Leseprobe - bei der VAK Verlags GmbH

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Leseprobe - bei der VAK Verlags GmbH
31129 Superfaktor TB US lay_Layout 1 14.01.13 13:52 Seite 1
Wie herausragend sich Bewegung auf unsere Lernfähigkeit auswirkt, dafür gibt es beeindruckende Erfahrungen
aus breit angelegten Studien: Schüler, die täglich an einer
Extrastunde Sport teilnahmen, waren nicht nur emotional
ausgeglichener und sozial besser integriert, sie erzielten
in landesweiten Vergleichstests auch die besten Leistungen ihrer Altersgruppe!
Eines lässt sich mit Gewissheit sagen: Bewegung ist in
jedem Alter der wichtigste Faktor, um das Gehirn fit und
leistungsfähig zu halten. Der bekannte Psychiater zeigt
hier, wie und warum Bewegung die Entwicklung von Intelligenz fördert und gleichzeitig dabei hilft, Krankheiten
zu vermeiden. Bewegung reduziert Ängste und Stress,
fördert Konzentration und Gedächtnis und bewirkt auch
bei Alzheimer, AD(H)S und Depressionen wahre Wunder.
Ein Kapitel beleuchtet außerdem den weiblichen Hormonstoffwechsel und zeigt den besonderen Einfluss von
Sport auf die Gesundheit von Frauen.
Extra: Mit leicht umsetzbaren und praktischen Infos über
geeignete Sportarten, Trainingsdauer und Intensität.
www.vakverlag.de
ISBN 978-3-86731-129-8
12,95 € (D) / 13,40 € (A)
SUPERFAKTOR BEWEGUNG
Und jeder weiß: Wenn wir uns bewegen, fühlen wir uns
viel besser. Aber warum ist das so und warum fällt es uns
so schwer, regelmäßig Sport zu treiben? Dr. Rateys provokante Antwort lautet: Muskelaufbau und Kondition sind
eigentlich nur „Nebenwirkungen“ von Sport. Viel erstaunlicher ist, dass ein Mangel an Bewegung unserem Gehirn
sogar schadet, denn es schrumpft dadurch!
DR. JOHN J. RATEY ERIC HAGERMAN
DR. JOHN J. RATEY ERIC HAGERMAN
Wir brauchen Bewegung wie die Luft zum Atmen, unser
Körper ist biologisch darauf programmiert: Unsere Vorfahren mussten gut zu Fuß zu sein, um sich vor Feinden
in Sicherheit zu bringen und bei der Jagd erfolgreich zu
sein. Heute – mit dem Supermarkt um die Ecke und dem
Auto in der Garage – brauchen wir Bewegung zwar nicht
mehr zum Überleben, aber doch in besonderem Maße,
um gesund und leistungsfähig zu bleiben. Gelingt es uns
nicht, mit unserem evolutionären Erbe in Einklang zu
leben, werden wir krank.
SUPERFAKTOR
BEWEGUNG
DAS BESTE FÜR IHR GEHIRN!
31129 Superfaktor TB US lay_Layout 1 14.01.13 13:52 Seite 1
Wie herausragend sich Bewegung auf unsere Lernfähigkeit auswirkt, dafür gibt es beeindruckende Erfahrungen
aus breit angelegten Studien: Schüler, die täglich an einer
Extrastunde Sport teilnahmen, waren nicht nur emotional
ausgeglichener und sozial besser integriert, sie erzielten
in landesweiten Vergleichstests auch die besten Leistungen ihrer Altersgruppe!
Eines lässt sich mit Gewissheit sagen: Bewegung ist in
jedem Alter der wichtigste Faktor, um das Gehirn fit und
leistungsfähig zu halten. Der bekannte Psychiater zeigt
hier, wie und warum Bewegung die Entwicklung von Intelligenz fördert und gleichzeitig dabei hilft, Krankheiten
zu vermeiden. Bewegung reduziert Ängste und Stress,
fördert Konzentration und Gedächtnis und bewirkt auch
bei Alzheimer, AD(H)S und Depressionen wahre Wunder.
Ein Kapitel beleuchtet außerdem den weiblichen Hormonstoffwechsel und zeigt den besonderen Einfluss von
Sport auf die Gesundheit von Frauen.
Extra: Mit leicht umsetzbaren und praktischen Infos über
geeignete Sportarten, Trainingsdauer und Intensität.
www.vakverlag.de
ISBN 978-3-86731-129-8
12,95 € (D) / 13,40 € (A)
SUPERFAKTOR BEWEGUNG
Und jeder weiß: Wenn wir uns bewegen, fühlen wir uns
viel besser. Aber warum ist das so und warum fällt es uns
so schwer, regelmäßig Sport zu treiben? Dr. Rateys provokante Antwort lautet: Muskelaufbau und Kondition sind
eigentlich nur „Nebenwirkungen“ von Sport. Viel erstaunlicher ist, dass ein Mangel an Bewegung unserem Gehirn
sogar schadet, denn es schrumpft dadurch!
DR. JOHN J. RATEY ERIC HAGERMAN
DR. JOHN J. RATEY ERIC HAGERMAN
Wir brauchen Bewegung wie die Luft zum Atmen, unser
Körper ist biologisch darauf programmiert: Unsere Vorfahren mussten gut zu Fuß zu sein, um sich vor Feinden
in Sicherheit zu bringen und bei der Jagd erfolgreich zu
sein. Heute – mit dem Supermarkt um die Ecke und dem
Auto in der Garage – brauchen wir Bewegung zwar nicht
mehr zum Überleben, aber doch in besonderem Maße,
um gesund und leistungsfähig zu bleiben. Gelingt es uns
nicht, mit unserem evolutionären Erbe in Einklang zu
leben, werden wir krank.
SUPERFAKTOR
BEWEGUNG
DAS BESTE FÜR IHR GEHIRN!
John J. Ratey
Eric Hagerman
Superfaktor Bewegung
Dr. John J. Ratey
Eric Hagerman
Superfaktor
Bewegung
Das Beste für Ihr Gehirn!
VAK Verlags GmbH
Kirchzarten bei Freiburg
Titel der englischen Originalausgabe:
SPARK, The Revolutionary New Science of Exercise and The Brain
SPARK © 2008 by John J. Ratey, MD
Erschienen bei: Little, Brown and Company, Hachette Book Group USA,
New York
ISBN 978-0-316-11350-2
Published in Agreement with the author, c/o BAROR INTERNATIONAL,
INC., Armonk, New York, U.S.A.
Vorbemerkung des Verlags
Dieses Buch dient der Information über Methoden der
Gesundheitsvorsorge und Selbst­hilfe. Wer sie anwendet, tut dies in eigener
Verantwortung. Autor und Verlag beab­sichtigen nicht, Diagnosen zu stellen
oder Therapieempfehlungen zu geben. Die hier beschriebenen Verfahren
sind nicht als Ersatz für professionelle medizinische Be­hand­lung bei
gesundheitlichen Beschwerden zu verstehen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im
Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
VAK Verlags GmbH
Eschbachstraße 5
79199 Kirchzarten
Deutschland
www.vakverlag.de
1. Auflage 2013
Bisher erschienen als Paperback unter der ISBN 978-3-86731-043-7
© VAK Verlags GmbH, Kirchzarten bei Freiburg 2009
Umschlaggestaltung: Kathrin Steigerwald, Hamburg
Übersetzung: Anni Pott, Aachen
Lektorat: Nadine Britsch, VAK
Layout: Karl-Heinz Mundinger, VAK
Satz: Sebastian Carl, 83123 Amerang
Druck und Bindung: C. H. Beck, Nördlingen
Printed in Germany
ISBN: 978-3-86731-129-8
Für Kenneth Cooper, Carl Cotman und Phil Lawler,
drei Revolutionäre, ohne die dieses Buch
nicht hätte geschrieben werden können.
„Für diese beiden also … für das Muthafte und für die Weisheitsliebe,
hat offenbar ein Gott den Menschen zwei Künste verliehen, die
Musen­kunst und die Gymnastik. Nicht für Seele und Leib, oder
dann das nur nebenbei, sondern für jene beiden, damit sie, durch
Anspannen und Lockerlassen bis zum richtigen Maße aufeinander
abgestimmt werden.“
Platon, Der Staat
Inhaltsverzeichnis
inleitung:
E
Die Verbindung herstellen....................................................................9
1. Willkommen zur Revolution:
Eine Fallstudie über körperliche Bewegung und das Gehirn....... 17
2. Lernen:
Das Wachstum Ihrer Gehirnzellen fördern.................................49
3. Stress:
Die größte Herausforderung......................................................... 75
4. A ngst:
Kein Grund in Panik zu geraten................................................ 109
5. Depressionen:
Bewegung verändert Ihre Stimmung......................................... 141
6. Aufmerksamkeitsdefizit:
Der Ablenkung davonlaufen...................................................... 175
7. Abhängigkeit:
Die Biologie der Selbstkontrolle mobilisieren............................205
8. Hormonelle Veränderungen:
Der Einfluss auf die Gesundheit des weiblichen Gehirns.......... 233
9. A ltern:
Der weise Weg............................................................................ 263
10. Das Übungsprogramm:
Bauen Sie Ihr Gehirn auf........................................................... 297
Nachwort:
Das Feuer entfachen......................................................................... 325
Danksagungen................................................................................. 327
Glossar.............................................................................................. 331
Stichwortverzeichnis....................................................................... 339
Über den Autor................................................................................349
Einleitung

Die Verbindung herstellen
W
ir wissen alle, dass körperliche Bewegung dafür sorgt, dass wir
uns besser fühlen. Die meisten von uns haben jedoch keine
Ahnung, warum dies so ist. Wir nehmen an, dass es so ist, weil wir
damit Stress abbauen oder die Muskelspannung reduzieren oder die
Aus­schüttung von Endorphinen fördern. Mit dieser Erklärung geben wir uns dann zufrieden und versuchen gar nicht erst, der Sache
weiter auf den Grund zu gehen. Aber der eigentliche Grund, warum wir uns so gut fühlen, wenn wir unser Herz-Kreislauf-System in
Schwung bringen, ist, dass das Gehirn dann am besten funktioniert.
Dieser nutzbringen­de Effekt körperlicher Bewegung ist aus meiner
Sicht weitaus wichtiger – und faszinierender – als all das, was sie für
den Körper tut. Dass dabei Muskeln aufgebaut und etwas für die
Konditionierung des Herzens und der Lungen getan wird, sind im
Grunde Nebenwirkungen. Meinen Patienten erkläre ich oft, der eigentliche Punkt bei körperlicher Be­we­gung sei, dass wir damit etwas
für den Aufbau und die Kondition des Gehirns tun.
In der heutigen technologiegetriebenen, von Plasmabildschirmen
beherrschten Welt wird leicht vergessen, dass wir dazu geboren sind,
uns zu bewegen – Lebewesen, im wahrsten Sinne des Wortes –, da
wir bei allem technischem Fortschritt die Bewegung regelrecht aus
unse­­rem Leben verbannt haben. Ironischerweise ist die menschliche
9
Einleitung
Fähig­keit, ebendiese Welt zu träumen, zu planen und zu schaffen, die
uns von der biologisch bedingten Notwendigkeit, uns zu bewegen,
abschirmt, in jenen Hirnregionen verwurzelt, welche die Bewegung
steuern. So wie wir uns seit über einer halben Million Jahren einer
sich ständig verändernden Umwelt angepasst haben, hat unser denkendes Gehirn sich im Zuge der Evolution aus der Notwendigkeit heraus weiterentwickelt, motorische Fertigkeiten zu verbessern. Unsere
Vorfahren, die Jäger und Sammler waren, stellen wir uns als wenig
feinsinnig, sondern vornehmlich als Personen vor, die sich vor allem
von ihren physischen Fähigkei­ten leiten ließen. Damit sie überleben
konnten, waren sie auf lange Sicht jedoch auch auf ihre Intelligenz
angewiesen, um Nahrung zu finden und zu horten. Die Beziehung
zwischen Nahrung, körperlicher Bewegung und Lernen ist in den
Schaltkreisen im Gehirn fest verdrahtet.
Wir jagen und sammeln jedoch nicht mehr. Und das ist das Pro­
blem. Die bewegungsarme Lebensweise unseres modernen Lebens
bricht mit unserer Natur und stellt eine der größten Gefahren für
unser langfristiges Überleben dar. Belege dafür sind überall zu finden: 65 Pro­­zent der US-amerikanischen erwachsenen Bevölkerung
sind über­ge­w ich­tig oder fettleibig, und 10 Prozent haben Typ-2Diabetes, eine ver­meid­bare und zerstörerische Krankheit, die auf
Bewegungsarmut und falsche Ernährung zurückzuführen ist.
Während von dieser Krankheit einst fast ausschließlich Erwachsene
mittleren Alters betroffen waren, nimmt sie inzwischen bereits epidemische Ausmaße bei Kindern an. Wir bringen uns im wahrsten
Sinne des Wortes selbst um. Und dies ist ein Problem in der ganzen
entwickelten Welt – und nicht nur ein Merkmal des überdimen­
sionierten Lebensstils in den Vereinigten Staaten. Noch beunruhigender ist, und dies ist ein Punkt, der buchstäblich von niemandem
erkannt wird, dass diese Bewegungsarmut auch unser Gehirn umbringt – da sie das Gehirn physisch schrumpfen lässt.
Unsere Kultur behandelt Geist und Körper wie zwei Dinge, die getrennt voneinander existieren. Und ich möchte beide wieder miteinan­
der verbinden. Diese „Body-Mind-Verbindung“ faszi­niert mich seit
Jah­ren. Meine allererste Vorlesung, die ich 1984 vor Medi­­zi­ner­­kollegen
an der Universität von Harvard hielt, hatte den Titel: „Der Körper und
die Psychiatrie“. Sie konzentrierte sich auf eine neue me­di­ka­men­töse
10
Die Verbindung herstellen
Behandlung gegen Aggression, die sowohl Einfluss auf den Körper
als auch auf das Gehirn nahm, auf die ich als Assistenzarzt bei meiner Arbeit an staatlichen Kliniken in Massachusetts gestoßen war.
Die Erfahrungen, die ich bei meiner Arbeit mit den komplizier­testen
Patienten in der Psychiatrie machte, veranlassten mich, der Frage
nachzugehen, inwieweit eine Behandlung des Körpers auch den Geist
transformieren kann. Es war ein spannender Weg, und auch wenn er
noch nicht zu Ende ist, so ist es doch an der Zeit, die Botschaft meiner
Erkenntnisse, die ich bisher gewonnen habe, öffentlich zu machen.
Alleine das, was Neurowissenschaftlicher in den letzten fünf Jahren
entdeckt haben, ergibt bereits ein fesselndes Bild von der biologischen
Beziehung zwischen Körper, Gehirn und Geist.
Um unser Gehirn auf einem Spitzenleistungsniveau zu halten,
muss unser Körper hart arbeiten. In diesem Buch werde ich aufzeigen,
wieso und warum körperliche Bewegung entscheidend dafür ist, wie
wir denken und wie wir uns fühlen. Ich erkläre die Wissenschaft, wie
kör­per­liche Bewegung die Bausteine des Lernens im Gehirn anregt,
wie sie unsere Stimmung, Ängste und Konzentrationsfähigkeit beein­
flusst, wie sie uns vor Stress schützt und einige Folgen des Alterns im
Gehirn umzukehren vermag, und wie sie bei Frauen helfen kann, die
mitunter turbulenten Auswirkungen hormoneller Veränderungen zu
kontrollieren. Ich spreche nicht von dem verschwommenen Begriff
des „Runner’s High“ (ein euphorischer Gemütszustand, der z.B. bei
Lang­stre­cken­läu­fern auftritt). Ich spreche überhaupt nicht von einem Begriff oder einer Vorstellung. Ich spreche nur von greifbaren
physi­schen Ver­än­de­run­gen, die bei Laborratten messbar und beim
Menschen klar zu erkennen sind.
Es ist bereits bekannt, dass körperliche Bewegung oder Sport den
Serotonin-, Noradrenalin- und Dopaminspiegel erhöht – wichtige
Neurotransmitter, die bei unseren Gedanken und Emotionen eine
Rolle spielen. Von Serotonin haben Sie wahrscheinlich schon gehört
und wissen vielleicht auch, dass ein Mangel an Serotonin mit De­
pres­sio­nen assoziiert wird. Aber mehr wissen auch viele Psychiater
nicht darüber, denen ich begegne. Sie wissen nicht, dass toxische
Stresspegel die Verbindungen zwischen Milliarden von Nervenzellen
im Gehirn erodieren, oder dass bestimmte Hirnregionen durch eine
chronische De­pres­sion schrumpfen.
11
Einleitung
Und sie wissen umgekehrt nicht, dass durch körperliche Bewe­gung
oder sportliche Betätigung eine Kaskade von Neurochemi­ka­lien
und Wachstumsfaktoren freigesetzt werden, die diesen Prozess um­
kehren und die Infrastruktur des Gehirns physisch stärken können. Das Gehirn reagiert im Grunde genau wie Muskeln: Sie wachsen durch Be­anspruchung und schwinden durch Bewegungsarmut.
Die Neuro­nen im Gehirn sind durch „Blätter“ an baumähnlichen
Verästelungen miteinander verbunden, und körperliche Bewegung
sorgt dafür, dass diese Verästelungen wachsen und gedeihen und
neue Knospen treiben. Dadurch wird die Gehirnfunktion grundlegend verbessert.
Neurowissenschaftler haben gerade erst begonnen, die nachhaltigen Auswirkungen körperlicher Bewegung in den Gehirnzellen
zu untersuchen – auf der Ebene der Gene selbst. Selbst dort, an der
Wurzel unserer Biologie, haben sie Anzeichen für den Einfluss des
Körpers auf den Geist gefunden.
Wenn wir unsere Muskeln bewegen, werden Proteine produziert,
die in die Blutbahn und ins Gehirn gelangen, wo sie eine zentrale
Rol­le in den Mechanismen unserer höchsten Denkprozesse spielen.
Sie haben Namen wie „insulinähnlicher Wachstumsfaktor“ (IGF-1)
und „vas­ku­lä­rer endothelialer Wachstumsfaktor“ (VEGF) und gewähren einen bei­spiellosen Einblick in die Verbindung zwischen
Körper und Geist.
Erst in den letzten Jahren haben Neurowissenschaftler angefangen, diese Faktoren zu beschreiben und zu erklären, wie sie funk­
tionieren. Jede neue Entdeckung vertieft das Bild auf beeindruckende
Weise. Es gibt noch vieles, was wir nicht verstehen von dem, was in
der Mikroumwelt des Gehirns geschieht. Aber ich denke, dass das,
was wir wissen, das Leben von Menschen verändern kann. Und vielleicht sogar die Gesellschaft insgesamt.
Warum sollte es Sie interessieren, wie Ihr Gehirn funktioniert?
Nun, weil alles davon abhängt. Denn jetzt, in diesem Augenblick,
werden in der vorderen Region Ihres Gehirn Signale dazu abgefeuert,
was Sie hier gerade lesen. Und wie viel davon bei Ihnen hängen bleibt,
hat sehr viel damit zu tun, ob es ein ausgewogenes Gleichgewicht
zwischen den Neurochemikalien und den Wachstumsfaktoren gibt,
um die Neu­ronen miteinander zu verbinden. Körperliche Bewegung
12
Die Verbindung herstellen
hat nachweislich einen ungeheuren Einfluss auf diese lebenswichtigen Kom­po­nenten. Sie bereitet die Bühne, und wenn Sie sich hinsetzen, um etwas Neues zu lernen, werden die entsprechenden Ver­bin­
dungen durch diese Sti­mula­tion gestärkt. Mit zunehmender Praxis
entwickelt sich der Schaltkreis immer präziser heraus, etwa so, als
würde durch den Wald ein Pfad festgetreten.
Wie wichtig es ist, diese Verbindungen herzustellen, zeigt sich
bei allen Problemen, die ich in diesem Buch behandeln werde. Um
beispielsweise Ängstlichkeit zu bewältigen, müssen Sie bestimmte,
gut ausgetretene Pfade zuwachsen lassen und gleichzeitig alternative
Wege bahnen. Wenn Sie diese Interaktionen zwischen Körper und
Gehirn verstehen, können Sie den Prozess steuern, mit Problemen
besser umgehen und dafür sorgen, dass Ihr Geist und Ihre Psyche
problemlos über die Runden kommen. Wenn Sie heute Morgen eine
halbe Stunde Sport gemacht haben, sind Ihr Gehirn und Gemüt
in der richtigen Verfassung, um still zu sitzen und sich auf diesen
Abschnitt konzen­trieren zu können, und Ihr Gehirn ist weitaus besser gerüstet, um den Inhalt aufzunehmen und zu behalten.
Alles, was ich in den letzten 15 Jahren geschrieben habe, zielte darauf ab, Menschen über ihr Gehirn aufzuklären. Ihr Leben verändert
sich, wenn Sie über aktives Wissen über Ihr Gehirn verfügen. Wenn
Sie erkennen, dass bestimmte emotionale Dinge eine biologische
Grundlage haben, erübrigt sich die Schuldfrage ganz von selbst. Und
wenn Sie sehen, wie Sie diese Biologie beeinflussen können, werden
Sie sich nicht hilflos fühlen.
Dies ist ein Punkt, auf den ich mit meinen Patienten immer wieder zurückkomme. Denn viele neigen dazu, sich das Gehirn als einen
Kommandeur vorzustellen, der aus einem Elfenbeinturm heraus,
unangreifbar von außen, mysteriöse Befehle erteilt. Dem ist jedoch
überhaupt nicht so. Körperliche Bewegung reißt diese vermeintliche
Barriere nieder. Meine Hoffnung ist, wenn Sie erst verstehen, wie
körperliche Bewegung die Gehirnfunktion verbessert, dass Sie dann
motiviert sind, sie in einem positiven Sinne aktiv in Ihr Leben zu
integrieren, statt sie als etwas zu sehen, das Sie tun sollten.
Natürlich sollten Sie sich körperlich bewegen oder Sport treiben, aber ich möchte hier nicht predigen. (Es würde wahrscheinlich nichts nützen: Experimente mit Laborratten legen den Schluss
13
Einleitung
nahe, dass erzwungene körperliche Bewegung nicht annähernd das
erreicht, was sie auf freiwilliger Basis erreicht.) Wenn Sie an den
Punkt kommen, an dem Sie sich immer wieder sagen, dass körperliche Bewegung oder Sport etwas ist, was Sie tun möchten, dann
schlagen Sie einen Kurs in eine andere Zukunft ein – eine Zukunft,
in der viel weniger das Über­le­ben eine Rolle spielt, sondern die einfache Tatsache, dass es Ihnen richtig gut geht.
Im Oktober 2000 schafften es Forscher der Duke University mit
einer Studie in die New York Times, die belegte, dass körperliche Be­
we­gung bei der Behandlung von Depressionen besser ist als Sertralin
(Zoloft). Was für eine Nachricht! Leider wurde sie auf Seite 14 im Ge­
sund­heits- und Fitnessteil versteckt. Würde körperliche Bewegung in
Pillen­form angeboten, wäre ihr die dicke Schlagzeile auf der Titelseite
sicher, um als das Wundermittel des Jahrhunderts schlechthin gepriesen zu werden.
Andere Fragmente der Geschichte, die ich hier vorstellen möchte,
steigen wie Luftblasen kurz an die Oberfläche, nur um dann wieder in der Versenkung zu verschwinden. So wurde etwa in den ABC
World News berichtet, dass körperliche Bewegung bei Ratten möglicherweise die Alzheimer-Krankheit abwehren kann; CNN veröffentlicht immer wieder Statistiken über die stetig zunehmende
Fettleibigkeit; die New York Times untersucht die gängige Praxis,
Kinder, die an bipolarer Störung leiden, mit teuren Medikamenten
zu behandeln, die nur marginal wirksam, zugleich aber mit verheerenden Nebenwirkungen verbunden sind. Was dabei verloren geht,
ist, dass diese scheinbar nicht zusammenhängenden Themenfäden
auf einer grundlegenden Ebene der Biologie miteinander verbunden sind. Ich werde erklären, wie sie miteinander zusammenhängen, indem ich die Ergebnisse umfangreicher neuer Forschungen
darlege, die noch nirgends für die breite Öffentlichkeit publiziert
worden sind.
Mein Ziel ist, in einfachen Worten, die Ergebnisse einer inspirierenden Wissenschaft zu erklären, die körperliche Bewegung
und das Gehirn miteinander verbindet, und aufzuzeigen, wie diese
Verbindung im realen Leben der Menschen zum Tragen kommt.
Ich möchte die Idee untermauern, dass körperliche Bewegung einen
tief greifenden Einfluss auf kognitive Fähigkeiten und die mentale
14
Die Verbindung herstellen
Gesundheit hat. Sie ist einfach eine der besten Behandlungen, die
wir für die meisten psychiatrischen Probleme haben.
Ich habe dies sowohl bei meinen Patienten als auch bei meinen
Freun­den erlebt, von denen mir einige die Erlaubnis gaben, ihre Ge­
schich­ten hier zu erzählen. Aber auf die mustergültige Fallstudie
schlecht­hin bin ich weit außerhalb der Wände meiner Praxis, in einem Schul­bezirk eines Vorortes von Chicago gestoßen. In dieser Ge­
schichte von einem revolutionären Programm im Rahmen des Sport­
un­ter­richts ver­schmelzen die Implikationen der spannendsten neuesten For­schun­gen. In Naperville, Illinois, hat der Sportunterricht rund
19.000 Schüler und Studenten in die vielleicht Fittesten der Nation
verwan­delt. Von allen Studenten eines Semesters im zweiten Studien­
jahr waren nur drei Prozent übergewichtig, während es im nationalen Durchschnitt in den USA 30 Prozent waren. Noch überraschen­
der und erstaunlicher ist, dass das Programm diese Schüler und
Studenten auch zu den Klügsten der Nation gemacht hat. 1999 beteiligten sich Schüler der achten Klasse aus Naperville an einer internationalen Schulleistungsuntersuchung, dem sogenannten TIMSSTest (Trends in International Mathematics and Science Study), an
dem rund 230.000 Schüler aus der ganzen Welt teilnahmen, und im
Rahmen dessen das Wissen in Mathematik und Naturwissenschaft
bewertet wurde. In den letzten Jahren haben die Schüler aus China,
Japan und Singapur die US-amerikanischen Kinder in diesen wichtigen Fächern weit hinter sich gelassen; eine auffällige Ausnahme
sind jedoch die Schüler aus Naperville: Als sie am TIMSS teilnahmen, belegten sie den sechsten Platz in Mathematik und waren die
Weltbesten in Naturwissenschaften. Während Politiker und Experten
Alarm schlagen und den mangelhaften Bildungsstand in den
Vereinigten Staaten und die Tatsache beklagen, dass unsere Schüler
schlecht gerüstet seien, um in der heutigen technologieorientierten
Wirt­schaft erfolgreich zu sein, fällt Naperville als außergewöhnlich
gutes Beispiel aus dem Rahmen.
Ich habe seit Jahrzehnten nichts gesehen, was so ermutigend und
inspirierend war, wie das Programm in Naperville. In einer Zeit, in
der wir mit traurigen Nachrichten über übergewichtige, unmotivierte
Jugendliche, die den Leistungsanforderungen nicht gerecht werden,
bombardiert werden, ist dies ein Beispiel wirklicher Hoffnung.
15
Einleitung
Im ersten Kapitel nehme ich Sie mit nach Naperville. Dort sprang
der Funke über, der mich inspiriert hat, dieses Buch zu schreiben.
16
1. Willkommen zur Revolution

Eine Fallstudie über
körperliche Bewegung
und das Gehirn
A
uf einer kleinen Landzunge westlich von Chicago steht ein
Back­stein­ge­bäude, die Naperville Central Highschool, in deren Keller sich ein niedriger, fensterloser Raum voller Laufbänder
und Home­trainer be­fin­det. Die alte Cafeteria, die angesichts der Zahl
der Schüler von der Größe her längst nicht mehr ausreichte, dient
jetzt als Fit­ness­raum der Schu­le. Es ist 7:10 Uhr am Morgen, und für
die kleine Gruppe von An­fän­gern an der Highschool, die halb verschlafen auf den Sport­geräten herum­sit­zen, ist es nun Zeit für ein
bisschen Training im Fitness­raum.
Ein durchtrainierter junger Sportlehrer namens Neil Duncan erklärt die Aufgabe für diesen Morgen: „Okay, sobald Ihr euch aufgewärmt habt, gehen wir raus auf die Aschenbahn und laufen die Meile“,
sagt er und hält einen schwarzen Rucksack voller Brustbänder und
Digitaluhren hoch – zur Überwachung der Herzfrequenz; es sind die
glei­chen Pulsuhren, wie sie von Athleten genutzt werden, um ihre physische Belastung oder Kraftanstrengung zu messen. „Jedes Mal, wenn
ihr eine neue Runde beginnt, drückt ihr auf den roten Knopf. Was das
soll? So erhaltet ihr eine Zwischenzeit. Die sagt euch, wie schnell ihr
in der ersten Runde, der zweiten Runde, der dritten Runde gewesen
seid. Nach der vierten und letzten Runde, die genauso schnell sein
17
Kapitel 1: Willkommen zur Revolution
wird, wenn ihr es richtig macht“, sagt er und hält einen Augenblick
inne, wäh­rend er sich die schläfrige Truppe anschaut, „drückt ihr den
blauen Knopf, okay? Dann wird eure Uhr gestoppt. Versucht eure
schnellste Meile zu laufen, das ist euer Ziel. Und vergesst nicht, eure
Herzfrequenz sollte im Durchschnitt höher als 185 liegen.“
Nachdem sie sich hinter Neil Duncan aufgestellt haben, stapfen
die Neulinge die Treppe hoch, schieben sich durch eine Reihe schwerer Metalltüren und laufen an diesem frischen Oktobermorgen unter einem durchwachsenen Himmel in einzelnen Gruppen auf die
Aschen­bahn. Perfekte Bedingungen für eine Revolution.
Wir haben es hier nicht etwa mit einer Klasse beim guten alten
Sportunterricht zu tun, sondern mit „Sport in der Stunde Null“,
der sogenannten „Zero Hour PE“ (PE steht für Practical Exercise,
also körperliche Betätigung). Dabei handelt es sich um das letzte Experiment in einer langen Reihe von Versuchen, die von einer Gruppe eigenwilliger Sportlehrer durchgeführt wurden, wodurch aus den 19.000 Schülern im Schulbezirk 203 in Naperville
die Fittesten – und zum Teil auch die Klügsten – der Nation wurden. (Die Bezeichnung des Unterrichts „Zero Hour PE“ bezieht sich
auf die Zeit im Stundenplan, es ist die Stunde Null vor der ersten
regulären Unterrichtsstunde.) Das Ziel der „Stunde Null“ ist, festzustellen, ob Sport vor dem regulären Schulunterricht dabei hilft,
die Lese- und Aufnahmefähigkeit der Kinder sowie ihre sonstigen
Leistungen in allen anderen Fächern zu verbessern.
Die Vorstellung, dass dies so sein könnte, wird durch neuere
For­schungen unterstützt, die zeigen, dass körperliche Bewegung
biologische Veränderungen auslöst, welche die Gehirnzellen dazu
anregen, sich miteinander zu verbinden. Um etwas lernen zu können, müssen diese Verbindungen im Gehirn hergestellt werden; sie
spiegeln die grund­legende Fähigkeit des Gehirns wider, sich auf
Herausforderungen einzustellen und sich entsprechend anzupassen. Je mehr Erkenntnisse Neuro­w issenschaftler über diesen Prozess
gewinnen, desto klarer wird, dass körperliche Bewegung oder Sport
ein unvergleichbarer Stimulus sind, um im Gehirn eine Umwelt zu
schaffen, in der es bereit, willens und in der Lage ist, zu lernen.
Aerobe Übungen haben starken Einfluss auf das An­pas­sungs­­­
ver­­mö­gen des Gehirns; sie regulieren Systeme, die möglicher­­wei­se
18
Eine Fallstudie über körperliche Bewegung und das Gehirn
aus dem Gleich­gewicht geraten sind, und optimieren jene, die zwar
nicht aus dem Gleichgewicht geraten, aber eben auch nicht opti­mal
eingestellt sind. Aerobe Übungen sind ein unverzichtbares Instru­
ment für jeden, der sein volles Potenzial erreichen möchte.
Draußen auf der Aschenbahn beaufsichtigt Neil Duncan derweil
seine Schüler, wie sie ihre Runden drehen.
„Meine Uhr zeigt nichts an“, sagt einer der Jungen, während er
vor­bei­läuft.
„Roter Knopf“, ruft Duncan ihm hinterher. „Drück den roten
Knopf! Und zum Schluss den blauen Knopf.“
Zwei Mädchen namens Michelle und Krissy kommen vorbei,
Seite an Seite, in gemächlichem Tempo.
Ein Kind mit ungeschnürten Skateboardschuhen beendet seine
Run­den und kommt zu Duncan, um seine Uhr abzugeben. Seine Zeit
wird mit acht Minuten, dreißig Sekunden angegeben.
Als Nächster kommt ein kräftiger Junge mit sackartigen Shorts.
„Lass mal schauen, Dough“, sagt Duncan. „Was bringst du?“
„Neun Minuten.“
„Glatt?“
„Ja.“
„Gut gemacht.“
Als Michelle und Krissy schließlich heranschlendern, fragt Dun­
can nach ihren Zeiten, aber Michelles Uhr läuft immer noch. Offen­
sichtlich hat sie den blauen Knopf nicht gedrückt. Krissy aber wohl,
und ihre Zeiten sind gleich. Sie hält Duncan ihr Hand­ge­lenk hin.
„Zehn zwölf“, sagt er und notiert die Zeit auf seinem Klemm­brett.
Was er nicht sagt, ist: „Es sah so aus, als würdet ihr beide da draußen nur herumbummeln!“
Tatsache ist, das haben sie nicht gemacht. Als Duncan Michelles
Pulsuhr abruft, stellt er fest, dass sie während ihrer zehnminütigen
Meile eine durchschnittliche Herzfrequenz von 191 hatte, was selbst
bei einem trainierten Athleten ein Indiz für ein ordentliches Trai­
nings­pensum ist. Sie bekommt ein A für den Tag (entspricht in etwa
der Note „Sehr gut“).
Die Kids der „Stunde Null“, die sich freiwillig für dieses Pro­
gramm aus einer Gruppe von Schulanfängern gemeldet haben und
außerdem zusätzlichen Lese- und Schreibunterricht erhalten, um
19
Kapitel 1: Willkommen zur Revolution
mit den anderen mithalten zu können, trainieren intensiver als die
übrigen Schüler, die nur am normalen Sportunterricht der Central
Highschool teilnehmen. Die Aufgabe bei ihrem Zusatz­training besteht darin, in puncto Kraft­an­strengung bei dem Training möglichst die ganze Zeit zwischen 80 und 90 Prozent ihrer maximalen
Herzfrequenz zu bleiben. „Was wir in Wirklichkeit versuchen, ist,
durch anstrengende sportliche Ak­ti­v i­täten bei den Kindern die besten Voraussetzungen zum Lernen zu schaffen“, sagt Duncan. „Im
Grunde versetzen wir sie in einen Zustand er­höhten Bewusstseins
und schicken sie dann in den Unterricht.“
Wie finden sie es, Mr. Duncans Versuchskaninchen zu sein? „Ich
denke, es ist okay“, sagt Michelle. „Abgesehen vom frühen Aufstehen
und davon, dass ich hinterher ganz verschwitzt bin und alles klebt,
bin ich den ganzen Tag über wacher. Im Unterschied dazu war ich
im letzten Jahr einfach die ganze Zeit immer nur griesgrämig.“
Abgesehen von der Verbesserung ihrer Stimmung wird sich bald
zeigen, dass Michelle sich auch im Lesen sehr verbessert. Und das
Gleiche ist ebenso bei ihren Klassenkameraden der „Stunde Null“
zu beobachten: Am Ende des Schulhalbjahres zeigen sie in den
Bereichen Lesen und Auffassungsvermögen eine Verbesserung von
17 Prozent, im Vergleich zu einer Verbesserung von nur 10,7 bei den
anderen Schülern, die es vorzogen, länger zu schlafen und sich mit
dem normalen Sportunterricht zu begnügen.
Die Schulverwaltung ist so beeindruckt, dass sie die „Stunde
Null“ in den Lehrplan der Highschool zur Förderung der Lern­be­reit­
schaft im Rahmen des Lese- und Schreibunterrichts als sogenann­ten
Sport­un­terricht in der ersten Stunde aufnimmt. Und das Ex­pe­­ri­­
ment wird fortgeführt. Die Schüler des regulären Lese- und Schreib­­
unter­richts werden in zwei Klassen aufgeteilt: eine Klasse, in der
dieser Un­terricht in der zweiten Stunde erfolgt, wenn die Wirkung
des Sports noch richtig spürbar ist; und eine Klasse, in der dieser
Unterricht in der achten Stunde erfolgt. Wie erwartet, schneidet die
Klasse, in der der Unter­richt in der zweiten Stunde stattfindet, am
besten ab.
Die Ambitionen der Verfechter dieses Programms gehen jedoch
über die Anfängerklassen hinaus, deren Leseleistungen verbesse­rungs­
be­dürftig sind. Von Beratern kommt der Vorschlag, dass bei allen
20
Eine Fallstudie über körperliche Bewegung und das Gehirn
Schü­lern die Fächer, die ihnen am schwersten fallen, unmittel­bar
nach der Sportstunde stattfinden sollten, um einen möglichst großen
Nutzen aus den vorteilhaften Effekten des Sports zu ziehen.
Es ist ein wahrlich revolutionäres Konzept, von dem wir alle lernen können.
Erstklassige Leistungen
Die „Stunde Null“ ist aus dem einzigartigen Ansatz im Sport­­
unterricht von Naperville entstanden, der landesweit Auf­merk­sam­
keit erregt hat und zum Vorzeigemodell für eine Art von Sport­unter­
richt wurde, den ein Erwachsener als solchen vermutlich nicht erkennen würde. Hier wird niemand abgeschossen wie beim Völkerball,
hier fällt niemand durch, weil er nicht geduscht hat, hier gibt es keine
Angst, als letztes Kind in eine Mannschaft ge­wählt zu werden.
Den Sportunterricht in Naperville zeichnet aus, dass hier Fitness
statt Sport gelehrt wird. Dahinter steht die Philosophie, dass sie
ein Leben lang davon profitieren werden, wenn es nur gelingt, den
Kindern über den Sportunterricht beizubringen, wie sie gesund und
fit werden und auch bleiben. Und überdies werden sie wahrscheinlich auch noch ein längeres und glücklicheres Leben haben. Was den
Kindern beigebracht wird, ist also in Wirklichkeit ein Lebensstil. Die
Schüler entwickeln nicht nur gesunde Gewohnheiten, Fertigkeiten
und ein Gefühl von Spaß, sondern lernen auch, wie ihr Körper funktioniert. Die Sportlehrer von Naperville eröffnen ihren Schülern neue
Perspektiven, indem sie ihnen eine breite Palette von Aktivitäten bieten, bei denen sie gar nicht anders können, als festzustellen, dass sie
ihnen Spaß machen. Sie schaffen es, dass die Kinder regelrecht süchtig
danach werden, sich zu bewegen, statt vor dem Fernseher zu sitzen.
Wie wichtig dies ist, zeigen allein die Statistiken, aus denen hervorgeht, dass Kinder, die Sport treiben und sich körperlich bewegen, dies
wahrscheinlich als Erwachsene ebenso tun.
Was mich anfänglich fasziniert hat, ist jedoch der Einfluss, den
der fitnessorientierte Ansatz auf die Kinder hat, während sie noch
in der Schule sind. Den neuen Sportunterrichtslehrplan gibt es jetzt
21
Kapitel 1: Willkommen zur Revolution
seit 17 Jahren, und seine Effekte haben sich zum Teil an unerwarteten Stellen gezeigt, nämlich im Klassenzimmer.
Es ist kein Zufall, dass, schulisch betrachtet, der Bezirk durch­
weg unter den zehn Besten des Bundesstaates rangiert, obwohl der
Be­trag, der finanziell für jeden Schüler ausgegeben wird – was aus
Sicht der Erzieher in der Regel ein klarer Indikator für Erfolg ist –,
merk­lich niedriger ist als bei anderen öffentlichen Schulen aus der
Top-­Ten-Liste in Illinois. Zum Schulbezirk 203 in Naperville gehören
14 Grund­schulen, fünf Junior Highschools und zwei Highschools.
Zum Vergleich soll die Naperville Central Highschool herhalten, wo
die „Stunde Null“ als Erstes eingeführt wurde. Dort lagen 2005 die
lau­fen­den Ausgaben pro Schüler bei 8.939 US-Dollar im Vergleich
zu 15.403 US-Dollar an der New Trier Highschool in Evanston. Die
Schüler der New Trier Highschool schnitten im Durchschnitt bei
ihrer Aufnahmeprüfung am College zwar zwei Punkte besser ab
(26,8), bei staatlichen Pflichttests, die von jedem Schüler absolviert
werden müssen und nicht nur von jenen, die sich fürs College bewerben, jedoch insgesamt schlechter als die Schüler der Central
Highschool. Die Gesamtpunktzahl der Abschlussklasse der Central
Highschool lag 2005 mit 24,8 deutlich über dem für den ganzen
Bundesstaat ermittelten Durchschnitt von 20,1.
Diese Prüfungen sind jedoch nicht annähernd so aussagekräftig wie die Schulleistungsuntersuchung TIMSS, ein Test, bei dem
der Wis­sens­stand von Schülern aus verschiedenen Ländern in zwei
Schlüs­sel­fä­cher­bereichen verglichen wird. Es ist die Prüfung, die der
Kom­men­ta­tor der New York Times, Thomas Friedman, Autor von
Die Welt ist flach, zitierte, als er beklagte, dass Schüler an Orten wie
Singa­pur „uns die Butter vom Brot nehmen“. Die Bildungslücke zwischen den Vereinigten Staaten und Asien werde größer, erklärte er.
Während in manchen asia­tischen Ländern fast die Hälfte der Schüler
so abschnitten, dass sie auf den oberen Plätzen rangierten, schafften
dies nur sieben Prozent der US-amerikanischen Schüler.
Seit 1995 wird die TIMSS-Studie alle vier Jahre durchgeführt.
1999 wurden 230.000 Schüler aus 38 Ländern in die Studie einbezogen, wovon 59.000 aus den Vereinigten Staaten kamen. (Deutschland,
Öster­­reich und die Schweiz haben sich nur 1995 an der Studie beteiligt.) Während die New Trier Highschool und 18 weitere Schulen
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Eine Fallstudie über körperliche Bewegung und das Gehirn
sich zu­sammen mit der reichen North Shore School in Chicago bei
der TIMSS-Studie zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammenschlossen (wo­durch die Leistungen der einzelnen Schulen nicht mehr zu
unterschei­den waren), trat die Central Highschool aus Naperville
alleine an, um zu sehen, wo ihre Schüler mit ihren Leistungen im internationalen Ver­g leich standen. Rund 97 Prozent ihrer Achtklässler
machten den Test – nicht nur die Besten und Klügsten. Wie schnitten
sie ab? Im na­tur­­wis­­sen­schaftlichen Teil der TIMSS-Studie schnitten die Schüler aus Na­per­v ille als Beste ab, knapp vor denen aus
Singapur, gefolgt von der Ar­beits­ge­meinschaft North Shore an
dritter Stelle. Die Nummer Eins der Welt! Im mathematischen Teil
erreichte Naperville Platz sechs, hinter Singa­pur, Korea, Taiwan,
Hongkong und Japan.
Insgesamt erreichten die US-amerikanischen Schüler in den Na­
tur­w issenschaften den 18. Platz und in Mathematik den 19. Platz,
wobei Bezirke aus Jersey City und Miami jeweils den letzten Platz
in den Naturwissenschaften bzw. in Mathematik belegten. „Wir haben riesige Diskrepanzen zwischen unseren Schulbezirken in den
Vereinigten Staaten“, sagt Ina Mullis, stellvertretende Leiterin der
TIMSS-Studie. „Es ist gut, dass wenigstens einige aus Naperville
dabei waren – das zeigt, dass es zu schaffen ist.“
Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, der einzige Grund, warum die Schüler aus Naperville so hervorragend abschneiden, sei
ihre Teilnahme an einem außergewöhnlichen Sportunterrichts­
programm. Es gibt viele Faktoren, die zu schulischen Leistungen
beitragen. Der Schulbezirk 203 ist demografisch gesehen zweifellos
ein begünstigter Schul­bezirk. 83 Prozent Weiße und davon gehören
wiederum nur 2,6 Prozent zu den sogenannten einkommensschwachen Familien, im Vergleich zu einem Anteil von 40 Prozent einkommensschwacher Familien in ganz Illinois. Die beiden Highschools
in Naperville glänzen mit einer Quote von 97 Prozent der Schüler,
die den Abschluss schaffen. Und bei den wichtigsten Arbeitgebern
in der Stadt handelt es sich um naturwissenschaftlich orientierte Unternehmen, was den Schluss nahe legt, dass die Eltern vieler
Naperville-Schüler hochgebildet sind. Sowohl was die Umwelt als
auch was die genetischen Voraussetzungen angeht, sind die Karten
also zugunsten von Naperville gemischt.
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Kapitel 1: Willkommen zur Revolution
Wenn wir uns Naperville anschauen, gibt es auf der anderen Seite
aber zwei Faktoren, die tatsächlich auffällig sind: die ungewöhnliche Art des Sportunterrichts und die Testergebnisse. Die Korrelation
ist einfach zu verblüffend, um sie zu übersehen, und ich konnte der
Versu­chung nicht widerstehen, selbst nach Naperville zu fahren,
um mir anzusehen, was dort geschieht. Die TIMSS-Studie ist mir
seit Langem bekannt, und wie sie die Versäumnisse der öffentlichen Bildung und Erziehung in diesem Land verdeutlicht. Aber die
Schüler aus dem Schulbezirk 2003 haben den Test mit Bravour bestanden. Warum?
Es ist ja nicht so, als sei Naperville der einzige wohlhabende
Vorort in diesem Land mit intelligenten, gebildeten Eltern. Auch in
ärmeren Bezirken, wo die Art des Sportunterrichts von Naperville
Wurzeln geschlagen hat, wie in Titusville, Pennsylvania (worauf ich
später noch eingehen werde), haben sich die Testergebnisse messbar verbessert. Es ist meine Überzeugung, und das ist es auch, was
mich an Naperville fasziniert, dass der Schwerpunkt, der dort auf
Fitness gelegt wird, eine ausschlaggebende Rolle bei den schulischen
Leistungen der Schüler spielt.
Der neue Sportunterricht
Die Revolution in Naperville begann, wie dies oft bei solchen
Dingen der Fall ist, mit einer Mischung aus Idealismus und Selbst­
er­hal­tungs­trieb, zwei Punkte, die dabei gleichermaßen eine Rolle
spielten. Phil Lawler, ein damals junger, visionärer Sportlehrer an
der Junior High­school, brachte die Bewegung in Gang, nachdem
er 1990 auf einen Zeitungsartikel gestoßen war, der über die sich
verschlechternde gesundheitliche Verfassung von Kindern in den
USA berichtete.
„Der Artikel besagte nichts anderes, als dass der Grund, warum
sie nicht gesund waren, darin zu suchen war, dass sie nicht sehr aktiv waren“, erinnert sich Lawler, ein groß gewachsener Mann in den
Fünf­zi­gern, mit randloser Brille, der vorzugsweise leichte Baum­woll­
ho­sen und wei­ße Turnschuhe trägt. „Heutzutage weiß jeder, dass wir
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Eine Fallstudie über körperliche Bewegung und das Gehirn
eine Fett­lei­big­­keitsepidemie haben“, fährt er fort. „Aber wenn Sie vor
17 Jahren eine Zei­tung in die Hand nahmen, dann war ein Artikel
dieser Art etwas Außer­gewöhnliches. Wir sagten uns: ’Wir sehen
diese Kinder jeden Tag; soll­ten wir nicht in der Lage sein, Einfluss
auf ihre Gesundheit zu nehmen?’ Denn wenn das unser Geschäft
ist, dachte ich, gehen wir bankrott.“
Er hatte sowieso das Gefühl, dass Sportlehrern insgesamt nicht
gerade viel Respekt entgegengebracht wurde; in den Schulen hatte man angefangen, den Sportunterricht im Stundenplan zu kürzen, und jetzt auch noch das. Lawler, ein ehemaliger Werfer seines College-­Base­­ball­teams, der es nicht in die Majors League
(Bundesliga) geschafft hatte, ist ein echter „Verkäufer“ und von Natur
aus eine Führungs­persönlich­keit. Er entschied sich, Sportlehrer zu
werden, weil er dem Sport nahe bleiben wollte. Neben seiner Arbeit
als Sportlehrer an der Madison Junior Highschool im Schulbezirk
203, trainierte er das Baseballteam der Cen­tral Highschool von
Naperville und hatte die Funktion des Be­zirks­koor­di­nators für
Sportunterricht inne. Aber selbst nachdem er diese respektablen
Funktionen vorzuweisen hatte, war es ihm manchmal pein­lich, zuzugeben, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente. Der Ar­tikel
hatte etwas, das er instinktiv als Chance begriff – als Chance zu
zeigen, dass die Arbeit, die er und seine Sportlehrerkollegen mach­
ten, wichtig war.
Als Lawler und seine Kollegen an der Madison Highschool sich
dann einmal eingehender anschauten, was im Sportunterricht eigentlich im Einzelnen gemacht wurde, sahen sie eine Menge Inaktivität.
Das liegt in der Natur von Mannschaftssportarten: Warten, bis man
an der Reihe ist, bis der Ball in die eigene Richtung kommt usw.
Die meiste Zeit standen die meisten Spieler also einfach nur herum.
Somit beschloss Lawler, den Fokus auf kardiovaskuläre Fitness, also
des Herz-Kreislauf-Systems, zu verlagern und führte eine radikale
Besonder­heit im Lehrplan ein. Einmal in der Woche sollten die Kinder
im Sport­unterricht eine Meile laufen. Jede Woche! Seine Entscheidung
wurde von den Schülern mit Stöhnen begrüßt, von den Eltern mit Be­
schwer­den und von den Ärzten mit kritischen Anmerkungen.
Er ließ sich jedoch nicht beirren. Dennoch erkannte er schnell,
dass die langsamsten Läufer durch das Benotungssystem entmutigt
25
Kapitel 1: Willkommen zur Revolution
wurden. Um den ungeübten Sportlern die Möglichkeit zu geben,
etwas für gute Noten zu tun, kaufte der Fachbereich einige FahrradHeimtrainer und ermöglichte es so den Schülern, zusätzliche Punkte
zu sammeln. Beim Laufen konnten sie in ihrer eigenen Zeit ankommen und dann noch acht Kilometer Rad fahren, um ihre Noten
zu verbessern. „So konnte jedes Kind, dass ein A bekommen wollte, auch ein A bekommen, wenn etwas dafür tat“, erklärt Lawler.
„Irgendwie kamen wir durch diese Ver­fah­rensweise dann dahin, dass
es persönliche Bestleistungen gab. Jedes Mal, wenn man eine persönliche Bestleistung erzielt hatte, egal, was es war, verbesserte man sich
um eine Note.“ Und dies führte zum Grund­prinzip des Ansatzes,
den er als den neuen Sportunterricht bezeich­ne­te: Die Schüler wurden nach ihren Bemühungen, nicht nach ihren Fertigkeiten beurteilt. Man musste kein Naturtalent sein, um gute Noten in Sport zu
bekommen.
Aber wie beurteilt man die jeweils individuelle Bemühung von 40
Kindern gleichzeitig? Lawler fand die Antwort bei einer Konferenz
über Sportunterricht, die er jedes Frühjahr organisierte. Er bemühte
sich sehr, die Konferenz zu einer Veranstaltung des Austauschs über
neue Ideen und Techniken zu machen, und um die Teilnahme zu
fördern, überredete er die Anbieter von Sportartikeln, Preise für eine
Tombola zu spenden. Jedes Jahr zu Beginn der Konferenz ging er
mit einem klei­nen Wagen durch die Reihen und sammelte Schläger
und Bälle und andere Sportartikel ein. Was ihm dabei in einem Jahr
in den Wagen geworfen wurde, war eine hypermoderne Pulsuhr,
die zu der Zeit Hunderte Dollar wert war. Er konnte nicht anders,
er stahl ihn für die Revolution. „Ich sah dieses Superteil“, bekennt
er freimütig, „und ich sagte mir: Das ist ein Tombola-Preis für die
Madison Junior Highschool!“
Bei dem wöchentlichen Meilenlauf testete er das Gerät bei einem Mäd­chen aus der sechsten Klasse, das schlank, aber nicht im
Mindesten sport­lich war. Wenn Lawler ihre Werte abrief, konnte er
nicht glauben, was er sah. „Ihre Herzfrequenz lag im Durchschnitt
bei 187!“ erklärt er. Da sie erst elf Jahre alt war, hätte ihre maximale Herzfrequenz etwa bei 209 liegen dürfen, dies bedeutete, sie
rackerte sich also schon an der Grenze ihrer Höchstleistung ab.
„Als sie die Ziellinie überquerte, stieg ihr Wert auf 207 an“, fährt
26
Eine Fallstudie über körperliche Bewegung und das Gehirn
Lawler fort. ‚ „Oh Mann, oh Mann!“ sagte ich, „du veräppelst mich!’
Normalerweise wäre ich zu dem Mädchen hingegangen und hätte
gesagt: Du musst deinen Arsch in Bewegung setzen, kleine Dame!
Es war dieser eine Moment, der zu drastischen Änderungen in unserem ganzen Programm geführt hat. Die Pulsuhren waren das
Sprungbrett für alles. Ich dachte an all die Kinder, die wir in der
Vergangenheit vom Sport abgeschreckt haben mussten, weil wir
nicht in der Lage waren, ihre Leistungen anzuerkennen. Ich hatte
keinen Sportler in der Klasse dieses Mädchens, der es geschafft hätte,
sich so hart anzustrengen wie sie.“
Lawler war klar geworden, dass Schnelligkeit nicht unbedingt
etwas damit zu tun hatte, wie körperlich fit jemand war.
Eine von Lawlers Lieblingsstatistiken besagt, dass weniger als
drei Pro­zent der Erwachsenen im Alter von über 25 Jahren in Form
bleiben, indem sie Mannschaftssportarten betreiben. Dies unterstreicht die Ver­säum­nisse des traditionellen Sportunterrichts.
