WIRTSCHAFTSPOLITIK

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WIRTSCHAFTSPOLITIK
WIRTSCHAFTSPOLITIK
Skriptum
von Prof. Dr. Roland Eisen
I. Grundlagen
§ 1 Was ist Wirtschaftspolitik
§ 2 Die Rolle von Werturteilen und das Zweck-Mittel-Denken
II. Ordnungspolitik in der Wettbewerbswirtschaft
§ 3 Ordnungsprobleme und Kriterien der Ordnungsbestimmung
§ 4 Transformationsprobleme von Wirtschaftsordnungen
§ 5 Der Beitrag der Wohlfahrtsökonomie
§ 6 Die Notwendigkeit von Ordnungspolitik: Probleme
der marktmäßigen Koordination
Seite
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3
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III. Institutionelle Grundlagen: Ziele, Mittel und Träger der Wirtschaftspolitik
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§ 7 Zielsysteme: Empirische Zielkataloge
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§ 8 Zielbeziehungen und Zielkonflikte
§ 9 Die Analyse der wirtschaftspolitischen Instrumente
§ 10 Träger und Inspiratoren der Wirtschaftspolitik
§ 11 Der wirtschaftspolitische Entscheidungs- und Abstimmungsprozess
und seine Grenzen
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IV. Spezielle Wirtschaftspolitik
§ 12 Wettbewerbspolitik: Leitbilder, praktische Umsetzung und Probleme
§ 13 Strukturpolitik - Auf dem Wege zur Dienstleistungsgesellschaft?
§ 14 Agrarpolitik - Weinseen und Butterberge?
§ 15 Umweltpolitik - Umwelt ein freies Gut?
§ 16 Wohnungspolitik - Wohnungsnot und kein Ende?
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Hinweise zur Literatur
Im wesentlichen folgt die Gliederung der traditionellen Einteilung der Wirtschaftspolitik. Als
wichtigstes Buch wird Streit genannt. Einen guten Überblick geben auch
Berg/Cassel/Hartwig. Über die Wirtschaftsordnung informiert recht umfassend Lampert. Eine
Reihe wichtiger, aber kurzer Stichwörter zur Wirtschaftspolitik sind enthalten im Lexikon der
Volkswirtschaft, hrsg. von Friedrich Geigant u.a., Landesberg a. L. (Verlag moderne Industrie
1983, 6. Aufl. 1994).
In Kapitel IV wird aus der Vielzahl möglicher Spezieller Wirtschaftspolitiken nur eine subjektive Auswahl geboten, so wären etwa auch Verkehrs- und Energiepolitik oder auch Bildungspolitik interessante Anwendungen. Für einen Überblick empfiehlt sich Seidenfuss.
Lesenswert sind aber auch die Beiträge in Vahlens Kompendium, Bd. 2.
Kleinere, ergänzende Literaturangaben werden bei den jeweiligen Paragraphen angegeben.
Berg, Hartmut, Dieter Cassel und Karl-Hans Hartwig: Theorie der Wirtschaftspolitik, in: Vahlens Kompendium, 7. Aufl. 1999, Bd. 2, S. 171-298.
Lampert, H.: Die Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland, München,
13. Aufl. 1997.
Seidenfuss, Helmuth St.: Sektorale Wirtschaftspolitik, in: Kompendium der Volkswirtschaftslehre, hrsg. von Werner Ehrlicher u.a., Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht Verlag), 1968,
Bd., S. 287-352.
Streit, Manfred E.: Theorie der Wirtschaftspolitik, Düsseldorf (Werner Verlag) 1979, 5. Aufl.
2000.
Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, hrsg. von Dieter Bender
u.a., München (Verlag Franz Vahlen), 1983, 7. Aufl. 1999, Bd. 2.
(Stand: 11. September 2001)
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I. Grundlagen
§ 1 Was ist Wirtschaftspolitik?
Wirtschaftspolitik ist die Gesamtheit aller Maßnahmen, Handlungen und Bestrebungen, die
darauf abzielen, die wirtschaftlichen Aktivitäten der inländischen Wirtschaftssubjekte durch
die Träger der Wirtschaftspolitik zu beeinflussen, zu gestalten, zu steuern und zu ordnen (nach
Herbert Giersch).
Wirtschaftspolitik wird als entscheidungstheoretischer Ansatz verstanden, wobei zwischen
positiver Ökonomik (Erklärung der ökonomischen Zusammenhänge), normativer Ökonomik
und Kunstlehre (im Sinne von praktischer Wirtschaftspolitik) unterschieden wird (J.N.
Keynes). Dabei greift die Wirtschaftspolitik an vielen Stellen auf die Wirtschaftstheorie
zurück. Ergänzung aber durch polit-ökonomische Fragestellungen und Ansätze ("Neue Politische Ökonomie") (vgl. Abb. 1).
Drei Fragen sind dabei zu beantworten: Wer entscheidet? Wie wird entschieden? Was wird
entschieden?
Die erste Frage weist auf die Träger und Inspiratoren der Wirtschaftspolitik hin und darauf,
wie die Träger bei Zielfindung, Willensbildung und Durchführung der Wirtschaftspolitik zusammen oder gegeneinander arbeiten.
Die zweite Frage läßt sich mit Hilfe der Begriffe "Rationalität der Wirtschaftspolitik" und
"Optimierung des Ziel-Mittel-Verhältnisses" umschreiben: Zentrale Probleme sind die Ableitung einer Zielfunktion für die und das Risikoverhalten der Träger der Wirtschaftspolitik.
Die dritte Frage steht im Mittelpunkt: Kenntnis der Lage und der Ziele, deren Auseinanderklaffen Spannungen hervorruft, die zu wirtschaftspolitischen Aktivitäten führen (Diagnose,
Prognose). Wichtig hier auch die Analyse der Instrumente.
Wirtschaftspolitik wird aufgespalten in Ordnung-, Struktur- und Prozesspolitik bzw. in
Quantitative Wirtschaftspolitik, Qualitative Wirtschaftspolitik und Reformpolitik (J. Tinbergen).
Es stehen sich das "synoptische Ideal" (Quantitative Wirtschaftspolitik) und das
"pragmatische Ideal" (Methode des Inkrementalismus, Popper, Dahl/Lindblom) gegenüber.
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Abb. 1: Wirtschaftspolitik, Wirtschaftstheorie und Wertfreiheit
Quelle: Streit: S. 229.
§ 2 Die Rolle von Werturteilen und das Zweck-Mittel-Denken
Werturteile sind normative Aussagen, deren Überprüfung nach herrschender Meinung
nicht möglich ist. Es werden unterschieden ethische, ideologische, teleologische und ontologische Urteile. Über Grundauffassungen zu den Werturteilen vgl. Abb. 2.
Probleme sind der "naturalistische Trugschluß" (aus dem Sein wird auf ein Sollen geschlossen) und der "instrumentalistische Trugschluß" (G. Myrdal).
Abb 2: Grundauffassungen zur Werturteilsfrage
Quelle: Berg/Cassel/Hartwig (1995): Theorie der Wirtschaftspolitik, in: Vahlens
Kompedium der Wirtschaftstheorie und Wirtschaftpolitik, Bd. 2; 6. Aufl., München:
Vahlen, S. 180.
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II. Ordnungspolitik in der Wettbewerbswirtschaft
§ 3 Ordnungsprobleme (Kompetenz/Koordination) und Kriterien der Ordnungsbestimmung
Vorklärung der Begriffe Wirtschaftsverfassung, Wirtschaftssystem und Wirtschaftsordnung,
wobei unter Wirtschaftsordnung die konkrete Ausgestaltung der Wirtschaft zu verstehen ist
(vgl. Abb. 4).
Kriterien sind die Verteilung der Planungsbefugnisse (Koordination via Zentralplan oder
Wettbewerb), die Ordnung der Eigentumsverhältnisse und die Ordnung der Kompetenzen.
Hieraus ergeben sich verschiedene Extremtypen und Mischformen von Wirtschaftsordnungen
(u.a. planification, Soziale Marktwirtschaft) (vgl. Abb. 3). Zur sozialen Marktwirtschaft siehe
auch Seite 8/9/10.
Grundlage des Koordinationsproblems (=Allokationsproblems) ist die Knappheit
(mengenmäßige Differenz zwischen Bedarf und Aufkommen); Knappheitsgradanzeiger sind
Marktpreise oder Salden güterwirtschaftlicher Planbilanzen (Dualität).
Abbildung 3: Extremtypen und Mischformen von Wirtschaftsordnungen
Koordinationsverfahren
Eigentumsordnung
Privateigentum
Marktmäßige
Koordination
Vereinbarungen
(Verbände)
Extremtyp: Total
dezentral geplante
Marktwirtschaft
Zentralverwaltungswirtschaftliche
Anweisungen
Staatskapitalismus
Reine Marktwirtschaft
Gelenkte
Marktwirtschaft
Gesellschaftliches
Eigentum
Zentralverwaltungswirtschaft
Staatseigentum
Konkurrenzsozialismus
Extremtyp:
Total zentralverwaltete
Wirtschaft
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Streit, S. 55.
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Abbildung 4: Ordnungspolitik in der gelenkten Marktwirtschaft
Ordnungspolitik
Politische
Verfassung
Institutionelle
Infrastruktur
Wirtschaftsverfassung
Privateigentum
Privatautonomie
◦ Vertragsfreiheit
◦ Schuldenhaftung
◦ Freizügigkeit
◦ Niederlassungsfreiheit
◦ Gewerbe- und
◦ Berufsfreiheit
◦Koalitionsfreiheit
Kontrollorgane
◦ Parlamente
◦ Rechnungshöfe
Autoritäts- u.
Zwangsrechte
Abwehrrechte
Privater
◦ Willkürverbot
◦ Übermaßverbot
Lenkungsbefugnisse
politische
Entscheidung
Quelle: Streit, 2. Aufl., 1982, S. 44. Vgl. auch Streit, 2000, S. 58.
Lenkung
◦ Allokation
◦ Stabilisierung
◦ Distribution
Kontrolle
wirtschaftsrechtliche
Grenzen
z. B. Wettbewerbsrecht
Leistungswettbewerb
marktmäßige
Koordination
Konkrete Ausgestaltung des Ordnungstyps
gelenkte Marktwirtschaft
7
Textauszüge: Neoliberalismus, freiheitlicher Sozialismus und soziale Marktwirtschaft
1. Kernstück der neoliberalen Konzeption ist die Verwirklichung einer Wettbewerbsordnung auf der
Grundlage des Privateigentums.
Oberstes Ziel des Ordoliberalismus ist die individuelle Freiheit in einer Marktwirtschaft mit "vollständiger Konkurrenz" auf allen Märkten. Von dieser Ordnung wird angenommen, daß sie auch eine leistungsgerechte Einkommensverteilung ermöglicht und - bei entsprechender Geldordnung - einen
hohen Beschäftigungsgrad sichert...
Vom Konkurrenzsozialismus unterscheidet sich die ordoliberale Konzeption durch die Bejahung (1)
des Privateigentums an den Produktionsmitteln und (2) der freien Marktpreisbildung, vom alten Liberalismus durch eine stärkere Betonung der Erkenntnis, daß die Wettbewerbsordnung nicht naturgegeben ist und daher als "staatliche Veranstaltung" organisiert und durch die Rechtsordnung gesichert
werden muß.
W. Eucken formuliert sieben "konstituierende" und vier "regulierende" Prinzipien der liberalen Wirtschaftsordnung: (W. Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 5. Aufl., Tübingen 1975):
Die konstituierenden Prinzipien umfassen (1) das Preissystem der "vollständigen Konkurrenz", (2) die
Stabilität der Währung, (3) Gewerbefreiheit, (4) das Privateigentum an den Produktionsmitteln, (5) die
Vertragsfreiheit, ... (6) die volle Haftung, damit der Weg zur Rentabilität nur über Leistung führt, und (7)
die Konstanz der Wirtschaftspolitik, durch die das einzelwirtschaftliche Risiko gemindert werden soll.
Die vier regulierenden Prinzipien umreißen die Aufgaben der staatlichen Wirtschaftspolitik im Rahmen
dieser Wirtschaftsverfassung. (1) Die staatliche Monopolkontrolle soll die Entstehung von Monopolen
und Kartellen verhindern...
(2) Die staatliche Finanzpolitik soll - vor allem mit Hilfe der progressiven Einkommenssteuer - die
Einkommensverteilung korrigieren. (3) Durch Bestimmungen über die Länge der Arbeitszeit, den
Umfang der Frauen - und Kinderarbeit ist die menschliche Arbeitskraft zu schützen... (4) Schließlich
hält Eucken bei "antikonjunkturellem" Verhalten des Arbeitsangebots die Festsetzung von Mindestlöhnen für gerechtfertigt.
2. Die wirtschaftspolitische Konzeption des freiheitlichen Sozialismus ist ein Versuch, marktwirtschaftliche und planwirtschaftliche Prinzipien in einer Synthese miteinander zu verbinden, die die
Mängel des Preismechanismus und eines Systems direkter staatlicher Kontrollen vermeidet und sozialpolitischen Zielen betont Rechnung trägt.
"Wettbewerb soweit wie möglich, Planung soweit wie nötig", heißt das von Karl Schiller geprägte wirtschaftspolitische Motto der deutschen Sozialdemokratie. Darin kommt zum Ausdruck, daß sich der
freiheitliche Sozialismus deutscher Prägung ebenso wie der Neoliberalismus prinzipiell für eine
Marktwirtschaft und gegen eine Zentralverwaltungswirtschaft entscheidet...
Während Euckens ordoliberale Konzeption auf der fragwürdigen Annahme beruht, daß unter der
Herrschaft des konstituierenden Prinzips der Währungsstabilität normalerweise auch ein hoher Beschäftigungsgrad gegeben sein werde, und andere Neoliberale nur eine Konjunkturpolitik mit den
klassischen geld- und kreditpolitischen Mitteln befürworten, fordern die Neosozialisten betont eine
Politik der Vollbeschäftigung (auf der Grundlage einer stabilen Währung) und auch den Einsatz der
Steuer- und Haushaltspolitik für den Ausgleich der konjunkturellen Schwankungen...
Die Ziele der sozialen Sicherheit und einer gerechten Einkommensverteilung werden von den freiheitlichen Sozialisten stärker betont als von den Neoliberalen.
Eine Änderung der Eigentumsverteilung wird nach wie vor energisch gefordert...
3. Die "soziale Marktwirtschaft" ist das vom Neoliberalismus inspirierte Leitbild der westdeutschen
Wirtschaftspolitik nach 1948. Es unterscheidet sich vom Ordoliberalismus durch größere Wirklichkeitsnähe und stärkere Betonung sozialpolitischer Ziele und verlangt von den Trägern ökonomischer
Macht soziales Verantwortungsbewußtsein.
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... Die Idee der sozialen Marktwirtschaft (ist) in vieler Hinsicht vage. Das Leitbild deckt sich auch
vielfach nicht mit der tatsächlichen Regierungspraxis...
So ist es Erhard als Bundeswirtschaftsmininister gerade in so wesentlichen Fragen seines eigentlichen
Aufgabengebiets wie denen der Wettbewerbsgesetzgebung nicht gelungen, sich gegen widerstrebende Stimmen, die vornehmlich aus den Reihen seiner eigenen Partei kamen, voll durchzusetzen.
"Eine Politik der sozialen Marktwirtschaft verlangt eine bewußte Politik des wirtschaftlichen Wachstums" und "eine Konjunkturpolitik.... die im Rahmen der marktwirtschaftlichen Bewegungsmöglichkeiten den Beschäftigungsgrad sichert".
Als Rahmenbedingungen werden die "Stabilität des Haushalts" und eine gesicherte Geldordnung - d.h.
wohl Preisstabilität und Gleichgewicht der Zahlungsbilanz bei Konvertibilität - genannt. Von einer
antizyklischen Finanzpolitik ist nicht die Rede, und der "volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung" will
man sich nicht bedienen.
Es scheint zu den Merkmalen der sozialen Marktwirtschaft zu gehören, daß immer wieder der Versuch
unternommen wird, die Unternehmer durch Appelle an das soziale Verantwortungsbewußtsein oder
die ökonomische Vernunft zu Preissenkungen oder zur Vermeidung von Preissteigerungen zu
bewegen...
Um so wichtiger ist dann natürlich zur Verstärkung des sozialen Gehalts der sozialen Marktwirtschaft
die staatliche Verteilungspolitik "die in Form von Fürsorgeleistungen, Renten- und Lastenausgleichszahlungen, Wohnungsbauzuschüssen, Subventionen usw. die Einkommensverteilung korrigiert"...
Erhard hat die Erfahrung machen müssen, daß außer ihm auch noch andere Kreise, nämlich die Interessengruppen, Wirtschaftspolitik zu treiben versuchen. Er sieht darin "einen Krisenherd unserer Zeit
und bedauert, "wie wenig uns bisher die Einordnung der Gruppeninteressen in den Staat gelungen
ist...
Gekürzte Textauszüge aus: Herbert Giersch, Allgemeine Wirtschaftspolitik, Grundlagen, Wiesbaden
1961, S. 181 ff.
Quelle: Czada, P. u. a. (1988): Wirtschaftspolitik, Opladen, S. 15-16.
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Die Wirtschaftsordnung, die nach dem Grundgesetz möglich ist.
1. Aus: Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Investitionshilfegesetz vom 20.7.1954, Bd.
4, S. 18.
Das Grundgesetz garantiert weder die wirtschaftspolitische Neutralität der Regierungs- und Gesetzgebungsgewalt noch eine nur mit marktkonformen Mitteln zu steuernde "soziale Marktwirtschaft".
Die "wirtschaftspolitische Neutralität" des Grundgesetzes besteht lediglich darin, daß sich der Verfassungsgeber nicht ausdrücklich für ein bestimmtes Wirtschaftssystem entschieden hat. Dies ermöglicht
dem Gesetzgeber die ihm jeweils sachgemäß erscheinende Wirtschaftspolitik zu verfolgen, sofern er
dabei das Grundgesetz beachtet.
