willy brandt - Bundeskanzler Willy Brandt Stiftung

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willy brandt - Bundeskanzler Willy Brandt Stiftung
WILLY BRANDT
Zum 100. Geburtstags des ehemaligen Bundeskanzlers und Friedensnobelpreisträgers
MONTAG, 17. JUNI 2013 / NR. 21 720
SEITE B 1
Endlich am Ziel. „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ Willy Brandt am 10. November 1989 vor der Mauer am Brandenburger Tor.
Foto: William P. Mikkelsen
Deutscher Weltbürger, nationaler Kosmopolit
Sein Credo: Das eigene Land stets mit den Augen der Fremden sehen – und immer aufgeschlossen sein für andere Standpunkte
Von Werner A. Perger
Vor kurzem überraschte die FAZ ihre Leserschaft mit der Schlagzeile: „Mehr
Willy Brandt wagen.“ In dieser Eindeutigkeit ist das für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ eher ungewöhnlich.
Aber natürlich diente die Beschwörung
des Brandt-Vermächtnisses nicht als parteipolitischer Aufruf. Es handelte sich
vielmehr um die Zusammenfassung eines
Dialogs zwischen dem Soziologen und
Autor Ulrich Beck und dem Sozialdemokraten und EU-Parlamentspräsidenten
Martin Schulz. Das Gespräch – moderiert
vom Herausgeber Frank Schirrmacher –
füllte am 23. Mai die Aufschlagseite des
Feuilletons und handelte von aktuellen
Besorgnissen: der europäischen Krise,
der beklemmenden Ratlosigkeit der Regierungen, der wachsenden öffentlichen
Euro-Skepsis und insgesamt der Selbstblockade der Europäischen Union. Für
das relativ düstere Panorama formulierte
Ulrich Beck den Befund: „Wir erleben die
Sterblichkeit Europas.“
Gewiss würde nicht jeder die Lage so
drastisch als Existenz zwischen Leben
und Tod beschreiben. Aber angesichts der
Gefahr, dass aus der Finanz- demnächst
eine Demokratiekrise Europas werden
könnte, tendieren in der kontinentalen politischenKlasse dochviele zu der Interpretation, dahinter stecke auch ein Führungsproblem. Es fehlten Verantwortungsträger, die zu mehr in der Lage sind, als an
den nationalen Vorteil zu denken und anderen Regierungen – oder der EU als Institution – die Schuld am Schlamassel zu geben. Wege aus der Gefahr aber wisse von
den aktuellen Wortführern der europäischen Debatte keiner – auch nicht die mutmaßliche Wortführerin in Berlin.
Insofern kommt es nicht von ungefähr,
dass Ulrich Beck in dem Gespräch nach
einem „europäischen Willy Brandt“
suchte. Gebraucht werde ein politischer
Gestalter mit „visionärer Kraft“ und dem
Sinn für das Mögliche. Einer – oder eine –
mit dem Mut, neue Wege zu gehen, und
mit der Fähigkeit, andere dafür zu begeistern, mit hohem politischen Prestige und
persönlicher Autorität daheim und in der
Welt. Jemand, der in der Lage ist, einen
komplizierten Knoten mit geduldiger Beharrlichkeit zu lösen oder, um ein anderes Bild zu wählen, der es versteht, auch
auf Umwegen zum Ziel zu gelangen.
Diese Stellenausschreibung wirkt daher
wie zugeschnitten auf Willy Brandt, den
ersten sozialdemokratischen Nachkriegskanzler und Friedensnobelpreisträger
1971, den Mann, dessen lebenslange Beschäftigung mit dem Lösen komplexer
Problemknoten schließlich mit der deutschen Vereinigung und dem Zerfall des
Sowjetblocks gekrönt worden ist. Übrigens: ein historischer Durchbruch unter
friedlichen Vorzeichen – wem sonst noch
ist das je gelungen?
Natürlich ist Brandt in Europa nicht
der Einzige, dessen Fähigkeiten und Autorität angesichts des gegenwärtigen Führungsvakuums schmerzlich vermisst werden. In Gesprächskreisen mit internationaler Beteiligung werden auch Erinnerungen an Giscard oder Mitterrand, Heath
und Callaghan, Schmidt oder Kohl, González, Brundtland, Palme und Kreisky beschworen. Was Willy Brandt aber aus die-
Geprägt durch Begegnungen
im Spanien des Bürgerkriegs
sem ansehnlichen Ensemble ehemaliger
Führungsfiguren herausragen lässt,
dürfte wesentlich an seiner politischen
Biografie liegen. Sie hat aus ihm, dem linken deutschen Sozialisten und Demokraten, schon früh einen engagierten linken
Demokraten und Europäer gemacht. Sein
politischer Kampf aus dem skandinavischen Exil gegen das Naziregime führte
ihn, den jungen Antifaschisten, schon
früh mit Gleichgesinnten auf dem überall
vom Faschismus und von der deutschen
Kriegsmaschine bedrohten Kontinent zusammen. Der kosmopolitische Deutsche,
der Brandt bis zuletzt war, auch und gerade im historischen Moment der Vereinigung, hatte schon früh gelernt, das eigene Land auch mit den Augen der anderen zu sehen. Das machte ihn in seinem
politischen Leben auch im Fall von Gegensätzen offen für die Standpunkte der
anderen, half beim Aufbau von Vertrauen
und ermöglichte es ihm schließlich, deutsche Interessen zu vertreten, ohne sich
einem falschen Verdacht auszusetzen.
Seine Erfahrungen in Skandinavien haben Brandt in diesem Sinne ebenso geprägt wie die Beobachtungen und Begegnungen im Spanien des Bürgerkriegs und
die Gefahren der illegalen Arbeit in
Deutschland. Er beschreibt diese Phase
seines Lebens zwischen 1930 und 1950 in
dem Buch „Links und frei“ (1982). Es han-
delt vom Widerstand gegen das Hitlerregime und von der Wiederkehr ins demoralisierte Westdeutschland und zerstörte
Berlin.
Fürmichistes diespannendste Autobiografie eines deutschen Politikers aus dieserschwierigsten Periode derjüngsten europäischen Geschichte. Man beginnt bei
der Lektüre zu verstehen, wie der Mann
zu dem manchmal rätselhaften Menschen
wurde, als den man ihn später kennen,
schätzen und respektieren gelernt hat.
Schon in seinen frühen politischen Jahren, als antifaschistischer Kämpfer im
Exilund dannals antikommunistischerSozialdemokrat im geteilten Trümmer-Berlin, war Brandt offenkundig in der Lage,
die Einzelteile des zerstückelten europäischen Ganzen zusammen zu schauen.
Man ahnt, dass Brandts Merksatz vom Tag
nach der Öffnung der Mauer – „Jetzt
wächst zusammen, was zusammengehört“ – in ihm schon früh angelegt war. Als
wäre da ein politisches Lebensmotto
schon entstanden, eine inhaltliche Klammer, die den jungen Brandt mit dem alten
verbindet, den einstigen Aktivisten mit
dem späten Staatsmann.
Eine Besonderheit, die aus den Kampfjahren bis in die Zeit des reifen Staatsmanns reichte, ist die ungewöhnliche
deutsch-österreichische Achse zwischen
dem Lübecker Willy Brandt und dem Wiener Bruno Kreisky. Eine „skandinavische“
Achse, begründet in der antifaschistischen Emigration in Stockholm, in den
1970er Jahren dann verstärkt um den jüngeren schwedischen Partei- und Regierungschef Olof Palme. Der Männerbund
der drei Parteivorsitzenden war im internationalen Kontext ohne nennenswertes
Gewicht. Doch es war auf interessante
Weise ungewöhnlich und irgendwie exotisch. Ihr Gedankenaustausch ging über
das normale Maß gutnachbarschaftlicher
Beziehungen weit hinaus. Er bewegte sich
auch da, wo sie ihre gemeinsamen Überlegungen öffentlich machten, deutlich abseits vom westlichen Mainstream. Für
Brandt war dieser Dreierbund außerdem
aucheine Hilfe bei dem Bemühen, das persönliche emotionale Tief nach dem etwas
mysteriösen Rücktritt vom Kanzleramt
1974 zu überwinden.
Es war diese Kleingruppe, verstärkt
um Gleichgesinnte wie Brundtland in
Oslo, Mitterrand in Paris, González in
Madrid, die Brandt schließlich dazu bewegte, das Amt des Präsidenten der Sozialistischen Internationale (SI) zu über-
nehmen. Das war eine Rolle, wie sie für
einen, der als deutscher Kanzler daran
mitgewirkt hatte, die Politik der Entspannung zwischen Ost und West in Gang zu
setzen, zunächst wenig faszinierend ist.