Aber er wusste, dass er die Schüler nicht jeden Tag eine Meile laufen lassen konnte. Somit erstellte er ein Programm, das bei herkömmlichen Mannschaftssportarten wie Basket­ball oder Fußball
vorsah, die jeweilige Spieleranzahl zu verringern – etwa drei gegen
drei beim Basketball oder vier gegen vier beim Fußball –, sodass
die Schüler ständig in Bewegung waren. „Das heißt, wir betreiben
diese Mannschaftssportarten nach wie vor“, sagt Lawler. „Aber wir
tun dies im Rahmen eines Fitnessmodells.“ Statt die Schüler auf
der Grund­lage so banaler Kriterien wie der regulären Größe eines
Volleyball-Spiel­feldes zu beurteilen, werden sie im Sportunterricht
in Naperville danach beurteilt, wie lange sie bei einer Aktivität in
ihrer anvisierten Herz­f re­quenz­zone bleiben.
„Wir haben das Programm entwickelt, ohne im Grunde zu wissen, was wir da genau tun“, sagt Lawler. Dennoch ist es mit diesem
neuen Sportunterricht gelungen, Prinzipien in die Praxis umzusetzen, die den aktuellen Forschungen über körperliche Bewegung,
Sport und Gehirn entsprechen.
27
Kapitel 1: Willkommen zur Revolution
Ein leuchtendes Vorbild
Jeder Revolutionsführer braucht jemanden, der federführend für
die prak­­tische Umsetzung seiner Ideen sorgt. Lawler hätte keinen
fähigeren Mann als Paul Zientarski finden können, Koordinator des
Sport­unter­richts an der Central Highschool in Naperville und ehemaliger Foot­ball-Trainer. Für Schüler und Kollegen ist Zientarski
einfach Mr. Z, ein Schrank von einem Mann, grauhaarig, mit ruhigem Blick, jemand, bei dem man es gewohnt ist, dass er Tacheles
redet. Er hat die eindringliche Präsenz eines Mike Ditka und Bill
Parcells (zwei berühmte, ehemalige Football-Spieler und Trainer
von bekannten US-Mannschaften) und ist von Natur aus eine
Autoritätsfigur – eine ausgezeichnete Mischung und ideal für den
Job. „Am längsten habe ich gebraucht, um ihn zu über­zeugen“, sagt
Lawler von seinem Freund und Verbündeten. „Aber sobald er an eine
Sache glaubt, kommt ihm besser niemand mehr in die Quere. Weil
er es notfalls in dich hineinstopft, wenn es sein muss.“
Als ihre Bewegung immer größere Kreise zog, übernahm Law­
ler die Führungsrolle beim Missionieren der Außenwelt mit der
Botschaft „Fit­ness, nicht Sport“, sprach mit Newsweek und trat vor
dem US-Senat auf. Und Zientarski setzte die Mission standhaft
zu Hause durch und ver­wandelte das Sportunterrichtsprogramm
an der Central Highschool in Naperville in ein gut funktionierendes Arbeitsmodell für den neuen Sport­unterricht. Lawler wurde 2004 als Lehrer früh pensioniert, nachdem bei ihm Darmkrebs
diagnos­tiziert worden war; er warb aber weiterhin für den täglichen
Sport­unterricht, selbst während seines ständigen Kampfes mit der
Krankheit, der von einem ständigen Auf und Ab geprägt war.
Sie haben sich beide zu Experten für „Körperliche Bewegung,
Sport und Gehirn“ entwickelt. Was sie wussten, hatten sie sich angeeignet, indem sie den Rednern bei Konferenzen auf den Zahn
fühlten. Lawler organisierte Konferenzen, nahm an sportphysiologischen Seminaren teil, las Aufsätze über neurowissenschaftliche
Forschungen, und was sie dabei an Erkenntnissen gewannen, tauschten sie über E-Mails ständig miteinander aus. Damit nicht genug.
Sie taten auch alles, um ihre Kollegen über die Zusammenhänge
28
Eine Fallstudie über körperliche Bewegung und das Gehirn
zwischen körperlicher Bewegung und dem Gehirn aufzuklären. Bei
Zientarski hatte es nichts Außergewöhnliches an sich, wenn er auf
dem Flur eine Englischlehrerin in ein Gespräch verwickelte und ihr
einen Stapel Papiere über die neueste Gehirnforschung in die Hand
drückte – Hausaufgaben vom Sportlehrer sozusagen.
Es war ihrem unnachgiebigen Forschungsdrang zu verdanken,
dass ich diese beiden Männer kennen lernen durfte. Lawler hörte
ein Interview mit mir in der Sendung The Infinite Mind im öffentlichen Radio, bei dem ich auf ein Protein zu sprechen kam, das bei
sport­lichen Aktivitäten einen erhöhten Spiegel aufweist und wie ein
„Wun­der­mittel fürs Gehirn“ wirkt. Lawler, mir bis dahin unbekannt,
begann, diese Formulierung in seinen eigenen Interviews zu verwenden, darunter auch eines mit dem US-Regisseur Morgan Spurlock
des Do­ku­men­tar­fi lms über Fettleibigkeit Super Size Me (2004).
Ich hatte nach einer konkreten Möglichkeit gesucht, die Aus­­wir­­
kun­­­gen von körperlicher Bewegung oder Sport auf das Lern­ver­mö­
gen in diesem Buch zu veranschaulichen, und es war nur logisch,
sich dabei auf einen Schulbezirk zu konzentrieren. Ich denke jedoch,
dass es schon allein die Größe des Experimentes in Naperville war,
die ihm zu einer brei­teren Resonanz verhalf. In der Geschichte selbst
geht es um Schüler, aber die Lektionen gelten auch für Erwachsene.
Was Naper­­ville liefert, ist eine aussagekräftige Fallstudie darüber,
wie aerobe Aktivi­täten nicht nur den Körper, sondern auch den
Geist verwandeln können. Und diese Fallstudie ist zugleich auch
eine wunderbare Vor­lage für eine Neu­be­sin­nung und grundlegende
Änderungen in unserer Gesell­schaft.
So unternahm ich die Reise nach Illinois, und als ich mit Lawler
und Zientarski im Atrium des Holiday-Inn-Hotels in Naperville zu­
sam­men­saß, hörte ich sie Dinge sagen, die ich von einem Trainer
nie zu hören erwartet hätte. „In unserem Fachbereich schaffen wir
die Hirn­zel­len“, sagte Zientarski. „Sie zu füllen, ist dann Sache der
anderen Lehrer.“
29
Kapitel 1: Willkommen zur Revolution
Ein neues Stereotyp:
Der intelligente Sportler
Lawler steuert mit seinem Kurs gegen den Trend, der derzeit an USamerikanischen öffentlichen Schulen vorherrscht und darin besteht,
dass der Sportunterricht zugunsten einer erhöhten Stundenzahl der
Lern­fächer Mathematik, Naturwissenschaften und Englisch reduziert wird. Mit dieser neuen Schwerpunktsetzung soll Schülern
geholfen werde, gängige Prüfungen zu bestehen. Die Befürworter
dieses Trends be­ru­fen sich dabei nicht zuletzt auf die gesetzlichen
Vorgaben, wonach der Staat dafür zu sorgen hat, dass kein Kind
zurückbleibt. So bieten in den USA heute nur noch sechs Prozent
der Highschools täglich Sport­unterricht an. Gleichzeitig verbringen Kinder im Durchschnitt 5,5 Stunden am Tag vor einem
Bildschirm – sei es vor dem Fernseher, Com­puter oder einer tragbaren Spielekonsole. Somit überrascht es nicht, dass US-amerikanische
Kinder heute weniger aktiv sind als jemals zuvor.
Darum fand ich das, was in Naperville geschah, so inspirierend.
Das erste Mal war ich dort unmittelbar, bevor die Schüler in die
Som­mer­ferien entlassen wurden. Aber wenn man der Klasse beim
Sportunterricht an der Madison Junior Highschool zusah, so hätte
man das nicht geahnt. Etwa 30 Kinder sprangen mit einer solchen
Energie und Begeisterung herum, wie man es nur zu Beginn eines
Schuljahres erwartet hätte: Sie drängelten sich fast, um sich möglichst schnell in der Reihe aufzustellen, um an die Kletterwand zu
kommen, führten hitzige Diskussionen, wer als Erster auf den neuen Hometrainer sitzen durfte, der an einen Videospiel-Monitor angeschlossen war, liefen wild auf Laufbändern herum, spielten mit
Begeisterung ein Videospiel namens Dance Dance Revolution, bei
dem man auf einem an die Konsole angeschlossenem „Fitnessbrett“
tanzt. Sie trugen alle Pulsuhren, und – das Wichtigste – sie waren
alle engagiert und voll bei der Sache.
Etwa 30 Prozent der Schulkinder in den USA sind heute übergewichtig – sechs Mal so viele wie 1980 –, und weitere 30 Prozent stehen
an der Kippe dazu. In Lawlers Bezirk hatten hingegen erstaunliche
30
Eine Fallstudie über körperliche Bewegung und das Gehirn
97 Prozent der Sechstklässler im Jahr 2001 und ebenso im Jahr 2002
nach den BMI-Richtlinien der Zentren für Gesundheitskontrolle
ein gesundes Gewicht (BMI = Body Mass Index). Bei einer unabhängigen Bewertung der körperlichen Fitness der Schüler des
Schulbezirks 203, die im Frühjahr 2005 durchgeführt wurde, waren die Ergebnisse sogar noch besser. Der Sportphysiologe Craig
Broeder untersuchte zusammen mit einem Team seiner Studenten
der Benedictine University, die ein Aufbaustudium machten,
nach einer Stichprobenerhebung 270 Schüler an Highschools, von
Sechstklässlern bis zu den höheren Semestern. „Ich kann Ihnen
versichern, dass das Schulsystem von Naperville dem landesweiten
Standard in Sachen körperlicher Fitness um Meilen voraus ist“, so
Broeder, ehemaliger Regionalvorsitzender des American College of
Sports Medicine. „Sie sind nicht annähernd miteinander zu vergleichen. In Naperville gab es unter rund 130 Kindern nur einen
Jungen, der fettleibig war. Es ist erstaunlich. Nach den Größe- und
Ge­w ichtsmaßstäben der Zentren für Gesundheitskontrolle lagen
die Pro­zent­sätze in Naperville unter den landesweiten Normen. Bei
anderen Fit­ness­merkmalen, die gemessen wurden, erfüllten rund 98
Prozent der Schüler die Kriterien.“
Broeder ist die demografische Situation in Naperville sehr wohl
bewusst, aber er ist dennoch beeindruckt. „Die Zahlen sind einfach zu gut, um sich nur darauf zurückzuführen zu lassen“, sagt er.
„Das Sport­unterrichtsprogramm verstärkte die positiven Ergebnisse
in punc­to kör­perliche Fitness, die ohne dieses Programm weitaus
schwächer aus­gefallen wären. Ich möchte es mal so sagen: Man kann
nicht mit Si­cherheit sagen, dass allein das Sportunterrichtsprogramm
ausschlag­­ge­­bend ist, aber die Fitness dieser Schüler liegt so weit über
dem Durch­schnitt, dass es nicht einfach nur an Naperville liegen
kann.“
Aber was wissen wir genau über die Auswirkung von Sport auf
den Noten­durch­schnitt? Nur wenige Forscher haben sich mit dieser
Frage befasst. Allerdings hat eine Studie der Technischen Hochschule
von Virginia gezeigt, dass die Reduzierung des Sportunterrichts und
eine entsprechende Erhöhung der Stundenzahl in Mathematik, Na­
tur­w issenschaften und Lesen die Prüfungsergebnisse nicht verbess­
ern konnten, wie dies so viele in der Schulverwaltung angenommen
31
Kapitel 1: Willkommen zur Revolution
hatten. Da Sportunterricht so vieles bedeuten kann, hat sich die For­
schung in diesem Bereich auf die Korrelation zwischen körperlicher
Fit­ness und schulischen Leistungen konzentriert. Die aufschlussreichsten Stu­dien kommen von der Schulbehörde in Kalifornien
(CDE, Cali­for­nia De­part­ment of Education). In den letzten fünf
Jahren hat das CDE durchgehend und schlüssig gezeigt, dass Schüler
mit besseren Fit­ness­werten auch höhere Prüfungswerte erzielen.
Das CDE stellte einen Zusammenhang zwischen den Werten her,
die bei Standardleistungstests erzielt wurden, und jenen Werten, die
beim sogenannten „FitnessGram“, einem sportmotorischen Test, erzielt wurden, und zwar bei über einer Million Schüler. Beim FitnessGram-Test werden sechs Bereiche gemessen: Aerobe Kapazität, Kör­
per­­fett­an­teil, Kraft und Ausdauer in Unterkörper und Beinen, Kraft
und Flexibilität im Bereich des Rumpfes, Kraft des Oberkörpers und
Flexi­bi­lität insgesamt. Die Schüler erhalten für jeden Bereich einen
Punkt, wenn sie die Mindestanforderungen erfüllen, sodass die
Höchst­punkt­zahl bei sechs Punkten liegt. Wichtig zu erwähnen ist,
dass bei diesem Test nicht gemessen wird, wie fit ein Schüler ist, sondern nur ob er in jedem Bereich sich in einem akzeptablen Rahmen
bewegt. Mit anderen Worten, es gibt nur ein Ergebnis: bestanden
oder durch­ge­fal­len.
2001 erzielten körperlich fitte Schüler doppelt so gute Werte bei
schu­­lischen Tests als ihre weniger fitten Mitschüler. Von 279.000
Neunt­k läss­lern in Kalifornien lagen beispielsweise diejenigen, die
beim Fitness­Gram-Test sechs Punkte erzielten, im Durchschnitt
beim Stan­ford-Achieve­ment-Leistungstest auf der 67. Perzentile in
Mathe­ma­tik und auf der 45. Perzentile im Lesen. Wem diese Werte
nicht als über­ragend erscheinen, der bedenke, dass die Schüler, die
nur in einem der sechs Bereiche des FitnessGram-Tests bestanden,
nur auf der 35. und 21. Perzentile lagen.
Als das CDE die Studie 2002 wiederholte, wurde der sozioöko­
nomi­sche Hintergrund berücksichtigt. Wie erwartet schnitten
Schüler, die einen höheren Lebensstandard hatten, bei den schulischen Leis­tungs­tests besser ab; die Ergebnisse zeigten jedoch auch,
dass von den ein­kom­mens­schwächeren Schülern körperlich fittere
Kinder besser abschnitten. Dies ist eine aussagekräftige Statistik.
Sie legt den Schluss nahe, dass, auch wenn Eltern ihre finanzielle
32
Eine Fallstudie über körperliche Bewegung und das Gehirn
Situation nicht unmittel­bar selbst kontrollieren können, sie jedoch
gleichwohl die Chancen ihrer Kinder, gute Leistungen zu erzielen, verbessern können, indem sie sie dazu anhalten, etwas für ihre
Kondition zu tun. Körperliche Be­we­gung oder Sport könnten den
Teufelskreis durchbrechen.
Die kalifornischen Studien stehen nicht alleine. Im Jahr 2004
führ­te ein Gremium von 13 angesehenen Forschern aus unter­schied­
li­chen Be­reichen, von Kinesiologie bis Kinderheilkunde, eine enorm
um­­fang­reiche Überprüfung von mehr als 850 Studien über die Aus­
wirkungen kör­­perlicher Aktivität auf Kinder im Schulalter durch. Bei
den meisten der Studien wurden die Effekte von 30 bis 45 Minuten
moderater bis anstrengender körperlicher Aktivität an drei bis fünf
Tagen in der Woche gemessen. Dabei wurde ein breites Spektrum
von Fragen be­rück­sichtigt: Fettleibigkeit, Herz-Kreislauf-Fitness,
Blutdruck, De­pres­sion, Ängste, Selbstkonzept, Kno­chen­dichte und
schulische Leis­tun­­gen. Auf der Grundlage einer eindrucksvollen
Beweislage bei einer Reihe dieser Kategorien gab das Gremium eine
Empfehlung heraus, dass Schul­kin­der pro Tag eine Stunde (oder
mehr) an moderaten bis an­strengen­den körperlichen Aktivitäten teilnehmen sollten. Bei der Unter­su­chung der schulischen Leistungen
fand das Gremium genügend B­ele­ge, die die Ergebnisse der kalifornischen Studien unterstützten; und es berichtete auch, dass körperliche
Aktivität einen positiven Ein­fluss auf das Erinne­rungsvermögen, die
Konzentrationsfähigkeit und das Ver­hal­ten im Klassenraum hatte.
Zum Sportunterricht wurden keine näheren Angaben gemacht, es
ist jedoch offensichtlich, wie den Schülern in Naperville zusätzlich
eine gesunde Starthilfe ermöglicht wird.
Ein ganz neues Ballspiel
„Ich bin kein Forscher, ich bin Sportlehrer“, sagt Zientarski zu einem
Dut­zend Erzieher, die sich in seinem Büro in der Central Highschool
von Na­per­v ille drängeln, während er Kopien der CDE-Studien an sie
ver­teilt. Die Erzieher kommen aus einem benachbarten Vorort, einer
Schule in South Side Chicago, sowie aus einem ländlichen Bezirk
33
Kapitel 1: Willkommen zur Revolution
in Tul­sa, Oklahoma, und sie sind gekommen, weil der Schulbezirk
203 von Naperville als Schulungsakademie für eine gemeinnützige
Ein­rich­­tung dient, die sogenannte PE4life („Sport fürs Leben), die
sich die neue Phi­losophie des Sportunterrichts zu eigen gemacht hat.
Illinois ist der ein­zige Bundesstaat in den USA, in dem täglich eine
Stunde Sport­unter­­­richt verlangt wird. Und PE4life setzt sich dafür
ein, dass dies geändert wird – und ebenso die Art und Weise, wie
Sport unterrichtet wird. Zientarksi steht auf und verkündet: „Jetzt
machen wir einen Rund­gang.“
Er zeigt, wo es lang geht, indem er mit dem zügigen Schritt eines
erfahrenen U-Boot-Kommandeurs durch die Flure vorangeht. Beim
ersten Stopp, den sie einlegen, sehen sie, wie drei Schülerhelfer einer
Gruppe von Siebtklässlern computerisierte Diagnosegeräte anlegen,
die an ein Computersystem namens TriFit angeschlossen sind. Den
Kindern Zielwerte für Herzfrequenz, Blutdruck, Körperfett und alles
andere vorzugeben, erklärt er, ist eine bewährte Motivation dafür,
fit zu bleiben. Studien legen tatsächlich den Schluss nahe, dass die
Wahrscheinlichkeit abzunehmen tatsächlich steigt, wenn jemand,
der übergewichtig ist, sich einfach jeden Morgen auf die Waage stellt.
Die Ambitionen von Lawler und Zientarski gehen jedoch weit über
die Frage des Body-Mass-Index ihrer Schüler hinaus.
„Ich sage den Leuten, dass es nicht meine Aufgabe als Sportlehrer
ist, die Kinder körperlich fit zu machen“, sagt Zientarski. „Meine
Auf­­gabe ist es, dafür zu sorgen, dass sie all die Dinge wissen, die sie
wissen müssen, um sich selbst fit zu halten. Sport als solches ist kein
Ver­gnü­gen. Es ist Arbeit. Das heißt, wenn man es ihnen verständlich
machen kann und ihnen die nutzbringenden Effekte zeigt – dann ist
das eine radikale Veränderung. Insbesondere für uns Trainer. Wir
sind Kon­troll­freaks. Wenn ich ’Achtung’ rufe, stehen 56 Kinder auf
einer weißen Linie, nichts anderes haben wir jahrelang gemacht.“
Im Schulbezirk 203 nutzten die Schüler Pulsuhren, lange bevor sie einen Internetzugang an der Schule hatten. Wenn man
heute in die Turnhalle irgendeiner Schule des Bezirks geht, könnte man meinen, man sei in einem hypermodernen Fitnessklub für
Erwachsene. In jeder Halle gibt es ein TriFit-Bewertungsgerät und
Gewichtsmaschinen, die an den Junior Highschools speziell auf das
junge Alter der Schüler abgestimmt sind. Es gibt Kletterwände und
34
Eine Fallstudie über körperliche Bewegung und das Gehirn
an Spielekonsolen angeschlossene Aerobic-Geräte. (Dank Lawlers
unermüdlicher Lobby-Arbeit und Zientarskis Hartnäckigkeit wurden die meisten Geräte gespendet.)
Der Lehrplan ist so konzipiert, dass den Kindern die Prinzipien,
Praxis und Bedeutung von körperlicher Fitness beigebracht werden.
Wenn sie auf die Highschool kommen, können sie aus einer breiten
Pa­let­te an Möglichkeiten wählen – von Kajakfahren über Tanzen bis
hin zu Bergsteigen und typischen Mannschaftssportarten wie Volley­
ball und Basketball. Und es wird ihnen gezeigt, wie sie ihren eigenen
Fit­ness­plan aufstellen können. Im Kern des Sportprogramms stehen
die TriFit-Bewertungen, die alle Schüler zu Beginn der fünften Klasse
absolvieren. Sie stellen ihre Pläne als Fünftklässler auf und verfolgen
ihre Verbesserungen, bis sie die Highschool abschließen, wobei ihnen
dann eine 14-seitige Gesundheitsbewertung ausgehändigt wird. Darin
enthalten sind Fitnesswerte, die Faktoren wie Blutdruck und Cho­les­
terin­spiegel sowie einen Überblick über den Lebensstil und die fami­
liä­re Geschichte berücksichtigen, um das Krankheitsrisiko zu prog­
nos­tizieren und entsprechende präventive Maßnahmen vorzuschla­
gen. Es ist ein erstaunlich umfassendes Dokument, gemessen an jedem pro­fessionellen Gesundheitsstandard, und erst recht daran, was
ein 18-Jähriger in Händen halten kann, wenn er an der Schwelle zum
Er­wa­chsenen­leben steht. Wenn es das doch nur für alle gäbe.
Der Sportphysiologe Craig Broeder, der die Fitnessstudie in Na­
perville durchführte, merkt an, dass die Schüler beim Sport­un­ter­richt
aus 18 verschiedenen Aktivitäten wählen können. „Was viele Leute
vergessen, ist, dass jeder Schüler etwas finden muss, das es ihm erlaubt, sich gut dabei zu fühlen, wenn er Spitzenleistungen erbringt“,
sagt er. „Damit die Schüler das Gefühl haben, es sei wirklich ihr Ding,
wenn sie es tun. Lässt man dem Kind keine Wahl und es kann zum
Beispiel nur Basketball spielen, erscheint das Ganze wie eine Strafe
oder hat etwas von einem Erziehungslager. Dann steht von vorne­
herein fest, dass es damit nicht weiter machen wird. In Naperville
bietet man den Kindern Wahlmöglichkeiten an, sodass sie in ihrer
Lieblingsaktivität hervor­ragende Leistungen erbringen können; sie
entwickeln Fitnessaktivitäten, die sie wahrscheinlich ein Leben lang
gut finden.“ Auch Erwachsene sollten sich dies vor Augen halten,
wenn sie überlegen, wie sie etwas für ihre Fitness tun können.
35
Kapitel 1: Willkommen zur Revolution
Zientarski führt seine Gruppe in die alte Mädchenturnhalle, um dort
das Prunkstück des Sportunterrichtsprogramms der Central High­­­
school vorzuführen: eine knapp siebeneinhalb Meter hohe und 27,5
Meter breite Kletterwand sowie einen Hochseilparcours, den sie seit
einiger Zeit in einem Sportleistungskurs nutzen. Er führt als Beispiel
eine Übung vor, die den Schülern Vertrauen und Kommunikation
ver­mit­teln soll: Dem Kletterer werden die Augen verbunden und er
muss sich auf die Anweisungen seines Partners verlassen, um den
nächsten Halt an der Wand zu finden. Der neueste Teil der Wand
ist in einem leichteren Schwierigkeitsgrad gestaltet, damit er von
Schülern mit kör­­per­li­chen und geistigen Behinderungen genutzt
werden kann. Be­den­ken wegen Haftungsfragen, die in dem Fall auf
der Hand liegen, beantwortet Zientarksi mit dem Hinweis, dass es
bisher nur sehr wenige Verletzungen gegeben habe, da die Kinder
kooperieren und nicht kon­­­kur­­rieren, und dies ist eine der wichtigsten Lektionen, die er und seine Kollegen ihnen beibringen.
„Wenn man die Leute fragt: ‘Was sollten unsere Schulabsolven­ten
Ihres Erachtens wissen und tun, wenn sie schließlich die Highschool
ver­­las­sen?’“, erklärt Zientarski, „dann sagen sie: ‘Wir möchten, dass
sie mit an­de­ren kommunizieren können. Wir möchten, dass sie in
kleinen Grup­pen zusammenarbeiten können. Wir möchten, dass sie
Probleme lösen kön­nen. Wir möchten, dass sie bereit sind, Risiken
einzugehen.’ Und wo gibt es das und findet das statt?“ fragt er und
mustert seine Gäste von oben bis unten, „im naturwissenschaftlichen Unterricht? Ich glaube nicht.“
Gut für den Körper,
gut fürs Gehirn
Etwa 220 Kilometer südlich von Naperville führte der Psycho­phy­
siologe Charles Hillman an der University of Illinois in UrbanaChampaign seine eigene Version der CDE-Studie mit einer Gruppe
von 216 Dritt- und Fünftklässlern durch und stellte den gleichen
Zusammenhang zwischen körperlicher Fitness und schulischen
36
Eine Fallstudie über körperliche Bewegung und das Gehirn
Leistungen fest. Dabei stellte er zusammen mit seiner Co-Autorin
Darla Castelli etwas Interessantes fest: Von den sechs Bereichen, die
bei dem FitnessGram-Test untersucht werden, scheinen zwei für
die schulische Leistungsfähigkeit besonders wichtig zu sein. „Der
Body-Mass-Index und die aerobische Fitness stachen bei unserer
Regressionsgleichung wirklich hervor“, sagt Castelli. „Diese beiden
Faktoren haben den wichtigsten Beitrag geleistet. Ich war wirklich
überrascht, dass es so eindeutig war.“
Hillman begnügte sich jedoch nicht damit, Daten zu korrelieren,
sondern ging darüber hinaus. Er wollte dem neurowissenschaftlichen
Aspekt dieser Erkenntnisse auf den Grund gehen. So nahm er eine
Gruppe von 40 Kindern – die eine Hälfte fit, die andere nicht fit –
und maß ihre Aufmerksamkeit, ihr Kurzzeitgedächtnis und die Ver­
ar­bei­tungs­geschwindigkeit ihres Gehirns. Bei den kognitiven Tests
trugen die Kinder eine bademützenähnliche Kopfbedeckung, an die
Elek­tro­den zur Messung der elektrischen Aktivität des Gehirns angeschlossen waren. Das Elektroenzephalogramm (EEG) zeigte im
Gehirn der körperlich fitten Kinder mehr Aktivität, was darauf hinweist, dass bei der Bewältigung einer Aufgabe mehr Neuronen aktiviert werden, die bei der Aufmerksamkeit eine Rolle spielen. „Wir
sehen dort eine bessere Integrität“, erklärt Hillman. Mit anderen
Worten: Bessere körperliche Fitness heißt bessere Aufmerksamkeit
und damit bessere Ergebnisse.
Hillman entdeckte auch eine aufschlussreiche Erkenntnis bei der
Frage, wie seine Versuchspersonen darauf reagierten, wenn sie einen
Fehler gemacht hatten. Bei der Messung ihrer Hirnaktivität nutzte
er den sogenannten Eriksen-Flanker-Test, bei dem eine fünfstellige
Buchstabenreihe aus den Großbuchstaben H und S jeweils blitzschnell auf einem Bildschirm aufleuchten. Der einzige interessante
Buch­stabe ist jedoch der in der Mitte; die Versuchsperson drückt auf
den einen Knopf, wenn es ein H ist, und auf einen anderen, wenn es
ein S ist. Wenn zum Beispiel HHSHH oder andere Kombinationen in
Se­kun­den­ge­schwindigkeit erscheinen, kann man leicht einen Fehler
machen, und das merkt man, sobald man ihn gemacht hat. Hillman
stellte nun fest, dass „körperlich fitte Kinder sich anschließend mehr
Zeit lassen, um sicher zu gehen, dass die nächste Antwort richtig
ist“, sagt er.
37
Kapitel 1: Willkommen zur Revolution
Die Fähigkeit innezuhalten und über eine Antwort oder Reaktion
nachzudenken, sich die Erfahrung aus einer falschen Entscheidung
zu­nutze zu machen und sich daran bei der nächsten Entscheidung zu
orien­tieren, hängt mit der Exekutiven Funktion zusammen, die von
einer Hirn­region, dem sogenannten präfrontalen Cortex, kontrolliert
wird. (Auf die Exekutive Funktion werde ich in späteren Kapiteln
noch aus­f ührlicher eingehen, insbesondere im Zusammenhang mit
der Auf­merk­sam­keitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS), die
zum Teil durch einen Fehler im präfrontalen Cortex verursacht wird.
Würde ein Kind mit ADHS den Flanker-Test machen, würde es den
falschen Knopf drü­cken, bevor es sich selbst davon abhalten könnte, oder es würde zu lange zögern, den richtigen Knopf zu drücken.
Sie können sich jedoch bestimmt vorstellen, wie sehr wir alle auf die
Exekutive Funktion angewiesen sind.)
Aus unseren Fehlern zu lernen, ist im Alltagsleben überaus wichtig. Und Hillmans Studie zeigt, dass körperliche Bewegung oder
Sport – oder zumindest das daraus resultierende Fitnessniveau –
starken Einfluss auf diese grundlegende Fertigkeit haben können.
Den Führenden folgen
Es gibt vielleicht niemanden, der den in Naperville vorherrschenden
Glauben an die transformierende Kraft körperlicher Bewegung besser verkörpert als Jessie Wolfrum. In der Zeit, als sie an der Central
High­school war, bezeichnete sie sich selbst als Streberin und EinserSchülerin; 2003 machte sie dort ihren Abschluss und schrieb sich an
der Embry-Riddle-Universität für Luft- und Raumfahrt in Daytona
Beach, Florida, ein, wo sie derzeit im Hauptfach Engineering Physics
(An­ge­wand­­te Physik und Ingenieurswissenschaften) studiert. Als
Zwil­ling, der dazu neigte, sich auf die enge Beziehung zu ihrer
Schwester zu verlassen, statt sich mit anderen Kindern einzulassen, war Jessie ein Leben lang schüchtern. „In der dritten Klasse
stellte meine Mutter mich vor die Wahl, entweder Klavier oder
Fußball zu spielen“, erinnert sie sich lachend. „Die Vorstellung, mit
einer Gruppe von Mädchen etwas zusammen zu machen, worin ich
38
Eine Fallstudie über körperliche Bewegung und das Gehirn
wahrscheinlich nicht gut sein würde, flößte mir solche Furcht ein,
dass ich etwas wählte, was mir nicht einmal gefiel, ges­chwei­ge denn
Spaß machte. Acht Jahre lang habe ich Klavier gespielt!“
Phil Lawler bot ihr natürlich nicht die Möglichkeit an, Klavier
zu spielen, als sie als Schülerin an die Madison Junior Highschool
kam. Jesse musste einfach mitmachen, wie alle anderen auch. Auch
wenn sie sich nicht sonderlich für den Sportunterricht begeistern
konnte, war er nicht wirklich furchtbar, und erst recht nicht traumatisierend. Jedenfalls lernte sie Lektionen über ihren Körper, von
denen sie noch viele Jahre profitieren sollte.
Als Jessie und ihre Schwester Becky zur Central Highschool
wechselten, waren ihre Stundenpläne so unterschiedlich, dass sie
nicht mehr ständig zusammenhängen konnten, sodass Jessie gezwungen war, öfter mit anderen Kindern zu reden, als ihr eigentlich lieb war. Sie schrieb sich in den Kurs „Freies Reden“ ein, um ihre
Sozialangst zu bewältigen. Aber sie sagt, was ihr wirklich geholfen
habe, sich frei zu entwickeln und aufzublühen, sei das Kajakfahren
gewesen. Jessie fuhr sofort auf diesen geschicklichkeitsintensiven
Sport ab, und zu entdecken, dass sie gut in etwas anderem als einem
akademischen Lehrfach war, half ihr bei der Wandlung.
„Wenn andere merken, dass man etwas macht, was sie nicht
können, bekommt man eine gewisse Aufmerksamkeit“, sagt Jessie.
„Beim Kajakfahren fingen andere an, von mir Notiz zu nehmen,
und so war ich mit einem Mal nicht mehr so unscheinbar. Ich wurde abenteuerlustiger. Selbst wenn man schüchtern ist und es kommt
jemand auf einen zu, der fragt: ‘Wie machst du das?’, dann vergisst
man, dass man schüchtern ist und erklärt es einfach nur: ‘Du musst
deinen Kopf so halten oder das und das mit dem Paddel machen.’“
Das Wasserbecken sorgte auch in anderer Hinsicht für mehr
Gleich­heit. „Sobald alle ihre Schwimmkleidung tragen, kann man
nicht mehr sagen, wer zur Gruppe der Beliebten gehört“, sagt sie.
„Die Klasse hat diese sozialen Statusgrenzen völlig gesprengt und
überwunden. Ich hatte viele Probleme damit, bis ich mit dem Kajak­
fahren anfing.“
Ermutigt durch ihre Erfahrungen im Kajakunterricht meldete
Jessie sich für den von Zientarski geleiteten Leistungskurs an. Das
Erste, was er machte, war Jessie von ihrer Zwillingsschwester zu
39
Kapitel 1: Willkommen zur Revolution
trennen – und ebenso alle anderen unzertrennlichen Cliquen. Im
Leistungskurs lernen die Schüler Bergsteigen und dieser Sport faszinierte Jessie ganz besonders. Sie schloss sich dem Abenteuer-Club
an, eine Art spontane „Stunde Null“ für Kinder, die bereits um 6:30
Uhr morgens kommen wollten, um mehr Zeit an der Kletterwand
oder im Becken für das Kajakfahren zu verbringen.
An dem Morgen, an dem der schulische Leistungstest anstand,
die „Prairie Stat Achievement Examination“, die im US-Bundesstaat
Illi­nois übliche Version des „Scholastic Aptitude Test“ (SAT)1, beschlossen Jessie und ihre Schwester tatsächlich, Paddeln zu gehen.
Sie waren so zuversichtlich, dass sie sich gut vorbereitet hatten,
und so daran gewöhnt, dass Sport ihnen half, sich besser konzentrieren zu können, dass sie sich wohl dabei fühlten, unmittelbar
vor einer wichtigen Prüfung in einem kalten Becken herumzuplanschen. Wie viele Schüler kennen Sie, die das tun würden? Wie viele
Erwachsene kennen Sie, die das tun würden?
„Als wir zur Prüfung antraten, war uns kalt und wir waren nass“,
erinnert sich Jessie. „Wir gingen ins Klassenzimmer und waren die
Ein­zi­­gen, die wach waren. Wir haben am Ende ziemlich gut ab­ge­
schnit­­ten.“ Beide erreichten 1.400 von 1.600 möglichen Punkten –
ein Spit­zen­­ergebnis.
Als Jessie aufs College kam, trieb sie sich weiter an, sowohl was
schu­­lische Leistungen als auch was den gesellschaftlichen Umgang
mit anderen anging. Sie ist eine sehr gute Studentin und, was wohl
am meisten überrascht, betreut eine Gruppe von Erstsemester-Stu­
denten, die in ihrem Studentenheim auf demselben Flur wohnen. Sie
kümmert sich darum, dass die jungen Studenten sich wohl fühlen,
sie sorgt für Ordnung und sie berät sie. Sie ist kein Mauer­blümchen
mehr.
Beim Wechsel von der Highschool zum College ist es schwer,
sportlich bei der Stange zu bleiben, aber Jessie hat ihr Übungs­pro­
gramm nie wirklich fallen gelassen. In ihrem ersten College-Jahr lief
1 Das Schulsystem in den USA ist sehr uneinheitlich und die Abschlussnoten
verschiedener Highschools sind in der Regel nicht miteinander vergleichbar. Der SAT-Test wird hauptsächlich von Studienplatz-Bewerbern an
amerikanischen Universitäten gefordert und ermöglicht so eine vergleichbare Bewertung aller Schulabgänger.
40
Eine Fallstudie über körperliche Bewegung und das Gehirn
sie mit ihrer Mitbewohnerin immer, wenn es irgendwie stressig wurde, ein paar Run­den im Treppenhaus in ihrem Studenten­wohnheim.
Das ist etwas, das sie schon in Naperville gelernt hatte – wie sie ihr
Gehirn mit körperlicher Bewegung oder Sport steuern und kontrollieren konnte. Und das ist die Botschaft, die ich mit diesem Buch
zu vermitteln hoffe.
„Im Moment geht jede Stunde einfach für irgendetwas anderes
drauf – Beaufsichtigen der Heimbewohner, Kurse …“ sagt Jessie.
„Wenn ich keine Zeit habe, mich sportlich zu betätigen und etwas zu
tun, dann vermisse ich es. Jedes Mal, wenn ich weiß, dass eine Reihe
von Prüfungen bevorsteht – wenn ich richtig gestresst bin –, denke ich:
‘Okay, du weißt ja, wie damit umzugehen ist.’ Es ist zweifellos eine Er­
leich­terung zu wissen, dass ich etwas habe, worauf ich mich verlassen
und zurückgreifen kann. Hätte ich das nicht, würde ich wahrscheinlich einfach anfangen zu essen oder irgend so etwas tun. Aber ich
weiß, dass körperliche Bewegung oder Sport meine Gehirnaktivität
optimal auf Vordermann bringen, und dann denke ich: ‘Mach es einfach.’ Ohne meinen Sportunterricht wüsste ich das nicht.“
Mehr als nur Fitness
Wie viele andere fand ich als Kind, dass unser Sportunterricht ein
Witz war. Ja, wir hatten Spaß dabei, aber soweit ich mich erinnere, war der Sportunterricht nicht besonders lehrreich. Als ich als
Er­wachse­ner anfing, Lehrern und Ärzten Vorträge über die positiven Aus­w ir­kungen körperlicher Aktivitäten auf die Stimmung, das
Kon­zen­tra­tions­vermögen, das Selbstwertgefühl und die sozialen
Fertigkeiten zu hal­ten, hielt ich den Sportunterricht mit Sicherheit
nicht für ein Heil­mittel.
Nach meiner eigenen Erfahrung ging es beim Sportunterricht
nicht wirklich um Bewegung oder Leibesübungen. Im Gegenteil –
er war dies­bezüglich demotivierend. Die grausame Ironie war, dass
die schüch­ternen, unbeholfenen, körperlich nicht so fitten Kinder –
also genau diejenigen, die am meisten davon hätten profitieren können –, beiseite­geschoben und ins Abseits gestellt wurden, um von
41
Kapitel 1: Willkommen zur Revolution
den Zu­schauerplätzen aus zuzuschauen. Jemand wie Jessie Wolfrum
wäre an den Rand gedrängt und sich selbst in ihrer Scham überlassen worden. Im Laufe der Jahre haben mir eine ganze Reihe von
Patienten Geschichten von Demütigungen im Sportunterricht erzählt. Die Seiten­linien eines Sportfeldes sind ein fruchtbarer Boden,
um genau die Probleme zu entwickeln, die körperliche Bewegung
oder Sport eigen­t ­lich verbessern.
Zur Zauberformel von Naperville gehört, dass Lawler und Zien­
tar­ski sich hervorragend auf diese Dynamik eingestellt haben.
„Früher wurden bei uns Klimmzüge gemacht“, erklärt Zientarski abfälligem Tonfall. „Ich schätze, etwa 65 Prozent unserer Jungs konnten nicht einmal einen Klimmzug machen. Das heißt, sie kommen
nur in den Sport­unterricht, um als Versager dazustehen!“
Was mich an Zientarskis Wandel von jemandem, der auf Drill
stand, zu jemandem, der Körper, Gehirn, Geist und Psyche formen hilft, ver­blüfft, ist, wie weit er bei der Neudefinition des Sport­
unterrichts zu gehen bereit ist. Eine der innovativsten Änderungen,
die er zum Beispiel an der Central Highschool vorgenommen hat,
war die Einführung eines Squaredance-Kurses als Pflichtstunde für
Schulanfänger. Das mag nicht innovativ klingen, aber der Kurs ist
so konzipiert, dass Be­we­gung als Rahmen genutzt wird, um den
Kindern soziale Fer­tig­kei­ten beizubringen – eine auf vielen Ebenen
wunderbare Idee. In den ersten Wochen erhalten alle Schüler in
dem Kurs ein Manuskript, das sie als Konversationshilfe mit ihren Partnern verwenden können, und nach jedem Tanz wechseln
die Partner. Mit fortschreitendem Kurs wird den Schülern dann
Gelegenheit gegeben, ohne die Manuskripte miteinander umzugehen, wobei ihnen zunächst 30 Sekunden für eine kurze Konversation
eingeräumt werden, später dann mehr. Eine wichtige Frage bei der
Abschlussprüfung ist, wie genau sich die Schüler an zehn Fakten bei
einem Partner erinnern können, nachdem sie sich 15 Minuten mit
ihm unterhalten haben.
Manche Kinder, die im sozialen Umgang schüchtern sind, erhalten nie die Chance zu lernen, wie man sich mit anderen unterhält
und Freundschaften schließt, sodass sie sich zurückziehen, insbesondere vom jeweils anderen Geschlecht. Zientarskis SquaredanceSchüler können üben, wie man sich unterhält und in einer nicht
42
Eine Fallstudie über körperliche Bewegung und das Gehirn
aufgeladenen Atmosphäre miteinander umgeht, ohne in einen Son­
derkurs für soziale Fertigkeiten ausgesondert oder degradiert zu werden. Der Square­dance-Kurs dient sowohl als Ablenkung als auch
als vertrauensbildende Maßnahme. Einige beherrschen die Übung,
während andere nur den Teufelskreis ihrer Ängste durchbrechen, da
jedoch alle die Übung machen, ist es weniger peinlich.
Wenn ich mit Kollegen über die Revolution von Naperville rede
und ihnen erzähle, dass die Kinder im Sportunterricht solche sozialen Fertigkeiten lernen, besteht die Reaktion meist aus verblüfftem Schweigen – sie sind beeindruckt, genau, wie ich es war. Bei
meiner ganzen Arbeit habe ich sehr viel Zeit darauf verwendet, die
Probleme des, wie ich es nenne, sozialen Gehirns zu identifizieren
und zu behandeln, und Zientarski hat das perfekte Rezept gefunden,
um die heutzutage zunehmende Isolation und Vereinsamung in unserem Leben überwinden zu helfen. Und zwar im Sportunterricht!
Durch die Struktur und Gelegenheit, die ihnen gegeben wird, und
die Erwartung, die an sie gestellt wird, erinnern sich sozial ängstliche Schüler positiv daran, wie man auf jemanden zugeht, welchen Abstand man zu jemandem zu halten hat und wann man die
andere Person reden lässt. Die Übung dient sozusagen als soziales
Schmiermittel, und sie ist entscheidend für diese Art des Lernens, da
sie Ängste abbaut. Ihr Gehirn wird durch die Bewegung geschärft,
und es entstehen Schaltkreise, die jene Erfahrungen aufzeichnen,
die am Anfang vielleicht schmerzlich sind, dies jedoch zunehmend
weniger sein werden, da diese Erfahrung von allen Schülern im Kurs
geteilt wird.
Es ist ein intuitiv brillanter Weg, die Kinder aus ihrem Schne­
ckenhaus zu locken, und zwar in einem entscheidenden Alter, in
dem jeder sich gehemmt fühlt. Zientarski steckt sie alle in dasselbe
Boot und gibt ihnen das Handwerkszeug und die Unterstützung,
um ihr Selbstvertrauen aufzubauen. Durch das Tanzen funktioniert
die ganze Lektion.
Ich glaube, es sind Angebote wie diese, die erklären, warum so
viele Eltern in Naperville berichten, der Sportunterricht sei das
Lieblingsfach ihrer Kinder. „Es sind nicht nur die Leibesübungen
als solche“, sagt Olfat El-Mallak, Mutter von zwei Töchtern, die von
der Madison Highschool zur Central Highschool wechselten, „es
43
Kapitel 1: Willkommen zur Revolution
ist noch etwas anderes, was in ihnen geschieht. Es ist fast wie ein
Motivationsprogramm. Meine Mädchen glauben an sich. Sie sind
beide sehr selbstsicher, und das war am Anfang ganz anders. Es liegt
am Sportunterricht im Schul­bezirk 203.“
Die frohe Botschaft verbreiten
52 Millionen Kinder, vom Kindergarten bis zur zwölften Klasse,
besuchen in den Vereinigten Staaten öffentliche und private Schu­
len. Kämen sie alle in den Genuss des Sportunterrichts, wie er in
Naperville praktiziert wird, wäre unsere nächste Generation gesünder, glücklicher und klüger. Dies ist das ultimative Ziel von
PE4life, jener Gruppe, die Lawler engagierte, um anderen Lehrern
die Philosophie und Methodologie von „Fitness, nicht Sport“ zu vermitteln. 350 Schulen haben bisher an der Schulung teilgenommen,
und viele haben inzwischen ihre eigenen Versionen des Programms
eingeführt.
Einer der Teilnehmer ist Tim McCord. Er ist der Koordinator
für Sportunterricht im Schulbezirk von Titusville, Pennsylvania,
einer einst blühenden, aber inzwischen erloschenen Industriestadt
von 6.000 Einwohnern, die, in einem hügeligen Landstrich zwischen
Pittsburgh und dem Eriesee gelegen, für tot gehalten wurde. Hier
wurde 1859 zum ersten Mal auf der Welt erfolgreich nach Öl gebohrt und die erste Ölquelle erschlossen. Aber das Öl kam und ging
und mit ihm die Wirtschaft: Das Durchschnittseinkommen liegt
heute bei 25.000 US-Dollar jährlich; 16 Prozent der Bevölkerung
von Titusville leben unterhalb der Armutsgrenze, und vor einigen
Jahren erhielten rund 75 Prozent der Kinder, die einen Kindergarten
besuchten, staatliche Zu­schüs­se für das Mittagessen. Es ist keine
wohlhabende Gegend.
1999 besuchte McCord Naperville und verwandelte nach seiner Rückkehr fast über Nacht den Sportunterricht in Titusville.
Die 2.600 Schüler des Bezirks besuchen eine Highschool, eine
Mittelschule, vier Grundschulen und in eine Vorschule. Titusville
richtete in den höheren Schulen Fitnesscenter ein, kaufte Pulsuhren
44
Eine Fallstudie über körperliche Bewegung und das Gehirn
und überzeugte das örtliche Krankenhaus davon, die Finanzierung
der TriFit-Diagnostik zu unterstützen. Sogar der Schultag wurde
umstrukturiert, wobei der Stundenplan zusätzlich um zehn Minuten
verlängert und die theoretischen Schulfächer leicht gekürzt wurde,
um Zeit für eine tägliche Sportstunde zu gewinnen. „Es hat uns keinen Cent gekostet, das zu machen“, sagt McCord, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass dies auf Vorschlag eines Verwaltungsbeamten
veranlasst wurde. „Und es ist ein gewaltiger Fortschritt, nicht zuletzt auch bezüglich der gesetzlichen Vorgabe, wonach kein Kind
zurückbleiben soll – wobei alle anderen der­zeit genau in die andere
Richtung gehen.“
Jetzt gibt es an den höheren Schulen in Titusville Kletterwände,
und die Turnhallen sind voll mit den neuesten Trainingsgeräten,
die den jüngsten technologischen Errungenschaften entsprechen,
und die meisten davon sind gespendet. Der Cybex Trazer, zum
Bei­spiel, ist ein brandneues Gerät, das wie eine aufrecht stehende
Com­pu­ter­station aussieht, an dem Schüler aufblitzende Lich­ter jagen. Es gibt auch Fahr­rad­trainer, auf denen Kinder dank Video­
bild­schirmen miteinander um die Wette fahren oder Strecken der
Tour de France nachfahren und mit virtuellen Lance Armstrongs
konkurrieren können. McCord hat die Fitnesscenter der Schulen
auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und sie für Mitglieder
anderer Fitness-Klubs geöffnet. In den Schulen hat er Lehrer anderer Fächer animiert, ebenfalls mitzumachen: Englischschüler
nutzen die Pulsuhren jetzt beim öffentlichen Sprechen, und die
Mathematikschüler nutzen die Daten, um zu lernen, wie man etwas grafisch darstellt.
Seit Beginn des Programms im Jahr 2000 sind die Ergebnisse der
Schüler in Titusville in den Standardtests von einem unterdurch­
schnitt­lichen bundesstaatlichen Niveau im Lesen auf 17 Prozent
über dem Durch­schnitt und in Mathematik auf 18 Prozent über
dem Durch­schnitt gestiegen. Gleichermaßen wichtig sind die
psychos­o­zia­len Effek­te, die McCord aufgefallen sind: keine einzige
Schlägerei unter den 550 Kindern der Junior Highschool seit dem
Jahr 2000. Die Selbst­hilfe-Initiative des Bezirks hat zu Besuchen von
staatlichen Vertretern und sogar des Präsidenten der Zentren für
Gesundheitskontrolle geführt. Bei einem dieser Besuche, bei denen
45
Kapitel 1: Willkommen zur Revolution
das Projekt vorgeführt und erklärt wird, bemerkte McCord, als er
gerade eine Gruppe hinter der Klet­ter­wand der Junior Highschool
vorbeiführte, dass ein Mädchen namens Stephanie auf halber Höhe
stecken geblieben war. Ein etwas korpulentes Mädchen, das eher zu
denjenigen gehörte, die als Bücherwurm galten. Jetzt befand sie sich
auf dem Präsentierteller, alle konnten zusehen, wie sie versagte. Als
ihre Klassenkameraden jedoch bemerkten, wie sie zu kämpfen hatte,
begannen sie, sie anzufeuern: „Los, Stephanie, du schaffst es!“ Sie
schaffte es tatsächlich, nach oben zu kommen, und McCord sprach
später mit ihr. „Sie fing an zu weinen, und konnte nicht glauben, dass
die anderen Kinder sie anfeuerten“, erinnert sich McCord. „Sie sagte,
es half ihr dabei, sich buchstäblich hochzuziehen.“
Die Nachricht über die weit reichenden Auswirkungen von
Sport bei Schülern verbreitet sich auch in anderen offiziellen staatlichen Kreisen. Senator Tom Harkin aus Iowa hielt vor Kurzem
Anhörungen zur Wiedereinführung des Sportunterrichts an Schulen
ab, und zwar aufgrund von Meldungen, wonach eine PE4Life-Schule
in einer In­nen­stadt ihre Disziplinprobleme um 67 Prozent reduziert
hatte. An der Wood­land-Grundschule in Kansas City, Missouri, erhalten fast alle Schüler staatliche Zuschüsse zum Mittagessen. 2005
erweiterten die Sport­lehrer den Sportunterricht von einer Stunde
pro Woche auf 45 Minuten am Tag, wobei sie sich fast ausschließlich
auf Herz-Kreislauf-Ak­tivi­tä­ten konzentrierten. Innerhalb von nur
einem Schuljahr verbesserte sich das körperliche Fitnessniveau der
Schüler enorm, und die Bei­räte berichteten, dass Vorfälle, bei denen
Gewalt im Spiel gewesen sei, an der Woodland-Schule von 228 auf
95 im Jahr zurückgegangen waren.
Bei einer Schule im Innenstadtbereich ist ein derart schneller
Wan­del bemerkenswert, genauso wie das Aufblühen in einer wirtschaftlich so geschwächten Stadt wie Titusville. Leute wie McCord
kümmern sich um die Stephanies dieser Welt statt nur um das Foot­
ball-Team. Und in dem Zuge, wie die Schulkinder erwachsen werden, wird es ein größerer Prozentsatz sein, der weiterhin etwas für
seine Be­wegung tut und aktiv ist. Sie werden sich weiterhin ihr Kajak
oder Fahr­rad schnappen, statt sich hinter ihrem Gameboy zu verkriechen, und ihr Geist und ihre Stim­mung werden entsprechend
geschärft sein.
46
Eine Fallstudie über körperliche Bewegung und das Gehirn
Revolutionen bauen auf die Jugend. Aber wie wir bei Lawler, Zien­
tarski und McCord gesehen haben, können auch Erwachsene eine
wesentliche Wende herbeiführen und erkennen, wie körperliche
Aktivität das Gehirn beeinflusst. Wenn Titusville den Funken finden und entzünden konnte, dann können wir alle dies auch. Meine
Hoffnung ist, dass wir diese Beispiele als neues kulturelles Modell
nutzen und am Ende die Verbindung zwischen Körper und Gehirn
wieder herstellen kön­nen. Denn beides gehört zusammen, wie Sie
gleich sehen werden.
47
2. Lernen

Das Wachstum Ihrer
Gehirnzellen fördern
W
enn die Schüler in Titusville oder Naperville im Sport­
unterricht ihre Meile laufen, sind sie anschließend in den
anderen Unterrichtsfächern aufnahmebereiter und können besser
lernen: Ihre Sinne sind geschärft; ihr Konzentrationsvermögen und
ihre Stimmung sind besser; sie sind weniger unruhig, zappelig und
angespannt, und sie fühlen sich motivierter und stärker. Das Gleiche
gilt für Erwachsene in der Schule des Lebens. Das, was uns ermöglicht, all die Informationen und Dinge aufzunehmen, die auf uns
einströmen, ist genau der Punkt, an dem die revolutionäre neue
Wissenschaft ins Spiel kommt. Körperliche Bewegung oder Sport
fördern nicht nur unsere geistige und psychische Verfassung, sondern haben auch direkten Einfluss auf das Lernen, und zwar auf der
zellularen Ebene, indem sie das Potenzial des Gehirns verbessern,
Dinge aufzunehmen und neue Informationen zu verarbeiten.