Die gegenwärtige Wirtschafts- und Sozialordnung ist zwar eine nach dem Grundgesetz mögliche
Ordnung, keineswegs aber die allein mögliche. Sie beruht auf einer vom Willen des Gesetzgebers
getragenen wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidung, die durch eine andere Entscheidung ersetzt oder durchbrochen werden kann. Daher ist es verfassungsrechtlich ohne Bedeutung, ob das
Investitionshilfegesetz im Einklang mit der bisherigen Wirtschafts- und Sozialordnung steht und ob das
zur Wirtschaftslenkung verwandte Mittel "marktkonform" ist.
2. Aus: Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Mitbestimmungsgesetz vom 1.3.1979, Bd.
50, S. 338.
Dem entspricht es, wenn das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen hat, daß das Grundgesetz
wirtschaftspolitisch neutral sei; der Gesetzgeber darf jede ihm sachgemäß erscheinende Wirtschaftspolitik verfolgen, sofern er dabei das Grundgesetz, insbesondere die Grundrechte beachtet (BVerfGE
4,7 [17 f.] - Investitionshilfegesetz). Ihm kommt also eine weitgehende Gestaltungsfreiheit zu (vgl. etwa
BVerfGE 7, 377 [4001 -- Apotheken; 25,1 [19 f.] -- Mühlengesetz; 30, 292 [317, 319] - Erdölbevorratung). Das darin zutage tretende Element relativer Offenheit der Verfassungsordnung ist notwendig, um einerseits dem geschichtlichen Wandel Rechnung zu tragen, der im besonderen Maße
das wirtschaftliche Leben kennzeichnet, andererseits die normierende Kraft der Verfassung nicht aufs
Spiel zu setzen. Allerdings darf die Berücksichtigung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers nicht
zu einer Verkürzung dessen führen, was die Verfassung in allem Wandel unverändert gewährleisten
will, namentlich nicht zu einer Verkürzung der in den Einzelgrundrechten garantierten individuellen
Freiheiten, ohne die nach der Konzeption des Grundgesetzes ein Leben in menschlicher Würde nicht
möglich ist. Die Aufgabe besteht infolgedessen darin, die grundsätzliche Freiheit wirtschafts- und
sozialpolitischer Gestaltung, die dem Gesetzgeber gewahrt bleiben muß, mit dem Freiheitsschutz zu
vereinen, auf den der einzelne Bürger gerade auch dem Gesetzgeber gegenüber einen verfassungsrechtlichen Anspruch hat (BVerfGE 7, 377 (4001)).
Quelle: Czada (1988): S. 20.
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§ 4 Probleme der Transformation von Wirtschaftsordnungen
I. Aufgrund der einmaligen historischen Situation beschränkt sich die Analyse auf die
Vielzahl der Probleme des Übergangs einer sozialistischen Planwirtschaft in eine
Marktwirtschaft. Es handelt sich um ein "Real-Experiment", das historisch − zumindest in
dieser Dimension − einmalig ist.
Im Prinzip fehlt eine Theorie des Überganges, die Diskussion (vgl. § 3) bezog sich auf die
Klassifikation und den Vergleich der Systeme, auch wenn es immer eine Literatur zur
"Reform sozialistischer Systeme" gab.
Die Ursache für die Umwälzungen in Osteuropa liegt in den sich verstärkenden Funktionsschwächen der Zentralverwaltungswirtschaft (ZVW). Als Mängel sind hier vor allem die
unzureichende Genauigkeit bei der naturalen Planung und/oder das Fehlen eines
funktionsfähigen Anreizsystems zur Leistungsmotivation zu nennen.
Diesen Zusammenhang betont etwa auch Leipold (1991a), der mit Hilfe der Institutionenökonomik die Ursachen des Wandels analysiert: Der institutionelle Rahmen von Staatseigentum
und Zentralisation führt zu Anreiz- und Kontrolldefiziten und zu einem fehlenden Interesse an
rentabilitäts- und kostenbewusstem Wirtschaften. An den hieraus resultierenden
ökonomischen Schwierigkeiten scheitern letztlich die sozialistischen Systeme.
Drei Aufgabenfelder sind zu beachten:
- Veränderung der Eigentumsordnung,
- Makroökonomische Stabilisierung und
- Fragen der Popularität des Reformprozesses bzw. der sich hieraus ergebenden Anforderungen an die Reformpolitik.
Wichtig ist die Herausbildung eines Privatsektors (mit Innovation und innovativen Unternehmern) und einer neuen Mittelklasse (Klasse von Klein- und Mittelunternehmern, SMB-small
and medium business). Die Entwicklung eines Finanzsystems ist dann wichtig für eine erfolgreiche Privatisierung. Nach der Beseitigung der ZVW entsteht ein "institutionelles Vakuum",
der Aufbau neuer Institutionen braucht aber Zeit. Hieraus lässt sich die Wirtschaftskrise teilweise erklären. Makroökonomische Stabilisierung heißt vor allem Bekämpfung der Inflation
durch stabilisierende Geldpolitik und Budgetausgleich. Institutionen lassen sich importieren,
weil sie schon in anderen Gesellschaften Vertrauen und Stabilität hatten. Deutlich veranschaulicht Abb. 5 die Interdependenzen im Transformationsprozeß.
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Begriff der Transformation:
Nach Kloten ist die Transformation von Anreizsystemen "jener durch politischen Gestaltungswillen und politisches Handeln ausgelöste Prozess ..., der durch eine Substitution gegebener
ordnungskonstituierender Merkmale durch andere einen 'qualitativen' Sprung derart bewirkt,
dass es zu einer Ablösung des alten Systems durch ein Neues kommt" (N. Kloten 1991 a, S.
8/9).
D.h. Systemtransformation bedingt dann, dass das Gesamt von Handlungs-, Verfügungs- oder
Planungsrechten ebenso wie die Wirtschaftsrechnung durch ein anderes Prinzip ersetzt wird.
Dieser Begriff ist zu streng; deshalb wird teilweise eine allgemeinere Definition
vorgeschlagen derart, dass "jede Substitution von – auch einzelnen –
ordnungskonstituierenden Merkmalen durch andere, durch die die alte (Teil-) Ordnung durch
eine neue abgelöst wird" hierunter fällt. "Dabei sollte das Ziel einer vollständigen
Transformation hin zur Marktwirtschaft zumindest erkennbar sein" (Bohnet/Ohly; 1992, S.
28/9).
II. Notwendige Maßnahmen folgen im Prinzip aus den eine marktwirtschaftliche Ordnung
konstituierenden und regulierenden Prinzipien von Walter Eucken. So nennt Kloten (1991a, S.
26) die folgenden Schritte: "(1) Die Gewährung individueller Handlungs- und Verfügungsrechte als Kern einer Privatrechtsordnung; (2) Dezentralisation und Entflechtung von Staatsbetrieben; (3) Formen einer Überführung von Eigentum aus Staatshand in private Hände; (4)
eine Neuordnung des Bankwesens mit strikter Trennung zwischen Notenbank und – untereinander konkurrienden – Geschäftsbanken; (5) umfassende Restrukturierung der staatlichen
Haushaltsführung und des Systems der Abgaben; (6) der Verzicht auf die bislang, übliche systematische Abführung monetärer Mittel an staatliche Fonds zugunsten eigenverantwortlicher
finanzieller Dispositionen der Unternehmen bei gleichzeitiger regulärer Erhebung von
Steuern; (7) eine – adäquate – Öffnung der Märkte nach außen auf der Basis konformer
Wechselkurse".
Zur Interdependenz der Transformationsprobleme vgl. Abbildung 5.
III. Umstritten sind die Wege zur Marktwirtschaft oder auch zu welchem Modell der
Marktwirtschaft (Soziale MW?) wie sich anschaulich an der Diskussion um "erst Sanierung
und dann Privatisierung" oder "sofortige Privatisierung" ablesen lässt. Lässt man die Geschwindigkeit und die Reihenfolge vorerst außer Betracht, kann die Privatisierung in folgenden Grundtypen erfolgen:
1) Verschenken des "Volkseigentums" an Bürger und/oder Belegschaften oder
2) Verkaufen, wobei prinzipiell
a) die informelle Vergabe an einzelne Käufer,
b) die Vergabe durch Auktion und
c) die Umwandlung der zu privatisierenden Betriebe in Aktiengesellschaften und Verkauf
der Anteile am Aktienmarkt
mögliche Wege darstellen.
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Einen guten Überblick bietet auch der Weltbankbericht (1996), S. 50-56 an:
"Die Privatisierung mittelgrosser oder grosser Unternehmen (Firmen) hat sich als schwieriger
herausgestellt als ursprünglich wohl gedacht. Die Politiker haben komplexe und manchmal
konfligierende Ziele abzuwägen, eine Fülle von antagonistischen Interessen zu befriedigen,
und mit den verwaltungsmäßigen Schwierigkeiten der Privatisierung von tausenden von
Firmen in einer relativ kurzen Frist und ohne reife, funktionierende Kapitalmärkte
fertigzuwerden" (S. 50).
Üblicherweise werden die (Groß-) Unternehmen durch eine (staatliche) Holding übernommen,
die eine Umstrukturierung durchführt. Verschiedentlich wird betont, dass Restrukturierung
vor Privatisierung kommen muß. Nun erhalten die Bürger Anteilsscheine dieser Holding entweder geschenkt oder sie werden verkauft, um einen bestehenden Geldüberhang abzuschöpfen. Die Teilunternehmen sind dann anschließend zu verkaufen. Die Anteilsscheine
(Zertifikate) können in einem zweiten Schritt in Aktien dieser neuen Unternehmen getauscht
werden ("Aktienmarkt").
Verschiedene
Privatisierungsansätze
erzeugen
verschiedene
trade-offs
zwischen
verschiedenen Zielen! Privatisierende Länder wollen typischerweise viele Dinge: Erhöhung
der Effizienz der Verwendung der Vermögensgüter; Depolitisierung der Firmen, schnelle
"Erzeugung" von Eigentümern, die die weiteren Reformen stützen; Verbesserung des Zugangs
der Firmen zu Kapital und Erfahrung; Aufpolsterung der staatlichen Einnahmen;
Ermöglichung einer fairen Verteilung der Gewinne aus der Privatisierung! Abbildung 6a zeigt
einen "partiellen" Blick auf die möglichen trade-offs. (Zu Vor- und Nachteilen vgl. auch
Schönfelder 1991.)
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Abb. 5: Interdependenz der Transformationsprobleme (Darstellung in Anlehnung an: E. Svindland, Das Sequenzing-Problem..., in: Kredit und
Kapital 25 (Heft 1, 1992), S. 84).
Interdependenz der Transformationsprobleme
Zentralbank,
Bankenaufsicht
Steursätze,
Sozialabgaben
Behördenreform
Geldangebot
Staatsausgaben
Staatsschulden
Verkauf von Staatsbestitz
Staatseinnahmen
Investitionen
Einkommen, Beschäftigung
Preise, Löhne, Zinsen
Rationalisierung
Soziale Dienste
Gesetze
Organisation der Betriebe
Gesetze
Kreditwesen
Gesetze
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Offener Verkauf [Verkauf an "outsiders"]
Diese Privatisierungsmethode war sozusagen die Hoffnung aller, weil man dieses Modell vom
Westen [UK, aber auch Chile] her kannte. Diese Methode hat auch die Erwartungen erfüllt,
was die Verbesserung der Performance (Leistung) betrifft; sie ist aber sehr kostspielig und
langsam und sehr schwierig zu realisieren. Einer der Gründe dafür ist die begrenzte Menge
inländischen Kapitals! Verbunden damit sind häufig politische Spannungen, die mit einer starken Abhängigkeit von ausländischem Kapital einhergehen. Aber auch dort, wo genügend heimisches Kapital vorhanden ist, blockieren gewisse Insider (Manager oder andere Beschäftigte)
den Verkauf. Allgemein formuliert: Der Prozess wird durch die bloße Größe der Bewertungsarbeit und der Verhandlungsprozesse verzögert – und durch den anschließenden Kontrollprozess. Besonders schwierig ist es, einen Wert für die angebotenen Firmen festzusetzen. Das
hängt mit dem ungenügenden Rechnungswesen zusammen, aber auch mit ökonomischen und
politischen Turbulenzen, die es unmöglich machen, einen Wert anzugeben. Auch die Verantwortlichkeit für vergangene Umweltschäden ist ein dorniges Problem. Ein letztes Problem des
Verkaufsansatzes ist seine augenscheinliche Ungerechtigkeit, weil viele gewöhnliche Bürger
nicht partizipieren können und den Prozess als undurchsichtig und interessengesteuert, wenn
nicht gar als korrupt betrachten.
So war es z.B. der Treuhandanstalt möglich, ihre 8.500 staatlichen Firmen relativ schnell zu
privatisieren (oder zu liquidieren), aber mit enormen Kosten hinsichtlich sowohl der ausgebildeten Arbeitskräfte als auch expliziter oder impliziter Subventionen an die Käufer.
Eine zweite Form des offenen Verkaufs bezieht sich auf die Ausgabe von Anteilen (Aktien)
auf dem öffentlichen Aktien- und Anteilsmarkt. Nicht ausgereifte Kapitalmärkte ziehen
diesem Ansatz Grenzen. Darüber hinaus funktioniert diese Methode nur für Firmen mit guten
finanziellen Zukunftsaussichten und guter Reputation.
Das Verkaufen kann auch dazu dienen, einen bestehenden Geldüberhang abzuschöpfen.
Management-Employee Buyouts
Diese Methode wurde sehr breit als Alternative zu Verkäufen genutzt, vor allem in Kroatien,
Polen, Rumänien und Slowenien. Viele der Firmen, die durch Litauen und das mongolische
"voucher program" privatisiert wurden, waren M-E buyouts, da Arbeitnehmer und deren Familien diese vouchers (Anteilsscheine, Berechtigungsscheine) und Bargeld benutzten, um
grosse Teile ihrer eigenen Firmen zu kaufen.
Zusätzlich gaben viele "voucher-basierte" Programme, wie das von Georgien oder Russland,
starke Präferenzen an Insider, so dass die meisten privatisierten Firmen anfänglich im
wesentlichen den Managern und Beschäftigten gehörten. Die Ukraine stellt einen anderen Fall
der Insider-Verwicklung dar. Obwohl die ukrainische Regierung nur langsam privatisiert, hat
sie einige M-E-Buyouts durchgeführt. Auch sie führte ein voucher-Programm in 1994-95 ein,
aber hat es bisher versäumt, es auch effektiv durchzuziehen. Ein neuerer Survey von
privatisierten Gesellschaften in den beiden Ländern Russland und Ukraine zeigt, dass die
russischen Insider-Eigentümer, die einer größeren finanziellen Disziplin ausgesetzt sind, mehr
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Schritte hin zu einer Effizienzverbesserung gemacht haben und die Outsider weniger feindlich
betrachten als ihre ukrainischen Gegenspieler.
Buyouts sind relativ schnell und leicht zu bewerkstelligen, sowohl politisch wie auch
technisch. Auch von der Theorie her können sie besser für die Geschäftsführung sein, wenn
Insider besseren Zugang als Outsider zu Informationen haben, die man braucht, um die
Manager zu kontrollieren.
Es gibt jedoch viele Risiken und Nachteile in großen Buyout-Programmen, die eben auch
viele unprofitable Firmen enthalten. In Stichworten:
–
Die Vorteile sind ungleich verteilt, d.h. Beschäftigte in guten Betrieben sind besser dran,
sie erhalten wertvolle Vermögensteile;
–
Typischerweise verlangen die Regierungen von den Insidern geringe Preise, so dass sie
auch weniger Einnahmen haben.
–
M-E-buyouts können die Geschäftsführung schwächen, weil Kontrollen unterentwickelt
sind und auf die Produkt- und Kapitalmärkte bei der Durchsetzung von Disziplin nicht gezählt werden kann.
–
Insider sind üblicherweise nicht in der Lage, neue Fähigkeiten oder neues Kapital einzubringen, und halten eventuell sogar Outsider von Investitionen ab, oder
–
die Outsider zögern, in Firmen zu investieren, die einen beträchtlichen Anteil von Insidern
haben, wegen potentieller Interessen-Konflikte.
Ein dritte Form der Privatisierung ist die
Equal-Access voucher privatization
wobei vouchers in der Bevölkerung verteilt werden und der Versuch unternommen wird, die
Vermögensgegenstände gleichmäßig unter den voucher-Haltern zu verteilen. Solche Programme sind hinsichtlich ihrer Geschwindigkeit und Gerechtigkeit hervorragend – aber sie ergeben keine Einnahmen für die Regierung und sie haben unklare Konsequenzen für die Geschäftsführung. Die Mongolei, Litauen und das frühere Tschechoslowakien waren die ersten,
die diese Form der Privatisierung durchgesetzt haben. Albanien, Armenien, Kasachstan, Moldawien, Polen, Rumänien (in seinem 1995er Programm) und die Ukraine folgten, und Bulgarien bereitete 1996 ein solches Programm vor.
Das Privatisierungs-Programm Tschechiens war bisher das erfolgreichste. In zwei
aufeinanderfogenden Wellen wurden mehr als die Hälfte der Vermögenswerte der staatlichen
Firmen in private Hände transferiert. Die Bürger waren frei, ihre vouchers direkt in die
versteigerten Firmen zu investieren. Um einen etwas konzentrierten Besitz zu ermutigen und
so Anreize für eine aktivere Geschäftsführung zu schaffen, hat das Programm den freien
Zugang von Investmentfonds zugelassen, um so vouchers zu poolen und sie im Auftrag des
ursprünglichen Eigners zu investieren. Mehr als zwei Drittel der voucher-Eigner wählten
diesen Weg über miteinander konkurrierende Fonds. Die zehn größten Fonds erhielten mehr
als 40% aller vouchers in beiden Wellen (rund 72% Prozent aller vouchers, die bei solchen
Fonds gehalten werden).
