO-Generalsekretärs
gescheitert war, hat jedoch erklärt, er werde nicht zulassen , dass "dieses Stück Weltkulturerbe" zensiert
wird. Dieser Meinung schließt sich auch die Arabistin Claudia Ott von der Universität Erlangen an, von der
2004 eine Neuübersetzung von "Tausendundeiner Nacht" erschienen ist.
Ott fordert: "Selbstverständlich muss die arabische "Tausendundeine Nacht" in ihrer gesamten, sehr
komplexen Überlieferungsgeschichte respektiert werden. Man darf nicht einfach hingehen und einzelne
Wörter zensieren." Es sei Unsinn, das Buch auf die sittlich anstößigen Stellen oder Worte zu reduzieren.
Schließlich stecke das Werk voller Koran-Zitate und der Islam sei „Grundlage der Lebensauffassung in den
Geschichten“.
Es ist nicht das erste Mal, dass sittenstrenge ägyptische Muslime die erotische Komponente der
Erzählungen von Scheherazade zensieren wollen. 1985 hatten Islamisten die Justiz mit einer illustrierten
libanesischen Ausgabe des Werkes konfrontiert, die in Ägypten verkauft worden war. Sie forderten das
Gericht damals auf, zu prüfen, ob der Verlag den authentischen Text veröffentlicht habe. Doch eine
verbindliche Standardfassung der spannenden Erzählungen, mit denen Scheherazade den König davon
abhalten will, sie zu töten, gibt es nicht. Vielmehr kursieren mehrere Versionen, zu denen auch die nun neu
veröffentlichte ägyptische „Bulak-Ausgabe“ zählt.
Die Islamisten hatten damals zunächst ein Verbot des Werkes bewirken können, dieses wurde jedoch im
Januar 1986 wieder aufgehoben. Der Richter sagte damals in seiner Urteilsbegründung, die erotischen
Passagen dürfe man aus dem Zusammenhang reißen. Den Klägern gab er folgenden Satz mit auf den Weg:
„Wenn jemand das Buch nur zur Lektüre dieser Passagen erwirbt, dann muss er entweder krank oder dumm
sein.“
http://volksentscheid-deutschland.de/include.php?path=forumsthread&threadid=138&changestyle=1
5. "Tradition und Innovation". Die Anwendung von 1001 Nacht als Medium der politischen und
sozialen Kritik in der europäischen und der arabischen Literatur
Zu den wichtigsten Werken der arabischen Literatur, die eine enorm große Wirkung auf die deutsche und im
Allgemeinen auf die europäische Literatur im 18. und im 19. Jh. hatte, gehört das volkstümliche
Märchenbuch „Tausendundeine Nacht“. Kein Werk der orientalischen Literatur hat in Europa eine solche
Berühmtheit erlangt wie dieses. Der arabische Titel für diese Märchensammlung ist „Alf Laila wa Laila“,
wörtlich übersetzt Tausendundeine Nacht. In der englischen Übersetzung der Gallandschen französischen
Version im 18. Jh. trägt sie aber den Titel „The Arabian Night’s Entertainment“, „Die arabischen
Nachtunterhaltungen“, der in den späteren englischen Übersetzungen und Nachschlagwerken erhalten
blieb.(1)
Es ist schwierig, den Ursprung, die literarische Gattung und den Anfang der Niederschrift für diese
Geschichten genau zu bestimmen., denn tatsächlich existierte in Arabien oder im gesamten Orient nie eine
vollständige Originalsammlung von 1001 Nacht, sondern es wurden immer wieder bis ins frühe 19.Jh. dem
ursprünglichen Korpus, das wiederum auf älteren Sammlungen basiert, andere Geschichten hinzugefügt,
und auf diese Weise änderte sich im Laufe der Zeit der Geschichtsbestand dieser Sammlung immer. Die
Geschichten von Tausendundeiner Nacht haben ihren Ursprung in diversen Ländern des Orients, vor allem in
Indien, im Irak, in Persien, in Ägypten und in Syrien. Was diesen verschiedenen Sammlungen und Titeln
gemeinsam ist, sind sowohl die Andeutung eines unendlichen Buches mit unzähligen Geschichten, die dem
Titel zu entnehmen sind, als auch das Loskauf-Motiv, das in der Rahmengeschichte von dem König
Schehrijar und seiner Frau Königin Schehrezad (Scheherezade) erschienen ist. Die Rahmengeschichte aus
dem buddhistischen Erzählgut(2) berichtet von dem König Schehrijar, der seine erste Frau umbrachte, weil
er ihre Untreue entdeckt hatte. Aus Zorn über den Betrug der ersten Frau und zugleich aus Angst vor
weiteren sexuellen Betrugsmanövern entscheidet der König, sich jede Nacht mit einer neuen Jungfrau zu
vermählen, die er am nächsten Morgen enthaupten lässt. Nach einer Weile bietet sich auf ihren eigenen
Wunsch die Tochter des Wesirs gegen den Willen ihres Vaters als die nächste Braut des Königs an.
Schehrezad rettet sich selbst und andere Frauen im Reich des Königs Schehrijar durch ihre niemals
abgeschlossenen Geschichten, mit denen sie den König drei Jahre lang fasziniert und zurückhält. ‘1001
Nacht’ lang verschiebt sie durch ihre Erzählungen ihr Todesurteil. Am Ende wird sie Mutter von drei Kindern
von Schehrijar, und der König widerruft ihr Todesurteil. Die erste Übersetzung von 1001 Nacht in eine
europäische Sprache war die französische Übersetzung des französischen Orientalisten Jean-Antoine
Galland (1646–1715), die zwischen 1704-1717 in zwölf Bänden erschienen ist.(3) Alle späteren Übersetzungen
bis zum ersten Drittel des 19. Jh. lehnten sich an die Übersetzung von Galland, die vor allem dem
französischen und europäischen höfisch-aristokratischen Geschmack zu dieser Zeit entsprach, und nicht
an das arabische Original. Sex, Derbheit und Grausamkeiten in 1001 Nacht formte er meist rationalisierend
um. Erst im 19 Jh. gab es Übersetzungen von 1001 Nacht in anderen europäischen Ländern, die auf dem
arabischen Originaltext beruhten. Die erste deutsche Übersetzung war von Gustav Weil. Sie entsprach wie
die französische dem Moralgefühl der Großbürger und sonderte deshalb die vulgären, derben Geschichten,
die einen erotischen Charakter haben, aus der Sammlung aus. Die englischen Übersetzungen dagegen von
John Payne (1882–1884) und von Richard Burton (1885), die im 19.Jh.als Standardwerke in den Bibliotheken
der Gebildeten in England galten(4), betonten bewusst den erotischen Charakter der Sammlung. Diese
Übersetzungen zeigen vor allem den Wandel der europäischen Einstellung in dieser Hinsicht. Im 20. Jh.
nahm das Interesse an der Sammlung ab und deshalb hörte die Welle der Übersetzungen teilweise auf.
Bemerkenswert ist die deutsche Übersetzung des Tübinger Arabisten Enno Littmann (1875–1958), der zu
Beginn des 20. Jh. die vollständige Sammlung von Tausendundeiner Nacht aus dem Arabischen ins
Deutsche übertragen hat, ein relativ getreues Bild der arabischen Welt bot und deshalb bis heute von
Fachleuten und Lesern hoch gelobt wird. Insgesamt gibt es bis heute neun Übersetzungen von 1001 Nacht in
europäische Sprachen, zwei auf Französisch von Galland und Mardus, drei auf Englisch von Burton, Lane
und Payne, drei auf Deutsch von Max Hennig, Gustav Weil und Enno Littmann und eine auf Spanisch von
Cansinos-Asséns.(5) Die frühesten auf Arabisch gedruckten Ausgaben im Orient gehen auf das 19.Jh. zurück
(Kalkutta 1814–1818; Bulak 1835). Der Grund für die späte Erscheinung der Drucke von „Alf Laila wa Laila“ im
Orient ist darauf zurückzuführen, dass die Sammlung Jahrhunderte lang im arabischen Orient als
Trivialliteratur abgewertet wurde, weil sie nicht in der Hochsprache, sondern in der einfachen, schlichten
gesprochenen Sprache dieser Zeit, dem Mittelarabischen abgefasst war und deshalb von den arabischen
Intellektuellen unterschätzt und nicht für echte Literatur (Adab; Hochliteratur) gehalten wurde. Eine große
Zahl der Geschichten von Tausendundeiner Nacht gehört der orientalischen Volksliteratur an, die meistens
von professionellen Berufserzählern produziert wurde, die im arabischen Mittelalter kein hohes Ansehen
hatten, weil das Geschichtenerzählen damals als eine ziemlich minderwertige und leicht anrüchige Tätigkeit
galt. Solche Geschichtenerzähler seien, so Robert Irwin, bis gegen Ende des 19. Jh. in verschiedenen
arabischen Städten sehr häufig anzutreffen gewesen und hätten oft Geschichten aus Tausendundeiner
Nacht erzählt.(6) Robert Erwin beschreibt den Stand solcher Erzähler im Folgenden: „Er konkurrierte mit
Schlangenbeschwörern, Gauklern und hausierenden Quacksalbern um die Aufmerksamkeit und das Geld des
Volks.“(7)
Es ist wahr, dass einige Geschichten von 1001 Nacht als nahezu kindlich naiv, ohne rationale Begründung,
sehr schlicht und derb erscheinen, allerdings beanspruchen etliche Geschichten in 1001 Nacht einen hohen
Wert und sind als "kunstvoll konstruierte, raffiniert erdachte Fiktionen"(8) zu bezeichnen. Die frühesten
arabischen Drucke von 1001 Nacht im 19. Jh. erfolgten aufgrund des europäischen Interesses an der
Gallandschen Übersetzung „Les Mille et Une Nuit“, und sind als Reaktion auf die romantische Bewegung in
Europa zu verstehen, mit der der Orient voll in das Bewusstsein der Europäer trat. Die arabischen
Intellektuellen und Schriftsteller Ende des 19.Jh., die politisch engagiert waren und mit ihren Werken gegen
den Kolonialismus und die korrupten Regierenden kämpften, suchten aus Furcht vor einer drohenden
kulturellen Überfremdung nach den Werten und Blütezeiten der eigenen Literatur und Kultur und stießen
dabei zwangsläufig auf Tausendundeine Nacht. Die Schriftsteller empfingen ihre Inspiration aus dem
mythischen, volkstümlichen, literarischen, geschichtlichen und religiösen arabischen Erbe und verwendeten
es schöpferisch. Das half dabei, der modernen arabischen Literatur einen besonders innovativen Charakter
zu verleihen. Die Anwendung literarischer Techniken der internationalen Literaturmoderne auf der einen
Seite und die Inspiration durch das arabische Erbe auf der anderen Seite waren zwei Schlüssel zum Erleben
der modernen arabischen Literatur, die inzwischen reich an Phänomenen des Zusammenspiels arabischer
wie internationaler Elemente war. So wurden Motive und Stoffe von 1001 Nacht in den Theaterstücken des
19.Jhs. und später in den Romanen, Erzählungen und Dramen der 30er und 40er Jahre des 20. Jhs.