Darwin lehrte uns, das Lernen der Überlebensmechanismus
ist, den wir nutzen, um uns der sich ständig verändernden Umwelt
anzu­pas­­­sen. In der Mikroumwelt des Gehirns bedeutet dies, dass
neue Ver­­bin­­dun­­gen zwischen den Zellen hergestellt werden müssen,
um Infor­­ma­tionen weiterzuleiten. Wenn wir etwas lernen, egal, ob
es ein fran­zösisches Wort oder ein Salsaschritt ist, verwandeln sich
Zellen, um diese Informationen zu verschlüsseln; die gespeicherten
49
Kapitel 2: Lernen
Daten werden ein physischer Teil des Gehirns. Als Theorie gibt es
diese Idee schon seit mehr als einem Jahrhundert, praktisch bestätigt
im Labor wurde sie jedoch erst kürzlich.
Was wir inzwischen wissen, ist, dass das Gehirn flexibel oder
plastisch ist, wie Neurowissenschaftler es formulieren – eher vergleichbar mit Knete als mit Porzellan. Es ist ein anpassungsfähiges Organ, das durch Input ebenso geformt werden kann, wie ein
Muskel durch Hanteltraining. Je mehr Sie dieses Organ oder den
Muskel benutzen, desto stärker und flexibler wird das Organ bzw.
der Muskel.
Das Konzept der Plastizität ist von grundlegender Bedeutung,
um zu verstehen, wie das Gehirn funktioniert und wie körperliche
Bewegung die Gehirnfunktion optimiert, indem sie diese Plastizität
unterstützt. Alles, was wir tun, denken und fühlen, wird dadurch
gesteuert, wie unsere Gehirnzellen oder Neuronen sich miteinander verbinden. Was die meisten Menschen sich als psychologischen
Hintergrund vorstellen, wurzelt in Wahrheit in der Biologie dieser Verbindungen. Eben­so werden unsere Gedanken und unser
Verhalten und unsere Um­welt auf unsere Neuronen reflektiert und
beeinflussen damit das Mus­ter der Verbindungen. Entgegen den
ursprünglichen Vorstellungen der Wis­sen­schaftler ist das Gehirn
alles andere als fest verdrahtet, es ver­drah­tet sich vielmehr ständig neu. Ich möchte Ihnen im Folgenden zeigen, wie Sie Ihr eigener
„Elektriker“ sein können.
Das Medium ist der Botschafter
Das Ganze ist eine Frage der Kommunikation. Das Gehirn besteht
aus einhundert Milliarden Neuronen verschiedenster Art, die mittels Hun­der­ter verschiedener Chemikalien miteinander kommunizieren, um jeden unserer Gedanken und jede unsere Handlungen
zu steuern. Jede Ge­hirn­zelle könnte von einhunderttausend anderen Zel­len einen Input er­hal­ten, bevor sie ihr eigenes Signal abfeuert. Die Verbindungsstelle zwischen den Zellen ist die Synapse, und
das ist der Punkt, auf den es ankommt. Synapsen berühren sich in
50
Das Wachstum Ihrer Gehirnzellen fördern
Wirklichkeit nicht, was etwas irritie­rend ist, da Neurowissenschaftler
davon sprechen, dass Synapsen sich „miteinander verschalten“, wenn
sie eine Verbindung herstellen. Es funktioniert so, dass ein elektrisches Signal durch das Axon läuft, den Fortsatz der Nervenzelle, bis
es die Synapse erreicht, wo ein Neurotransmitter die Botschaft in
chemischer Form aufnimmt und über den sogenannten synaptischen Spalt übermittelt. Auf der anderen Seite, am Dendrit bzw. an
der empfangenden Ver­äste­lung, bindet der Neurotransmitter sich
an einen Rezeptor – wie ein Schlüs­sel in einem Schloss –, sodass
Ionenkanäle in der Zellmembran geöffnet werden und das Signal
wiederum in Elektrizität umgewandelt wird. Übersteigt die elektrische Ladung einen bestimmten Schwellen­wert, feuert die Nervenzelle
ein Signal durch ihr eigenes Axon, und der ganze Prozess wiederholt sich.
Rund 80 Prozent der Signalübertragung im Gehirn erfolgt durch
zwei Neurotransmitter, die ihre Effekte gegenseitig im Gleichge­w icht
hal­ten: Glutamat regt die Aktivität an, mit der die Kaskade der Sig­­
nal­­über­tragung ausgelöst wird, und Gamma-Aminobuttersäure
(GABA) hemmt die Aktivität. Wenn Glutamat ein Signal zwischen
zwei Neuronen überträgt, die vorher noch nicht miteinander „gesprochen“ haben, wird durch diese Aktivität eine Verbindung angekurbelt. Je häu­figer die Verbindung aktiviert wird, desto stärker wird
die An­zie­h­ungs­k raft. Das ist es, was Neurowissenschaftler meinen,
wenn sie über Bindung sprechen. Neuronen, die zusammen feuern,
verschalten sich mit­einander. Das heißt, dass Glutamat ein wichtiger
Wirkstoff im Zu­­­sammenhang mit dem Lernen ist.
Glutamat ist ein Arbeitspferd, wobei die Psychiatrie sich jedoch mehr auf eine Gruppe von regulierenden Neurotransmittern
konzentriert, die den Signalübertragungsprozess und alles andere,
was das Gehirn tut, steuern. Dabei handelt es sich um Serotonin,
Noradrenalin und Dopamin. Und obwohl die Neuronen, die diese Neurotransmitter produzieren, nur ein Prozent der einhundert
Milliarden Zellen des Ge­hirns ausmachen, üben sie einen starken
Einfluss aus. Sie können ein Neuron anweisen, mehr Glutamat zu
produzieren, oder dafür sorgen, dass das Neuron effizienter ist,
oder die Sensitivität seiner Rezeptoren verändern. Sie können andere Signale überschreiben, die in der Synapse ankommen, und
51
Kapitel 2: Lernen
somit das „Rauschen“ im Gehirn reduzieren, oder umgekehrt diese
Signale verstärken. Wie Glutamat und GABA können sie Signale
direkt übertragen, ihre Hauptrolle besteht jedoch darin, den Fluss
an Informationen anzupassen, um die Neurochemikalien im Sinne
einer Feinabstimmung insgesamt im Gleichgewicht zu halten.
Serotonin, wovon Sie in späteren Kapiteln noch sehr viel mehr
lesen werden, wird oft als die Polizei des Gehirns bezeichnet, da
es hilft, die Hirnaktivität unter Kontrolle zu halten. Serotonin hat
Einfluss auf die Stimmung, auf Impulsivität, Wut und Aggressivität.
Wir verwenden serotoninhaltige Medikamente wie Fluoxetin (bekannt unter dem Markennamen Prozac in den USA bzw. als Fluc­tin
in Deutschland), da sie helfen, eine außer Kontrolle geratene Hirn­
aktivität zu modifizieren, die zu Depression, Ängsten und Zwangs­
stö­rungen führen können.
Noradrenalin, der erste Neurotransmitter, der von Wissen­schaft­
lern untersucht wurde, um Stimmungen zu verstehen, verstärkt vielfach Signale, die Einfluss auf die Aufmerksamkeit, Wahr­neh­mung,
Mo­­ti­va­tion und Aktivierung haben.
Dopamin, der Neurotransmitter, der mit Lernen, Belohnung (Be­
frie­­digung), Aufmerksamkeit und Bewegung assoziiert wird, übernimmt in verschiedenen Teilen des Gehirns manchmal widersprüch­
li­che Rol­len. Methylphenidat (bekannt als Ritalin) hat durch die
Er­­­hö­hung des Do­pa­minspiegels einen lindernden Effekt auf das Auf­
merk­­sam­keits­de­fi­zit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS), da der
Geist beruhigt wird.
Die meisten Medikamente, die wir zur Verbesserung der geistigen und psychischen Gesundheit verwenden, zielen auf einen oder
mehrere dieser Neurotransmitter ab. Ich hoffe jedoch, überdeutlich klarzustellen, dass durch einfaches Erhöhen oder Senken des
Spiegels eines Neurotransmitters kein klares Ergebnis im Verhältnis
1:1 erzielt wird, da das System so komplex ist. Durch die einfache
Manipulation eines Neurotransmitters entsteht ein wellenförmiger
Effekt, der in unterschiedlichen Gehirnen unterschiedliche Wege
geht und somit individuell unterschiedliche Auswirkungen hat.
Ich sage den Leuten: Joggen zu gehen, ist vergleichbar mit der
Ein­nah­me einer geringen Dosis Prozac und Ritalin, da diese Neuro­­
trans­mitter durch die sportliche Betätigung genauso erhöht werden
52
Das Wachstum Ihrer Gehirnzellen fördern
wie durch die Medikamente. Es ist eine griffige Metapher, um den
Punkt zu verdeut­lichen, auf den es ankommt. Wichtiger ist jedoch noch, dass die sport­­liche Betätigung für ein Gleichgewicht der
Neurotransmitter – und der übrigen Neurochemikalien im Gehirn
– sorgt. Und Ihr Gehirn im Gleich­­ge­w icht zu halten, kann Ihr Leben
verändern, wie Sie noch sehen werden.
Lernen heißt Wachsen
Als Neurowissenschaftler in den 1990ern anfingen, den zellularen
Mechanismus des Gedächtnisses zu analysieren, geriet BDNF in den
Mittelpunkt eines ganzen neuen Forschungsfeldes. Vor 1990, dem
Jahr, in dem Wissenschaftler entdeckten, dass BDNF im Gehirn vorkommt und Neuronen wie Dünger nährt, waren rund ein Dutzend
Papiere über BDNF veröffentlicht worden. Danach stürzten sich
„tsunami­artig Labors und Pharmaunternehmen“ darauf, sagt Eero
Castrén, ein Neu­­ro­w issenschaftler, der am Karolinska-Institut in
Schweden an den frühen Arbeiten über BDNF beteiligt war. Heute
findet man in der Forschungsliteratur mehr als 5.400 Papiere über
BDNF. Sobald klar war, dass BDNF im Hippocampus vorkommt,
einer Hirnregion, die mit dem Erinnerungs- und Lernvermögen verbunden ist, machten For­scher sich daran zu testen, ob BDNF ein
notwendiger Wirkstoff im Rahmen des Prozesses ist.
Lernen setzt eine Stärkung der Affinität zwischen Neuronen durch
einen dynamischen Mechanismus voraus, die sogenannte LangzeitPotenzierung (LTP). Wenn vom Gehirn verlangt wird, Informationen
aufzunehmen, führt diese Forderung natürlich zu Aktivitäten zwischen Neuronen. Je mehr Aktivität, desto stärker die Anziehungskraft,
und desto einfacher kann das Signal gefeuert und die Verbindung
hergestellt werden. Die ursprüngliche, auslösende Aktivität greift auf
vorhandene Glutamatbestände im Axon zurück, die über die Synapse
gesendet werden, und konfiguriert die Rezeptoren auf der empfangenden Seite neu, sodass diese das Signal annehmen. Die Spannung auf
der em­pfangenden Seite der Synapse wird im Ruhezustand stärker,
wodurch das Glutamatsignal wie ein Magnet angezogen wird. Hält
53
Kapitel 2: Lernen
das Feuern an, werden die Gene im Zellkern des Neurons eingeschaltet, um mehr „Baumaterial“ für die Synapsen zu produzieren. Und
diese Verstärkung der Infrastruktur ermöglicht es, dass die neuen
Informationen als Erinnerung haften bleiben.
Sagen wir, Sie lernen ein französisches Wort. Wenn Sie es
zum ersten Mal hören, feuern Nervenzellen, die für einen neuen
Schaltkreis rekrutiert wurden, ein Glutamatsignal untereinander
ab. Sofern Sie das Wort nie wieder gebrauchen und üben, schwindet die Anziehungskraft zwischen den beteiligten Synapsen natürlich, wodurch das Signal geschwächt wird. Sie vergessen es. Was
Gedächtnisforscher erstaunte – und dazu beitrug, dass Eric Kandel,
Neurowissenschaftler an der Columbia University, zusammen mit
anderen der Nobelpreis 2000 verliehen wurde, – war die Entdeckung,
dass die wiederholte Aktivierung oder Übung dazu führt, dass
die Synapsen wachsen und die Verbindungen stärker werden. Ein
Neuron ist wie ein Baum, der anstelle von Blättern Synapsen an
seinen dendritischen Verästelungen hat; schließlich wachsen neue
Verästelungen, mit denen noch mehr Synapsen entstehen, welche die
Verbindungen weiter festigen. Diese Veränderungen sind eine Form
der zellularen Anpassung, die als synaptische Plastizität bezeich­net
wird, und dabei steht BDNF im Mittelpunkt.
Die Forscher entdeckten bereits früh, dass Neuronen, die in einer
La­bor­schale mit BDNF besprenkelt wurden, automatisch neue Ver­
äste­­lun­­gen hervorbrachten und genau das strukturelle Wachstum
produzier­ten, das für das Lernen erforderlich ist, sodass ich BDNF
am Ende für eine Art „Wunderdünger“ für das Gehirn hielt.
BDNF bindet sich auch an Rezeptoren an der Synapse und setzt
dabei den Fluss von Ionen frei, was zu einer Erhöhung der Spannung
und einer sofortigen Verbesserung der Signalstärke führt. Im Inneren
der Zelle aktiviert BDNF Gene, welche die Produktion von mehr
BDNF und Serotonin sowie Proteinen verlangen, aus denen die
Synapsen aufgebaut werden. BDNF lenkt sozusagen den Verkehr und
baut auch die Straßen. Insgesamt verbessert BDNF die Funktion von
Neuronen, fördert ihr Wachstum und stärkt und schützt sie gegen
den natürlichen Prozess des Zelltodes. Und BDNF ist – wie ich in diesem Buch zu verdeutlichen hoffe –, ein entscheidendes biologisches
Bindeglied zwischen Gedanken, Emotionen und Bewegung.
54
Das Wachstum Ihrer Gehirnzellen fördern
Die Verbindung von Geist
und Körper
Nur ein bewegliches, mobiles Wesen braucht ein Gehirn, erklärt
der Neurophysiologe Rodolfo Llinás von der New York University
in seinem 2002 erschienenen Buch I of the Vortex: From Neurons to
Self. Um dies zu veranschaulichen, nutzt er das Beispiel eines winzigen quallenähnlichen Tieres, die sogenannte Seescheide: Die Larve
kommt mit einem einfachen Rückenmark und einem aus dreihundert Neuronen bestehenden „Gehirn“ zur Welt und schwimmt in
den Tiefen des Meeres herum, bis sie eine nette Koralle findet, auf der
sie sich niederlassen und sozusagen Wurzeln schlagen kann. Dafür
hat sie etwa zwölf Stunden Zeit, sonst stirbt sie. Sobald sie sich sicher
niedergelassen hat, isst die Seescheide jedoch einfach ihr Gehirn.
Den Großteil ihres Lebens ähnelt sie mehr einer Pflanze als einem
Tier, und da sie sich nicht bewegt, hat sie auch keine Verwendung
für ihr Gehirn. Llinás’ Interpretation: „Was wir Denken nennen, ist
die evolutionäre Internalisierung von Bewegung.“
Mit der Evolution unserer Spezies haben sich unsere physischen
Fer­tigkeiten in abstrakte Fertigkeiten entwickelt, wir haben gelernt
Dinge vorherzusagen, Abläufe oder Reihenfolgen festzulegen, zu
schätzen, zu planen, zu proben, uns selbst zu beobachten, zu beurteilen, Fehler zu korrigieren, Taktiken zu ändern, und uns an alles, was
wir gemacht haben, zu erinnern, um zu überleben. Die Schaltkreise
des Gehirns, die unsere frühen Vorfahren nutzten, um Signale zu
feuern, waren die gleichen, die wir heute nutzen, um Französisch
zu lernen.
Nehmen wir einmal das Kleinhirn (Zerebellum), das motorische Bewegungen koordiniert und es uns ermöglicht, alles Mögliche
zu tun, angefangen vom Zurückschlagen eines ankommenden
Tennisballs bis hin zum Widerstand, den wir gegen den Sog der
Anziehungskraft leisten. Dem Nachweis zufolge, dass der Stamm
von Nervenzellen, die das Kleinhirn mit dem präfrontalen Cortex
verbinden, bei Menschen proportional dicker ist als bei Affen, sieht
es jetzt so aus, als ob dieses motorische Zentrum auch Gedanken,
55
Kapitel 2: Lernen
Aufmerksamkeit, Emotionen und sogar soziale Fertigkeiten koordiniert. Ich bezeichne es gerne als das Rhythm & Blues-Zentrum.
Wenn wir uns körperlich betätigen, insbesondere wenn diese körperliche Betätigung komplexe motorische Bewegungen verlangt,
aktivieren wir auch die Regionen des Gehirns, die bei dem ganzen
Spektrum der kognitiven Funktionen involviert sind. Wir veranlassen das Gehirn dann, Signale durch das Netz von Zellen zu feuern,
was ihre Verbindungen festigt.
Wenn wir etwas lernen, wird eine ganze Reihe von Hirnregionen
aktiviert, die miteinander verbunden sind. Der Hippocampus macht
nicht viel ohne die Aufsicht des präfrontalen Cortex. Man könnte auch sagen, der präfrontale Cortex organisiert Aktivitäten, sowohl psychische als auch physische, empfängt Input und gibt durch
das am weitesten reichende Netz von Verbindungen im Gehirn
Anweisungen heraus. Der präfrontale Cortex ist der Boss. Als solcher ist er unter anderem dafür zuständig, unsere gegenwärtige
Situation durch das sogenannte Kurz­zeitgedächtnis zu kontrollieren, Reize zu hemmen und Handlungen zu initiieren, zu beurteilen, zu planen und vorherzusagen – das heißt, er ist verantwortlich
für alle exekutiven Funktionen. Als Generaldirektor des Gehirns
muss der präfrontale Cortex in engem Kontakt mit dem leitenden
Geschäftsführer – dem motorischen Cortex – sowie vielen anderen
Regionen bleiben.
Der Hippocampus ist so etwas wie der Kartograf, der neuen Input
vom Kurzzeitgedächtnis erhält, diese Informationen mit bereits vorhandenen Erinnerungen sowohl zu Vergleichszwecken abgleicht als
auch, um neue Assoziationen herzustellen, und das Ergebnis dem
Boss berichtet. Nach Überzeugung von Wissenschaftlern handelt
es sich beim Gedächtnis um eine Sammlung von Informa­tions­
fragmenten, die im ganzen Gehirn verstreut sind. Der Hippo­campus
dient als Streckenstation, welche die Fragmente vom Cortex empfängt, diese bündelt und als Karte mit einem einmaligen neuen
Muster von Verbindungen wieder zurücksendet.
Aufnahmen des Gehirns zeigen, dass der präfrontale Cortex aufleuchtet, wenn wir zum Beispiel ein neues Wort lernen, ein Zeichen,
dass er aktiv ist (ebenso wie der Hippocampus und andere dazugehörigen Regionen wie beispielsweise der auditive Cortex, die
56
Das Wachstum Ihrer Gehirnzellen fördern
sogenannte Hörrinde. Sobald der Schaltkreis durch das Feuern des
Glutamats eingerichtet und das Wort gelernt worden ist, wird der
präfrontale Cortex dunkel. Er hat die Anfangsphasen des Projektes
überwacht, und jetzt kann er die Verantwortung sozusagen einem Team fähiger Mitarbeiter überlassen, derweil er sich neuen
Herausforderungen zuwendet.
So kommt es, dass wir Dinge wissen und dass Aktivitäten wie
Radfahren uns zur zweiten Natur werden. Denk- und Bewegungs­
muster, die automatisch sind, werden in den Basalganglien, im
Kleinhirn und im Hirnstamm gespeichert – in primitiven Hirn­
re­gionen, von denen Wissenschaftler bis vor Kurzem annahmen,
dass sie nur mit der Be­we­gung zu tun hätten. Wenn grundlegendes Wissen und grundlegende Fertigkeiten an diese unterbewussten Regionen übertragen und dele­giert werden, steht es dem Rest
des Gehirns frei, sich der weiteren Anpassung zu widmen, was eine
wichtige Regelung im Sinne der Rol­len­ver­teilung ist.
Stellen Sie sich vor, wie es wäre, wenn wir innehalten und erst
nach­denken müssten, um einen Gedanken zu verarbeiten und um
uns in Erinnerung zu rufen, wie eine Handlung auszuführen ist. Wir
würden vor Erschöpfung zusammenbrechen, bevor wir uns auch nur
unsere erste Tasse Kaffee am Morgen eingießen könnten. Deshalb
ist ein morgendlicher Lauf so wichtig.
Der erste Funke
Bei der Recherche für mein Buch Das menschliche Gehirn stieß ich
1995 in der Zeitschrift Nature auf einen kurzen Artikel, der sich mit
körperlicher Bewegung und BDNF bei Mäusen befasste. Der Artikel
bestand kaum mehr als aus einer Textspalte, aber sie sagte alles aus.
Nämlich, dass körperliche Bewegung oder Sport den Spiegel des
„Wun­derdüngers“ im ganzen Gehirn erhöht.
„Ich erwartete, dass sich große Veränderungen in den motorischsensorischen Regionen des Gehirns einstellen würden – im motorischen Cortex, Kleinhirn, sensorischen Cortex, vielleicht sogar in
den Basalganglien –, weil sie alle an der Bewegung beteiligt sind“,
57
Kapitel 2: Lernen
erinnert sich Carl Cotman, Direktor des Institute for Brain Aging
and Dementia (zu Deutsch etwa: Gehirnalterung und Demenz) an
der University of California in Irvine, der die Studie entworfen hat.
„Wir entwickelten die ersten Filme und konnten es kaum glauben,
alles konzentrierte sich auf den Hippocampus. Nun, das ist deswegen von besonderer Bedeutung, da der Hippocampus eine Region
des Gehirns ist, die extrem anfällig für degenerative Krankheiten
ist und die für das Lernen benötigt wird. Spontan sagte ich: ‘Das
ändert das ganze Spiel.’“
Diese Nachricht kam für mich völlig unerwartet. Seit Jahren hatte ich mich zwar für körperliche Bewegung oder Sport bei ADHS
und vielen anderen psychischen Problemen auf der Grundlage
dessen aus­gesprochen, was ich bei meinen eigenen Patienten erlebt hatte und was ich über die Auswirkungen von körperlicher
Bewegung auf Neuro­trans­mitter wusste. Dies hier war jedoch etwas anderes. Indem aufgezeigt wurde, dass körperliche Bewegung
das Meistermolekül des Lernprozesses zündet, hatte Cotman einen direkten biologischen Zusammenhang zwischen Bewegung
und kognitiver Funktion hergestellt. Damit hatte er den Weg für
die wissenschaftliche Untersuchung körper­licher Bewegung in den
Neurowissenschaften freigemacht.
Cotman führte dieses Experiment durch, nicht lange, nachdem
BDNF im Gehirn entdeckt worden war, und nichts ließ darauf schließen, dass körperliche Bewegung irgendetwas damit zu tun hätte;
seine Hypothese war ein Akt reiner Kreativität. Er hatte gerade die
Arbeit an einer Langzeitstudie über das Altern abgeschlossen, mit
der untersucht werden sollte, ob diejenigen, deren Geist am längsten
intakt bleibt, irgendetwas gemeinsam haben. Bei denjenigen, bei denen über einen Zeitraum von vier Jahren der geringste Rückgang im
Rahmen der kognitiven Fähigkeiten festzustellen war, kristallisierten
sich drei Faktoren heraus: Bildung, Selbstvertrauen und körperliche
Bewegung. Die ersten beiden überraschten nicht so sehr, der letzte Punkt machte Cotman jedoch besonders neugierig. „Ich fragte
mich, was da wirklich vor sich ging“, sagt er. „Es wurde allgemein
angenommen, dass körperliche Bewegung keinen Einfluss auf das
Gehirn hat, meine Ergebnisse zeigten jedoch, dass es irgendwie mit
dem Gehirn zusammenhängen musste.“
58
Das Wachstum Ihrer Gehirnzellen fördern
Hätte man gefragt, welche Variable der Gehirngesundheit insgesamt
zugrunde liegt, hätten die meisten Wissenschaftler gleichzeitig gesagt, es seien neurotrophe (auf Nerven einwirkende) Faktoren, weil
sie damals „irgendwie in“ waren, sagt Cotman, und jeder wusste,
dass BDNF den Neuronen half, in-vitro zu überleben. Es war ein
gewisser Sprung, aber wenn es Cotman gelang, die Verbindung zwischen körperlicher Be­wegung und BDNF herzustellen, hatte er zumindest eine plausible Er­k lä­rung dafür, warum BDNF in der Studie
über das Altern auftauchte.
Er baute einen Versuch auf, um den Spiegel von BDNF im Gehirn
von Mäusen zu messen, die sich körperlich betätigen. Wichtig war,
dass sie sich freiwillig körperlich betätigten, denn hätte er die Mäuse
gezwungen, in Tretmühlen zu laufen, dann, so seine Befürchtung,
hätten seine Kollegen sagen können, der Effekt sei auf den so verursachten Stress zurückzuführen. Kein Problem: Er nutzte Laufräder.
Wie neu dieses Terrain war, mag allein schon die Tatsache zeigen, dass
es gar nicht so einfach war, Geräte für Nagetiere zu finden, die zur
Nutzung im Labor von der Universität genehmigt wurden – Cotman
musste 1.000 US-Dollar für jedes der Edelstahllaufräder zahlen, das
den Anforderungen des Protokolls entsprach. „Ich erinnere mich
noch, wie ich die Bestellung unterschrieben und gedacht habe: Das
tut weh. Ich hoffe nur, dass es jetzt wenigstens funktioniert“, bemerkt er scherzhaft. Hinzu kam, dass keiner seiner promovierten
wissenschaftlichen Mitarbeiter etwas mit diesem Forschungsprojekt
zu tun haben wollte, und er musste lange unter seinen Studenten
im Aufbaustudium suchen, bis er einen fand, der im Hauptfach
Physiotherapie studierte und dem die Idee gefiel.
Im Unterschied zu Menschen scheinen Nagetiere von Natur aus
Spaß an körperlicher Aktivität zu haben. Cotmans Mäuse liefen
mehrere Kilometer pro Nacht. Sie wurden in vier Gruppen unterteilt: Mäuse, die zwei, vier oder sieben Nächte liefen, und eine Kon­
trollgruppe, die kein Laufrad hatte. Als in ihr Gehirn ein Molekül
injiziert wurde, das sich an BDNF anbindet, zeigten die Aufnahmen
der Gehirne der lauffreudigen Nagetiere nicht nur eine Erhöhung des
BDNF-Spiegels gegenüber der Kontrollgruppe, sondern auch, dass der
Spiegel sich noch erhöhte, je weiter eine Maus lief. Als Cotman die
Ergebnisse sah, glaubte er es selbst nicht: Sie zeigten, dass der Impuls
59
Kapitel 2: Lernen
im Hippocampus stattfand. „Ich sagte: ‘Nein, Jungs, wir haben etwas falsch gemacht; der verdammte Hippocampus leuchtet auf.’ Wir
mussten das Experiment wiederholen, es war einfach zu abwegig. Und
das machten wir dann, und wir bekamen die gleichen Ergebnisse.“
Da die Geschichten von BDNF und körperlicher Bewegung sich
parallel entwickelten, wurde klar, dass BDNF nicht nur für das
Überleben von Neuronen, sondern auch für ihr Wachstum wichtig
war (indem BDNF neue Verästelungen wachsen ließ) und somit für
das Lernen. Eero Castrén und Susan Patterson vom Kandel-Labor
an der Columbia Uni­ver­sity stellten fest, dass der BDNF-Spiegel sich
erhöhte, wenn man bei Mäusen die Langzeit-Potenzierung (LPT)
stimulierte, indem man sie etwas lernen ließ. Als sie in ihr Gehirn
schauten, stellten die For­scher fest, dass Mäuse ohne BDNF ihre
Fähigkeit für LPT verlieren, und umgekehrt wurde die LangzeitPotenzierung (LPT) unterstützt, wenn man den Ratten BDNF direkt
ins Gehirn injizierte.
Dann wies der Neurochirurg Fernando Gomez-Pinilla, einer von
Cot­mans ehemaligen promovierten wissenschaftlichen Mitarbeitern,
nach, dass Mäuse, in deren Gehirn BDNF neutralisiert wurde, nur
langsam ihren Weg auf sicheres Terrain aus einem Pool fanden, in
dem man eine Plattform versteckt hatte. All dies summiert sich zu
dem soliden Nachweis, wie körperliche Bewegung dem Gehirn beim
Lernen hilft.
„Eines der herausragendsten Merkmale von körperlicher Bewe­
gung, das in Studien manchmal nicht gewürdigt wird, ist eine Ver­
bes­se­rung der Geschwindigkeit des Lernens, und ich denke, das ist
wirklich eine tolle Nachricht“, sagt Cotman. „Denn sie legt den
Schluss nahe, dass man, wenn man in guter Verfassung ist, effizienter lernen und funk­tio­nieren kann.“
Deutsche Forscher stellten 2007 bei einer Studie mit Menschen
fest, dass Personen nach sportlicher Betätigung Vokabeln 20 Prozent
schneller lernen als vorher, und dass ein direkter Zusammenhang
zwischen der Geschwindigkeit des Lernens und dem BDNF-Spiegel
bestand. Entsprechend ist es bei Personen, bei denen eine genetische Variation vorliegt, die ihnen BDNF vorenthält, wahrscheinlicher, dass sie unter Lerndefiziten leiden. Ohne den „Wunderdünger“
schottet sich das Gehirn von der Welt ab.
60
Das Wachstum Ihrer Gehirnzellen fördern
Widerwillig hat die Psychiatrie die Idee akzeptiert, dass sportliche
Betätigung bei der Verbesserung unserer geistigen und psychischen
Verfassung hilfreich sein könnte, indem eine fürs Lernen förderliche
Umwelt geschaffen wird. Cotmans Arbeit hat jedoch die Grundlage
für den Nachweis geliefert, dass körperliche Bewegung die zellulare Maschinerie des Lernens stärkt. BDNF liefert den Synap­sen
das Werkzeug, das sie benötigen, um Informationen aufzunehmen, sie zu ver­arbeiten, zu assoziieren, zu erinnern und in einen
Zusammenhang zu stellen. Was nicht heißen soll, dass gleich ein
Genie aus Ihnen wird, wenn Sie joggen gehen. „Man kann nicht einfach BDNF injizieren und dann klüger sein“, erklärt Cotman. „Beim
Lernen geht es darum, dass man in einer anderen Weise auf etwas
reagieren muss. Aber dieses Etwas muss da sein.“
Und was dieses Etwas ist, ist ohne jede Frage entscheidend.
Die Art der Umwelt
All die Jahre gingen Wissenschaftler von der Theorie aus, dass Ler­
nen mit Veränderungen an den Synapsen verbunden sei – angefangen von Ramón y Cajal, der 1906 den Nobelpreis für die These erhielt, das zentrale Nervensystem bestehe aus einzelnen Neuronen,
die an, wie er es nannte, polarisierten Verbindungen miteinander
kommunizieren. Trotz der hohen Auszeichnung teilten die meisten
Wissenschaftler diese Auffassung nicht.
Erst 1945 stieß Donald Hebb, ein Psychologe an der McGill Uni­
ver­si­t y, auf einen Hinweis, der die These belegen sollte. In jenen
Tagen waren die Laborregeln noch ziemlich locker. Jedenfalls hielt
Hebb es offensichtlich für eine gute Idee, einige Laborratten vorübergehend als Haustiere für seine Kinder mit nach Hause zu nehmen.
Die Idee erwies sich für beide Seite als nützlich: Als er die Ratten wieder ins Labor zurückbrachte, stellte Hebb fest, dass sie im Vergleich
zu ihren Artgenossen, die die ganze Zeit in ihren Käfigen gefangen
gehalten worden waren, ausgezeich­net bei Lerntests abschnitten. Die
neue Erfahrung, dass sich jemand mit ihnen beschäftigte und spielte, hatte ihre Lernfähigkeit verbessert, und das interpretierte Hebb
61
Kapitel 2: Lernen
so, dass dies ihr Gehirn verändert hatte. In seinem viel gepriesenen Lehrbuch The Or­ganization of Behaviour: A Neuro­psy­cho­lo­gical
Theory beschrieb er das Phä­nomen als „gebrauchsabhängige Plas­
tizität“. Seine Theorie war, dass Synap­sen sich unter dem Einfluss
der Sti­mu­lation des Lernens selbst neu anordnen.
Hebbs Arbeit ist in Zusammenhang mit körperlicher Bewegung
zu sehen, da jede körperliche Aktivität eine neue Erfahrung darstellt, zu­mindest was das Gehirn angeht. In den 1960er-Jahren führte
eine Gruppe von Psychologen einen Modellversuch zur sogenannten „Be­rei­che­rung der Umwelt“ durch, um die gebrauchsabhängige
Plas­ti­zi­tät zu testen. Statt die Nagetiere mit nach Hause zu nehmen,
statteten die Forscher ihre Käfige mit Spielzeugen, Hindernissen,
verstecktem Futter und Laufrädern aus. Sie brachten die Tiere auch
gruppen­weise zusammen, sodass sie Kontakt miteinander haben
und spielen konnten.
Es ging allerdings nicht nur friedlich und liebevoll zu, und am
Ende wurde das Gehirn der Tiere seziert. Die Untersuchungen zeigten, dass die Struktur und Funktion des Gehirns durch das Leben in
einer Umwelt mit mehr sensorischen und sozialen Reizen verändert
wurde. Die Ratten kamen nicht nur besser mit Lernaufgaben zurecht,
ihr Gehirn wog auch mehr im Vergleich zu dem der Ratten, die allein in nackten Käfigen untergebracht waren. Hebbs Definition von
Plastizität hatte die Frage des Wachstums nicht berücksichtigt.
„Dies war zu einer Zeit, in der es nahezu an Häresie gegrenzt
hätte, zu sagen, dass das Gehirn sich durch Erfahrung tatsächlich
verändern könnte, insbesondere physisch“, sagt der Neuro­w is­sen­
schaf­t ler William Greenough, der damals als junger Student im Auf­
baustudium sehr an der Arbeit in Berkeley interessiert war.
Greenough wollte den Aspekt der Bereicherung der Umwelt eigentlich untersuchen, ließ sich durch die Warnungen anderer jedoch
abschrecken. „Mein Berater sagte mir im Prinzip: ‘Wenn du das für
deine Diplomarbeit wählst, landest du mit Sicherheit in Vietnam’“,
erinnert sich Greenough. Da die Ergebnisse von Berkeley jedoch re­
pli­ziert wurden, setzte sich die Vorstellung zunehmend durch, dass
Er­fah­run­gen Einfluss auf das Gehirn haben konnten. Bei einem parallelen For­schungsansatz wies eine Gruppe von Harvard-Wissen­
schaft­lern zudem das Gegenteil nach, nämlich, dass das Gehirn
62
Das Wachstum Ihrer Gehirnzellen fördern
durch Umwel­t­de­pri­vation schrumpfen konnte. Bei der Untersuchung
von Ratten, die mit einem zugenähten Auge großgezogen worden
waren, stellten sie fest, dass der visuelle Cortex (Sehrinde) wesentlich kleiner war. All diese Ar­bei­ten führten zu der Metapher, dass
das Gehirn ein Muskel sei und man es gebrauchen muss oder es
sonst verliert.
Abgesehen von der Herausforderung, die dies für die langjährige Tren­nung zwischen Biologie und Psychologie darstellte, waren die Im­p­li­ka­tionen radikal, die mit der Frage einer anregenden
Umwelt verbunden waren. Die Berkeley-Studien führten dazu, dass
ein Bundes­bil­dungs­pro­­gramm namens Head Start geschaffen wurde,
im Rahmen dessen Mittel bereitgestellt wurden, um benachteiligte
Kinder in die Vorschule zu schicken. Warum sollten arme Kinder in
nackten Käfigen sitzen gelassen werden? Der Forschungsansatz war
ins Rollen gekommen, und Neu­ro­w issen­schaftler begannen, verschiedene Wege und Möglichkeiten zu untersuchen, wie das Wachs­
tum des Gehirns stimuliert werden kann.
Nachdem Greenough als Fakultätsmitglied an der University of
Illi­nois untergekommen war, wendete er sich wieder diesem For­­­
schungs­bereich zu. In einer wegweisenden Studie Anfang der 1970erJahre verwendete er ein Elektronenmikroskop, um zu zeigen, dass
eine an­regende Umwelt bewirkte, dass die Neuronen neue Den­
dri­ten her­vor­brach­ten. Die neuen Verästelungen, die der stimulierenden Umwelt aus Lernen, körperlicher Bewegung und sozialen
Kontakten zu verdanken waren, bewirkten, dass die Synapsen mehr
Ver­bindungen herstellten, und diese Verbindungen hatten dickere
Myelinschichten, die es ihnen wiederum ermöglichten, Signale effizienter zu feuern.
Heute wissen wir, dass BDNF für dieses Wachstum erforderlich ist. Diese Umstrukturierung der Synapsen hat einen gewaltigen
Einfluss auf die Fähigkeit der Schaltkreise, Informationen zu verarbeiten – was eine äußerst gute Nachricht ist. Denn das bedeutet,
dass es in Ihrer Macht steht, Ihr Gehirn zu verändern. Sie brauchen
nichts weiter zu tun, als Ihre Laufschuhe anzuziehen.
63
Kapitel 2: Lernen
Die Plastizität erweitern
Als sich das Konzept der synaptischen Plastizität in den Neuro­w is­
senschaften durchsetzte, gewann eine noch radikalere Vorstellung
von Wachstum an Glaubwürdigkeit. Im 20. Jahrhundert wurde
in weiten Teilen das wissenschaftliche Dogma hochgehalten, wonach das Gehirn, nachdem es in der Adoleszenz voll entwickelt ist,
vollständig ver­drahtet sei. Die Annahme war, dass wir mit allen
Neuronen geboren wurden, die wir bekommen sollten. Wir konnten Synapsen um­strukturieren, wie es uns gefiel, aber Neuronen
konnten wir nur verlieren. Den Rückgang konnten wir zweifellos
beschleunigen, was so manch ein Biologielehrer vielleicht auch angesprochen hat, um Sie als Minderjährige vom Trinken abzuschrecken. „Denkt daran: Alkohol tötet Gehirnzellen, und die wachsen
nie wieder nach.“
Ist das wirklich so? Nein, denn sie wachsen nach, und zwar zu
Tau­senden. Aber erst, nachdem Wissenschaftler moderne Bild­­ge­­bungs­ins­­tru­mente nutzen konnten, die es ihnen ermöglichten,
einen Blick ins Gehirn zu werfen, fanden sie stichhaltige Belege
dafür, die 1998 in einem bahnbrechenden Papier veröffentlicht
wurden. Sie kamen aus einer Quelle, bei der man sicher nicht unbedingt vermutet hätte, auf solche neu­ro­w issenschaftlichen Er­
kenntnisse zu stoßen. Krebspatienten wird manchmal ein Kon­
trastmittel zur Sichtbarmachung von Zell­ver­­meh­run­gen injiziert,
um die Aus­brei­tung der Krankheit erkennen zu können. Forscher
schauten sich das Gehirn todkranker Patienten an, die ihren Körper
der Wissenschaft gespendet hatten, und stellten fest, dass deren
Hippo­cam­pus voller Kontrastmittel war. So konnte nachgewiesen
werden, dass Neuronen sich teilten und vermehrten – im Rahmen
eines Prozesses, der als Neurogenese bezeichnet wird –, genau wie alle
anderen Zellen im Körper. Das war die offizielle Bestätigung für eine
der größten Ent­deckungen in den Neurowissenschaften.
Seither bemühen sich Neurowissenschaftler von Stockholm über
Südkalifornien bis Princeton, New Jersey, dahinter zu kommen, was
unsere neuen Gehirnzellen tatsächlich tun. Die Implikationen sind
weit reichend angesichts der Tatsache, dass die grundlegende Ursache
64
Das Wachstum Ihrer Gehirnzellen fördern
degenerativer Krankheiten wie Parkinson und Alzheimer sterbende
und beschädigte Zellen sind. Das Altern selbst ist eine Frage sterbender Zellen. Und plötzlich stellten wir fest, dass das Gehirn eine eingebaute Gegenmaßnahme hat, zumindest in bestimmten Bereichen.
Somit galt es herauszufinden, wie die Neurogenese angestoßen wird,
um vielleicht Ersatzteile für das Gehirn schaffen zu können.
Und was bedeutet all das für ein gesundes Gehirn? Einer der ersten Hinweise auf die Neurogenese kam aus Studien über Meisen, die
in jedem Frühjahr neue Lieder lernen und in deren Hippocampus
auch ein erhebliches Wachstum neuer Zellen zu verzeichnen war.
Zufall? Die neuen Zellen wiesen darauf hin, dass hier ein gewisser Zusammenhang zum Lernen bestand, es war jedoch schwierig, eindeutige Belege dafür zu finden. Genau wie die synaptische
Plastizität, „ist die Neurogenese eindeutig in unsere Interaktionen
mit unserer Umwelt sowohl emotional als auch kognitiv involviert“,
sagt der Neurowissenschaftler Fred Gage vom Salk Institute in La
Jolla, Kalifornien. Gage war einer der Forscher, zusammen mit Peter
Eriksson aus Schweden, der die wegweisende Studie 1998 durchgeführt hatte. „Herauszufinden, was [bei der Neurogenese] genau
passiert, ist ein wirklich interessantes Problem.“
Neuronen werden als unbeschriebene Stammzellen geboren
und durch­laufen einen Entwicklungsprozess, bei dem sie, um zu
überleben, etwas finden müssen, das sie tun. Den meisten gelingt
dies nicht. Es dauert etwa 28 Tage, bis eine neu gebildete Zelle sich
in ein Netzwerk integriert, und genau wie bei bereits vorhandenen Neuronen, würde Hebbs Konzept vom gebrauchsabhängigen
Lernen hier gelten: Wenn wir die neu­­geborenen Neuronen nicht
nutzen, verlieren wir sie. Gage griff auf das Modell der anregenden
Umwelt zurück, um diese Idee bei Nagetieren zu testen. „Als wir
mit unseren Versuchen begannen, haben wir alles Mög­liche ausprobiert“, erklärt Gage. „Wir mussten experimentieren und versuchen, es herauszukitzeln. Und zu unserer Überraschung stellten wir
fest, dass die Anbringung eines einfachen Laufrades im Käfig einen
weit reichenden Effekt auf die Anzahl der Zellen hatte, die geboren
wurden. Ironischerweise starb jedoch unabhängig vom Laufen in
beiden Gruppen der gleiche Prozentsatz an Zellen – bei den laufenden Tieren hat man jedoch einen größeren Aus­gangs­pool. Damit
65
Kapitel 2: Lernen
eine Zelle jedoch überleben und sich integrieren kann, muss sie ihr
Axon feuern.“ Sportliche Betätigung bewirkt, dass Neuronen sich
vermehren, und eine stimulierende Umwelt hilft, dass diese Zellen
überleben.
Die erste solide Verbindung zwischen Neurogenese und Lernen
wurde von einer Kollegin von Gage, Henrietta van Praag, hergestellt.
Bei ihrem Experiment nutzten die Forscher einen nagetiergroßen,
mit trübem Wasser gefüllten runden Pool und versteckten unmittelbar unter der Oberfläche in einem Viertelkreis eine Plattform. Mäuse
mögen kein Wasser, sodass mit dem Experiment getestet werden
sollte, wie gut sie sich beim zweiten Eintauchen an den Standort der
Plattform erinnern können – ihren Fluchtweg.
Verglich man inaktive Mäuse mit anderen, die in einer Nacht vier
bis fünf Kilometer im Laufrad zurücklegten, zeigten die Ergebnisse,
dass die Läufer sich schneller daran erinnerten, wo Sicherheit zu finden war. In beiden Gruppen schwammen die Mäuse gleich schnell,
aber die „trainierten“ Tiere suchten schnurstracks die Plattform auf,
während ihre bewegungsärmeren Artgenossen lange herumplanschten, bevor sie auf die Lösung kamen. Als die Mäuse seziert wurden, stellte man fest, dass sich im Hippocampus der aktiven Mäuse
im Vergleich zu ihren inaktiven Artgenossen doppelt so viele neue
Stammzellen befanden. „Es gibt einen signifikanten Zusammenhang
zwischen der Gesamtzahl der Zellen und der Fähigkeit [einer
Maus], eine komplexe Aufgabe zu erfüllen“, stellte Gage zu diesen
Erkenntnissen fest. „Und wenn man die Neurogenese blockiert, können Mäuse sich an Informationen nicht erinnern.“
Auch wenn alle diese Forschungen sich auf Nagetiere beziehen,
kann man doch sehen, welche Rückschlüsse sich daraus möglicherweise für die Kinder in Naperville ergeben: Der Sportunterricht liefert dem Gehirn die richtigen Werkzeuge, um zu lernen, und die
Sti­mu­la­tion im Unterricht fördert und unterstützt diese neu in der
Entwicklung begriffenen Zellen, sich ins Netzwerk zu integrieren,
wo sie wertvolle Mitglieder der Signal gebenden Gemeinschaft werden. Die Neuronen haben eine Aufgabe. Und es scheint, dass Zellen,
die sich bei sportlicher Betätigung vermehrt haben, besser gerüstet sind, die sogenannte Langzeit-Potenzierung (LTP) auszulösen.
Sie sind plastische Phänomene, die die Neurowissenschaftlerin an
66
Das Wachstum Ihrer Gehirnzellen fördern
der Princeton University, Elizabeth Gould, zu dem Schluss gelangen ließen, dass unsere neuen Neuronen vielleicht eine Rolle spielen, wenn wir bewussten Gedanken nachhängen, während der präfrontale Cortex darüber entscheidet, ob sie im Langzeitgedächtnis
verankert werden sollen. Gould war die Forscherin, die als Erste
zeigte, dass bei Primaten neue Neuronen gebildet werden, und sie
ebnete damit den Weg für Experimente über die Neurogenese im
menschlichen Gehirn.
Gould und alle, die auf dem Gebiet der Neurowissenschaften arbeiten, sind nach wie vor dabei, die Beziehung zwischen Neurogenese
und Lernen zu entschlüsseln. Und körperliche Bewegung oder Sport
sind dabei ein wichtiges Laborinstrument. Interessant finde ich allerdings, dass relativ wenige Wissenschaftler körperliche Bewegung
oder Sport untersuchen, weil sie sich für die Frage der körperlichen
Bewegung interessieren. Sie lassen die Mäuse vielmehr laufen, weil dadurch „die Neurogenese massiv erhöht“ wird, wie der Titel einer 2006
in der Zeitschrift Hippocampus veröffentlichten Studie verhieß, und
dies den Forschern ermöglicht, die dem Prozess zugrunde liegende
Signalkette zu zerlegen und zu analysieren. Denn diese Informationen
benötigen die Pharmaunternehmen, um neue Medikamente herzustellen. Sie träumen von einer Anti-Alzheimer-Pille, die Neuronen
regeneriert, sodass das Gedächtnis intakt bleibt. „Es muss eine chemische Substanz im [Hippocampus] geben, die sportliche Betätigung
wahrnimmt und sagt: ‘Okay, kurbeln wir die Produktion neuer Zellen
an’“, sagt der Neurologe Scott Small von der Columbia University, der
kürzlich eine neuartige Magnet­reso­nanztechnologie nutzte, um die
Neurogenese bei lebenden Ver­suchs­personen zu verfolgen. „Wenn wir
diese molekularen Pfade identifizieren können, könnten wir vielleicht
clevere Wege und Mög­lichkeiten finden, um die Neurogenese biochemisch anzustoßen.“
Stellen Sie sich vor, sie könnten körperliche Betätigung einfach
in eine Flasche stecken.
67
Kapitel 2: Lernen
Die Verbindung von Körper
und Geist
Wenn sich neue Zellen entwickeln, brauchen wir „Dünger“ für sie,
und die neurogenetische Forschung hat diesbezüglich von Anfang
an auf den neurotrophen Faktor (BDNF) gesetzt. Den Forschern
war klar, dass unser Gehirn ohne „Wunderdünger“ keine neuen
Informationen auf­nehmen kann. Und jetzt haben sie festgestellt,
dass BDNF auch ein not­wendiger Bestandteil für die Herstellung
neuer Zellen ist.
BDNF sammelt sich in Reservepools in der Nähe der Synapsen
und wird freigesetzt, wenn sich die Herzfrequenz erhöht und der
Blut­k reis­lauf in Schwung kommt. Bei diesem Vorgang tritt eine
Reihe von Hormonen im Körper in Aktion, womit wir zu weiteren Buch­staben­kürzeln kommen: IGF-1 (insulinähnlicher Wachs­
tums­fak­tor), VEGF (vaskulärer endothelialer Wachstumsfaktor)
und FGF-2 (Fibroblasten-Wachs­tumsfaktor-2). Bei sportlicher
Betätigung durchstoßen diese Fak­toren die Blut-Hirn-Schranke,
ein Netz von Kapillaren mit dicht beieinanderliegenden Zellen, die
Masseneindringlinge wie Bakterien aussieben. Erst unlängst haben Wissenschaftler festgestellt, dass diese Faktoren, sobald sie im
Gehirn ankommen, mit BDNF zusammen­arbeiten, um die molekulare Maschinerie des Lernens anzukurbeln. Sie werden auch im
Gehirn produziert und fördern die Stammzellteilung, insbesondere bei sportlicher Betätigung. Die weiter reichende Be­deu­tung ist,
dass diese Faktoren einer direkten Verbindung vom Körper zum
Gehirn folgen.
Nehmen wir den insulinähnlichen Wachstumsfaktor IGF-1, ein
Hor­mon, das von den Muskeln freigesetzt wird, wenn diese spüren,
dass ein Mehrbedarf an Brennstoff bei einer Aktivität besteht. Glu­
ko­se ist die Haupt­­energiequelle für unsere Muskeln und die einzige Energiequelle fürs Gehirn, und IGF-1 arbeitet mit Insulin, um
Glu­ko­se zu den Zellen zu transportieren. Interessant ist, dass die
Rolle von IGF-1 im Gehirn sich nicht auf die Brennstoffverwaltung
bezieht, sondern auf das Lernen – vermutlich, damit wir uns daran
68
Das Wachstum Ihrer Gehirnzellen fördern
erinnern können, wo wir Nahrung in der Umwelt finden. Bei körperlicher Bewegung hilft BDNF dem Gehirn, die Aufnahme von
IGF-1 zu erhöhen, und es aktiviert Neuronen zur Produktion der
Signal sendenden Neurotransmitter Serotonin und Glu­ta­mat. Dann
regt es die Pro­duk­tion weiterer BDNF-Rezeptoren an und stärkt die
Verbindungen zur Festi­gung des Gedächtnisses. BDNF scheint ins­
besondere wichtig für das Langzeitgedächtnis zu sein.
Das erscheint im Licht der Evolution absolut einleuchtend: Wenn
wir alles andere einmal weglassen, dann brauchen wir deshalb eine
Fähig­keit zum Lernen, weil sie uns hilft, Nahrung zu finden, zu beschaffen und zu lagern. Wir benötigen Brennstoff, um zu lernen,
und wir müssen lernen, um eine Brennstoffquelle zu finden – und
all diese Bot­schafter im Körper halten den Prozess am Laufen und
sorgen dafür, dass wir uns anpassen und überleben.
Um neue Zellen mit Brennstoff zu versorgen, benötigen wir
neue Blutgefäße. Wenn in den Zellen unseres Körpers der Sauerstoff
knapp wird, was der Fall sein kann, wenn sich unsere Muskeln bei
kör­perlicher Bewegung zusammenziehen, dann wird der vaskuläre endotheliale Wachstumsfaktor (VEGF) auf den Plan gerufen,
um mehr Kapillare in Körper und Gehirn entstehen zu lassen. Ein
Grund, warum VEGF bei der Neurogenese von entscheidender
Bedeutung ist, so vermuten die Forscher, spielt seine Rolle bei der
Ver­änderung der Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke, und zwar
indem VEGF den „Zaun umlegt“, um andere Faktoren bei sportlicher Betätigung durchzulassen.
Ein weiteres wichtiges Element, das seinen Weg vom Körper ins
Gehirn sucht, ist der Fibroblasten-Wachstumsfaktor-2 (FGF-2), der,
genau wie IGF-1 und VEGF, sich bei sportlicher Betätigung erhöht
und notwendig für die Neurogenese ist. Im Körper unterstützt FGF-2
das Gewebewachstum und im Gehirn ist es für den Prozess der
Langzeit-Potenzierung (LTP) wichtig.
Mit dem Alterungsprozess wird die Produktion dieser drei Fak­
to­­ren und auch von BDNF natürlich gedrosselt und damit auch
die Neurogenese reduziert. Aber sogar bevor wir alt werden, kann
ein Rückgang dieser Faktoren und der Neurogenese bei Stress und
Depressionen zum Tra­gen kommen, wie wir später noch sehen
werden. Für mich sind dies in Wirklichkeit jedoch ermutigende
69
Kapitel 2: Lernen
Nachrichten, denn wenn körperliche Bewegung die Spiegel von
BDNF, IGF-1, VEGF und FGF-2 erhöht, bedeutet dies, dass wir eine
gewisse Kontrolle über die Situation haben.
Es geht um Wachstum versus Verfall, Aktivität versus Inaktivität.
Der Körper ist dazu angelegt, angetrieben zu werden, und indem
wir unseren Körper antreiben, treiben wir auch unser Gehirn an.
Unser Lern- und Erinnerungsvermögen hat sich gemeinsam mit den
motorischen Funk­tionen entwickelt, die es unseren Vorfahren ermöglichten, Nahrung zu finden. Und für unser Gehirn bedeutet
dies: Wenn wir uns nicht bewegen, besteht auch nicht wirklich eine
Notwendigkeit, etwas zu lernen.
Bewegen Sie sich im Rahmen
Ihrer Möglichkeiten
Sie wissen nun, wie körperliche Betätigung das Lernvermögen
auf drei Ebenen verbessert: Erstens optimiert sie Ihre geistige
Haltung durch Verbesserung der Wachsamkeit, Aufmerksamkeit
und Motivation. Zwei­tens bereitet sie Nervenzellen darauf vor und
unterstützt sie, sich miteinander zu verbinden, was die zellulare
Grundlage für die Auf­nahme neuer Informationen ist. Drittens
fördert sie im Hippo­cam­pus die Entwicklung neuer Nervenzellen
aus Stammzellen.