Brandt hat sich auch lange dagegen gesträubt. Aber er wäre nicht der gewesen,
als den man ihn heute noch in Erinnerung
hat, wenn er nach einigem Nachdenken
in der Funktion nicht doch auch eine
Möglichkeit gesehen hätte, im Welttheater ein bisschen mehr Bewegung zu erzeugen. Neue Optionen zu schaffen, Türen
zu öffnen, Blockaden abzubauen. Knoten
zu lösen. Alles das, was er so gut konnte.
Aus der längstbedeutungslosen Organisation machte Brandt alsbald eine Gesprächsarena, die als eine Art sozialdemokratische Uno begann, sich verstärkt in internationale Fragen einzumengen. Sie
wurde so zu einem neuen Leuchtturm für
neue politische Gruppierungen und Parteien außerhalb Europas. Dass diese in aller Regel überhöhte Erwartungen an die SI
knüpften, dessen war Brandt sich bewusst. Er hatte die Organisation aus ihrem
politischen Dornröschenschlaf geweckt,
für neue Aufgaben geöffnet.
Zugleich hat er sie damit aber auch an
Der Mythos überstieg
die realen Möglichkeiten
ihre Grenzen geführt. Der Mythos, der die
SI unter Brandt umgab, überstieg die realen Möglichkeiten um ein Vielfaches.
Aber immerhin gab es doch mehr Bewegung als früher. Vereinzelte Vermittlungserfolge in lokal begrenzten Konflikten
(Geiselaustausch in El Salvador) machten
Hoffnung. Mancher Rückschlag (Ermordung eines prominenten palästinensischen Gastes während einer SI-Konferenz
in Portugal) nährte aber Zweifel am Nutzen des Aufwands. Die Illusion und die
neue Faszination lebten jedenfalls, solange Brandt präsidierte. Heute, zwei Jahrzehnte nach Brandts Tod, ist die SI am
Ende. Europas Sozialdemokratien wenden sich ab.
Die großen Player, die sich die wichtigen Fragen der globalen Machtpolitik
gerne vorbehalten, werden die SI nicht
vermissen. Brandts Treiben in der Weltpolitik war ihnen nie geheuer gewesen.
Mit Unbehagen beobachtete in Bonn seinerzeit auch der sozialdemokratische
Kanzler Helmut Schmidt die globalen Aktivitäten seines Vorgängers. Mit erhöhter
Wachsamkeit haben in Jerusalem die israelische Schwesterpartei, voran die regierenden Schwergewichte Rabin und Peres, die Vermittlungsbemühungen der
Brandt-SI im Nahen Osten beobachtet.
Und mit großem Misstrauen verfolgte
die Reagan-Administration in Washington beispielsweise Brandts Aktivitäten in
Mittelamerika: Was macht der da? Die
Reise des SI-Präsidenten 1984 in den
„Hinterhof“ der USA, nach Nicaragua
und Kuba, war eine offene Herausforderung an die Führungsmacht. Vor allem
der Staatsempfang in Havanna.
Na, wenn schon. Brandt kümmerte sich
um die mächtigen Bedenkenträger immer
weniger. Im November 1990, knapp zwei
Monate vor der ersten amerikanischen Intervention im Irak, flog der von diplomatischen Zwängen unbelastete SI-Präsident
nach Bagdad, um Saddam Hussein zur
Freilassung der internationalen Geiseln
zu überreden, die als „lebende Schutzschilder“vor irakischen Versorgungsanlagenplatziert werden sollten. Es war ein Alleingang. Die Regierungen in Bonn und
vor allem in Washington waren strikt gegen diese Initiative. Die Amerikaner wollten nicht, dass der deutsche Friedensnobelpreisträger dort unten ihre Kreise
stört. Ein Scheitern hätte für Brandts Prestige einen schweren Rückschlag bedeutet.
Doch der Diktator gab schließlich nach.
Der Airbus der Luftwaffe war auf dem
Rückflug voll besetzt mit freigelassenen
Geiseln. Die Kritiker schwiegen.
Vonder Spitze der Sozialistischen Internationale hat Brandt sich wenige Wochen
vor seinem Tod im September 1992 verabschiedet, mit einer in Berlin von Hans-JochenVogel vorgetragenen Botschaft. Ähnlich der Aufbruchslosung aus der ersten
Regierungserklärung aus dem Herbst
1969, Willy Brandts unvergessenes
„Mehr Demokratie wagen“, wird aus der
letzten Botschaft mindestens dies bleiben, ein Arbeitsauftrag des Scheidenden
an die Nachgeborenen: „Nichts kommt
von selbst. Und nur wenig ist von Dauer.
Darum – besinnt Euch auf Eure Kraft und
darauf, dass jede Zeit eigene Antworten
will und man auf ihrer Höhe zu sein hat,
wenn Gutes bewirkt werden soll.“
— Werner A. Perger arbeitete von 1970 bis
1995 als politischer Korrespondent in
Bonn. Er ist Autor der ZEIT, für die er seit
1991 schreibt.
EDITORIAL
Spiegelbild
der Geschichte
Welch ein Weg! Vom jungen linkssozialistischen Widerstandskämpfer gegen das
NS-Regime zum ersten sozialdemokratischen Kanzler der Bundesrepublik
Deutschland, Friedensnobelpreisträger
und weltweit geachteten elder statesman.
Willy Brandt, der am 18. Dezember 100
Jahre geworden wäre, ist eine der herausragenden Persönlichkeiten der europäischen Nachkriegsgeschichte. Ein Mann,
der sein Land reformierte, der half, die
Teilung Europas zu überwinden – und
der zugleich polarisierte, vor allem in
den frühen siebziger Jahren; Wer sich damals in der Provinz für Willy begeisterte,
wurde als „Handlanger Moskaus“ beschimpft und später in West-Berlin an
der Freien Universität am rechten Rand
verortet. Brandt hat alle elektrisiert. Und
Deutschland ein anderes, neues Gesicht
gegeben. In diesem Jahr erinnern die Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung
und
die Norwegisch-Deutsche Willy-BrandtStiftung an diesen Staatsmann. Wir betrachten in der Beilage sein Verhältnis
zur eigenen Partei, die Rolle Berlins und
sein Eintreten für ein vereintes Europa.
Der große norwegische Sozialdemokrat
Thorvald Stoltenberg erinnert an Brandts
unermüdlichen Einsatz für Konfliktlösungen; Torsten Körner zeigt einen Familienvater, der sich eher in der Geschichte zu
Hause fühlte. Und doch bleibt Willy
Brandt eine faszinierende Persönlichkeit,
deren Qualitäten nicht wenige in diesen
Zeiten vermissen. Rolf Brockschmidt
C
INHALT
D
OFFENE BRIEFE AN DIE BASIS . . . . B2
Altgediente SPD-Funktionäre
misstrauten dem medienwirksamen
Reformer.
GEBURTSORT DES POLITIKERS . . . . B3
Kein anderer Ort war damals geeigneter als Berlin, um die Politik der kleinen Schritte zu entwickeln.
DIALOG UND KOMPROMISS . . . . . . . . . B3
Der Freund Thorvald Stoltenberg erinnert an private und politische Begegnungen – und an Brandts Vermächtnis.
FAMILIE WAGEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B4
Willy Brandt bemühte sich, ein guter
Vater zu sein. Doch ein Familienmensch war er nicht.
B2
WILLY BRANDT
DER TAGESSPIEGEL
NR. 21 720 / MONTAG, 17. JUNI 2013
Der Europäer
Willy Brandts Ostpolitik zur Überwindung der Teilung hatte Folgen für den ganzen Kontinent – und für den Beitritt der Briten war er auch
Von Hans Arnold
Willy Brandt war nach seinem Lebensweg
und nach seinen Überzeugungen Europäer. Dies war für mich schon1958/59bei
seinenbeiden Reisen als Regierender Bürgermeister von Berlin in den USA, auf denenich ihn begleitete,bei allen seinen Auftritten unübersehbar. Seine herausragendepolitische Leistung–die vonihm initiierte und vorangebrachte Ostpolitik,
durch die das Ende der Spaltung Europas
möglich wurde – war neben und vor allem
anderen Europapolitik. Sie wurzelte tief
in seinen europapolitischen Überlegungen und Überzeugungen, die in den Jahren seines skandinavischen Zwangsexils
entstanden waren. Die geprägt waren
durch die ihn in dieser Zeit durchgehend
bewegende Frage, wie Europa nach dem
Ende des grässlichsten Gewaltregimes
Zu seinen ersten
Auslandsreisen gehörten
die „Antrittsbesuche“
und Krieges, die es je erlebt hatte, friedlich, freiheitlich und demokratisch verfasst werden könne. Dann aber musste er
als Regierender Bürgermeister von Berlin
von diesem ost-westlichen Schnittpunkt
aus hautnah und schließlich mit der Errichtung der Mauer auf drastische Weise
miterleben, wie sich die welt- und machtpolitisch bedingte und ideologisch grundierte Spaltung Europas und als ihr Teil
die Spaltung Deutschlands immer mehr
verfestigte. Und wie man sich national
und international mit diesem Zustand arrangierte und bereit war, ihn auf unbestimmte Dauer hinzunehmen.