aufgenommen und bearbeitet. Die Vertreter der modernen arabischen Literatur, die meistens einen großen
Teil ihrer akademischen Ausbildung in Europa und besonders in Frankreich erworben hatten(9) und die daher
fühlten, dass ihnen eine Verantwortung bezüglich der Veränderungen und Reformen auferlegt wurde, hoben
in ihren literarischen und essayistischen Beiträgen die sozialen und politischen Missstände indirekt hervor
und bewirkten allmählich einen Demokratisierungsprozess im Bildungswesen. Durch die Entstehung des
arabischen Zeitungswesens und die Entwicklung der modernen Schriftsprache breitete sich das
Lesepublikum in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der arabischen Welt aus, und so wurden Literatur,
Kultur und Bildung nicht mehr das Privileg einer winzigen Elite. Die Märchensammlung von 1001 Nacht wurde
von den arabischen Schriftstellern im 20.Jh. wieder entdeckt, nämlich durch ihre Verwendung der Symbolik
des Kunstmärchens, um sich mit aktuellen brisanten politischen Themen auseinanderzusetzen.
Das Märchen – als eine beliebte literarische Gattung in Arabien – wurde immer von verschiedenen
arabischen Schriftstellern und Intellektuellen als Medium der Gesellschaftskritik und der Herrschaftskritik
bevorzugt, weil es nicht historisch konkret und durch freie Beweglichkeit in Raum und Zeit und durch
Verallgemeinerung gekennzeichnet ist. Ein weiterer Grund für die Bevorzugung des Märchens als Medium,
vor allem, um Einsichten in soziale, politische und wirtschaftliche Ungerechtigkeiten zu vermitteln, liegt
darin, dass die von den Autoren erzählten politisch motivierten Märchen meistens von der Obrigkeit geduldet
werden und daher dem Verbot durch die Zensur und der Beschlagnahme entkommen. Zahlreiche arabische
Autoren sind, im Gegensatz zu manchen anderen Ländern, nicht als Schriftsteller ins Gefängnis gekommen,
sondern als politische Aktivisten, wie zum Beispiel die ägyptischen Autoren Edwar al-Charrat und Jussuf
Idris. Deshalb versuchten die anderen Schriftsteller, die Konfrontation mit der Obrigkeit zu vermeiden und
ihre politisch engagierten Werke mit einem harmlosen Charakter zu verkleiden.
Da den arabischen Schriftstellern – wie schon erläutert – die Möglichkeit einer offenen und deutlichen Kritik
an der Obrigkeit entzogen wurde, wandten sich prominente Autoren bewusst Symbolen, Anspielungen und
Motiven aus 1001 Nacht zu, um die korrupte Macht zu kritisieren. Die Gestalt von Scheherzade, einer
unterlegene Frau, die durch ihre Phantasie den grausamen König Schehrijar überlistet, wurde als Symbol des
freien Denkens und der schöpferischen Phantasie von den Autoren verwendet. Das 18. Jahrhundert galt als
eine bedeutende Phase in der Entwicklungs- und Wahrnehmungsgeschichte der Märchendichtung in
Europa. Die Tatsache, dass das Märchen vor dem 18. Jh. einer Bedeutungsminderung und literarischen
Abschätzung unterlag und nur als erfundene, unwahre Geschichte oder sogar Lüge gedeutet wurde,
begründet die Bedeutung des 18. Jh., in dem die Gegenbewegung und Wandlung in der Wahrnehmung des
Märchens einsetzten. Diese Gegenbewegung, die das Märchen als literarische Erzählgattung und Quelle der
Poesie gewertet hat, ist auf verschiedene Faktoren zurückzuführen. Einer der wichtigsten Gründe dafür war
der große Erfolg der französischen Übersetzung von 1001 Nacht durch Galland (1704–1717). Diese
Übersetzung der berühmten arabischen Märchensammlung galt in Europa als eine wichtige "sozialhistorische Quelle für den Vorderen Orient im Mittelalter und in der frühen Neuzeit"(10), weil sie ein relativ
wahres Bild des Privatlebens der einfachen Menschen im mittelalterlichen Arabien und in der islamischen
Unterschicht vermittelt.
Die Übersetzung von Galland im 18. Jh. und die darauf folgenden Übersetzungen in andere europäische
Sprachen im 19. Jh. haben dazu beigetragen, dass viele deutsche und europäische Dichter durch 1001 Nacht
ästhetisch und literarisch inspiriert wurden. In ihren Werken versuchten sie, an das Erzählgut und an die
Erzähltradition von 1001 Nacht anzuknüpfen. Allerdings wurde die in 1001 Nacht zur Darstellung gebrachte
orientalische Welt von westlichen Autoren nicht bruchlos übernommen, sondern vielfältig modifiziert und
abgewandelt. Der Grund dafür besteht darin, dass zahlreiche europäische Schriftsteller den Orient gar nicht
aus eigener Anschauung, vielmehr nur aus der Literatur kennen, so dass man von einem tendenziell
literarisch erzeugten Orientbild sprechen muss. In Ermangelung fundierter Kenntnisse über die Länder des
Nahen und Mittleren Ostens war die Versuchung groß, die Geschichten, die sich um den grausamen
Herrscher und die schöne, kluge Scheherazade rankten, als Abbild der dort existierenden Realität
anzusehen. Dazu kommt, dass sich meistens der Begriff „Orientbild“ in den Werken der europäischen
Schriftsteller als ein ideologisches Konstrukt erweist, indem, anstatt das Gesicht des Anderen zur
Erscheinung zu bringen, hinter der Maske des Fremden die Fratze des Eigenen sichtbar wird. Am "Orient" als
einem geographisch und kulturell fernen Schauplatz konnte stellvertretend Kritik an sozialen und politischen
Verhältnissen in Europa geübt werden, wenn offene, direkte Kritik zu gefährlich war. Das gilt vor allem für den
satirischen Briefroman des französischen Staatstheoretikers Charles de Montesquieus „Lettres Persanes“
(1721, Persische Briefe), in dem er die politischen, sozialen und religiösen Verhältnisse in Frankreich
schilderte, wie sie von zwei persischen Reisenden wahrgenommen wurden. Das Werk ist eine sarkastische,
halb romanhafte Darstellung französischer und europäischer Verhältnisse in Form einer fiktiven
Korrespondenz zweier Perser, die Frankreich bereisen. Der Abstand der Fremden, deren Urteile wiederum
fragwürdig erscheinen, lassen das geistvolle Buch zu einem frühen Beispiel des Kulturrelativismus werden.