So weit so gut, aber nun möchten Sie sicher wissen, wie der
beste Übungsplan für Sie aussieht. Ich wünschte, es gäbe die ideale Art und Menge an Aktivitäten, die ich Ihnen für den Aufbau
Ihres Gehirns vorschlagen könnte. Wissenschaftler haben jedoch
gerade erst damit begonnen, diese Fragen aufzugreifen. „Solche
Forschungen sind noch von niemandem durchgeführt worden“, sagt
William Greenough. „Ich vermute jedoch, dass wir in fünf Jahren
weitaus mehr wissen.“
Dennoch können wir aus den bereits vorliegenden Forschungs­
er­geb­nissen gewisse Schlussfolgerungen ziehen. Etwas, was die Wis­
sen­schaft­ler bereits mit Sicherheit wissen, ist jedoch, dass man keinen
70
Das Wachstum Ihrer Gehirnzellen fördern
schwierigen Stoff lernen kann, während man sich mit hoher Intensität
sport­lich betätigt, da dabei das Blut aus dem präfrontalen Cortex verdrängt wird, was die exekutive Funktion behindert. Während Col­
lege-Studenten zum Beispiel 20 Minuten auf dem Laufband oder dem
Heim­trainer mit hoher Intensität trainierten, sodass sie zwischen 70
und 80 Prozent ihrer maximalen Herzfrequenz lagen, schnitten sie
schlecht bei Tests ab, die mit komplexen Lerninhalten verbunden
waren. (Lernen Sie also nicht für die Aufnahmeprüfungen fürs Jura­
studium, während Sie auf dem elliptischen Kreuztrainer alles zu geben versuchen.) Praktisch unmittelbar nachdem Sie die sportliche
Übung beendet haben, normalisiert sich der Blutfluss jedoch wieder,
und dies ist der perfekte Zeitpunkt, sich auf ein Projekt zu konzentrieren, das scharfes Denken und komplexe Analyse verlangt.
Ein bemerkenswertes Experiment aus dem Jahr 2007 zeigte, dass
die kognitive Flexibilität sich nach nur einer 35-minütigen Übungs­
runde auf dem Laufband, bei der die maximale Herzfrequenz bei 80
bis 70 Prozent lag, verbesserte. Die 40 Erwachsenen (im Alter zwischen 50 und 64) wurden im Rahmen der Studie gebeten, in schnellem Tem­po gewöhnliche Gegenstände anders als gewohnt zu gebrauchen, bei­spielsweise eine Zeitung – sie ist normalerweise zum Lesen
gedacht, kann aber auch zum Einwickeln von Fisch, Auslegen eines
Vogelkäfigs, Einpacken von Geschirr und so weiter genutzt werden.
Die Hälfte der Probanden schaute sich einen Film an, die andere
Hälfte war sportlich aktiv; beide Gruppen wurden vor der Sitzung,
unmittelbar danach und nochmals 20 Minuten später getestet.
Bei denjenigen, die sich einen Film angesehen hatten, zeigte
sich keine Veränderung, bei den Läufern war indes nach nur einem
Training eine Verbesserung ihrer Verarbeitungsgeschwindigkeit und
der kognitiven Flexibilität zu erkennen. Die kognitive Flexibilität
ist eine wichtige exekutive Funktion, die unsere Fähigkeit widerspiegelt, unser Denken zu verändern und einen steten Fluss kreativer Gedanken und Antworten zu pro­duzieren, im Unterschied zum
Wiederkäuen der Standardantworten. Diese Eigenschaft korreliert
mit einem Hochleistungsniveau intellektuell anspruchsvoller Berufe.
Wenn also bei Ihnen am Nachmittag eine wichtige BrainstormingSitzung angesetzt ist, wäre es eine gute Idee, die Mit­tags­pause für
einen kurzen, intensiven Lauf zu nutzen.
71
Kapitel 2: Lernen
Viele der Forschungen, die ich in diesem Kapitel erwähnt habe,
drehen sich um die Auswirkungen sportlicher Aktivitäten auf den
Hippo­cam­­pus, da er aufgrund seiner Rolle bei der Bildung von
Erinnerungen so überaus wichtig für das Lernvermögen ist. Es ist
dem Hippo­campus jedoch nicht selbst überlassen, neue Schaltkreise
nach seinem eigenen Da­f ür­halten auszubilden. Beim Lernprozess
werden viele Hirnregionen unter der Regie des präfrontalen Cortex
eingeschaltet. Das Gehirn muss sich des ankommenden Reizes bewusst sein, ihn im Kurzzeitgedächtnis behalten, ihm emotionales
Gewicht beimessen, ihn mit vergangenen Er­fah­rungen assoziieren
und all dies an den Hippocampus berichten. Der präfrontale Cortex
analysiert die Infor­ma­tio­nen, bringt sie in eine Rei­hen­folge und verbindet alles miteinander. Er arbeitet mit dem Klein­hirn und den
Basalganglien zusammen, die diese Funktionen auf Spur hal­ten, indem sie den Rhythmus für das Hin und Her von Informationen auf­
recht­er­halten. Durch die Verbesserung der Plastizität im Hippo­cam­­
pus wird eine entscheidende Ver­bindung in der Kette gestärkt, aber
durch das Lernen entstehen im ganzen Gehirn „buschigere“ und gesündere Neu­ronen, die besser miteinander verbunden sind. Je stärker
wir diese Netz­werke ausbauen und unserem Vorrat an Erinnerungen
und Erfahrungen anreichern, desto leichter ist es zu lernen, weil das,
was wir bereits wissen, als Grundlage für die Bildung zunehmend
komplexer Gedanken dient.
Was die Frage angeht, welche Menge an aeroben Übungen Sie
be­nö­ti­gen, um geistig „auf der Höhe“ zu bleiben, so wurde bei einer klei­nen, aber wissenschaftlich fundierten Studie in Japan festgestellt, dass 30-minütiges Joggen, zwei- bis dreimal pro Woche,
über einen Zeit­raum von zwölf Wochen die exekutive Funktion verbesserte. Wich­tig ist jedoch, eine Aktivität mit etwas zu kombinieren, was zusätzliche Koordination verlangt, statt einfach nur einen
Fuß vor den anderen zu setzen. Greenough arbeitete vor einigen
Jahren an einem Ex­pe­ri­ment, bei dem im Laufrad rennende Ratten
mit Artgenossen verglichen wurden, denen komplexe motorische
Fertigkeiten beigebracht wurden, wie über einen Schwebebalken, instabile Gegenstände und elastische Strickleitern zu laufen. Nach zwei
Wochen Training war bei den akrobatischen Ratten eine 35-prozentige Zunahme von BDNF im Kleinhirn festzustellen, während bei
72
Das Wachstum Ihrer Gehirnzellen fördern
den Tieren, die nur im Laufrad liefen, keine Zunahme von BDNF
in diesem Bereich festzustellen war. Dies erweitert die Erkenntnisse,
die uns die neurogenetische Forschung liefert: dass nämlich aerobe
Übungen und komplexe Aktivitäten unterschiedliche nutzbringende Effekte auf das Gehirn haben. Die gute Nachricht ist, dass sie
komplementär sind. „Es ist wichtig, beides zu berück­sich­tigen“, sagt
Greenough. „Der Nachweis ist noch nicht perfekt, fest steht jedoch,
dass ein Trainingsprogramm sowohl den Erwerb von Fertigkeiten
als auch aerobe Übungen mit einbeziehen muss.“
Ich würde somit vorschlagen, entweder eine Sportart zu wählen, die gleichzeitig das Herz-Kreislauf-System und das Gehirn in
An­spruch nimmt – beispielsweise Tennis – oder eine zehnminütige
aerobe Aufwärmübung zu machen, bevor Sie sich einer nicht aeroben und fertigkeitsorientierten Aktivität zuwenden, wie Bergsteigen
oder einem Balancetraining. Während aerobe Übungen den Spiegel
an Neu­ro­transmittern erhöhen, neue Blutgefäße entstehen lassen,
die Wachs­tums­fak­toren einleiten und zur Zellvermehrung beitragen, sorgen kom­plexe Aktivitäten dafür, dass all diese Dinge
durch eine Stärkung und Erweiterung der Netzwerke aktiv genutzt werden. Je komplexer die Be­we­gungen, desto komplexer die
synaptischen Verbindungen. Auch wenn diese Schaltkreise durch
Bewegung entstehen, können sie von anderen Regionen rekrutiert
und zum Denken genutzt werden. Dies ist der Grund, warum es
Kindern, die Klavier spielen lernen, leichter fällt, mathe­ma­tische
Aufgaben zu lösen. Der präfrontale Cortex bezieht die men­tale Kraft
der körperlichen Fertigkeiten mit ein und wendet sie bei an­de­ren
Situationen an.
Ob es darum geht, die Asanas beim Yoga zu lernen oder Posi­
tionen im Ballett, einzelne Gymnastikübungen, Elemente aus dem
Eiskunstlauf, Pi­lates-Stellungen oder Karatetechniken, fest steht,
dass bei all diesen Übungen die Nervenzellen im ganzen Gehirn in
Anspruch genommen werden. Studien mit Tänzern zeigen beispielsweise, dass ein unregelmäßiger Rhythmus im Vergleich zu einem
regelmäßigen die Plastizität des Gehirns verbessert. Da es sich bei
den Fertigkeiten, die bei diesen Aktivitäten im Spiel sind, um unnatürliche Formen der Bewegung handelt, haben sie die Funktion
eines aktivitätsabhängigen Lernens von der Art, die dafür sorgte,
73
Kapitel 2: Lernen
dass Hebbs Ratten klüger wurden, und bei denen Green­ough nachwies, dass Synapsen „buschiger“ wurden.
Jede motorische Fertigkeit, die komplizierter als Gehen ist,
muss erlernt werden und stellt somit eine Herausforderung für das
Gehirn dar. Zuerst ist man etwas unbeholfen und linkisch, aber
dann, nachdem die Schaltkreise, die das Kleinhirn, die Basalganglien
und den präfrontalen Cor­tex miteinander verbinden, in Gang kommen, werden unsere Be­we­gun­gen präziser. Mit der Wiederholung
sorgen wir auch dafür, dass eine dickere Myelin-Schicht um die
Nervenfasern herum entsteht, die zur Verbesserung der Qualität
und Geschwindigkeit der Signale und damit zur Effizienz des
Schaltkreises beiträgt. Um das Beispiel Karate zu nehmen: In dem
Zuge, wie man bestimmte Techniken perfektioniert, kann man sie
in kompliziertere Bewegungen einbauen, und alsbald hat man dann
neue Antworten auf neue Situationen parat. Das Gleiche würde gelten, wenn man Tango lernen wollte. Die Tatsache, dass man auf
eine andere Person reagieren muss, stellt weitere Anforderungen an
unsere Aufmerksamkeit, unser Urteilsvermögen und die Präzision
der Be­we­gung, womit sich die Komplexität der Situation exponentiell erhöht. Nimmt man noch den Faktor Spaß und den sozialen
Aspekt mit hinzu, dann werden das Gehirn und die Muskeln im
ganzen System aktiviert.
Damit sind Sie für die nächste Herausforderung gerüstet, und
das ist es, worum es bei alledem geht.
74
3. Stress

Die größte
Herausforderung
S
usan war total gestresst. Es war nun mehr als ein Jahr her, dass
der Bauunternehmer, der ihre Küche umbauen sollte, diese in
Beschlag genommen hatte. Aber mehr noch als den Baulärm fürchtete sie inzwischen die Ruhephasen. Denn Ruhe bedeutete, dass die
Arbeit ruhte, aus welchem Grund auch immer, und dies bedeutete,
dass das Ganze noch länger dauern würde. Sie hatte keine Ahnung,
wann sich der Zustand in der Küche wieder normalisieren würde,
ganz zu schweigen von einem normalen Leben. Es war fürchterlich
aufreibend, wie jeder bescheinigen kann, der schon einmal einen
Umbau überlebt hat: Fremde spazieren den ganzen Tag über rein
und raus, man hat keine Kontrolle mehr über die eigene Zeit, und
überall Staub und Dreck – einfach nur Chaos. Der Bauunternehmer
selbst scheint sich bei alledem jedoch absolut zu Hause zu fühlen,
wenn er denn auftaucht.
Susan war seit jeher ein aktiver und aufgeschlossener Mensch.
Mitte vierzig, Mutter von drei schulpflichtigen Jungen, Eltern­bei­rats­
vorsitzende, Reiterin und ehrenamtlich mit einem vollen Termin­ka­
len­der engagiert. Aber mit einem Mal war sie gezwungen, den ganzen Tag zu Hause zu bleiben und darauf zu warten, dass die Arbeiter
kamen, oft nur, um den Anruf ihrer Absage entgegenzunehmen.
Jeder wäre hier verrückt geworden. Sie war in ihrem eigenen Haus
75
Kapitel 3: Stress
eingesperrt, das einer Baustelle glich, und wusste nichts mit sich anzufangen. Um das Ganze zu ertragen, fing sie an, sich ein Glas Wein
zu genehmigen. Dann ein weiteres. Und es dauerte nicht lange, bis
sie merkte, dass sie einen schönen Chardonnay entkorkte, bevor es
Mittag war. „Immer Char­don­nay“, sagt sie. „Das ist das Einzige,
was ich trinke.“
Susans Welt schrumpfte und damit, wie ich gleich noch erklären werde, auch ihr Gehirn. Sie kam zu mir, weil sie sich sorgte,
dass ihr Be­wältigungsmechanismus zur Sucht werden könnte. Als
sie in meiner Praxis saß, diskutierten wir Wege und Möglichkeiten,
wie sie den Teu­fels­k reis durchbrechen konnte, damit sie nicht mehr
nach Wein griff, wann immer sie sich gestresst fühlte. Ich wollte ihr
helfen, etwas zu finden, das sie sofort, direkt zu Hause tun konnte,
zunächst um sich abzulenken, aber auch um das Stressgefühl zu lindern. Für ein Fitnessstudio konnte sie sich nicht so recht erwärmen,
sie war jedoch recht sportlich, und irgendwie stellte sich heraus, dass
sie Seilspringen mochte. Perfekt. Ich schlug ihr vor, jedes Mal, wenn
sie merkte, dass Stress im Anmarsch war, sich einfach das Seil zu
nehmen und anzufangen zu springen.
Als ich sie das nächste Mal sah, erzählte sie mir, sie habe überall
im Haus Sprungseile deponiert und es geschafft, zur Bewältigung
ihres Stresses nicht mehr automatisch zum Wein zu greifen. Selbst
diese kurzen Aktivitäten genügten, dass sie sofort das Gefühl hatte,
sich besser unter Kontrolle zu haben und Herrin über ihr eigenes
Schicksal zu sein. Zudem empfand sie durch die Übungen eine echte Erleichterung – ihre Muskeln waren weniger verspannt, und ihr
Geist war weniger abgelenkt. Sie erklärt es so: „Ich habe dann das
Gefühl, als würde mein Gehirn irgendwie neu gestartet.“
Stress neu definieren
Jeder kennt Stress. Aber kennen wir ihn wirklich? Stress zeigt sich in
vielen Formen und Ausmaßen, akut und chronisch – sozialer Stress,
physischer Stress, metabolischer Stress, um nur einige zu nennen. Die
meisten Menschen verwenden das Wort unterschiedslos sowohl für
76
Die größte Herausforderung
die Ursache als auch für die Wirkung. Das heißt, sowohl für den Stress,
den die Welt auf uns ausübt – „Bei der Arbeit gibt es im Moment sehr
viel Stress“ –, als auch für das Gefühl, das in unserem Innern ausgelöst wird, wenn alles zu viel erscheint: „Ich bin so gestresst, ich kann
nicht mehr klar denken.“ Nicht einmal Wissenschaftler unterscheiden immer zwischen dem psychischen Zustand von Stress und der
physiologischen Reaktion auf Stress.
Stress ist ein so dehnbarer Begriff, weil das Gefühl eine große
emotionale Bandbreite haben kann, von einem leichten Zustand
der Erregung bis zu dem Gefühl, von den Unbillen des Lebens völlig überwältigt zu sein. Am Ende des Spektrums ist das, was Sie
als „total gestresst“ kennen – ein einsamer Ort, an dem Probleme,
die gewöhn­licherweise wie Herausforderungen erscheinen, plötzlich die Aus­maße unüberwindlicher Probleme annehmen. Bleibt
man zu lange dort, dann reden wir von chronischem Stress, der
psychische Be­las­tun­gen in körperliche Belastungen übersetzt. Dies
ist der Punkt, an dem die aufreibenden Effekte der Stressreaktion
des Körpers zu men­talen Voll­bild­störungen wie Ängsten und
Depressionen sowie Blut­hoch­druck, Herz­pro­bleme und Krebs führen können. Chronischer Stress kann selbst an der Architektur des
Gehirns nagen.
Aber wie soll man einen so verschwommenen Begriff wie Stress
verstehen? Indem man sich seine biologische Definition vor Augen
hält. Stress ist in erster Linie eine Bedrohung für das Gleichgewicht
des Körpers. Er stellt eine Herausforderung dar zu reagieren, eine
For­derung zur Anpassung. Im Gehirn stellt alles, was eine zellulare
Akti­v i­tät hervorruft, eine Form von Stress dar. Damit ein Neuron
feuern kann, braucht es Energie, und der Prozess der Brenn­stoff­
verbrennung bringt einen Verschleiß der Zelle mit sich. Das Gefühl
von Stress ist im Wesentlichen ein emotionales Echo des dahinter
stehenden Stresses für Ihre Gehirnzellen.
Sie würden es wahrscheinlich nicht als stressig empfinden, von
einem Stuhl aufzustehen – biologisch betrachtet, ist es dies jedoch
definitiv. Es ist natürlich nicht vergleichbar mit dem Verlust des
Arbeitsplatzes zum Beispiel, aber der Punkt ist, dass bei beiden
Ereignissen Teile derselben Nervenbahnen im Körper und im Gehirn
aktiviert werden. Beim Aufstehen werden Neuronen aktiviert, die
77
Kapitel 3: Stress
erforderlich sind, um die Bewegung zu koordinieren, und die Furcht
vor Arbeitslosigkeit erzeugt jede Menge Aktivitäten, da Emotionen
ein Produkt von Neuronen sind, die sich gegenseitig Signale zusenden. Ebenso werden Anforderungen an Ihr Gehirn gestellt, wenn Sie
Französisch lernen, neue Leute treffen und Ihre Muskeln bewegen;
all diese Anforderungen sind Formen von Stress. Stress ist Stress, was
Ihr Gehirn betrifft – der Unterschied ist nur marginal.
Sich selbst impfen
Wie der Körper und das Gehirn auf Stress reagieren, hängt von vielen Faktoren ab, wobei Ihre genetischen Anlagen und persönlichen
Er­fahrungen nicht gerade die Unwichtigsten sind. Die Kluft zwischen der Evolution unserer Biologie und der Entwicklung unserer
Gesellschaft wird heute stetig tiefer. Wir müssen nicht mehr vor irgendwelchen Löwen weglaufen, aber der Instinkt ist nach wie vor
vorhanden, wobei die Kampf-oder-Flucht-Reaktion im Sitzungssaal
nicht unbedingt der Hit ist. Wenn Sie an Ihrem Arbeitsplatz gestresst
werden, würden Sie Ihren Chef ohrfeigen? Oder sich umdrehen und
weglaufen? Entscheidend ist, wie Sie reagieren. Die Art und Weise,
wie Sie mit Stress umgehen, kann nicht nur etwas daran ändern,
wie Sie sich fühlen, sondern auch daran, wie das Gehirn umgeformt
wird. Wenn Sie passiv reagieren, oder wenn es einfach keinen Ausweg
gibt, kann Stress schädlich sein. Wie die meisten psychiatrischen
Probleme ist auch chronischer Stress das Ergebnis eines in ein und
demselben Muster fest­gefahrenen Gehirns, und zwar in der Regel in
einem, das von Pessi­mis­mus, Furcht und Rückzug geprägt ist. Mit
einer aktiven Be­wäl­ti­gung können Sie aus diesem Teufelskreis ausbrechen. Jenseits von Instink­ten haben Sie eine gewisse Kontrolle darüber, wie Stress sich bei Ihnen auswirkt. Der Schlüssel ist, da würde
Susan zustimmen, eine Frage der Kontrolle.
Körperliche Bewegung oder Sport kontrollieren die emotionalen
und physischen Gefühle von Stress, und dies kommt auch auf der
zellularen Ebene zum Tragen. Aber wie kann dies sein, wenn körperliche Be­we­gung als solche eine Form von Stress darstellt? Die durch
78
Die größte Herausforderung
körperliche Bewegung ausgelöste Hirnaktivität erzeugt molekulare
Neben­pro­duk­te, die Zellen schädigen können, unter normalen Um­
stän­den sor­gen Reparaturmechanismen jedoch dafür, dass die Zellen
für künftige Herausforderungen abgehärtet werden. Neuronen werden ab- und auf­gebaut, genau wie Muskeln – durch Belastungen werden sie wider­stands­­fähiger. Auf diese Weise werden Körper und Geist
durch kör­per­liche Bewegung gezwungen, sich anzupassen.
Stress und Regeneration. Dies ist ein grundlegendes Paradigma
der Bio­logie, das zu starken und mitunter überraschenden Ergeb­
nissen führt.
In den 1980er-Jahren gab das US-Energieministerium eine Studie
über die gesundheitlichen Auswirkungen einer anhaltenden Strah­
len­ex­position in Auftrag. Dabei wurden zwei Gruppen von Ar­bei­
tern einer Atomschiffwerft aus Baltimore verglichen, die ähnliche Arbeiten verrichteten, nur mit einem wichtigen Unterschied:
Eine Gruppe war einem sehr geringen Strahlungsniveau durch
das Material aus­gesetzt, mit dem sie zu tun hatte; bei der anderen
Gruppe war dies nicht so. Das Energieministerium beobachtete die
Arbeiter von 1980 bis 1988, und was dabei festgestellt wurde, schockierte alle Beteiligten.
Die Strahlung machte sie gesünder. Bei den 28.000 Arbeitern,
die Strahlung ausgesetzt waren, lag die Sterblichkeitsrate 24 Prozent
niedriger als bei ihren 32.000 Kollegen der Kontrollgruppe, die keiner
Strah­lung ausgesetzt waren. Die Giftstoffe, die, wie alle annahmen
und be­f ürchteten, die Gesundheit der Arbeiter ruinieren würden,
bewirkten irgendwie genau das Gegenteil. Strahlung bedeutet Stress,
indem sie Zellen schädigt und sie bei einem hohen Strahlungsniveau
tötet und zur Entwicklung von Krankheiten wie Krebs führen kann.
In diesem Fall war die Strahlendosis jedoch offenbar gering genug,
sodass die Zellen der Arbeiter, die ihr ausgesetzt waren, nicht getötet,
sondern stärker und abgehärtet wurden.
Vielleicht ist Stress letzten Endes doch nicht so schlecht. Da die
Stu­die jedoch nicht das erwünschte Ergebnis gebracht hatte – sie
zeigte nicht den erwarteten bösartigen Effekt von Strahlung –, wurde sie nie veröffentlicht. Nach dem, was wir seither über die Biologie
von Stress und Regeneration gelernt haben, scheint Stress einen ähnlichen Effekt auf das Gehirn wie Impfstoffe auf das Immunsystem
79
Kapitel 3: Stress
zu haben. In begrenzten Dosen bewirkt er, dass die Gehirnzellen
überkompensieren und sich somit für künftige Anforderungen
wappnen. Neuro­w is­sen­schaft­ler bezeichnen dieses Phänomen als
Stressimpfung.
Was bei all den Ratschlägen, wie der Stress des modernen Lebens
re­duziert werden kann, auf der Strecke geblieben ist, sind die He­
raus­­for­derungen, die es uns erst ermöglichen, uns überhaupt anzu­
stren­gen und zu wachsen und zu lernen. Die Parallele auf zellularer
Ebe­ne ist, dass Stress das Wachstum des Gehirns anstößt. Unter der
Voraus­setzung, dass der Stress nicht zu gravierend ist und den Neu­
ro­nen genügend Zeit gegeben wird, um sich zu regenerieren, werden
die Ver­bindungen stärker und unsere mentale Maschinerie funktioniert bes­ser. Stress ist keine Frage von gut oder schlecht – sondern
eine Frage der Notwendigkeit.
Das Alarmsystem
Die Stressreaktion des Körpers, die vom Urtrieb zu überleben ausgelöst wird, ist ein eingebautes Geschenk der Evolution, ohne das
wir heute nicht hier wären. Die Reaktion reicht von schwach bis
intensiv, abhängig von der Ursache. Gravierender Stress aktiviert
die Notrufphase, gemeinhin als die Kampf-oder-Flucht-Reaktion
bekannt. Dabei handelt es sich um eine komplexe physiologische
Reaktion, die Ressourcen mobilisiert, um Körper und Gehirn zu
aktivieren, und in einer Erinnerung das abspeichert, was geschehen
ist, damit wir die Situation das nächste Mal vermeiden können. Wo
war der Löwe genau? Die Bedrohung muss ziemlich stark sein, damit der Körper einbezogen wird. Aber jedes Maß an Stress aktiviert
grundlegende Gehirnsysteme – jene, die die Aufmerksamkeit, die
Energie und das Gedächtnis steuern.
Wenn wir alles andere beiseitelassen, besteht die uns innewohnende Reaktion auf Stress darin, uns auf die Gefahr zu konzentrieren, die Reaktion voranzutreiben und die Erfahrung zu speichern,
um künftig darauf zurückgreifen zu können. Letzteres würde ich
dann als Weisheit bezeichnen. Erst in den letzten Jahren haben
80
Die größte Herausforderung
Wissenschaftler angefangen, die Rolle von Stress bei der Bildung und
dem Abrufen von Erinnerungen zu erkennen und zu beschreiben. Die
Entwicklung dieses Verständnisses ist spannend, weil sie ein Licht
darauf wirft, warum – (und wie) – Stress einen so weit reichenden
Effekt darauf haben kann, wie wir die Welt wahrnehmen.
Die Kampf-oder-Flucht-Reaktion ruft einige der wirkungsvoll­
sten Hormone und eine große Anzahl von Neurochemikalien im
Gehirn auf den Plan. Der Alarmknopf des Gehirns, die sogenannte Amygdala, setzt diese Kettenreaktion in Gang, sobald sie den
sensorischen Input über eine mögliche Bedrohung des natürlichen
Gleichgewichts des Körpers erhält. Gejagt zu werden, würde die
Situa­tion sicher richtig beschreiben, aber ebenso würde es auch die
Situa­tion des Jägers selbst. Die Aufgabe der Amygdala besteht darin,
den ankommenden In­for­ma­tionen, die möglicherweise für das
Überleben relevant sein können oder auch nicht, eine Intensität zuzuordnen. Es geht nicht nur um Furcht, sondern um jeden intensiven emotionalen Zustand, einschließlich zum Beispiel Euphorie
oder sexuelle Erregung. In der Lotterie zu ge­w innen oder mit einem Supermodel zu speisen, kann die Amygdala akti­v ieren. Diese
Ereig­nisse mögen nicht stressintensiv erscheinen, aber vergessen
Sie nicht, unser Gehirn unterscheidet nicht zwischen „guten“ und
„schlechten“ Anforderungen an das System. Und im evolutionären
Licht betrachtet, sind finanzielle Segnungen oder ein gutes Date im
Sinne des Prosperierens und Fortpflanzens durchaus relevant für
das Über­leben.
Die Amygdala ist mit vielen Teilen des Gehirns verbunden und
erhält somit eine große Bandbreite an Input – von dem ein Teil durch
das auf höchster Ebene angesiedelte Verarbeitungszentrum des prä­
frontalen Cortex geleitet wird, und ein Teil indirekt übertragen wird,
unter Umgehung des Cortex. Das erklärt, warum selbst eine unterbewusste Wahrnehmung oder Erinnerung eine Stressreaktion
auslösen kann.
Innerhalb von zehn Millisekunden, nachdem der Alarm ausgelöst wurde, feuert die Amygdala Botschaften ab, die bewirken, dass
die Nebenniere in verschiedenen Phasen verschiedene Hormone
freisetzt. Zuerst werden durch Noradrenalin blitzartige elektrische Impulse aus­gelöst, die durch das sympathische Nervensystem
81
Kapitel 3: Stress
gehen und die Neben­niere aktivieren, das Hormon Noradrenalin
oder Adrenalin in den Blutkreislauf auszuschütten. Die Folge
ist eine Erhöhung des Herzschlags, Blutdrucks und der Atmung,
was zum Zustand der physischen Erregung beiträgt, die wir unter
Stress empfinden. Gleich­zeitig werden die von Noradrenalin und
dem Corticotropin-freisetzenden Faktor (CRF) transportierten Sig­
nale von der Amygdala zum Hypo­t ha­la­mus gesendet, wo sie Bot­
schaftern übergeben werden, die dann den lang­samen „Zug“ durch
den Blutkreislauf nehmen. Diese Botschafter ver­anlassen die Hirn­
an­hang­drüse (Hypophyse), einen anderen Teil der Neben­niere zu
aktivieren, die das zweite wichtige Hormon der Stress­reaktion freisetzt: Cortisol. Dieses Relais vom Hypothalamus über die Hirn­­
an­hangdrüse zur Nebenniere wird als die HPA-Achse bezeichnet,
und durch die Rolle, die sie bei der Aktivierung von Cortisol und
dem Ab­schalten der Reaktion spielt, ist sie ein Hauptakteur in der
Geschichte des Stresses. In der Zwischenzeit hat die Amygdala dem
Hippo­campus sig­nalisiert, dass dieser beginnen soll, Erinnerungen
aufzuzeichnen, und weitere Signale sind an den präfrontalen Cortex
ge­sendet worden, der dann entscheidet, ob die Bedrohung wirklich
eine Reaktion verdient.
Den Menschen unterscheidet vom Tier, dass die Gefahr nicht
klar und gegenwärtig sein muss, um eine Reaktion auszulösen –
wir können sie antizipieren, wir können sie erinnern, und wir können sie begrifflich erfassen. Und diese Fähigkeit kompliziert unser Leben erheblich. „Der Geist ist so stark, dass wir die [Stress-]
Reaktion auslösen können, indem wir uns einfach eine bedrohliche Situation vorstellen“, schreibt der Neurowissenschaftler Bruce
McEwen von der Rockefeller University in seinem Buch The End of
Stress as We Know It. Mit anderen Worten, wir können uns selbst in
den Wahnsinn denken.
McEwens Aussage verdeutlicht jedoch auch eine wichtige Kehr­
sei­te der Medaille: Wir können diesem Wahnsinn im wahrsten Sinne
des Wor­tes davonlaufen. Denn ebenso, wie der Geist den Körper
beein­flus­sen kann, kann der Körper den Geist beeinflussen. Aber
die Vorstellung, dass wir unseren mentalen Zustand durch körperliche Bewe­gung verändern können, muss von den meisten Ärzten
erst noch akzeptiert werden, ganz zu schweigen von der breiteren
82
Die größte Herausforderung
Bevölkerung. Dies ist das Grundthema meiner Arbeit, und im Zu­
sam­menhang mit Stress ist es besonders relevant. Schließlich be­steht
der Sinn und Zweck der Kampf-oder-Flucht-Reaktion darin, uns
zum Handeln zu mobilisieren. Das heißt, dass körperliche Aktivität
der natürliche Weg ist, um die negativen Folgen von Stress zu verhindern.
Wenn wir uns als Reaktion auf Stress körperlich oder sportlich
betätigen, tun wir genau das, was der Mensch als Ergebnis seiner
evolutionären Entwicklung von mehreren Millionen Jahren im
Grunde tun muss. Auf einer Ebene ist das ganz einfach. Aber natürlich gibt es viele Ebenen, die zu untersuchen sind.
Fokussieren
Das allumfassende Prinzip der Kampf-oder-Flucht-Reaktion ist,
Ressourcen für unmittelbare Notwendigkeiten zu mobilisieren, statt
für die Zukunft zu bauen – nach dem Motto: Handle jetzt, frage
später. Der durch Stress ausgelöste Hormonschub an Adrenalin fokussiert den Körper, erhöht die Herzfrequenz und den Blutdruck
und erweitert die Bronchien, sodass die Lungen mehr Sauerstoff
zu den Muskeln transportieren können. Adrenalin bindet sich an
Muskelspindeln an, und dies erhöht die Ruhespannung der Muskeln,
sodass sie gerüstet sind, diese Spannung in Handeln zu entladen.
Im Falle einer Wunde verengen sich die Blutgefäße in der Haut,
um das Bluten einzudämmen. Endorphine werden im Körper freigesetzt, um den Schmerz zu dämpfen. Bei diesem Szenario werden
biologische Notwendigkeiten wie Essen und Fortpflanzung auf Eis
gelegt. Das Verdauungssystem wird abgeschaltet; die Muskeln, die
genutzt werden, um die Blase zusammenzuziehen, entspannen sich,
um keine Glukose zu verschwenden; und der Speichelfluss wird eingestellt.
Wenn Sie jemals in der nervenaufreibenden Situation waren, eine
Rede in der Öffentlichkeit halten zu müssen, dann haben Sie diese
Veränderung in Form von Herzrasen und trockenem Mund erlebt.
Ihre Muskeln und Ihr Gehirn werden angespannt, und Sie verlieren
83
Kapitel 3: Stress
jede Hoffnung, flexibel und einnehmend zu sein. Oder wenn das
vom Cortex an die Amygdala weitergegebene Signal abbricht, können Sie nicht mehr denken und erstarren. Genau genommen müsste
die aus­­gewachsene Stressreaktion eigentlich „Erstarrung oder Kampf
oder Flucht“ heißen. Aber nichts davon ist sonderlich hilfreich, wenn
Sie da oben auf dem Podium stehen. Der Körper reagiert jedoch im
Wesent­li­chen gleich, egal, ob Sie auf einen hungrigen Löwen hinunter starren oder auf ein unruhiges Publikum.
Zwei Neurotransmitter versetzen das Gehirn in einen Alarm­zu­
stand: Noradrenalin erregt die Aufmerksamkeit, die von Dopamin
dann geschärft und fokussiert wird. Warum manche Personen mit
dem Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS)
als Stress-Junkies erscheinen, ist auf ein Ungleichgewicht dieser
Neuro­transmitter zurückzuführen. Sie müssen gestresst sein, um sich
konzentrieren zu können. Dies ist einer der Hauptfaktoren bei der
Ver­zö­ge­rung oder dem Hinausschieben von Dingen. Die Betroffenen
lernen, so lange zu warten, bis das Damoklesschwert dabei ist, zu
fallen – erst dann werden durch Stress Noradrenalin und Dopamin
freigesetzt, sodass sie sich hinsetzen und die Arbeit tun können. Die
Notwendigkeit von Stress erklärt auch, warum ADHS-Patienten sich
manchmal selbst ein Schnippchen zu schlagen scheinen. Wenn alles gut läuft, müssen sie die Situation aufmischen und finden unbewusst einen Weg, eine Krise heraufzubeschwören. Ich habe eine
Patientin, die nach einer Reihe dysfunktionaler Beziehungen endlich
einen Mann gefunden hat, den sie wirklich bewundert und der sie gut
behandelt. Aber jedes Mal, wenn alles gut läuft, bricht sie einen Streit
vom Zaun. Sich das Muster des Stress-Junkies vor Augen zu halten,
hilft ihr, sich ihre Neigung bewusst zu machen und, so hoffe ich, sich
zu fangen, bevor sie wieder Schwierigkeiten lostritt.
84
Die größte Herausforderung
Brennstoff
Um die antizipierte Aktivität der Muskeln und des Gehirns voranzutreiben, wird Adrenalin umgehend in Glykogen und Fettsäuren werden in Glukose umgewandelt. Cortisol, das durch das Blut transportiert wird, arbeitet langsamer als Adrenalin, aber seine Wirkungen
sind unglaublich weit reichend. Bei der Stressreaktion spielt Cortisol
unterschiedliche Rollen, eine davon ist die des Verkehrspolizisten
für den Stoffwechsel. Cortisol übernimmt die Rolle des Adrenalins
und signalisiert der Leber, dem Blutkreislauf mehr Glukose zur
Verfügung zu stellen, während gleichzeitig die Insulinrezeptoren
an unwesentlichen Geweben und Organen blockiert und bestimmte Kreuzungen gesperrt werden, sodass der Brennstoff nur zu den
Bereichen fließt, die wichtig für „Kampf-oder-Flucht“ sind. Dahinter
steht die Strategie, den Körper insulinresistent zu machen, damit
dem Gehirn genügend Glukose zur Verfügung steht. Das Cortisol
beginnt auch, sozusagen, die „Regale wieder aufzufüllen“, also
Energievorräte anzulegen, die durch die Aktion des Adrenalins erschöpft wurden. Es wandelt Eiweiß in Glykogen um und startet so
den Prozess der Fettspeicherung.
Wird dieser Prozess ungehindert fortgesetzt, wie bei chronischem
Stress, sammelt sich durch die Aktion des Cortisols ein Überschuss
an Brennstoff im Bauchbereich an, und zwar in Form von Bauchfett.
(Dauerhaft ausgeschüttetes Cortisol erklärt auch, warum manche
Marathonläufer trotz all ihres Trainings einen kleinen Bauch haben – ihr Körper bekommt nie die Chance, sich ausreichend zu erholen.) Das Problem mit unserer ererbten Stressreaktion ist, dass sie
Energievorräte mobilisiert, die nicht gebraucht werden. Mehr dazu
später.
In der Anfangsphase der Stressreaktion fördert Cortisol auch die
Freisetzung des insulinähnlichen Wachstumsfaktors (IGF-1), der ein
wichtiges Bindeglied bei der Versorgung der Zellen mit Brennstoff
ist. Das Gehirn ist ein starker Verbraucher von Glukose, auf das etwa
20 Prozent des verfügbaren Brennstoffes entfallen, auch wenn es nur
etwa drei Prozent unseres Körpergewichtes ausmacht. Das Gehirn
verfügt jedoch nicht über die Fähigkeit, Brennstoff zu lagern, sodass
85
Kapitel 3: Stress
die Rolle des Cortisols, einen steten Fluss von Glukose zu gewährleisten, entscheidend für eine ordnungsgemäße Hirnfunktion ist. Da
das Gehirn auf der Grundlage eines stabilen Brennstoffhaushaltes arbeiten muss, hat es sich so entwickelt, dass Energieressourcen je nach
Bedarf verlagert werden, das heißt, dass die mentale Verarbeitung
wettbewerbsorientiert ist. Es ist einfach nicht möglich, dass alle unsere Neuronen gleichzeitig feuern, sodass, wenn eine Struktur aktiv
ist, dies auf Kosten einer anderen gehen muss. Eines der Probleme
bei chronischem Stress ist, dass den denkenden Teilen des Gehirns
Energie entzogen wird, wenn die HPA-Achse den ganzen Brennstoff
verschlingt, um das System in Alarmbereitschaft zu halten.
Weisheit
Das Aufzeichnen von Erinnerungen stressreicher Situationen ist ein
adaptives Verhalten von offensichtlichem evolutionärem Nutzen. Es
ist die Weisheit unserer kollektiven Erfahrung, die es uns ermöglicht hat, zu überleben, und Cortisol hat dabei eine entscheidende
Rolle gespielt.
Der Neuroendokrinologe Bruce McEwen entdeckte als Erster
in den 1960ern Cortisolrezeptoren im Hippocampus des Gehirns
von Ratten und später bei Rhesusaffen. Inzwischen wissen wir,
dass sie auch beim Menschen vorkommen. Diese Erkenntnis alarmierte anfänglich die Wissenschaftler, da das Stresshormon toxisch
für Gehirnzellen war, wie dies in einer Petrischale im Labor nachgewiesen werden konnte. „Was tut Cortisol tatsächlich, um diese
Erinnerungen festzuhalten?“ fragt er. „Alles, was wir sagen können, ist Folgendes: Wenn man nicht zu dem Zeitpunkt, in dem diese Erinnerungen gebildet werden, genügend Cortisolrezeptoren im
Hippocampus hat, dann ist der Lernprozess weniger effizient. An
den Details wird noch gearbeitet.“
Genau wie der Stress selbst scheint Cortisol nicht einfach gut oder
schlecht zu sein. Ein wenig Cortisol ist hilfreich, um Erinnerungen
fest­zu­hal­ten; zu viel unterdrückt sie; und eine Überlastung kann die
Ver­bin­dun­gen zwischen Neuronen und Erinnerungen gar zerstören.
86
Die größte Herausforderung
Der Hippocampus liefert den Zusammenhang für die Erinnerung
– das Was, Wie, Wo und Wann. Und die Amygdala liefert die emotionalen Inhalte – Angst oder Aufregung. Auf Anweisung des prä­
frontalen Cor­tex kann der Hippocampus Erinnerungen vergleichen
und sagen: „Keine Sorge, das ist ein Stock, keine Schlange“, und hat
damit die Mög­lich­keit, die HPA-Achse direkt abzuschalten und die
Stressreaktion zu beenden. Solange sie nicht überreizt ist.
Innerhalb von Minuten, nachdem die Alarmglocke geläutet wurde, binden sich Cortisol, der Corticotropin-freisetzende Faktor und
Noradrenalin – die Hauptstressagenzien im Gehirn – an Zellrezepto­
ren an, die den Glutamatspiegel erhöhen. Glutamat ist der stimulierende Neurotransmitter, der für die gesamte Signalgebung im Hip­
po­campus verantwortlich ist. Die Erhöhung der Glutamataktivität
be­schleunigt den Informationsfluss im Hippocampus und verändert die Dynamik an den Synapsen, sodass jedes Mal, wenn eine
Botschaft gesendet wird, das Signal leichter gefeuert wird und weniger Glutamat erforderlich ist. Anfänglich verbessert die Stress­
reak­tion dann die Langzeit-Po­ten­zierung (LTP), den grundlegenden
Mechanismus des Erinne­rungs­ver­mögens.
Die Kurzzeiterinnerung ist wahrscheinlich das Ergebnis dieser
anfänglichen Erhöhung der Erregbarkeit der Neuronen im Hippo­
campus. Wenn der Cortisolspiegel einen Höchststand erreicht, stimuliert Cor­ti­sol die Gene in den Zellen, mehr Protein herzustellen,
das als Bau­material für die Zellen genutzt wird: mehr Dendriten,
mehr Rezep­to­ren und „buschigere“ Synapsen. Ab jetzt wird es dann
kurios. Die gestärkten Zellen zementieren die überlebenswichtige
Erinnerung und schirmen die Neuronen in diesem Schaltkreis gegenüber weiteren An­for­derungen ab. Ein Neuron kann Teil einer
beliebigen Anzahl von Erinne­rungen sein. Aber wenn eine potenzielle Erinnerung bei Stress an­rollt, hat sie mehr Schwierigkeiten,
Neuronen für ihren eigenen neuen Schalt­k reis zu rekrutieren. Die
Erinnerung muss eine bestimmte Schwel­le überschreiten, um Ein­
druck zu machen.
Dies erklärt wahrscheinlich, warum Erinnerungen, die sich nicht
auf den Stressor beziehen, bei der Stressreaktion blockiert werden.
Es hilft auch erklären, warum ein permanent hoher Cortisolspiegel
– aufgrund von chronischem Stress – es schwer macht, etwas Neues
87
Kapitel 3: Stress
zu lernen, und warum Menschen, die depressiv sind, Schwierigkeiten
haben, zu lernen. Es ist nicht nur die mangelnde Motivation, sondern
auch damit zu erklären, dass die Neuronen im Hippocampus ihre
Gluta­mat­ma­schinerie verstärkt und weniger wichtige Reize ausgeschlossen haben. Der Stress hat sie voll in Beschlag genommen.
Studien mit Menschen haben auch gezeigt, dass ein Überfluss
an Cortisol den Zugang zu bestehenden Erinnerungen blockieren kann. Dies erklärt, wieso Menschen vergessen können, wo der
Notausgang ist, wenn tatsächlich ein Feuer ausbricht – die Leitungen
sind sozusagen gekappt. Bei zu viel Stress verlieren wir die Fähigkeit,
Erinnerungen zu bilden, die nichts miteinander zu tun haben, und
sind vielleicht auch nicht in der Lage, diejenigen abzurufen, die
wir haben. Das nächste Mal, wenn Sie gezwungen sind, an einer
Brandschutzübung teilzunehmen, bedenken Sie, dass der neurologische Punkt der Übung darin besteht, diese Schaltkreise stärker
zu machen, die Erinnerung einzubrennen. Bei einem Übermaß an
Stress stellt sich bei Ihnen, wie ich später noch erklären werde, der
Petrischalen-Effekt ein – Cortisol untergräbt die Neuronen.
Unsere Instinkte bekämpfen
Die Stressreaktion ist ein absolut adaptives Verhalten; da man in der
heutigen Welt damit jedoch nicht sehr weit kommt, gibt es nichts,
wo­rüber man all diese aufgestaute Energie kanalisieren könnte. Man
muss eine bewusste Anstrengung unternehmen, um die physische
Kom­po­nen­te von Kampf oder Flucht ins Spiel zu bringen und zu
aktivieren.
Der menschliche Körper ist für regelmäßige körperliche Akti­v i­
tä­­ten gebaut, aber für wie viel? In einem Artikel, der 2002 im Journal
of Applied Physiology erschien, gingen Forscher genau dieser Frage
nach, indem sie sich das Muster körperlicher Bewegung bei unseren
Vorfah­ren anschauten, das sie als den paläolithischen Rhythmus bezeichnen. Von der Zeit, in der der Homo Sapiens vor zwei Millionen
Jahren entstand, bis zum revolutionären Übergang zu Ackerbau und
Viehzucht vor zehn­tausend Jahren, waren alle Menschen Jäger und
88
Die größte Herausforderung
Sammler, und das Leben war geprägt von Perioden intensiver körperlicher Aktivitäten, ge­folgt von Tagen der Ruhe. Entweder war
Schlemmen oder Hungern an­gesagt.
Wenn man die Menge an „körperlicher Bewegung“ unserer Vor­
fah­ren berechnet und sie mit den Zahlen vergleicht, die man heutzutage erhält, sieht man problemlos, wo das Problem liegt: Unser
durchschnittlicher Energieverbrauch pro Body-Mass-Einheit beläuft sich auf weniger als 38 Prozent des Energieverbrauchs unserer Steinzeit-Vor­fahren. Und ich glaube, man kann durchaus sagen,
dass sich unsere Ka­lo­rienaufnahme im Vergleich zu damals deutlich erhöht hat. Der entscheidende Punkt ist, selbst wenn wir uns an
die strengsten staatlichen Empfehlungen für körperliche Bewegung
hielten und 30 Minuten jeden Tag absolvieren würden, dass unser
Energieverbrauch immer noch weniger als die Hälfte dessen ausmachen würde, was in unseren Genen verschlüsselt ist. Im paläolithischen Zeitalter musste der Mensch an einem Tag im Durchschnitt
acht bis 15 Kilometer zurücklegen, nur um Essen zu finden und sich
zu versorgen.
Heute müssen wir nicht viel Energie dafür aufwenden, um Nah­
rung zu finden, und wir müssen mit Sicherheit auch nicht unser
Gehirn anstrengen, um herauszufinden, wie wir an unsere nächste Mahlzeit kommen. Diese Situation hat sich erst etwa im letzten
Jahrhundert ergeben, unsere Biologie braucht jedoch Zehntausende
von Jahren um sich an die völlig neuen Gegebenheiten anzupassen –
insofern gibt es eine Diskrepanz zwischen unserem Lebensstil und
unseren Genen. Die menschlichen Gene sind von Natur aus sparsam,
sodass wir letzten Endes Kalorien horten, während wir an unseren
Schreibtischen sitzen.
Im Zusammenhang mit Stress besteht das größte Paradoxon der
modernen Ära möglicherweise darin, dass es nicht mehr genug Müh­
sale gibt, sondern nur mehr Nachrichten – und auch noch zu viele davon. Die rund um die Uhr von unterschiedlichsten digitalen Displays
auf uns einströmende Flut an Tragödien und Anforderungen lässt die
Amygdala auf Hochtouren laufen. Das Negative und das Hektische
und das Hoffnungslose häufen sich zu Stress auf, wobei wir jedoch
davon ausgehen, dass wir alles bewältigen können, weil wir es immer
geschafft haben. Bis zu einem bestimmten Punkt. Dann möchten
89
Kapitel 3: Stress
wir uns einfach nur noch entspannen und eine Pause machen, also
greifen wir zu einem Drink und lassen uns vor dem Fernseher in
den Sessel fallen oder machen uns auf, um uns irgendwo an einen
Strand zu setzen. Es ist kein Wunder, dass Fettleibigkeit sich in den
letzten 20 Jahren verdoppelt hat – unser heutiger Lebensstil ist sowohl stressreicher als auch bewegungsärmer.
Vielleicht haben Sie schon Werbeanzeigen für Diätpillen gesehen,
die, indem sie Cortisol blockieren, schlank machen und den Bauch
verschwinden lassen. Dabei macht der Bauch nur seine Arbeit, indem
er Energievorräte als Sicherung gegen die nächste Hungersnot hortet.
Bei chronischem Stress sammelt sich dieser Vorrat um den mittleren
Teil des Bauches herum in Form eines Ersatzreifens an. Dies ist nicht
nur für Ihren Körperbau, sondern auch für Ihre Gesundheit schädlich, da Fettpolster sich leicht ihren Weg in die Herzarterien bahnen
und einen Gefäßverschluss auslösen können. Jedem, der skeptisch
gegenüber der Vorstellung ist, dass Stress töten kann, sei gesagt, dass
genau hier eine der physischen Verbindungen zwischen Stress und
Herzinfarkt liegt.
Die Anreicherung von Fett wird nach einem stressintensiven
Ereignis noch dadurch verschärft, dass wir dann oft einen Drang
nach Trost­essen haben. Unser Körper verlangt nach mehr Glukose,
und ein­fache Kohlehydrate und Fett – wie sie uns zum Beispiel aus
einer Schach­tel Donuts anlachen – sind schnell in Brennstoff umgewandelt. Im modernen Leben kommt hinzu, dass die Menschen
in der Regel weni­ger Freunde und weniger Unterstützung haben,
da es keinen Stamm mehr gibt. Alleinsein ist jedoch nicht gut fürs
Gehirn.
Um bei Ratten eine physiologische Stressreaktion auszulösen,
greifen Wissenschaftler zu dem verbreiteten Mittel, sie aus ihrer gewohnten sozialen Umgebung herauszunehmen; allein dadurch, dass
sie isoliert werden, werden ihre Stresshormone aktiviert. Das Gleiche
gilt für den Menschen: Es ist stressig, gemieden zu werden oder isoliert zu sein. Einsamkeit ist eine Bedrohung für das Überleben. So
ist es denn auch kein Zufall, dass, je weniger wir körperlich aktiv
sind, desto geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass wir aus uns
herausgehen und jemanden berühren. Studien zeigen, dass wir gesellschaftlich aktiver werden, wenn wir unserem Leben körperliche
90
Die größte Herausforderung
Aktivitäten hinzufügen – sie fördern unser Selbstvertrauen und bieten Gelegenheit, Menschen zu begegnen und kennen zu lernen. Die
Vitalität und Motivation, die körperliche Aktivitäten mit sich bringen, helfen uns, soziale Verbindungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten.
An Ihrem Wunsch, eine Pause einzulegen, ist nichts auszusetzen.
Die Frage ist, wie sie sich entscheiden, diese Zeit zu verbringen. Das
Trostessen, das schnelle Fett und der schnelle Zucker, der Alkohol,
um das Ganze zu ertragen, oder bei einigen Menschen die Tabletten
oder andere Suchtmittel, das sind die Dinge, die zu Problemen führen. Wenn Sie sich indes für körperliche Bewegung oder Sport oder
auch nur für gesellschaftlichen Umgang entscheiden, entscheiden
Sie sich für das evolutionäre Gegenmittel zu Stress.
Manchmal ist es einfach eine Frage des Ersatzes, wie meine Pa­
t­ien­tin Susan bezeugen kann. Sie hält sich nicht immer an ihr Seil­­
sprin­gen, aber wenn sie es ausfallen lässt, hält sie sich vor Augen, wie
sie sich in der Regel nach dieser Übung fühlt. „Wenn ich eine gute
Übungs­einheit schaffe, liefert sie mir als Ersatz jenes beschwingte
Gefühl des Wohl­befindens, das ich bekomme, wenn ich Wein trinke
oder etwas esse oder sonst etwas“, sagt sie. „Was auch immer dieses
Verlangen oder der Drang ist, diese Sache im Gehirn, es ist der Ersatz
dafür. Und es ist wie eine Befreiung für mich, dass ich darüber hinausdenken und in die Zukunft sehen kann.“
Was dich nicht umbringt …
Muskeln werden bekanntlich aufgebaut, indem man bis zum Mus­
kel­versagen trainiert, und sie dann ruhen lässt. Das gleiche Muster
gilt für Ner­venzellen, die eingebaute Reparatur- und Er­ho­lungs­me­
cha­nismen haben, die durch leichten Stress aktiviert werden. Das
Großartige an sport­licher Betätigung ist, dass sie den Ge­nesungs­
prozess in unseren Muskeln und Neuronen anstößt, sodass unser
Körper und unser Geist stärker und widerstandsfähiger werden und
besser in der Lage sind, mit künftigen Heraus­for­de­rungen fertig zu
werden, schnell zu reagieren und sich problemloser anzupassen.
91
Kapitel 3: Stress
Regelmäßige aerobe Übungen beruhigen den Körper, sodass er
mehr Stress bewältigen kann, bevor eine heftige Reaktion mit erhöhter Herzfrequenz und erhöhten Stresshormonspiegeln einsetzt.
Sie verschieben den Auslösepunkt der physischen Reaktion weiter
nach hinten. Im Gehirn festigt der leichte Stress der Übungen die
Infrastruktur unserer Nervenzellen, da Gene aktiviert werden, bestimmte Proteine zu produzieren, die die Zellen vor Schädigung
und Krankheiten schützen. Somit erhöhen aerobe Übungen auch
die Stressschwelle unserer Neuronen.
Die zellulare Stress- und Regenerationsdynamik findet an drei
Fronten statt: Oxidation, Stoffwechsel und Erregung.
Wenn eine Nervenzelle aktiviert wird, wird ihre Stoff­wechsel­
ma­schi­nerie wie die Warnleuchte an einem Hochofen eingeschaltet. Die von der Zelle aufgenommene Glukose wird von den Mito­
chondrien in Ade­no­sin­triphosphat (ATP) umgewandelt – die Haupt­
brennstoffart, die eine Zelle verbrennen kann –, und genau wie bei
einem Energie­um­wand­lungs­prozess fallen dabei Abfallprodukte an.