Das übergeordnete und gravierendste
Problem Europas – seine Teilung – wurde
Brandts Thema. Ostpolitik und Europapolitik wurden für ihn Teile ein und derselben Aufgabe. Seine Politik unterschied
sich damit wesentlich von dem, was bis
heute gemeinhin als „die Europapolitik“
verstanden wird. Also die Politik, die
1952 mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) begon-
nen worden war, die heute mit der Europäischen Union fortgeführt wird und deren Ziel der immer engere interne Zusammenschluss der an ihr teilnehmenden
Staaten ist. Aber es war unübersehbar,
dass diese Form von Europapolitik (damals wie heute) so sehr mit ihren eigenen
internen Problemen beschäftigt und so
sehr von den nationalen Interessen der
sie tragenden Staaten bestimmt war, dass
sie eine wesentliche und einheitliche gemeinsame Rolle in der internationalen Politik nicht erreichen konnte. Vor allem
aber konnte sie keine Plattform oder gar
ein Instrument für eine Überwindung
der Teilung des Kontinents sein. Gewiss,
auch für diese Europapolitik und ihre
Ziele setzte sich Willy Brandt voll ein.
Nicht zuletzt, weil er eine umfassende
westliche Gemeinsamkeit für eine unabdingbare Voraussetzung für die Überwindung der Teilung hielt.
Freilich konnte diese Einigungspolitik
als solche, mit dem ihr zugrunde liegenden technokratischen Denken, mit ihren
mechanistischen Regelungen und einigem mehr, für den Vollblutpolitiker Willy
Brandt, milde ausgedrückt, kaum ein Faszinosum sein. Klar zeigten dies auch einige in ihr oder über sie geführte Erörterungen. Wie etwa die über die damalige
(und bis heute nicht beantwortete) Frage,
ob das endgültige Ziel europäischen Bemühens ein Bundesstaat oder ein Staatenbund sein solle. Und für eine reine
Alibi-Übung hielt Brandt die damals (und
im Rückblick teilweise sogar noch bis
heute) verbreitete Auffassung, man
müsse nur die Einigung in Westeuropa
und mit den USA immer fester gestalten,
dann werde sich das Ende der Teilung Europas und mit ihm die Wiedervereinigung Deutschlands mit Sicherheit irgendwann irgendwie ergeben.
Willy Brandt war nicht nur Visionär, er
war auch Pragmatiker. Als er ab 1966, zunächst als Außenminister und dann als
Bundeskanzler, seine Vorstellungen von
einer Überwindung der Teilung Europas
mit europäischer Politik verwirklichen
konnte, tat er dies so, wie er schon in Berlin
im
dortigen
komplizierten
Ost-West-Geflecht Verbesserungen hatte
erreichen können: mit einer Politik der
schen Gemeinsamkeit im Westen überwunden werden könne. Entsprechend
substanzarm waren seine europapolitischen Gespräche in Paris. In London waren sie nur von der britischen Absicht beherrscht, erneut einen Beitrittsantrag zu
stellen. Wofür Brandt Wilson im persönlichen Gespräch seine volle Unterstützung
zusagte.
Von London flogen wir für irgendeine
Sitzung nach Brüssel, und der britische
Außenminister George Brown flog wegen irgend eines Brüsseler Termins mit
uns mit. Das Gespräch im Flugzeug
drehte sich natürlich um Europäisches.
Dabei beugte sich der für seine direkte
und unbekümmerte Ausdrucksweise bekannte Brown einmal zu Brandt vor und
Außenminister Brown sagte:
„Willy, wir wollen rein
und wir wollen führen“
Number 10, Downing Street. 1970 begrüßt der damalige Hausherr, Harold Wilson, seinen hohen Gast aus Deutschland. Willy
Brandt war im März zu seinem Antrittsbesuch nach London gekommen.
Foto: Bundesregierung/Jens Gathmann
kleinen Schritte, welche mit wohlüberlegter und fester Überzeugung und mit entschlossen anvisiertem Ziel getan worden
waren und nun inder Ost-und Europapolitik getan werden mussten. Mit klarem Bewusstsein, was festes Ziel und was Nebenproblem ist. Dazu erinnere ich mich an ein
kleines, aber typisches Beispiel aus der
Zeit, als Brandt gerade Außenminister
und ich sein Mitarbeiter geworden war.
Zu Brandts ersten Auslandsreisen gehörtenEnde 1966undAnfang1967diesogenannten „Antrittsbesuche“, vor allem
beiseinemfranzösischen undseinembritischen Kollegen. Wobei bemerkenswert
war, dass Brandt in Paris auch von Staatspräsident de Gaulle zum Gespräch gebeten und in London das Gespräch mit ihm
von Anfang an von Premierminister Wilson geführt worden war. Die westeuropäische Einigungspolitik war damals in katastrophalem Zustand. De Gaulle war mit
seiner Politik, die EWG zu einem Instrument für seine in Konkurrenz zu den USA
entwickelte nationale Außen- und vor allemOstpolitik umzufunktionieren, gut vo-
rangekommen. Die Bundesrepublik hatte
er mit dem Elysée-Vertrag von 1963 fest
an Frankreich gebunden. Gleichzeitig
hatte er den Beitritt Großbritanniens zur
EWG durch ein Veto verhindert. Und die
EWG selbst hatte er im Zusammenhang
mit deren Versuch, ihren internen Wahlmodus etwas zu europäisieren, mit einer
antieuropäischen „Politik des leeren
Stuhls“ in ihre bis dahin größte Krise gestürzt. Dies alles lag quer zu der Überzeugung Brandts,dass die Ost-West-Konfrontation nur mit einer umfassenden politi-
sagte mit betont deutlicher Sprache:
„Willy, wir wollen rein und wir wollen
führen“ („We want to join and we want to
lead“). Brandt vermied eine Vertiefung
des Themas. Abends im Hotel bemerkte
ich zu ihm, das sei ja sehr deutlich gewesen. So würden sich die anderen Staaten
die Einigung (die damals noch „Integration“ hieß) wohl nicht vorstellen, und
wenn das bekannt würde, würde es gerade in der gegenwärtigen Situation die
britischen Beitrittschancen kaum verbessern. Brandt nahm das betont gelassen
und sagte fast schmunzelnd nur: „Tja, so
sind die Briten nun mal – aber sie gehören eben einfach dazu.“
Jahre später, als bei den Jubelfeiern
über die wiedergewonnene deutsche Einheit sich schon längst andere im vorderen
Bereich der Tribünen bewegten, konnte
Willy Brandt dann sein europäisches
Werk mit der Bilanz und Hoffnung abschließen: „Jetzt wächst zusammen, was
zusammengehört.“
— Dr. Hans Arnold war von 1966 bis 1968
Leiter des Büros von Bundesaußenminister
Willy Brandt.
Offene Briefe an die Basis
Altgediente SPD-Funktionäre misstrauten dem medienwirksamen Reformer
„Die garantierte Presse- und
Meinungsfreiheit
ist ein für die Demokratie
zu hohes Gut, als dass es
von irgendeiner Seite
beeinträchtigt werden sollte.“*
Jupp Darchinger
W i l l y B ra n d t
*Aus der Rede Willy Brandts zur Jubiläumsfeier
der Neuen Ruhr Zeitung in Essen am 11.09.1971
Seit über 140 Jahren gehören Beteiligungen an Medienunternehmen zur Geschichte der SPD. Vieles ist
seither anders geworden. So tragen wir heute mit unseren Beteiligungen an regionalen Zeitungsverlagen zur
Pressevielfalt in Deutschland bei. So soll es auch in Zukunft sein.
dd.vg....
Denn Geschichte verpflichtet.
Im November 1944 wurde Willy Brandt
in Stockholm in die sozialdemokratische
Exilgruppe aufgenommen; es war sein
Wiedereintritt in die SPD, der er bereits
1930/31 angehört hatte, bevor er sich
der linkssozialistischen SAP anschloss.
Bereits seit September 1945 war ihm
klar, dass es zu keiner Einheitspartei kommen würde, weil die KPD keine demokratische Partei war und unter massivem Einfluss der Sowjetunion stand. Die SPD dagegen hatte „große Chancen, zur führenden Partei der neuen deutschen Republik
zu werden“. Die SED-Gründung im April
1946 nannte er eine „Zwangseinheit“,
„mit undemokratischen Mitteln und teilweise sogar mit gewalttätigen Methoden
vorangetrieben“.