Die fremden Besucher beschrieben eine Gesellschaft, die sich durch eine „universale Künstlichkeit“
auszeichnete. Montesquieu wollte damit die gesellschaftlichen und politischen Zustände unter Ludwig XIV.
scharf kritisieren. Auch der französische Schriftsteller Voltaire (1694–1778), der als der bedeutendste
französische, vielleicht sogar europäische Autor und geistige Großmacht des 18. Jh.s gilt, formuliert in
seinen Werken, allen voran „Candide“ (1759) und „Der Fanatismus oder der Prophet Muhammed“, den
Wunsch nach mehr Toleranz und weniger Fortschrittsgläubigkeit und geißelt den Dogmatismus des
Christentums. Voltaire zielte mit dem Begriff 'Fanatismus', der für ihn gleichbedeutend ist mit 'Aberglauben',
vor allem auf den unaufgeklärten Obskurantismus der katholischen Kirche. Das Orientbild bei ihm war eine
Kulisse, ein Handlungsort für didaktische Parabeln, Lehrstücke über die Grenzen und Möglichkeiten der
Vernunft.
Der 'Orient' hat also einerseits der Phantasie einiger Autoren eine Traumwelt eröffnet, andererseits bot er
durch die Ferne des Orts anderen Autoren die Möglichkeit, ihn als Projektionsfläche eigener Wünsche zu
missbrauchen. Der 'sinnliche Orient' der Harems und polygamen Paschas bot ab dem 19. Jahrhundert ein
Ventil für die eigene unterdrückte und tabuisierte Sexualität. So konnten die engen Grenzen der in Europa
herrschenden bürgerlich-monogamen Familie, die einer strikten religiösen Moral unterworfen und in der die
Sexualität nur mit der Pflicht zur Fortpflanzung verbunden war, zumindest in Kunst und Literatur
überwunden werden. Das gilt auch vor allem für die Malerei des 19. Jh.s, deren gesamte Bilder vom Orient
mit den bevorzugten Motiven der Harems oder schwülen Szenen im Bad rein konstruiert und erfunden sind.
Diese Tatsache macht die Auseinandersetzung mit dem Orientbild in den westlichen Literaturen erheblich
schwieriger, vor allem in den Prosawerken des 18. und 19. Jh., die sich an den Märchen aus 1001 Nacht
orientierten, ohne das in ihnen aufscheinende Bild vom Orient bloß oder blind zu übernehmen. Deshalb ist
es von Bedeutung, bei unserer Darstellung der Einwirkung von 1001 Nacht auf die literarischen Werke
deutscher bzw. europäischer Dichter die Erzählintentionen der Autoren und die herrschenden geistigen
Ideologien in den verschiedenen literarischen Epochen in Betracht zu ziehen.
Wie bereits erwähnt war Gallands französische Übersetzung der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht im
18. Jh. lange Zeit die einzige Quelle auch für deutsche Bearbeitungen, Adaptationen oder Erweiterungen der
morgenländischen Märchen, man denke etwa an Johann Gottlieb Schummel oder Johann Heinrich Voss.
Christoph Martin Wieland(11) hat die Geschichten aus „Tausendundeiner Nacht“ nicht nur in seiner
Märchensammlung „Dschinnistan, oder auserlesene Feen- und Geister-Mährchen“ (1786), sondern auch in
zahlreichen seiner Romane und Verserzählungen seit der Mitte des 18. Jh.s intensiv verarbeitet und
weitergesponnen. Auch Johann Gottfried Herder und Johann Wolfgang Goethe(12) wären hier zu nennen,
ebenso wie Ludwig Tieck, Friedrich Schlegel oder Wilhelm Hauff. Werke des sprachgewaltigen Friedrich
Rückert oder das Versepos Die Abassiden (1835) von August von Platen vertiefen das Bild des romantischen
Orients, das wesentlich aus den Erzählungen von „Tausendundeiner Nacht „speist. Die angefangene Liste
ließe sich beliebig bis in unsere Gegenwart fortsetzen. Das Interesse an der orientalischen
Märchensammlung von Seiten der europäischen Autoren nahm aber im 20 Jh. ab. Trotzdem kann man
etliche Beispiele für europäische Autoren finden, die ihre Werke dem Erzählstil von 1001Nacht angeglichen
haben. Borges erwähnt in seinem Aufsatz über 1001 Nacht als Beispiele zwei englische Autoren, die
bestimmte Themen, Gestalten und Motive aus Tausendundeiner Nacht aufgegriffen haben. Es handelt sich
um Stevenson, der in seinem Werk „New Arabian Nights“ das Thema des maskierten Prinzen aufgenommen
hat, der „in Begleitung seines Wesirs die Stadt durchwandert und seltsame Abenteuer erlebt.“(13) Obwohl
sich die Geschehnisse dieses Werkes in London abspielen, erscheint die Stadt London in den
Handlungssträngen als eine arabische Stadt, nämlich als Bagdad, aber es gleicht „nicht dem Bagdad der
Realität, sondern dem Bagdad von Tausendundeiner Nacht.“(14)
Den anderen Autor „Chesterton“, der auch Motive aus der Sammlung bearbeitet hat, beschreibt Borges als
'Stevensons Erben' und meint: „Das Phantastische London, in dem sich Father Browns Abenteuer und die
des Mannes, der Donnerstag war, ereignen, gäbe es nicht, wenn Chesterton nicht Stevenson gelesen hätte.
Und Stevenson hätte seine New Arabian Nights nicht geschrieben, wenn er nicht Tausendundeine Nacht
gelesen hätte.“(15)
Tausendundeine Nacht bleibt also immer die unerschöpfliche Quelle der ästhetischen und literarischen
Inspiration für Dichter, Romanciers und Denker sowohl aus dem Orient als auch aus dem Okzident und die
literarische Brücke, die zwei verschiedene und sogar gegensätzliche Kulturen verbindet.
von Haimaa El Wardy (Humboldt-Universität, Berlin / Ain Schams Universität, Kairo)
ANMERKUNGEN
(1) Wie z.B. Grunebaum, Gustave E. v., ,“Greek Form Elements in the Arabian Nights”, in: Journal of die Royal Asiatic Society 1942, S.
277–292; Pinault, David: Story-Telling Techniques in the Arabian Nights, Leiden: Brill,1992
(2) Vgl. Walther, Wiebke: “Alf Laila wa-Laila”, S. 98.
(3) Ebd., S. 98.
(4) Vgl. Irwin, Robert: Die Welt von Tausendundeiner Nacht, S. 8.
(5) Die neueste Übersetzung von 1001 Nacht ist die im Jahr 2004 erschienene deutsche Übersetzung von Claudia Ott im C.H. Beck
Verlag, und umfasst 688 Seiten.
(6) Vgl. Borges, Jorge Luis: „Tausendundeine Nacht“, S. 123.
(7) Irwin, Robert: Die Welt von Tausendundeiner Nacht, S. 136.
(8) Ebd., S.11.
(9) Wie z.B. die beiden ägyptischen Schriftsteller Taufik El- Hakim (1898- 1987 ), und Taha Husain (1889-1973).
(10) Irwin, Robert: Die Welt von Tausendundeiner Nacht, S. 12.
(11) Unter der Überschrift "Zauberlandschaften nach 1001 Nacht" erwähnt Moustafa Maher nicht nur Wielands ‘Oberon’ und ‘Der
goldene Spiegel’, sondern auch Langbeins ‘Die Wunderlampe’ und Oehlenschlägers ‘Aladdin’ (vgl. Moustafa Maher Ali Ragheb, Das
Motiv der orientalischen Landschaft in der deutschen Dichtung von Klopstocks ‘Messias’ bis zu Goethes ‘Divan’, Düsseldorf 1962, S.
97ff.).
(12) Goethes Kenntnis der arabischen Welt und der arabischen bzw. der islamischen Literatur beschränkte sich nicht nur auf den
Koran und die vorislamische bzw. islamische Dichtung. Zu den wichtigsten Werken der arabischen Literatur, die eine enorm große
Wirkung auf Goethes literarische Produktion hatte, gehört das volkstümliche Märchenbuch "Tausendundeine Nacht"; Goethe liebte
lebenslänglich die Erzählungen der 1001 Nacht, die ihm durch die Mutter und die Großmutter seit früher Kindheit vermittelt worden
waren. Die Gestalt von Scheherezade bildete für Goethe ein Motiv in einigen seiner Gedichte, die auch mit der Nennung des Namens
der Scheherezade verbunden sind. Man erhält ein völlig neues Bild von Goethes Erzählkunst, wenn man seine tiefe Beziehung zu
‘1001 Nacht’ betrachtet, die leider bisher meist übersehen wurde. Ganz bewusst verglich Goethe sich nämlich als Dichter und als
Erzähler immer wieder mit Scheherezade. Dieser Vergleich lässt sich an verschiedenen Zügen feststellen, die seine
Märchendichtung enthält und die auf ‘1001 Nacht’ beruhen.
In ihrem Buch ,,Goethe und die arabische Welt" zählt Katharina Mommsen die Werke Goethes auf, in denen die Spuren von ‘1001
Nacht’ zu finden sind:
"Dies gilt von den Märchen Der neue Paris und Die neue Melusine ebenso wie von dem Märchen in den Unterhaltungen deutscher
Ausgewanderten. In Wilhelm Meisters Wanderjahren spielt der Dichter ganz deutlich auf Aladdin und die Wunderlampe und auf den
Barbier von Bagdad an. Für die Schlußpartie der Wahlverwandschaften hat Goethe die ‘1001 Nacht’-Erzählung von Abdulhassen und
Schemselnihar zur Vorlage gedient, während er für seine Novelle das Märchen vom Prinzen Achmed und der Fee Paribanon
verwendete.", In: Mommsen, Katharina: Goethe und die arabische Welt. Insel Verlag, Frankfurt/Main 1988. S.22., Vgl. auch dazu:
Mommsen, Katharina: Goethe und 1001 Nacht. Akademie-Verlag, Berlin 1960.S.1., S. 228.