Dies ist oxidativer Stress. Unter normalen Umständen produziert die
Zelle auch Enzyme, deren Aufgabe es ist, Abfallprodukte wie freie
Radikale – Moleküle mit einem Defektelektron, die die Zellstruktur
schädigen – „aufzuwischen“, indem sie herumnavigieren und versuchen, das Elektron zu neutralisieren. Diese schützenden Enzyme
sind unsere inneren Antioxidanzien.
Metabolischer Stress tritt auf, wenn die Zellen nicht ausreichend
ATP produzieren können, weil Glukose entweder nicht in die Zelle
gelangen kann oder weil die Menge nicht ausreicht, um alle Zellen
zu versorgen.
Exzitotoxischer Stress tritt auf, wenn die Glutamat-Aktivität so
hoch ist, dass es nicht genügend ATP gibt, um dem Energiebedarf des
erhöhten Informationsflusses gerecht zu werden. Hält dieser Zustand
zu lange an, ohne eine Erholungsphase, gibt es ein Problem. Dann
befindet sich die Zelle auf dem Todesmarsch, da sie gezwungen ist,
ohne Nahrung oder Ressourcen zu arbeiten, um den Schaden zu reparieren. Die Dendriten schrumpfen, und dies führt schließlich zum
Zelltod. Dieser Mechanismus, der Krankheiten wie Alzheimer oder
Parkinson und selbst dem Alterungsprozess zugrunde liegt, wird als
Neuro­de­ge­ne­ra­tion bezeichnet. Es ist weitestgehend auf intensive
92
Die größte Herausforderung
Unter­su­chungen dieser Krankheiten zurückzuführen, dass Wissen­
schaft­ler die natürlichen Gegenmaßnahmen des Körpers bei zellularem Stress entdeckt haben.
Und dies erklärt, warum Mark Mattson, Leiter des neurowissenschaftlichen Labors am National Institute on Aging so geizig mit
der Nahrung für seine Laborratten umgeht. Bei vielen seiner Expe­
rimente nutzt Mattson die diätetische Beschränkung, um leichten
zellularen Stress zu verursachen – es gibt nicht genügend Glukose,
um ausreichende Mengen ATP zu produzieren –, und er hat festgestellt, dass Mäuse und Ratten, die nur ein Drittel ihrer normalen
Kalorienmenge erhalten, im Durchschnitt bis zu 40 Prozent länger
leben. Seine Arbeit hat dazu beigetragen, schützende Moleküle zu
identifizieren, die bei verschiedenen Arten von Stress freigesetzt werden, auch bei aeroben Übungen.
Zu den wirksamsten Bestandteilen der Kaskade von Reparatur­
mo­le­külen gehören diese Wachstumsfaktoren: neurotropher Faktor
BDNF (Brain-Derived Neurotrophic Factor), insulinähnlicher
Wachs­tums­­faktor (IGF-1), Fibroblasten-Wachstumsfaktor (FGF-2)
und der vaskuläre endotheliale Wachstumsfaktor (VEGF), auf die ich
in Kapi­tel 2 eingegangen bin. BDNF ist aufgrund seiner dualen Rolle
beim Ener­gie­stoffwechsel und bei der synaptischen Plastizität für die
Stress­forscher von besonderem Interesse. BDNF wird indirekt durch
Gluta­mat aktiviert und erhöht die Produktion von Antioxidanzien
in der Zelle sowie von schützenden Proteinen. Und wie ich erwähnt
habe, stimuliert BDNF auch die Langzeit-Potenzierung (LTP) sowie das Wachs­tum neuer Nervenzellen und stärkt somit das Gehirn
gegen Stress. Körperliche Bewegung oder Sport zu nutzen, um das
Gehirn gegen Stress zu impfen, bietet den Vorteil, dass dadurch mehr
Wachs­tums­fak­to­ren als durch andere Reize produziert werden. Sie
werden nicht nur vom Gehirn produziert, sondern FGF-2 und VEGF
werden zusätzlich auch durch Muskelkontraktionen erzeugt und gelangen dann durch den Blutkreislauf ins Gehirn, um die Neuronen
weiter zu unterstützen. Dieser Prozess ist ein erstklassiges Beispiel
dafür, wie der Körper Ein­fluss auf den Geist hat.
Die Wachstumsfaktoren stellen ein wichtiges Bindeglied zwischen Stress, Stoffwechsel und Gedächtnis dar. „Die Komplexität
unseres Ge­hirns hat sich hauptsächlich so entwickelt, damit wir um
93
Kapitel 3: Stress
begrenzte Ressourcen konkurrieren können“, sagt Mattson. „Das
ergibt auch Sinn, denn bei der Evolution mussten Organismen intellektuell miteinander konkurrieren, um herauszufinden, wie sie
Nahrung finden konnten.“
Mattsons neueste Arbeit wird die Art und Weise verändern, wie
wir einige unserer gesündesten Nahrungsmittel sehen. Inzwischen ist
eine gewaltige Industrie entstanden, die bei ihrer Verkaufsförderung
die krebsbekämpfenden Eigenschaften von Nahrungsmitteln und
Pro­duk­ten, die Antioxidanzien enthalten, in den Vordergrund stellen. Essen Sie mehr antioxidanzienhaltigen Brokkoli, heißt es, und
Sie haben ein längeres und gesünderes Leben. Das stimmt vielleicht,
aber nicht aus den Gründen, die die Marketingleute Ihnen weismachen wollen.
Wie sich herausstellt, sind diese Nahrungsmittel nicht nur besonders nutzbringend, weil sie Antioxidanzien enthalten, sondern auch,
weil sie Toxine enthalten. „Viele der nutzbringenden Chemikalien
in Pflanzen – Gemüse und Obst –, haben sich als Toxine entwi­
ckelt, um Insekten fernzuhalten und andere Tiere davon abzuhalten, sie zu essen“, erklärt Mattson. „Ihre Wirkungsweise beruht auf
einer leichten, adaptiven Stressreaktion, die in den Zellen ausgelöst wird. Brokkoli enthält beispielsweise eine Chemikalie namens
Sulforaphan; diese aktiviert nachweislich Stressreaktionspfade in
den Zellen, die antioxidative Enzyme hochregulieren. Brokkoli enthält zwar Antioxidanzien, die aber auf dem Niveau, auf dem Sie
sie über Ihre Ernährung beziehen können, nicht als Antioxidanzien
wirken.“
Genau wie bei den Arbeitern der Atomschiffwerft erzeugt ein mildes Gift eine adaptive Stressreaktion, die die Zellen stärkt. Es ist der
gleiche Prozess, der durch diätetische Beschränkung und körperliche
Bewegung erzeugt wird. Die Überschrift eines Zeitschriftenartikels
von Mattson sagt eigentlich alles: „Neuroprotective signaling and the
aging brain: Take away my food and let me run“ (Neuroprotektive
Signalgebung und das alternde Gehirn: Nimm mir mein Essen weg
und lass mich laufen).
Widerstandsfähigkeit wird von diesen Abfall entsorgenden En­z y­
men, neuroprotektiven Faktoren und Proteinen aufgebaut, die den
na­tür­lichen, programmierten Zelltod verhindern. Ich stelle mir diese
94
Die größte Herausforderung
Elemente gerne als Armeen vor, die immer in Bereitschaft stehen,
um es mit dem nächsten Stress aufzunehmen. Der beste Weg, Wider­
standsfähigkeit aufzubauen, ist selbst für leichten Stress zu sorgen:
Indem Sie das Gehirn nutzen, um zu lernen, indem Sie Kalorien
einschränken, sich körperlich bewegen oder sportlich betätigen und,
wie Matt­son und Ihre Mutter Sie ermahnen würden, Ihr Gemüse
essen. All diese Aktivitäten sind Herausforderungen für die Zellen,
bei denen Abfall­produkte entstehen, die genügend stressreich sein
können. Das Parado­xon ist, dass unsere wunderbare Fähigkeit, uns
anzupassen und zu wachsen, nicht ohne Stress vonstattengeht – wir
können das Gute nicht haben, ohne auch etwas Schlechtes in Kauf
zu nehmen.
Genug ist genug
Wie alles im Gehirn hängt auch die Stressreaktion von einem delikaten Gleichgewicht aller Bestandteile ab, die ich erwähnt habe (und
vieler, vieler, die ich nicht genannt habe). Wenn leichter Stress chronisch wird, löst die unermüdliche Kaskade von Cortisol genetische
Aktionen aus, die sodann synaptische Verbindungen durchtrennen
und Dendriten schrumpfen und Zellen sterben zu lassen; am Ende
kann der Hippocampus wie eine Rosine physisch schrumpeln.
Es gibt eine Reihe von Szenarien, bei denen der Körper den Strom
an Stresshormonen nicht abschaltet. Das offensichtlichste Szenario
ist einfach ununterbrochener Stress. Wenn wir nie eine Pause bekommen, wird der Erholungsprozess nie einsetzen, die Amygdala
unentwegt feuern, und die Cortisol-Produktion ein gesundes Maß
übersteigen. Manchmal ist der Kampf-oder-Flucht-Schalter dauerhaft eingeschaltet, so, als würde er klemmen. Nach epidemiologischen Erhebungen kann dies genetisch bedingt sein: Wenn man
eine stichprobenartig zusammengesetzte Gruppe von Personen in
eine stressige Situation des Redens in der Öffentlichkeit bringt, zeigen diejenigen, deren Eltern unter Bluthochdruck litten, noch 24
Stunden nach der Rede erhöhte Cortisol-Spiegel. Oder es kann umweltbedingt sein: Ratten, deren Mütter vor der Geburt wiederholtem
95
Kapitel 3: Stress
Stress ausgesetzt waren, hatten später, als sie heranwuchsen, geringere Stresstoleranzschwellen als Ratten aus einer normalen
Vergleichsgruppe. Das heißt, dass sie leichter gestresst sind, sowohl
physisch als auch psychisch.
Personen mit einem geringen Selbstwertgefühl haben auch eine
niedrigere Stresstoleranzschwelle, auch wenn Wissenschaftler sich
nicht sicher sind, was von beidem zuerst da war. Im Übrigen wird
jeder, unabhängig von seiner Natur und der Umwelt, in der er aufwächst, die nachteiligen Effekte chronischen Stresses zeigen, wenn
es kein Ventil für Frustration, kein Gefühl der Kontrolle und keine
soziale Unterstützung gibt. Wenn es keine Hoffnung gibt, schaltet
unser Gehirn die Reaktion tatsächlich nicht ab.
Die Toleranzschwelle für Stress ist individuell verschieden, und
dieser Punkt kann sich infolge von Einflüssen aus der Umwelt oder
unseren Genen oder unserem Verhalten oder einer Kombination
dessen verändern. Ebenso wie die Neurochemie des Gehirns verändert sich unsere Stressschwelle ständig. Die Schwelle wird naturgemäß durch den Alterungsprozess zwar gesenkt, durch aerobe
Übungen können wir sie jedoch um einiges erhöhen. Es gibt keinen
konkreten Punkt, von dem Wissenschaftler sagen können, dass sich
ab hier das Aufbauen in Abbauen verkehrt. Aber sie kennen mit
Sicherheit die Auswirkungen, wenn sie sie sehen.
Die zersetzenden Effekte von Stress
Stress prägt zwar Erinnerungen, die für das Überleben wichtig sind,
aber ein Zuviel davon schlachtet genau die Struktur aus, die jenes
Prägen vornimmt. Während Cortisol zunächst die Langzeit-Poten­zie­
rung (LTP) durch Erhöhung der Glutamat-Übertragung im Hippo­
campus sowie den Fluss von BDNF, Serotonin, IGF-1 und ähnlicher
Substanzen unterstützt, aktiviert es auch Gene, die letzten Endes In­
for­mationen unterdrücken und verhindern, dass sie ebendiese Schalt­
kreise erreichen. Ein gewichtiger Kontext sticht eine Vielzahl von weniger wichtigen aus. Das System verliert seine Flexibilität und setzt
die Priori­täten nach zunehmend starren Kriterien.
96
Die größte Herausforderung
Ein Überschuss an Glutamat führt auch zu einer physischen Schä­
digung des Hippocampus. Der Neurotransmitter wirkt, indem er
Cal­cium-Ionen, die begierig darauf sind, sich an Elektronen zu binden, in die Zelle lässt, sodass freie Radikale entstehen. Ohne genügend patrouillierende Antioxidanzien schlagen die freien Radi­
kalen Löcher in die Zellwände, sodass die Zelle zerreißen und sterben kann.
Probleme gibt es auch draußen an den Dendriten. Wenn die Ver­
äste­lungen zu lange in der Brühe des chronischen Stresses schmoren,
ziehen sie sich zurück, um ein Sterben der Zelle zu verhindern, „wie
eine Schildkröte, die ihren Kopf einzieht“, erklärt McEwen. Und da
Wachs­tumsfaktoren und Serotonin nicht fließen, wird der Prozess
der Neuro­genese unterbrochen. Die neuen Stammzellen, die jeden
Tag geboren werden, verwandeln sich nicht in neue Neuronen, sodass es zu einem Mangel an Baumaterial kommt, das man benötigt,
um die Signale über neue Wege umzuleiten und den Teufelskreis zu
unterbrechen.
Monica Starkman von der University of Michigan untersucht das
Cushing-Syndrom, eine endokrine Dysfunktion, bei der der Körper
kontinuierlich mit Cortisol überschwemmt wird. Die wissenschaftliche Bezeichnung dieser Störung spricht Bände: Hypercortisolismus.
Ihre Symptome haben eine unglaubliche Ähnlichkeit mit denen chronischen Stresses: Gewichtszunahme im mittleren Körperbereich;
Zer­setzung von Muskelgewebe, um unnötige Glukose und dann
Fett zu produzieren; Insulinresistenz und möglicherweise Diabetes;
Panik­attacken, Ängste, Depression und ein erhöhtes Risiko von
Herz­k rank­heiten. Eine der vielen Korrelationen, die Starkman aufgezeigt hat, ist das direkte proportionale Verhältnis zwischen schrumpfendem Hippo­cam­pus sowie nachlassendem Erinnerungsvermögen
und erhöhtem Cortisol-Spiegel.
Während chronischer Stress dem Hippocampus zusetzt – seine
Dendri­ten stutzt, seine Neuronen tötet und eine Neurogenese verhindert –, hat die Amygdala ihren großen Tag. Durch das Übermaß
an Stress werden weitere Verbindungen in der Amygdala geschaffen, die unablässig feuern und nach Cortisol verlangen, obwohl jede
Menge davon verfügbar ist, und die negative Situation verselbstständigt sich. Je mehr die Amygdala feuert, desto stärker wird sie. Am
97
Kapitel 3: Stress
Ende übernimmt die Amygdala die Kontrolle in ihrer Partnerschaft
mit dem Hippo­cam­pus, unterdrückt den Kontext von Informationen
– und damit die Ver­bindung zur Realität – und drückt dem
Gedächtnis den Stempel der Furcht auf. Der Stress wird verallgemeinert, verbunden mit einem frei flottierenden Gefühl der Furcht,
das sich in Ängste verwandelt. Alles scheint ein Stressor zu sein, und
das färbt die Wahrnehmung und führt zu noch mehr Stress. „Das
Tier wird ängstlicher, derweil seine kognitiven Fertigkeiten untergraben werden“, sagt McEwen.
Wenn Sie unter chronischem Stress leiden, verlieren Sie die Fä­
hig­keit, die Situation mit anderen Erinnerungen zu vergleichen, oder
sich zu erinnern, dass Sie nach einem Sprungseil greifen und den
Stress sofort lindern können, oder dass Sie Freunde haben, mit denen
Sie sprechen können, oder dass dies nicht das Ende der Welt bedeutet. Po­sitive und realistische Gedanken werden weniger zugänglich,
und am Ende kann sich die Hirnchemie zu „Gunsten“ von Ängsten
oder De­pres­sio­nen verlagern.
Chronischer Stress ist nicht die einzige Ursache für Ängste und
Depressionen und führt auch nicht unbedingt zu einer dieser beiden Störungen. Er ist jedoch eindeutig die Ursache vieler unserer
Nöte, sowohl physisch als auch psychisch, und in den kommenden
Kapiteln werde ich immer wieder auf die Biologie von chronischem
Stress zurückkommen.
In einer gewissen Weise ist die Tatsache, dass chronischer Stress
hinter vielen unserer Probleme steht, eine sehr gute Nachricht, da
wir wissen, dass die Art und Weise, wie wir auf Stress reagieren,
großen Einfluss darauf hat, welche Konsequenzen er für unseren
Körper und unseren Geist hat. Der Großteil unserer Evolution fand
in Zeiten statt, in denen wir Jäger und Sammler waren. Daran können wir zwar nichts ändern, dieses Wissen können wir uns jedoch
sehr wohl zunutze machen. Denn: „Es ist keineswegs unvermeidlich
oder normal, dass genau das System, das uns schützen soll, selbst zu
einer Bedrohung für uns wird“, wie McEwen in seinem Buch The
End of Stress as We Know It schreibt.
98
Die größte Herausforderung
Die Wissenschaft, es zu verbrennen
Sie wissen inzwischen, dass die Funktion des Gehirns darin besteht,
Informationen von einer Synapse zur anderen weiterzuleiten, und
dass dazu Energie erforderlich ist. Da körperliche Bewegung oder
Sport den Stoffwechsel beeinflussen, sind sie ein wirksamer Weg,
um die synaptische Funktion zu verändern und damit die Art und
Weise, wie wir denken und fühlen. Körperliche Bewegung oder
Sport erhöhen im ganzen Körper die Durchblutung und damit die
Verfügbarkeit von Glukose, jenem lebenswichtigen Element für das
Leben der Zellen. Mehr Blut bedeutet, dass mehr Sauerstoff transportiert wird, den die Zellen benötigen, um Glukose in ATP umzuwandeln und sich selbst zu ernähren. Das Gehirn verlagert den
Blutfluss vom frontalen Cortex zum Mittelhirn, wo jene Strukturen
lokalisiert sind, über die wir so viel gesprochen haben: Amygdala
und Hippocampus. Diese Prioritätensetzung könnte erklären, warum Forscher festgestellt haben, dass höhere kognitive Funktionen
bei intensiver sportlicher Betätigung beeinträchtigt sind.
Es geht darum, was nach körperlicher Bewegung oder Sport ge­
schieht, wodurch die Gehirnfunktion optimiert wird. Zusätz­lich zur
Er­­höhung der Kampf-oder-Flucht-Schwelle wird der zellulare Er­
ho­lungs­­prozess in Gang gesetzt, den ich beschrieben habe. Kör­per­
liche Bewegung oder Sport erhöhen die Effizienz der interzellularen
Ener­gie­pro­duktion, sodass die Neuronen den Energiebedarf decken
kön­nen, ohne den toxischen oxidativen Stress zu erhöhen. Es werden
zwar Abfallprodukte aufgebaut, aber es stehen auch die Enzyme zur
Verfügung, die sie vertilgen, ganz zu schweigen von dem „Haus­meis­
ter­­dienst“, der die Entsorgung von Teilchen der DNS und sonsti­gen
Ab­fallprodukten übernimmt, die im Zuge des normalen zellularen
Nutzungs- ­und Alterungsprozesses anfallen – wobei bei beiden davon
ausgegangen wird, dass sie die Entwicklung von Krebs und Neuro­de­
ge­nera­tion verhindern helfen. Körperliche Bewegung oder Sport lösen
zwar die Stressreaktion aus, sofern die Aktivität jedoch nicht extrem
ist, dürfte das System nicht mit Cortisol überschwemmt werden.
Körperliche Bewegung oder Sport optimieren die Energienut­zung
unter anderem, indem sie die Produktion von mehr Rezeptoren für
99
Kapitel 3: Stress
Insulin auslösen. Mehr Rezeptoren zu haben, bedeutet für den Körper
eine bessere Nutzung der Blutglukose und führt zu stärkeren Zellen.
Und das Beste ist, die Rezeptoren bleiben auch an Ort und Stelle, was
bedeutet, dass die neu entwickelte Effizienz eingebaut wird. Wenn Sie
sich regelmäßig körperlich bewegen oder sportlich betätigen und der
Bestand an Insulinrezeptoren sich erhöht, dann wird die Zelle dem
Blut immer noch genügend Glukose entziehen können, um weiterhin
zu funktionieren, auch wenn es zu einem Rückgang des Blutzuckers
oder der Durchblutung kommt. Darüber hinaus wird durch körperliche Bewegung auch der IGF-1-Spiegel erhöht, was dem Insulin hilft,
den Glukosespiegel zu kontrollieren.
Im Gehirn hat IGF-1 nicht so viel damit zu tun, die Energie in die
Zellen zu transportieren, als vielmehr damit, den Glukosespiegel im
gan­zen Körper zu regulieren. Faszinierend ist, dass IGF-1 im Hippo­
cam­­pus die Langzeit-Potenzierung (LTP), die Neuroplastizität und
die Neu­rogenese erhöht. Dies ist ein weiterer Weg, wie körperliche
Be­we­gung den Neuronen hilft, sich anzubinden. Durch Sport werden auch FGF-2 und VEGF produziert, wodurch im Gehirn neue
Kapillare aufgebaut werden und das Gefäßsystem erweitert wird.
Mehr Straßen und vor allem größere „Straßen“ bedeuten eine effizientere Durchblutung.
Gleichzeitig erhöhen aerobe Übungen die BDNF-Produktion.
Zu­­sam­mengenommen stellen diese Faktoren eine Kombination von
Kräf­ten dar, die dafür sorgen, dass das Gehirn sich optimal entfal­
tet und die schädigenden Effekte von chronischem Stress nicht zum
Tra­gen kommen. Darüber hinaus kurbeln sie nicht nur die zel­lu­la­
ren Re­pa­ra­tur­mechanismen an, sondern halten auch das Cor­tisol
unter Kontrolle und erhöhen darüber hinaus den Spiegel unserer
regulierenden Neu­rotransmitter Serotonin, Noradrenalin und Do­
pa­min.
Auf der mechanischen Ebene entspannt körperliche Bewegung die
Ruhe­spannung der Muskelspindeln, wodurch die Stress-FeedbackSchlei­fe zum Gehirn unterbrochen wird. Wenn der Kör­per nicht gestresst ist, geht das Gehirn davon aus, dass es sich viel­leicht auch
entspan­nen kann. Mit der Zeit erhöht körperliche Bewegung auch
die Ef­fi­zienz des Herz-Kreislauf-Systems, indem der Blut­druck gesenkt wird. Kardiologen haben unlängst entdeckt, dass ein Hormon,
100
Die größte Herausforderung
das sogenannte atriale natriu­re­trische Peptid (ANP), das vom
Muskelgewebe im Herzen produziert wird, direkt die Stressreaktion
des Körpers dämpft, indem die HPA-Achse gebremst und das
Rauschen im Gehirn unter­drückt wird. Interessant an ANP ist, dass
es sich in dem Zuge erhöht, wie sich die Herzfrequenz bei körperlicher Bewegung oder Sport erhöht, was somit einen weiteren Weg
veranschaulicht, wie körperliche Aktivität sowohl das Stressgefühl
als auch die Reaktion des Körpers darauf lindert.
Der durch körperliche Bewegung oder sportliche Betätigung
hervorgerufene Stress ist vorhersehbar und kontrollierbar, da Sie
selbst der Initiator dessen sind. Und diese beiden Variablen der
Vorhersehbarkeit und Kontrollierbarkeit sind für die Psychologie von
entscheidender Bedeutung. Mit körperlicher Bewegung oder Sport
gewinnen Sie ein Gefühl der Kontrolle und des Selbstvertrauens.
In dem Zuge, wie Ihnen Ihre eigene Fähigkeit, mit Stress umzugehen, bewusst wird, und Sie merken, dass Sie nicht auf negative Bewältigungsmechanismen angewiesen sind, erhöhen Sie Ihre
Fähigkeit, damit sozusagen „Schluss zu machen“. Sie lernen, darauf zu vertrauen, dass Sie damit umgehen können – was für meine
Patientin Susan ein äußerst wichtiger Faktor war; mit Seilspringen
hemmt sie das Gefühl des Stresses und die außer Kontrolle geratene
Hirnaktivität, die damit einhergehen kann. „Meine Hirnchemie zu
kennen, ist das Beste für mich“, sagt Susan. „Es ist meine Motivation,
um da herauszukommen. Wenn ich in einer guten Verfassung bin,
fällt mir diese Motivation leichter – Seilspringen ist fast zu einer
Notwendigkeit geworden.“
Susan hat den Mechanismus verstanden, und ich hoffe, ihn allen
Lesern dieses Buches vermitteln zu können. Körperliche Bewegung
wehrt auf jeder Ebene, von der mikrozellularen bis zur psychologischen, nicht nur die krank machenden Effekte von chronischem
Stress ab, sondern vermag sie auch umzukehren. Studien zeigen,
wenn Forscher chronisch gestressten Ratten körperliche Bewegung
verordnen, dass diese Aktivität den Hippocampus wieder bis zu
dem Umfang wachsen lässt, den er vor seinem Schrumpfen hatte. Die Mechanismen, über die körperliche Bewegung die Art und
Weise verändert, wie wir denken und fühlen, sind um so vieles effektiver als Donuts, Medikamente und Wein. Wenn Sie nach dem
101
Kapitel 3: Stress
Schwimmen oder auch nach einem flotten Spaziergang sagen, dass
Sie sich weniger vom Stress überwältigt fühlen, dann ist dies auch
so.
Was den Geist schützt,
schützt den Körper
Bob war total gestresst. Es war das Jahr 1969. Er hatte seine Zeit als
Assistenzarzt beendet und war gerade aus der Navy entlassen worden, wo er unter Kriegsneurosen leidende Soldaten intensiv befragt
hatte, die direkt aus Vietnam zu seinem Fliegerhorst in Boston gekommen waren. Die Arbeit war jedoch nicht das Problem – er war
ein junger Psychoanalytiker und sehr kompetent. Es waren persönliche Dinge: Sowohl sein Vater als auch sein Schwiegervater waren kurz nacheinander gestorben, und alle Emotionen, die er als
Teenager, als seine Mutter starb, ignoriert hatte, brachen jetzt über
ihn herein und trafen ihn wie mit einem Vorschlaghammer.
Auch körperlich war er ein Wrack. Er war so gestresst, dass er
seltsame Erstickungsanfälle bekam, bei denen er kaum noch atmen
konnte. Er hatte sich erst kürzlich von einem jahrelangen Kampf
gegen eine virale Hirnhautentzündung erholt, einer außer Kontrolle
geratenen Entzündung des Gehirns, die oft tödlich endet, und jetzt
lag er schon wieder im Krankenhaus. Dieses Mal dachte er, er hätte Kehlkopfkrebs. Damals wies nichts darauf hin, dass er dereinst
einmal Präsident der American Psychoanalytic Association oder
Fakul­täts­mitglied an der Harvard University oder Berater eines
Nach­w uchs­-Förderprogramms der Obersten Baseball-Liga werden würde. Fest steht, dass bei Dr. Robert Pyles im Alter von 33
Jahren nichts darauf hindeutete, dass er noch ein weiteres Jahr leben würde.
Die Röntgenbilder zeigten ein „Schneegestöber“ in seinen Lun­
gen, wobei sich herausstellte, dass es sich um eine gestreute Sarkoidose
han­delte, eine krebsähnliche Krankheit des Lymphsystems, die in der
Regel auf andere Organe übergreift und tödlich ist. „Ich sehe es fast
102
Die größte Herausforderung
positiv, dass diese Dinge passiert sind, weil ich zu der Zeit unter gewaltigem Stress stand und unter einer Depression litt“, sagt Pyles. „Ich
glaube, der Punkt war, dass mein Immunsystem so in Mit­lei­den­schaft
gezogen war, dass ich die zweite Krankheit bekam.“
Auf die Effekte von chronischem Stress auf das Gehirn bin ich bereits eingegangen, aber die Effekte auf den Körper sind genauso stark.
Chro­nischer Stress hat mit einigen unserer tödlichsten Krankheiten
zu tun. Wenn wiederholte Blutdruckspitzen die Blutgefäße schädigen, können sich Ablagerungen aufbauen, die zu Atherosklerose
führen. Wie bereits an früherer Stelle erwähnt, kann eine unkontrollierte Stress­­­reaktion zur Ansammlung von Fettvorräten im mittleren Kör­per­bereich führen, wobei Studien gezeigt haben, dass diese
gefährlicher sind als Fett, das anderswo gespeichert wird. Die durch
chronischen Stress bedingte Überlastung mit Cortisol führt zu einer Senkung des IGF-1-Spiegels, wobei der Glukosespiegel im Blut
gleichzeitig aufrechterhalten wird; so entsteht ein metabolisches
Ungleichgewicht, das zu Dia­betes führen kann. Allgemeiner gesagt
greift ein unaufhörlicher Cor­ti­sol­fluss das Immunsystem an, womit
der Körper überaus anfällig für eine Reihe von Krankheiten wird.
Das Ergebnis kann tödlich sein.
Pyles hatte keine Hoffnung. In jener Zeit gab es keine Behand­
lung für eine gestreute Sarkoidose, geschweige denn eine Heilung.
An einem Tag war er noch der junge Arzt mit einer Harvard-Aus­
bildung, der eine Familie gründete und beim Anbruch eines neuen
Jahrzehnts eine Praxis eröffnete, und am nächsten wurde ihm ein
Todesurteil überreicht. „Ich wusste nicht, was ich tun sollte“, sagt
er. „Ich geriet noch mehr in Panik und unter Stress. Also fing ich
an zu laufen.“
In seiner Schulzeit war er recht sportlich gewesen, hatte sich
dann aber gehen lassen – bis zu dem Punkt, dass er 86 Kilo bei einer
Kör­per­größe von 1,75 Meter vorzuweisen hatte. „Nachdem ich vom
College ab­ge­­gangen war, ging es mir so wie allen anderen. Ich machte
keinen Sport mehr“, sagt er. „Ich konnte nur etwa 400 oder 800 Meter
laufen. Aber immerhin sagte ich mir dann: Wenn ich so weit laufen
kann, dann werde ich heute vermutlich erstmal nicht sterben. Nach
einer Weile hatte ich mich auf anderthalb Kilometer hochgearbeitet,
dann wurden daraus fünf Kilometer, dann acht und dann 13. Ich
103
Kapitel 3: Stress
stellte fest, wenn ich einen bestimmten Punkt überschritt, an dem es
wirklich unangenehm war, dass es dann irgendwie in meiner Psyche
„klick“ machte und ich noch lange weiterlaufen konnte.“
Pyles lief weiter. Er lief nicht um sein Leben, aber um seiner geis­
tigen Gesundheit willen. Das Einzige, was ein Patient mit gestreuter
Sarkoidose tun konnte, war, etwa alle drei Monate zum Röntgen zu
gehen und die Ärzte die „Schneebälle“ zählen zu lassen. Bei Pyles
schien die Krankheit sich jedoch nicht zu verschlimmern, sondern zu
stagnieren. Aus den Monaten wurden Jahre, aus seinem Laufpensum
wurde ein Marathon, und dann zeigte sich auf den Röntgenbildern,
dass die „Schneebälle“ zurückgingen. Nach etwa fünf Jahren war die
Krankheit verschwunden.
Dies war zu einer Zeit, in der ein Arzt einem Patienten erst einmal Ruhe empfahl. Dr. Kenneth Cooper hatte den Begriff Aerobic
gerade erst geprägt, und wir hatten den gesundheitlichen Nutzen
kardiovaskulärer Fitness noch nicht akzeptieren gelernt. Trotz seiner
medizinischen Ausbildung hatte Pyles nicht erkannt, dass der Stress
sich in eine Depression verwandelt hatte, und sein Analytiker auch
nicht. „Was das Laufen mir gegeben hat, war, glaube ich, ein gewisses
Gefühl der Kontrolle – das heißt, ich konnte etwas tun“, sagt Pyles.
„Das Ent­scheidende bei der Depression und der Krankheit ist, dass
ich mich völlig hilflos fühlte, so als ob ich nichts tun könnte. Es gab
damals nicht einmal die Möglichkeit, sie zu bekämpfen.“
Sein Arzt hielt seinen Fall in der medizinischen Literatur fest
und seine Genesung für eine Wunderheilung. Als Pyles meinte, seine Genesung habe etwas mit dem Laufen zu tun, dachte sein Arzt,
das sei „einfach absoluter Unsinn“, sagt Pyles.
Pyles hatte sich nie vorgestellt, dass Laufen in seinem Leben eine
so zentrale Rolle spielen würde. Er gab sein Pfeifenrauchen auf, und
ebenso hörte er auf, Fleisch zu essen, weil er sich dadurch schwer fühlte. Er verband seine zunehmenden persönlichen Interessen mit seinem Beruf und praktizierte als Sportpsychiater für verletzte Sportler,
die in eine Depression fielen, weil sie keinen Sport mehr treiben konnten. Natürlich hatte er sich auch selbst Verletzungen zugezogen, aber
abgesehen von einer Pause, die er wegen eines gebrochenen Beines
einlegen musste, läuft er jedes Jahr zwei Marathons, seit er mit dem
Laufen angefangen hat. Das waren bisher insgesamt 47.
104
Die größte Herausforderung
„Damals fehlte den Ärzten noch jedes Verständnis, dass Sport in ir­
gendeiner Hinsicht nützlich sein könnte“, erklärt Pyles. „Ich denke
noch immer, dass dieser Punkt wahnsinnig unterschätzt wird. Ins­
be­son­dere in der Psychiatrie. Menschen, die als Intellektuelle aufgewachsen sind, haben fast eine Aversion dagegen.“
Pyles führt dies zum Teil auf die Grundprinzipien der Freud’­
schen Psychoanalyse zurück. Etwas zu tun, um nicht über unsere Emotionen sprechen zu müssen, wird als „Ausagieren“ betrachtet. Das ist der Ursprung der Psychiater-Couch – dahinter steht die
Idee, dafür zu sorgen, dass der Patient sich nicht bewegt, und die
Emotionen zu zwingen, sich verbal zu manifestieren. Aus dieser
Sicht ist Sport ein klassisches Beispiel für Ausagieren – mit unseren
Emotionen physisch statt verbal umzugehen.
Bei Pyles, der inzwischen 72 Jahre alt ist, hat sich das genaue Ge­
genteil als richtig erwiesen. Sein aktiver Bewältigungsmechanismus
hat sowohl sein Leben als auch seine berufliche Laufbahn verändert. „Sport hat mir das Leben gerettet“, sagt er. „Ich glaube, das
Laufen hat mich wirklich wieder dahin gebracht, Körper und Geist
als Einheit zu sehen, denn es ist eine Einheit. Wir bestehen nicht
aus Einzelteilen.“
Sport treiben und trainieren
Da das Büro für viele Menschen eine Hauptquelle für Stress ist, ist es
der richtige Ort, den Nutzen körperlicher Bewegung zu suchen. Mehr
und mehr Unternehmen ermuntern ihre Mitarbeiter, die Vorteile eines fir­men­eigenen Fitnessraums oder die Mitgliedschaft in einem
Fit­ness­k lub zu nutzen. Einige Krankenversicherungsunternehmen
erstatten ihren Kunden sogar die Klubgebühren. Ihre Großzügigkeit
beruht auf Studien, die zeigen, dass körperliche Bewegung Stress reduziert und die Pro­duktivität der Mitarbeiter erhöht.
2004 stellten Forscher an der Leeds Metropolitan University in
Eng­land fest, dass Arbeiter, die den Fitnessraum ihres Unternehmens
nutzten, produktiver waren und sich eher in der Lage fühlten,
mit ihrer Arbeitsbelastung fertig zu werden. Die meisten der 210
105
Kapitel 3: Stress
Teilnehmer der Studie nahmen zur Mittagszeit 45 Minuten bis eine
Stunde an einem Aerobic-Kurs teil, während andere 30 bis 60 Mi­
nu­ten Gewichte hoben oder Yoga praktizierten. Am Ende jedes Ar­
beitstages füllten sie Frage­bögen aus, wie gut sie mit ihren Kolle­
gen, ihrer Zeitplanung und dem Ein­halten von Terminen zurechtkamen. Etwa 65 Prozent schnitten in allen drei Kategorien besser
ab an Tagen, an denen sie sich sportlich betätigt hatten. Insgesamt
fühlten sie sich, wenn sie Sport getrieben hatten, weniger gestresst
und besser, was ihre Arbeit anging. Und am Nachmittag fühlten
sie sich weniger erschöpft, obwohl sie in der Mit­tags­pause Energie
verbraucht hatten.
Andere Studien zeigen, dass bei Mitarbeitern, die sich regelmäßig
sportlich betätigen, weniger Krankheitstage zu verzeichnen sind. Bei
der Northern Gas Company gingen bei Mitarbeitern, die an einem
Trainingsprogramm des Unternehmens teilnehmen, die Krank­heits­
tage um 80 Prozent zurück. Die Flugzeugsparte von General Elec­tric
führte eine Studie durch, bei der festgestellt wurde, dass die medizinischen Beschwerden von Mitarbeitern, die Mitglied im firmeneigenen Fitnesszentrum waren, um 27 Prozent zurückgingen, während
die von Nichtmitgliedern um 17 Prozent stiegen. Und laut einem
Ende der 1990er-Jahre von Coca-Cola veröffentlichten Bericht waren die krankheitsbedingten Kosten im Durchschnitt 500 US-Dollar
geringer bei Mitarbeitern, die das firmeneigene Fitnessprogramm
mitmachten, im Vergleich zu denjenigen, die sich nicht daran beteiligten.
Aber auch allgemeinere Forschungsergebnisse unterstützen die
Auffassung, dass sportliche Betätigung stressbedingte Krankheiten
bekämpft, die für Arbeitsausfälle sorgen können. Sowohl Stress als
auch Inaktivität – die beiden Zwillingsmerkmale des modernen
Lebens – spielen eine große Rolle bei der Entwicklung von Arthritis,
dem chronischen Erschöpfungssyndrom, dem Fibromyalgie-Syn­
drom und anderen Autoimmunkrankheiten. Mit irgendwelchen
Mitteln Stress zu reduzieren, und insbesondere durch körperliche
Bewegung oder Sport, hilft Patienten bei der Genesung von diesen
Krankheiten. Die Krank­heiten sind das Ergebnis eines geschwächten
Immunsystems, und wie das Beispiel von Robert Pyles anschaulich
gezeigt hat, kann Sport die Immunfunktion enorm verbessern. In
106
Die größte Herausforderung
den letzten Jahren haben Ärzte angefangen, Krebspatienten sportliche Betätigung zu empfehlen, sowohl um ihre Immunreaktion zu
fördern als auch um Stress und Depressionen abzuwehren. Niemand
behauptet, Sport würde Krebs heilen, die Forschung lässt jedoch
darauf schließen, dass Aktivi­tät bei manchen Formen der Krankheit
eindeutig ein Faktor ist: 23 von 35 Studien zeigen, dass Frauen, die
inaktiv sind, einem erhöhten Brust­k rebs­risiko ausgesetzt sind; bei
körperlich aktiven Personen ist die Wahr­­scheinlichkeit, Darmkrebs
zu entwickeln, um 50 Prozent geringer; und bei aktiven Männern
von über 65 ist die Wahrscheinlichkeit, die fortgeschrittene, in der
Regel tödliche Form von Prostatakrebs zu ent­w ickeln, um 70 Prozent
geringer.
Damit sind wir wieder bei dem evolutionären Paradoxon, dass
wir, auch wenn es wesentlich einfacher ist, in der modernen Welt zu
überleben, mehr Stress erleben. Die Tatsache, dass wir weitaus weniger aktiv sind, als unsere Vorfahren es waren, verschlimmert das
Ganze nur noch. Halten Sie sich einfach vor Augen: Je mehr Stress
Sie haben, desto mehr muss Ihr Körper sich bewegen, damit Ihr
Gehirn weiterhin reibungslos funktioniert.
107
4. Angst

Kein Grund in Panik
zu geraten
D
ie Befragung begann denkbar harmlos. Der Anwalt befragte
mich nach meinem Hintergrund, nach den Büchern, die ich
geschrieben hatte, und nach meinen Fachgebieten. Der Gerichtssaal
war düster und die Stimmung gelangweilt, im krassen Gegensatz zu
dem Drama, um das es hier ging. Jenseits von den üblichen finanziellen Erwägungen stand für die Angeklagte das Sorgerecht für mehrere
Kinder auf dem Spiel; sie war eine Patientin von mir – ich nenne sie
Amy – und wurde gerade von ihrem Mann geschieden. Auf Geheiß
ihrer Anwälte hatte ich im Zeugenstand Platz genommen, um eine
Aussage zu ihrer psychischen Verfassung zu machen, und jetzt wurde
ich ins Kreuzverhör genommen.
Amy ist intelligent und attraktiv, aber schüchtern und ängstlich.
Sie sorgte sich immerzu, wegen allem. Nachdem ihr von einem Jet­
set-Ereignis zum nächsten eilender Ehemann zunehmend weniger
daran interessiert war, ihr Ehemann zu sein, und seine unablässige Kri­tik immer heftiger wurde, befürchtete sie das Schlimmste –
eine Wie­der­holung ihrer Kindheit. Ein Auseinanderbrechen ihrer
Familie war genau das, was sie nicht wollte. Als klar wurde, dass eine
Scheidung unvermeidlich war, sah sie nicht, wie sie mit der Situation
fertig werden sollte, und drohte in einem Anflug von Panik, sich
selbst umzubringen und floh 5.000 Kilometer weit. Ihre überstürzte
109
Kapitel 4: Angst
Reaktion war ihr rechtliches Verderben. Das Gericht räumte ihrem
Ehemann das volle Sorgerecht für die Kinder ein, vorbehaltlich des
Ausgangs des schwebenden Gerichtsverfahrens, mit der Auflage für
sie, dass sie die Kinder nur zweimal in der Woche sehen durfte.
Schlimmer noch, aufgrund des Verdachts, dass sie psychisch instabil sein könnte, mussten ihre Be­suche unter der Aufsicht eines vom
Gericht bestellten Beobachters stattfinden.
Die Anwältin ihres Ehemanns schoss sich auf Amys Behandlung
ein.
„Nimmt die Angeklagte irgendwelche Medikamente?“ fragte sie,
wobei sie die Antwort sehr genau kannte.
„Nein, im Moment nicht“, antwortete ich.
„Haben Sie der Angeklagten jemals Medikamente verschrieben?“
„Ja. Prozac.“
„Das ist ein Antidepressivum.“
„Ja. Und es ist sehr wirksam bei der Behandlung generalisierter
Angststörungen.“
„Und Ihre Patientin hat eine generalisierte Angststörung?“
„Ja.“
„Ich verstehe. Und sie nimmt im Moment kein Prozac. Haben
Sie ihr gesagt, dass sie es absetzen soll?“
„Nein. Sie hat um Erlaubnis gebeten, und ich habe ihr gesagt, es
sei okay.“ Ich sah, worauf dies hinauslief: Die Anwältin wollte Amy
als jemanden darstellen, der gar nicht gesund werden wollte. In den
Augen des Gerichtes bedeutet eine Behandlung, Medikamente zu
nehmen – und die Weigerung, sie zu nehmen, bedeutete somit, dass
sie kein In­teresse daran haben konnte, dass es ihr besser ging. Wie
konnte man jemanden die Aufsicht über seine Kinder anvertrauen,
wenn er sich nicht einmal um sich selbst kümmerte?
„Aber sie treibt Sport“, warf ich ein. „Und sie macht sich großartig!“
„Sport? Das ist keine anerkannte Behandlung, oder, Doktor?“
„Absolut. Sport wirkt im Wesentlichen wie Prozac und unsere
anderen Antidepressiva und angstlösenden Medikamente …“
„Das ist Ihre Meinung“, unterbrach mich die Anwältin, „aber
was bewirkt er genau?“
„Möchten Sie das wirklich wissen?“ fragte ich lächelnd. „Ich
schreibe gerade ein Buch über dieses Thema.“
110
Kein Grund in Panik zu geraten
„Ja, das möchte ich.“
Vielleicht erwartete sie irgendeine verschwommene Erklärung
zum Runner’s High. Stattdessen zitierte ich jedoch einige der klinischen Versuche, die zeigen, dass körperliche Bewegung oder Sport
genauso wirksam wie bestimmte Medikamente bei der Behandlung
von Ängsten und Depressionen sind. Ich hielt dann einen 20-minütigen Monolog darüber, was sportliche Betätigung für das Gehirn tut,
wie sie konkret Amys Ängste gezähmt hatte und es ihr ermöglicht
hatte, ihre chaotischen Gefühle in den neun Monaten zu bewältigen,
in denen sie meine Patientin war. Wenn diese Anwältin körperliche
Bewegung oder Sport vor Gericht stellen wollte, so war ich ganz dafür.
Der Fall
Angst ist eine natürliche Reaktion auf eine Bedrohung. Sie tritt dann
bei der Stressreaktion ein, wenn das sympathische Nervensystem
und die HPA-Achse (Hypothalamus über die Hirnanhangdrüse
zur Neben­niere) in den Schnellgang schalten. Wenn Sie kurz
vor einer Rede stehen, die Sie halten sollen, oder wenn sich eine
Konfrontation mit Ihrem Chef zusammenbraut, schärft die Angst
Ihre Aufmerksamkeit, damit Sie den Herausforderungen gerecht
werden können. Die physischen Symp­tome reichen von einem
Gefühl der Anspannung, Nervosität und Kurz­at­migkeit bis hin zu
rasendem Herzschlag, Schwitzen und, im Falle voll ausgewachsener
Panikattacken, zu schweren Brustschmerzen. Was Sie auf emotionaler Ebene empfinden, ist Furcht. Wenn Sie in einem Flugzeug sitzen,
das plötzlich mehrere hundert Meter abfällt, werden Sie wie jeder
andere an Bord nervös und akut besorgt sein – werden wir es schaffen? Das Nervensystem bleibt noch eine Weile alarmiert, hypersensibilisiert für jede weitere Turbulenz. Das ist normal.
Sofern Sie sich jedoch sorgen, wenn es keine reale Bedrohung
gibt, und zwar bis zu einem Punkt, an dem Sie nicht mehr normal
funktionieren können, dann handelt es sich um eine Angststörung.
Die Symptome drängen sich in Ihr Bewusstsein, Ihr Gehirn verliert die Perspektive, und Sie können nicht mehr klar denken. Etwa
111
Kapitel 4: Angst
40 Millionen US-Amerikaner leiden unter klinischen Ängsten, das
heißt, 18 Prozent der Bevölkerung, und zwar in jedem Jahr, und diese
Ängste können sich in verschiedenster Hinsicht manifestieren. Dazu
gehören generalisierte Angststörungen, Panikstörungen, bestimmte
Phobien und soziale Angststörungen. Sie alle haben die gleichen physischen Symptome der schweren Stressreaktion sowie eine ähnliche
Dysfunktion im Gehirn, nämlich eine kognitive Fehlinterpretation
der Situation. Der gemeinsame Nenner ist eine irrationale Furcht.
Die Unterschiede sind meist eine Frage des Kontextes.
Jemand mit einer generalisierten Angststörung neigt dazu, auf
normale Situationen so zu reagieren, als ob er bedroht würde – der
Flattermann, der Angst vor seinem eigenen Schatten hat, oder der
ewig von Sorgen Geplagte, der überall Belastungsfaktoren sieht.
Personen, die unter einer Panikstörung leiden, scheinen die meiste Zeit absolut entspannt zu sein, werden dann wie aus heiterem
Himmel jedoch von einer lähmenden Furcht und physischen Schmer­
zen befallen, die irrtümlicherweise für eine Herzattacke gehalten werden können. Panik ist die intensivste Form der Angst und die Wurzel
aller Phobien – eine paralysierende Furcht vor einem bestimmten
Objekt oder einer Situation, die einen starken und oft unangemessenen Zwang auslöst, diese Quelle zu meiden (Spinnen bei dem
Arachnophobiker, offene Plätze bei dem Agoraphobiker).
Die verbreitetste Phobie ist wahrscheinlich die soziale Angst­stö­
rung, die ich für eine Leistungsangst im alltäglichen Umgang mit anderen Menschen halte. Die meisten von uns erleben an irgendeinem
Punkt oder in bestimmten Situationen Sozialängste, die Störung ist
jedoch intensiver, als dass man nur gelegentlich scheu oder schüchtern wäre. Es ist eine verzehrende Furcht vor jeder sozialen Situation,
bei der es um die Begegnung oder das Sprechen mit Personen gehen könnte, oder auch nur darum, von anderen gesehen zu werden.
Und diese Furcht ist verbreiteter, als die meisten Menschen sich vorstellen. Allein 15 Mil­li­o­nen US-Amerikaner sind davon betroffen.
Eine soziale Angststörung for­dert einen schweren Tribut, was die
Lebensqualität angeht.
All diese Formen von Ängsten können ineinander übergehen
oder sich gegenseitig verstärken, und sie säen oft die Saat für andere
Stö­run­gen, wie eine Depression. Man kann unter einer Panikstörung
112
Kein Grund in Panik zu geraten
leiden, ohne eine generalisierte Angststörung zu haben, und umgekehrt. Aufgrund der Furcht vor der nächsten Attacke verkehrt sich
eine Panik­störung jedoch oft in eine generalisierte Angststörung.
Manche Per­so­nen haben auch eine Angstsensitivität, die jede Form
der Störung kompliziert. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund
erhöht sich viel­leicht Ihr Herzschlag oder Ihre Atemfrequenz, und
wenn Sie diese physische Erregung spüren, reicht allein dieses
Bewusstsein, um einen Zustand der Angst oder Panik auszulösen.
Sie verlieren die Kontrolle, weil Sie das Gefühl haben, dass Sie die
Kontrolle verlieren werden. Wenn Sie anfangen, Angst vor der Angst
zu haben – egal, ob diese mental oder physisch ist –, kann die Angst
schnell außer Kontrolle geraten.
Amy ist ein Lehrbuchfall einer generalisierten Angststörung, mit
Anzeichen einer Panikstörung und einer sozialen Angststörung. Sie
offenbart sowohl den Zustand – hyperwachsam, angespannt, das
Schlimm­ste erwartend –, als auch den Wesenszug, wobei es sich um
die tiefere, stärker verinnerlichte Neigung handelt, in den Zustand
zu verfallen. Ihr Leben lang hatte sie eine Angstsensitivität, und in
dem Zuge, wie ihre Ehe zerbrach, wurde sie nur stärker. Sie begann
auf jeden Be­la­stungsfaktor zu reagieren, egal, ob es sich dabei um
etwas wirklich Be­drohliches handelte oder nicht, als ob es eine Frage
des Überlebens wäre, wobei sie überreagierte und sich bei alledem
selbst und ihren Be­zie­hungen eine Menge Schaden zufügte.
Sie könnten sich keine angstanfälligere Situation vorstellen als
die, in die Amy schlitterte. Ihr Ehemann hatte de facto die Kontrolle
über die Zeit, die sie mit ihren Kindern verbringen durfte; sie musste
einen Psychologen aufsuchen, der wiederum dem Gericht Bericht erstattete; und jeder in der Stadt wusste, was los war. Ihre Sozialangst
war bei den beaufsichtigten Besuchen ihrer Kinder jedes Mal voll
entbrannt – sie musste im Wesentlichen für den vom Gericht ernannten Beobachter ordnungsgemäß funktionieren. Und sie hatte
Angst, Fehler zu machen und ihrem Mann irgendwie noch mehr
rechtliche Munition zu liefern. Sie wurde nach ihrer mentalen
Gesundheit beurteilt, und je mehr sie sich sorgte, welchen Eindruck
sie machen würde, desto schlimmer wurden ihre Symptome.
In diesem Umfeld begann Amy, an ihren eigenen Fähigkeiten als
Mutter zu zweifeln, obwohl sie absolut kompetent war. Sie wünschte
113
Kapitel 4: Angst
sich nichts sehnlicher, als sich selbst zu retten und ihre Kinder zurückzubekommen. Sie war jedoch nicht in der Lage, einen Kampf auszufechten, fühlte sich wie ein einziges Nervenwrack, ohne irgendeine
Kontrolle über ihre Ängste zu haben. Es war ein krank machender
Teufelskreis: Ständig am Rande der Panik hatte sie das Gefühl, dass
sie nicht für sich eintreten oder irgendetwas erreichen konnte.
Wenn wir in diesem Zustand sind, beginnen wir davon auszugehen, dass alles in eine Katastrophe mündet, und somit versuchen wir,
alles zu meiden, und damit beginnt unsere Welt zu schrumpfen. Seit
ihre Ehe zerbrochen war, hatte sich Amy in ihre neue Wohnung und
auch völlig von ihren Freunden und ihrer Familie zurückgezogen.
Die Verteidigung
Im Gegensatz zur Darstellung der Anwältin hatte Amy ein großes
In­te­resse daran, dass es ihr besser ging. Es ist weder kriminell noch
etwas Außergewöhnliches, dass ihr die Vorstellung, Medikamente
zu nehmen, nicht behagte, aber sie hatte es mit Prozac in jedem
Fall eine Zeit lang versucht. Es beruhigte zwar ihre Nerven, führte aber dazu, dass sie sich unmotiviert fühlte, und somit setzte sie
das Mittel ab. Sie hatte Kripalu-Yoga praktiziert, das auch eine beruhigende Wirkung auf sie hatte; sie litt aber noch immer und so
ermunterte ich sie, den Yoga-Übungen auch einige aerobe Übungen
hinzuzufügen. Sie kaufte sich einen elliptischen Kreuztrainer für
ihre Wohnung, was für sie eine mit Abstand angenehmere Option
war, als ihre Sicherheitszone zu verlassen und nach draußen gehen
zu müssen.
Mit der Zeit entwickelte sie eine Routine und trainierte jeden
Morgen 30 Minuten auf dem Kreuztrainer. Es gab in jener Zeit insgesamt in ihrem Leben sehr wenig, worüber sie sich freuen konnte,
aber diese sportliche Betätigung fing an, ihr Spaß zu machen. Sie beschrieb, wie sie in die Trainingseinheiten auf dem Trainer Drehungen
des Oberkörpers einbaute, und nach ihrem aeroben Training machte sie eine Stunde Yoga (das nachweislich Ängste reduziert). Sie erlangte ein Gefühl der Kontrolle über ihren Angstzustand, was ein
114
Kein Grund in Panik zu geraten
entscheidender Schritt zur Überwindung des Wesenszuges war. Sie
lernte schnell, wenn sie zu Hause ängstlich wurde oder in Panik
geriet, dann konnte sie für 10 oder 15 Minuten auf den elliptischen
Trainer steigen, um die Gefühle auf der Stelle zu bezwingen (genauso wie meine Patientin Susan ihr Springseil zur Stressbewältigung
benutzte).