Ende 1947 entschied sich Brandt, wieder definitiv nach Deutschland zurückzukehren. Seit Januar 1948 arbeitete er in
Berlin als Vertreter des SPD-Parteivorstandes; seit 1949vertrater Berlinim Bundestag, wurde in das Berliner Abgeordnetenhaus gewählt und hielt 1949 auf dem
Landesparteitag der Berliner SPD eine
große programmatische Rede, die sich gegen alle Formen des Kommunismus und
den wiederauflebenden Traditionalismus
in der SPD richtete, aber auch eine Definition des demokratischen Sozialismus enthielt: „Nichts steht uns höher als die Freiheit. Freiheit und Leben sind eins.“
Brandts weiterer Aufstieg in der SPD
dauerte lange. Zwar verband ihn mit
Ernst Reuter eine wachsende politische
Freundschaft, aber in der Berliner SPD
blieben die Vorbehalte gegen ihn groß.
Da sich die „Etablierten“ mit Franz Neumann für links hielten, was sie aber mit
konservativ-strukturellen Organisationsformen verknüpften, wurde aus Brandt
ein „Rechter“ gemacht, was er nicht war,
weil er sein Linkssein mit neuen Formen
der politischen Arbeit und realpolitisch
abgesicherten Kalkülen verband. Erst
nach fast einem Jahrzehnt ging es weiter:
1957 Regierender Bürgermeister von
Berlin, 1958 beim dritten Versuch endlich Mitglied des SPD-Parteivorstandes,
im gleichen Jahr Vorsitzender des Berliner Landesverbandes der SPD, 1960 Nominierung zum Kanzlerkandidaten seiner Partei, 1964 mit 50 Jahren ihr Vorsitzender. Damals gab es immer noch nicht
wenige, die fragten: Warum denn der?
Brandt war zunächst – von Berlin abgesehen – in der Parteiorganisation nicht
verankert. Die Funktionäre, meist altgediente Parteisoldaten, begegneten ihm
mit Misstrauen, vertrat er doch die Botschaft der Reformer. Klar, er war medienwirksam, hatte die Gabe der perfekten
Rede, und so kam zum Misstrauen der
Neid, auch darüber, dass der „oberste
Funktionär“, Herbert Wehner, ihn kalkuliert förderte. Kurt Schumacher hatte die
Partei mit einer kleinen Gruppe engster
Vertrauter straff autoritär geführt, der gemütlich wirkende Erich Ollenhauer kam
selbst aus der klassischen Funktionärselite. Und nun dieser Willy Brandt, ein beinahe Fremder. Der hatte auch Vertraute
und Mitarbeiter, denen er aber keine Befehle gab, sondern mit denen er endlos
lange und kollegial diskutierte, um gemeinsam zu einer Problemlösung zu kommen. Brandt hielt nichts, aber auch gar
nichts „von einer teutonischen Pseudoautorität“. Daher richtete er sich auch öfter
mit Offenen Briefen direkt an die „Basis“.
Aber auch Brandt kannte die Mittel der
direkten kurzgeschlossenen Entscheidung und nutzte sie durchaus. Dennoch
war sein Führungsstil neu und daraus
Willy Brandt auf dem Sonderparteitag am
19. November 1983.
Foto: p-a/ Fritz Fischer
folgte, dass er zu keiner Zeit in seiner Partei unumstritten blieb. Wer da alles aus
den Kreisen der Parteiführung ihm Ratschläge gab oder von ihm forderte, doch
endlich ein „starker Mann“ zu sein.
Brandt änderte seinen Führungsstil nicht;
aber er brauchte Jahre, um den Ruch eines politischen Leichtgewichts loszuwerden. Bei seinen Wählern war er lange
Zeit beliebter und auf internationalem
Parkett angesehener als in seiner eigenen
Partei. Das änderte sich um 1968, und
die Partei wuchs: von 1969 bis 1976 um
400 000 Neueintritte.
Auf dem Höhepunkt seiner Erfolge
braute sich wieder einmal eine Führungskrise zusammen, ausgelöst durch Wehners ostpolitische Alleingänge, aber auch
Helmut Schmidt warf Brandt vor, nichts
gegen das „Bild der dauernden inneren
Auseinandersetzungen“, das die SPD abgebe, zu tun. Doch Anfang April 1974 gelang es Brandt, sowohl seinen Führungsanspruch als Vorsitzender unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen als
auch die Mitglieder zu neuer Geschlossenheit aufzufordern. Das hat ihn viel
Kraft gekostet, die ihm bei den weiteren
Entscheidungen im Jahr 1974 fehlte.
Nach seinem Rücktritt blieb Brandt
Vorsitzender seiner „Partei der Freiheit“,
deren Profil neu zu bestimmen er sich bemühte. Er hielt die Partei offen für die
demokratischen Teile der Außerparlamentarischen Opposition und führte die
Partei selbst in das weite Lager der Friedensbewegung. Auch das ging nicht ohne
Konflikte im Führungskreis der Partei ab.
Auch diesmal setzte sich Brandt durch,
wenn auch nicht ohne Erwägung seines
Rücktritts vom Parteivorsitz. Die SPD erhielt nun sozialstrukturell ein moderneres Gesicht: Sie sollte zwar eine integrationsfähige Partei der „kleinen Leute“ bleiben, gleichzeitig aber neue soziale Segmente erreichen und die Fähigkeit gewinnen, soziale Bündnisse auch über ihre
Grenzen hinaus zu schmieden. Brandt
sah, dass die Individualisierung in der Gesellschaft voranschritt, die soziale Mobilität anstieg und die noch vorhandenen
klassengesellschaftlichen Rudimente eingeschmolzen wurden.
Da ging wieder ein Sturm in der Partei
los. Brandt jedoch ließ sich nicht beirren
und steuerte ein neues Programm an.
Der erste Entwurf für das Berliner Programm von 1989 trug deutlich seine
Handschrift. Als das Programm beschlossen war, war er schon seit zwei Jahren
nicht mehr Vorsitzender der SPD. Er war
gestolpert über eine personelle Fehlentscheidung seinerseits, die wieder einmal
von „Freunden“ in der obersten Führungsgarnitur genutzt wurde. Brandt hatte genug und las seinen spießigen Genossen in
seiner Rücktrittserklärung die Leviten.
Da fragt man als Rückblickende nun
schon: Die kleinkarierte SPD hatte einen
so bedeutenden Vorsitzenden, dem es als
Bundeskanzler und darüber hinaus gelungen war, den Frieden in der Welt zu sichern, und diese Partei kapierte das
nicht?! Aber Halt: Wer war denn „die“
SPD? Gewiss nicht die oberste Führungsgarnitur allein, sondern immer mehr die
„Basis“. Und die ließ auf ihren Willy
(wenn auch gelegentlich zähneknirschend) nichts kommen.
Und heute? Da fragt ein einstiger Weggenosse besorgt, ob denn Brandt „in der
eigenen Partei noch ganz präsent ist. Und
wenn, dann wie?“ (so Klaus Harpprecht).
Die Sorge muss man nicht haben. Bei den
Jungen in der SPD um die 30, denen man
durchaus trauen kann, ist Willy Brandt
keine Ikone, kein Held nach Maß, kein
schlichter Visionär, vielmehr ein Mann
der besonnenen Tat, mit scharfem Augenmaß und zugleich weitem Fernblick. Und
last not least: So sieht wohl der heutige
Vorsitzende seinen Vorgänger ebenfalls.
Helga Grebing
— Die emeritierte Historikerin ist
Mitglied der Historischen Kommission
beim SPD-Parteivorstand.
WILLY BRANDT
MONTAG, 17. JUNI 2013 / NR. 21 720
DER TAGESSPIEGEL
B3
„Ich mache die Arbeit im Rathaus mit Freude“
Kein Ort war geeigneter
als Berlin,
um die Politik
der kleinen Schritte
zu entwickeln
Von Hermann Rudolph
Das ist die Kehrseite, wenn einer zu einer
Jahrhundertgestalt wird: Die Schritte, die
dorthin führen, verblassen und werden zu
bloßen Etappen einer Biografie. Willy
Brandts Ruhm verdankt sich der Ostpolitik, der Kanzlerschaft der sozial-liberalen
Koalition 1969 und einem internationalen Rang, wie ihn kaum ein anderer Deutscher gewonnen hat. Und seine Berliner
Jahre – immerhin bald zwanzig, zehn davon als Regierender Bürgermeister? Natürlich sind sie „unentbehrliche Jahre“ –
wie sie Egon Bahr einmal in dieser Zeitung
genannt hat –, die den Staatsmann reifen
ließen. Aber was macht sie aus? Was war
Berlin für Brandt?