(13) Borges, Jorge Luis: "Tausendundeine Nacht", S. 131.
(14) Ebd. S. 131.
(15) Ebd. S.131.
Quelle: http://www.inst.at/trans/16Nr/07_4/elwardy16.htm
5.1 Goethe, Scheherazade und die Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht
von Hannelies Koloska (Berlin)
Einleitung
Was hat J.W. Goethe, der von den Deutschen zum Nationaldichter erhobene Poet, mit den „Märchen aus
Tausendundeiner Nacht“ zu tun? Was sollte ihm, dem Meister der Verseschmiede, an diesen
abenteuerlichen, amourösen, phantastischen und manchmal gar trivial anmutenden Geschichten gelegen
sein? Der Klassiker der Klassik, das Genie, der Universalgelehrte – ein Liebhaber Scheherazades?
Solche Zuneigung scheint doch zu sehr unter dem Niveau dieses wahrhaft begabten Literaten zu liegen, als
dass es wahrhaft in Betracht gezogen werden kann und darf. Dennoch, so unwahrscheinlich es erscheinen
mag, Goethe war Zeit seines Lebens bekennender Anhänger der Scheherazade und der ihr zugeschriebenen
Erzählungen. Diese Liebe hat die deutsche Germanistin Katharina Mommsen in ihrer 1960 erschienenen
Studie „Goethe und 1001 Nacht“ publik und zugänglich gemacht. Dennoch werden diese Studie, wie auch
Mommsens weitere Arbeiten zu Goethe und der Islam, bzw. Goethe und die arabische Welt, in der Fachwelt
nur sehr selten wahrgenommen. Man hängt bis heute dem traditionellen Goethebild an, das ohne Orient
auszukommen vermag.
Stefan Wild, deutscher Arabist, hat treffend dazu bemerkt: " und doch hat man das Gefühl, dass die
brisanten Forschungsergebnisse immer noch nicht in der breiten Öffentlichkeit angekommen sind. Der
Grund dafür dürfte klar sein: sie sind von einer allzu großen kulturellen Sprengkraft gewesen. "(1)
„Tausendundeine Nacht“ zur Zeit Goethes
Antoine Galland (1646–1715) traf mit seiner Übersetzung der Erzählungen aus „Tausendundeiner Nacht“ ins
Französische „Les Milles et une nuit“ auf den Nerv der Zeit. Seine zwischen 1704 und 1717 erschienenen
Ausgaben fanden begeisterten Absatz und Umlauf. Durch die Aufklärung übersättigt an der bloßen Realität
und Vernunft, der Zerstörung von Illusionen und Phantasien, der Entmystifizierung der Natur sehnten sich
die Menschen nach Fluchtwelten ohne Weltflucht.(2) Gallands Übersetzungen erschienen just in jener Zeit,
als die Gattung der Feenmärchen einen ungeheuren Erfolg bei den europäischen Lesern verbuchen konnte.
Sie wurden von dieser Erfolgswelle mitgerissen.(3) Viele weitere Autoren und Übersetzer sprangen aus
unterschiedlichen Motiven und mit mannigfachen Zielen auf den Zug der Märchen und der Erzählungen aus
„Tausendundeiner Nacht“ auf. Cazottes „Tausend und eine Albernheit“ (1742) und „Der verliebte Teufel“
(1772), Voltaires „Zadig“ (1748), Wielands „Der goldene Spiegel“ oder Beckfords „Vathek“ (1786) sind einige
wenige Bespiele dafür. Die Geschichten aus „Tausendundeiner Nacht“ dienten nicht nur der Lektüre, sondern
der Reproduktion. Nicht nur der Lust auf Utopie und der Sehnsucht nach Abenteuern, erotischen ebenso wie
phantastischen, konnte durch ihre Nachahmung abgeholfen werden, sondern sie bildeten auch eine
hervorragende Projektionsfläche für Kritik an der eigenen Gesellschaft. In diesem Sinne waren sie Mittel zum
Zweck und waren nicht selbst genügend.
Dem ungeachtet eröffneten sich für die europäischen Leser und Hörer der Erzählungen aus
„Tausendundeiner Nacht“ neue Welten, nicht nur die des Orients, sondern und vor allem die der Welt des
Erzählens, des Träumens, des Erdichtens und Verzauberns, die in keinem Widerspruch zu Geist, Bildung und
Vernunft zu stehen schien.
Goethes Begegnungen mit „Tausendundeiner Nacht“
Goethe hatte durch seine Großmutter und Mutter einzelne Geschichten aus „Tausendundeiner Nacht“ schon
in seiner Kindheit kennen gelernt. Vor allem seine Mutter bediente sich bei ihren Erzählungen der Art
Scheherazades, Geschichten zu erzählen. An den spannendsten Stellen brach sie ab und fuhr erst am
nächsten Tag mit dem Erzählen fort. Mommsen sagt dazu: „Der Scheherazadestil des Märchenerzählens in
Fortsetzungen wie ihn die Mutter pflegte prägte sich Goethe so tief ein, daß er für ihn sich aufs engste
verknüpfte mit seinen Vorstellungen von der Gattung des Märchens wie von wirkungsvollem Erzählen
überhaupt.“(4) Die Lust am Fabulieren, Geschichten zu erdenken und zu erzählen, verlor Goethe bis zum
Lebensende genauso wenig, wie die Freude an der wiederholten Lektüre von „Tausendundeiner Nacht“. In
seinem autobiographischen Werk „Dichtung und Wahrheit“ beschrieb er seine Kunst des Märchenerzählens:
„Der Freund...that den Vorschlag ich solle etwas erzählen, worein ich sogleich willigte...ich trug ein Märchen
vor ... mir gelang, was den Erfinder und Erzähler solcher Productionen belohnt, die Neugierde zu erregen, die
Aufmerksamkeit zu fesseln, zu voreiliger Auflösung undurchdringlicher Rätsel zu reizen, die Erwartungen zu
täuschen, durch das Seltsamere, das an die Stelle des Seltsamen tritt, zu verwirren.“ (5) Wiederholt verglich
Goethe seinen Erzählstil, vor allem seiner Prosaerzählungen, mit dem der Scheherazade. So schrieb er 1794
an Schiller über die „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“, die er in Schillers "Horen" veröffentlichte:
„...überhaupt gedenke ich aber wie die Erzählerin in der Tausend und Einen Nacht zu verfahren“ .(6)
Anhand von Tagebuchaufzeichnungen, Briefen, Entleihvermerken der Weimarer Bibliothek und Memoiren
dritter wird ersichtlich, dass Goethe Zeit seines Lebens den Tausendundeinen Nächten sehr zugeneigt war.
Am 17.Dezember 1824 vermerkte ein Bekannter Goethes: „ Diese Mährchen [1001 Nacht, A.d.V.], sagte er,
müssen mir über die trüben Tage weghelfen; ist es doch als ob das Bewußtseyn, in wenig Tagen der Sonne
wieder näher zu kommen, mich schon jetzt erwärmte.“(7)
Worin aber liegt die Faszination der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht für Goethe? Goethe selbst hat
seine Überlegungen zu Ästhetik und Wert niedergeschrieben: „ Tausend und Eine Nacht. Der Stoff real,
durchaus gegenwärtig [zuerst: wirklich], durch unübersehlichen Reichthum oft lastend, nie lästig. Die
imaginative Behandlung den Geist befreyend, obgleich immer in einem gewissen Kreise herumführend. Der
Anhauch von Sentimentalität in den Gedichten ist sammelnd, aufs eigene Gefühl unwiderstehlich
zurückführend. In diesem Sinne möchte wohl schwerlich ein bedeutenderes Werk aufzufinden seyn.“ (8)
ANMERKUNG
(1) Wild, Stefan: "Katharina Mommsen zum achzigsten Geburtstag", Qantara online, 27.09.2005.
(2) Man möge in diesem Zusammenhang und zum besseren Verständnis auch die Sehnsucht nach Phantastischem in heutiger Zeit
bedenken. Es grenzt kaum an ein Wunder, dass Harry Potter genauso wie Bilbo und Frodo Beutlin wichtige Begleiter der Kinder,
Jugendliche und der Erwachsenen in unserer technisierten Welt sind, wo kein Platz mehr zu sein scheint für Träume, Zaubereien,
und gute Helden.
(3) Amman, Östliche Spiegel, S.83.
(4) Mommsen, 1001 Nacht, S.5.
(5) A.a.O., S.20.
(6) A.a.O., S.58.
(7) A.a.O., S.157.
(8) A.a.O., S.158.