Durch die Bewegung entdeckte Amy ihre Motivation wieder. Sie
hörte nicht nur auf, sich ständig zu sorgen, sondern begann auch,
sich selbst als aktiv statt als passiv zu sehen. Sie fühlte sich nicht
mehr erstarrt und engagierte sich auch in anderen Bereichen ihres
Lebens wieder. Sie nahm ihre Hobbys wieder auf und ebenso den
Kontakt zu ihren Freunden, sodass sie mit den guten Dingen, die
es an ihr gab, wieder in Verbindung kommen konnte. Jetzt fühlt sie
sich nicht mehr wie eine Ratte in der Ecke, die sich bei jeder Störung
zusammenkauert oder alarmiert ist. Ein beiläufiger Beobachter würde vielleicht sagen, Amy sei aus ihrem Schneckenhaus gekommen,
aber die Effekte der sportlichen Betätigung auf ihre Persönlichkeit
sind weitaus tief greifender. Sie verhält sich, als hätte sie festen Boden
unter den Füßen.
Die Wahrheit ist, dass sich ihre Situation kaum verändert hat
– nur ihre Reaktion darauf und damit ihre Haltung. Sie sagt, sie
nutzt körperliche Bewegung genauso, wie jemand anderes vielleicht
zu einem Glas Whiskey oder zu Alprazolam (bekannt unter dem
Markennamen Xanax oder Tafil) greift, um seine Nerven zu beruhigen. Ihre Strategie hat ihre Angstsensitivität merklich gesenkt,
was es ihrem Gehirn ermöglicht zu lernen, einen eigenen Weg aus
der Falle zu finden.
Der Beweis
Joshua Broman-Fulks, ein Forscher der University of Southern Mis­
sis­sippi, untersuchte 2004, ob sportliche Betätigung die Angst­s­en­­si­
tivität reduzierte. Er fand 54 College-Studenten mit einer gene­rali­
sierten Angst­störung, die erhöhte Angstsensitivitätswerte auf­w ie­
sen und weniger als einmal die Woche etwas für ihre körperliche
115
Kapitel 4: Angst
Bewegung taten. Will­kürlich teilte er seine bis dahin inaktiven Ver­
suchspersonen in zwei Gruppen auf; beiden wurden sechs wöchentliche Trainingseinheiten von jeweils 20 Minuten für die Dauer von
zwei Wochen aufgetragen. Die erste Gruppe lief auf Laufbändern
und zwar mit einem Inten­si­täts­niveau von 60 bis 90 Prozent ihrer
maximalen Herzfrequenz. Die zweite Gruppe ging auf Laufbändern
mit einer Geschwindigkeit von rund 1,6 Kilometern pro Stunde, was
etwa 50 Prozent ihrer maximalen Herz­f requenz entsprach.
Beide Übungen halfen dabei, die Angstsensitivität zu reduzieren, wobei die sportlichere Übung jedoch schneller und effektiver
griff. Nur die intensiv trainierende Gruppe hatte vor den physischen
Symptomen der Angst weniger Angst, und dieser Unterschied zeigte
sich bereits nach der zweiten Trainingseinheit. Die Theorie ist, dass
wir lernen, wenn wir unsere Herz- und Atemfrequenz im Rahmen
der sportlichen Be­tätigung erhöhen, dass diese physischen Anzeichen
nicht unbedingt zu einer Angstattacke führen. Wir lernen gelassener
mit dem Gefühl umzugehen, dass unser Körper erregt ist, und gehen
nicht automatisch davon aus, dass diese Erregung schädlich ist.
Dies ist eine wichtige Erkenntnis angesichts der Auffassung, dass
Angst eine kognitive Fehlinterpretation ist. Indem Sie körperliche
Be­wegung nutzen, um die Symptome der Angst zu bekämpfen, können Sie den Zustand behandeln. Und in dem Zuge, wie sich Ihr
Fitness­niveau verbessert, können Sie den Wesenszug ablegen. Mit der
Zeit brin­gen Sie dem Gehirn bei, dass die Symptome nicht immer
gleich be­deutend mit Untergang sind und dass Sie überleben können
– das heißt, Sie programmieren die kognitive Fehlinterpretation um.
Die Tatsache, dass aerobe Übungen zur Abwehr von Angst­zu­stän­
den sofort greifen, ist seit vielen, vielen Jahren erwiesen. Allerdings
haben Forscher erst in den letzten Jahren begonnen, genau zu entschlüsseln, wie dies funktioniert.
Körperliche Aktivität senkt die Ruhespannung der Muskeln und
unterbricht somit die Feedback-Schleife der Angst zum Gehirn.
Wenn der Körper in Ruhe ist, ist das Gehirn weniger empfänglich
dafür, sich zu sorgen. Körperliche Bewegung führt darüber hinaus
auch beruhigen­de chemische Veränderungen herbei. Wenn unsere
Muskeln zu ar­beiten beginnen, baut der Körper Fettmoleküle ab, um
sie zu verbrennen, wodurch Fettsäuren im Blut freigesetzt werden.
116
Kein Grund in Panik zu geraten
Diese freien Fett­säu­ren konkurrieren mit Tryptophan, einer der
acht essenziellen Amino­säuren, um die Bindung an Eiweißbausteine
zum Transport, wodurch sich die Konzentration von Tryptophan
im Blut erhöht. So­bald das Tryptophan die Blut-Hirn-Schranke
überwunden hat, um den Spiegel auszugleichen, wird es im Gehirn
sofort als Baustein für unseren alten Freund Serotonin verwendet.
Zusätzlich sorgt auch der durch die sportliche Betätigung erhöhte
BDNF-Spiegel (Brain-Derived Neuro­tro­phic Factor) dafür, dass der
Serotonin-Spiegel hochschnellt, was beruhigend auf uns wirkt und
unser Gefühl der Sicherheit erhöht.
Körperliche Bewegung löst auch die Freisetzung von GammaAmi­nobuttersäure (GABA) aus, dem wichtigsten hemmenden Neu­
ro­­trans­mitter des Gehirns (und Hauptzielscheibe der meisten angst­
lösenden Me­dikamente). Ein normaler GABA-Spiegel ist von ent­
s­chei­dender Be­deutung, um auf der zellularen Ebene der selbst­er­
fül­len­den Prophe­zei­ung der Angst einen Riegel vorzuschieben – er
unterbricht die zwang­hafte Feedback-Schleife im Gehirn. Und wenn
das Herz heftig zu schlagen beginnt, produzieren seine Muskelzellen
ein Mole­kül, das so­­ge­nannte atriale natriuretische Peptid (ANP),
das den Zustand der Hyp­er­er­regung bremst. ANP ist ein weiteres
Werkzeug, das der Kör­per nutzt, um die Stressreaktion zu regulieren, worauf ich später noch näher ein­gehen werde.
Was den Wesenszug angeht, so zeigt die Mehrzahl der Studien,
dass aerobe Übungen die Symptome einer Angststörung erheblich
lindern. Körperliche Bewegung hilft aber auch der Durchschnitts­
person, normale Gefühle der Ängstlichkeit zu reduzieren. Im Rah­
men einer interessanten Studie wurden 2005 die physischen und
mentalen Effekte sportlicher Betätigung bei einer Gruppe chilenischer High­school-Studenten über den Zeitraum von neun Monaten
gemessen. Die Forscher teilten die 198 Fünfzehnjährigen in zwei
Gruppen auf: Die Kontrollgruppe blieb weiterhin bei ihrem 90minütigen Sport­unter­richt einmal in der Woche, die andere Gruppe
ließ sich auf ein Programm ein, das sie selbst entwickelte, wonach
sie während des ganzen Schuljahres dreimal pro Woche ein intensives Trainingspensum von jeweils 90 Minuten absolvierte. Mit der
Studie sollten allgemeine Stim­mungs­veränderungen bei gesunden
Personen bewertet werden, wobei die Werte, die sich auf Ängste
117
Kapitel 4: Angst
bezogen, bei den psychologischen Tests der Studenten wirklich aus
dem Rahmen fielen. Die Angstwerte der Versuchsgruppe fielen um
14 Prozent im Vergleich zu statistisch unbe­deutenden drei Prozent
bei der Kontrollgruppe (eine Verbesserung, die durch den PlaceboEffekt erklärt werden könnte). Kein Zufall war sicherlich, dass sich
das Fitness-Niveau der Versuchsgruppe um 8,5 Prozent verbesserte, im Vergleich zu 1,8 Prozent bei der Kontrollgrup­pe. Natürlich
besteht ein Zusammenhang dazwischen, wie viel man Sport treibt
und wie ängstlich man ist.
Furcht als solche
Angst ist Furcht, aber was ist Furcht? Im neurologischen Sinne ist
Furcht die Erinnerung an Gefahr. Wenn wir an einer Angststörung
leiden, spielt das Gehirn fortwährend diese Erinnerung ab und
zwingt uns, in dieser Furcht zu leben. Alles beginnt damit, dass die
Amyg­dala den „Überlebensruf“ ertönen lässt, aber im Unterschied
zur normalen Stressreaktion funktioniert das überaus klare Signal
bei Ängsten nicht ordnungsgemäß. Unsere kognitiven Prozessoren
versäumen es, uns mitzuteilen, dass es kein Problem gibt, oder dass
es bereits vorbei ist und wir uns entspannen können. Durch den
sensorischen Input der physischen und mentalen Spannung herrscht
so viel Rauschen im Gehirn, dass unsere Fähigkeit zu einer klaren
Bewertung der Situation getrübt ist.
Die Fehlinterpretation ist zum Teil auf die Amygdala zurückzuführen, da diese nicht ausreichend vom präfrontalen Cortex kontrolliert wird. Eine der Korrelationen, die Wissenschaftler bei Personen
mit generalisierter Angststörung festgestellt haben, ist Folgende: Ge­
hirn­­aufnahmen zeigen, dass die Region des präfrontalen Cortex,
die dafür verantwortlich ist, Abbruch- und Unterlassungssignale
an die Amyg­dala zu senden, kleiner ist, als sie sein sollte. Bleibt
dies unentdeckt, markiert die Amygdala zu viele Situationen als
Heraus­for­de­rungen fürs Überleben und brennt sie ins Gedächtnis
ein. Diese Furcht­erinne­run­gen verbinden sich miteinander, und es
entsteht ein angst­be­setzter Schnee­balleffekt. Am Ende erstickt die
118
Kein Grund in Panik zu geraten
Amygdala jegliche Versuche des Hippocampus, die Kampf-oderFlucht-Reaktion zu dros­seln, indem die Furcht stets als Kontext in
Erscheinung tritt. Je weiter der Schnee­bal­l­effekt zunimmt und mehr
und mehr Erinnerungen mit Furcht assoziiert werden, desto stärker
schrumpft Ihre Welt.
Eine meiner Patientinnen, die unter einer sozialen Angststörung
leidet, ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Furcht einen Schnee­ball­
effekt entwickeln kann, und wie wir sie im Zaum halten können.
Sie ist eine Büroleiterin von Ende zwanzig. Sie fürchtete sich sehr
vor gesellschaftlichen Zusammenkünften, davor, neue Menschen
kennen zu lernen, ja, selbst vor einem Plausch mit jemandem, den
sie bereits kannte. Ellen, wie ich sie hier nenne, wurde ganz nervös
und bekam einen trockenen Mund, wenn sie nur daran dachte, zu
einer Cocktailparty zu gehen, und sobald sie dort war, konnte sie
es nicht abwarten, bis sie den ersten Drink gekippt hatte. Wie die
meisten, die unter Sozialängsten leiden, fühlte sie sich wie auf dem
Präsentierteller, und hatte panische Angst davor, sie könnte etwas
Peinliches oder Beschämendes tun. Am Ende ging sie nach Hause
und beschimpfte sich wegen ihres „Auftritts“.
Dadurch war es extrem schwierig für Ellen, ihrer Füh­rungs­auf­
gabe bei ihren sieben Mitarbeitern gerecht zu werden. Sie wünschte
sich, sie könnte aufhören, sich ständig dafür zu entschuldigen, dass
sie Aufgaben delegierte, aber ihre Angst hielt sie davon ab, sich wie
eine Chefin zu benehmen. Sie wusste selbst, dass es Unsinn war, sich
dafür zu entschuldigen, dass die Leute ihre Arbeit zu tun hatten.
Aber sie fühlte sich entsetzlich schuldig, wenn sie sie um irgendetwas
bat, und sorgte sich dann, dass sie zu viel von ihnen verlangte. Da ihr
Autoritätsgefühl zunehmend untergraben wurde, wurde sie immer
ängstlicher und begann den Kontakt zu allen im Büro zu meiden,
aus Angst, jemand würde ihre Schwächen erkennen.
Die Behandlung von Ängsten ist deshalb so schwierig, weil überlebensbezogene Erinnerungen stärker sind als vorhandene Erinne­
rungen. Sagen wir, Sie gehen jeden Abend auf dem Nach­hause­weg
von der Arbeit an einem bestimmten Haus vorbei, und dann kommt
eines Abends ein Hund herausgestürmt und greift Sie an. Von diesem Moment an machen Sie einen großen Bogen um dieses Haus, da
die Erinnerung an den Angriff gegenüber all den unzähligen Malen,
119
Kapitel 4: Angst
die Sie sicher und unbehelligt an dem Haus vorbeigegangen sind,
überwiegt. Selbst wenn ein Zaun errichtet wird und Sie der am logischsten denkende Mensch auf Erden sind, werden Sie dennoch
weiterhin ein mulmiges Gefühl haben, wenn Sie daran vorbeigehen. Sobald die Furchterinnerung fest verdrahtet ist, bleibt dieser
Schaltkreis bestehen. Das heißt, die Furcht ist dauerhaft.
Entgegen der ursprünglichen Annahme von Wissenschaftlern
zeig­­ten Studien, in denen MRT-Aufnahmen von der Hirnaktivität
Er­wach­se­ner mit und ohne Angststörungen verglichen wurden,
keinen Unter­schied in Bezug auf die Frage, wie die Amygdala auf
einen legiti­men, Angst einflößenden Reiz reagiert (beispielsweise
Bilder von erschreck­ten Gesichtern, die eine starke Wirkung haben, da der Mensch da­rauf programmiert ist, Gesichtsausdrücke
als Überlebenshinweise zu interpretieren). Der Unterschied besteht
darin, wie sie auf einen nicht bedrohlichen Reiz reagiert. Während
sich bei den meisten Menschen eine prägnante Reduzierung der
Amygdala-Aktivität zeigt, wenn ihnen ein liebevoll anmutendes
Bild gezeigt wird, zeigt sich bei Personen mit Angststörungen fast
das gleiche Aktivitätsniveau, als wären sie mit Furcht konfrontiert
– sie können nicht zwischen Gefahr und Sicherheit unterscheiden.
Daniel Pine, Psychiater und Forscher und gleichzeitig Leiter des
Fachbereichs Entwicklungs- und Affektive Neuro­w is­sen­schaften
am National Institute of Mental Health, meint dazu: „Pa­tien­ten mit
Angststörungen haben ein Lerndefizit.“
Die Dysfunktion der Lernschaltkreise kann bei Ängsten mögli­
cher­weise auf genetischen Faktoren beruhen. Forscher haben unlängst
eine genetische Variation untersucht, die verhindert, dass BDNF Ner­
ven­verbindungen unterstützt, was zu einer Beeinträchtigung des Ge­
dächt­nisses führt. Bei einem Experiment blieb bei Mäusen mit dem
mutierten BDNF-Gen, die in eine Angst auslösende Situation gebracht
wurden, die lindernde Wirkung aus, die sich durch die Verabreichung
von Prozac hätte einstellen sollen. Bei normalen Mäusen wirkte das
Anti­de­pressivum unter den gleichen Umständen hingegen gut. Dies
legt die Schlussfolgerung nahe, dass BDNF ein wesent­liches Element
bei der Bekämpfung von Ängsten sein könnte, wahr­scheinlich, weil
es bei der Verdrahtung positiver Erinnerungen hilfreich ist, die die
Mög­lich­keit schaffen, die Furcht zu umgehen.
120
Kein Grund in Panik zu geraten
Ich glaube, dies ist ein wichtiger Grund, warum körperliche Be­we­
gung oder Sport so effektiv sind, nicht nur bei der Behandlung des
Zustands der Angst – indem sie die Muskelspannung abbauen und
den Serotonin- und GABA-Spiegel erhöhen –, sondern auch beim
Wesens­zug der Angst. Durch körperliche Bewegung oder Sport erhalten Neu­ro­nen all das, was sie benötigen, um sich zu verbinden,
und wenn wir diesen Prozess selbst steuern, können wir einen enormen Einfluss darauf haben, dass das Gehirn lernt, die Furcht zu
bewältigen.
Meine Patientin Ellen nahm ein Standard-Antidepressivum aus
der Reihe der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI),
als sie zu mir kam. Das Medikament half ihr zwar, löste aber das
Grundproblem nicht. Natürlich sprach ich mit ihr über die Mög­
lich­keit sportlicher Betätigung. Sie bestätigte, dass sie sich nach
dem Laufen weniger ängstlich fühlte, meinte jedoch, sie habe zu viel
zu tun, um ihm eine Priorität einzuräumen. Ich erklärte ihr, das
Ironische dabei sei, dass sie sich weniger gequält fühlen würde, wenn
sie sich die Zeit nähme, und dass sie sich weniger ängstlich und gestresst fühlen könnte, wenn sie etwas Sport treiben würde. Nach­dem
ich sie noch etwas angestachelt (und ihre Medikation neu eingestellt)
hatte, dauerte es nicht einmal eine Woche, bis sie anfing, einen Fit­
ness­k lub zu besuchen. Es stellte sich schnell heraus, dass sie sich an
den Tagen, an denen sie ihr Training ausfallen ließ, nervöser fühlte
und weniger bereit war, mit irgendjemandem im Büro zu sprechen,
wozu auch neue Kunden gehörten. Dann legte sie einen Gang zu und
beschloss, jeden Morgen zu laufen. Wenn sie ihren Lieblingskurs, die
Aerobic-Gruppe, verpasste, dann lief sie 20 Minuten auf dem Lauf­
band. Und das macht sie seit etwa einem Jahr.
Ellen hat inzwischen das Gefühl, durchsetzungsfähiger und geradliniger ihren Mitarbeitern gegenüber zu sein, und je mehr sie mit
ihnen umgeht, desto mutiger wird sie. Ein Großteil des Problems bei
Sozialängsten ist, egal, ob sie sich auf der Ebene von Ellens Phobie
oder einer leichteren sozialen Ängstlichkeit bewegen, dass wir, je
mehr wir uns zurückziehen, umso weniger Übung im Umgang mit
anderen bekommen, und die Aussicht umso erschreckender wird.
Es mag albern klingen, dass manche etwas üben müssen, was für
viele ganz natürlich, es ist jedoch überhaupt nicht albern. Es ist das
121
Kapitel 4: Angst
Geniale an Paul Zientarskis Anfängerkurs im Square Dance an der
Central Highschool in Naperville, dass alle Kinder hier in der gleichen Situation „Small Talk“ üben, und zwar Schritt für Schritt im
Laufe des Schulhalbjahres, womit jede Furcht, die sie vielleicht haben, neutralisiert wird.
Für Ellen war der Sport ein Instrument, das ihre Nerven ausreichend beruhigte, um das Terrain zu sondieren. Genau wie die Angst
sich selbst bestärken kann, so kann es auch der Mut.
Wenn Panik Pein bereitet
Panik ist die schmerzhafteste Form der Angst, und sie verdeutlicht
im Extrem, wie paralysierend eine Störung dieser Art sein kann. Als
ich zum ersten Mal mit dem Fall einer Panikstörung konfrontiert
wurde, war ich schockiert, wie lähmend sie war. Ich war Assistenzarzt
im dritten Jahr in der Psychiatrie im Massachusetts Mental Health
Center und kümmerte mich auch außerhalb der Klinik um Patienten
von Sozialen Diensten. Eine Frau wurde von ihrem Ehemann in die
Klinik gezerrt, weil sie depressiv war, sich aber weigerte, das Haus zu
verlassen. Sie war mehr als nur einmal in der Notaufnahme gewesen,
weil sie glaubte, einen Herzanfall erlitten zu haben, und sie beschrieb
in anschaulichen Einzelheiten, wie sie sicher gewesen war, sie würde sterben. Jedes Mal, wenn der Arzt ihr erklärte, dass ihr Herz in
Ordnung war, fragte sie sich, ob sie wohl verrückt sei.
Panik führt nicht zu Herzversagen, aber es fühlt sich sicher so an.
Muskelspannung und Hyperventilation verursachen starke Brust­
schmerzen. Und da bei der schnellen, flachen Atmung zu viel Koh­
len­di­oxid ausgestoßen wird, fällt der pH-Wert des Blutes, wodurch
ein Alarm seitens des Hirnstamms ausgelöst wird, der bewirkt, dass
sich die Muskeln noch stärker zusammenziehen. (Dies erklärt auch,
warum wir verhindern, dass jemand hyperventiliert, wenn wir ihn
in eine Papiertüte atmen lassen: Auf diese Weise ist er gezwungen,
das Kohlen­di­oxid wieder einzuatmen.)
Mit Panik zu leben, heißt alles zu vermeiden, was eine weitere erschreckende Episode auslösen könnte. Man zieht sich in eine
122
Kein Grund in Panik zu geraten
emotionale Embryonalhaltung zurück, und die Furcht führt zu
einem verzweifelten Kontrollbedürfnis – was auch immer für die
Aufrechterhaltung einer stabilen und sicheren Umwelt notwendig
ist. Dies manifestiert sich in verschiedener Hinsicht: passive Ag­
gres­sivität, die ein Versuch ist, andere zu kontrollieren; Zwang­haf­
tig­keit, um die Auslöser der Furcht im Zaum zu halten; sowie eine
umfassende Inflexibilität. Meine Patientin wusste, dass etwas nicht
in Ordnung war, die Panik hatte jedoch so weit die Kontrolle über
sie übernommen, dass die Konstellation der Symptome das Bild des
eigentlichen Problems verzerrte.
Die Hauptform der Behandlung von Ängsten und Depressionen
war in jener Zeit, Ende der 1970er-Jahre, die Psychotherapie. Damals
setzten wir noch nicht so sehr auf Medikamente. Dann setzte jedoch ein Wandel zu einer biologischen Interpretation psychischer
Probleme ein, und plötzlich tauchten zunehmend Studien über die
Behandlung von Ängsten mit Imipramin, ein trizyklisches Anti­de­
pressivum, auf, das es seit etwa 20 Jahren gab. Es manipuliert das
Zusammenwirken von Noradrenalin und Serotonin in einem Teil des
Hirnstamms, dem sogenannten Locus Caeruleus, der lebenswichtige Grundfunktionen wie Atmung, Wachsein, Herz­f requenz und
Blutdruck reguliert. In diesem Sinne überwacht diese Region auch
den pH-Wert des Blutes und löst die Alarmsignale aus, die bewirken, dass die Amygdala eine Panikattacke auslöst. Das Medikament
stabilisiert das Erregungssystem, sodass der Alarm­k nopf nicht so
leicht betätigt wird. Bei meiner Patientin wirkte es fast sofort, und
nachdem sie tage- und wochenlang nicht ängstlich gewesen war, ließ
sie langsam ihre Schutzvorrichtungen fallen. Durch die Kontrolle
der Furcht konnten wir dann auch in der Therapie weiterkommen.
Imipramin gab ihr ihre Freiheit zurück.
Eine andere Medikamentengruppe, die etwa zur gleichen Zeit
für die Behandlung verschiedener Formen von Ängsten beliebt
wurde, waren Betablocker, die das sympathische Nervensystem beruhigen. Sie blockieren die Adrenalin-Rezeptoren im Gehirn und
Körper und verhindern somit, dass Adrenalin den Blutdruck, die
Herz­f requenz und die Atmung in Stress- oder Angstzeiten erhöht.
Beta­blocker, oft bei Herz­patienten zur Reduzierung des Blutdrucks
verabreicht, unterbrechen die Feedback-Schleife der Angst zum
123
Kapitel 4: Angst
Gehirn, die ansonsten dafür sorgt, dass die Amygdala alarmiert
bleibt. Indem sie die körperlichen Symp­tome der Angst unterdrücken, zerstreuen Betablocker Panik­at­ta­cken, bevor sie explodieren. Sie sind auch hilfreich für Personen mit Sozialängsten oder
Lampenfieber. Unter klassischen Musikern ist es äußerst verbreitet,
vor einem Auftritt Betablocker zu nehmen, da sie Schweißausbrüche
und Verspannungen verhindern, die ihre Fähigkeit zu spielen ernsthaft behindern können. (Es dürfte schwierig sein, mit steifen Lippen
Trompete zu spielen!)
Personen, die unter Panikstörungen leiden, werden mitunter sowohl mit Imipramin als auch mit Betablockern behandelt –
Imipra­min, um die Angst zu unterdrücken, und Betablocker, um
den Kör­per zu entspannen. Entscheidend für uns ist der Punkt,
wie diese Medi­ka­­men­te eigentlich wirken, denn sie liefern eine
Erklärung dafür, wie kör­­per­liche Bewegung im Gehirn wirkt.
Körperliche Bewegung beeinflusst nämlich dieselben Pfade wie diese Medikationen – bei beiden Aus­lösern wird ein Sicherheitsriegel
vorgeschoben.
Durch den Schmerz hindurch gehen
Jahrzehnte lang sollten Patienten, die unter Panik litten, einer verbreiteten medizinischen Weisheit zufolge Sport meiden. Denn, so
das Credo, es könnte gefährlich sein! Oder zumindest dachten wir
dies aufgrund der Forschungen, die Ende der 1960er-Jahre durchgeführt wurden. Manche Patienten berichteten, dass physische Mani­
festationen sportlicher Betätigungen – erhöhte Herzfrequenz, erhöhter Blutdruck und schnelle Atmung – ihre Angst verstärkten, vermutlich weil diese Manifestationen sich genauso wie die Symptome
der Angst anfühlten. Es stellte sich heraus, dass manche Personen
mit Angststörungen im Vergleich zu nicht ängstlichen Personen, die
Sport trieben, einen erhöhten Milchsäurespiegel im Blut hatten. Und
die Forscher fanden heraus, dass bei Angstpatienten Panikattacken
ausgelöst wurden, wenn ihnen Milchsäure zugeführt wurde. Die
Folge war, dass Ärzte Patienten, die unter Ängsten litten, rieten,
124
Kein Grund in Panik zu geraten
Sport zu meiden, um keine Panikattacke auszulösen. Demnach war
es also besser, sich nicht zu be­we­gen.
Diese Meinung hielt sich lange, trotz einer Reihe von Nach­fol­ge­
studien, die diese Hypothese widerlegten. Auch wenn die me­dizini­
sche Literatur uns erzählt, dass eine Handvoll Patienten bei sportli­
cher Betätigung Panikanfälle erlebten, steht fest, dass es der großen
Mehrzahl genau gegenteilig erging. Tatsache ist, dass 104 Studien über
Sport und Ängste, die zwischen 1960 und 1989 veröffentlicht wurden,
zeigten, dass Sport Ängste lindert. Die meisten dieser Studien erfüllten jedoch nicht die Versuchskriterien der willkürlichen Auswahl, des
Doppelblindversuchs und des Placebo-kontrollierten Versuchs, die
notwendig sind, damit Wissenschaftler den Versuch als medizinische
Tat­sache zählen und werten können. Während analytische Forscher
sagen können, dass es nicht genügend Daten gebe, um zu belegen,
dass Sport Ängste reduziert, werden andere Ihnen sagen, dass sie sich
nicht darum kümmern, diese Frage zu untersuchen, weil es einfach
eine Frage des gesunden Menschenverstandes sei.
Die Folge war, dass die erste randomisierte, Placebo-kontrollierte
Studie über einen Vergleich von Sport und Medikamenten bei der
Be­hand­lung einer klinisch diagnostizierten Panikstörung erst 1997
durch­geführt wurde. Der deutsche Psychiater Andreas Broocks führte einen zehnwöchigen Versuch durch, bei dem er 46 Patienten, die
zumin­dest unter einer leichten Panikstörung litten, in drei Gruppen
unterteilte: Die erste trieb regelmäßig Sport, die zweite erhielt täglich eine Dosis Clomipramin (eng verwandt mit Imipramin) und
die dritte täglich eine Placebo-Pille.
Alle drei Behandlungen führten dazu, dass sich die Symptome
in den ersten beiden Wochen verbesserten, auch bei der PlaceboGruppe! Das Clomipramin wirkte am schnellsten und deutlichsten
und linder­te sofort und zuverlässig die Symptome. In der sportlichen Gruppe pen­delten sich die Angstwerte nach einer anfänglichen
Linderung bis zu den letzten vier Wochen ein, bis sie dann rapide
zurückgingen. (Die Placebo-Gruppe erlebte im weiteren Verlauf des
Versuchs eine Rückkehr der Symptome.) Nach den zehn Wochen
wurde bei der Clo­mi­pra­min-Gruppe und der sportlichen Gruppe in
einer Reihe von Tests das gleiche Ver­besserungsniveau festgestellt.
Beide Gruppen waren in Remission.
125
Kapitel 4: Angst
Warum dauerte es bei der sportlichen Aktivität länger, bis sie eine
Wirkung zeigte? Einer anderen Studie zufolge, die Andreas Ströhle
2005 ebenfalls nach streng wissenschaftlichen Kriterien durchführte,
dürfte dies eigentlich nicht so sein. Ströhle zeigte, dass Panikattacken
durch 30-minütiges Laufen auf dem Laufband im Vergleich zu inaktivem Ausruhen erheblich reduziert wurden (und zwar in einem
Ver­hält­nis von 2:1), was darauf hinweist, dass sie in manchen Fällen
auch so­fortige Wirkung zeigen kann. Die zeitliche Verzögerung bei
der sport­lich indu­zierten Linderung in Brooks’ Studie hatte wahrscheinlich etwas damit zu tun, wie die Studie konzipiert war. In der
sportlichen Gruppe litten bis auf eine Person alle an Agoraphobie,
einige von ihnen ziemlich schwer wiegend; andere hielten sportliche Aktivitäten gerade­wegs für „gefährlich“, das heißt, sie waren der
Überzeugung, dass gerade der Akt des Gehens oder Laufens draußen
schwierig sei. Sie wurden mit ihrer Angst konfrontiert und mussten
sich ihr stellen, um die Anweisungen der Studie zu befolgen.
Man kann nicht einfach einem Agoraphobiker sagen, er solle
nach draußen gehen und fünf Kilometer laufen, sodass Brooks einen
Weg finden musste, um ihnen die Übung etwas zu erleichtern. Sie
wurden also gebeten, sich in der Nähe ihrer Wohnung eine Strecke
von fünf Kilometern auszusuchen und diese erst einmal nur in drei
oder vier Teiletappen in der Woche zurückzulegen – gegebenenfalls
am Anfang mit Gehen. Dann wurden sie ermuntert, kurze Lauf­
phasen einzulegen und die Länge dieser Phasen allmählich zu erhöhen. Die ganze Strecke zu laufen, wurde erst nach der sechsten
Woche von ihnen erwartet. Zwei der Patienten hatten tatsächlich
Panikattacken beim Laufen, aber sie hielten durch, und die Attacken
ließen schließlich nach.
Bei Brooks’ Experiment blieben in der Clomipramin-Gruppe
während der ganzen Studie alle bei der Stange, trotz erheblicher
Neben­­wir­kungen wie Mundtrockenheit, Schwitzen, Schwindel­ge­
fühle, Zittern, Erek­tionsstörungen und Erbrechen. Die sportliche
Gruppe, in der eben­so wie in der Placebo-Gruppe einige Patienten
ausfielen, berichtete über geringfügige Nebenwirkungen der Art,
wie sie bei jemandem zu er­warten sind, der gerade mit einem neuen
Sportprogramm beginnt, bei­spielsweise vorübergehende Muskelund Gelenkbeschwerden.
126
Kein Grund in Panik zu geraten
Bei einer Nachfolgeuntersuchung sechs Wochen später zeigten die
sportlich aktiven Patienten, die am fittesten waren, die niedrig­sten
Angstwerte. Am Ende landete die sportliche Gruppe auf dem gleichen gesundheitlichen Niveau wie die Clomipramin-Gruppe, und sie
schaffte dies aus eigenem Antrieb. Es ist sicherlich nichts falsch da­ran,
Medikamente zu nehmen, aber wenn man die gleichen Ergebnisse
durch sportliche Aktivitäten erzielen kann, baut man gleichzeitig sein
Selbst­vertrauen in die eigene Fähigkeit auf, die Dinge zu bewältigen.
Dies ist ein bemerkenswerter Vorteil, nicht nur für Patienten mit
ausgeprägten Angststörungen, sondern für jeden.
Wir alle werden im Alltagsleben mit Situationen konfrontiert, die
Furcht und Ängste auslösen. Das Entscheidende ist, das hat meine
Pa­tien­tin Amy verdeutlicht, wie Sie darauf reagieren.
Die fehlende Verbindung
Die Einstellung, dass jede vernünftige Behandlung von Ängsten Me­
di­kamente einbeziehen muss, ist nicht auf Scheidungsverfahren vor
Gericht beschränkt. 2004 veröffentlichte das New England Journal of
Medicine (NEJM) einen Überblick über Behandlungen generalisierter Angststörungen, worin körperliche Bewegung oder sportliche
Be­tätigung nicht einmal erwähnt wurde. Es war hauptsächlich eine
Ab­handlung über die bei uns am häufigsten verabreichten angstlösenden Medikamente, wobei Psychotherapie und Entspannung
auch noch Zustimmung fanden. Von den 13 Pharmaprodukten, die
in dem Über­blick aufgeführt waren, waren alle mit einer Furcht erregenden Liste möglicher Nebenwirkungen verbunden. Keines der
Medikamente war von der US-Bundesbehörde zur Überwachung
von Nahrungs- und Arzneimitteln für ausdrücklich unbedenklich
während der Schwan­ger­­schaft deklariert worden – nicht einmal
beiläufig wurde erwähnt, dass die Wahrscheinlichkeit, an Ängsten
und Depressionen zu leiden, bei Frauen doppelt so hoch ist wie
Männern.
Der Artikel war als Rat für Ärzte gedacht, aber wie kann es sein,
dass eine Zusammenfassung der Behandlungen für allgemeine
127
Kapitel 4: Angst
Angst­störungen in der „Bibel“ der medizinischen Forschung körperliche Be­wegung oder Sport einfach auslässt? Es ist ein Fall von
klinischer Blind­heit, wie ich es bezeichnen möchte. Die wachsenden
wissenschaftlichen Belege über den neurologischen und psychologischen Nutzen von körperlicher Bewegung oder Sport scheinen einfach übersehen zu werden.
Interessanterweise waren es die Kardiologen, die sich zu Wort
mel­deten. Das NEJM veröffentlichte einen Brief der Ärzte Carl Lavie
und Richard Milani von der Ochsner Clinic Foundation in New Or­
leans. Darin hieß es unter anderem, der Autor „erläutert generalisierte Angststörungen und ihre Behandlung mit pharmakologischen
Mit­teln und Psychotherapie. Wir sind allerdings erstaunt, dass körperliche Bewegung oder Sport als zusätzliche Mittel zur Behandlung
von Ängs­ten keinerlei Erwähnung finden“. Sie wiesen darauf hin,
dass für Kardiologen Ängste als Risikofaktor für Herzprobleme von
besonderem Interesse seien, und erklärten: „Sportliches Training
führt nachweislich zu Reduzierungen von mehr als 50 Prozent der
vorherrschenden Angstsymptome. Dies unterstützt die These, dass
sportliches Training eine zusätzliche Methode zur Reduzierung
chronischer Ängste ist.“
Diese Hinweise waren ein höflicher Weg, um zu sagen, dass der
Ori­gi­nalartikel den Anschluss an den aktuellen Stand der medizinischen Forschung verpasst hatte. Lavie hat mehr als 70 Beiträge über
kör­perliche Bewegung oder Sport und das Herz geschrieben, wovon
elf sich auf Ängste konzentrieren. Jede einzelne seiner Studien hat
eine deutliche Verbesserung bei Ängsten und Depressionen gezeigt.
Die Bedeutung dieses Meinungsaustausches liegt darin, dass
dies ein Fall ist, bei dem Kardiologen („echte“ Ärzte) Psychiatern
eine Lektion erteilen, wie der Patient ganzheitlich zu behandeln ist.
Wenn wir bis zu Hippokrates zurückgehen, so besagte eine Weis­
heit damals, dass Gefühle vom Herzen kommen und dass dort die
Behandlung von Stimmungskrankheiten ansetzen sollte. Die moderne Medizin hat Geist und Körper getrennt, dabei zeigt sich jedoch,
und zwar sehr konkret, dass Hippokrates von Anfang an Recht hatte.
Erst in den letzten zehn Jahren haben Wissenschaftler angefangen
zu verstehen, wie ein Molekül, das im Herzen erzeugt wird, bei unseren Emotionen eine Rolle spielt.
128
Kein Grund in Panik zu geraten
ANP, das sogenannte atriale natriuretrische Peptid, wird von den
Herzmuskeln abgesondert, wenn wir uns körperlich betätigen, und
es bahnt sich seinen Weg durch die Blut-Hirn-Schranke. Sobald
es im Gehirn angekommen ist, bindet es sich an Rezeptoren im
Hypo­t ha­la­mus, um die Aktivität der HPA-Achse zu modulieren.
(ANP wird auch direkt im Gehirn produziert, und zwar von Neu­
ronen im Locus Caeruleus, einem Teil des Hirnstamms, und in
der Amygdala – beides wichtige Akteure bei Stress und Ängsten).
Sowohl in Studien mit Tieren als auch mit Versuchspersonen wurde nachgewiesen, dass ANP einen beruhigenden Effekt hat, und
die Forscher vermuten, dass es eine wichtige Verbindung zwischen
körperlicher Bewegung bzw. Sport und Ängsten gibt. In einer der
ersten Studien zur Verifizierung der Rolle von ANP bei Ängsten
wurden im Jahr 2001 Patienten, die unter Panikstörungen litten,
mit Personen verglichen, bei denen solche Störungen nicht vorlagen. Ihnen wurde stichprobenartig eine Dosis ANP injiziert oder
ein Placebo verabreicht, anschließend erhielten sie eine Dosis eines
von der Bauchspeicheldrüse produzierten Hormons, des sogenannten Cholecystokinin Tetrapeptids (CCK-4), das Ängste und Panik
induziert. In beiden Gruppen wurden die Panikattacken erheblich
durch ANP reduziert, während bei den Placebo-Empfängern keine
Reduzierung feststellbar war.
Bei einer Panikattacke wird CRF (Corticotropin-freisetzender
Faktor, engl. Corticotropin Releasing Factor) ausgestoßen, der als
solcher Ängste induziert, aber auch das Nervensystem mit Cortisol
überschwemmt. Das ANP scheint den Be­mü­hungen des CRF, uns in
helle Aufregung zu versetzen, entgegen zu arbeiten, wie eine Bremse
auf der HPA-Achse. Darüber hi­naus haben Studien bei Frauen gezeigt, dass sich der ANP-Spiegel während der Schwangerschaft verdreifacht, was auf eine eingebaute Überlebensstrategie schließen
lässt, um das sich entwickelnde Gehirn des Babys vor den potenziell toxischen Effekten von Stress und Ängsten zu schützen.
In einer Studie mit Patienten, die an einer schweren Herzinsuffi­
zienz litten, waren diejenigen mit dem höchsten ANP-Spiegel am
wenigsten ängstlich. Keiner von ihnen litt unter Angststörungen;
die Ärzte interessierten sich jedoch für ihre Ängste, da diese wesentlichen Einfluss darauf haben, wie gut Herzpatienten sich von einer
129
Kapitel 4: Angst
Operation erholen. Das ANP dämpft direkt die Reaktion des sympathischen Nervensystems, indem es den Adrenalin-Fluss hemmt
und die Herzfrequenz senkt, und es scheint auch das Gefühl von
Ängstlichkeit zu reduzieren, das so allüberragend ist. Und wir wissen
von Patienten, die unter Panikstörungen leiden und häufig Attacken
erleben, dass bei ihnen ein ANP-Defizit im Blut vorliegt.
2006 untersuchte eine Gruppe von Neuropsychiatern aus Berlin
unter der Leitung von Andreas Ströhle, ob ANP ein entscheidendes Element bei dem beruhigenden Effekt von aeroben Übungen
sei. Bei zehn gesunden Patienten, die eingewilligt hatten, dass ihnen eine Panik induzierende CCK-4-Injektion verabreicht wurde, wurde festgestellt, nachdem sie 30 Minuten lang (bei mäßiger
Geschwindigkeit) auf dem Laufband gegangen waren, dass sich die
ANP-Konzentration erheblich erhöhte, während gleichzeitig Gefühle
der Angst und Panik reduziert wurden. Ströhle wies darauf hin, dass
Korrelationen nicht mit Kausa­lität gleichzusetzen seien, fügte jedoch
hinzu: „ANP kann eine physiologisch wichtige Verbindung zwischen
dem Herzen und angstbezogenem Verhalten sein.“
Sich der Angst stellen
Wenn die Furcht dauerhaft ist, wie können wir dann hoffen, Ängste
auszulöschen? Die Antwort liegt in einem neurologischen Prozess,
der sogenannten Auslöschung konditionierter Furcht. Wir können
zwar nicht das ursprüngliche Furchtgedächtnis löschen, wir können
es jedoch in wesentlichen Teilen „austrocknen“, indem wir ein neues
Gedächtnis schaffen und dieses verstärken. Durch den Aufbau eines Parallelschaltkreises zum Furchtgedächtnis schafft das Gehirn
eine neutrale Alternative zur erwarteten Angst und lernt, dass alles
in Ordnung ist. Indem der Auslöser mit der richtigen Interpretation
verlinkt und die Verbindung zur typischen Reaktion gekappt wird,
wird die Asso­ziation zwischen beispielsweise dem Sehen einer
Spinne und dem Erleben von Schrecken und Herzrasen geschwächt.
Wissenschaftler sprechen hier von einer Reattribuierung.
Wir können das Gehirn dazu zwingen, Angsterinnerungen gegen
130
Kein Grund in Panik zu geraten
neutrale oder positive Erinnerungen einzutauschen, und zwar über
den psychologischen Ansatz, der sogenannten kognitiven Ver­hal­
tenstherapie. Studien zeigen, dass die kognitive Ver­hal­tens­t he­ra­pie
bei der Behandlung von Ängsten in etwa so effektiv ist, wie selektive
Sero­to­nin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) es sind, wenngleich verschiedene Ergebnisse den Schluss nahe legen, dass die Qualität der
Therapie entscheidend ist. Der Ansatz besteht darin, den Patienten
in Anwesenheit des Therapeuten in kleinen Dosierungen der Quelle
seiner Angst auszusetzen. Wenn wir die Symptome ohne Panik erleben, nimmt das Gehirn eine kognitive Umstrukturierung vor. Im
präfrontalen Cortex werden Verbindungen aufgebaut, die helfen,
die Amygdala zu beruhigen, sodass wir uns sicher fühlen, und damit zeichnet dann das Gehirn eine Erinnerung an dieses Gefühl
auf. Wenn wir uns zusätzlich sportlich betätigen, sorgen wir dafür,
dass die Schaltkreise zwischen dem prä­f rontalen Cortex und der
Amygdala durch Neurotransmitter und neurotrophe Faktoren unterstützt werden, was eine weitere Kontrolle gewährleistet und einen
positiven Schneeballeffekt erzeugt.
Der Psychologe und Langstreckenläufer Keith Johnsgard stellte
fest, dass eine kognitive Verhaltenstherapie in Verbindung mit sportlicher Betätigung besonders wirksame Ergebnisse erzielt. In seinem
Buch Conquering Depression and Anxiety through Exercise erklärt er,
wie er das Laufen als Mittel der kognitiven Umstrukturierung zur
Behandlung einer Agoraphobie nutzt. Nach mehreren Sitzungen, in
denen er eine Beziehung zu den Patienten aufgebaut, einen Rapport
hergestellt hat, begleitet er seine Patienten am frühen Morgen auf
den leeren Parkplatz eines Einkaufszentrums und lässt sie dort einige
Sprints machen. Sonst ist niemand dort, und in seiner Gegenwart
fühlen sie sich sicher. Er hat vorher festgelegt, wie weit sie sprinten können, bevor sie erschöpft sind, und – das ist der Clou – er
markiert die Strecke vom Haupteingang des Einkaufszentrums aus
und lässt sie dann von seiner Seite aus zum Einkaufszentrum hin
laufen. Die Idee dahinter ist, dass sie den Höhepunkt ihrer Angst
in einem Zustand voller physischer Erregung erreichen, aber ohne
Panik. Wenn sie spüren, dass eine Panikattacke kommt, haben sie die
Anweisung, aufzuhören, umzukehren und zu ihm zurückzugehen.
Sie laufen Richtung Angst und gehen Richtung Sicherheit.
131
Kapitel 4: Angst
Am Ende sollten sie die Angst überwinden, das Einkaufszentrum zu
betreten, und sich innen zunehmend weiter vorwagen. Er sagt, dass
er oft erst nach einem halben Dutzend Sitzungen eine Ver­bes­serung
sieht. „Im Wesentlichen“, schreibt er, gehe es bei seinem An­satz da­
rum, „wieder auf das Pferd zu steigen, das einen abgeworfen hat“.
Dem Gehirn beizubringen, dass wir überleben können, ist entscheidend, um die Angst zu überwinden.
Dieser Ansatz passt zu einem breiteren Konzept, das der Neuro­
wissenschaftler und bekannte Angstexperte Joseph LeDoux von der
New York University hervorgehoben hat. Kurz nach den Terror­an­
griffen vom 11. September 2001 veröffentlichte LeDoux zusammen
mit dem Co-Autor Jack Gorman einen Artikel im American Journal
of Psychiatry unter der Überschrift „A Call to Action: Overcoming
Anxiety through Active Coping“ (Ein Aufruf zum Handeln: Ängste
durch aktive Be­wältigung überwinden). Aktive Bewältigung heißt
im Prinzip, etwas zu tun als Reaktion auf eine Angst auslösende
Gefahr oder ein Problem, worin diese oder dieses auch immer bestehen mag, statt sich passiv deswegen zu sorgen oder zu beunruhigen. Es geht nicht in jedem Fall um physische Aktivitäten, wobei
körperliche Bewegung jedoch eine qualifizierte Form der aktiven
Bewältigung ist. Und wie sich herausstellt, ist Bewegung vielleicht
kein zufälliger Aspekt der aktiven Bewältigung.
LeDoux veranschaulicht, wie im wahrsten Sinne des Wortes sich
der Informationsfluss im Gehirn verlagert, indem neue Infor­ma­
tions­kanäle gebahnt werden, wenn wir angesichts von Angst uns
zum Handeln entscheiden. Eine Region der Amygdala, der sogenannte zentrale Nucleus, ist für das Entstehen des negativen Schnee­
ball­effektes verantwortlich – indem er nicht bedrohliche Reize mit
zu Recht bedrohlichen Reizen verknüpft. Die so entstehende Angst­
erinnerung stellt die Verbindung zwischen dem Auslöser und der
Angst dar.
LeDoux hat bei Ratten gezeigt, dass die Signale umgeleitet wer­
den können, sodass sie, statt durch den zentralen Nucleus der Amyg­
dala, durch den Basalkern (Nucleus basalis) gehen, der mit den motorischen Schaltkreisen des Körpers verbunden ist. Wenn das Gleiche
für den Menschen gilt, dann genügt es, einfach aktiv zu werden,
um den Mechanismus für die Angsterinnerung umzuleiten. Der
132
Kein Grund in Panik zu geraten
Basalkern ist der Weg des aktiven Handelns, und wir können ihn
durch Gedanken aktivieren.
Einem meiner Patienten, der sowohl durch den Verlust seiner
Arbeit als auch seiner Freundin traumatisiert war, machte ich den
Vor­schlag, jeden Tag damit zu beginnen, dass er zuerst ins Sport­
studio ging, um zu verhindern, dass er unentwegt nur in seinem
Trau­ma schmor­te. Den Signalfluss von den Angstschaltkreisen zu
den Schalt­kreisen des aktiven Handelns konnte er auch dadurch
verlagern, dass er eine Liste potenzieller Arbeitgeber anfertigte, die
er anrufen konnte – ein klassischeres Beispiel aktiver Bewältigung,
wodurch das Gehirn jedoch nicht so weit reichend beeinflusst wird.
Indem wir etwas tun, statt einfach nur herumzusitzen und uns zu
sorgen, leiten wir unseren Gedankenprozess um das passive Reak­
tionszentrum herum und zerstreuen die Angst, wobei das Gehirn
gleichzeitig optimiert wird, um ein neues Szenario zu erlernen. An­
gesichts von Angst neigt jeder instinktiv dazu, die Situation zu meiden, wie eine Ratte, die in ihrem Käfig erstarrt. Aber indem wir genau
das Gegenteil tun, sorgen wir für eine kognitive Umstruk­tu­rie­rung
und nutzen unseren Körper, um unser Gehirn zu heilen.
Die Angst hinter sich lassen
Das Besondere an körperlicher Bewegung als Form der Angstbe­wäl­­
ti­gung ist, sowohl bei Ängsten im Alltag als auch in Form einer Stö­
rung, dass sie sowohl auf den Körper als auch auf das Gehirn wirkt.
Wie dies geschieht, sei nachstehend erläutert:
1. Sie bringt Abwechslung. Wenn Sie sich bewegen, wird Ihr Geist
im wahrsten Sinne des Wortes auf etwas anderes gelenkt. So,
wie der elliptische Kreuztrainer meiner Patientin Amy geholfen
hat, ihren akuten Angstzustand zu durchbrechen und sich auf
etwas anderes als die Furcht vor ihrer nächsten Panikattacke zu
konzentrieren. Studien haben gezeigt, dass ängstliche Personen
gut auf gezielte Ablenkung ansprechen – still sitzen, meditieren, in der Gruppe Mittag essen, eine Zeitschrift lesen. Die
133
Kapitel 4: Angst
angstlösenden Effekte körperlicher Bewegung halten jedoch
länger vor und bringen auch die anderen hier aufgeführten
nutzbringenden Nebenwirkungen mit sich.
2. Sie reduziert Muskelverspannung. Genau wie Betablocker unterbricht körperliche Bewegung den Schaltkreis der negativen
Feedback-Schleife vom Körper zum Gehirn, die Ängste steigert.
1982 führte ein Forscher namens Herbert de Vries eine Studie
durch, die zeigte, dass die Muskelspindeln von Personen mit
Ängsten von überaktiven elektrischen Mustern geprägt sind,
und dass diese Spannung durch körperliche Bewegung reduziert
wurde (genau wie durch Betablocker). Er sprach vom „beruhigenden Effekt körperlicher Bewegung“. Eine Reduzierung der
Mus­kel­spannung reduziert, wie er feststellte, das Gefühl der
Angst, was, wie ich erklärt habe, wichtig ist, um nicht nur den
Zustand, sondern den Wesenszug der Angst verschwinden zu
lassen.
3. Sie baut Gehirnressourcen auf. Sie wissen inzwischen, dass körperliche Bewegung den Serotonin- und Noradrenalin-Spiegel
erhöht, sowohl kurz- als auch langfristig. Serotonin wirkt fast
an jeder Verbindungsstelle des Angst-Schaltkreises, reguliert
Signale im Hirnstamm, verbessert die Funktionsfähigkeit des
präfrontalen Cortex zur Hemmung von Ängsten und beruhigt
die Amygdala. No­r­adrenalin ist der Erregungsneurotransmitter,
sodass die Ab­stim­mung seiner Aktivität von entscheidender
Bedeutung ist, um den Angstkreislauf zu durchbrechen. Kör­
perliche Aktivität erhöht auch den hemmenden Neurotrans­
mitter GABA sowie BDNF, was wichtig für die Zementierung
alternativer Erinnerungen ist.
4. Sie lehrt ein anderes Ergebnis. Ein Aspekt der Angst, der sie
so sehr von anderen Störungen unterscheidet, sind die physischen Symptome. Da die Angst das sympathische Nervensystem
ins Spiel bringt, wenn man seinen Herzschlag spürt und der
Atem schneller wird, kann das Bewusstsein nur durch diese
Symptome Ängste oder eine Panikattacke auslösen. Ebenjene
134
Kein Grund in Panik zu geraten
Symptome sind jedoch auch typisch für aerobe Übungen – und
dies ist eine gute Sache. Wenn man beginnt, die physischen
Symp­tome der Angst mit etwas Positivem zu assoziieren, mit
etwas, das man selbst initiiert hat und kontrollieren kann, verblasst die Angsterinnerung angesichts der neuen Vorstellung,
die gerade Form annimmt. Stellen Sie es sich wie eine biologische Lockvogeltaktik vor: Ihr Geist erwartet eine Panikattacke,
endet stattdessen jedoch bei einer positiven Assoziation der
Symp­tome.
5. Sie leitet Ihre Schaltkreise um. Indem Sie das sympathische
Nervensystem durch körperliche Bewegung aktivieren, befreien Sie sich aus der Falle des passiven Wartens und Sorgens und
verhindern so, dass die Amygdala Amok läuft und die angsterfüllte Sicht verstärkt, wonach das Leben voller Gefahren ist.
Wenn Sie stattdessen mit aktivem Handeln reagieren, senden
Sie der Amyg­dala Informationen über einen anderen Informa­
tionskanal, der den Weg für eine sichere Umleitung bahnt und
in eine positive Rich­tung weist. Sie verbessern damit alternative
Verbindungen und lernen eine alternative Realität kennen.
6. Sie verbessert die Widerstandsfähigkeit. Sie lernen, dass Sie
Ängs­te effektiv kontrollieren können, ohne in Panik zu geraten.
In der Psychologie spricht man von Selbstkontrolle oder Selbst­
wir­ksam­keit. Diese zu entwickeln, ist ein wirksames prophylaktisches Instru­ment gegen Angstsensitivität und Depression, die
aus Ängsten entstehen kann. Mit der bewussten Entscheidung,
etwas für sich selbst zu tun, beginnen Sie, sich bewusst zu machen, dass Sie etwas für sich selbst tun können. Es ist eine sehr
nützliche Tau­to­logie.