Zuerst war die Stadt der Ort der Rückkehr und des neuen Anfangs. Als Brandt
im kalten Januar 1947 nach Berlin kommt,
steht er zwischen Emigration – noch gehörter,wieer sicherinnert,zum „norwegischen Milieu“ in der besetzten Stadt – und
Wiederaufnahme seiner deutschen Existenz. Es sind die Turbulenzen, die Berlin
in diesen Jahren bewegen, die ihn in die
Stadt und in die Politik buchstäblich hineinziehen–der KampfumdieStadtimbeginnenden kalten Krieg, die Selbstbehauptung der SPD gegen die Kommunisten, die
Blockade. In der Nähe Ernst Reuters
nimmt er aktiv daran Anteil und wird
selbst zur politischen Figur.
Übrigens ist dieser Anfang nicht seine
erste Begegnung mit Berlin. 1936 hat er illegal, als norwegischer Student Gunnar
Gaasland, ein paar Monate in der Stadt gelebt. Sie hatbeiihm offenbareinen sogünstigen Eindruck hinterlassen, dass er in seinem Erinnerungsbuch „Links und Frei“
den Abschnitt über den Beginn seiner Arbeit mit „Berlin II“ überschreibt. Unter
dem Eindruck der Blockade – das erste
Kind des Ehepaars Brandt kommt bei Kerzenlicht zur Welt – muss ein Gefühl der
Nähe zur Stadt und ihren Bewohnern entstanden sein. Ihre Stimmung habe ihn
„mehrals einmalan die Gesinnung im norwegischen Widerstand“ erinnert.
Berlinist mithinderGeburtsortdesPolitikers Brandt – und der Politik, mit der er
zu einer überragenden Gestalt der jüngsten Geschichte wird. Dabei muss Brandt
sich zunächst einem mit Haken und Ösen
ausgefochtenen Kampf um die Führung
der Berliner SPD stellen. Aber die Auseinandersetzung mit Franz Neumann, ihrem damaligen Vorsitzenden, einem typischen alten Parteisoldaten, ist mehr als
ein Beispiel erbitterter Parteirivalität.
Erst Brandts Sieg über ihn macht die SPD
zu der Partei, die Berlin durch die anstehenden Probleme steuern kann. Mit
Brandts Wahl zum Regierenden Bürgermeister 1957 erreicht die Stadt die Höhe
der Herausforderungen, die die Geschichte für sie bereithält.
Denn Brandt verbindet das Drängen
auf Bewegung in der Ost- und Deutschlandpolitik mit der Anlehnung der Stadt
an die Bundesrepublik. Da steht er durchaus gegen wichtige Teile auch der eige-
Im Jahr 1956 macht ihn
eine Mutprobe zum Helden
der öffentlichen Meinung
nen Partei und ihrer Neigung, in Berlin
eine eigenständige, „fortschrittlichere“
Politik zu machen. Gelegentlich schießt
sein Berlin-Engagement auch über das
Ziel hinaus – so, im unruhigen Jahr 1956,
mit der Forderung nach dem sofortigen
Umzug von Bonn nach Berlin. Zu Buche
schlägt das Jahr für Brandt allerdings mit
einer Mutprobe, die ihn zum Helden der
öffentlichen Meinung in Berlin macht: Er
verhindert, dass der Protest der Berliner
gegen die Niederschlagung der ungarischen Revolution eskaliert und aus dem
Ruder läuft.
Sein Aufstieg verdankt sich der Fähigkeit, ein hohes Maß an konzeptioneller
Entschiedenheit auch im politischen Alltag durchzuhalten. Dabei findet er auch
den richtigen Ton, die Berliner in ihrer
Lage anzusprechen. Nicht zuletzt tragen
er und seine Frau Rut ein neues politisch-gesellschaftliches Fluidum in die
Stadt. Der Auftritt des Paares beim Presseball 1955 – er im Smoking, sie im weißen Seidenkleid in der H-Linie, damals
der letzte Schrei – wird Legende. Es zeigt
sich, dass Brandt über die Gabe verfügt,
populär zu werden. In der umzingelten
Stadt wird er zur Verkörperung politi-
Verantwortlich für Berlin. Seit 1957 (bis 1966) ist Willy Brandt Regierender Bürgermeister der Stadt. Das Foto zeigt ihn im Jahr
1960, mit der unvermeidlichen Zigarette in der Hand, vorm Brandenburger Tor.
Foto: Archiv der sozialen Demokratie, Bonn
scher Führung. Sie ist, seit Ernst Reuter,
eine unabdingbare Komponente der Sicherung des Überlebens der Stadt
Dass im Amtstitel Regierender Bürgermeister auch die Bürgermeister-Rolle
steckt, realisiert der politische Stratege
durchaus. Mit Leidenschaft? Mit stillem
Seufzen? „Ich machte die Arbeit im Rathaus mit Freude“, schreibt er Mitte der
siebziger Jahre, fügte allerdings hinzu,
dass sie ihm „nicht wenig“ abverlangte.
So eröffnet der Politiker, der mit dem
amerikanischen Präsidenten konferiert
und weltweites Ansehen genießt, auch
die grüne Woche, legt den Grundstein
für die Akademie der Künste und tauft
eine Boeing auf den Namen „Berlin“.
Selbst als Kanzlerkandidat im Wahlkampf 1961 ist er am Vormittag im Schöneberger Rathaus.
Aber Brandt steht eben auch in der
wichtigen Phase an der Spitze der Stadt,
in der Berlin sein Nachkriegsgesicht erhält. Neue Erkennungszeichen entstehen
– die Philharmonie, die Deutsche Oper,
aber auch die Stadtautobahn. Die Berlin-Hilfe wird – nach dem Mauerbau – in
ein neues Format gebracht. Das wirtschaftspolitische Junggenie Karl Schiller
und der Kulturpolitiker Adolf Arndt ziehen in den Senat ein. Der Ausbau Berlins
zur Stätte von Kultur und Wissenschaft
wird zumindest Programm. Zugleich ist
es täglich notwendig – so Brandt –, „sich
um die Abwehr akuter und schleichender
Gefahren, die Vertretung Berliner Interessen in Bonn und gegenüber den Alliierten“ zu kümmern; um die wirtschaftlichen Fundamente ohnedies.
In einer Zeit, in der das Schicksal der
Stadt in einer heute nicht mehr vorstellbaren Weise ungesichert ist, ist die Sicherung des Überlebens Stadtpolitik, ja auch
Kommunalpolitik. Eigentlich ist es ihre
wichtigste Seite – und Brandt bewältigte
sie in beispielhafter Weise. Er wird zu der
Instanz, die den Selbstbehauptungwillen
der Stadt hochhält. Da tritt er – als
Chruschtschow mit seinem Ultimatum
im Herbst 1958 West-Berlin den Lebensnerv brechen will – in die Spuren Ernst
Reuters und ruft vor 6oo ooo Menschen
auf dem Platz der Republik aus: „Schaut
auf das Volk von Berlin, dann wisst ihr,
was die Deutschen wollen“. In der größten Krise der Stadt, dem Mauerbau,
kämpft er an allen Fronten, um die Stadt
vordemVersinken indie Depression zubewahren. Dabei ist die akute Krise nur eine
Seite ihrer Bedrohung; die andere ist die
Gefahr, dass die Stadt – so Brandt – auf ein
„zeitgeschichtliches Abstellgleis“ gerät.
Berlin wird schließlich der Ort, an dem
er und eine Handvoll Vertrauter, Egon
Bahr, Heinrich Albertz und Klaus Schütz,
die „heilige Familie“, wie sie man spöttisch nennt, die neue Ostpolitik sozusagen erfinden. Denn sie ist getränkt mit
Erfahrungen, die man wohl nur hier machen konnte. Mit Enttäuschungen wie
mit der Politik der kleinen Schritte: Dass
der 13. August den Vorhang fortgezogen
habe, hinter dem es leer war – wie Brandt
formuliert – ist es nicht der genaue Ausdruck der Lage Berlins? Und wo sonst
hätte die minimale Mauerdurchbrechung
der Passierscheinregelung 1963 erdacht
werden können?
Als Brandt 1966 dem Ruf der Partei
nach Bonn folgt, um als Außenminister
in die Große Koalition von CDU und SPD
einzutreten, beharrt er darauf, dies sei
kein Abschied von Berlin, sondern der
„Beginn eines neuen Abschnitts der Arbeit für Berlin“. Das kann man als wohlfeile Formel verstehen, um den Berlinern
den Abgang zu versüßen. Aber hat es
nicht doch, sieht man aufs Ganze von
Brandts Wirken, einen Hauch von Wahrheit? Am Tag nach der Maueröffnung ist
er bereits in Berlin: Verkörperung der Verbundenheit mit der Stadt, die das auch so
sieht. Drei Jahre später wird er in Berlin
begraben: Ein Kreis hat sich geschlossen.