Quelle: http://www.inst.at/trans/16Nr/07_4/koloska16.htm
6. Kurd Laßwitz: Aladins Wunderlampe (1888)
Wir hatten uns nach dem Abendessen um den runden Tisch in der gemütlichen Ecke gesetzt, und der
Professor Alander bot mir seine Zigarren an, während unsere Frauen ihre Handarbeiten auswickelten.
»Und was würden Sie wählen?« sagte er, das Gespräch fortsetzend, zu meiner Frau, »die Tarnkappe oder den
Mantel des Doktor Faust oder den unerschöpflichen Beutel Fortunats oder den Apfel vom Baum des Lebens
oder –«
»Den Mantel natürlich, den Mantel«, rief meine Frau. »Dann könnte man doch einmal sich satt reisen –«
»Und zu den Mahlzeiten wieder zu Hause sein«, fiel Alanders junge Frau lächelnd ein. »Das wäre ja ganz
nach deinem Geschmack, Georg.«
»Still!« drohte Alander. »Du nimmst dir doch die Tarnkappe – überall dabeisein und unsichtbar zuschauen,
das ist so etwas für unsere Frauen. Und Sie« – wendete er sich zu mir –, »als Hypochonder, mit dem
gefährlichen Druck bald rechts und bald links, bekommen den heilsamen Apfel, da bleibt für mich das große
Portemonnaie, und das ist mir gerade recht.«
»Ihre Aufzählung von Zauber-Requisiten war sehr unvollständig«, entgegnete ich. »Mit diesen beschränkten
Qualitäten bin ich nicht zufrieden. Wenn ich einmal in den Hexenschatz greifen könnte, so wählte ich
irgendein Mittel, wodurch mir jeder Wunsch erfüllt würde –«
»Um Himmels willen, was würden Sie da für Unfug anrichten«, unterbrach mich Frau Alander und rückte ein
Stück zur Seite; »dann sitze ich nicht mehr neben Ihnen –«
»Dann würde ich mir's eben wünschen müssen«, sagte ich und hob ihr das herabgefallene Zwirnkäuel auf.
»Und das Knäuel –«
»Ließen Sie natürlich liegen –«
»Und wärst der unglücklichste Mensch der Welt, dem jede Laune erfüllt wird und der keine Wünsche mehr
hat«, bemerkte meine Frau.
»Das sehe ich nicht ein. Denn erstens könnte ich ja jede etwaige Torheit wiedergutmachen, und zweitens –«
»Könnten Sie sich ja vorher den nötigen Verstand wünschen«, meinte Alander trocken.
»Erlauben Sie«, sagte ich. »Ich meine das Ding nicht so, daß jeder flüchtige Gedanke mir gleich zur Tat
werden sollte; nein, ich würde mir einen Apparat wählen, der erst nach einer gewissen Überlegung benützt
werden kann, der mir etwa einen gewaltigen, aber doch nicht allmächtigen Geist dienstbar machte – dadurch
schon wäre eine wohltätige Einschränkung gegeben –, ich will einmal sagen, Aladins Wunderlampe.«
»Und dann?« fragte unsere liebenswürdige Wirtin.
»Dann stellte ich Ihnen meinen Geist zur Verfügung.«
»Sie meinen hoffentlich den Geist der Lampe. Gut, so wollen wir uns einen hübschen Wunsch überlegen.«
Alander lächelte still und nahm von,seinem Schreibtisch einen Gegenstand, den er auf den Tisch stellte. Es
war eine kleine antike Lampe von Kupfer mit seltsamen Verzierungen.
»Die Lampe ist da«, sagte er, »ich bitte um den Geist.«
»Was haben Sie da für ein seltenes Stück?« rief meine Frau, nach der Lampe greifend. »Das habe ich ja
noch nie bei Ihnen gesehen.«
»Es ist heute erst für das Museum zum Kauf angeboten; ich hatte selbst noch nicht Zeit zur näheren
Untersuchung.«
»Und woher stammt die Lampe?«
»Man hat sie im Tigris gefunden, daran ist kein Zweifel, die Belege sind sicher.«
Wir betrachteten die Lampe, die meine Frau in der Hand hielt.
»Im Tigris gefunden?« sagte sie. »Daran lag ja doch wohl Bagdad, und in Bagdad –«
»Stand Aladins Palast.«
»Aber die Lampe ist offenbar viel älter und nicht arabischen Ursprungs.«
»Das beweist nichts«, sagte ich. »Aladin entnahm die Lampe bekanntlich im Auftrage des afrikanischen
Zauberers einem unterirdischen Gemache, wo sie vielleicht schon viele Jahrhunderte gebrannt hatte.«
»Na, da wollen wir doch gleich einmal daran reiben!« rief Alanders lebhaftes Frauchen und griff nach der
Lampe.
»Was fällt dir ein, Helene!« unterbrach sie der Professor entrüstet. »Die schöne Patina! Du würdest die ganze
Lampe entwerten! «
Frau Alander warf das Köpfchen in die Höhe und griff wieder nach der Arbeit. »Was nützt mir Aladins
Wunderlampe, wenn man sie nicht reiben darf! «
Ich hob das Zwirnknäuel zum zweitenmal auf und wollte eben noch ein Wort zugunsten des
Reibungsversuches einlegen, als meine Frau ausrief:
»Aber da unten steht eine Inschrift, sehen Sie!«
Wir fuhren wieder auf die Lampe zu.
»Es ist arabisch«, sagte der Professor. Er holte eine Lupe und zündete ein Licht an.
»Wenn es doch Aladins Lampe wäre! « rief Frau Alander. »Dann wird sie gerieben trotz Patina!«
Sie klopfte energisch mit der Häkelnadel auf den Tisch. Das Knäuel fiel hinab.
»Ist der Geist sehr schrecklich, wenn er erscheint?«
»Das kommt darauf an, wie stark man reibt«, sagte ich, mich bückend. »Gewöhnlich erscheint er in einer
Wolke an der Decke; aber ich kann ihm ja befehlen, gleich unter den Tisch zu kriechen, denn Ihr erster
Auftrag würde doch wohl sein, dieses Knäuel ... «
»Würden Sie sich fürchten?« fragte sie meine Frau.
»Aber du tust wahrhaftig«, sagte Alander, über die Inschrift gebeugt, »als wenn es je einen Aladin und einen
Sklaven der Lampe gegeben hätte. Man muß doch den Unsinn nicht übertreiben.«
»O bitte«, rief ich, »da sind Sie noch sehr in der Kultur zurück, werter Freund! Es ist wahr, bis vor kurzem hielt
man die überlieferten Märchen und Geistergeschichten für Produkte der Volksphantasie und für
Erdichtungen, so gut wie die Wundertaten der Heiligen als mythische Ausschmückungen frommer
Verehrung galten, oder die Heilungen im Asklepios-Tempel für Schwindel habgieriger Priester. Aber seitdem
wir eine transzendentale Psychologie haben, eine Gesellschaft für übersinnliche Experimente und eine
Wissenschaft der Mystik, seitdem Hellseher, GeisterZitationen und Doppelgängerei als unwiderlegbare
Tatsachen festgestellt sind, seitdem weiß man auch, daß Menschen wirklich mit ihrem transzendentalen
Astralleibe durch die Luft fahren können und daß Asklepios einer Frau den Kopf wieder angeheilt hat, den
man ihr abgeschnitten hatte, um einen Wurm bequemer aus dem Leibe ziehen zu können. Alles, was
Altertum und Mittelalter von Wunderdingen und Hexereien erzählen, ist fälschlich für Poesie oder
Aberglauben gehalten worden; man weiß jetzt, daß es sich um wissenschaftlich erklärbare Tatsachen
handelte. Odysseus ist wirklich im Hades gewesen und Dante von Virgil durch die Hölle geführt worden. Der
heilige Antonius hat gleichzeitig in Montpellier gepredigt und in seinem Kloster das Halleluja gesungen. So
gut wie ein arabischer Scheich den Kalifen durch Verkürzung der Zeitanschauung, indem er ihn den Kopf in
einen Eimer Wasser stecken ließ, tatsächlich viele Jahre des Elends zu durchleben zwang, so gut wird auch
die Erzählung von Aladins Wunderlampe sich als wahr bestätigen. Man muß sich nur die Mühe geben, die
Wirkung und Macht des an die Lampe gebannten Geistes durch die Methode der TranszendentalPsychologie zu erklären.«
Alander richtete sich von seiner Beschäftigung auf; er hatte offenbar den letzten Teil meiner Rede gar nicht
mehr gehört. »Seltsam«, sagte er. »Wissen Sie, was hier steht? Ganz deutlich ist zu lesen: ›Aladin aus
Bagdad‹; dahinter, ungefähr dem Sinne nach-. ›Versuche kein Gläubiger, was Allah hier verborgen!‹«
Wir schwiegen, unwillkürlich betroffen.