7. Sie macht Sie frei. Forscher immobilisieren Ratten, um Stress
zu studieren. Auch Menschen sind ängstlicher, wenn sie im
wahrsten Sinne des Wortes oder im übertragenen Sinne lahmgelegt oder eingesperrt sind. Personen, die ängstlich sind, neigen dazu, sich selbst zu immobilisieren – sie verkriechen sich
in eine fötale Stellung oder suchen einfach einen sicheren Platz,
135
Kapitel 4: Angst
um sich vor der Welt zu verstecken. Agoraphobiker fühlen sich
in ihren Wohnungen gefangen, aber in einem gewissen Sinne
ist jede Form der Angst eine Art Falle. Das Gegenteil und auch
die Behandlung davon ist, aktiv zu handeln, aus sich heraus und
nach draußen zu gehen, die Umwelt zu erforschen und sich in
der Umwelt zu bewegen. Sich also einfach sportlich zu betätigen.
Einen Gegenangriff planen
Ein großer Unterschied zwischen einer kombinierten Nutzung körperlicher Bewegung und Angst lösender Medikamente und der alleinigen Nutzung von Medikamenten ist, dass Wirkstoffe wie Benzo­
diazepin – und Alkohol bei Personen, die sich selbst „behandeln“
– Ängste zwar schnell ersticken, aber nicht garantieren, dass man
lernt, anders auf seine Ängste zu reagieren. Personen mit Ängsten
fällt es oft sehr schwer, zu wissen oder zu entscheiden, was sie vom
Leben wollen. Alles, was in höchstem Maße chronisch ängstliche
Personen sich wünschen, ist in Wirklichkeit, nicht ängstlich zu sein.
Aktivitäten oder körperliche Bewegung können ihnen helfen, sich
auf etwas hin zu bewegen.
Körperliche Bewegung und Medikamente folgen meines Erach­
tens nicht dem Entweder-oder-Prinzip. Körperliche Bewegung ist ein
anderes Instrument, das Ihnen zur Verfügung steht und griffbereit
ist, da Sie es sich selbst verordnen können, ob Sie nun eine definierbare Störung haben oder sich einfach manchmal ängstlich fühlen.
So wie es den meisten Menschen geht. Ich bin mit Sicherheit kein
pharmakologischer Calvinist – ich erzähle niemandem, er müsse sich
selbst an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen, oder es sei eine
Sünde oder Schwäche, sich auf Medikamente zu verlassen.
Vor Kurzem habe ich einen Patienten mit Panikstörung angenom­
men, der die letzte Klasse einer Highschool besucht. Seinen ersten
Anfall hatte er mit sechs, was bedeutet, dass er eine Prädisposition
dafür hat, und in letzter Zeit hat sich die Situation durch den Druck
der Vor­bereitung aufs College verschlimmert. Wann immer er einen
Lauf macht, sobald sein Herz stärker zu schlagen anfängt, empfindet
136
Kein Grund in Panik zu geraten
er Angst wegen der Möglichkeit, in Panik zu geraten, und er hat
die Sorge, er könnte wegen eines Herzanfalls tot umfallen und niemand würde ihn finden. Manchmal bleibt er dann stehen und fängt
einfach an zu weinen. Rational weiß er aber auch, wenn er durch
seine Sensitivität hin­durchgeht und die körperliche Erregung zulässt, dann verschwindet das Gefühl. Würde ich ihm unter diesen
Umständen empfehlen, Zoloft nicht weiter einzunehmen? Absolut
nicht.
Zunächst einmal hat er eine geradezu phobische Angst vor einer
Panik­attacke. Und da eine Panikstörung so beängstigend ist, beginne
ich für gewöhnlich mit einer Medikation. Eine Pille einzunehmen,
erfordert nicht viel Mühe, und in manchen Fällen funktioniert es,
als würde man einen Schalter umlegen, der den Auslöser verflüchtigt. Aber, wie gesagt, dies führt nicht unbedingt zu einer dauerhaften Veränderung, und für eine langfristige Linderung muss ein
Umlernen statt­finden. Warum also nicht beide Geschütze in Stellung
bringen? Me­dizin und körperliche Bewegung miteinander zu kombinieren, kann meines Erachtens ein großartiger Ansatz sein. Die
Medizin liefert sofortige Sicher­heit, und die körperliche Bewegung
setzt an der Wurzel des Übels der Angst an.
Dies ist insbesondere im Zusammenhang mit Kindern wichtig, da es bei Kindern, die Angst haben, im Vergleich zu gleichaltri­
gen Kindern wahrscheinlicher ist, dass sie später in ihrem Leben
Depressionen entwickeln. Eine Langzeitstudie verfolgte die Ent­
wi­cklung von 700 Kindern bis in ihr Erwachsenenleben. Die­je­ni­
gen, die als Kinder unter Ängsten gelitten hatten, sind größ­ten­
teils aus der Angst herausgewachsen. Aber von denjenigen, die eine
Stim­mungs­störung entwickelten, hatte in zwei Dritteln der Fälle
das Problem seinen Ursprung in als präadoleszenten Ängsten. Das
Tragische hier ist, dass Angst zwar relativ einfach zu behandeln ist,
sie bei Kindern aber oft undiagnostiziert bleibt – die ängstlichen
Kinder sitzen still ganz hinten in der Klasse, verängstigt. Nieman­
dem fällt auf, dass mit diesen Kindern etwas nicht stimmt, da sie keine Verhaltensauffälligkeiten zeigen und sich gut benehmen. Unter­
dessen hinterlässt die Angst in ihrem Gehirn jedoch negative Muster,
die sich festsetzen können, sodass Probleme bei diesen Kindern vorprogrammiert sind.
137
Kapitel 4: Angst
Dem jungen Mann erklärte ich, das Erste und Wichtigste, was er tun
müsste, sei, mit jemandem zusammen seinen Sport zu treiben. Dies
gilt für jeden, der leicht in Panik gerät. Denn die Gegenwart einer
anderen Person gibt ein Gefühl der Sicherheit und führt darüber
hinaus aber auch unmittelbar zu einer Erhöhung des SerotoninSpiegels, einfach durch das Zusammensein mit einer anderen Person.
In seinem Fall schlug ich vor, dass er entweder zu Hause oder in der
Nähe seiner Wohnung einer sportlichen Betätigung nachging, bis er
seinen erhöhten Herzschlag mit einer positiven Erfahrung assoziieren konnte. Er musste eine Sport- oder Übungsart finden, die ihm
Spaß machte, und da seine Panik einen starken genetischen Anteil
zu haben schien, erklärte ich ihm, dass er wirklich daran arbeiten
musste. Er musste mit mindestens 15 Minuten anstrengender aerober Übung am Tag beginnen – Laufen, Schwimmen, Radfahren,
Rudern oder was auch immer sein Herz zum Schlagen bringen würde. Intensität war in seinem Fall besonders wichtig, denn es ist belegt, dass nur durch harte körperliche Betätigung die Sensitivität
gegenüber dem physischen Erregungszustand der Angst reduziert
und abgebaut wird.
Wie fast jeder Jugendliche, den ich behandelt habe, wollte auch
dieser junge Mann keine Medikamente nehmen. Er fragte, ob er
sie absetzen könnte, und ich sagte ihm, mit der Zeit, wenn er sein
Übungs­pro­gramm durchzog und vielleicht eine kognitive Verhal­
tens­t he­rapie machte, würde er sicher seine Angstsensitivität verringern können. Ver­mutlich, sagte ich, würde er am Ende seine Me­di­
kation reduzieren oder vielleicht sogar ganz absetzen können. Nie­
mand weiß jedoch wirk­lich, ob körperliche Bewegung oder Sport
eine Medikation ganz ersetzen können. Unser Gehirn ist einfach
zu komplex.
Sehr viele Menschen, die wegen einer Panikstörung behandelt
werden, können fortan ein völlig anderes Leben führen. Je weiter ihre
letzte Panikattacke zurückliegt, desto geringer ist die Wahrschein­
lichkeit, dass es zu einer weiteren Attacke kommt. Das Gleiche gilt
für jede Form der Angst. Je mehr sich Ihr Leben verändert, je mehr
Sie sich in der Welt engagieren und auf die Welt einlassen, desto
wahrscheinlicher ist es, dass Sie die Angst hinter sich lassen. Bei
leichteren Ängsten, die nicht so schlimm sind, dass eine Medikation
138
Kein Grund in Panik zu geraten
erforderlich wäre, die aber dennoch Probleme bereiten, kann die
Wirkung von körperlicher Bewegung noch stärker sein.
Mein Highschool-Patient brauchte das volle, sich gegenseitig er­
gän­zen­de Behandlungsprogramm: Medikament, sportliche Be­tä­ti­
gung und Gesprächstherapie. Bei meiner Patientin Amy half allein
die kör­perliche Aktivität jedoch schon gewaltig, sowohl im Augen­
blick als auch von Tag zu Tag, und sie machte den Weg frei für eine
Ge­sprächs­t hera­pie, um den dahinter liegenden Problemen auf den
Grund zu gehen. Aerobe Übungen ergänzten ihr Yoga und gaben ihr
die Ruhe, die notwendig war, um den Blick nach innen zu richten
und sich selbst zu beobachten, statt ihre ganze psychische Energie
für die Aufgabe zu verwenden, sich nicht überwältigen zu lassen. Sie
wurde sich ihrer eigenen Psy­cho­logie und ihres Verhaltens bewusster
denn je. Sie erkannte, dass ihre Herausforderungen und negativen
Gefühle einem natürlichen Muster aus Ebbe und Flut glichen, und
ebenso, dass sie die Wellen reiten musste – und dass sie dies konnte. Gleichermaßen wichtig war, dass sie die Verbesserung bei sich
selbst bemerkte und sie treffend beschrieb: Die Scheidung war wie
ein Erdbeben, durch das ihr Leben nahezu ganz in Trümmer zerbrochen war, aber die sportlichen Übungen hatten ihr Fundament
wieder gefestigt; sie wusste, es würde Nachbeben geben, sie fühlte
sich aber stark genug, ihnen standzuhalten.
Es ist erstaunlich, wie sehr Amy sich verändert hat. Ihr Anwalt,
ihre Eltern, ihr Familientherapeut – bis zu einem gewissen Grad
sogar ihr Ehemann – meinten alle, sie scheine ein anderer Mensch
zu sein. Sie hat sich selbst und ihre Situation besser unter Kontrolle,
ist erfrischend selbstsicher und realistisch optimistisch. Der Kampf
vor Gericht wird vielleicht noch Jahre andauern, er überwältigt sie
aber nicht mehr, und die sportliche Betätigung war ihre beste Ver­
teidigung.
139
5. Depressionen

Bewegung verändert
Ihre Stimmung
B
ill wusste nicht, dass ihm etwas fehlte. Als er fünfzig wurde, fiel
ihm auf, dass er fast zehn Kilo Übergewicht hatte, und er beschloss eine Diät zu machen und mit Laufen anzufangen. Es dauerte
nicht lange, bis er abnahm, und ihm fielen einige nicht unerhebliche
Nebeneffekte auf: Er wurde weniger kritisch – sich selbst und anderen gegenüber –, und weniger nörglerisch. Seine Frau und seine
Kinder sprangen auf den Wandel an und wollten mehr Zeit mit ihm
verbringen, was ihm gut tat und seine Stimmung weiter verbesserte.
Bill hatte in dem Sinne nie eine Depression gehabt, es gab aber keinen Zweifel, dass er eine leidenschaftlichere Einstellung zum Leben
bekam, nachdem er mit seinem Übungsprogramm begonnen hatte.
Er entdeckte durch reinen Zufall, dass er glücklicher sein konnte.
Unser Verständnis von Depression folgte einem ähnlichen Pfad.
Der reine Zufall führte zu unseren ersten Antidepressiva, als in den
1950er-­Jahren entdeckt wurde, dass ein experimentell getestetes
Tu­ber­­ku­lo­se­medikament die betreffenden Personen „ungewöhn­lich
glück­lich“ mach­te. Wenige Jahre später zeigte ein neues Anti­his­
tamin-Prä­pa­rat ähn­liche stimmungsaufhellende Effekte und brachte
eine Medi­ka­men­ten­k lasse hervor, die als trizyklische Antidepressiva
bezeichnet wurden. Plötzlich gab es medizinische Behandlungen,
die die Symptome von De­pressionen lindern konnten. Es war der
141
Kapitel 5: Depressionen
erste reale Hinweis auf die ra­di­kale Vorstellung, dass es eine biologische Erklärung für etwas geben könnte, was als rein psychologisches
Problem angesehen worden war. Dies führte zu der Forschung, wie
das Gehirn den Geist und die Psy­che kontrolliert, und damit veränderte sich die gesamte Landschaft auf diesem Gebiet.
In den 50 Jahren, die seither vergangen sind, sind Stimmungs­
stö­rungen der Schwerpunkt der psychiatrischen Forschung gewesen.
Wir wissen noch immer nicht, was Depressionen verursacht, wir
haben jedoch große Fortschritte gemacht, was die Beschreibung der
Emotionen angeht, die den Gehirnaktivitäten zugrunde liegen. Und
je mehr wir über die Biologie von Stimmungen erfuhren, desto besser haben wir verstanden, wie aerobe Übungen sie verändern. Letzten
Endes verdanken wir unser Wissen über den Nutzen körperlicher
Bewegung für das Gehirn den Forschungen über Depressionen.
In Großbritannien nutzen Ärzte körperliche Bewegung oder
sport­liche Betätigung inzwischen als Behandlung erster Wahl bei
De­­pres­sio­nen, während in den Vereinigten Staaten jedoch kaum davon Ge­brauch gemacht wird, und das ist eine Schande. Der Welt­ge­
sund­heits­­organisation zufolge sind Depressionen in den Vereinigten
Staaten und in Kanada die führende Ursache für Arbeits­un­fähig­keit,
noch vor Herz-­Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und AIDS. Etwa 17
Prozent der US-ame­rikanischen erwachsenen Bevölkerung erleben
zu irgendeinem Zeitpunkt in ihrem Leben eine Depression, was 26,1
Milliarden US-Dollar Gesundheitskosten pro Jahr bedeutet. Es ist
unbekannt, wie viele Menschen versuchen, Selbstmord zu begehen;
fest steht jedoch, dass dies in den Vereinigten Staaten tragischerweise fast alle 17 Minuten jemandem gelingt. Aus diesem Grund, und
auch weil 74 Prozent der depres­si­ven Patienten gleichzeitig an einer
anderen Störung leiden – da­runter Ängste, Drogenmissbrauch und
Demenz –, ist es ein dringendes Problem. Und dieses Problem wird
leider nicht besser.
Eine der Hürden bei der Überwindung von Depressionen ist
das breite Spektrum an Symptomen, die wir alle an irgendeinem
Punkt erleben. Wer ist nicht einmal gelegentlich griesgrämig, gereizt, pessi­mis­tisch, lethargisch, apathisch, selbstkritisch oder melancholisch? Traurigkeit ist zum Beispiel ein normaler Aspekt des
menschlichen Lebens – eine Reaktion auf einen Verlust. Traurig
142
Bewegung verändert Ihre Stimmung
zu sein ist jedoch nicht das Gleiche wie depressiv zu sein, es sei
denn, das Gefühl bleibt bestehen oder ist mit einer Reihe anderer
Symptome verbunden.
Und was ist der Unterschied zwischen einem Symptom und einem Wesenszug der Persönlichkeit? Mein Patient Bill hatte zeit seines Lebens eine kritische und negative Einstellung. Er war nicht
krank, „technisch“ betrachtet, er hatte jedoch, wie ich es nennen
würde, ein Schattensyndrom der Depression und war ein perfekter Kandidat für eine Veränderung seines Lebensstils, wovon seine gemeinhin von leichter Traurigkeit oder Melancholie geprägte
Lebenseinstellung profitieren sollte. Die Verschreibung von Me­
dikamenten, damit es Patienten „besser als gut“ geht, ist das Thema
einer langjährigen ethischen Debatte; und dies ist ein Gebiet, auf
dem körperliche Bewegung einen immensen Vorteil gegen­über An­
ti­depressiva hat.
Dass Sie nicht alle Symptome einer Depression haben, bedeutet
nicht, dass es Ihnen nicht besser gehen könnte. Bill ist ein glücklicherer Mensch, weil er angefangen hat, zu laufen. Das Gleiche träfe
wahrscheinlich auch zu, wie ich noch erklären werde, wenn er klinisch depressiv wäre. Aerobe Übungen haben einen positiven Effekt
auf das ganze Spektrum depressiver Symptome, egal, ob sie einzeln
auftreten, in Form eines leichten Anfalls oder sich zu einer Form
der Störung verdichten. Bei einer Depression handelt es sich meines
Erachtens insgesamt um eine Erosion von Verbindungen – sowohl
in Ihrem Leben als auch zwischen Ihren Hirnzellen. Körperliche
Bewegung stellt diese Verbindungen wieder her.
Innerhalb des Spektrums an Symptomen ist klar zwischen verschiedenen Arten der Depression zu unterscheiden. Ich hatte Patien­
ten, die nichts aßen und nicht schlafen konnten, und andere, die zu
viel aßen und ständig so müde waren, dass sie glaubten, mor­gens
nicht aus dem Bett zu kommen. Manche können nicht einmal die
einfachste Entscheidung treffen, und sie ziehen sich still aus der Welt
in eine von Hilflosigkeit geprägte Haltung zurück, während andere
schreien und alles und jeden herausfordern. Solche Widersprüche
machen eine Behandlung schwierig. Wenn Sie Brustkrebs haben,
kann mithilfe einer Biopsie die beste Behandlung ermittelt werden.
Wenn Sie eine Depression haben, können Sie einen psychologischen
143
Kapitel 5: Depressionen
Test machen, und dann hoffen Sie nach dem „Versuch und Irrtum“Prinzip ein geeignetes Medikament zu finden; für Depressionen gibt
es keinen Bluttest.
Damit kommen wir wieder zur Suche nach dem biologischen
Schul­digen zurück. Durch genaue technische und chemische Analyse
unserer ursprünglichen, zufällig entdeckten Antidepressiva, stellten
wir fest, dass sie die Aktivität der sogenannten Monoamin-Neuro­
trans­mitter erhöhen: Noradrenalin, Dopamin und Serotonin. Als
Joseph Schildkraut, Psychiater und Forscher am Massachusetts
Mental Health Center, 1965 feststellte, dass ein Zerfallsprodukt
von Noradrenalin, das sogenannte Methoxyhydroxyphenylglykol
(MHPG), bei depressiven Patienten reduziert war, begeisterte ihn
die Idee, dass es etwas gab, was gemessen werden konnte. Wenn
wir das Ungleichgewicht quantifizieren konnten, wären wir wohl
in der Lage, die Krankheit zu diagnostizieren und an der Wurzel,
der Biologie, dagegen anzugehen. Seine Pionier­arbeit führte zur
Monoamin-Hypothese, wonach Depression durch ein Defizit dieser drei Neurotransmitter verursacht wird. Die meisten unserer
Behandlungen und Forschungen, die seither durchgeführt wurden,
zielten entsprechend auf eine Behebung dieses Defizits ab.
Die neue Begeisterung
1970 bekam ich, frisch vom College, eine Stelle am Massachusetts
Mental Health Center und geriet geradewegs in diesen Umbruch, der
sich in der Psychiatrie vollzog. Schildkraut war für mich ein Men­
tor, und ich hatte das Glück, aus erster Hand die wissenschaftliche
For­schung über die biologische Theorie von Stimmungsstörungen
erfahren zu können. Zwei Jahre später ging ich an die Medizinische
Fa­kul­­tät der University of Pittsburgh, wo ich meine eigene tägliche Psy­cho­analyse begann und mich in die aufkommende Hirn­
for­schung vertiefte. In Pittsburgh arbeitete bereits jeder an MHPG,
sodass ich mich entschloss, die Lithium-Aufnahme roter Blut­kör­
per­chen als möglichen Weg der Identifizierung verschiedener Stim­
mungs­probleme zu messen. Ich fror auch Urinproben von Patienten
144
Bewegung verändert Ihre Stimmung
mit Schizophrenie ein, die dann zu Linus Pauling an die Stanford
University geschickt wurden. Ich lernte, wie man Computer programmiert, um Datenanalysen durchzuführen, und stellte Er­geb­
nisse bei einer Psychophysiologie-Konferenz vor. Durch meine For­
schungen war ich in der Leidenschaft gefangen, die Psychiatrie zu
einer „wirklichen“ Wissenschaft machen zu wollen.
Etwa zur gleichen Zeit stieß ich auf einen Artikel über eine Klinik
in Norwegen, die depressiven Patienten die Option einer Behand­
lung mit Antidepressiva oder täglichem Sport anbot. Dies war ein
Schock: Diese Medikamente wurden gerade erst eingeführt, und die
Ergebnisse zwangen uns, unseren Denkansatz bei der Behandlung
zu ändern, und dennoch gab es hier eine Klinik, die Pa­tien­ten mit
schweren De­pressionen sportliche Betätigung anbot. Und es funktionierte! Aber die Ergebnisse gingen völlig unter. Zu einer Zeit,
in der wir gerade in die Tiefen des Gehirns vordrangen, war pure
Wissenschaft gefragt.
Als ich nach Boston zog, wo ich meine Assistenzarztzeit am
Mas­sa­chusetts Mental Health Center absolvierte, landete ich in einem weiteren Epizentrum – das Lauffieber „erschütterte“ zu dieser
Zeit alle Welt. Es gab den Olympia-Goldmedaillengewinner Frank
Shorter, der es in seiner Disziplin, dem Marathon, mit den besten
Läufern der Welt aufnahm; es gab Bill Rogers, der jeden aufforderte,
nach draußen zu gehen, um zu laufen; und es gab ein neues Phäno­
men, den sogenannten „Endorphinrausch“.
Candance Pert, Postdoktorandin und Neurowissenschaftlerin
an der Johns Hopkins University, hatte kurz zuvor entdeckt, dass
es Opiat­re­zep­toren im Gehirn gab, was bedeutete, dass der Körper
eine „einge­baute“ Methode zur Schmerzbekämpfung mit Molekülen
hatte, die wie Mor­phium wirkten. Endorphine, wie sie genannt wurden, dämpften den Schmerz im Körper und erzeugten Euphorie im
Geist. Als in den Blut­proben einer Gruppe von Läufern erhöhte
Endorphin-Spiegel fest­gestellt wurden, schien alles zu passen. Die
Theorie, dass sportliche Be­tä­ti­gung für eine Zunahme dieser morphiumähnlichen Substanz im Gehirn sorgte, passte zu dem guten
Gefühl, das sich bei einem Läufer nach entsprechenden Aktivitäten
einstellte. So kamen wir auf den Ausdruck „Runner’s High“, einer
extremen Version des Effektes. Dies war für mich das erste Mal, dass
145
Kapitel 5: Depressionen
eine Verbindung zwischen körperlicher Bewegung und Stimmungen
hergestellt wurde.
Endorphine werden als Stresshormone betrachtet – und davon
gibt es 40 Arten, mit Rezeptoren in Gehirn und Körper –, die das Ge­
hirn beruhigen und bei anstrengender sportlicher Betätigung Mus­
kel­­schmer­zen lindern. Sie sind das Elixier des Heldentums und helfen uns, bei körperlicher Überanstrengung Schmerzen zu ignorieren,
sodass wir die anstehende Aufgabe zu Ende führen können. Robert
Pyles, der Psychiater, den ich in Kapitel 3 erwähnte, liefert ein gutes
Beispiel. Als Marathonläufer brüstete er sich damit, stets bis zum
Ende zu laufen, aber genau das wurde in einem Jahr in Boston für
ihn zu einer ge­waltigen Herausforderung. Er verfing sich mit dem
Fuß in einem Plastik­müllsack, den jemand nahe der Startlinie als
Aufwärmjacke genutzt hatte, und fiel mit dem Knie voraus auf das
Pflaster. Er rappelte sich auf und lief weiter, und zwar ziemlich geschockt. Aber nachdem er etliche Meilen zurückgelegt hatte, stellte
sich ein komisches Gefühl ein, und bei Meile 18 kündigte sein geschwollenes Knie den Dienst auf. Er musste aufhören. Er hatte sich
seinen Oberschenkelknochen gebrochen. Jedes Mal, wenn er seinen
Fuß aufsetzte, müsste er unerträgliche Schmerzen verspürt haben,
aber Pyles sagt, er habe sie nicht gemerkt. Es mussten die Endorphine
gewesen sein.
Es gibt einen Zusammenhang zwischen Schmerz und Depression,
und nach Perts Entdeckung führten auch andere Experimente durch,
um zu sehen, ob Endorphine tatsächlich die Verbindung zwischen
sportlicher Betätigung und erhöhter Stimmung waren. Sie erwarteten dabei festzustellen, dass Medikamente mit einer endorphinhemmenden Wirkung ein Runner’s High verhindern würden. Die
Ergebnisse waren jedoch widersprüchlich. Dann stellten wir fest,
dass Endorphine, die im Körper produziert wurden – jene, die bei
Läufern festgestellt werden –, nicht ins Gehirn gelangen konnten,
und die wissenschaftliche Begeisterung für den Endorphinrausch
schwand dahin. Endorphine waren für sich allein genommen offenkundig nicht die Antwort auf unsere Fragen, und somit wurden sie im Labor fallen gelassen. Heute kommen wir wieder auf
sie zurück. Studien legen den Schluss nahe, dass Endorphine, die
direkt im Gehirn produziert werden, zum allgemeinen Gefühl des
146
Bewegung verändert Ihre Stimmung
Wohlbefindens beitragen, das sich für gewöhnlich bei sportlicher
Betätigung einstellt. Die Wahrheit ist, dass es ungewiss ist, wie viel
sie tatsächlich zu dem Wunder beitragen.
Das Problem bei der streng biologischen Auslegung der Psycho­
logie ist, dass wir manchmal die Tatsache aus den Augen verlieren,
dass Psyche, Geist, Gehirn und Körper sich gegenseitig beeinflussen. Wenn Sie sich sportlich betätigen, fühlen Sie sich nicht nur gut,
sondern Sie fühlen sich auch gut in Bezug auf sich selbst. Und dies
hat einen positiven Effekt, der nicht auf eine bestimmte Chemikalie
oder Hirnregion zurückgeführt werden kann. Wenn Sie sich niedergeschlagen fühlen und beginnen, sich zu bewegen oder sich sportlich
zu betätigen und sich dann besser zu fühlen, verändert das Gefühl,
dass es Ihnen gut geht und Sie sich auf sich verlassen können, Ihre
ganze Einstellung. Die Stabi­­li­tät der Routine allein genommen kann
Ihre Stimmung schon drastisch verbessern. Klar ist, dass da etwas
geschieht.
Eines der besten Beispiele ist ein wegweisendes Forschungsprojekt
des Human Population Laboratory in Berkeley, die sogenannte Ala­
meda County-Studie. Im Rahmen dieser Studie verfolgten For­scher
26 Jahre lang die Entwicklung von 8.023 Personen ab dem Jahr 1965,
wobei eine Reihe von Faktoren im Zusammenhang mit lebens­stil­
bedingten Gewohnheiten und der Gesundheit beobachtet wurden.
Sie kontrollierten die Teilnehmer 1974 und 1983. Bei allen, die zu
Beginn der Studie keine Anzeichen von Depression gezeigt hatten
und im Laufe der nächsten neun Jahre inaktiv geworden waren,
war die Wahrscheinlichkeit 1,5 Mal höher, im Jahr 1983 unter einer
Depression zu leiden, als bei den aktiven Vergleichspersonen. Auf
der anderen Seite war bei denjenigen, die zu Beginn inaktiv gewesen
waren, ihr Aktivitätsniveau aber bis zur ersten Zwischenerhebung
gesteigert hatten, die Wahrscheinlichkeit, 1983 an einer Depression
zu leiden, nicht höher als bei denjenigen, die schon zu Beginn aktiv
waren. Mit anderen Worten: Eine Änderung Ihrer Gewohnheiten
in puncto körperliche Bewegung verändert Ihr Risiko, an einer De­
pression zu erkranken.
Im Rahmen weiterer umfassender Studien wurde die Korrela­tion
aus etwas anderen Blickwinkeln betrachtet, und alle gelangten zu
der gleichen Schlussfolgerung. Eine große niederländische Studie mit
147
Kapitel 5: Depressionen
19.288 Zwillingen und ihre Familien, die 2006 veröffentlicht wurde,
zeigte, dass Personen, die sich sportlich betätigen, weniger ängstlich, weniger de­pressiv, weniger neurotisch und sozial aufgeschlossener sind. Eine finni­sche Studie mit 3.403 Personen zeigte 1999,
dass diejenigen, die sich min­des­tens zwei bis drei Mal wöchentlich
sportlich betätigen, erheblich weniger von Depression, Wut, Stress
und „zynischem Miss­trauen“ belastet sind als Personen, die sich weniger oder gar nicht sportlich betä­tigen. Dabei handelte es sich um
eine Erhebung über den kardiovasku­lä­ren Risikofaktor, die Fragen
zu Stimmungen mit einschloss, das heißt, dass sie ein breiteres
Spektrum von Symptomen als nur bei einer klini­schen Depression
einbezog. In einer weiteren Studie der Fakultät für Epi­demio­logie
an der Columbia University, die im Jahr 2003 veröffentlicht wurde,
untersuchte man 8.098 Personen und stellte die gleiche Um­kehr­
beziehung zwischen sportlicher Betätigung und Depression fest.
Viele Wege führen nach Rom
Mit der Markteinführung des Blockbuster-Medikaments Prozac stand
das erste Antidepressivum zur Verfügung, welches das chemische
Gleich­gewicht nur eines der mutmaßlichen Neurotransmitter korrigierte. Prozac ist die Mutter einer Klasse von Medikamenten, den
sogenannten selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI),
die verhindern, dass Serotonin aus dem synaptischen Spalt heraus zu
schnell wieder abgebaut wird und dadurch länger verfügbar bleibt,
sodass theoretisch die normale Weiterleitung ins Gehirn wiederherge­
stellt wird. Prozac war faszinierend, weil es bei sehr vielen Personen
funk­tionierte und auf ein einzelnes Problem hinwies, das gelöst werden konnte. Das Medikament hatte eine gewaltige Wirkung, da es
nicht nur Ne­gativität erstickte, sondern auch das Selbstwertgefühl
erhöhte, was eine andere Dimension der Krankheit ist.
20 Jahre später ist klar, dass Prozac und seine SSRI-Töchter nicht
bei jedem funktionieren, und ebenso wenig Antidepressiva, die No­
r­adrenalin, Dopamin oder eine Kombination der drei im Visier haben. Eines der Probleme sind die Nebenwirkungen. Nur ein Bei­spiel:
148
Bewegung verändert Ihre Stimmung
Ein großer Teil meiner Patienten, die selektive Serotonin-Wie­der­
auf­nahme­hemmer (SSRI) einnehmen, entwickeln nach einigen
Monaten Probleme mit ihrem Sexleben. Manchen Schätzungen zufolge klagen mehr 50 Prozent über sexuelle Nebenwirkungen, von
einem mangelnden Interesse an Sex bis hin zu Funktionsstörungen.
(Dies sagt etwas darüber aus, dass SSRI häufig zur Behandlung bei
vorzeitiger Eja­kulation und bei Sexualstraftätern genutzt werden.)
Sexuelle Probleme werden von den Betroffenen leicht übersehen oder
abgetan, insbesondere wenn sie sich ansonsten gut fühlen. Diese
Probleme können sich jedoch verdichten und zu weiteren Schwierig­
keiten führen. Sexuelle Gefühle und Leidenschaften sind Grund­
triebe in uns allen, und sie zu ersticken, kann zu einem allgemeinen
Mangel an Lebensfreude oder einem Mangel an Intimität oder möglicherweise einer Liste von verpass­ten Chancen führen.
Unter dem Strich werden die Nebenwirkungen sicherlich durch
die schlimmsten Konsequenzen einer Depression aufgewogen, aber
dennoch machen sie sehr vielen Menschen das Leben schwer. Inzwi­
schen sind SSRI mit dem Warnhinweis versehen worden, dass sie
das Risiko suizi­­daler Gedanken und Handlungen bei Kindern und
Jugendlichen erhöhen können, ein Ergebnis, das nach wie in Frage
gestellt wird. Und man hört immer öfter, dass es schwierig sei, diese
Klasse von Medi­ka­men­ten wieder abzusetzen, dies ist insbesondere
bei Venlafaxin (Effexor, Trevilor) der Fall.
Vor einiger Zeit habe ich begonnen, einen erfolgreichen Unter­
neh­mer zu behandeln, dessen Leben ein einziges Chaos war. Er und
seine Frau hatten sich getrennt, weil er eine Affäre gehabt hatte,
sein Unter­nehmen hatte er ebenfalls verloren. Er kam zu mir, weil
er mehr über ein Problem in Erfahrung bringen wollte, das während einer Paar­t herapie aufgetaucht war, als klar wurde, dass er an
ADHS litt.
Da er absolut dagegen war, seinem Körper irgendetwas „Unna­­
tür­li­ches“ zuzuführen, lehnte er jede Medikation ab. Am Ende willigte er jedoch ein, versuchsweise ein Stimulans zu nehmen, da seine Frau ihn unter Druck setzte und er unter entsetzlichen Schuld­
gefühlen litt, weil er sie betrogen hatte. Wir probierten verschiedene
Medikamente aus, setzten alle jedoch schnell wieder ab. Er bekam
Kopfschmerzen, Ma­gen­schmerzen, Muskelschmerzen.
149
Kapitel 5: Depressionen
Jenseits seiner Aufmerksamkeitsprobleme war das Hauptpro­blem,
wie ich ihm erklärte, dass er depressiv war. Er war inaktiv, unmotiviert und fühlte sich hoffnungslos. Er hatte nichts unternommen,
um seine berufliche Situation zu regeln oder in den Griff zu bekommen. Er leugnete, dass es ein Problem gab, obwohl es sich jetzt schon
seit Monaten hinschleppte. Dann, eines Tages, kam er herein, und
ich sah ihm an, dass sich sein Zustand verschlechtert hatte. Nor­
maler­weise war er sehr gepflegt, jetzt war er unrasiert und ungekämmt und erklärte mir, dass es ihm sehr schwer fiele, über­haupt
aufzustehen.
Ich bestand darauf, dass er ein Antidepressivum ausprobierte,
und ich verschrieb ihm den selektiven Serotonin-Wiederauf­nahme­
hemmer (SSRI) Escitalopram (Lexapro, Cipralex). Er zeigte starke
Reaktionen – er litt unter Brechreiz und musste sich übergeben –
und sagte, er wollte kein weiteres Mittel probieren.
In der Vergangenheit war er körperlich aktiv gewesen, und ich
riet ihm, sich jeden Tag sportlich zu betätigen. Ich hatte die ganze
Zeit schon darüber gesprochen, aber nach dem letzten gescheiterten
Medi­kamen­ten-Versuch erklärte ich ihm, welche enormen Aus­w ir­
kun­gen körperliche Bewegung oder Sport auf das Gehirn haben. Und
an seine professionelle Sensibilität appellierend, gab ich ihm einige
relevante Studien zu lesen.
Zwei Wochen später sah er wie ein anderer Mensch aus. Er lächelte und war zuversichtlich und fühlte sich gut angesichts der Tatsache,
dass er fast jeden Tag gelaufen war. Im Laufe des nächsten Monats
sah ich, dass er ernsthaft seine Arbeitssuche wieder aufnahm und
Schritte zur Versöhnung mit seiner Frau unternahm. Und zum ersten Mal sagte er, er sei hoffnungsvoll, dass sie vielleicht wieder zusammenkämen. Mehr als alles andere erstaunte ihn, dass er sich so
anders fühlte und dieses Gefühl auch aufrechterhalten konnte.
Abgesehen von der Erhöhung des Endorphin-Spiegels, reguliert
körperliche Bewegung all die Neurotransmitter, die das Ziel von Anti­
de­pressiva sind. Bei Anfängern führt eine sportliche Betätigung zu
einer sofortigen Erhöhung von Schildkrauts Lieblings-Neuro­trans­
mit­­ter, Noradrenalin, in bestimmten Hirnregionen. Noradrenalin
„weckt“ das Gehirn und sorgt dafür, dass es angeregt bleibt, und es ver­
bes­­sert das Selbstwertgefühl, was eine Komponente der Depression ist.
150
Bewegung verändert Ihre Stimmung
Sportliche Aktivitäten erhöhen auch den Dopamin-Spiegel, was die
Stimmung und das Wohlbefinden verbessert und das Auf­merk­
sam­keits­system ankurbelt. Dopamin spielt bei der Frage von Moti­
vation und Aufmerksamkeit eine maßgebende Rolle. Studien haben gezeigt, dass eine ebenso regelmäßige wie dauerhafte sportliche Betätigung den Dopamin-Vorrat im Gehirn erhöht und ebenso
die Pro­duktion von Enzymen auslöst, die Dopamin-Rezeptoren im
Beloh­nungs­zen­trum des Gehirns entstehen lassen; und dies sorgt
für ein Gefühl der Zufriedenheit, wenn wir etwas geschafft haben.
Wenn Nachfrage besteht, werden die Dopamin-Gene aktiviert,
mehr zu produzieren, und dies hat insgesamt den Effekt, dass diese Pfade, die wichtig für die Kontrolle von Abhängigkeiten sind,
stabiler reguliert werden.
Serotonin, das von wesentlicher Bedeutung für die Stimmung,
die Impulskontrolle und das Selbstwertgefühl ist, wird ebenso durch
körperliche Bewegung beeinflusst. Es hilft auch bei der Abwehr von
Stress, indem es Cortisol entgegenwirkt, und es schärft die zellularen Ver­bin­dungen in Cortex und Hippocampus, die wichtig für das
Lernen sind.
Der eigentliche Test
Wir wussten zwar schon eine Weile, dass sportliche Betätigung die
gleichen Chemikalien beeinflusst, wie Antidepressiva es tun. Aber
niemand hatte einen wissenschaftlich fundierten, direkten Vergleich
gemacht, bis 1999 endlich Forscher der Duke University diese Auf­
gabe in Angriff nahmen. Im Rahmen einer wegweisenden Studie,
liebevoll SMILE (Standard Medical Intervention and Long-term
Exercise) genannt, stellten James Blumenthal und seine Kollegen in
einem 16-wöchigen Versuch sportliche Aktivitäten dem selektiven
Serotonin-Wie­­der­aufnahmehemmer (SSRI) Sertralin (Zoloft) gegenüber. Nach dem Zufallsprinzip teilten sie 156 Patienten in drei
Gruppen ein, die entweder mit Zoloft, sportlichen Aktivitäten oder
einer Kombination aus beidem behandelt wurden. Die „sportliche“
Gruppe erhielt die Aufgabe, drei Mal in der Woche unter Aufsicht
151
Kapitel 5: Depressionen
jeweils 30 Minuten (ohne zehnminütiges Aufwärmen und fünfminütiges Abkühlen) zu gehen oder zu joggen, und zwar bei 70 bis 85
Prozent ihrer aerobischen Kapazität. Die Ergebnisse? In allen drei
Gruppen zeigte sich ein erheblicher Rückgang der Depression, und
etwa die Hälfte jeder Gruppe war vollständig über den Berg – also in
Remission. Weitere 13 Prozent der Teilnehmer litten unter weniger
gravierenden Symptomen, ohne jedoch voll zu genesen.
Blumenthal folgerte daraus, dass sportliche Aktivitäten ebenso
wirk­sam wie Medikamente waren. Diese Studie kopiere ich für meine skeptischen Patienten, die kaum glauben wollen, dass körper­liche
Bewegung ihre Hirnchemie so verändern kann, um aus ihrer De­pres­
sion herauszufinden, da die Ergebnisse der Studie genauso schwarzweiß sind wie die, die die Psychiatrie zu liefern hoffen kann, zumindest nach dem derzeitigen Stand der Dinge. Die Ergebnisse sollten
an der Me­dizinischen Fakultät gelehrt, von Krankenversicherungen
bei ihren Ver­sicherungsnehmern bekannt gemacht und in jedem
Pflege- oder Alters­heim am schwarzen Brett in einem Land ausgehängt werden, denn fast ein Fünftel der Bevölkerung leidet an
Depressionen. Wenn jeder wüsste, dass körperliche Bewegung genauso gut wie Zoloft wirkt, glaube ich, könnten wir der Krankheit
wirklich zu Leibe rücken.
Wenn man zwischen den Zeilen der SMILE-Studie liest, stößt man
auf die komplexen Probleme, die verhindert haben, dass körperliche
Bewegung als medizinische Behandlung akzeptiert wurde. Genau
wie bei dem Vergleich, den Andreas Broocks 1997 zwischen körperlicher Bewegung und dem angstlösenden Medikament Clomipramin
durchführte, stellte sich bei den Patienten, die Medikamente einnahmen, zwar eher eine sofortige Linderung ein – dennoch darf man
nicht vergessen, dass bei beiden Gruppen am Ende das gleiche Maß
an Verbesserung festgestellt wurde. Auf den ersten Blick schien dies
den Warnungen der Pharmaunternehmen zu widersprechen, die darauf hinwiesen, dass es bei Antidepressiva bis zu drei Wochen dauern
könnte, bis sie eine Wirkung zeigten. Solche Schätzungen basieren
jedoch auf Statistiken; ich behandelte im Laufe der Jahre jede Menge
Patienten, die innerhalb weniger Tage darauf ansprachen.
Was ist umgekehrt mit den Studien, die zeigen, dass eine einzige sportliche Übung die Stimmung verbessern kann? Professor
152
Bewegung verändert Ihre Stimmung
Cheryl Hansen, Psychologin an der Northern Arizona University
zeigte 2001 bei­spielsweise, dass bei gesunden Versuchspersonen bereits zehn Mi­nu­ten Sport zu einer sofortigen Verbesserung des Elans
und der Stim­mung führen können. Hätte Hansen die Stimmung
jedoch einige Stun­den später nochmals untersucht, hätte sie wahrscheinlich festgestellt, dass die Stimmungsaufhellung nicht von
Dauer war. Das heißt, es ist zwar wichtig, uns bewusst zu machen,
dass wir mit nur einer sport­lichen Übungsrunde unsere Stimmung
kurzfristig heben können, aber ebenso wichtig ist es, uns vor Augen
zu halten, dass es ein wenig dauert, um unsere Stimmung auf lange
Sicht zu verändern.
Im Rahmen seiner Studie bewertete Blumenthal die Stimmung
einmal wöchentlich, immer vor der sportlichen Aktivität. Bei manchen Patienten stellte er eine sofortige Verbesserung fest, die jedoch
nicht so deutlich ausfiel wie bei der Verabreichung von Medi­ka­men­
ten. Ein entscheidender Aspekt bei der Genesung von einer De­pres­
sion ist, dass man vorhersehen kann, dass es einem auch in fünf
Minuten noch gut geht, und dann, dass es einem auch in fünf Stun­
den noch gut geht. Am Ende hat man die Zuversicht, dass es einem
auch morgen früh noch gut geht. Bei regelmäßigen sportlichen Akti­
vi­täten kann dies vielleicht etwas länger dauern.
Sechs Monate nach Ende der Studie untersuchten Blumenthal und
seine Kollegen die Patienten nochmals, um zu sehen, wie es ihnen
ging, und stellten dabei fest, dass die sportlichen Aktivitäten lang­
fristig sogar besser als die Medikamente wirkten. Von der Gruppe, die
sich sportlich betätigte, blieben etwa 30 Prozent depressiv, verglichen
mit 52 Prozent der Gruppenteilnehmer, die Medika­men­te einnahmen,
und 55 Prozent der Probanden, in deren Gruppe beide Behandlungen
kombiniert wurden. (Blumenthal hatte einige interessante Theorien
darüber, was in der kombinierten Gruppe geschah, worauf ich etwas später noch eingehen werde.) Und von allen Patienten, die nach
Beendigung der ursprünglichen Studie in Remission waren, kam es
bei nur acht Prozent der Teil­neh­mer aus der sportlichen Gruppe zu
einem Rückfall, während es in der Medikationsgruppe 38 Prozent
waren – ein ziemlich deutlicher Unterschied.
Nach dem ursprünglichen viermonatigen Versuch wurde es den
Versuchspersonen freigestellt, selbst ihre Behandlung zu wählen
153
Kapitel 5: Depressionen
(oder auch nicht), was die Ergebnisse komplizierte. Einige meldeten sich für eine Psychotherapie an, einige in der Medikationsgruppe
begannen mit sportlichen Aktivitäten, und einige in der sportlichen
Gruppe begannen mit der Einnahme von Medikamenten, wodurch
eine Menge Variablen ins Spiel kamen.
Blumenthals Team stellte jedoch fest, dass der wichtigste Indi­
kator, um vorherzusagen, ob es jemandem besser ergehen würde,
die Frage war, wie viel sich der Einzelne sportlich betätigte. Konkret
wurde festgestellt, dass jede 50-minütige sportliche Aktivität pro
Woche mit einem Rückgang von 50 Prozent der Beschwerden korrelierte. Blumenthal ging nicht so weit, daraus zu folgern, dass sportliche Ak­tivitäten die Remission verursacht hatten. Vielleicht stimmte das Gegenteil: Patienten, die sich weiterhin sportlich betätigten,
machten dies, weil sie weniger depressiv waren. Es ist das klassische
Problem mit dem Huhn und dem Ei, mit dem Wissenschaftler bei
der Korrelation von körperlicher Aktivität und Stimmung konfrontiert sind. Spielt es wirklich eine Rolle, ob man weniger depressiv
ist, weil man sich sportlich betätigt, oder ob man sich sportlich betätigt, weil man weniger depressiv ist? Wie auch immer, es geht einem besser.
Aber wie waren die erstaunlichen Ergebnisse der Gruppe zu bewerten, deren Teilnehmer sowohl Sport trieben als auch Medi­ka­
mente einnahmen? Blumenthal hatte angenommen, dass genau diese
Probanden die besten Ergebnisse zeigen würden. Bei ihnen waren
jedoch die schlimmsten Rückfallquoten zu verzeichnen. Er spekulierte, dass einigen Teilnehmern die Idee, Antidepressiva zu nehmen,
nicht gefiel, ins­besondere nachdem sie darüber nachgedacht hatten,
dass sie sich ausdrücklich für eine Studie angemeldet hatten, bei der
die Effekte sportlicher Aktivitäten auf Depressionen getestet werden
sollten. Einige waren enttäuscht, als sie feststellten, dass sie zusätzlich Medikamente einnehmen sollten. Und während des Versuchs
erklärten einige Teil­neh­mer, sie glaubten, dass die Medikamente
die nutzbringenden Effekte sportlicher Aktivitäten beeinträchtigen würden. Aus physiolo­gischer Sicht ist dies unwahrscheinlich,
es kann jedoch sein, dass die Ein­nahme von Medikamenten das
Gefühl der Selbstkontrolle oder Selbst­w irksamkeit untergräbt, das
durch sportliche Betätigung vermittelt wird. „Statt sich zu sagen,
154
Bewegung verändert Ihre Stimmung
‚Ich war engagiert und habe mich bei dem Übungsprogramm sehr
angestrengt; es war nicht leicht, aber ich habe die Depression bekämpft’, könnten Patienten auch die Überzeugung gewinnen, ‚Ich
habe ein Antidepressivum genommen, und es wurde besser’“, erklärte Blumenthal in der Studie.
Die beste Abhilfe
Wenn wir über Depressionen sprechen, gebrauchen wir nicht das
Wort Heilung, da wir nur subjektive Maßstäbe für Verhalten und
Emotionen anlegen können. Etwa ein Drittel der Patienten mit
Depressionen erreicht eine volle Remission ihrer Symptome mit
Antidepressiva. Einem weiteren Drittel geht es mit Medikamenten
weitaus besser, hat aber möglicherweise weiterhin Probleme mit
Motivation, Lethargie und Müdigkeit. Die schlimmen Gedanken
sind verschwunden, aber auch wenn sie imstande sind, aufzustehen,
sind sie noch nicht auf Arbeitssuche oder tun, was sie tun sollten. Es
geht ihnen nicht wirklich gut, sie leben vielmehr weiter im Schatten
der Depression.
Das aktuelle Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders
listet neun Symptome für Depression auf, und davon müssen sechs
auf einen Patienten zutreffen, um eine Depression diagnostiziert zu
bekommen. Sagen wir, Sie können sich nicht konzentrieren, nicht
schlafen, fühlen sich wertlos und interessieren sich für nichts. Das
sind vier. Technisch gesehen sind Sie nicht depressiv. Was sind Sie
dann? Geht es Ihnen einfach elend? Entscheidend aus meiner Sicht
ist, dass jedes Maß an Depression vollständig verschwinden muss.
Und wie es aussieht, hat man angefangen, sportliche Aktivitäten in
dieser Hinsicht sehr ernst zu nehmen.
Madhukar Trivedi, klinischer Psychiater und Direktor des Mood
Disorders Research Program an der Southwestern Medical School
der University of Texas, hat die Wirksamkeit sportlicher Aktivitäten
zur Erhöhung der Wirksamkeit von Antidepressiva untersucht. 2006
veröffentlichte er eine Pilotstudie, die zeigte, dass Patienten, die nicht
auf Antidepressiva ansprachen, ihre Werte bei einem allgemeinen
155
Kapitel 5: Depressionen
Depres­sions­test nach einem 12-wöchigen Übungsprogramm um 10,4
Punkte auf einer 17-Punkte-Skala verringert hatten – eine gewaltige
Re­du­zie­rung. Alle 17 Patienten litten an einer schweren Depression
und hatten mindestens vier Monate lang Antidepressiva genommen.
Die Medikamente wirkten nicht, wegen des Experiments nahmen
sie sie jedoch weiterhin ein.
Trivedi ließ das Übungsprogramm vom bekannten Cooper Insti­
tute erstellen. Die Wissenschaftler ließen die Patienten, die zu Be­
ginn des Experimentes inaktiv waren, das Aktivitätsprogramm zu
Hause absolvieren. Sie sollten so oft und so intensiv sie wollten, gehen oder auf einem Heimtrainer Rad fahren. Die einzige Auflage
war, dass sie pro Woche eine gewisse Energie verbrauchen sollten. Die meisten ent­schieden sich dafür, drei Mal in der Woche im
Durch­schnitt 55 Minuten zu gehen. Neun Personen gaben auf und
fielen aus, was nicht außer­­gewöhnlich ist. Aber von den acht, die das
Übungs­programm voll absolvierten, erreichten fünf eine vollständige Remission. Selbst die Patienten, die nur einige Wochen teilnahmen, zeigten eine Ver­bes­serung bei den Symptomen.
Die Zahlen waren klein, aber Trivedis Ergebnisse enorm. Zu­
min­dest bei manchen Personen hilft körperliche Bewegung, wenn
Medi­kamente es nicht tun. Dabei drängt sich die Frage auf, warum
sollte man körperliche Bewegung nicht gleich von Anfang an einbeziehen? Insbesondere wenn man zahlreiche Medikamente nach
dem „Versuch und Irrtum“-Prinzip auswählt? Die Faszination einer
Wunderpille ist jedoch stark, und es dauert lange, um Einstellungen
ins Wanken zu bringen. Fragen Sie T. Byram Karasu, der in der
Arbeitsgruppe der Ame­ri­­can Psychiatric Association für schwere
depressive Störungen ver­antwortlich war. Er bemühte sich, die APA
dazu zu bewegen, kör­per­liche Bewegung oder sportliche Betätigung
formal in ihre Be­hand­lungs­richtlinien für Depressionen aufzunehmen, und schlug vor, dass Psy­chiater jeden Patienten dazu anhalten
sollten, fünf bis acht Kilo­me­ter täglich zu gehen oder irgendeiner
anderen Form einer intensiven sportlichen Aktivität nachzugehen.
Die APA sperrte sich, vermutlich, weil die meisten Ärzte zwar die
anekdotischen Belege bestätigen, dass kör­perliche Bewegung die
Stimmung verbessert, gleichzeitig aber sagen, es lägen nicht genügend wissenschaftliche Beweise vor. In der heutigen Zeit, in der das
156
Bewegung verändert Ihre Stimmung
Gehirn analysiert wird und die Geheimnisse von Leben und Zelltod
entschlüsselt werden, fällt es Psychiatern schwer, eine so ganz­heit­
liche Strategie wie körperliche Bewegung als Behandlung zu be­rück­
sich­ti­gen.
Jeder Arzt wird Ihnen sagen, Ärzte seien die schlimmsten Pa­
tien­ten. Stellen Sie sich vor, wie schwierig es dann ist, eine depressive Patientin mit medizinischem Abschluss davon zu überzeugen, sich sportlich zu betätigen. Grace, eine meiner Patientinnen,
deren Krankengeschichte Episoden leichter Depressionen umfasste, ist zufällig auch Psychiaterin und verfügt über ein fundiertes
medizinisches Wissen. Gleichwohl war es uns nicht möglich, ein
Antidepressivum ohne Nebenwirkungen zu finden. Sie schien am
besten auf selektive Sero­tonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) anzusprechen, aber wenn sie ein Medikament testete, setzte sie es gleich
wieder ab, da alle bewirkten, dass sie sehr schnell zunahm. Sie ist
brillant und sich der Biologie körperlicher Bewegung bewusst (oder
zumindest zum Teil), aber sie hat es einfach nicht gemacht.
Letzten Sommer zog sie sich eine Rückenverletzung zu und war
somit eine Zeit lang ans Bett gefesselt. Nur um ihrer körperli­chen
Reha­bilitation willen fing sie an zu schwimmen. Es war das Ein­
zige, was sie machen konnte, und es tat ihr gut, da das Wasser ihren
Körper unterstützte und ihre Schmerzen linderte. Es machte ihr
Spaß, und sie begann, ihr tägliches Schwimmprogramm von drei
Stun­den zu absolvieren. Nicht nur, dass ihre Schmerzen nachließen, mit der Zeit fand sie auch einen lange verlorenen Muskeltonus
zurück, und sie fühlte sich wohl in ihrer Haut.