Offenheit, Dialog und Kompromiss
Thorvald Stoltenberg, ehemals Verteidigungsminister Norwegens, erinnert sich an persönliche und politische Begegnungen und preist Brandts Erbe
Meinen ersten Kontakt mit Willy Brandt
hatte ich imJahre 1965.Damals warich politischer Referent des norwegischen Außenministers Halvard Lange und begleitete ihn bei seinem Besuch des Regierenden Bürgermeisters in Berlin. Seitdem traf
ich Willy Brandt etwa fünfzigmal. Er war
ein Staatsmann, dem ich – emotional wie
politisch – sehr nahe kam. Beim ersten
Treffen beeindruckte mich, dass Willy
Brandt als politische Antwort auf den Bau
der Mauer weniger Wert auf Militärparaden legte als vielmehr auf eine Politik der
kleinen Schritte im Interesse der Menschen, zum Beispiel damit die durch die
Mauer getrennten Familien sich wieder
treffen konnten. Schon damals befürwortete er eine Entspannung zwischen Ost
und West, und wandte sich gegen Denkund Kontaktverbote: „Ich fürchte keine
Kontakte, Angst vor Kontakten haben nur
Diktatoren“, sagte er uns. Auch als Bundesaußenminister der Großen Koalition
blieb Willy Brandt bescheiden und sagte
uns: „Niemand soll als Außenminister so
tun, alshabe er die Weisheitmit Löffelngegessen“.
Nach seinem Amtsantritt als Bundeskanzler 1969 beeindruckte mich, dass er
in seinen Anstrengungen um Entspannung in Europa nie aufgab – weder gegenüber den skeptischen Reaktionen im Os-
Stolz auf den Staatsmann, der
fließend norwegisch sprach
ten noch gegenüber dem erbitterten Widerstand im Westen gegen seine Entspannungspolitik. Anders als in Deutschland
gab es in Norwegen, damals unter dem
konservativen Außenminister John Lyng,
kaum Widerstand gegen Willy Brandts
Entspannungspolitik. Norwegen hatte
Vertrauen zu ihm, und wegen der gemeinsamen Grenze mit der Sowjetunion hatten
wir auch ein Interesse an Entspannung.
Deshalb bekam die Entscheidung des
norwegischen Nobelkomitees, Willy
Brandt für seine Politik der Ostverträge
Ende 1971 den Friedensnobelpreis zu
verleihen, volle Unterstützung aus allen
politischen Lagern in Norwegen. Zwar
gab es in Norwegen, schon allein wegen
des Zweiten Weltkrieges, antideutsche
Vorbehalte. Aber mit Willy Brandts persönlicher Glaubwürdigkeit – und seiner
demütigen Ehrerbietung durch den Kniefall des Bundeskanzlers am Mahnmal für
Freunde. Der frühere norwegische Verteidigungsminister Thorvald Stoltenberg (links) im
Foto: Fritz Fischer dpa
Gespräch mit Willy Brandt 1984 über den Konflikt in Nicaragua.
die im Warschauer Ghetto ermordeten Juden am 7. Dezember 1971, nur drei Tage
vor der Entgegennahme des Friedensnobelpreises – waren bei uns antideutsche
Zweifel verschwunden.
Im Gegenteil, wir alle in Norwegen waren stolz auf den einzigen internationalen
Staatsmann, der fließend norwegisch
sprach und am 10. Dezember 1971 den
Friedensnobelpreis aus der Hand der Vorsitzenden des Nobelkomitees, Aase Lionæs, erhielt, die bereits vor dem Krieg
1938 Willy Brandt kennengelernt hatte,
als sie Mitglied im Osloer Stadtrat war.
In seiner programmatischen Rede in
Oslo am 11. Dezember 1971 erläuterte
Willy Brandt die Grundlinien seiner Friedenspolitik, die in ungewohnter Klarheit
Krieg als Mittel der Politik prinzipiell ausschloss: „Der Krieg darfkein Mittel derPolitiksein.Esgehtdarum,Kriegeabzuschaffen,nicht nur, siezu begrenzen. ... JedeAußenpolitik muss dieser Einsicht dienen. ...
Krieg ist nicht mehr die ultima ratio, sondern die ultima irratio. Auch wenn das
noch nicht allgemeine Einsicht ist: Ich begreife eine Politik für den Frieden als
wahre Realpolitik dieser Epoche.“
Darauf aufbauend, erläuterte Willy
Brandt die konkreten Prinzipien und
Ziele seiner Entspannungspolitik. Seine
beruhigende und inspirierende Art, sein
Mut und seine Entschlossenheit, über die
Ostverträge und die KSZE in Europa ein
„Gebäude des Friedens zu errichten“, beeindruckte uns, ebenso wie sein klares
Fundament: „Der Gewaltverzicht muss
ein Gesetz werden, das jeder Staat respektiert und das Interventionen ausschließt.“ Damals wusste niemand, ob
diese friedliche Runderneuerung der europäischen Sicherheit wirklich Erfolg haben konnte. Aber wir hatten mit Willy
Brandt Vertrauen in die neue deutsche
Außenpolitik gewonnen.
Für deutsche Leser möchte ich das etwas erläutern: Als – von der Bevölkerungszahl – kleines Land musste sich Norwegen außenpolitisch stets anpassen.
Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges wurde 1945 Großbritannien – wo
auch unser König vor der deutschen Besatzung Zuflucht gefunden hatte – unser
natürlicher Haltepunkt in Europa. Mit
der Gründung des Sekretariats des Commonwealth 1965 schien sich das Britische Königreich wieder stärker an globalen Aufgaben als an seinen europäischen
Nachbarn zu orientieren.
Als Präsident der Sozialistischen Internationale (SI) 1976–1992 unterstützte
Willy Brandt auf vielfältige Weise Friedens- und Abrüstungsinitiativen. Persönlich arbeitete ich als Mitglied im Rat der
SI (1969–1987) eng mit Willy Brandt zusammen bei Initiativen zur Lösung von
Konflikten. Er verstand es immer wieder,
die Besonderheiten eines Konfliktes zu
berücksichtigen und zugleich Wege zu
finden, ihn durch direkten Dialog mit den
Beteiligten zu deeskalieren.
Mehrfach setzte er mich als „Troubleshooter“ ein. Einen Auftrag von Willy
Brandt zur Konfliktvermittlung werde ich
nie vergessen: Als er mich bat, in Nicaragua zwischen Sandinastas und Contras zu
vermitteln, lehnte ich zunächst ab: „Ich
kann kein Spanisch, war nie in Nicaragua
und kenne nicht die Konfliktparteien“.
Aber Willy Brandt antwortete: „Thorvald,
gerade weil du die Konfliktparteien, ihre
Sprache und ihr Land nicht kennst, hast du
beste Chancen, deinen gesunden Menschenverstand einzusetzen und mit den
Parteien einen vernünftigen Kompromiss
für ein Friedensabkommen auszuhandeln“. Ich akzeptierte seinen Auftrag –
und der Erfolg gab Willy Brandt recht ...
Aus heutiger Sicht erwies sich Willy
Brandts Entspannungspolitik als die bestmögliche und erfolgreiche Anwendung
der Charta der Vereinten Nationen zur
Überwindung der im Kalten Krieg festgefahrenen Spannungen in Europa.
Ich persönlich möchte drei Ergänzungen zur Verwirklichung von Willy
Brandts Vermächtnis nach dem Ende des
Kalten Krieges formulieren.
Erstens: Mehr Offenheit und Demokratie! Man sollte dem Terror mit mehr Offenheit und Demokratie (d.h. nicht „Naivität“) begegnen, und nicht mit mehr Verschlossenheit und weniger Demokratie!
Als wir in Norwegen am 22. Juli 2012
dem Terror und Massenmord durch eine
Person ausgesetzt waren, haben wir zu
Tausenden mit mehr Offenheit und mehr
Demokratie geantwortet. Das Ergebnis
war breiteste Solidarität und Unterstützung aus allen Strömungen unserer Gesellschaft. Und der vom Gericht verurteilte Terrorist und seine Ideologie waren
grenzenlos isoliert, trotz oder gar wegen
aller Offenheit. Diese Reaktion war anders als die Reaktion von Präsident Bush
auf den 11. September 2001.
Zweitens: Dynamik von Konflikten
nur durch Dialog zu lösen! Wir können
Krieg nicht „weg“erfinden, und alle
Konflikte sind verschieden. Aber wir
müssen lernen, anders mit der Dynamik
von Konflikten umzugehen. Auch das
ist eine Lehre von Willy Brandt. Und
die liegt mir persönlich sehr am Herzen: Man kann die Dynamik von Konflikten nur dann deeskalieren, wenn
man mit allen Beteiligten spricht, die
im Konflikt Macht haben. Wenn man
nicht direkt mit einer Konfliktpartei redet, kann man auch keine Vereinbarung
erzielen. Das heißt Kommunikation zwischen und mit Konfliktparteien ist Voraussetzung für jede tragfähige Lösung
der Probleme.