»Die Schrift ist alt«, fuhr Alander fort, »im zwölften oder dreizehnten Jahrhundert eingeritzt. Höchst
interessant, wahrscheinlich nur ein Zufall – Aladins hat es in Bagdad Tausende gegeben –, denkbar aber
wäre ja eine Beziehung auf das Märchen, und dann läge darin ein Beweis, daß der Ursprung desselben sehr
viel älter ist, als die uns vorliegende ägyptische Fassung. Ein Scherz also, den man schon damals sich
gemacht – vielleicht der Versuch eines Betrügers, die Lampe als Wunderstückchen an den Mann zu bringen
– jedenfalls höchst interessant.«
»So sollten wir doch einmal versuchen –«
»Aber Helene, ich bitte dich!«
»Hier unser Freund behauptet, die Sache ließe sich erklären –«
Alander lachte. »Nun, die Erklärung können wir uns ja einmal anhören. Schießen Sie los,
Märchenphilosoph.«
»Zunächst behaupte ich, daß die Geschichte von Aladin und der Wunderlampe kein frei erfundenes Märchen
ist, sondern auf einer Tatsache des mystischen Lebens beruht. Natürlich nicht in allen Einzelheiten. An
Ausschmückungen mag es nicht fehlen. Aber der Kern der Sache scheint mir dieser. Ein afrikanischer
Zauberer, sagt die Erzählung, erfährt von dem Vorhandensein einer Wunderlampe, welche die Eigenschaft
hat, daß an ihren Besitz der Gehorsam eines mächtigen Geistes geknüpft ist. Um sie zu erreichen, bedarf er
der Hand eines Knaben; durch einen Zufall bleibt der Knabe im Besitze der Lampe und gewinnt dadurch
Macht und Reichtum. Im Lichte der Wissenschaft stellt sich die Sache folgendermaßen: Der Zauberer aus
Afrika ist ein Mann, welcher Kenntnis der Hieroglyphen besitzt und aus einem aufgefundenen Papyrus das
Geheimnis der Lampe erfahren hat. Die Fundamentalfrage ist nun diese: Erstens. Ist es möglich, daß es
Geister gibt, welche Dinge auszurichten vermögen, die den uns bekannten Naturgesetzen scheinbar
widersprechen? Zweitens. Ist es möglich, daß der Wille dieser Geister an den Besitz eines einfachen
Gerätes, wie dieser Lampe, gebunden ist? Ich wende mich zu der ersten Tatsache. Erfahrungsmäßig
beglaubigt ist sie durch die Ansicht des Altertums und des Mittelalters im Orient wie Okzident. Zahllose
Zeugnisse der Schriftsteller sprechen dafür. Nur die Zweifelsucht des Aufklärungszeitalters hat den
materialistisch angehauchten Teil der modernen Welt dazu gebracht, sich auf die bloße sinnliche Erfahrung
zu beschränken, jeden übersinnlichen Einfluß zu leugnen. Aber Demokrit, Platon, Aristoteles, Epikur,
Seneka, Plinius, Plotin, die Kirchenväter, Avicenna, Albert der Große, Thomas von Aquino, Paracelsus, Luther,
Cardano, Kepler, Helmont, Swedenborg, Schopenhauer und Carlos V. Prellheim, die größten Geister aller
Zeiten, sind von der Wirkungsmacht der übersinnlichen Welt überzeugt gewesen. Die Tatsache ist also
erwiesen. Auf Grund der übersinnlichen Weltanschauung ist sie unschwer zu erklären. Es wäre lächerlich,
zu ,behaupten, daß es nicht außerhalb der Menschheit noch andere bewußte Geister geben sollte, die aber,
mit anderen Sinnen ausgerüstet, nur bedingungsweise mit uns in Verkehr treten können. Solche Geister sind
unabhängig, zwar nicht von den Gesetzen der Natur, aber von der Art, wie diese Gesetze unseren Sinnen in
der Erfahrung erscheinen. Sie können also Wirkungsmittel zu ihrer Verfügung haben, die uns noch
vollständig unbekannt sind, denen wir gegenüberstehen wie die Wilden dem Fernrohr, der Dampfmaschine,
dem Telefon. So gut wie wir Schallschwingungen durch Umwandlung in elektrische Energie an einen
entfernten Ort versetzen, könnten sie beliebige Materien von einem Ort an den andern übertragen. Denn was
wir Stoff nennen, ist nichts anderes als eine besondere Form der Äther-Energie. Hier dieser Körper, dieses
Metall, dieser Muskel, dieser Nerv werden in einer fortgeschrittenen Zukunft in elektrische Schwingungen
umgewandelt und fortgeleitet werden, so daß sie an einem beliebigen Orte wieder zum Vorschein kommen.
Diese Geister können bereits jetzt, was wir in Jahrtausenden selbst können werden. Was tut denn der Geist
der Lampe? Er bringt Speisen, Schätze, Sklaven, er versetzt den Bräutigam der Kalifentochter in der
Brautnacht an einen nicht näher zu bezeichnenden Ort, wo er ihn auf den Kopf stellt; er erbaut in einer Nacht
einen Palast und translociert ihn nach Afrika und zurück. Das alles läßt sich wissenschaftlich erklären durch
das einfache Prinzip der Telephorie der Materie. Dieses Prinzip erscheint uns nur wunderbar, weil es noch
ungewohnt ist; aber neu ist ja nur die Geschwindigkeit der Übertragung. Auch wir bauen Paläste und
verrücken Stadtviertel; daß der Geist in kurzer Zeit durch große Distanzen wirkt, ist nur ein quantitativer
Unterschied. Dafür steht er auf einem höheren Kulturstandpunkte. Dies erklärt auch, daß er Menschen zu
versetzen vermag. Er ist mit der Abtrennung des transzendentalen Bewußtseins vertraut und organisiert
schnell einen zweiten Körper, das Phantom, welches er an einem andern Orte erscheinen läßt. Dieses
Verfahren ist unter dem Namen Majava-Rupa in Indien seit den ältesten Zeiten bekannt. Die Möglichkeit der
scheinbaren Zaubereien des Geistes ist also erwiesen.«
»Aber –«
»Bitte. Schwieriger ist die zweite Frage. Woher stammt der Geist, und wie kann sein Wille an den Besitz der
Lampe gebunden sein? Ich muß gestehen, ich bin zu sehr Neuling in der Transzendental-Psychologie, um
mit Sicherheit das Richtige zu treffen; andere werden bessere Erklärungen geben können. Ich denke mir die
Sache folgendermaßen: Die Individuen des Geisterreiches bilden eine ethische Gemeinschaft; es wird daher
auch die Notwendigkeit einer Bestrafung eintreten können. So wie sich das transzendentale Ich einen
menschlichen Körper organisiert, um seine Erfahrung durch die irdische Inkarnation zu erweitern, und
währenddessen an die Gesetze des sinnlichen Organismus gebunden ist, so wird ein ethisch unreifer Geist
auch zur Strafe an ein Kunstprodukt, einen Ring, eine Lampe gefesselt werden können. Denn Gerätschaften
sind Organ-Projektionen,- das heißt nichts anderes als Organisationen zweiter Ordnung; daher ist die Strafe
für den Geist eine härtere. Außer seinem Astralleib hat er jetzt nicht, wie wir, einen Eiweißleib, sondern einen
Metalleib. Das Reiben der Lampe entspricht genau dem sogenannten magnetischen Streichen beim
Hypnotisieren. Das transzendentale Bewußtsein wird dadurch frei, sein Wille aber ist von dem des
Magnetiseurs abhängig. Ich erinnere an die bekannten Erscheinungen der Suggestion, wobei man dem
Hypnotisierten jede beliebige Vorstellung beibringen und ihn zu jeder Handlung bestimmen kann. Es wäre
ein Mangel an logischer Konsequenz, wollte man nicht auch dem an die Lampe gebundenen
Transzendental-Bewußtsein die Fähigkeit zusprechen, durch Streichen von seinem Leibe befreit zu werden;
es ist dann ganz selbstverständlich, daß der Hypnotiseur der Lampe den Geist nach seinem eigenen Willen
lenken kann. Ich erkläre also mit voller Bestimmtheit und aus meiner wissenschaftlichen Überzeugung:
Aladins Sklave der Lampe hat existiert und seine erstaunlichen Taten verrichtet. Wenn seine Strafzeit nicht
schon beendet, so ist er noch jetzt an die Lampe gebunden. Und wenn diese Lampe vor uns, wie mir
zweifellos scheint, die echte Lampe Aladins ist, so bin ich bereit, empirisch zu erweisen, daß der Geist auch
mir gehorchen muß.«
»Sehr schön demonstriert!« rief Alander belustigt. »Das könnte wörtlich in der ›Sphinx‹ stehen. Wenn ich nur
sicher wäre, daß mir der Geist auch die abgeriebene Patina wieder ›reorganisieren‹ kann.«
»Schade«, sagte meine Frau, »es war mir so nett zu denken, daß dies die Lampe Aladins sei. Aber nachdem
du die Sache philosophisch bewiesen hast, bin ich überzeugt, daß kein Wort davon wahr ist.«
»Das tut mir leid. Dir fehlt das Organ des wissenschaftlichen Glaubens. Aber Sie, Frau Alander, Sie sind ein
Sonntagskind, Sie werden an dem Geiste der Lampe nicht zweifeln.«
»Wissen Sie«, sagte Frau Alander, »wenn ich ganz offen sein soll, Ihre gelehrte Rede habe ich noch nicht
ganz verstanden; die müßte ich erst einmal gedruckt lesen. Ich sage ganz einfach, wenn die Geschichte
wahr wäre, so hätte der Zauberer die Lampe sich selber geholt und wäre nicht erst auf Aladin verfallen.«
»O weh! Ich glaube, ich hätte so schön populär gesprochen! Ihr Einwand ist übrigens gar nicht stichhaltig,
denn bei allen mystischen Operationen bedarf es erfahrungsgemäß eines Mediums, und jedenfalls hatte
sich der Zauberer überzeugt, daß Aladin dazu geeignet sei. Auch das Anzünden von Räucherwerk auf der
Steinplatte vor dem Eingange spricht dafür, daß Aladin in somnambulen Zustande handelte. Wie hätte er
auch sonst drei Tage zu hungern vermocht?«
»Was ist aber aus der Lampe nach Aladins Tode geworden?«
»Er wird sie vorher selbst, um Mißbrauch zu verhüten, in den Tigris geworfen haben.«
»Und wie erklären Sie denn überhaupt die Existenz des unterirdischen Gewölbes und die Aufstellung der
Lampe daselbst?« fragte Alander.