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Das Tschechische Beispiel zeigt, wie ein wohl-definiertes Voucher-Privatisierungs-Programm
viele Probleme überwinden kann. Es kann die Restrukturierung depolitisieren, die
Entwicklung von Kapitalmärkten stimulieren und schnell neue interessierte Gruppen mit
großem Interesse an Reformen schaffen.
Aber: Es liegen viel Hindernisse auf dem Weg von der Privatisierung zu einem effizienten
Kapitalismus – die Regierungen müssen komplementäre Reformen durchführen, etwa
bezüglich der Überwachung der Finanzintermediäre und der Regulierung natürlicher
Monopole: Eine besonders irritierende Frage dabei ist, wer kontrolliert die Kontrolleure?
Aber: Neben der Privatisierung von Staatsunternehmen steht – für die langfristige
Entwicklung der Übergangsländer – ebenso wichtig die Förderung neuer Firmen.
Obwohl heimische Firmen in allen Marktwirtschaften das Wachstum bringen, bringen auch
ausländische Investitionen einen sehr hohen Beitrag: Ausländer bringen Kapital, Technik, Unternehmenserfahrung und Zugang zu Märkten – alles kritische Punkte bei der Umgestaltung
des Unternehmenssektors in Transformationsökonomien (vgl. die Zahlen über
Auslandsinvestitionen).
Ebenso wie bei der Privatisierung existieren auch für den Abbau der monetären Ungleichgewichte (Stabilisierung) mehrere Strategien: Neben dem Währungsschnitt ("Währungsreform"
wie in Deutschland) gelten eine streng restriktive Geldpolitik, Preisniveauerhöhungen, Nominallohnsenkungen, Steuererhöhungen oder der Verkauf staatlichen Eigentums als alternative
Möglichkeiten.
IV. Die Frage nach der geeigneten Geschwindigkeit und die nach der richtigen Reihenfolge
der Transformationsschritte sind eng miteinander verknüpft.
(a) Die eine Position geht dabei von einer "Schocktherapie" aus; einer ihrer bekanntesten
Vertreter ist Jeffrey Sachs. "Seiner Ansicht nach können schrittweise Reformen aufgrund der
Interdependenz zwischen den verschiedenen Teilbereichen nicht funktionieren" (Bohnet/Ohly,
S. 35): Die finanzielle Kontrolle des öffentlichen Sektors setzt funktionierenden, aktiven
Wettbewerb voraus, dieser aber wiederum hängt ab vom freien Handel und freien Zugang zu
ausländischen Währungen; Währungskonvertibilität bei (relativ) stabilen Wechselkursen setzt
eine wirksame Geld- und Fiskalpolitik voraus.
Ein zweiter Grund, warum schrittweise Reformen in seinen Augen nichts taugen, liegt im
Verhalten der Bürokratie, das von einer neuen Regierung schwerlich verändert, aber durch die
Wirksamkeit der Marktkräfte umgangen werden kann. Einen dritten Grund für die Schocktherapie sieht Sachs in der Menge der erforderlichen Maßnahmen. Einer schrittweisen Reform
stellen die (negativ berührten) Interessengruppen viele Hindernisse entgegen; dem kann am
besten durch schnellstmöglichen Freihandel, Währungskonvertibilität usw. begegnet werden.
17
Abb. 6a: Tradeoffs among privatization routes for large firms
Objective
Method
Better
Speed and
Better
More
corporate feasibility access to government
governance
capital and revenue
skills
Sale to outside
owners
+
?
?
Managementemployee
buyout
Equal-access
voucher
privatization
Spontaneous
privatization
+
+
?
+
?
-
+
-
Greater
fairness
+
-
Quelle: The World Bank: World Development Report 1996, S. 52, Table 3.1.
(siehe dort hierzu auch den Abschnitt: Privatizing larger enterprises, S. 50-56)
Abb 6b:
%
Privatization (Percent of GDP), Selected CEE Countries, 1992 and
1995 (rough EBRD estimates)
80
70
60
50
40
30
20
10
0
1992
1995
P
C
H
Ro
R
U
B
18
Als vierter Grund nennt Sachs die zunächst auftretende Hyperinflation, die – wenn sie nicht
schnell kontrolliert wird – zu verheerenden gesamtwirtschaftlicher Folgen führt! Folglich plädiert Sachs für ein vierteiliges Programm, das gleichzeitig zu realisieren ist: (1) Bildung
markträumender (Markt-) Preise; (2) Befreiung des Marktsektors von allen bürokratischen
Hemmnissen; (3) Kontrolle oder "strengere Marktdisziplin" für die noch bestehenden Staatsbetriebe (die nur langsam privatisiert werden könnten); und (4) Sicherung der makroökonomischen Stabilität durch restriktive Geldpolitik und ausgeglichenes Budget.
Auch andere vertreten die Auffassung, dass eine schrittweise Liberalisierung im Chaos und
nicht in einer liberalen Wirtschaftsordnung ende. So plädiert auch Milton Friedman (1989) für
eine schnelle und vor allem vollständige Transformation; "Argumente für ein schrittweises
Vorgehen sind seiner Ansicht nach eher politischer als technischer Natur" (S. 36).
(b) Die andere Position vertritt die schrittweise Transformation. Ein gradueller Übergang
könnte die "extremen Einbrüche von Produktion und Beschäftigung" (S. 34) vermeiden (vgl.
Abb. 7 a-f). Verschiedene Ökonomen meinten gar, dass "ohne ein einigermaßen
funktionsfähiges Management und ohne eine einigermaßen funktionsfähige Staatsbürokratie
... Reformen schnell zu Misserfolgen verurteilt (sind)" (S. 34). Auch Norbert Kloten plädiert
für einen langsamen Übergang: "Die institutionellen, gesellschaftlichen und
verhaltenssteuernden Voraussetzungen für eine funktionsfähige Marktwirtschaft können nur
langsam geschaffen werden" (S. 34/5). Als spezifische Probleme sind ja vorhanden: Die
Bewertung der zu privatisierende Betriebe, die Konzentration der Unternehmen und die
Bildung einer "optimalen" Betriebsgrößenstruktur! Typischerweise vergeht eine lange Zeit
zwischen dem Entwerfen einer ökonomischen Reformpolitik und ihrer tatsächlichen
Realisierung. Während der Vor-Reform-Periode werden verschiedene Wege und Strategien
ausgehandelt, umformuliert und die zentralen Elemente einer institutionellen Infrastruktur
entwickelt.
Das führt zu unterschiedlichen Phasen des Transformationsprozesses: Antizipationsphase
(von der Bekanntgabe von Plänen bis zur Durchführung von ersten grundlegenden
Maßnahmen zur Schaffung einer neuen Wirtschafts-Ordnung), Kernphase (Konstruktion und
Implementierung neuer Regeln und Institutionen) und Lernphase (Anpassung des Verhaltens
an
die
neuen
Rahmenbedingungen).
19
Abb 7 a-c:
C z e c h R e p u b lic
1 0
6 0
5 0
5
4 0
0
3 0
-5
2 0
-1 0
1 0
-1 5
0
1 9 9 0
1 9 9 1
1 9 9 2
1 9 9 3
1 9 9 4
R ealG D P
1 9 9 5
1 9 9 6
In fla tio n R a te s
H u n g a r y
3 5
5
3 0
0
2 5
2 0
-5
1 5
1 0
-1 0
5
-1 5
1 9 9 0
1 9 9 1
1 9 9 2
1 9 9 3
1 9 9 4
R ealG D P
1 9 9 5
0
1 9 9 6
In f la tio n R a te s
P o la n d
1 0
7 0 0
6 0 0
5
5 0 0
0
4 0 0
3 0 0
-5
2 0 0
-1 0
1 0 0
-1 5
0
1 9 9 0
1 9 9 1
1 9 9 2
R ealG D P
1 9 9 3
1 9 9 4
1 9 9 5
1 9 9 6
In fla tio n R a te s
20
Abb. 7 d-f:
R o m a n ia
1 0
3 5 0
3 0 0
5
2 0 0
1 5 0
-5
Inflation Rates
GDP %-Change
2 5 0
0
1 0 0
-1 0
5 0
-1 5
0
1 9 9 0
1 9 9 1
1 9 9 2
1 9 9 3
1 9 9 4
R e a l G D P
1 9 9 5
In f la t io n
1 9 9 6
R a te s
R u s s ia
2 5 0 0
0
2 0 0 0
-5
1 5 0 0
1 0 0 0
-1 0
5 0 0
-1 5
0
1 9 9 0
1 9 9 1
1 9 9 2
1 9 9 3
1 9 9 4
R e a l G D P
1 9 9 5
1 9 9 6
In f la t io n R a t e s
U k r a in e
0
1 2 0 0 0
1 0 0 0 0
-5
8 0 0 0
-1 0
6 0 0 0
-1 5
4 0 0 0
-2 0
2 0 0 0
-2 5
0
1 9 9 0
1 9 9 1
1 9 9 2
R ealG D P
1 9 9 3
1 9 9 4
1 9 9 5
1 9 9 6
In f la t io n R a t e s
21
Ein weiteres Problem liegt dann aber in der richtigen Sequenz der Schritte: (1) Geht die
Sanierung der Privatisierung voraus? (2) Muss zuerst die Marktstruktur verbessert werden
bevor man die Preise freigibt? Soll die Dezentralisierung vor oder nach der Realisierung
marktwirtschaftlicher Rahmenbedingungen (Schaffung eines Finanzsektors oder
Verbesserung der Infrastruktur) erfolgen? (Vgl. Clapham/Grote 1991, S. 16).
Nach Apolte/Cassel (1991) sollte der Privatisierung die Marktliberalisierung und die Freigabe
der Preise vorangehen, um so einen ökonomischen Anpassungsdruck zu erzeugen.
Erfahrungen aus China machen aber deutlich, dass die Reform des Preissystems eine gewisse
Verbesserung des Angebots bewirkt, aber ohne Reformen etwa der Eigentumsordnung oder
der Unternehmensformen, führen die monopolistischen Marktpositionen zu Preiserhöhungen
und kaum zu Angebotsverbesserungen.
Andere Wissenschaftler verweisen auf Erfahrungen mit Entwicklungsländern und schlagen
folglich eine genau ausgearbeitete Reihenfolge der Schritte vor: (1) Reduktion der Staatsausgaben und breite Basis für Steuereinnahmen (zur Reduktion oder Vorbeuge einer
zunehmenden Staatsverschuldung); (2) Privatisierung und Liberalisierung der Finanzmärkte;
Begrenzung des Kreditwachstums zur Inflationsvorbeuge; (3) Freigabe der inländischen
Preise und Liberalisierung des Außenhandels. An aller letzter Stelle steht dann (4) die
Währungskonvertibilität
und
die
Aufhebung
der
internationalen
Kapitalverkehrsbeschränkungen (McKinnon 1991).
Zusammenfassend kann man allerdings fragen, ob es die prinzipielle Möglichkeit zwischen
dem "big bang" oder einem "langsamen Übergang" zu wählen überhaupt gab. Die Weltbank
und der IWF sind der Auffassung, das es nur den "big bang" gibt und gab – alle
osteuropäischen Länder nahmen den Big-Bang-Ansatz mit einem tiefen Fall des outputs (bzw.
BSP) – im Prinzip hatten sie gar keine andere Wahl, als schnell zu freien Preisen und
konvertiblen Währungen überzugehen. Diese Strategie sei durch die politischen Umstände
und die Wirtschaftsstruktur diktiert! [China und Vietnam, die Länder, die die Kritiker als
Gegenbeispiele hervorheben, begannen ihre Reformen nicht im "Morgengrauen" großer
revolutionärer politischer Veränderungen!]
VI. Als letztes Problem sei die Reihenfolge von ökonomischen Reformen und politischer Demokratisierung angesprochen: Hier liegt ein "Reformdilemma" vor! Gruppen, die durch die
Transformation Verluste erleiden, sprechen sich gegen die Umgestaltung aus bzw. einer anfänglichen "Euphorie" weicht ein Rückschlag, wenn die "Transformationskosten" spürbar
werden.
Der Transformationsprozess verändert die Privilegien von Personen und Gruppen, deshalb
sind hier divergierende Interessen und die Frage der Popularität des Reformprogrammes zu
berücksichtigen, d.h. es müssen politische Beschränkungen beim Übergang beachtet werden.
Fehler in der "Abfolgeentscheidung" können durch ihre negativen Wohlfahrts- und Verteilungseffekte den Übergang verzögern.
Eine "optimale" Reihenfolge kann nicht die unvermeidbaren Kosten der Transformation
beseitigen, aber sie kann die vorhandenen politischen Beschränkungen nach und nach
22
aufheben. Die Abfolge sollte folglich nach der sinkenden Popularität und steigenden politischen Schwierigkeiten erfolgen. Dazu bedarf es eines Kompensationsmechanismus derart,
dass die potentiellen Verlierer aus den Effizienzgewinnen hin zu besseren Institutionen
kompensiert werden. Ein solcher Übergang wäre dann "pareto-verbessernd" (vgl. § 5). Allerdings besteht eine Austauschbeziehung zwischen allokativer Effizienz und den finanziellen
Reformkosten.
Betrachtet man die Entscheidung für den "big bang" oder für den "langsamen (gradualistischen) Übergang" als ein Problem der politischen Ökonomie (vgl. dazu unter "Grenzen der
Wirtschaftspolitik"), dann betont der "big-bang"-Ansatz die große Bedeutung der "windows of
opportunity", wenn die ex ante politischen Restriktionen weniger bedeutend sind, während das
"gradualistische Programm" mit dem Hinweis verteidigt wird, dass seine ex ante politische
Machbarkeit größer sei.
Beide Ansätze zielen auf Irreversibilität, aber auf unterschiedlichen Wegen: Der "big bang"Ansatz betont die Geschwindigkeit der Reformen, um damit Nachfolgeregierungen zu beschränken; der gradualistische Ansatz" versucht die Abfolgeschritte der Reform so
festzulegen, um eine Mehrheit für jeden Reformschritt zu sichern (vgl. hierzu Gerard Roland,
The role of political constraints in transition strategies", in: Economics of Transition 2 (1994),
27-41).
Wie ein solcher Prozess aussehen könnte, analysieren M. Dewatripont und G. Roland (in dem
Aufsatz "The virtues of gradualism and legitimacy in the transition to a market economy", in:
Economic Journal 102 (March 1992), S. 291-300): Ein gradualistisches Programm ist von
Vorteil, wenn die politische Akzeptanz einer ganzen und schnellen Reform mit sehr hohen
Kompensationszahlungen an die Verlierer der Reform verbunden ist, während der graduelle
Ansatz die allokative Effizienz nur schrittweise erreicht aber zu finanziellen Kosten, die
insgesamt niedriger sind.
VII. Transformation in den Neuen Bundesländern
Drei Ereignisse prägten die deutsche Situation: Der Fall der Mauer in Berlin am 9. November
1989, die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik am 1. Juli 1990,
und der Beitritt der DDR mit fünf neuen Bundesländern zur Bundesrepublik Deutschland am
3. Oktober 1990.
Allgemein herrschte die Ansicht vor, dass sich – parallel zur politischen Einheit – auch rasch
die wirtschaftliche Einheit herstellen ließe. (Allerdings haben schon damals verschiedene
Kritiker auf die hohen Kosten einer raschen Umstrukturierung hingewiesen. Vgl. Dewaritpont/Roland, EJ 102 (1992), S. 299, die hier Herrn André Leysen von der Treuhandanstalt
zitieren mit einem Betrag von "1.000 billion DM at least"!)
So wurde geschätzt, dass durch den Verkauf der "volkseigenen Betriebe" Milliardenbeträge
erzielt werden könnten, die außer für die "Strukturanpassung der Wirtschaft und für die Sanierung des Staatshaushalts" auch für die Sparer verwendet werden sollten, um ihnen "ein ver23
brieftes Anteilsrecht am volkseigenen Vermögen" einzuräumen (Staatsvertrag über die Schaffung einer WWSU zwischen ... vom 18.5.1990, BGBl II, S. 357, Art. 10 Abs. 6).
Die Treuhandanstalt (Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums, DDR
Gbl. I, Nr. 14, S. 107), im März 1990 von der Modrow-Regierung gegründet, übernahm alle
Firmen und wies per Ende 1989 ein Bruttovermögen von 1.420 Mrd. M auf; ihm standen
Rückstellungen und andere Verbindlichkeiten von 496 Mrd. M gegenüber. Von dem Nettovermögen von 924 Mrd. M entfielen 145 Mrd. M auf Unternehmen, die den Kommunen zugeordnet werden sollten. Im Werte rund 106 Mrd. M sollten Unternehmen in Staatsbesitz erhalten werden. Ein weiterer Betrag in Höhe von 52 Mrd. M sollte anderen Gebietskörperschaften
zugerechnet werden. Damit verblieben rund 620 Mrd. M für die Treuhandanstalt.
Nach der Währungsunion und erst richtig nach der Wiedervereinigung offenbarte sich aber
der marode Zustand der Wirtschaft der DDR. "Verantwortlich" waren sicherlich stark
steigende Konsumausgaben, insbesondere für Subventionen "lebenswichtiger" Güter und
Dienstleistungen (Lebensmittel, Fahrgeld, Mieten) und das Militär, und damit vernachlässigte
und gar rückläufige Investitionen und Ersatzinvestitionen.
Die DM-Eröffnungsbilanz der Treuhandanstalt (vgl. Treuhandanstalt, DM-Eröffnungsbilanz
zum 1. Juli 1990, Berlin, Oktober 1992) weist ein Bruttovermögen von nur 311 Mrd. DM auf.
Ihm standen Rückstellungen und andere Verbindlichkeiten von 520 Mrd. DM gegenüber. Damit ergaben sich Schulden von 209 Mrd. DM.