Drittens: Den Kompromiss aufwerten,
dennohne Kompromisse gibt es keine Problemlösung! Kompromisse und Kompromissbereitschaft sind Voraussetzung für
jede Lösung – ob in der Familie, in der Gesellschaft, lokal oder international. Das
heißt, dass wir unsere Herangehensweise
an Konfliktlösungen ändern müssen: Wir
sollten aufhören, den Kompromiss nur als
„notwendiges Übel“ oder als etwas darzustellen, was wir unter „anderen“ Bedingungen wieder infrage stellen. Nur die Bereitschaft zum Kompromiss, zum Interessenausgleich und zur Respektierung des
Anderen und seiner Andersartigkeit kann
inder globalisierten Welt denWeg zumZusammenleben und zur friedlichen Veränderung eröffnen. Gerade dies war das Geheimnis des Erfolges der Politik Willy
Brandts, die zur friedlichen Öffnung und
Vereinigung Europas geführt hatte.
— Aufgezeichnet und aus dem Norwegischen übersetzt von Wolfgang Biermann
Den kompletten Text von Thorvald
Stoltenberg lesen Sie unter
www.tagesspiegel.de/willybrandt
B4
WILLY BRANDT
DER TAGESSPIEGEL
NR. 21 720 / MONTAG, 17. JUNI 2013
Nie sahen ihn seine Söhne weinen
Willy Brandt bemühte sich, ein guter Vater zu sein. Doch ein Familienmensch war er nicht. Er tat sich schwer mit Emotionen und floh in die Geschichte
Von Torsten Körner
Willy Brandt fiel es schwer, in der Familie
Halt und Geborgenheit zu finden. Eher
war er in der ganzen Welt zu Hause, in der
Geschichte und seiner Partei. Einer wie er
fand vor Hunderttausenden die richtigen
Worte und gab der Masse das Gefühl, ihr
nahe zu sein, sie zu verstehen. Doch im familiären Kreis blieb der Übervater der
SPD oft genug ein unsichtbarer Vater, der
sich in sich selbst zurückzog. Privat litt er
darunter, nicht die richtigen Worte und
Gesten zu finden, denn seine Kindheit
und Jugend hatten ihm eine soziale Bindegewebsschwäche beschert, ein Unvermögen, sich emotional mitzuteilen und zu öffnen. Wo hätte er diese familiäre Sprache
auch lernen sollen?
Willy Brandt wächst als uneheliches
Kind überwiegend bei seinem Großvater
auf. Seinen leiblichen Vater lernt Brandt
nie kennen, und er glaubt lange Zeit, sein
Stiefgroßvater Ludwig Frahm, den er
„Papa“ nennt, sei sein Vater. Doch der geliebte Mann, der bis dahin seine wichtigste familiäre Instanz war, begeht 1935
aus Verzweiflung Selbstmord. Da lebt
Willy Brandt schon im norwegischen Exil
und hat sich auf der Flucht vor den Nazis
eine eigene Identität gegeben. Am 11.
März 1933 nennt sich der junge Mann,
der bis dahin auf den Namen Herbert
Frahm hörte, Willy Brandt.
Dieser Tarn- und Kampfname entwickelt ein eigenes Gewicht, ein eigenes
Schicksal, denn er bietet dem jungen
Mann die Chance, sich selbst aus der
Taufe zu heben und das alte, ungeliebte
Ich zu verabschieden. Willy Brandt hat in
seinen Biografien später oft betont, wie
fremd ihm dieser Herbert Frahm geworden sei. Seither hatte Willy Brandt mit
dieser Abspaltung zu leben, ein Riss geht
durch seine Persönlichkeit, und Brandt
fragte sich, ob er zum Ehemann, Familienmenschen und Vater überhaupt tauge?
Willy Brandt kam, wie er selbst schrieb,
aus dem „familiären Chaos“ und fand
seine Heimat früh in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Und als seine
erste Ehe mit der Norwegerin Carlota
Thorkildssen, aus der seine Tochter
Posieren für die Öffentlichkeit. Willy Brandt als Berlins Regierender Bürgermeister mit seiner Frau Rut und den Söhnen Lars
Foto: picture-alliance / dpa
(14), Peter (16) und Matthias (4), aufgenommen 1965.
Ninja (1940*) hervorgeht, nach wenigen
Jahren scheitert, bestärkt diese Erfahrung Brandt darin, wohl kein Familienmensch zu sein. Seine zweite Ehe mit Rut
Hansen verwitwete Bergaust, die 1948
geschlossen wird, ist daher ein Wagnis,
eine echte Herausforderung.
Als er 1947 nach Deutschland zurückkehrt und seine erste Frau Carlota und
ihre Tochter Ninja verlässt, schreibt er anrührende Briefe an das siebenjährige
Mädchen, um ihr nahe zu sein und zu erklären, warum er sich in der Politik engagiert. Am 4. Dezember 1947 berichtet er
aus Berlin: „Vielleicht hat Mama schon
erzählt, dass ich in einigen Wochen eine
neue Arbeit anfangen werde. Ich bin ja,
wie Du weißt, in Deutschland aufgewachsen. Später habe ich in Norwegen gewohnt. Ich musste nach Norwegen fliehen, weil die, die damals in Deutschland
regiert haben, dieselben schrecklichen
Leute waren, die später auch Soldaten
nach Norwegen geschickt haben. Jetzt
aber gibt es andere Menschen, die
Deutschland wieder aufbauen wollen
und dafür sorgen werden, dass das Land
nie wieder etwas Falsches gegen andere
Länder unternimmt. Und ich finde, dass
ich dabei helfen muss, auch wenn ich Nor-
Er lebte Politik
Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung zeigt Ausstellungen in Berlin und Lübeck
Sie liegt im Herzen der Hauptstadt, prominent Unter den Linden 62-68, große
Schaufenster laden ein, wo früher eine
französische Automarke lockte. Willy
Brandts Kniefall in Warschau und sein zufriedener Blick auf die Menge am 10. November 1989 am Brandenburger Tor –
diese beiden Fotos in den Schaufenstern
des Forum Willy Brandt Berlin der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung ziehen
die Besucher an. „...mehr Demokratie wagen...“ ist aus dem Lautsprecher an der
Tür die markante Stimme zu vernehmen.
Wer die neu gestaltete Dauerausstellung
„Willy Brandt – Politikerleben“ anschaut,
wird nicht nur über sein Leben und Wirken informiert, sondern gleichzeitig über
die dramatische Geschichte des 20. Jahrhunderts in Europa.
Die 1994 gegründete Stiftung ist eine
von fünf überparteilichen Politiker-Gedenkstiftungen, die bisher von der Bundesrepublik Deutschland geschaffen wurden. Damit steht Willy Brandt in einer
Reihe mit Otto von Bismarck, Friedrich
Ebert, Konrad Adenauer und Theodor
Heuss. Erhättees sichalsRegierenderBürgermeister Berlins nicht träumen lassen,
dass er einmal Unter den Linden gegenüber der russischen Botschaft geehrt werden würde. Der Name Willy Brandt steht
für „Demokratie und Freiheit, Völkerverständigung und Frieden, Gerechtigkeit,
Solidarität und gesellschaftliche Verant-
wortung“. Dem fühlt sich die Stiftung verpflichtet. In Brandts Geburtsstadt Lübeck
unterhält die Stiftung ein zweites Standbeinim Willy-Brandt-Haus , dasfür außerschulische Bildungsarbeit genutzt wird.
Neben der breiten Bildungsarbeit für
Kinder, Jugendliche und Erwachsene gibt
die Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung
seine Schriften heraus, treibt die Forschungüber ihnvoran und veranstaltet unter anderem Zeitzeugengespräche, die in
einer eigenen Schriftenreihe dokumentiert werden.
R.B.
Weitere Informationen im Internet:
www.willy-brandt.de
www.willy-brandt-luebeck.de
Kommt her und schaut euch um
Seit 2000 fördert die Deutsch-Norwegische Willy-Brandt-Stiftung Begegnungen
Der Anstoß kam aus Norwegen. Die Regierung startete 1999 die „Deutschland-Strategie“, um das Verhältnis zwischen Deutschland und Norwegen entscheidend zu verbessern, aber auch das
Interesse an Deutschland neu zu wecken,
dem Staat, mit dem man seit der Unabhängigkeit 1905 so eng zusammengearbeitet hatte und der dann zum Entsetzen
der Norweger 1940 das Land überfallen
und besetzt hatte. Doch die Zeiten hatten
sich geändert, und Deutschland war zum
wichtigsten Partner Norwegens in Europa geworden.