Diese Frage setzte mich etwas in Verlegenheit. Ich hob daher erst zum sechsten Male das Zwirnknäuel
meiner fleißigen Nachbarin auf und sagte dann:
»Ich könnte mich darauf berufen, daß wir hier eine historische Tatsache einfach hinzunehmen haben. Aber
auch vom theoretischen Standpunkte ist doch klar: So gut wie eine Pflanze zu ihrer Entwicklung einen
geeigneten Nährboden haben muß, so gut wie ein transzendentaler Geist nicht aus der freien Luft sich
seinen Körper organisieren kann, sondern des Mutterschoßes bedarf, ebensogut kann auch der Metalleib
des Lampengeistes nur in der geeigneten Umgebung erzeugt werden. Vermutlich befand sich dort eine
transzendentale Goldschmiede, wofür auch das Vorhandensein der Edelsteinfrüchte spricht. Der ägyptische
Papyrus, aus welchem der sogenannte Zauberer seine Kenntnis entnahm, war vielleicht eine durch
Hellsehen hergestellte geologische Karte des Altertums.«
»Sie sind nicht zu widerlegen.« Alander lachte, noch immer ungläubig. »Ich will also hier diese schon etwas
beschädigte Stelle Ihrem Experimente preisgeben. Nun bin ich doch neugierig, wie Sie den Geist
hervorzaubern werden.«
»Das ist brav! Das ist herrlich! « riefen die Frauen wie aus einem Munde.
Ich stellte die Lampe vor mich auf den Tisch. Feierlich näherte ich ihr meine Hand. Alle verhielten sich still.
Es wurde mir doch etwas ängstlich zumute. Ist's nicht ein Frevell das Jenseits zu versuchen, den IsisSchleier des Geisterreichs zu lüften? Und setzte ich nicht die Anwesenden einer unbekannten Gefahr aus?
Aber es galt, eine wissenschaftliche Theorie zu bestätigen, es mußte sein! Und wenn der Versuch mißlang?
Wenn der Geist seine Strafzeit abgebüßt und seine leere Hülle zurückgelassen hatte? So war doch
wenigstens dies konstatiert. Ich sah die Augen der Frauen erwartungsvoll auf die Lampe gerichtet. Auch
ihnen war es unheimlich. Nur Alander rauchte unerschütterlich.
»Nicht zu stark«, flüsterte seine Frau.
Ich strich mit dem Finger leise über die Lampe, zwei-, dreimal; ich verstärkte den Druck. Ich nahm die ganze
Hand zu Hilfe. Der Geist erschien nicht.
»Meine Patina!« rief Alander.
»Sie haben die Sitzung unterbrochen! Gedulden Sie sich noch! «
»Vielleicht muß sie angezündet sein«, bemerkte meine Frau.
»Davon steht nichts in der Geschichte. Aber vielleicht muß man sie in der Hand halten.«
»Geben Sie her«, rief Frau Alander, die wieder Mut bekommen hatte. »Ich will einmal tüchtig scheuern, wie
Aladins Mütter! «
»Nicht Sie!«
Schnell ergriff ich die Lampe, zumal sich auch Alander ihrer bemächtigen wollte. Ich hielt sie in der Linken
und fuhr rasch ein paarmal mit der Rechten darüber.
»Hören Sie nichts?«
»Nein.« – »Ja.« – »Doch.«
Kein Zweifel, aus der Lampe drang ein knarrendes Geräusch.
»Der Geist scheint eingerostet«, spottete Alander.
»Pst! Ruhig! Eine Stimme tönt aus der Lampe!«
Es wurde mäuschenstill im Zimmer. Wir wagten nicht zu atmen. Das Blut stockte in unsern Adern. Alander
beugte sich weit vor.
»Der Kerl spricht arabisch«, sagte er.
»Geist der Lampe, sprich deutsch!« rief ich feierlich.
Leise, aber deutlich vernehmbar klang es aus der Lampe: »Ich bin der Sklave der Lampe und bereit zu
gehorchen allen, welche Herren der Lampe sind.«
»Wo bist du, Geist?«
»In der Lampe.«
»Warum zeigst du dich nicht?«
»Ich darf nicht. Sobald ich mich für alle menschlichen Sinne im Raume objektiviere, bin ich den Gesetzen
der Natur und der Gesellschaft unterworfen, welche zur Zeit gelten. Da es im modernen Staate keine
Sklaverei gibt, so würde ich nach meiner Inkarnation frei sein. Es ist mir daher geboten, mich nur akustisch
zu materialisieren.«
»Wie? So schreitet auch das Geisterreich fort?«
»Auch wir sind dem Gesetze der Entwicklung durch Anpassung unterworfen.«
»Und kannst du noch meine Befehle erfüllen?«
»Alles, was du befiehlst, kann ich tun, soweit es nicht den Naturgesetzen widerspricht.«
»So wünschen Sie«, sagte ich leise.
Die Frauen schwiegen und sahen sich an. Alander kam ihnen zuvor.
»Hören Sie, Ihr Geist scheint mir bedenklich zivilisiert. Wir wollen gleich sehen, ob er echt ist. Lassen Sie ihn
doch einmal dreihunderttausend Mark in Gold auf den Tisch legen.«
»Sklave der Lampe«, rief ich, »bringe dreihunderttausend Mark in Gold!«
»Das kann ich nicht, Herr«, erwiderte der Geist, »das widerspricht den Gesetzen.«
»Wieso?«
»Alles gemünzte Gold gehört irgendwem als Eigentum. Ich darf es niemand wegnehmen.«
»So schaffe ungemünztes!«
»Das kann ich nicht, das wäre gegen das Gesetz von der unveränderlichen Erhaltung des Stoffes.«
»Hole es aus der Erde! «
»Das kann ich nicht. Dazu bedarf es mehr mechanischer Arbeit, als in meinem gegenwärtigen Körper
angehäuft ist. Das wäre gegen den Satz von der Erhaltung der Energie.«
»Elender Sklave«, rief ich, »warum konntest du es Aladin bringen?«
»Damals wußte man noch nichts von der Erhaltung des Stoffes und der Energie.«
»Wie, du willst doch nicht behaupten, daß diese Naturgesetze damals nicht in Geltung waren?«
»Die Naturgesetze«, antwortete der Geist, »sind nichts anderes als der Ausdruck des wissenschaftlichen
Bewußtseins einer bestimmten Zeit. In meinem transzendentalen Bewußtsein bin ich davon unabhängig;
aber in meiner Tätigkeit in der Zeit, in eurer Zeit, darf ich die Bedingungen nicht durchbrechen, welche die
Grundpfeiler der modernen Kultur sind. Wir können zu der unkritischen Weltanschauung einer
entschwundenen Epoche nicht zurückkehren.«
»Ihr Geist ist doch ein braver Kerl«, sagte Alander. »Er ist,zehnmal gescheiter als ihr TranszendentalPsychologen. Fragen Sie ihn einmal nach etwas, was die Zukunft erst entdecken wird.«
»Sklave der Lampe, worauf beruht die Schwerkraft der Körper?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Es wäre gegen das Gesetz der kontinuierlichen Entwicklung der
mathematischen Naturwissenschaften, wenn es heute ein Mensch schon wüßte.«
»Ein verteufelter Schlaukopf! Lassen Sie ihn laufen!«
Nicht doch«, riefen die Frauen, »wir wollen auch etwas wünschen! «
»Ich bitte darum«, sagte ich ziemlich deprimiert, »wenn es nur etwas nützt! «
»Sag ihm, er solle uns jetzt alle vier an den Golf von Neapel versetzen.«
»Du hörst, Sklave, was meine Frau befiehlt – gehorche!«
»O Herr, das ist gegen die Gesetze der Mechanik! «
»So bringe uns in somnambulen Zustand und führe unsere Astralleiber dahin! «
»Früher konnte ich alles tun, weil man alles für möglich hielt. Jetzt kann ich den Astralleib nur bei solchen
Menschen abtrennen, welche dazu nervös disponiert sind. Von den geehrten Anwesenden ist aber niemand
mediumistisch veranlagt.«
Meine Frau zuckte mit den Schultern und sagte: »Ich dachte mir schon, daß es wieder nichts sein würde. Ich
soll nicht nach Italien kommen!«
Ich war innerlich wütend über den degenerierten Geist und wünschte die Lampe niemals angerührt zu
haben. Ich seufzte.