Mit dem 31.12.1994 endete die Tätigkeit der Treuhandanstalt, allerdings gibt es Nachfolgeinstitutionen, deren Kern die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BVS) darstellt. Insgesamt schließt die Treuhandanstalt voraussichtlich mit einem Ausgabenüberschuss
(Defizit) von 220-230 Mrd. DM, von denen über 200 Mrd. DM durch Verschuldung am Geldund Kapitalmarkt finanziert wurden (vgl. FAZ v. 21.7.00, S. 13).
Die positive Seite der Bilanz der Treuhandanstalt besteht im wesentlichen in der zügigen Privatisierung der rund 8000 Kombinate, die in mehr als 13.800 Aktiengesellschaften und
GmbH's umgewandelt wurden. Zwei Drittel des Bruttobestandes wurden in viereinhalb Jahren
privatisiert und über 3.700 Betriebe stillgelegt. (Vgl. auch Claus Köhler, Der Übergang von
der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft in Ostdeutschland, Viereinhalb Jahre Treuhandanstalt,
Arbeitspapiere des Instituts für Empirische Wirtschaftsforschung, Heft 11, Berlin (Duncker &
Humblot Verlag) 1995.)
Auch in den Neuen Bundesländern (NBL) wurde eine Reihe von Reformen durchgeführt (vgl.
oben unter II. Notwendige Maßnahmen). Hervorgehoben werden soll die Lohnreform und
die Sozialreform.
Dabei ging es erstens darum, die Arbeitslosen in den NBL in die AL-Versicherung (mit Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe) zu integrieren. Zweitens wurden die Rentner in die
bestehenden Rentensysteme eingegliedert. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände
("Sozialpartner") wurden in den NBL tätig und handelten Tarifverträge aus.
Vergleicht man verschiedene frühere ZVW, dann zeigt sich ein wesentlicher Unterschied –
nicht im Verhalten des Output als vielmehr im Verhalten der Löhne und der Beschäftigung! In
24
US-$ gemessen sind die Löhne in den NBL entschieden höher, gemessen an Ungarn und
Tschechien etwa 7 mal, gemessen an Russland etwa 3 mal so hoch!
Interessant ist auch die Differenz zwischen Konsumenten- und Produzentenpreisen: Während
die Produzentenpreise um 1/3 fielen, stiegen die Konsumentenpreise um mehr als 1/4.
Folglich war (1992 bezogen auf 1990 als Ausgangspunkt) der Anstieg des "realen
Produktlohnes" rund doppelt so hoch wie der Anstieg des "realen Konsumlohnes". Parallel
dazu stieg die Arbeitslosigkeit dramatisch an.
Im Hintergrund stand das sowohl von der Regierung wie von den Gewerkschaften ausgesprochene Ziel der "Angleichung der Lebensbedingungen in Ost und West" (und im Hintergrund
stand sicherlich auch die Furcht vor einer massiven Wanderungsbewegung von Ost und
West!). In diesem Zusammenhang ist auch die Frage der Lohnsubventionen wichtig: Bei
starken Migrationseffekten können Lohnsubventionen durchaus begründet werden, es gibt
aber Fälle, bei denen staatliche Investitionsanreize und Infrastrukturinvestitionen besser sind.
Interessant der Vorschlag von G. und H.-W. Sinn eines "Sozialpaktes": Verzicht auf die schon
ausgehandelten Lohnerhöhungen und Verknüpfung mit der Privatisierungsstrategie
(Investivlohn mit Beteiligungsrechten). Ohne Zweifel hatten aber die westlichen
Gewerkschaften wie die Ostarbeitnehmer auch ein Eigeninteresse [hohe AL-Unterstützung bei
hohem Lohn ⇔ selbst wenn dies zu höherer AL führt] ⇒ Hoch-Lohn-Strategie.
Hinter dieser Hochlohn-Strategie verbergen sich verschiedene Argumente, die auch mit der
Frage im Zusammenhang stehen, ob die Subventionierung der Investitionen oder nicht
doch eher ein Transfers an die Lohnbezieher die bessere Lösung darstellt.
1) Erhöhung des Lebensstandards: besser durch Konsum-Transfers (als durch hohe Löhne)!
2) Migration: Es wäre effizienter, die Kosten der M. zu erhöhen als die Löhne!
3) Interessen der Ostarbeitnehmer: Durch die Lösung der Budgetbeschränkung der Ostfirmen
(aufgrund der "tiefen Taschen" des Westens) kaum Widerstand gegen Lohnerhöhungen
(vgl. Treuhandanstalt).
Insofern spricht einiges für die Trennung zwischen Konsumniveau und Arbeitskosten! Als Lösung also eine einfache, uniforme und allgemeine Lohnsubvention, die entsprechend einem
vorgefertigten Schema reduziert wird: im ersten Jahr 75% der Lohnsumme, im zweiten Jahr
50%, im dritten Jahr 25% und dann verschwindet sie!
Einen etwas anderen Vorschlag haben Akerlof et al. (1991) gemacht. Dort wird die Lohnsubventionierung entsprechend einer Formel gesetzt, die die jeweiligen Divergenzen der
Produktivität zwischen Ost- und Westdeutschland berücksichtigt!
[Einwendungen gegen derartige Subventionsprogramme: 1) Mögliche budgetäre Kosten; 2)
Veränderung der Verhandlungsmacht der Gewerkschaften; 3) Einfrieren der vorhandenen
Industriestruktur;
25
Jedoch war bzw. ist die Verfolgung der Politik der Industrie-Subventionierung, so ineffizient
sie auch sei, politisch notwendig!]
Zur Wirtschaftsentwicklung in Ostdeutschland vgl. folgende Tabelle.
Tabelle 1:
Ostdeutschland: Der Aufholprozess (Westdeutschland = 100)
Bruttoinlandsprodukt je Einwohner
Netto-Einkommen je Arbeitnehmer
Arbeitskosten
Produktivität
Lohnstückkosten
Exportquote
Industrieanteil
Kapitalstock der Unternehmen
Investitionen je Einwohner
Arbeitslosenquote
Arbeitsplatzdichte
Sozialleistungsquote
Steuerkraft je Einwohner
Länderausgaben je Einwohner
Schulden je Einwohner
1991
31
55
49
33
151
52
54
25
63
207
105
210
15
120
5
1995
55
82
67
53
125
40
55
45
148
198
99
178
25
145
37
1999
56
86
69
56
123
53
59
75
135
225
99
174
32
141
100
Werte für 1999 teilweise geschätzt;
Investitionen je Einwohner, Sozialleistungsquote = 1998;
Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft (Ursprungsdaten: Statistisches Bundesamt, BMWi,
BMF, Stifterverband für die deutsche Wissenschaft, IAB, DIW)
Zusätzliche Literatur:
Akerlof, G. A. et al. (1991), "East Germany In From the Cold: The Economic Aftermath of
Currency Union", in: Brookings Papers for Economic Activity, Band I, S. 1 ff.
Apolte, Th. und D. Cassel (1991), "Osteuropa: Probleme und Perspektiven der
Transformation sozialistischer Wirtschaftssysteme", in: LIST-Forum, Bd. 17 (1991), H. 1, S.
22-55.
Bohnet, A., und C. Ohly (1992), "Zum gegenwärtigen Stand der Transformationstheorie –
Eine Literaturstudie", in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik 41, S. 27-50.
Clapham, R. und B. Grote (1991), "Zu den Anforderungen an eine Theorie der
Transformation von Wirtschaftssystemen", Schriften zur Wirtschaftsforschung der
Universität/ Gesamthochschule Siegen, Siegen 1991.
26
Friedman, M. (1989), "Using the Market for Social Development", in: Cato Journal, Bd. 8
(1989), H., S. 567-579.
Kloten, N. (1991a), "Die Transformation von Wirtschaftsordnungen: theoretische, phänotypische und politische Aspekte", Tübingen 1991.
Kloten, N. (1991b), "Die Transformation ein Zentralverwaltungswirtschaft in eine Marktwirtschaft – Die Probleme osteuropäischer Länder", in: Volkswirtschaftliche Korrespondenz der
Adolf-Weber-Stiftung, 30. Jg. (1991), Nr.7.
Leipold, H. (1991), "Institutioneller Wandel und Systemtransformation: Ökonomische Erklärungsansätze und ordnungspolitische Folgerungen", in: H.-J. Wagener (Hrsg.), Anpassung
durch Wandel: Evolution und Transformation von Wirtschaftssystemen, Berlin u. a. 1991, S.
17-38.
McKinnon, R. I. (1991), "The Order of Economic Liberalization: Financial Control in the
Transition to a Market Economy", Baltimore u. London 1991.
Peters, H.-R. (1990), "Transformationstheorie und Ordnungspolitik", in: WiSt, H.8, August
1990, S. 384-389.
Schönfelder, B. (1991), "Die Verwandlung einer sozialistischen Wirtschaft in eine Marktwirtschaft: Triebkräfte und Hemmnisse", in: H.-J. Wagener (Hrsg.), Anpassung durch Wandel:
Evolution und Transformation von Wirtschaftssystemen, Berlin u.a. 1991, S. 257-282.
Starbatty, J. (1991), "Der Weg zur Marktwirtschaft", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom
7.9.1991, S. 15.
27
§ 5 Der Beitrag der Wohlfahrtsökonomie
Es geht um die Bedingungen, unter denen ein Maximum an gesellschaftlicher Wohlfahrt
("Wohlstand") erreicht werden kann.
I. Ältere "welfare economics" (Arthur Cecil Pigou, 1877-1959)
Steigerung der ökonomischen Wohlfahrt durch Zunahme des "Volkseinkommens" (national
dividend) und/oder durch Umverteilung von den Reichen zu den Armen. Unterstellt man abnehmenden Grenznutzen (des Geldes) und interpersonelle Nutzenvergleiche, dann impliziert
das Wohlfahrtsmaximum somit im wesentlichen die Maximierung des Sozialprodukts bei
egalitärer Einkommensverteilung.
Im Wandel von der utilitaristischen (geht auf Jeremy Bentham, 1748-1832, zurück) zur behaviouristischen Nutzentheorie und wegen heftiger Attacken auf interpersonelle Nutzenvergleiche entstehen neue Ansätze.
II. Neuere "welfare economics"
Hier wird auf interpersonelle Nutzenvergleiche verzichtet und auf der Grundlage der ordinalen
Nutzentheorie aufgebaut.
II.1 Paretianische Wohlfahrtsökonomik (Vilfredo Pareto, 1848-1923)
Ein Pareto-Optimum ist ein Zustand, bei dem kein Mitglied einer Gruppe oder Gesellschaft
besser gestellt werden kann, ohne daß zumindest ein anderes schlechter gestellt werden
müßte.
Ein Pareto-Optimum impliziert dann − im wesentlichen − ein Handelsoptimum, ein Produktionsoptimum und eine optimale Produktionsstruktur (statistische Effizienz).
Das Handels- oder Tauschoptimum ist dadurch gekennzeichnet, daß die Grenzrate der
Substitution (GdS) zwischen je zwei Gütern für alle Wirtschaftssubjekte gleich ist und gleich
ist dem negativen (reziproken) Preisverhältnis.
28
Abb. 8a: Das Tauschoptimum
x2A
x1B
0B
T
α
tgα = −
dx2 p1
=
dx1 p2
x1A
0A
x2B
Formal folgt aus der Nutzenfunktion U = U ( x1 , x 2 ) für die beiden Güter 1 und 2 die Indiffe∂U
∂x1
dx
∂U
∂U
= − 2 , als
renzkurve eines Individuums mit dU =
dx1 +
dx 2 = 0 und hieraus
∂U
dx1
∂x1
∂x 2
∂x 2
Grenzrate der Substitution (GdS).
In den Tangentialpunkten haben also die beiden Indifferenzkurven dieselbe Steigung, d. h. die
Grenzrate der Substitution (der beiden Güter) ist für jedes Wirtschaftssubjekt gleich.
Unter Berücksichtigung der Budgetgeraden E = p1 x1 + p 2 x 2 , die die Verwendung des Einkommens (E) für die beiden Güter bei den beiden Preisen p1 und p2 angibt, folgt im individudx
p
p
ellen Optimum: 2 = − 1 (d. h. GdS A = GdS B = − 1 ).
dx1
p2
p2
Das Produktionsoptimum ist dadurch charakterisiert, daß jeder Produktionsfaktor bei der
Produktion für ein Gut in allen Produktionsstätten gleich produktiv ist und die Grenzrate der
technischen Substitution zwischen zwei Faktoren in der Produktion aller Güter gleich ist dem
negativen reziproken Verhältnis der Grenzproduktivitäten und das ist gleich dem Faktorpreisverhältnis.
29
y2
x2
Abb. 8b: Das
Produktionsoptimum
P
α
x1
tgπ = −
dy2
dy1
π
y1
Der Bestand an Produktionsfaktoren sei gegeben, A steht für Arbeit, K für Investitionsmittel.
Durch eine Umverteilung von Arbeit (∆A) von der Produktion des Gutes 2 zur Produktion des
Gutes 1 kann dann ein zusätzlicher Ertrag in Höhe von ∆E =
∂E
∂E
∆A +
(−∆A) (wobei
∂A1
∂A2
Ai den Einsatz von Arbeit bei der Produktion von Gut i bezeichnet) produziert werden. Eine
∂E
∂E
Umschichtung der Arbeit lohnt dann nicht mehr, wenn ∆E = 0; dies impliziert
=
:
∂A1 ∂A2
Die Arbeit ist in allen Produktionen gleich produktiv. Berücksichtigt man auch die
∂E
∂E
Investitionsmittel, dann gilt für das Gut 1: dy1 =
dA +
dK . Gilt wiederum dy1 = 0 ,
∂A1
∂K 1
∂E
∂K 1
dA
folgt daraus:
=−
: Die Grenzrate der technischen Substitution ist gleich dem
∂E
dK
∂A1
negativen reziproken Verhältnis der Grenzproduktivitäten. Für 2 Güter mit den
∂E
dy 2
∂y
Produktionsmengen y1 und y2 gilt dann:
= − 1 usw.
∂E
dy1
∂y 2
30
Die Lösung für die optimale Produktionsstruktur ergibt sich dann, wenn die Wertgrenzproduktivitäten (das ist die Grenzproduktivität bei Berücksichtigung der Güterpreise) in allen
Verwendungen der Faktoren gleich sind. Dann lohnt sich auch eine Umverteilung der Produktion nicht mehr.
y2
Abb 8c: Die optimale Produktionsstruktur
(Simultanes Tausch- und Produktionsoptimum)
P*
α=π
T*
π
α
y1
dy 2
, dann stimmen die
dy1
dx 2
p
= − 1 ) (siehe Graphik 9a).
(vgl. GdS:
dx1
p2
Sei die Grenzrate der technischen Substitution gegeben mit π = −
Konsumenten dieser Lösung zu, falls π <
p1
p2
dy 2
dx
p
= π < − 2 = 1 und damit − p 2 dy 2 < p1 dy1 . Durch Umlenkung von
dy1
dx1 p 2
Arbeit aus der Produktion von Gut 2 zur Produktion von Gut 1 ergibt sich dA1 = − dA2 und
∂E
∂E
∂E
∂E
mithin dy1 =
dA1 und dy 2 =
dA2 und hieraus folgt − p2
dA2 < p1
dA1 und
∂A1
∂A2
∂A2
∂A1
∂E
∂E
p2
< p1
. An der Grenze werden die Konsumenten zustimmen, wenn
∂A2
∂A1
∂E
∂E
p2
= p1
, also das Wertgrenzprodukt der Arbeit in allen Verwendungsarten gleich ist
∂A2
∂A1
usw.
Daraus folgt −
Im sozialen Optimum liegt also eine effiziente Produktion und eine effiziente Produktionsstruktur vor und die Grenzraten der Substitution aller Haushalte sind gleich (vgl. Abb. 8 a-c).
31
Ergänzt werden muß dieses "statische Optimum" durch Optimalbedingungen, die die Güterversorgung über die Zeit ("dynamische Effizienz") beschreiben, also: Konsum versus
Investition (als Konsum in späteren Perioden).
Es läßt sich zeigen (vgl. Kenneth J. Arrow oder Gérard Debreu), daß das Pareto-Optimum mit
den Eigenschaften eines vollkommenen Konkurrenzgleichgewichts identisch ist. D.h. es
gelten: (1) Jedes Konkurrenzgleichgewicht ist ein Paretooptimum und
(2) Jedes Paretooptimum läßt sich durch ein Konkurrenzgleichgewicht und eine Ressourcenumverteilung erreichen!
Offen bleibt allerdings, wie aus den unendlich vielen theoretisch möglichen Optima ausgewählt werden kann, die sich durch unterschiedliche Güter- und Einkommensverteilungen
unterscheiden. Die Prämissen erlauben keine Rangordnung über die denkbaren Optima. Man
braucht stets zusätzliche Wertprämissen. Auch Vergleiche zwischen suboptimalen Zuständen
sind generell nicht ohne Verteilungsmaximen möglich.
II.2 Soziale Wohlfahrtsfunktionen (SWF)
Die SWF macht deutlich, an welcher Stelle ethische Urteile für eine vollständige
Rangordnung von gesellschaftlichen Zuständen erforderlich sind.
Aus W=W(u1, u2, ..., un) lassen sich je eine Schar von "sozialen individuellen Indifferenzkurven" ableiten, wobei sich verschiedene Verknüpfungen der individuellen Nutzenniveaus darstellen lassen, bis hin zum Maximim-Kriterium von John Rawls (vgl. Otfried Höffe, Ethik
und Politik, Frankfurt a. M. (Suhrkamp TB Verlag) 1979, insbes. S. 160-194).
III. Kritik
Aus dem Katalog der Optimalbedingungen ("Wettbewerbsgleichgewicht") wird einsichtig,
daß sie nicht sämtliche erfüllbar sind, dies schränkt den Anwendungsbereich ein (vgl. unter §
6). Dies gilt auch, wenn man auf die Theorie des Zweitbesten zurückgreift, es sei denn man
begnügt sich mit einer "partiellen" (piece-meal) Version.