Das Außenministerium hatte die
Gründung einer Norwegisch-Deutschen
Willy-Brandt-Stiftung angeregt. Niemand schien den Norwegern geeigneter
als Willy Brandt als Namenspatron,
denn der Entspannungspolitiker und
Friedensnobelpreisträger hatte schließlich von 1940 bis 1948 die norwegische Staatsbürgerschaft besessen. In seinem Leben spiegelt sich die Geschichte
beider Länder.
Zu den Gründungsvätern der Stiftung
gehörten unter anderem Thorvald Stoltenberg und Egon Bahr. Ziel der Stiftungsarbeit ist es seit 2000, vor allem
die Kenntnisse über das jeweils andere
Land zu vertiefen, für die Sprache zu
werben und Begegnungen zu ermöglichen.
Auffällig ist das Engagement der Stiftung für Schüler, Studenten und junge
Wissenschaftler. Schulbesuche, Bildungsreisen,
Forschungsstipendien
– das Instrumentarium ist breit ange-
VERANSTALTUNGEN IM JUBILÄUMSJAHR
legt, um möglichst vielen interessierten
Deutschen und Norwegern Möglichkeiten zur Begegnung zu geben. Gefördert
wird auf den Gebieten Bildung und Kultur, Nachhaltigkeit in Energie und Umwelt und Nachhaltigkeit in Politik und
Gesellschaft.
Herausragend ist die alljährliche Verleihung des Willy-Brandt-Preises an jeweils
eine Persönlichkeit oder Institution beider Länder. So wurden beispielsweise
2006 zwei deutsche und eine norwegische Schule ausgezeichnet, die sich besonders im Schüleraustausch engagiert
hatten. Das war ganz gewiss im Sinne
Willy Brandts.
R.B.
Weitere Informationen im Internet:
www.willy-brandt-stiftung.de
D
Ein Leben wird gewürdigt
Am 18. Dezember 2013 jährt
sich der 100. Geburtstag von
Willy Brandt. Aus diesem Anlass hat die Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung
zahlreiche Veranstaltungen im
Jubiläumsjahr unter dem Motto
„Europäische Einheit – Freiheit
/ Mehr Demokratie – Eine
Welt“ vorbereitet.
18. Juni, Berlin: Zeitzeugengespräch: Egon Bahr (in Kooperation mit der Bundeskanz-
ler-Willy-Brandt-Stiftung) im Tagesspiegel-Verlagshaus, Askanischer Platz 3. (Keine Anmeldung mehr möglich)
21. Juni, Lübeck: „Ein Fest für
Willy!“ – Bürgerfest der SPD in
Lübeck
22. Juni, Lübeck:
Enthüllung einer Gedenktafel
an Willy Brandts Geburtshaus
29. Oktober, Berlin: Zeitzeugengespräch: Gerhard Schröder. Stiftung Aufarbeitung,
Kronenstraße 5
5. Dezember, Berlin:
Gedenkveranstaltung des Senats von Berlin und des Abgeordnetenhauses von Berlin
11. Dezember, Lübeck:
Festakt zum 100. Geburtstag
Willy Brandt (in Kooperation
mit der Hansestadt Lübeck und
der Norwegisch-Deutschen
Willy-Brandt-Stiftung). Hauptredner: Dr. Heinz Fischer, österreichischer Bundespräsident, und
Thorvald Stoltenberg in Anwesenheit von Bundespräsident
Joachim Gauck
17. Dezember, Berlin:
Internationale Konferenz der
Friedrich-Ebert-Stiftung
18. Dezember, Berlin:
Festveranstaltung der SPD
im Willy-Brandt-Haus
Hauptredner: Felipe González,
Sigmar Gabriel, Egon Bahr
Weitere Termine und nähere
Informationen im Internet:
www.willy-brandt.de
www.willy-brandt-stiftung.de
wegen sehr, sehr lieb habe. Es ist aber so,
wie mir neulich einer meiner Freunde
aus der Schweiz geschrieben hat: Ich
muss jetzt für dasjenige von meinen beiden Vaterländern arbeiten, das es schwer
hat und meine Hilfe braucht. Eine große
Umarmung von Deinem Papa.“
WillyBrandt bemühtesich,ein guter Vater zu sein, er nahm sich die kleine Zeit,
wenn die große Zeit ihn ließ. Er las den
SöhnenMärchen vor,warfan SilvesterBöller, mit Lars ging er angeln. Ein Rabenvater ist Brandt für seine vier Kinder Ninja,
Peter, Larsund Matthiassicher nicht gewesen, aber ein gehandicapter, ein schwer zu
fassender Vater. Und es war eine andere
Zeit. Wie selbstverständlich flog der Regierende Bürgermeister 1961 in die USA,
obwohl seiner Frau eine schwere Geburt
bevorstand. Rut litt sehr, aber sie trug es.
Väter waren noch keine Kreissaalgefährten und Windelwickler.
Spricht man mit Peter, Lars und Matthias Brandt, stellt man bald fest, dass jeder von ihnen einen anderen Vater erlebt
hat und eine eigene Beziehung zu ihm aufbaute. Während die älteren Brüder Peter
(1948*) und Lars (1951*) in Berlin noch
die Ansätze eines „normalen“ Familienlebens erfahren, wird Matthias (1961*) in
Bonn schon von Leibwächtern zur Schule
begleitet. Mitunter hat das Nesthäkchen
das Gefühl, dieser Mann sei ein „Opa“ und
bedürfe, etwa beim Spielen, seiner kindlichen Hilfe, denn in solchen Dingen ist der
amtierende Bundeskanzler vollkommen
hilflos. Wie bloß baut man ein Modellflugzeug zusammen? In solchen Momenten
konnte Brandt in eine totale Lähmung versinken, aus der ihn der Sohn mit aufmunternden Worten und kindlichem Trost herauszuholen versuchte.
Willy Brandt gehörte zur Generation
der unnahbaren Väter, die von den Erfahrungen im Krieg und im Exil existenziell
so geprägt worden waren, dass ihre Kinder in ihnen intuitiv eingeschränkte Persönlichkeiten sahen und von ihnenkein gesteigertes Interesse an ihrem eigenen Leben erwarteten.
Auch die Frauen an seiner Seite warteten häufig umsonst auf das lösende Wort.
Klarheit in Liebesdingen? Konstruktiver
Streit? Rut Brandt scherzte einmal verzweifelt, sie werde eines Tages eine Tränengasbombe werfen, um ihrem Mann
Gefühle abzuluchsen. Man hat Willy
Brandt viele Geliebte angedichtet, die
meisten von ihnen entsprangen blühender Männerfantasie. Zwar übte Brandt
eine große Anziehungskraft auf Frauen
aus, aber es war gerade seine emotionale
Verlorenheit und sein unbeholfenes, passives Bedürfnis nach Nähe, das ihm die
Sympathien zuspielte. Seine treueste Geliebte, seine Seelennotschwester und lebenslange Kameradin war die weiße
Dame, die Zigarette. Nein, privat flossen
die Gefühle spärlich, seine Söhne sahen
ihn nie weinen. Tränen füllten seine Augen hingegen, wenn die Geschichte
sprach. Als die Alliierten in der Normandie landeten, als er 1970 im Sonderzug
nach Erfurt fuhr, als 1989 die Mauer fiel.
Da wagte er Gefühl, da vermählte er inneres Empfinden mit kollektiven Gefühlen.
In diesen Momenten war Brandt ganz bei
sich und ganz außer sich.
In seinem letzten Erinnerungsbuch
fehlt die Familie völlig. Warum? Undankbarkeit? Kälte? Kaum! Ein Mann wie Willy
Brandt konnte sich nicht in die Familie retten, deshalb musste er in die Geschichte
fliehen. Die, die ihm dahin nicht folgen
wollten, musste das verletzen. Mit all seinen Selbstzweifeln und beschädigten Gefühlen suchte und fand er Bestimmung
In der Historie endlich
fand er jene Geborgenheit,
die er anderen spenden konnte
und Statur im staatsmännischen Selbstbild, das er im letzten Lebensbuch entwirft.
Die Historie nahm ihn bereitwillig auf,
hier blieb er kein Flüchtling, hier fand er
Geborgenheit und spendete sie anderen,
die ihn nur aus der Ferne her kannten.
Ein Familienmensch ist Brandt nicht gewesen, aber ohne Familie ist kein
Mensch. Und als er in seinem Haus in
Unkel starb, fanden sich Worte, Tränen
und Gesten, um seinen Kindern „Lebewohl“ zu sagen.
— Torsten Körner: Die Familie Willy
Brandt, erscheint am 22. August im FischerVerlag und kostet 22,99 Euro, die Buchpremiere findet am 26. September im Renaissance-Theater statt und wird von Anne
Will moderiert.
WILLY BRANDT 100: Beilage des Tagesspiegels.
Redaktion: Rolf Brockschmidt, Hella Kaiser;
Anzeigen: Jens Robotta,
Postanschrift: 10876 Berlin, Tel. (030) 29021-0.