Alander rieb sich schmunzelnd die Hände und sagte: »Der Geist scheint Ihnen schlecht zu bekommen. Sie
sehen schon ganz schwach aus; hätten Sie nur lieber den Apfel des Lebens gewählt! Nun, Helene, jetzt bist
du an der Reihe, vielleicht gelingt dir's besser.«
Frau Alander stützte den Arm auf den Tisch und zupfte nachdenklich an ihren Stirnlöckchen.
»Ich weiß gar nicht, was ich mir wünschen soll«, sagte sie. »Nach Italien kann uns der Geist nicht bringen,
aber er wird uns noch halbtot ärgern. Kann er uns vielleicht ein Universalmittel verschaffen?«
»Sklave, bring ein Lebenselixier!«
»Herr, das gibt es nicht. Heutzutage hat man nur Spezialisten.«
»Wünschen Sie etwas anderes, Frau Professor? Ich bedaure sehr –«
»Je nun«, sagte sie und griff wieder nach ihrer Handarbeit, »ich bin eigentlich ganz zufrieden und brauche
im Augenblick weiter nichts.« Das Zwirnknäuel fiel unter den Tisch.
»Ei«, rief meine Nachbarin weiter, »so wünschte ich doch, daß das Knäuel nicht mehr hinunterfallen kann!«
»Sklave«, sagte ich, »du hast gehört, gehorche!«
»Herr«, antwortete der Geist kläglich, »ich kann es nicht bewirken, es wäre gegen die Fallgesetze Galileis und
gegen die Naturgeschichte der weiblichen Handarbeiten.«
»Zum Teufel«, rief ich ärgerlich, »was kannst du eigentlich, fauler Bursche?«
»Alles, was nicht gegen ein Gesetz verstößt, das durch das Bewußtsein der Zeit verbürgt ist. Aber mir ist
bestimmt, ich solle erlöst sein, sobald mein Herr keinen Wunsch mehr zu nennen weiß, bei dessen
Gewährung ich nicht durch mein Eingreifen den Kausalzusammenhang der Welt zerstören würde.«
»Nun denn«, sagte ich resigniert, »so hebe wenigstens das Knäuel auf, das wird ja doch wohl gegen kein
Gesetz verstoßen.«
»Verzeiht mir, Herr, auch das ist mir nicht möglich.«
»Und warum nicht?«
»Nach den Gesetzen des Universums, deren Notwendigkeit die moderne Wissenschaft voraussetzt, ist
deinen Muskeln bestimmt, heute abend durch Beugen deines Rumpfes neunhundertsechzehn-Komma-elf
Meter-Kilogramm Arbeit zu leisten. Wenn ich dir hiervon auch nur fünf Prozent abnähme, so würde ein
überschuß an Energie in dir aufgespeichert werden, welcher sich in Gehirntätigkeit umsetzen und einen
transzendental-psychologischen Artikel erzeugen würde; denn hierzu genügt schon ein Minimum von
Energie. Dadurch würden zwar sechsundzwanzig Leser veranlaßt werden, das betreffende Blatt
abzubestellen; einer aber würde es so eifrig lesen, daß er, dabei einschlafend, dem Lichte zu nahe käme. Es
entstünde ein Hausbrand, welcher sich einem ganzen Stadtvieriel mitteilte; ein Arsenal flöge in die Luft; die
Explosion würde den Anziehungsmittelpunkt der Erde um den tausendsten Teil eines Millimeters
verschieben; dadurch aber würde die Erde um zwei Millionen Jahre zu früh in die Sonne stürzen. Du siehst
also, daß es mir unmöglich ist, das Knäuel aufzuheben.«
»Oh, weiser Geist! « rief ich. »Wir sind deiner nicht wert – du bist entlassen!«
Ich setzte die Lampe auf den Tisch. Ein Lichtschein schoß daraus hervor und verlor sich als leichte Wolke an
der Decke. Wenigstens schien es mir so.
Aus der Ferne tönte es leise: »Dank, Dank für die Erlösung nach dreitausendjähriger Haft! Zur
transzendentalen Freiheit flieh ich aus dem Zeitalter der Notwendigkeit! Es fällt kein Knäuel vom Tische,
dessen Sturz nicht durch das Weltall zittert!«
Ich hob das Knäuel auf und legte es neben die Lampe. Es rollte wieder hinab.
»Sie können sich als Bauchredner hören lassen«, sagte der Professor.
Solche Leute sind nicht zu überzeugen.
Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/?id=12&xid=1548&kapitel=2&cHash=def304fa7d2
7. Verfilmungen und musikalische Adaptionen von „Aladin und die Wunderlampe“
•
2009: „Aladin“, Director: Sujoy Ghosh
•
„Aladdin“, USA 1996, Zeichentrickfilm der Walt-Disney-Studios, Regie: John Musker, Ron Clements
•
„Aladin und die Wunderlampe“, ein Anime-Film von Toei Animation aus dem Jahr 1982
•
„Aladin et la lampe merveilleuse“, Frankreich 1970, Trickfilm
•
„Aladins Wunderlampe“, UdSSR 1966, Regie: Boris Ryzarew
•
„Aladins Abenteuer“, 1961, Regie: Mario Bava und Henry Levin
•
der Film „1001 Nacht“ aus dem Jahr 1945 basiert auf „Aladin und die Wunderlampe“
•
„Aladin und die Wunderlampe“, Musical, Autor: Werner Hahn, Musik: Hans Steinmeier
•
„Aladdin und die Wunderlampe“, Oper für Kinder Lyrisches Märchen in drei Akten von Vinci Verginelli
•
das Ballett „Aladin, oder Die Wunderlampe“ von François Michel Hoguet (Musik von Wenzel Gährich),
Berlin, 1854
•
die Oper „Aladin“ von Nicolo Isouard von 1822
•
Maurice Ravel: „Shéhérazade“, drei Gedichte für Mezzosopran und Orchester
Nicht zuletzt durch die Pariser Weltausstellungen in den Jahren 1889 und 1900 angeregt, lag das
Thema „Orient“ im Frankreich der Jahrhundertwende in der Luft. Das exotische Element wurde von
den Künstlern dieser Epoche besonders intensiv gesucht und gerade Werke wie die persische
Märchensammlung "Tausend und eine Nacht" befriedigten das Bedürfnis nach neuen
künstlerischen Impulsen. Bereits im November 1898 plante der damals 23-jährige Maurice Ravel
eine Oper über den „Shéhérazade“-Stoff, von welcher jedoch nur die Ouvertüre fertig gestellt wurde.
Nur fünf Jahre später setzte sich der Komponist erneut mit dem Sujet auseinander und vertonte drei
Gedichte seines Freundes Tristan Klingsor aus dessen Sammlung „Shéhérazade“ für Sopran (oder
Tenor) und Orchester. Das opulente, geradezu sinnlich wirkende Werk von lediglich 15 Minuten
Spieldauer bot Ravel die Möglichkeit, sein einzigartiges Talent auf dem Gebiet des Orchestrierens
unter Beweis zu stellen.
Textvorlage: „Shéhérazade“, 1903 entstandene Lyriksammlung von Tristan Klingsor (d. i. Arthur
Justin Léon Leclère, 1874–1966), der wie Ravel zum Pariser Künstlerkreis „Les Apaches“ gehörte; von
den rund einhundert Gedichten wählte der Komponist drei aus und erwirkte kleine Textänderungen
für „Asie“.
Entstehung: Ravels Komposition entstand 1903 in Paris. Inwieweit in sie Elemente der vor 1900 auf
der Textgrundlage von „Tausendundeiner Nacht“ geplanten gleichnamigen Oper „Shéhérazade“
einflossen, ist nicht bekannt; lediglich die 1898 komponierte Ouvertüre zu Ravels Opernprojekt ist
überliefert.
Widmung: „Asie“ widmete Ravel der Sängerin der Uraufführung, „Mademoiselle Jane Hatto“; „La
flûte enchantée“ wurde „Madame Sigismond (= Emma) Bardac“ und „L’indifférent“ „Madame René (=
Marguerite) de Saint-Marceaux“ gewidmet, die beide berühmte Salons in Paris unterhielten.
Uraufführung: Am 17. Mai 1904 in Paris (Orchester der „Société nationale de musique“ unter Leitung
von Alfred Cortot; Solistin: Jane Hatto).
http://www.mphil.de/de/werke/?W_ID=352
und die Bildende Kunst:
Max Slevogt, ca 1920/21
Aladin/Aladdin, Gerhard Richter, 2010
erstellt von Eva Bormann, Junges Theater Marburg, Oktober 2010