Gesellschaftliche Indifferenzkurven (SWF) lassen sich nur durch die Fiktion gewinnen, daß
alle Haushalte identische Nutzenfunktionen besitzen. Ist dies nicht gegeben, müssen die unter32
schiedlichen individuellen Präferenzen aggregiert werden. Das Arrow-Paradoxon besagt nun,
daß unter Umständen eine SWF nicht zustande kommt.
Im Ergebnis gilt dann, daß gesamtwirtschaftliche Ziele nicht ohne Werturteile
(Verteilungsurteile) zu formulieren sind.
§ 6 Die Notwendigkeit von Ordnungspolitik: Probleme der marktmäßigen Koordination
Wirtschaftspolitischer Lenkungsbedarf läßt sich aus Ordnungsproblemen (Schutz des Wettbewerbs, vgl. § 12) und Funktionsschwierigkeiten einer marktmäßigen Koordination ableiten.
I. Solche Funktionsschwierigkeiten ergeben sich aus folgenden Gründen:
a) Substitutionsprobleme durch Re-Allokation von Ressourcen, Substituierbarkeit, Informationserfordernisse und Immobilitäten ergeben Substitutionskosten (Umwidmung,
Raumüberwindung, Nutzeneinbußen).
b) Mangelnde Marktfähigkeit bei öffentlichen bzw. politischen Gütern (im Gegensatz zu
privaten Gütern). Sie sind durch zwei Eigenschaften charakterisiert:
- Nicht-Rivalität in Ge- bzw. Verbrauch; dh. die Inanspruchnahme eines zusätzlichen Nutzers
schränkt die Nutzungsmöglichkeiten aller übrigen nicht ein (Problem: Kapazitätsgrenze,
Überfüllung).
- Nicht-Ausschließbarkeit, d.h. die gleichzeitige Inanspruchnahme ist möglich (oder umgekehrt: ein Ausschluß ist technisch oder organisatorisch schwer bzw. teuer). Das bedeutet (nach
Musgrave), daß solche Güter prinzipiell durch alle in gleichem Umfang genutzt werden (können).
Konsequenz: Tausch wird durch Rivalität nötig und durch Ausschließbarkeit möglich! Also
benötigt man alternative Allokationsmechanismen (Zuteilung u.a.).
Externe Effekte liegen vor, wenn durch Produktion oder Verbrauch bei anderen Wirtschaftseinheiten (spürbare) Kosten oder Nutzen entstehen, für die über den Preis keine Entschädigung vom Verursacher bzw. kein Entgelt vom Nutzer erzielbar ist. Dies führt zu Abweichun33
gen zwischen privaten und volkswirtschaftlichen (= sozialen) Kosten mit der Folge verzerrter
Preise und nicht-optimaler Allokation.
c) Substitutionshemmnisse und die Bewegung von Materie zeigen die Allokation als Prozess
mit Zeitbedarf und Erwartungsbildung. Dadurch können sich kleine Störungen
fortpflanzen und zu Stabilitätsproblemen aufschaukeln. (Für eine Übersicht vgl. Tabelle 2)
II. Diese Ursachen führen einzeln oder verknüpft
Interventionsbedarf nahelegen. Zusammenfassend gilt:
zu
Problemen,
die
einen
a) Wettbewerbshemmnisse (Anpassungs- und Entwicklungswettbewerb) für preisgesteuerte
Wettbewerbsprozesse mit der Folge von Monopolen (aufgrund der Unteilbarkeit: "Natürliches
Monopol"), Konzentrationsprozessen und Kartellen. Anpassungsprobleme führen zu (friktioneller) Arbeitslosigkeit.
b) Unterversorgung oder Übernutzung von politischen Gütern sowie Verzerrungen der Produktions- und Konsumstruktur als Folge von externen Effekten (vgl. § 15 das Umweltproblem).
c) Instabilitäten im Koordinationsprozeß auf einzelnen Märkten (Agrarmarkt: Schweinezyklus; Wohnungsmarkt; vgl. §§ 14 u. 16) oder gleichgerichtet auf vielen Märkten (Konjunkturzyklus) bis hin zu Wachstums- und Entwicklungsproblemen als Folge etwa der Ungewißheit
bei Investitionsentscheidungen ("Zukunftstechnologien").
III. Der wirtschaftspolitische Lenkungsbedarf bezieht sich dann auf folgende Gebiete (vgl.
Tabelle 2):
- Wettbewerbssicherung und Kontrolle von Monopolen, Unternehmen mit marktbeherrschender Stellung, Fusionskontrolle (vgl. § 12);
- Versorgung mit Infrastruktur (vgl. § 13) und Regulierung der Umweltnutzung (vgl. § 15);
- mikro- und makroökonomische Stabilisierung des Wirtschaftsablaufs (vgl. § 14 und
Stabilisierungspolitik);
- Anpassungs- und Starthilfen bei Wachstum und Strukturwandel (Forschungspolitik und
hier § 13).
34
Tabelle 2: Allokations- und Stabilisierungsprobleme
Ursachen
A. Substitutionsprobleme
Substitutionshemmnisse Substitutionskosten
Informationskosten
Unvollkommene
Information
Immobilitäten
Kosten der Umwidmung
- Sachlich
(Komplementaritäten,
Unteilbarkeiten)
Wartezeiten
- Zeitlich
(Dauerhaftigkeit)
- räumlich (Standort- Transportkosten
gebundenheit)
Kosten in Form von
- persönlich
Nutzeneinbußen
(Eigenwertigkeit)
B. Mangelnde Marktfähigkeit
Öffentliche Güter
(gekennzeichnet durch Nicht-Rivalität im Konsum
und Nicht-Ausschießbarkeit von der Nutzung):
–
Folgen
Handlungsmöglichkeiten
Behinderung des Anpassungs- und Entwicklungswettbewerbs
Wettbewerbssicherung
und Kontrolle von
Monopolpositionen
Hemmnisse für den
interregionalen und
internationalen Handel
Informations- und
Anpassungshilfen
Friktionelle
Arbeitslosigkeit
Öffentliche Güter:
- Unterversorgung
- Übernutzung
Versorgung mit
Infrastruktur
Infrastruktur (institutionell und materiell)
Regulierung der
Umweltnutzung
Externe Effekte:
Verzerrung der Produk– als Übertragungsmedien externer Effekte tions- und Konsum- Begrenzung externer
Effekte
(Beeinflussung anderer Wirtschaftssubjekte, struktur privater Güter
ohne dass eine marktliche (oder preisliche)
Kompensation erfolgt; in der Produktion und
Konsumption)
C. Zeitbedarf und Zukunftsorientierung
Mikro- und makroInstabilität auf EinzelZeitbedarf für Reaktionen:
ökonomische
märkten
Anpassungsverzögerungen
Stabilisierung des
KonjunkturschwanWirtschaftsablaufs
kungen
Zukunftsorientierung, Ungewissheit,
Entwicklungsstörungen
Probleme der Erwartungsbildung
Hilfen bei Wachstum– sektoral
und Strukturwandel
– räumlich
Arbeitslosigkeit
– konjunkturell
– strukturell
–
Umwelt
Quelle: In Anlehnung an Streit, M.E.: Theorie der Wirtschaftspolitik, Düsseldorf
(Werner Verlag), 2. Aufl. 1982, S. 48.
35
IV. Nur hingewiesen sei auf einen verteilungspolitischen Handlungsbedarf, der sich
erstens aus der Verteilung der Marktchancen ergibt und zweitens auf die Verteilung der
Marktergebnisse bezieht.
Das Marktsystem enthält eine Tendenz zur "Verteilungsungleichheit"! Probleme sind
die gesellschaftlichen Gerechtigkeitsvorstellungen, aber auch das Konfliktpotential in
einer Gesellschaft. Verstärkt wird der Handlungsbedarf dadurch, daß Absicherung vieler
Risiken nicht über Märkte möglich ist, deren Absicherung aber sozial erwünscht ist.
Hieraus folgt dann auch die Notwendigkeit eines staatlichen Eingriffs (Soziale
Sicherung und Sozialpolitik und weiter als Korrektur der Verteilungsergebnisse).
Vgl. zusammenfassend Abb 9.
36
Abbildung 9: Dimension des Verteilungsproblems und verteilungspolitische Lenkungsmöglichkeiten Teil 1
naturbedingte Zufälligkeiten
Verteilung der Marktchancen
Arbeitsvermögen
Personen
Produktivvermögen
Lebensphasen
Dimensionen des
Verteilungsproblems
Verteilung zwischen
Generationen
Regionen
Einkommen
Verteilung der
Marktergebnisse
Nationen
Vermögensänderung
37
Abb. 9, Teil 2
Subventionierung
der Vermögensbildung
Erbschaft
Besteuerung
ChancenKorrekturen
Schenkung
Vermögensbestand
Beeinflussung der
Humankapitalbildung
Korrekturen der
Vertragsfreiheit
Verteilungspoltische
Lenkungsmöglichkeiten
Einkommen
ErgebnisKorrekturen
Besteuerung
Transfers
Vermögensänderung
monetär
natural
Quelle: Streit, S. 95.
38
III. Institutionelle Grundlagen: Ziele, Mittel und Träger der
Wirtschaftspolitik
§ 7 Zielsysteme: Empirische Zielkataloge
Die Ableitung wirtschaftspolitisch relevanter Ziele aus nicht begründeten letzten Zielen (Freiheit, Frieden, Sicherheit, Gerechtigkeit, Wohlstand) offenbart bei jedem Schritt hin zur Konkretisierung Interessenkonflikte (vgl. Abb. 10). Die Pluralität der Ziele und ihr Verhältnis zueinander müssen als empirisches Faktum hingenommen werden: Effizienz- oder Produktionsziele, Sicherungs- oder Stabilisierungsziele, Allokations- oder Verteilungsziele. Offen ist auch
die Rangfolge zwischen den Zielen. Im Stabilitätsgesetz (1966) werden vier Ziele genannt,
mit deren Hilfe ein "Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht" definiert wird:
Vollbeschäftigung, Preisniveaustabilität, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und angemessenes wirtschaftliches Wachstum (§ 1 StabG).
Funktion der Wissenschaft: Möglichst exakte Definitionen und Interpretationen und die Ableitung operationaler Kriterien, Überprüfung der Zielsysteme hinsichtlich ihrer Realisierbarkeit, Konsistenz und Kompatibilität.
39
Abb. 10: Gesellschaftliche Grundwerte und wirtschaftspolitische Ziele
Quelle: Berg/Cassel/Hartwig (1999).
40
§ 8 Zielbeziehungen und Zielkonflikte
Im Zielsystem bestehen auf logischer, rangmäßiger, kausaler und zeitlicher Hinsicht
Abhängigkeiten (vgl. Abb. 11). Ein erstes Problem besteht hier auf der Wertebene, sog.
Interessenkonflikte. In der Aushandlungstheorie werden hierfür Lösungen diskutiert.
Auf der individuellen Ebene kann man auch über verschiedene Verfahren zu Lösungen
gelangen: Neben dem Ignorieren des Konfliktes gibt es Zieldominanz (lexikographische
Ordnung), das Zielschisma und den Kompromiß (durch Expertenurteil oder die Bildung
einer Nutzenfunktion).
Abb. 11: Zielbeziehungen
Quelle: Streit, S. 283.
41
Zur Darstellung von Interessen- oder Zielkonflikten unterstellen wir das Vorhandensein von
zwei Zielen. Je nach Art der Ziele (positive oder negative Ziele) und je nach Gewichtung der
Ziele ergibt sich ein unterschiedlicher Verlauf der "Indifferenzkurven", entweder als
"Wohlfahrtskurven" (wie in Abb. 12a) oder als "Kurven gleichen Übels" (wie in Abb. 12b).
Ein zweites Problem sind die Zielkonflikte auf der empirischen Ebene, daß nämlich negative
Nebeneffekte mit zunehmender Verwirklichung eines "Hauptzieles" zunehmen. Dies ergibt
eine "Transformationskurve" als "Kurve der unvermeidlichen Zielkonflikte". Bei "positiven"
Zielen verläuft sie wie in Abb. 13a, bei "negativen" Zielen wie in Abb. 13b.
Die "optimale" Lösung des Zielkonfliktes ergibt sich dann, (bei "positiven" Zielen) durch die
höchstmögliche Indifferenzkurve bzw. (bei "negativen" Zielen) durch die niedrigste Kurve
gleichen Übels.
Interpretiert man Z3 als Inflationsrate (π) und Z4 als Arbeitslosenquote (u), dann kann unter
Verwendung einer (kurzfristigen) Phillips-Kurve der optimale Kompromiß in Abhängigkeit
vom Gewicht der einzelnen Ziele aufgezeigt werden (vgl. Abb. .14a und 14b).
42
Abb. 12a: „Wohlfahrtskurven“
Z1
Z1 hat Vorrang
Z2 hat Vorrang
Z2
Abb. 12b: „Kurven gleichen Übels“
Z3
Z4 hat Vorrang
Z3 hat Vorrang
Z4
43
Abb. 13a: Möglichkeitsbereich bei positiven Zielen
Z1
Transformationskurve
Z2
Abb. 13b: Möglichkeitsbereich bei negativen Zielen
Z3
Transformationskurve
Z4
44
Abb. 14a: Optimaler Kompromiss
(π: Inflationsrate in %, U: Arbeitslosenquote in %)
π
Abb. 14b: Optimaler Kompromiss
π
(π: Inflationsrate in %, U: Arbeitslosenquote in %)
2
1
20 1 2
U
1
0 1 2
U
45
§ 9 Die Analyse der wirtschaftspolitischen Instrumente
Drei Fragen sind hier zu unterscheiden: 1) In welchen Kategorien sind die Instrumente
zu erfassen? 2) Nach welchen Kriterien ist der Mitteleinsatz zu beurteilen? 3) Wie wirken die Instrumente?
I. Zur ersten Frage gibt Streit eine gute Antwort: Instrumente sollten nach der Art und
Weise, wie das Wirtschaftsgeschehen lenkend beeinflußt wird, kategorisiert werden. Die
Einteilung wird deshalb primär verhaltensorientiert vorgenommen (Reaktionen der
Wirtschaftssubjekte, vgl. Abb. 15).
Abb. 15: Wirtschaftspolitische Instrumentkategorien
Instrumente
2. zur Verhaltensbeeinflussung
(moral suasion)
1. mit direkter Zielwirkung
2.1 Informationspolitik
Lageinformation
Zukunftsinformation
2.2 Korrekturversuche von
Zielvorstellungen
Programminformation
Projektionen
2.3 Veränderung einzelwirtschaftlicher Plandaten
2.4 freiwillige Übereinkunft
Marktpreise
2.5 Zwang
institutionelle
Marktbedingungen
46
Fortsetzung zu Abb 15:
Beispiele aus der
Zu
Konjunkturpolitik
Verteilungspolitik
Regionalpolitik
1
Öffentliche Investitions-
progressive
Begünstigung zurückge-
mehrausgaben zur
Einkommensbesteuerung bliebener Regionen bei
Konjunkturbelebung
der Vergabe öffentlicher
Aufträge
2.1
Jahreswirtschaftsbericht
Subventionsbericht
Raumordnungsbericht
2.2
Maßhalteappelle an die
unverbindliche
Landesentwicklungs-
Tarifvertragsparteien
Lohnleitlinien
pläne
Diskontsatzänderung
Sparprämien bis zu einer regionale
2.3
2.4
Konzertierte Aktion
Einkommensobergrenze
Beschäftigungsprämien
konzertierte Aktion
regionale Investitionsabstimmung
2.5
Preis- und Lohnstopp
Enteignung
Einwanderungsstopp für
Gastarbeiter
Quelle: Streit, S. 289.
II. Auf die zweite Frage wird mit der Zweckmäßigkeit (= Zielkonformität) und der
Zulässigkeit (= Systemkonformität) geantwortet.
Allerdings sind auf die erste Frage nur teleologische Urteile (vgl. aber "teleologischer
Trugschluß", § 2) und auf die zweite Frage nur vorläufige Urteile möglich, deshalb muß
zur Beantwortung der dritten Frage auf eine wirtschaftspolitische Kosten-NutzenAnalyse abgestellt werden (vgl. Abb. 16). Die schwierigsten Probleme stellen sich hier
dann bei der Mitteldosierung, die abhängig ist von der Wirkungsweise, und den
zeitlichen Verzögerungen (vgl. § 11).
47
Abb. 16: Kriterien für den Mitteleinsatz (Interventionsregeln)
Quelle: Streit, S. 312 und Streit (vgl. Abb. 7), S. 187.
§ 10 Träger und Inspiratoren der Wirtschaftspolitik
Träger der Wirtschaftspolitik sind Inhaber formeller oder materieller Entscheidungsgewalt; sie bedürfen der Legitimation, die sich aus der Rechts- und Kompetenzordnung
(Wirtschaftsordnung) ergibt. Besonders bedeutend bei einer Mehrzahl von Trägern der
Wirtschaftspolitik; geht es dabei doch um deren Koordination (Kooperation). Dieses
Problem wird bei dezentraler WP noch verschärft. Eine Möglichkeit der Abstimmung
bietet die "Konzertierte Aktion" (vgl. § 3 StabG).
Zu unterscheiden sind von den Trägern die Instanzen, die Ausführungsorgane sind
(etwa Bundeskartellamt). Tinbergen unterscheidet in Beratungs-, Planungs-, Entscheidungs-, Durchführungs- und Kontrollinstanzen.
48
Neben den formellen Trägern besteht eine informelle Entscheidungsstruktur über
Interessengruppen und Verbände, die man als Inspiratoren bezeichnet. Sie provozieren
oder beeinflussen (positiv wie negativ) die Träger, wobei ihnen ein weiter Bereich, von
der bloßen Deklamation oder Empfehlung bis hin zu massivem Druck über
Massenmedien offensteht.
Unterscheidung hier auch nach öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlich organisierten
Verbänden und deren Funktionen nach innen und außen.
Abb 17: Träger der Wirtschaftspolitik und Institutionen mit wirtschaftspolitischem Einfluss
Parlament
Regierung
Staatliche
Verwaltung
Träger der Wirtschaftspolitik
(Bund, Länder, Gemeinden)
Inspiratoren mit wirtschaftspolitischem Einfluss
Deutsche
Bundesbank
Europäische
Gemeinschaften
Arbeitsmarktparteien
Dezentralisierte
Wirtschaftspolitik
Sonstige internat.
Organisationen
Träger öffentl.
Selbstverwaltung der
Wirtschaft
Sonstige Verbände und
Interessengruppen
Quelle: Darstellung in Anlehnung an Streit, S. 336
49
§ 11 Der wirtschaftspolitische Entscheidungs- und Abstimmungsprozeß und seine
Grenzen
I. Eine Zusammenfassung des Bisherigen gibt Abb. 18. Nur auf zwei Probleme sei
hingewiesen:
Abb. 18: Wirtschaftspolitische Problemstruktur und wissenschaftliche Lösungshilfen
Quelle: Streit, S. 223
50
a) Diagnose/Prognose stehen in unterschiedlicher Relation zueinander: Diagnose bedeutet
Feststellung und Erklärung der herrschenden wirtschaftlichen Lage, umfasst also auch einen
Erklärungsversuch. Die Prognose ist eine "Erklärung" des Zukünftigen auf der Basis der
gegebenen Lage. Vom logischen Aufbau her sind Erklärung und Prognose äquivalent
(Symmetriethese): Wie die Erklärung besteht die Prognose in der Ableitung (Deduktion) einer
Aussage aus Hypothesen und Anwendungsbedingungen. Unterschiede ergeben sich erstens
daraus, dass verschiedene Arten von Aussagen vorgegeben sind. Bei der Erklärung ist das
Ereignis schon gegeben. Bei der Informationsprognose wird das zu prognostizierende
Ereignis gesucht; bei der Entscheidungsprognose werden die Anwendungsbedingungen
gesucht, aus denen sich (zusammen mit den Hypothesen) das gewünschte Ereignis ableiten
lässt. Ein zweiter Unterschied ergibt sich – als Kritik an den Symmetriethese – daraus, dass
Prognosen immer nur wahrscheinlich sind ("Paradox der Realisierung des
Unwahrscheinlichen").
b) Entscheidungsmodelle gehen üblicherweise von einem Entscheidungssubjekt aus ("synoptisches Ideal"); es existiert aber eine Mehrzahl von Trägern (vgl.§ 10) und alle
Entscheidungen benötigen Zeit. Bei den zeitlichen Verzögerungen ("time lags")
unterscheidet man in Handlungs- und Wirkungsverzögerungen (vgl. Abb. 19). Hinsichtlich
der Probleme der Diagnose, der Entscheidungsfindung und -realisierung, geht es um die
externen Anpassungen der Wirtschaftspläne; diese wird um so eher unterlassen werden, je
geringer der Wettbewerbsdruck ist.
51
Abb. 19: Time lags in der Wirtschaftspolitik
Quelle: Berg/Cassel/Hartwig (1999), S. 262.
52
II.
Einordnung der Träger in einen politischen Zusammenhang:
Die Neue Politische Ökonomie.
Regierungen und andere Träger der Wirtschaftspolitik, Verwaltungen (Instanzen) und Interessengruppen maximieren nicht die "soziale Wohlfahrt", sondern ihren eigenen Nutzen. Damit
kann das Verhalten dieser öffentlichen Entscheidungsträger wie das anderer Wirtschaftssubjekte erklärt werden (Rationalität, Nutzenmaximierung).
In einem Zwei-Parteien-Konkurrenz-Modell (Anthony Downs) werden die "stimmenmaximierenden", an der Wiederwahl interessierten Parteien durch den Konkurrenzdruck zu einer
Politik gezwungen, die sich an den Präferenzen des Medienwählers ausrichtet.
In einem politisch-ökonomischen Gesamtmodell (vgl. Abbildung 20) spielen zusammen: Die
Bürger als Wähler (und Nachfrager nach politischen Gütern und Leistungen, die Regierung
(oder die Parteien) als Anbieter politischer Güter, die Bürokraten als Produzenten politischer
Güter, und die Interessengruppen (als Informaten und Lobbyisten).
Im politisch-ökonomischen Modell liegt es nahe zu unterstellen, dass die Bürger/Wähler sich
an wenigen, augenfälligen Indikatoren orientieren, wenn sie sich für oder gegen die Regierung
entscheiden (bei Wahlen oder bei Umfragen): Arbeitslosigkeit, Inflation, Wirtschaftswachstum oder Umweltqualität. Mit dem Einsatz des wirtschaftspolitischen Instrumentariums
(das über die Bürokratie eingesetzt wird) versucht die Regierung, (kurzfristig) Einfluss auf das
Wirtschaftssystem zu nehmen. Hat sie dabei Erfolg, beeinflusst dies ihre Wiederwahlchancen
bzw. ihre Popularität.
Resultat kann ein "Politischer Konjunkturzyklus" (W. Nordhaus) sein in dem Sinne, daß die
Regierung als Stimmenmaximiererin versucht, zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit
"strategisch" zu wählen. Legt man hier eine um die kurzfristigen Erwartungen ergänzte
Phillipskurve zugrunde, ergibt sich, dass die Regierung vor der Wahl eine Hochkonjunktur
(niedrige Arbeitslosigkeit) ansteuert, nach der Wahl aber eine restriktive Politik einschlägt um
die Inflationsrate zu senken. Dies erhöht die Arbeitslosigkeit. Allerdings haben die
(kurzsichtigen) Wähler bis zur nächsten Wahl die negativen Spätfolgen der Hochkonjunktur
vergessen, so dass das Spiel von vorne beginnen kann. Interessanterweise ist dieses sehr
einfache Modell recht gut empirisch bestätigt.
53
Abb. 20: Ein politisch-ökonomisches Gesamtmodell
Wähler
Wahlen
Parlament
Wahlen
Interessenverbände
Regierung
Bürokratie
Wirtschaft
Mengen, Preise
Qualitäten
Inflation,
Arbeitslosigkeit,
Wachstum
54
IV. Spezielle Wirtschaftspolitik
§ 12 Wettbewerbspolitik: Leitbilder, praktische Umsetzung und Probleme
I. Walter EUCKEN (1891-1950) erkennt in den Marktwirtschaften der Industriegesellschaften
zwei Tendenzen: Einerseits besteht ein Wettbewerb um Leistung, andererseits gibt es Wettbewerbsbeschränkungen. Die "Freiheit des Marktes" kann zur Abschaffung der Marktfreiheit
verwendet werden.
Als "Grundprinzip" gilt die Herstellung eines funktionsfähigen Preissystems vollständiger
Konkurrenz. Aus seinen "konstituierenden Prinzipien" leitet er dann radikale Forderungen
für eine Ordnungspolitik ab. Konstituierende Prinzipien sind: Primat der Währungspolitik;
Offenheit der Märkte; Privateigentum; Vertragsfreiheit; Haftung; Konstanz der Wirtschaftspolitik.
Daneben unterscheidet er "regulierende Prinzipien", weil Probleme auftreten können (vgl. §
6): Monopole, Stabilisierung von Märkten, Verteilung, Umwelt und Gesundheitsgefährdungen
(von Frauen und Kindern).
II. Wettbewerb spielt in der Marktwirtschaft eine zentrale Rolle, deshalb muß geklärt werden,
was unter Wettbewerb zu verstehen ist, welche Funktionen er zu erfüllen hat und unter welchen Voraussetzungen er sich entwickelt (vgl. die Tabelle von Bartling auf den folgenden
Seiten).
55
Abb. 21: (Teil 1: linke Hälfte):
56
Abb. 21: Grundbeziehungen von Wettbewerbstheorie und -politik (Teil 2: rechte Hälfte):
Quelle: WiSu Studienblatt Dez. 86 v. H. Bartling, als Beilage zu WiSu: Heft 12/86.
57
Dem Preis als sichtbarstem und am leichtesten vergleichbaren Wettbewerbsparameter
kommen wesentliche Funktionen zu: Knappheitsindikator-Funktion; Selektionsfunktion;
Koordinationsfunktion; Allokationsfunktion (unmittelbarer Marktausgleich, mittelbare Lenkungsfunktion); Distributionsfunktion.
Genauere Erfassung der Bedingungen, unter denen Wettbewerb zu bestmöglichen (optimalen)
Ergebnissen führt (vgl. § 5: Pareto-Optimum): Wettbewerbstheorie wird Preistheorie (Chamberlin, Robinson, v. Stackelberg, Eucken, Schneider) und das Leitbild ist die vollkommene
Konkurrenz.
Abkehr schon 1939/40 durch John M. Clarks "workable competition". Der wesentliche Einwand bezieht sich auf die Vernachlässigung der wettbewerblichen Dynamik:
Wettbewerb ist ein dynamischer Prozeß, der durch eine Folge von Vorstoß- und Verfolgungsphasen gekennzeichnet ist, wobei Marktunvollkommenheiten Ergebnis initiativer und gleichzeitig Voraussetzung imitatorischer Wettbewerbshandlungen sind. Wichtig werden neben den
statischen Wettbewerbsfunktionen (optimale Allokation) die dynamischen (wie
Anpassungsflexibilität und technischer Fortschritt).
Problematisch aber bleibt, wie man den wirksamen Wettbewerb halbwegs eindeutig fassen
soll. Zwei Entwicklungen lassen sich ausmachen. Einerseits kann man fragen (vgl. etwa E.
Kantzenbach), wie groß die Zahl der Anbieter ist, um einen dynamisch effizienten Markt zu
erhalten. Die Grundvorstellung dabei ist, daß die Marktstruktur das Marktverhalten (und
damit auch das Marktergebnis) bestimmt. Andererseits kann die Frage nach den notwendigen Bedingungen gestellt werden, um unabhängig von der Marktform ein effizientes Verhalten zu erzwingen (dies ist W.J. Baumols Theorie der "anfechtbaren" Märkte). Im wesentlichen liegt "Anfechtbarkeit" vor, wenn freier Markteintritt möglich und der Marktaustritt
kostenlos ist.
Angesichts des Dilemmas, ob Effizienzerfordernisse und die Erfordernisse eines freien Wettbewerbs miteinander verträglich sind, kann man unterscheiden zwischen einem
"performance"-Konzept, bei dem die Effizienz im Vordergrund steht, und einem
"neoklassischen Konzept des freien Wettbewerbs" (Hoppmann).
III. Aufgabe der (praktischen) Wettbewerbspolitik ist die Durchsetzung eines "wirksamen"
Wettbewerbs. Diesem Ziel dienen in erster Linie die Bestimmungen des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) von 1957, dem "Kartellgesetz" (Existenzschutz). Daneben
58
dient das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) von 1909 dem "Qualitätsschutz"
des Wettbewerb.
Ausgangspunkt ist das prinzipielle Kartellverbot (§1 GWB) mit einer Reihe von Ausnahmen.
Aus den mehrfachen Novellierungen ergibt sich das Hauptproblem bei der Konzentration
beziehungsweise bei den marktbeherrschenden Unternehmen. Maßnahmen sind hier die
Fusionskontrolle (§§ 23 ff.) und die Mißbrauchsaufsicht (§ 22 GWB in Verbindung mit §
26 (Behinderungsverbot) und § 37a). Problematisch ist auch die (empirische) Abgrenzung
des relevanten Marktes. Strittig insbesondere auch die Begründung von Ausnahmebereichen
(§§ 99 ff.). Hier sei nur auf die De-Regulierungsdebatte hingewiesen. Wesentliche Schritte zur
De-Regulierung sind getan durch die Neuordnung der Versicherungsaufsicht, der (Teil)Privatisierungen von Post und Telefon sowie bei der Bundesbahn.
Zusätzliche Literatur:
Hartmut Berg: Wettbewerbspolitik, in: Vahlens Kompendium, Bd. 2, S. 299-362.
59
Abb 22: Missbrauchsaufsicht nach § 19 GWB
Quelle: Berg, H.(1999): Wettbewerbspolitik, in: Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie
und Wirtschaftspolitik, Bd. 2, 7. Aufl., München, S. 341.
60
Abb. 23: Vermutungs- und Ausnahmekriterien der Zusammenschlusskontrolle
Quelle: Berg, H.(1999): Wettbewerbspolitik, in: Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie
und Wirtschaftspolitik, Bd. 2, 7. Aufl., München, S. 343.
61
Abb 24: Funktionsfähiger Wettbewerb: Determinanten und Bewertungsmaßstäbe
Quelle: Berg, H.(1988): Wettbewerbspolitik, in: Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie
und Wirtschaftspolitik, Bd. 2, 3. Aufl., München, S. 241.
62
Abb 25: Neuklassisches Konzept der Wettbewerbsfreiheit
Quelle: Berg, H.(1988): Wettbewerbspolitik, in: Vahlens Kompendium der Wirtschaftstheorie
und Wirtschaftspolitik, Bd. 2, 3. Aufl., München, S. 251.
63
§ 13 Strukturpolitik - Auf dem Wege zur Dienstleistungsgesellschaft?
Wachstum ist in erster Linie die Konsequenz eines noch immer anhaltenden langfristigen
Strukturwandels, wobei Innovationen (Joseph Schumpeter, 1883-1950) im Zentrum stehen.
Anstöße gehen sowohl von der Angebotsseite als auch von der Nachfrageseite (Bevölkerungsund Einkommensentwicklung, neue Bedürfnisse, Sättigungsgrenzen) aus. Damit verbunden ist
eine Strukturverschiebung zwischen den einzelnen Wirtschaftsbereichen.
Dieser Wandel entspricht dem von Colin Clark (1905- ) und Jean Fourastié (1907- )
entwic??kelten Drei-Sektoren-Modell, das den Weg von der Industrialisierung hin zur
"reifen" Volkswirtschaft ("Postindustrielle Gesellschaft") aufzeigt (vgl. folgende
Übersichten).
Tabelle 3: Erwerbstätige nach Wirtschaftsbereichen in Deutschland in %. (nach dem DreiSektoren-Modell)
Wirtschaftsbereich 1882 1907 1939 1950 1960 1970 1980 19891) 19981)
Land-Forstwirt50,9 36,5 25,8 23,6 13,7 8,5
5,5
3,7
2,9
schaft u. Fischerei
Sekundärer Sektor: 28,4 39,9 41,8 43,3 47,9 48,9 44,1 40,9
33,8
Warenproduzierendes Gewerbe u.
Energie
Tertiärer Sektor
20,7 23,6 32,4 33,1 38,3 42,6 50,4 55,4
63,3
- Handel2)
6,0
10,0 15,8 15,7 18,3 17,9 18,9 17,9
19,1
- Versicherung3)
9,7
9,6
7,6
6,9
9,1
11,0 13,6 15,4
16,7
4)
Gebietskörp.
5,0
6,0
9,1
10,4 11,0 13,6 17,9 12,1
10,2
1)
Statistisches Bundesamt, Fachserie 1, Reihe 4.1.2 "Beruf und Ausbildung", 1990.
2)
und Verkehr und Nachrichtenübermittlung.
3)
Kreditinstitute; Versicherungen, Wohnungsvermietung, sonstige
Dienstleistungsunternehmen.
4)
Gebietskörperschaften, private Organisationen ohne Erwerbszweck u. häusliche Dienste.
Quelle: W. Kleber und R. Stockmann, Wachstum und Strukturwandel des
Beschäftigungssystems ..., in: Soziale Welt (1986), S. 58, und StBA; Anteile errechnet.
64
Abb 26. Veränderung der Erwerbstätigkeit nach dem Drei-Sektoren-Modell
100%
90%
T e r tiä re r S e k to r
80%
S e k u n d ä re r S e k to r
P rim ä re r S e k to r
70%
60%
50%
40%
30%
20%
10%
0%
1882
1907
1939
1950
1960
1970
1980
1989
1998
Quelle: Eigene Darstellung nach Daten der Tabelle 3.
Ordnet man nach Tätigkeiten oder Berufsbereichen ergibt sich ein anderes Bild
(vgl. folgende Abbildung).
Abb. 27: Erwerbstätige nach Art der überwiegenden Tätigkeit
P la ne n ; Forsch en
6%
S iche rn
5%
B üroa rb e ite n
2 2%
L eiten
7%
R ep a rie re n
8%
A usb ild en , In form ie re n
1 5%
Ma schine n einste lle n, W a rten
1 1%
H an d el treib e n
1 3%
son stig e Dien stle istun g en
1 3%
Quelle: Eigene Darstellung nach Daten des StBA, Fachserie 1, 1990.
65
Der glatte Kurvenverlauf in der Abbildung zum Drei-Sektoren-Modell "verdeckt" die
dramatischen Probleme, die mit dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft
einhergingen. Er verdeckt auch die sozialen Probleme, die heute anstehen und mit dem
Begriff
"Globalisierung"
verbunden
sind.
Offen
bleibt
auch,
ob
die
"Dienstleistungsgesellschaft" allen Menschen Arbeitsmöglichkeiten bei steigendem
Einkommen bieten kann, oder nicht immer mehr Arbeitslosigkeit (oder ein Rückgang der
Einkommen) entsteht.
Als treibende Kraft vermuten Clark und Fourastié neben der Einkommensentwicklung den
technischen Fortschritt, der vor allem in der Industrie (sekundärer Sektor) wirksam wird.
Dieser "nachfrageinduzierten" Tertiarisierung steht die Auslagesynthese gegenüber: Es findet
eine Auslagerung bisher selbsterstellter (Dienst-) Leistungen auf kostengünstigere Anbieter
statt. Der Zwang hierzu geht vom internationalen Wettbewerb aus.
Eine dritte These basiert auf der Neuen Institutionenökonomik und kann als Theorie der
Leistungstiefenoptimierung bezeichnet werden. Eine Auslagerung von (Dienst-) Leistungen
setzt voraus, dass diese standardisierbar sind, so dass letztlich die Eigenschaften der
Leistungen relevant sind ("Teilung der Wertschöpfungskette"). Insofern kann man hier von
einer Informations- und Kommunikations-Technik-induzierten Verschiebung ausgehen.
Problem: Kann eine weitere Expansion des Dienstleistungsbereiches für den kollektiven
Bedarf (Staat) und/oder den privaten Bedarf erwartet werden - wie dies Prognos (vgl. folgende
Abb.) voraussagt?
Dafür sprechen die hohe Bedürfnisintensität (Freizeitaktivitäten, Betreuung) und die hohe
Einkommenselastizität. Dagegen sprechen, daß die meisten Dienstleistungen sehr arbeitsintensiv und wenig rationalisierbar sind, so dass sie viel kosten, wenn die im
Dienstleistungssektor Tätigen ein den Industriebeschäftigten vergleichbares Einkommen
verdienen wollen.
Expansionschancen der DL dort, wo sie (1) preisgünstig (Fernlehrgänge, Fernsehen,
Fußball), (2) exklusiv (Nobel-Restaurants, Kunst), (3) unverzichtbar sind (Ärzte, Notare) oder
(4) wo sie zu niedrigem Lohn (karitativer Dienst, Schwarzarbeit) bzw. im öffentlichen Dienst
auf Kosten der Steuerzahler erbracht werden.
66
Abb. 28: Auf dem Weg zur Dienstliestungsgesellschaft
Auf dem Weg zur Dienstleistungsgesellschaft:
Veränderungsraten in der Beschäftigtenzahl ausgewählter Branchen und Sektoren von 1986 bis 2010 (in %)
Eisen- und Stahlindustrie
-41
-32
Automobilindustrie
-30
Baugewerbe
-25
Bergbau
-24
Land- und Forstwirtschaft
-21
Verbrauchsgüterindustrie
Nahrungs- und Genussmittelindustrie
-16
Elektroindustrie
-16
-13
Chemie
-11
Einzelhandel
-7
Maschinenbau
-3
EDV/Büromaschinenindustrie
0
Luft- und Raumfahrtindustrie
12
Nachrichtenübermittlung
15
Hotels und Gaststätten
16
Kreditinstitute
20
Versicherungen
28
Bildung/Wissenschaft/Kultur
42
Öffentliche Hand
63
Private Haushalte/Organisationen ohne Erwerbscharakter
-50
-40
-30
-20
-10
0
10
20
30
40
50
60
70
Quelle: Eigene Darstellung nach Daten der Prognos AG.
Gerade im 4. Argument scheint die Zukunft zu liegen, so dass sich entweder der
"amerikanische Weg" oder der "schwedische Weg" abzeichnen. Beide Wege bergen aber
erkennbare Risiken, einerseits Dienstleistungsproletariat ("working poor“) oder Grenzen der
Staatsausgaben.
An den Staat werden nun unterschiedliche Forderungen ("Strukturpolitik") gestellt: Die
schrumpfenden Branchen verlangen und erhalten Subventionen ("Übergangshilfen"); diese
Mittel fehlen dann bei den "zukunftsträchtigen" Wirtschaftsbereichen, die "Starthilfen"
benötigen oder bei regionaler Strukturpolitik (Standortbedingungen). Schließlich sollte der
Staat im Bildungsbereich durch veränderte Aus- und Fortbildungsangebote dem Strukturwandel Rechnung tragen.
67
Hinzu kommen die strukturellen Probleme in den neuen Bundesländern.
Ein weiteres interessantes Problem ist hier auch, inwiefern alternative Handlungsfelder sich
eröffnen: alternative Betriebe (Parallelen zur genossenschaftlichen Selbsthilfe) und alternative
Gruppierungen etwa im sozialen Bereich. Anknüpfung hier am "Marktversagen" oder "Staatsversagen".
Zusätzliche Literatur:
H. Albach, Dienstleistungsunternehmen in Deutschland, in: Zeitschrift für Betriebswirtschaft,
59. Jg. (Heft 4, 1989), S. 397 - 420.
J. Gershuny, Die Ökonomie der nachindustriellen Gesellschaft - Produktion und Verbrauch
von Dienstleistungen, Frankfurt a.M./New York (Campus) 1981.
F.W. Scharpf, Strukturen der post-industriellen Gesellschaft, in: Soziale Welt 37 (1986), S. 3 24.
§ 14 Agrarpolitik: Weinseen und Butterberge?
I. Die Probleme der EG-Agrarpolitik sind in den letzten Jahren in steigendem Maße gewachsen: Steigende Überschüsse und wachsende Belastungen der Steuerzahler. Auf welche Ursachen ist diese Entwicklung zurückzuführen: falsche agrarpolitische Konzeption, ökonomische
Sachzwänge, Interessengegensätze der Mitgliedsländer?
Ausgangspunkt der Analyse sind die Besonderheiten der Agrarmärkte, die Anlass geben,
sie aus dem Wettbewerbsprozess herauszuhalten oder Wettbewerb nur eingeschränkt wirken
zu lassen. Die Nachfrage nach Nahrungsmittel nimmt nur geringfügig zu. So wächst
einerseits die Bevölkerung nur mäßig, andererseits steigt die Nachfrage wegen der sehr
niedrigen Einkommenselastizität (sie ist definiert als relativer Zuwachs der Nachfrage, wenn
sich das Einkommen verändert) nur geringfügig. Auch Preissenkungen führen wegen der
preisunelastischen Nachfrage (d.h. die Preiselastizität der Nachfrage ist niedrig, dabei ist die
Preiselastizität definiert als relativer Zuwachs der Nachfrage, wenn sich der Preis verändert)
kaum zu Änderungen der Gesamtnachfrage. Insgesamt führt dies zu einer starren Nachfrage.
Folglich hängen die Wirkungen der im Agrarbereich zu beobachtenden
Produktivitätsfortschritte von der Anpassungsfähigkeit des Angebots ab (vgl. Tabelle 5).
68
Auf Seiten des Angebots muss ein Unterschied zwischen tierischen und pflanzlichbodengebundenen Erzeugnissen gemacht werden. Bei den zuerst genannten Produkten zeigt
sich eine preiselastische Reaktion; der Wettbewerb würde hier zu Marktaustritten in der
üblichen Art führen. Anders bei den an zweiter Stelle genannten Produkten. Hier liegt sehr
wahrscheinlich eine geringe Preiselastizität des Angebots vor: Obwohl durch
Generationenwechsel und Abwanderung im Laufe der Zeit viele bäuerliche Betriebe
aufgegeben werden, gehen die landwirtschaftlich genutzten Flächen kaum zurück. Hieraus
ergibt sich ein preisunelastisches Angebot.
Verbindet man starre Nachfrage und preisunelastisches Angebot, dann führen
Produktionsfortschritte (steigende Produktivität) zu einem anhaltenden Preisverfall von
Agrarprodukten. Volkswirtschaftlich ergibt sich folglich bei sich selbst überlassenen
Wettbewerbsprozessen und wegen der unterbleibenden Marktaustritte die Gefahr
übersteigerter Mengen- und Preisreaktionen. Verbunden wären diese Prozesse mit
sozialpolitisch untragbaren Folgen für die landwirtschaftlichen Familien.
II. Die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) zielt nun genau auf diese Folgen.
Den Rahmen gibt der EG-Vertrag ("Römische Verträge" von 1957). Die mit der Bildung des
Gemeinsamen Agrarmarktes verfolgten Ziele entsprechen weitgehend den generellen Zielen
der (ehemaligen) EWG: Abbau von Handelsschranken, um durch Realisierung von Produktivitätsfortschritten zugleich zu einer preisgünstigen Versorgung der Verbraucher, und
zu einer Steigerung des landwirtschaftlichen Einkommens beizutragen. Daneben nennt
Artikel 39 EWG-Vertrag als Ziel die Stabilisierung der Agrarmärkte und die Sicherstellung
der Versorgung mit Nahrungsmitteln.
Während bis Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts die GAP keine großen Probleme
bereitete, weil auf den meisten Märkten ein Einfuhrbedarf bestand, nahmen die Probleme mit
wachsendem Selbstversorgungsgrad zu (vgl. folgende Tabelle).
69
Tabelle 4: Entwicklung des Selbstversorgungsgrades bei ausgewählten Agrarerzeugnissen
Getreide
Weizen
Gemüse
Butter
Käse
Rindfleisch
Schaf- und
Ziegenfleisch
Geflügel
EUR 6
1968/69
1973/74
94
97
112
114
100
97
113
116
102
106
89
96
56
74
98
EUR 9
1973/74
91
103
93
93
107
100
67
EUR 10
1985/86
121
132
101
133
107
108
76
103
107
101
EUR 12
1985/86
1989/90
114
120
126
127
107
106
105
106
107
101
80
82
104
104
Quelle: EG-Kommission, Die Zukunft unserer Landwirtschaft, 1993, S. 13.
Aus folgender Tabelle ist der Produktivitätsfortschritt in den verschiedenen Bereichen der
Landwirtschaft zu entnehmen.
Tabelle 5: Ertragsentwicklung zwischen 1970 und 1990 (EUR 6)
Land
Jahre
Getreide
(100 kg/ha)
Zucker (100
kg/ha)
Raps
(100kg/ha)
Deutschland Frankreich
Italien
Niederland
Belgien
Luxemburg
1970 1990 1970 1990 1970 1990 1970 1990 1970 1990 1970 1990
33,4 57,9 33,8 60,7 26,9 38,4 37,6 69,3 33,6 59,7 24,0 38,2
Milch
(kg/Kuh)
3.779 4.803 3.116 4.559 2.659 3.557 4.170 5.784 3.640 4.168 (1)
Jahre
Kartoffeln
(t/ha)
1960 1985 1960 1985 1960 1985 1960 1985 1960 1985 1960 1985
22
29
14
29
9
17
26
37
22
34
19
29
60,2
69,3
67,4
95,1
38,0
55,7
63,2
98,6
61,2
91,2
21,8
30,2
17,5
27,8
18,3
24,3
29,1
30,0
24,8
30,0
1)
1)
-
30,0
4.838
1)
Belgien und Luxemburg
Quelle EG-Kommission, Die Zukunft unserer Landwirtschaft, 1993, S. 7.
70
Steigende Überschüsse auf verschiedenen Agrarmärkten (unter den Schlagworten "Weinseen"
und "Butterberge" berüchtigt) und damit verbunden die steigende Belastung der EG-Haushalte
und folglich der Steuerzahler zeigen die grundsätzlich falsche Konzeption der GAP.
Als wichtigstes Instrument ist die Errichtung einer gemeinsamen Marktordnung entsprechend
weitgehend den generellen Zielen der (ehemaligen) EWG mit einheitlichem Preis innerhalb
der EG bei gleichzeitigem Außenhandel anzusehen. Erreicht werden soll dies durch variable
Zölle und Binnenmarktinterventionen. D.h. entsprechend dem Prinzip der
Gemeinschaftspräferenz mussten die EG-Erzeugnisse kostengünstiger sein als ausländische
Produkte. Einfuhren wurden folglich mit Zöllen und Abgaben belegt, Ausfuhren durch
Ausfuhrsubventionen auf das Weltmarktpreisniveau herunter geschleust.
III. Beispiel: Getreidemarktordnung
Ausgangspunkt ist der Richtpreis, i.d.R. kein Gleichgewichtspreis, also erfolgen
Interventionen, um einen Marktpreis durchzusetzen. Aus dem Richtpreis wird ein
Mindestpreis, der sog. Interventionspreis abgeleitet. Die außenwirtschaftliche Absicherung
erfolgt durch Exporterstattungen und Importabschöpfungen. Für die Berechnung wird ein
Schwellenpreis festgelegt, der aus dem Richtpreis und bestimmten Transportkosten abgeleitet
wird.
Die folgenden Abbildungen 29 und 30 zeigen Auswirkungen von Importabschöpfungen und
Interventionen durch den teilweisen Aufkauf der inländischen Produktion.
Abb. 29:
N
p
A
Abschöpfungen bei
Einfuhrbedarf und
unendlich elastischem
Weltmarktangebot.
ps
pw
a
c
b
x1
x2
d
x3
x4
x
71
Im Vergleich zur Freihandelssituation (Menge x4 zum Preis pw) ergeben sich beim (politisch
festgesetzten) Schwellenpreis ps eine Abschöpfung (Zolleinnahmen) im Umfang von c, eine
heimische Produktionsausweitung im Umfang von (x2-x1) mit einem Anstieg der
Produzentenrente entsprechend Fläche a, ein Rückgang des heimischen Konsums um (x4-x3)
und ein Rückgang der Konsumentenrente um a+b+c+d. Im betrachteten Partialmodell bewirkt
die Abschöpfung einen Wohlfahrtsverlust im Vergleich zum Freihandel von b+d.
Eine Ausweitung des heimischen Angebots (Verschiebung der Angebotskurve nach rechts)
und/oder ein Rückgang der heimischen Nachfrage (Verschiebung der Nachfragekurve nach
links), können dazu führen, dass der Marktpreis unter den Schwellenpreis sinkt. Um ein
weiteres Sinken zu verhindern, kann ein (ebenfalls politisch gewählter) Interventionspreis (pi)
festgesetzt werden, zu dem Überschüsse am Markt aufgekauft werden. Im in Abbildung 30
dargestellten Fall wird die Menge (x3-x2) aufgekauft (und eingelagert oder am Weltmarkt zum
Preis pw abgesetzt). Der heimische Konsum beträgt x2 zum Preis pi. Trotz des niedrigeren
Weltmarktpreises wird nichts importiert, da aufgrund der Abschöpfung der Inlandspreis des
Weltmarktangebots über dem inländischen Marktpreis läge.
Abb. 30: Aufkauf bei Produktionsüberschüssen
N
A
ps
pi
pw
x1 x2
x3 x4
72
IV. Alternativen, weil (wie gesehen) die Einkommenstransfers und die Erhöhung des
Selbstversorgungsgrades mit Allokationsverlusten verbunden sind.
Zwar versuchten die Politiker durch moderate Preissenkungen eine restriktive Agrarpolitik zu
verwirklichen, doch sanken dadurch die Preise in der EG nur langsamer als am Weltmarkt.
Folglich nahmen die Ausgaben für Agrarschutz trotz der Überschüsse noch zu (vgl. folgende
Abbildung).
Abb 31: EU-Agrarausgaben
45
100
40
90
80
35
70
30
50
in %
Mrd. Euro
60
25
20
40
15
30
10
5
Ausgaben für die gem. Agrarpolitik (Mrd. Euro) (linke Skala)
20
in % der EU-Gesamtausgaben (rechte Skala)
10
0
0
1973
1983
1994
1995
1996
1997
1998
1999
Quelle: Eigene Darstellung nach Daten des IW und der EU-Kommission.
Weder die "Mitverantwortungsabgabe", noch die "Nichtvermarktungsprämien" oder die
"Quotierung der Milchproduktion" konnten in den 80er Jahren das Ausgabenwachstum
bremsen.
In Folge der "Uruguay-Runde" (1992) sah sich die EG gezwungen, ihre GAP grundlegend zu
reformieren: Die Reform enthielt eine 30prozentige Preissenkung für Getreide und
73
Rindfleisch. Jedoch wird die Einkommenswirkung dieser Preissenkungen im Durchschnitt der
Landwirtschaft durch sog. Preisausgleichszahlungen ausgeglichen. Zur Reduktion der
Produktion wurde außerdem eine quasi-obligatorische Flächenstillegung eingeführt: Die
Preisausgleichszahlung wird nur gewährt, wenn Landwirte einen bestimmten Prozentsatz (im
ersten Jahr der Reform 15%, im zweiten Jahr 12%) ihrer Fläche effektiv stilllegen.
Die Notwendigkeit weiterer Reformen fand ihren Niederschlag in der Agenda 2000.
Allerdings wurde schon von vielen gesehen, dass die Reformansätze zu zaghaft waren. Neue
Reformen sind dringlich bevor die geplante Ost-Erweiterung der EU stattfinden kann, weil
kaum vorstellbar ist, dass das System der GAP in den mittel- und osteuropäischen Ländern
eingeführt werden kann.
V. Ökonomisches Räsonnement gegen politische Zwänge?
Die Diskrepanz zwischen Zielen und Erreichtem gibt Anlass zu Überlegungen, worauf diese
Fehlentwicklungen zurückzuführen sind. Ein wesentliches Argument dabei ist, dass die
institutionellen Rahmenbedingungen auf der EU-Ebene den Einfluss der Bauernlobby fördern.
So können auch z.B. nationale Budget-Lasten wegen des Prinzips der finanziellen
Solidarität zwischen den Mitgliedsländern auf das europäische Niveau externalisiert werden.
Eine der Überlegungen zielt in Richtung Neue Politische Ökonomie: Wer würde bei einer
Veränderung des gegenwärtigen Systems verlieren, wer gewinnen? Welche Gründe könnten
den Deutschen Bauernverband veranlassen, dem Vorschlag von direkten Transfers reserviert
bis ablehnend gegenüber zu stehen? Welches ist die spezifische Interessenlage eines
amtierenden Agrarministers (wenn er darüber eigens meist auch noch Landwirt ist)? Weshalb
haben (oder nehmen) andere Interessengruppen (wie etwa Verbraucherverbände) relativ wenig
Einfluss auf agrarpolitische Entscheidungen?
Zusätzliche Literatur:
W. Henrichsmeyer: Alternativen der EG-Agrarpolitik, in: H. Hesse (Hrsg.), Arbeitsbuch Angewandte Mikroökonomik, Tübingen (Uni-TB 1041) 1980, S. 67-80.
W. Henrichsmeyer und O.Gans: Das System der EG-Agrarpolitik: Zielvorstellungen,
Probleme, Reformvorschläge, in: WISU 8/1979, S. 383-389.
U. Koester: Die europäische Agrarpolitik. Eine Reform ohne Ende?, in: Aus Politik und
Zeitgeschichte, B 33-34/95, S. 25-33.
74
§ 15 Umweltpolitik - Umwelt ein freies Gut?
I. Ausgangspunkte sind hier vorallem die in §5 genannten Probleme marktmäßiger Koordination: externe Effekte und öffentliche bzw. politische Güter. An "Umweltgütern" gibt
es üblicherweise kein (privates) Eigentum, folglich erscheinen die negativen externen Effekte
(Schadstoffbelastung, Raubbau) in keiner privaten Wirtschaftsrechnung. Darüber hinaus besteht ein "Freifahrer-Problem". Das Auseinanderklaffen von sozialen und privaten Kosten
bzw. Erträgen führt zu unrichtigen Preisrelationen mit der Folge der nicht-optimalen Allokation. Dies betrifft auch Standortentscheidungen von Unternehmen.
Neben der Externalitäten- bzw. Allokationsdimension hat das Umweltproblem auch eine
Wachstumsdimension. Üblicherweise wird sie unter der Rubrik "Wachstumsgrenzen" diskutiert: Umwelt ist zum einen ein Konsumgut, das der Erholung, der Ästhetik dient (Naturschutz, Landschaftspflege); zum anderen ist Umwelt ein Ressourcenträger bzw. eine Rohstoffquelle (zu unterscheiden sind hier dann die erneuerbaren und die nicht-erneuerbaren Rohstoffe) und ein Standortfaktor. Daneben ist eine zeitliche Dimension bzw. Generationendimension zu berücksichtigen: Jede Generation gibt an die nachfolgenden unerwünschte Güter (Schadstoffe), die heutigen Emissions- und Entsorgungstechnologien sowie
Industriestrukturen weiter.
II. Ziele und Maßnahmen der Umweltpolitik lassen sich aus dem Obigen begründen.
Ziel der Umweltpolitik ist allgemein, durch eine Begrenzung der Umweltbelastung auf ein
verträgliches Maß die gesellschaftliche Wohlfahrt insgesamt zu steigern. Dabei soll durch
geeignete Maßnahmen auch sichergestellt werden, daß irreversible Prozesse das ökologische
Gleichgewicht nicht bedrohen (Nachhaltigkeit bzw. "sustainability" als neue Ziele
berücksichtigen auch die Zukunft).
Ausgangspunkt ist folgendes Modell: externe Schäden (gemessen durch die Grenzschadenkurve S', die angibt wie die Schäden zunehmen, wenn eine Einheit zusätzlicher Emission auftritt) stehen den Vermeidungskosten (gemessen durch die Grenzkostenkurve K', die angibt wie
die Kosten sinken, wenn man eine zusätzliche Einheit zusätzlicher Emission austreten läßt
bzw. nicht zurückhält) gegenüber.
Das gesamtwirtschaftliche Optimum (an Umweltverschmutzung) liegt bei der Emmissionsmenge E, weil hier das Minimum der gesamtwirtschaftlichen Kosten erreicht ist
(vgl. Abb. 32): Die Summe aus Schadenkosten OBE plus Beseitigungs- oder
Vermeidungskosten ECB ist hier am geringsten.
75
Abb. 32: „Optimale Umweltqualität“
Preis
Grenzkosten
Grenzschäden
S‘ (Grenzschaden)
B
p*
der
K‘ (Grenzkosten
Schadensvermeidung)
0
C
E
Emissionsmenge
Reduzierte Schadstoffe
Zur Erreichung einer (optimalen) Umweltqualität stehen verschiedene Instrumente zur
Verfügung, wobei das Verursacherprinzip angewandt wird:
• Mengenregulierung (Durchsetzung von Normen und Standards durch Ge- und Verbote),
• Preisregulierung (über Steuern, Subventionen, Abgaben oder Gebühren),
• Regulierung durch Verfügungsrechte (private Eigentumsrechte, Lizenzen oder
Haftungsregeln).
Mengenregulierungen reduzieren den Entscheidungsspielraum (Preis ist vorher Null und dann
"Unendlich", wenn entsprechende Strafen verhängt werden). Denkbar sind hier "Kompensationslösungen" (neue Anlagen niedrigere bzw. alte Anlagen höhere Grenzwerte).
Bei der Preisregulierung werden die falschen oder verzerrten Preise korrigiert über sog.
Pigou-Steuern (Emissionssteuern, eventuell mit Verknüpfung der Verwendungsentscheidung), Problem ist die Überwälzung und die Reaktion der Nachfrager.
Durch Verfügungsrechte werden zuvor "freie Güter" zu privaten Gütern. Geschieht dies auf
dem Verhandlungswege findet das Coase-Theorem Anwendung: Unter bestimmten Voraussetzungen ist die effiziente Lösung unabhängig von der Zuordnung der Eigentumsrechte.
Probleme hierbei führen zur Vergabe von "Umweltlizenzen"; sie stellen eine
"Mengensteuerung auf Preisbasis" dar. Aber auch hier liegen Schwierigkeiten in den Verwaltungs- und Kontrollkosten (vgl. die Zusammenfassung in Abb. 33).
76
Abbildung 33: Bewertung alternativer Instrumente
Quelle: Siebert, H (1976): Instrumente der Umweltpolitik, Göttingen, S. 114-115
Bei der Ausweitung des Haftungsrechtes werden "soziale Risiken" zu "privaten Risiken" gemacht. Herausbildung von Versicherungsmärkten, zum einen für die Schädiger, die von Schadenzahlungen entlastet werden, zum anderen für die Geschädigten, die im Schadensfall ohne
Kompensation bleiben, weil der Schädiger ("Verursacher") nicht identifizierbar ist (oder sich
auf seine angewandte Sorgfalt berufen kann). Umkehr der Beweispflicht und Gefährdungshaftung führen hier einen Schritt weiter!
Probleme bereiten hier die "Altlasten" und die Summations- und Distanzschäden.
Allerdings gibt es auch hierfür Lösungen, etwa auch in der Veränderung des Haftungsrechts
(vgl. CERCLA in den USA) oder in neuen Versicherungsformen (vgl. Eisen, 2000).
77
Die diskutierten umweltpolitischen Instrumente und die verschiedenen Dimensionen des
Umweltproblems sind in Tabelle 6 zusammengefasst.
Tabelle 6: Das Umweltproblem: Dimensionen und Instrumente
Instrumente
Dimensionen
Ge- und
Verbote
Steuern und
Subventionen
Lizenzen und
Ausweitung des
Haftungsrechts
Allokation
Konsumgut
Wachstum
Ressource
Generationen
78
Abb 34: Umweltschutzinvestitionen im produzierenden Gewerbe
9
30
A lte B u nde sländ er (in M rd . D M )
N e ue B un desländ er (in M rd. D M )
8
A nteil an G esa m tinv estition en, W est (in % )
A nteil an G esa m tinv estition en, O st (in % )
25
7
20
5
15
in %
in Mrd. DM
6
4
3
10
2
5
1
0
0
19 88
19 89
19 90
19 91
19 92
19 93
19 94
Quelle: Eigene Darstellung nach Daten des StBA.
Zusätzliche Literatur:
H. Bonus, Umwelt und Soziale Marktwirtschaft, Gesellschaftspolitische Bildungsmaterialien, Heft 7, Köln (DIV) 1980.
H. Bonus, Börsen für den Schmutz, FAZ v. 30.9.1989 (Nr. 227), S. 13.
R.
Eisen,
Das
Beispiel
der
(gesetzlichen)
Unfallversicherung
für
Umwelthaftpflichtversicherung, in: Sozialer Fortschritt, 2000)
J. Halen, Umweltökonomische Gesamtrechnung 1998, Quelle: http://www.statistikbund.de/presse/deutsch/pm/u_state1.htm.
V. Hartje, Umweltpolitik, in: Wirtschaftsstudium (WiSu), 18. Jg. (Heft 7, 1989), S. 418
- 422.
V. Hartje, Umweltpolitik: Zielformulierung in der politischen Praxis, in: WiSu, 19. Jg.
(Heft 2, 1990), S. 116 - 123.
K. Zimmermann, Zur Anatomie des Vorsorgeprinzips, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. B 6/90 vom 2.2.1990, S. 3-14 (enthält noch weitere interessante Beiträge,
wird hrsg. von Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn).
H. Zillessen, Von der Umweltpolitik zur Politik der Nachhaltigkeit, in: Aus Politik und
Zeitgeschichte B 50/98, S. 3-10.
79
§ 16 Wohnungspolitik - Wohnungsnot und kein Ende?
I. Nach weit verbreiteter Ansicht ist die Wohnung ein Gut besonderer Art – sie erfüllt
ein wichtiges Grundbedürfnis und ist Mittelpunkt des Familienlebens. In den beiden
Weltkriegen wurden jedoch auch große Bestände vernichtet. Trotz einer eventuellen
Angleichung von Angebot und Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt, gibt es Regionen
und Bereiche wo Mangel an Wohnungen oder an preiswertem Wohnraum herrscht. So
errechnet das Ifo-Institut (München) einen jährlichen Bedarf von 400.000
Wohneinheiten. Die Nachfragesteigerung beruht auf der Erhöhung der Einkommen, der
Veränderung der Alterssicherung, der Zuwanderung in Ballungsgebiete. Das Angebot
dagegen stagniert: Die Versicherungswirtschaft hat sich fast völlig aus dem
Mietwohnungsbau zurückgezogen, die Bauträger konzentrieren sich auf den Bau von
Reihenhäusern zur Eigennutzung. Verfehlte Wohnungsbaupolitik?
II. Wohnungspolitik ist Wohnungsbau- und Wohnungsbestandspolitik, also kann
man auch hier auf das traditionelle Entscheidungsmodell zurückgreifen: Ziele, Daten,
Instrumente und Wirkungsanalyse. Aber dies geht nur auf Grundlage einer
"Wohnungsmarkttheorie".
Wohnungen sind langlebige Gebrauchs- oder Nutzungsgüter. Neben ihrer relativ langen
"Lebensdauer" (Nutzungsdauer) sind Wohnungen ortsgebunden und der Nutzer (Mieter)
ist nicht notwendig auch der Eigentümer – im Gegensatz zu den meisten anderen
dauerhaften Gebrauchsgütern.
Das Angebot wird durch potentielle Investoren bereitgestellt, wenn der aus der (Fremd-)
Nutzung der Wohnung zu erwartende Nutzungspreis (Miete) auf Dauer eine
angemessene Verzinsung des (bei der Erstellung oder beim Kauf) eingesetzten Kapitals
sicherstellt.
Auch die Nachfrage nach Wohnungen hängt vom Preis (Mietzins) ab, von der Höhe des
Einkommens und Vermögens und der Bedarfsstruktur des Hauhalts (Familiengröße, struktur). Diese Bestimmungsgrößen sind aber nicht unabhängig voneinander.
Die Antwort auf die Frage, warum so stark regulierend eingegriffen wird – von den
Mieterschutzgesetzen bis zur Wohnungszwangswirtschaft –, verweist auf die
Besonderheiten der Wohnung. Wohnung erfüllt ein soziales Grundbedürfnis, das nicht
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dem "sozial blinden" Markt überlassen werden kann. Aber der Wohnungsmarkt weist
spezifische Besonderheiten auf.
Der Wohnungsmarkt setzt sich aus zwei Teilmärkten zusammen: Nutzungsmarkt
(Mietwohnungsmarkt) und Eigentumsmarkt und er ist ein Bestandsmarkt: großes
Volumen und lange Lebensdauer. Bestandsveränderungen etwa durch Neubauten
betragen gerade mal 1 Prozent des Bestandes. Bestandsveränderungen sind aber auch
zeitbedingt (Alterungsprozesse von Wohnungen und der Bevölkerung) oder markt- bzw.
verhaltensbedingt (Steuerpolitik, Sozial- und Wohnungspolitik). Das Abstimmen der
Anpassungsprozesse
unterschiedlichen
Ausmaßes
und
unterschiedlicher
Geschwindigkeiten ist die eigentliche Schwierigkeit der (ökonomischen)
Wohnungsmarkttheorie. Zum anderen gibt es "Filtering-Prozesse"; hierunter versteht
man Änderungen der Qualitätsstruktur des gegebenen Wohnungsbestands und seine
Verteilung auf die Haushalte: Normalerweise sind "filtering-down"-Prozesse durch zeitund nutzungsbedingten Verschleiß zu beobachten. Durch Modernisierung finden
"filtering up"-Prozesse statt. Auch der Haushalt möchte mit steigendem Einkommen
eine größere und höherwertige Wohnung haben. Allerdings gibt es auch Haushalte, die
ihren Wohnkonsum reduzieren. Der Kern der Filterprozesse ist der Verbund der
Wohnungsteilmärkte auf der Angebots- wie Nachfrageseite. (Wichtig ist hier auch die
Einbettung in ein System "wohnungswirtschaftlich relevanter Märkte", in dem die
Beziehungen zwischen Baulandanbieter und Wohnungsinvestor, Wohnungsinvestor und
Wohnungsnutzer untersucht werden.)
Störungen der Anpassungsprozesse passieren durch Immobilität der Nachfrager,
Nichtwahrnehmung von Preissignalen und den bloßen Zeitbedarf. Daneben gibt es auch
externe Effekte, die zu kumulativen Prozessen führen können: Miete und Kaufpreis
einer Wohneinheit richten sich auch nach der Qualität der Wohnungen und Häuser in
der Nachbarschaft und der Art des Wohnumfeldes (Baudichte, Anlagen, Schulen,
Kriminalität u.ä.). Dies kann einerseits zu beschleunigten Alterungsprozessen
("Verslumung") und/oder Behinderung von Modernisierungsprozessen führen;
andererseits auch zu positiven "Ansteckungseffekten" oder zu einer Stabilisierung von
Wohnanlagen.
Nimmt man dieses komplizierte Geflecht von diversen dynamischen Prozessen, wird
einsichtig, dass Vorhersagen sehr schwierig sind und sich unterschiedliche
Schwankungen (Zyklen) ergeben können.
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Typische Ziele der Wohnungspolitik sind Wohnungsversorgung allgemein, für
Minderheiten, für Einkommensschwache, die Vermögensbildung und die Sicherung von
Bestandsrenten der Vermieter u.a. Als typische Maßnahmen (Instrumente) gelten die
Neubauförderung für Einkommensschwache, für Eigentümer (Wohnungseigentum),
Modernisierungsförderung, Wohngeld, "Leased Housing" und die Besteuerung von
Baugrundstücken.
Die Wirkungen der Instrumente werden beispielhaft an Abb. 35 aufgezeigt.
Abb. 35: Wirkungen der Instrumente der
Wohnungspolitik
N‘
N
A
A‘
p1
p0
x0
x1 xG
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Erläuterung zu Abb 35:
Ausgangspunkt: Anstieg der Nachfrage nach Wohnraum (Verschiebung von N nach
N‘).
Wird versucht, einen Preisanstieg für Wohnraum durch Einfrieren des vorherigen
Marktpreises (p0) als Höchstpreis (Preisstopp) zu verhindern, besteht Wohnungsmangel
im Umfang (xG-x0). Ohne Eingriffe würde ein Preisanstieg auf p1 zu einem höheren
Angebot und zur Markträumung bei x1 führen.
Soll jedoch zum Preis p0 die Nachfrage befriedigt werden, so sind angebotspolitische
Maßnahmen notwendig. Eine Möglichkeit bestünde in öffentlichem Wohnungsbau im
Umfang von (xG-x0). Alternativ könnten durch Förderung der Wohnungsanbieter die
Grenzkosten des Wohnungsbaus gesenkt werden (um eine Verschiebung der Angebotskurve zu bewirken. Dies könnte mittels öffentlicher Subventionen (Sozialer Wohnungsbau), Steuernachlässen und/oder Baulanderschliessung geschehen.
In der Diskussion und der Politik hat sich durchgesetzt, dass die Subjektförderung (über
Wohngeld) der Objektförderung (über den sozialen Wohnungsbau) vorzuziehen ist.
Dabei bestimmen vier Grössen das Wohngeld: Haushaltsgrösse und -einkommen,
Mietniveau am Ort und Miethöhe. Leider hat auch dieses Instrument Nachteile: Wegen
des Wohngeldes steigt die Kaufkraft der Mieter und das erhöht die Mieten. Ferner
"versickert"
ein
großer
Teil
des
Wohngeldes
bei
dem
"Herunter-"
und
"Hinauffilterungs"-Prozessen.
Hieraus allerdings die Konsequenz zu ziehen, das Mietrecht zu deregulieren oder den
Wohnungsmarkt frei zu geben, ginge dann zu weit.
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Abb 36:
Wohngeldleistungen von Bund- und Ländern (ab 1991 Gesamtdeutschland)
in Mio . DM
.
8000
7000
6000
5000
4000
3000
2000
1000
95
93
91
89
87
85
83
81
79
77
75
73
71
69
67
97
19
19
19
19
19
19
19
19
19
19
19
19
19
19
19
19
19
65
0
Quelle: Eigene Darstellung nach Daten des Wohngeld- und Mietberichts 1999 des
Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen.
84
Abb 37: Soziale Stellung der Wohngeldempfänger im Jahr 1998
Sonstige
Studenten
Rentner
Arbeitslose
Selbständige
Beamte
Ost
West
Angestellte
Arbeiter
0
5
10
15
20
25
30
35
40
45
50
in %
Quelle: Eigene Darstellung nach Daten des Wohngeld- und Mietberichts 1999 des
Bundesministeriums für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen.
Zusätzliche Literatur:
E. Forster, H. Steinmüller, Probleme einer ökonomischen Theorie des Wohnungsmarktes, in: Hauswirtschaft und Wissenschaft, 24. Jg. (Heft 3, 1976), S. 118-122.
J.
Krumbacher,
Ziele
und
Instrumente
der
Wohnungspolitik,
in:
Wirtschaftswissenschaftliches Studium (WiSt), 19. Jg. (Heft 10, 1990), S. 517-520.
Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Wohnungspolitik im geeinten Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 38-9/93 vom 19.2.1993.
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