Dann schloss das Schwimmbad über den Winter, ihre Rücken­
schmerzen kehrten zurück, und ihre Stimmung fiel erneut in ein
Tief. Diesmal wurde sie auch wütend. Flach auf dem Rücken liegend, mit nur wenig Übungen zur Auswahl, fing sie an Gewichte zu
heben. Es waren nur 1,5-Kilo-Hanteln, die sie jedoch schnell genug
hintereinander hochstemmte, sodass ihr Herzschlag sich mehrmals
am Tag beschleunigte. Selbst diese kleine Aktivität half, und wichtiger noch, diese Erfahrung zündete den Funken für eine Wende in
ihrem Gehirn und ihrer Psyche. Ich habe Grace jahrelang behandelt,
aber erst in dieser Situation erkannte sie, dass körperliche Betätigung
tatsächlich eine Perspektive sein konnte.
157
Kapitel 5: Depressionen
Sie hat ihre Rückenprobleme durch körperliches Training bewältigt
und hält auch beständig an ihrem Schwimmprogramm fest. Sie sagt,
sie sei im Denken und Schreiben jetzt kreativer und fühlt sich durch
einen völlig neuen Elan gestärkt, der auch ihrer Familie und ihren
Freunden nicht verborgen geblieben ist. Es war keine Überraschung,
als sie sich daran erinnerte, dass sie, als sie noch jeden Tag mit ihrem
Taekwondo-Team am College trainierte, einige ihrer besten Arbeiten
schrieb. Als junge Ärztin in Boston hatte sie angefangen, Marathons
zu laufen. Erst als sie eine Familie gründete, blieben ihre sportlichen Aktivitäten auf der Strecke, wie dies bei so vielen der Fall ist.
„Ich hatte einfach zu viel zu tun und vergessen, wie gut es tut, etwas
für sich zu tun“, sagte sie. „Jetzt fühle ich mich so, als ob ich mein
Gehirn zurückbekommen hätte.“
Löcher in der Theorie
Erst als wir in der Lage waren, gute Aufnahmen vom Gehirn zu machen, begannen wir, wirklich zu verstehen, wie die verschiedenen
medizi­nischen Behandlungen und körperlichen Aktivitäten uns aus
den Fes­seln der Depression befreien. Mithilfe der Magnet­re­so­nanz­
tomografie (MRT) fielen uns bei Aufnahmen des Gehirns Anfang der
1990er-Jahre helle Stellen bei bestimmten Patienten mit Depressionen
auf. Die sogenannten Hyperintensitäten tauchten in der weißen
Substanz auf, einer Ansammlung dicht gebündelter Axone, die
Neuronen in der grauen Substanz des Cortex miteinander verbinden.
Mit einem stärkeren Zoom stellten wir Unter­schiede im Volumen des
Cortex fest – die graue Subs­tanz war physisch geschrumpft. Die graue
Substanz ist die dünne Schicht, die die Oberfläche des Gehirns überzieht und aus Zellen besteht, die alle unsere komplexen Funktionen
wie Aufmerksamkeit, Emo­tionen, Gedächtnis und Bewusstsein steuern. Die MRT-Auf­nah­men deuteten eine radikale Vorstellung an: dass
nämlich eine chronische Depression zu strukturellen Veränderungen
im denkenden Hirn füh­ren konnte.
Verwandte Forschungen zeigten, dass bei depressiven Pa­
tien­­ten auch messbare Veränderungen in der Amygdala und im
158
Bewegung verändert Ihre Stimmung
Hippo­campus festzustellen waren, die beide entscheidende Akteu­
re bei der Stressreaktion sind. Wir wussten, dass die Amyg­dala
eine zentrale Rolle in unserem emotionalen Leben spielt, aber
nun entdeckten wir, dass auch das Erinnerungszentrum bei Stress
und Depression involviert war. 1996 verglich Yvette Sheline an der
Washington University in St. Louis zehn Patienten mit Depressio­nen
mit zehn gesunden Kontrollpersonen; alle hatten die gleiche Körper­
statur und den gleichem Bildungshintergrund; und sie stellte fest,
dass der Hippocampus von depressiven Patienten bis zu 15 Prozent
kleiner war als der der Kontrollpersonen. Sie fand auch Belege dafür, dass das Ausmaß des Schrumpfens in direktem Zusammenhang
mit der Dauer der Depression stand, und dies war eine Neuigkeit. Es
erklärt vielleicht, warum so viele Patienten mit De­pres­sio­nen über
Lern- und Erinnerungsprobleme klagen und warum die Stimmung
sich bei der Alzheimer-Krankheit verschlechtert, dieser neurodegenerativen Krankheit, die mit einer Schrumpfung des Hippo­­cam­pus
beginnt.
Ein hoher Spiegel des Stresshormons Cortisol tötet Neuronen
im Hippocampus ab. Gibt man ein Neuron in eine Laborschale und
über­schwemmt es mit Cortisol, werden seine lebenswichtigen Ver­
bin­dun­gen zu anderen Zellen eingezogen. Die Folge: Es entwickeln
sich weniger Synapsen und die Dendriten schwinden. Dies führt zu
einem Zusammenbruch der Kommunikation, der im Hippocampus
eines depressiven Gehirns zum Teil erklären könnte, warum es sich
in negativen Denkmustern verfängt – hier wird immer wieder eine
negative Erinnerung abgerufen, vielleicht weil keine Abzweigung zu
alternativen Verbindungen entstehen kann.
Die Neurobildgebung hat eine völlig neue Sicht der Biologie der
Depression ermöglicht. Das Bild, das wir davon hatten und immer
noch haben, ist ungenau und verschwommen. Aber mit der jetzigen Positronenemissionstomografie (PET) und der funktionellen
Magnetresonanztomografie (fMRT) haben Wissenschaftler, jenseits
von Schnappschüssen, mehr Möglichkeiten und können zuschauen,
wie das Gehirn funktioniert. Gleichzeitig haben wir gelernt, dass
jeden Tag im Hippocampus neue Nervenzellen geboren werden,
und möglicherweise auch im präfrontalen Cortex – zwei Regionen,
bei denen im Falle einer Depression Schrumpfungen festzustellen
159
Kapitel 5: Depressionen
waren. Die neuen Instrumente und Entdeckungen haben zu einer
Umformulierung der Neurotransmitter-Theorie geführt.
Unser neues Verständnis hat die alte Theorie indes nicht ad ab­
sur­dum geführt, es hat sie nur erweitert. Heute sehen wir die De­pres­
sion als eine physische Veränderung des emotionalen Schalt­k rei­ses
des Ge­hirns. Noradrenalin, Dopamin und Serotonin sind wesentliche Boten­stof­fe, die Informationen über die Synapsen befördern;
wenn jedoch nicht genügend Verbindungen vorhanden sind, ist der
Spielraum dieser Neurotransmitter begrenzt. Was das Gehirn angeht, so besteht seine Aufgabe darin, Informationen weiterzuleiten
und sich fortwährend neu zu „verdrahten“, um uns zu helfen, uns
immer wieder neu anzupassen und zu überleben. Bei Depressionen
scheint diese Anpassungsfähigkeit des Gehirns in bestimmten Re­gio­
nen zum Erliegen gekommen zu sein. Diese Stilllegung bei Depres­
sionen ist eine Stilllegung des Lernens auf zellularer Ebene. Das Ge­
hirn ist nicht nur in einer negativen Schleife des Selbsthasses ge­
fangen, es verliert auch die Flexibilität, sich selbst aus dem Loch
he­raus­zuarbeiten.
Depressionen als Problem der Verbindungsfähigkeit neu zu defi­
nie­­ren, hilft, das breite Spektrum an Symptomen zu erklären, die
Per­sonen erfahren. Es beschränkt sich nicht nur darauf, dass sie sich
leer, hilflos und hoffnungslos fühlen. Es betrifft auch das Lernen,
die Aufmerksamkeit, die Energie und die Motivation – unterschiedliche Systeme, die verschiedene Teile des denkenden Gehirns betreffen. Depressionen haben auch Einfluss auf den Körper, indem
sie den Trieb zu schlafen, zu essen, Sex zu haben und generell für
sich selbst zu sorgen auf einer primitiven Ebene zum Erliegen bringen. Der Psychiater Alexander Niculescu sieht Depressionen als
Überlebensinstinkt zum Erhalt von Ressourcen in einer Umwelt,
die bar jeder Hoffnung ist – „um stillzuhalten und sich vor Schaden
zu bewahren“, schrieb er 2005 in einem Artikel in Genome Biology.
Es ist eine Form von Winterschlaf: Wenn die emotionale Landschaft
„winterlich“ wird, hält unsere Neurobiologie uns dazu an, drinnen
zu bleiben. Mit dem einzigen Unterschied, dass dieser Zustand wesentlich länger als eine Jahreszeit dauern kann. Es ist, als hätte unser
ganzes Sein uns gesagt, dass da draußen nichts für uns zu holen ist,
und wir somit ebenso gut aufgeben können. Deshalb die Atrophie,
160
Bewegung verändert Ihre Stimmung
der Stillstand der Neuroplastizität, der Neurogenese und der Mangel
an Verbundenheit insgesamt. Kein Wunder, dass wir Depression
nicht als ein einzelnes Problem definieren konnten.
Die grundlegende Verbindung
Wenn es sich bei Depressionen hauptsächlich um einen Zusammen­
bruch der Kommunikation oder des Verlustes der Anpassungs­fä­
hig­keit des Gehirns handelt, so ist dies für den Wert körperlicher
Bewegung eine sehr gute Nachricht. Anfang der 1990er-Jahre haben wir gelernt, dass der neurotrophe Faktor BDNF (Brain-Derived
Neurotrophic Fac­tor) in Regionen, die die Stimmung kontrollieren,
einschließlich dem Hippocampus, Neuronen vor den Auswirkungen
von Cortisol schützt. Der neurotrophe Faktor BDNF ist der „Dünger“,
der Neuronen unter­stützt, sich miteinander zu verbinden und zu
wachsen, was ihn für die Neuroplastizität und die Neurogenese le­
bens­w ichtig macht. Während extreme hohe Cortisol-Spiegel BDNF
reduzieren können, bewirken Antidepressiva und körperliche
Bewegung das genaue Gegenteil. BDNF ist bei dem „Tauziehen“ zwi­
schen chronischem Stress und der An­passungsfähigkeit sozusagen
das Seil. Das „Wunderdünger“-Mole­kül lief Serotonin den Rang ab,
und wir begannen es zu messen, zu blockieren, zu erhöhen und in
jeder nur vorstellbaren Hinsicht daran herum­zubasteln, um zu sehen,
wie es die Stimmung bei Mäusen und Men­schen beeinflusst.
Wir können ein Nagetier nicht fragen, ob es depressiv ist, wir
können jedoch sehen, wie es auf unausweichlichen Stress reagiert.
Aber wenn ihm an den Füßen ein Elektroschock versetzt wird, versucht es dann, zu fliehen oder erstarrt es? Dies ist das experimentelle
Modell für erlernte Hilflosigkeit, ein beliebter Weg, die menschliche Depression zu beschreiben, die mit der Unfähigkeit einhergeht, Widrigkeiten zu bewältigen und Maßnahmen zu ergreifen,
die notwendig sind, um zu überleben und zu gedeihen. Gibt das
Versuchstier auf, wird es als depressiv betrachtet.
Bei einem solchen Experiment, bei dem Mäusen BDNF direkt in
den Hippocampus injiziert wurde, flüchteten sie wesentlich schneller
161
Kapitel 5: Depressionen
als die nicht behandelten Mäuse der Vergleichsgruppe. Die Injek­tion
schien den gleichen Effekt wie körperliche Bewegung und Anti­de­
pres­siva auf das Verhalten der Tiere zu haben. Umgekehrt haben
Wis­senschafter Mäuse mit Genen gezüchtet, die 50 Prozent weniger
BDNF produzieren, und festgestellt, dass sie auf Antidepressiva nicht
gut ansprechen, was darauf schließen lässt, dass BDNF ein notwendiger Bestand­teil ist, damit die Medikamente überhaupt greifen und
wirken können. Diese Mäuse waren wesentlich langsamer bei ihren
Versuchen, dem Stress zu entfliehen, als die der Vergleichsgruppe
mit normaler BDNF-Funktion.
Bei der Messung von BDNF im Blut von Menschen sind den
Wis­senschaftlern Grenzen gesetzt, sodass bestenfalls eine grobe
Schätzung des BDNF-Spiegels im Gehirn möglich wäre. Eine Studie
über 30 depressive Patienten zeigte, dass bei jedem von ihnen ein
gerin­gerer BDNF-­Spiegel im Vergleich zum Normalniveau vorlag.
Bei einer anderen Studie wurde bei depressiven Patienten der BDNFSpiegel mittels Antidepressiva wieder auf Normalniveau gebracht.
Und eine weitere Studie zeigte, dass höhere BDNF-Spiegel mit geringeren Symptomen korrelierten. In Postmortem-Studien über
Per­sonen mit Depressionen, die Selbstmord begangen hatten, wurde in ihrem Gehirn ein erheblich reduzierter BDNF-Spiegel festgestellt. Sogar bei gesunden Personen ist ein Zusammenhang zwischen
BNDF-Spiegel und Persönlichkeitszügen wie Neurotizismus und
Feindseligkeit hergestellt worden, die sie anfälliger für Depressionen
machen.
Im Hippocamus von Ratten erhöht körperliche Bewegung den
BDNF-Spiegel mindestens ebenso sehr wie Antidepressiva, manchmal sogar mehr. Eine Studie zeigte, dass der BDNF-Spiegel durch
eine Kombination aus körperlicher Bewegung und Antidepressiva
um 250 Prozent hochschnellte. Und beim Menschen wissen wir, dass
körperliche Bewegung den BDNF-Spiegel zumindest im Blut ebenso
sehr erhöht, wie Antidepressiva es tun.
Genau wie Noradrenalin in den 60er-Jahren kann der neuro­tro­­
phe Faktor BDNF aktuell die Spitze des Eisbergs sein. Heute kon­zen­­
triert sich die Forschung auf BDNF sowie auf den vaskulären en­do­
the­­­lia­len Wachstumsfaktor (VEGF), den FGF-2 (Fibroblasten-Wachs­­
tums­fak­tor-2) und den insulinähnlichen Wachstumsfaktor (IGF-1)
162
Bewegung verändert Ihre Stimmung
sowie auf alle dazugehörigen Chemikalien, die bei der Förderung
der Neu­ro­plastizität und Neurogenese eine Rolle spielen. Gleichzeitig
finan­zieren Pharmaunternehmen die Forschung zur Markierung und
Mes­sung all dieser Faktoren und zur Kartierung der Gene, die davon
be­trof­­fen sind, um herauszufinden, wie sie ihre Aktivitäten nachahmen können. Der neurotrophe Faktor BDNF und seine neurotrophen
Brü­der sind in der neurochemischen Kaskade wesentlich weiter vorgelagert als Serotonin und somit näher an der Quelle. Letzten Endes
müssen die Gene den Fluss in Gang setzen.
Der Wechsel von der Neurotransmitter-Theorie zur Konnek­ti­
vi­tätstheorie ist der Schritt von außen ins Innere der Nervenzelle.
Zu­sätz­lich zu seinen Funktionen an der Synapse, die Serotonin auch
hat, aktiviert BDNF Gene, damit sie mehr Neurotransmitter und
Neu­ro­trophine produzieren, bremst die selbstzerstörerische zellulare Aktivität, setzt Antioxidanzien frei und liefert die Proteine, die
als Baumaterial für Axone und Dendriten verwendet werden. Diese
genregulierten Anpassungen von BDNF können vielleicht die verzögerte Wirkung von Antidepressiva erklären.
Es kann oft drei Wochen dauern, bis Antidepressiva wirken. Ist
es nur ein Zufall, dass der Prozess der Neurogenese ungefähr genauso lange dauert – von dem Zeitpunkt, an dem eine Stammzelle im
Hip­po­campus geboren wird, bis sie sich ans Netzwerk anschließt?
Viele Forscher meinen, es sei kein Zufall. Laut neuester Wendung in
der Konnektivitätstheorie könnte eine Stilllegung der Neurogenese
ein Faktor bei Depressionen sein. Einige Wissenschaftler haben gezeigt, dass ein Blockieren der Neurogenese bei Ratten die Wirkung
von Anti­de­pressiva zunichtemacht. Das ist also eine Möglichkeit.
Dies könnte noch eine stärkere Verbindung zwischen körperlicher
Bewegung und ihrem antidepressiven Effekt aufzeigen, angesichts
dessen, dass kör­perliche Bewegung klar den BDNF-Spiegel und
den der anderen Wachs­tumsfaktoren erhöht, und angesichts dessen, dass diese wesentlich für den Prozess der Neurogenese sind.
Niemand konnte nachweisen, dass ein BDNF-Defizit Depressionen
verursacht, aber nicht, weil es an Versuchen gemangelt hätte. 1997
veröffentlichte der Yale-Psychiater Ronald Duman den Artikel „A
Molecular and Cellular Theory of Depression“ in den Archives of
General Psychiatry, und seither haben er und andere sich bemüht,
163
Kapitel 5: Depressionen
die Geschichte von BDNF zu entschlüsseln. 2006 zeigte er auf, wie
verschiedene Behandlungen, den BDNF-Spiegel beeinflussen, einschließlich aller verfügbaren Antidepressiva sowie wenig verbreiteten Behandlungsformen wie Elektrokonvulsive Therapie (EKT)
und Transkranielle Magnetstimulation (TMS). Sie alle erhöhen den
BDNF-Spiegel im Hippocampus und Duman zeigte auf, dass EKT
die wirksamste Behandlung war und ihn um 250 Prozent ansteigen ließ.
Aber wie kommt es, dass eine schlichte physische Manipulation,
wie es bei der Elektrokonvulsiven Therapie (EKT) der Fall ist – bei der
ein Stromstoß durch das Gehirn gesendet wird, um einen Krampf zu
induzieren – genauso wie Medikamente, eine Therapie und körperliche Bewegung wirken kann? Ich glaube, die EKT liefert eine hilfreiche
Metapher. Wenn wir die Depression als eine Art Gehirnsperre betrachten, dann können wir den gemeinsamen Faden zwischen diesen
Ansätzen sehen: Es wird in allen Fällen mit einer Art Schock gearbeitet. Es werden immer Funken ausgesendet, um die Dynamik im
Gehirn zu verändern. Einige Teile sind in einem unablässigen Wirbel
gefangen, und andere sind regelrecht eingerastet. Die Lösung liegt
darin, denke ich, das Gehirn und den Körper zu wecken, damit Sie
sich selbst aus der Abwärtsspirale ziehen können.
Aerobe Übungen sind deshalb solch ein wirksames Instrument,
weil es die von der Evolution vorgegebene Methode ist, um jenen
Funken in uns zu erzeugen. Er entzündet auf jeder Ebene Ihres
Gehirns ein Feuer, angefangen von den Stoffwechsel-Öfen der
Neu­ro­nen, die angefacht werden, bis hin zum Schmieden genau der
Struk­turen, die Informationen von einer Synapse zur nächsten weiterleiten.
164
Bewegung verändert Ihre Stimmung
Die Fesseln durchbrechen
Während Molekularwissenschaftler mit Instrumenten in der Ge­
hirn­sperre herumstochern, möchte die Neurologin Helen May­berg
von der Emory University sie zerschlagen und weit aufreißen. Vor
einigen Jahren testete sie eine radikale Therapie, die sogenannte
Tiefe Ge­hir­n­stimulation (DBS). Dabei führte sie bei einem halben
Dutzend schwer depressiver Patienten, bei denen jede andere Form
der medi­zinischen Behandlung fehlgeschlagen war, eine Elektrode
in den subgenualen Cortex ein. „Diese Personen sind festgefahren“,
sagt Mayberg. „Sie sind unfähig, einen Gedanken in Handeln umzusetzen, weil sie nicht auf Spur sind und nicht in die Gänge kommen. Wir müssen einen Weg finden, um sie, im übertragenen Sinne,
loszumachen und aus der Klemme zu befreien.“ Sie nutzte dazu
Strom, und die Ergebnisse waren tief greifend: Alle sechs Patienten
beschrieben spontan Empfindungen wie das „Verschwinden der
Leere“ unmittelbar auf dem Operationstisch, in der Sekunde, als
die Elektroden eingeschaltet wurden. Vier der Patienten erreichten
am Ende eine volle Remission.
Die Hirnregion, die Mayberg ins Visier nahm, ist die Spitze des
anterioren Cingulums, das die Hauptdurchgangsstation für Infor­
mationen ist, die vom präfrontalen Cortex herunter und vom limbischen System hoch kommen – sozusagen das Podest zwischen den
Stufen in Ihrem emotionalen Treppenhaus. Als Sitz der Exe­ku­ti­ven
Funktion räumt es den Dingen Priorität ein, denen Sie Ihre Auf­merk­
samkeit schenken, und reguliert indirekt das limbische System, wobei
die kognitiven und emotionalen Signale integriert werden. Versäumt
es, die Auf­­merksamkeit vom Negativen abzulenken, wie im Falle einer
De­pres­sion, können Sie an nichts anderes denken. „Keine Initiative
ergreifen zu können, nicht klar denken zu können, sich nicht um seine
Familien kümmern zu können – all dies ist sekundär demgegenüber,
worauf ihre Aufmerksamkeit innerlich gerichtet ist, doch das ist ein
falsches Signal“, erklärt Mayberg. „Es lässt sich korrigieren und dadurch werden andere Probleme vielleicht zugänglicher.“
Das eigentliche Ziel der Tiefen Gehirnstimulation (DBS) ist,
den prä­f rontalen Cortex wieder „online“ zu bringen, damit die
165
Kapitel 5: Depressionen
Patienten die Exekutive Funktion nutzen können, um sich den
Kernproblemen zuzuwenden. Sie befreit den Menschen aus den
Fängen, sodass er das Pro­blem rational angehen kann: Ich bin kein
schlechter Mensch; meine Kinder lieben mich; und mein Leben kann
ich wieder in den Griff be­kommen. Dies ist auch einer der Effekte
körperlicher Bewegung.
2003 führte eine Gruppe deutscher Neurowissenschaftler mit 24
Personen, die unter einer leichten Depression litten und mit Me­di­
kamenten behandelt wurden, sowie mit 10 gesunden Kontroll­per­­so­
nen ein Experiment durch. Alle Probanden nahmen an einer Fülle
neuropsychologischer Tests teil, mit denen die Exekutive Funk­tion
gemessen werden sollte. Sie wiederholten die Tests, nachdem jeder
von ihnen jeweils 30 Minuten auf einem Heimtrainer Rad gefahren
und dabei bei 40 Prozent seiner maximalen Herzfrequenz ge­blie­ben
war, dann nochmals bei 60 Prozent – niedrig genug also, dass der
Milchsäurespiegel in der Gleichung keine Rolle spielte. Die de­pres­
si­ven Patienten verbesserten sich bei zwei der vier Tests bei beiden
Intensitätsgraden erheblich; dies verdeutlichte, dass körperliche Be­
we­gung zu einer sofortigen Verbesserung der höchsten Form des
Denkens führt. Bereits eine Übung genügte, um den präfrontalen
Cor­tex zu beeinflussen. Bei den nicht depressiven Versuchspersonen
zeigte sich keine wesentliche Verbesserung, aber das heißt, dass es
hier auch nichts zu korrigieren gab.
Mayberg stellte als Erste die These auf, dass die Exekutive Funk­
tion nur ein Teil der Geschichte ist. Bei einem Vergleich von PETAufnahmen von Patienten, die auf Antidepressiva ansprachen, mit
anderen, die auf eine kognitive Verhaltenstherapie ansprachen, stellte sie fest, dass die beiden Ansätze das Aktivitätsniveau des lim­
bischen Sys­tems aus entgegengesetzten Richtungen verändern. Anti­
depressiva scheinen durch eine von unten nach oben verlaufende
Ereigniskette zu wirken, das heißt, dass die Aktivität im Hirnstamm
beginnt, dann durch das limbische System geht, bis sie schließlich
den präfrontalen Cor­tex erreicht. Dies könnte erklären, warum Anti­
depressiva zuerst die phy­si­schen Effekte lindern – wir fühlen uns
tatkräftiger, bevor wir fühlen, dass wir weniger traurig sind. Bei
der kognitiven Verhaltenstherapie und der Psychotherapie fühlen
wir uns wohler in unserer Haut, bevor wir uns körperlich besser
166
Bewegung verändert Ihre Stimmung
fühlen. Die Therapie wirkt vom präfrontalen Cortex nach unten,
um unser Denken zu ändern, sodass wir die erlernte Hilflosigkeit in
Frage stellen und uns selbst aus der Spirale der Hoffnungslosigkeit
befreien können.
Das Schöne an körperlicher Bewegung ist, dass sie das Problem
aus beiden Richtungen gleichzeitig angeht. Sie bringt uns auf natürliche Weise in Bewegung, wodurch der Hirnstamm stimuliert wird
und wir über mehr Energie, Leidenschaft, Interesse und Motivation
verfügen. Wir fühlen uns tatkräftiger. Von oben, im präfrontalen
Cor­tex, verändert körperliche Bewegung unser Selbstkonzept, indem alle genannten Chemikalien angepasst werden, einschließlich
Serotonin, Dopamin, Nor­adrenalin, BDNF, VEGF und so weiter.
Und im Unterschied zu vielen Antidepressiva wird bei körperlicher
Be­we­gung nichts selektiv beeinflusst – sie passt die Chemie des ganzen Gehirns an, um die normale Signalübertragung wiederherzustellen. Sie befreit den präfrontalen Cor­tex aus seinen Fesseln, sodass wir die guten Dinge erinnern und die pessimistischen Muster
der Depression durchbrechen können. Sie ist auch ein Beweis dafür,
dass wir die Initiative ergreifen können, um etwas zu verändern. Die­
ses Paradigma gilt für die Wirkung körperlicher Be­wegung auf die
Stimmung im Allgemeinen, unabhängig davon, ob wir depressiv sind
oder irgendwelche quälenden Probleme zu bewältigen haben. Oder
auch, wenn wir einfach einmal einen schlechten Tag haben.
Der Idee, eine Depression aus beiden Richtungen anzugehen,
kann nicht genug Gewicht beigemessen werden. „Auch für die Pa­
tienten, bei denen eine Hirnstimulation vorgenommen wurde, gilt,
nachdem das System wieder ‘online’ ist, dass sie eine mentale Reha­
bilitation brauchen“, sagt Mayberg. „Die erste Rehabilitation besteht einfach darin, sie dazu zu bewegen, etwas zu tun. Die beste
Art der Verhaltenstherapie ist, einfach nach draußen zu gehen, einen Spaziergang zu machen. Etwas zu tun. Dazu braucht man keine
großartige Planung. Dadurch gerät man in keine negative Spirale.
Wenn man sich körperlich betätigt, wirkt das sehr schnell bestärkend, denn vorher konnte man sich nicht dazu aufraffen, etwas zu
tun.“
Wenn Ihr präfrontaler Cortex eine Zeit lang „offline“ war, müssen Sie ihn neu programmieren, und körperliche Bewegung ist dazu
167
Kapitel 5: Depressionen
das perfekte Werkzeug. Sie beginnen, die Welt anders zu sehen, Sie
sehen Bäume statt Ödland. Wenn Sie sehen, wie Sie sich bewegen,
ist dies allein schon eine Leistung – und ein Beweis dafür, dass Sie
sich selbst helfen können.
Am Ende des Tunnels
Die Wissenschaft hat einen weiten Weg zurückgelegt, seit wir mit
unserer Suche nach dem Übeltäter begannen. Und aus den jahr­
zehntelangen Forschungen, die durch die Monoamin-Hypothese
her­vorgebracht wurden, haben wir sehr viel über die Biologie von
Emo­tio­nen gelernt. Je näher wir an die Ursache von Depressionen
herankommen, desto komplexer erscheint sie. Als wir anfingen,
war jeder ziemlich sicher, dass das Problem ein Ungleichgewicht
der Neu­ro­trans­mit­ter an den Synapsen war. Inzwischen wissen wir
mit Sicherheit, dass es so einfach nicht ist.
Das ist, meine ich, ironischerweise genau der Grund, warum
körperliche Bewegung als medizinische Behandlung erst noch akzeptiert werden muss. Sie erhöht nicht einfach den Serotonin- oder
Dopamin- oder Noradrenalin-Spiegel. Sie passt sie alle an, und zwar
auf einem Niveau, das, wie wir nur vermuten können, durch die
Evolution optimal vorprogrammiert worden ist. Das Gleiche gilt für
die Wirkung körperlicher Bewegung auf BDNF, IGF-1, VEGF und
FGF-2, die das Baumaterial für und die Aufsicht über den „Bau“
neuer Verbindungen und Neuronen liefern. Kurz: Körperliche
Bewegung beeinflusst so viele Variablen im Gehirn, dass es nahezu unmöglich ist, ihre Wirkung so zu isolieren, wie wir es gerne im
Namen der harten Wissenschaft möchten. Aber die Nachweise sind
da, von den Aktivitäten mikroskopischer Moleküle bis hin zu umfangreichen Studien über Zehntausende von Personen im Laufe der
Jahre. Ja, körperliche Bewegung ist ein Antidepressivum. Aber sie
ist auch wesentlich mehr.
Dennoch überrascht es nicht, dass etwa die Hälfte der Patienten
in Studien über körperliche Bewegung und Depression zwischendurch aufgegeben und das Programm abgebrochen hat. Vielleicht
168
Bewegung verändert Ihre Stimmung
weil die meisten von ihnen inaktiv waren, als sie in das Programm
einstiegen; umso schwieriger ist es dann, mit sportlichen Aktivitäten
zu beginnen. Dies ist ein wichtiger Punkt, den Ärzte sich vor Augen
halten müssen, wenn sie solche Aktivitäten empfehlen. Bei Personen,
die sich bereits hoffnungslos fühlen, ist es wichtig, die Erwartungen
in einem angemessenen Rahmen zu halten, damit das Negative
nicht noch verstärkt wird. Auf der anderen Seite haben Studien gezeigt, dass selbst Personen, die sportliche Aktivitäten per se eher
unangenehm finden, einen positiven Stimmungsumschwung in
dem Moment erleben, in dem die Übung beendet ist. Wenn man
weiß, was einen auf der anderen Seite erwartet, ist es leichter, die
Schwierigkeiten in Kauf zu nehmen und sie durchzustehen.
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Wenn Sie also depressiv sind,
wäre es ideal, eine Form der körperlichen Bewegung oder sportlichen Aktivität zu wählen, die dazu anhält, Beziehungen zu anderen
zu knüpfen, und die draußen oder in einer Umgebung stattfinden
kann, welche die Sinne stimuliert. Wenn Sie jemanden bitten, sich
Ihnen bei Ihrem Übungsprogramm anzuschließen, und sich dabei in ein neues Setting begeben, bekommen die neu entwickelten
Neuronen einen wirksamen Grund für ihr Dasein; um die sensorische Stimulation darstellen zu können, müssen neue Verbindungen
gebildet werden. Aus der Leere auszubrechen, in die das Gehirn eingesperrt war, gibt uns ein Gefühl von Sinn und Zweck sowie ein
Selbstwertgefühl, wodurch eine positive Zukunft heraufbeschworen wird. Sobald Sie das positive Gefühl entwickelt haben, müssen
Sie es auf etwas konzentrieren. Dann erhalten Sie Motivation und
physischen Auftrieb sozusagen „von unten“, während „von oben“
die Neubewertung Ihrer selbst kommt. Wenn Sie den Körper motivieren, sich zu bewegen, ermuntern Sie die Psyche, das Leben zu
umarmen.
169
Kapitel 5: Depressionen
Das Rezept
Die erste Frage, die Patienten mir stellen, wenn ich ihnen körperliche Bewegung oder sportliche Aktivitäten als Therapie vorschlage,
ist: „Wie viel müsste ich denn tun?“ Es gibt keine allgemein gültige Antwort darauf – insbesondere nicht angesichts des breiten
Spektrums von Symptomen und des Schweregrads einer Depression.
Madhukar Trivedi hat jedoch einige Schlussfolgerungen zur Frage
des Umfangs an Aktivitäten gezogen, die notwendig sind, um effektiv zu sein. Durch die Quantifizierung körperlicher Bewegung als
Dosis hofft er, die Behandlung so zu präsentieren, dass sie von den
Medizinern akzeptiert werden könnte. Dies ist überaus wichtig, da
Ärzte Zeit mit ihren Patienten aufwenden müssen, um herauszufinden, welche Art von Übungsprogramm am ehesten dazu angetan ist,
dass sie sich bewegen und auf Dauer daran festhalten.
Im Rahmen einer Studie teilten Trivedi und Andrea Dunn 80
de­pres­sive Patienten in fünf Gruppen ein. Vier Gruppen sollten mit
Trainingsprotokollen mit unterschiedlicher Intensität und Häu­fig­keit
arbeiten, und eine Kontrollgruppe sollte nur unter Auf­sicht StretchingÜbungen machen (um zu sehen, ob die soziale Interak­tion mit den
Auf­sichtspersonen irgendeinen Effekt hatte). Als „Dosis“-Maß wurde
der Kalorienverbrauch pro Kilogramm Körpergewicht herangezogen.
Die intensiv trainierenden Gruppen verbrauchten im Durchschnitt
1.400 Kalorien (16 Kalorien pro Kilo­gramm) im Laufe von entweder
drei oder fünf Sitzungen pro Woche. Am Ende der drei Monate hatten
die intensiv trainierenden Gruppen, unabhängig von der Häufigkeit
des Trainings, ihre Depressions­werte um die Hälfte reduziert. Das
heißt, ihre Symptome waren erheblich zurückgegangen. Die weniger
intensiv trainierenden Gruppen verbrauchten im Durchschnitt 560
Kalorien (6 Kalorien pro Kilogramm) und reduzierten ihre Werte um
ein Drittel, etwa genauso sehr wie die Stretching-Gruppe – und das
war in etwa so effektiv wie ein Placebo. Was dies für uns bedeutet, ist
genau das, was ich immer sage: Ein wenig sportliche Aktivität ist gut,
mehr ist aber besser (bis zu einem gewissen Punkt).
Beim Intensivprogramm waren Trivedi und Dunn von den
Empfehlungen der Gesundheitsbehörden für sportliche Aktivitäten
170
Bewegung verändert Ihre Stimmung
aus­gegangen, wonach 30 Minuten moderate aerobe Aktivitäten an
den meis­ten Tagen empfohlen werden. Wenn Sie 75 Kilo wiegen,
wären dies etwa drei Stunden bei moderater Intensität pro Woche.
Die niedrige Do­sis entspräche 80 Minuten pro Woche.
Multiplizieren Sie Ihr Körpergewicht einfach mit acht, um zu
errechnen, wie viele Kalorien Sie für die hohe Dosis verbrauchen
sollten. Dann gehen Sie ins Fitnessstudio, um zu sehen, wie viele
Kalorien Sie bei irgendeinem Training verbrauchen (bei den meisten
aeroben Geräten wird dies angezeigt). Wenn Sie 75 Kilo wiegen und
in 30 Minuten auf dem elliptischen Kreuztrainer 200 Kalorien verbrennen, bräuchten Sie sechs Sitzungen pro Woche, um die gleiche
„Dosis“ zu erreichen wie die intensiv trainierende Gruppe.
Das ist die Menge an Trainingsprogramm, die ich mindestens jedem empfehlen würde, der wie mein Patient Bill unter einem Schat­
ten­syndrom der Depression leidet. Personen wie er sind nicht klinisch depressiv, neigen jedoch dazu, das Leben hauptsächlich pessi­
mis­tisch zu sehen, oder haben den Eindruck, dass niemand in der
Welt, sie selbst eingeschlossen, ihren hohen Maßstäben gerecht wird.
Nach­dem Bill angefangen hatte, zu laufen und Gewichte zu heben,
traf er sich jeden Morgen mit einer Gruppe, die ebenso regelmäßig
in dem Fitnessstudio trainierte, zum Fitnesstraining und Kaffee.
Seine Leistungen und Beziehungen an seinem Arbeitsplatz verbesserten sich, und er hatte das Gefühl, dass er nun nicht mehr jedes
neue Projekt automatisch mit Widerwillen betrachtete. Er begrüßte
geradezu neue Herausforderungen, was dazu führte, dass seine Frau
ihn nun mit völlig anderen Augen sah.
Dann gibt es noch jene Personen, die einfach launisch oder mürrisch sind. Sie haben in der Regel ein geringes Selbstwertgefühl, zum
Teil, weil sie so unsicher sind, wie sie sich von einem Tag zum nächsten fühlen – griesgrämig oder heiter. Auf eine meiner Patientinnen,
Jillian, passte diese Beschreibung. Wir begannen, dieses Problem
näher zu untersuchen, nachdem sie eine Beziehung mit dem Mann
ihrer Träume angefangen hatte und merkte, dass sie dennoch meist
deprimiert und reizbar war. Natürlich hatte ich sie gedrängt, ein
Übungsprogramm zu beginnen, und schließlich hatte sie sich in einem Fitnessstudio in der Nähe ihres Büros angemeldet. Klugerweise
tat sie sich mit einer Kollegin zusammen, die sowieso bereits dorthin
171
Kapitel 5: Depressionen
ging, sodass sie sich gegen­seitig darin unterstützten, jeden Tag in der
Mittagspause ihr Training zu absolvieren. Nach einigen Monaten
war sie ausgesprochen zufrieden mit sich und erklärte, wie stabilisierend die tägliche Aktivität für war. Sie half ihr, einen Rhythmus
in ihrem Leben aufrechtzuerhalten, was ihr ein zusätzliches Gefühl
der Stabilität gab.
Manche Personen, die unter Stimmungsumschwüngen leiden,
beschreiben sich selbst vielleicht als manisch-depressiv oder bipolar,
aber dies ist ein Problem ganz anderer Größenordnung. Das Thema
„bipolare Störung“ habe ich nicht angesprochen, hauptsächlich, weil
es so wenig Forschungen über die diesbezüglichen Auswirkungen
körperlicher Bewegung gibt. Vor einiger Zeit zeigte allerdings eine
vorläufige Studie, dass stationär in einer Klinik untergebrachte
Patienten mit bipolarer Störung, die an einem Walking-Programm
teilgenommen hatten, unter weniger depressiven Symptomen und
weniger Ängsten litten im Vergleich zu denjenigen, die zu einer
Teilnahme an dem Programm nicht bereit oder fähig gewesen waren. Bei bipolaren Patienten hat sich gezeigt, dass eine stabile soziale
Routine bei ihnen zu einer langfristigen Verbesserung führt. Gerade
erst hat körperliche Bewegung Eingang in die Behandlungsprotokolle
für bipolare Patienten gefunden.
In gewisser Hinsicht ist körperliche Bewegung für die Prävention
sogar noch wichtiger als für die Behandlung. Eines der ersten Symp­
tome einer Depression, noch bevor die Stimmung auf ein neues Tief
fällt, sind Schlafstörungen. Entweder kommt man nicht aus dem
Bett oder man kann nicht einschlafen oder beides ist der Fall. Ich
bezeichne dies gerne als Schlafträgheit – das Problem liegt darin,
dass Sie nicht anfangen oder aufhören können. Zuerst verlieren Sie
Ihre Energie, dann Ihr Interesse an den Dingen. Der Schlüssel ist,
sich aufzuraffen und sich sofort zu bewegen. Und nicht aufzuhören. Machen Sie sich einen Plan, um täglich zu gehen, zu laufen,
zu joggen, Rad zu fahren oder zu tanzen. Wenn Sie nicht schlafen
können, machen Sie einen Spaziergang in der Dämmerung, und
tun Sie dies jeden Tag. Führen Sie den Hund aus, ändern Sie Ihren
Terminkalender – laufen Sie der Depression davon. Verbrennen Sie
diese 1.400 Kalorien, als ob Ihr Leben davon abhinge, und ersticken
Sie Ihre Depression im Keim.
172
Bewegung verändert Ihre Stimmung
Bei einer schweren Depression haben Sie vielleicht das Gefühl, ganz
unten in einer Grube zu stecken, in einem Zustand des langsamen
Todes, und dass es fast unmöglich ist, herauszukommen oder ins Fit­
nessstudio zu gehen oder auch nur an Bewegung zu denken. Suchen
Sie als Erstes Ihren Arzt wegen einer Medikation auf, dann besorgen Sie sich einige Omega-3-Ergänzungen, die nachweislich eine
anti­depressive Wirkung haben. Dies wird, so hoffe ich, die Ge­hirn­
sperre für Sie zumindest so weit lockern, dass Sie wenigstens einen
Spaziergang machen können. Bitten Sie einen Freund oder einen
Angehörigen, jeden Tag vorbeizukommen, wenn möglich zur gleichen Zeit, um Sie nach draußen zu begleiten und einmal mit Ihnen
um den Block zu gehen. In England und Australien erfreuen sich
Walking-Gruppen für Patienten mit Depressionen seit Jahren großer Beliebtheit, und nun finden Sie allmählich auch ihren Weg in
die Vereinigten Staaten. Schauen Sie im Internet nach, um zu sehen,
ob es an Ihrem Wohnort eine solche Gruppe gibt. Wenn es diese
Möglichkeit nicht gibt und Sie die Mittel dazu haben, vereinbaren
Sie einen regelmäßigen Zeitplan mit einem per­sön­lichen Trainer. Ich
weiß, dies mag verrückt klingen, wenn Sie das Gefühl haben, nicht
einmal von der Couch aufstehen zu können; aber gerade dann ist
Aktivität um so dringlicher.
Körperliche Bewegung ist keine sofort wirksame Heilmethode.
Aber Sie müssen dafür sorgen, dass Ihr Gehirn wieder zu arbeiten
beginnt, und wenn Sie Ihren Körper bewegen, hat Ihr Gehirn keine
andere Wahl. Es ist ein Prozess, und die beste Strategie ist, jeweils
einen Schritt nach dem anderen zu machen. Langsam beginnen
und dann darauf aufbauen. Im Kern wird eine Depression als die
Abwesenheit des Sich-auf-etwas-Zubewegens definiert. Und körperliche Bewegung ist der Weg, uns von diesen negativen Signalen abzulenken und das Gehirn zu überlisten, damit es aus dem Winterschlaf
aufwachen kann.
173
6. Aufmerksamkeitsdefizit

Der Ablenkung
davonlaufen
„D
ass ich nicht so war wie gleichaltrige Kinder, habe ich vermutlich zum ersten Mal im frühen Alter von drei Jahren
gemerkt, als ich feststellte, dass sonst niemand in meiner Familie
oder in der Nachbarschaft gezwungen war, eine Kinderleine zu tra­
gen“, schrieb Sam, ein 36-jähriger Wagniskapitalist. Er kam in der
Hoffnung zu mir, die Störung, die er zeit seines Lebens hatte, verstehen zu lernen, und die sich nun langsam auch bei seinem kleinen
Sohn manifestierte. „In der Familie bin ich seit jeher als Unruhe­
stifter bekannt und den Großteil meiner Kindheit habe ich in der
Hundehütte oder in der „Eselsecke“ verbracht. Meine Lehrer meinten, ich hätte zwar die Fähigkeit, ein guter Schüler zu sein, hätte
mich aber selbst nie ganz eingebracht. Ich kann mich gut ausdrücken und meine Gedanken ordnen, ich schiebe Dinge jedoch oft auf
die lange Bank.“
Sam ist kein Esel, aber wie bei so vielen, die unter dem Auf­merk­
samkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) leiden, hat
sein sprunghaftes oder unstetes Verhalten in seiner Umgebung jeden
dazu gebracht, ihn als dumm, eigensinnig oder verzogen zu bezeichnen. Er wollte nicht, dass sein Sohn unter der gleichen Schmach zu
leiden hat; ermutigt durch seinen Geschäftspartner und seine Frau
suchte er nun Hilfe. „Keiner von ihnen versteht, wie ich bei so viel
175
Kapitel 6: Aufmerksamkeitsdefizit
Chaos in meinem Leben überhaupt funktionieren kann“, erklärte
er mir.
Chaos, Anspannung, Termindruck – akuter Stress jeder Art wirkt
wie eine Droge auf Sams Gehirn. In seinem Schreiben an mich bestätigt er, dass er disziplinarische Probleme hatte, weil er mit Auto­
ri­tätsfiguren nicht zurechtkam, und dass er im Alter von 14 Jah­
ren Drogen nahm. Ein Straftäter war er genau genommen dennoch
nicht. Als er 16 wurde, verboten ihm seine Eltern, den Führer­schein
zu machen, bis er gelernt hatte sich zusammenzureißen, und fast
über Nacht verbesserte er seinen Notendurchschnitt von 1,5 auf 3,5.
Was bewies, würden viele sagen, dass seine Lehrer Recht hatten: Er
musste es einfach nur versuchen.
Das Problem bei Sam war jedoch nicht seine Einstellung. ADHS
ist auf eine Fehlfunktion im Aufmerksamkeitssystem des Gehirns
zurückzuführen. Dabei handelt es sich um eine diffuse Verbindung
von Neuronen, die Regionen miteinander verknüpfen, die wiederum Funktionen wie Erregung, Motivation, Belohnung, Exekutive
Funktion und Bewegung kontrollieren.
Greifen wir beispielsweise ein Element des Aufmerksamkeitssys­
tems heraus: die Motivation. Es stimmt zwar, dass Personen mit
ADHS „nur motiviert werden müssen“, es stimmt aber ebenso, dass
Motivation, wie jeder andere Aspekt unserer Psychologie, eine Frage
der Biologie ist. Was ist mit dem Kind, das im Unterricht nicht aufpassen, aber stundenlang problemlos still sitzen und ein Videospiel
spielen kann? Oder mit der Frau, die abschaltet, wenn ihr Mann redet,
aber kein Problem damit hat, sich auf den neuesten Klatsch in einer
Zeitschrift zu konzentrieren? Wenn sie möchten, können sie also aufmerksam sein und sich konzentrieren? Nicht unbedingt. Wenn wir
uns fMRT-Aufnahmen (funktionelle Magnetresonanztomografie)
vom Gehirn dieser Personen anschauen – wie Wissenschaftler es getan haben –, würden wir, je nach Situation, klare Unterschiede in den
Aktivitäten im Belohnungszentrum sehen. Im Belohnungszentrum
findet sich eine Anhäufung von Dopa­min-Neuronen, der sogenannte Nucleus accumbens, der dafür verant­wortlich ist, Freude- oder
Zufriedenheitssignale an den präfrontalen Cor­tex auszusenden und
somit für den nötigen Antrieb oder die Mo­ti­va­tion zu sorgen, damit
wir uns konzentrieren können.
176
Der Ablenkung davonlaufen
Die Art des Reizes, der das Belohnungszentrum ausreichend akti­
viert, um die Aufmerksamkeit des Gehirns zu bekommen, ist von
Per­son zu Person verschieden. Was Sam den nötigen Antrieb gab
und bei ihm funktionierte, waren feste Strukturen und anstrengende
körperliche Aktivitäten als Sportler am College – und der Wunsch,
jedem zu Hause zu beweisen, dass er kein Dummkopf war. Er absolvierte die Schule deshalb erfolgreich, weil er Football und Lacrosse
spielte und es einige Male auf die Dekansliste der Besten schaffte.
„Ich glaube, die Teil­nahme an einem Trainingsprogramm, bei dem
man fünf Mal morgens zum Training antreten musste“, schrieb er,
„war der Wendepunkt, der es mir ermöglichte zu sehen, dass ich in
all meinen Bemühungen bes­ser funktionieren konnte.“
Jetzt joggt er jeden Morgen mehrere Kilometer und ist Partner
in einem Wagniskapitalunternehmen, das Unternehmer mit großen
Gel­d­gebern oder Investoren zusammenbringt. In der Sprache dieses
exklusiven Kreises ist Sam so etwas wie ein großer Macher – eine
hochdynamische Persönlichkeit mit sozialen Fertigkeiten und dem
Köpfchen, um gute Geschäfte zu machen. Wenn ein großer „Fisch“
auf dem Tisch liegt, hat er kein Problem damit, sich darauf zu konzentrieren. Der intensive Druck ermöglicht es ihm, sich voll darauf
einzulassen und jeden Aspekt zu verfolgen, oft bis zu 16 Stunden
täglich.
Die Fähigkeit dieser Hyperkonzentration ist paradoxerweise
ein Zug, der bei ADHS sehr verbreitet ist, sodass die Diagnose oft
über­sehen wird, weil sie nicht zu passen scheint. Neue Patienten
er­zäh­len mir, dass sie unmöglich ADHS haben können, da sie von
dem, was sie gerade lesen oder tun, oft völlig absorbiert werden.
Die Störung im Aufmerksamkeitssystem ist jedoch genau genommen kein Defizit, sondern eher die Unfähigkeit, auf Kommando die
Auf­merk­samkeit auf etwas zu lenken oder sich zu konzentrieren.
Meinen Patienten sage ich, es sei hilfreicher, sich ADHS als eine Auf­
merk­sam­keits­variabilitätsstörung vorzustellen; das Defizit ist also
ein Defizit an Beständigkeit.
Sam hat das verstanden. Wichtige Arbeiten und Sitzungstermine
plant er früh am Tag ein, wenn er die beruhigende Wirkung seines morgendlichen Laufes noch spüren kann, wohl wissend, dass
er zunehmend zerstreuter wird, je weiter der Tag fortschreitet. Und
177
Kapitel 6: Aufmerksamkeitsdefizit
gäbe es seine Sekretärin nicht, würde er wohl nie irgendjemanden
zurückrufen. Er hat noch immer mit den meisten grundlegenden Verhaltenssymptomen zu kämpfen, die ihn in der Schule als
Problem­k ind haben dastehen lassen. Er hat jedoch gelernt, damit
umzugehen und sich seine Hyper­a ktivität in einem gewissen Maße
zunutze zu machen, ja, sie sogar als Vorteil zu nutzen. Indem er seine
Schwie­rig­keiten erkannte, war er in der Lage, seinen Tag und sein
Leben so zu planen und einzurichten, dass er erfolgreich sein kann.
Massenablenkung
Mit meinem Freund und Kollegen Ned Hallowell habe ich drei gemeinsame Bücher über ADHS geschrieben. Das erste, Zwanghaft
zerstreut, erschien 1994 in den USA, und als es zu einem Bestseller
wurde und das breitere Publikum mit den allgemeinen Symptomen
von ADHS vertraut wurde, kam zeitgleich der größte kulturelle Paradigmenwechsel des Jahrhunderts – das World Wide Web.
Der endlose Strom an Ablenkungen durch das Internet würde die
Aufmerksamkeitsspanne eines jeden herausfordern.
In der heutigen Welt wird man so leicht abgelenkt. Sie ist voller In­
formationen, Lärm und Unterbrechungen, sodass wir uns alle bisweilen überwältigt und unkonzentriert fühlen. Die Datenmenge in der
Welt verdoppelt sich alle paar Jahre, unser Aufmerksamkeits­system
wurde jedoch ebenso wie der Rest des Gehirns so „gebaut“, dass es der
uns umgebenden Umwelt, so wie sie vor Zehntausenden von Jahren
exis­tier­te, einen Sinn beimisst und sie versteht. In unserer cyberzentrierten Welt haben wir jedoch oft die Erwartung, dass Dinge sofort
ge­schehen, und wenn dem nicht so ist, sind wir frustriert. Wenn unser Mobi­ltelefon länger nicht läutet oder unsere Mailbox leer bleibt,
fragen wir uns, was wohl los ist. Wer hat die Zeit oder Geduld, Dinge
der Reihe nach durchzudenken und ihre Konsequenzen abzuschätzen? Warum sollten wir uns die Mühe machen, wenn es doch so
einfach ist, schnell weiterzuklicken? Kein Wunder, dass körperliche
Bewegung auf der Priori­tätenliste immer wieder ganz nach unten
rutscht – denn sie setzt Planung und Arbeit voraus.
178
Der Ablenkung davonlaufen
Experten schätzen, dass etwas mehr als vier Prozent der Er­wach­
se­nen in den USA – das sind 13 Millionen Menschen – ADHS haben, was jedoch nicht heißt, dass die restlichen 96 Prozent der
Bevölkerung völlig frei von Aufmerksamkeitsproblemen wären. Bis zu einem gewis­­sen Grad leidet jeder an einer flüchtigen
Aufmerksamkeit. Und bei vielen men­talen Störungen gibt es, wie
gesagt, unterschiedliche Schwere­grade – Schat­tensyndrome, Per­sön­
lich­keitszüge, die nicht unbedingt der ganzen Checkliste an Symp­
tomen entsprechen, auf die Ärzte sich bei ihrer Diagnose verlassen.
Personen mit Schatten von ADHS können bei­spielsweise ständig
Probleme in Liebesbeziehungen haben. Oder sie kön­nen in intensiven, sehr dynamischen Bereichen erfolgreich sein. Oder bei­des. Sie
werden oft Unternehmer, Aktienhändler, Verkäu­fer, Not­­auf­­nahme­
ärzte, Feuer­wehrmänner, Anwälte, Filmmogule oder Wer­be­fach­­
leute. Es sind Jobs, in denen die Neigung zu Hyper­a ktivi­tät, nicht­
li­nea­rem Denken und Risikofreudigkeit zu großartigen Leistun­
gen füh­ren kann. Sporadische Aufmerksamkeit kann in einem frenetischen Set­ting eine wahre Stärke sein. Personen mit Schatten
von ADHS haben viel­leicht dauerhaft Probleme mit Organisation,
Vergesslichkeit und per­sönlichen Be­ziehungen, sie können jedoch
alles zusammen auf den Punkt bringen, wenn nur genügend Druck
vorhanden ist.
Es gibt natürlich noch immer jene, die so denken wie Sams Leh­
rer. Da wir alle unter Aufmerksamkeitslücken leiden, wird leicht
angenommen, dass nur ein wenig Mühe erforderlich ist, um sich
zu konzentrieren. Ich begegne nach wie vor Menschen, die glauben,
ADHS sei eine Frage der Bequemlichkeit, der Dummheit oder des
Eigensinns, des Rowdytums oder gar von schlechter Erzie­hung. Eine
derartige Skepsis hat ironischerweise ihre Wurzeln in Medizi­ner­
kreisen, die jahrzehntelang glaubten, Kinder würden in der Ado­
l­eszenz wie durch ein Wunder aus ADHS herauswachsen. Zu der
Arbeit, die mich mit dem größten Stolz erfüllt, gehört, dass ich diese konventionelle Sicht in Frage gestellt und aufgezeigt habe, dass
ADHS auch bei Erwachsenen vorkommt.
Derzeit ist ADHS in der Medizin die am meisten untersuchte
Störung und ADHS ist eindeutig kein Problem der Einstellung –
denn ansonsten wäre es ja nicht erblich. Eine Studie mit fast 2.000
179
Kapitel 6: Aufmerksamkeitsdefizit
aus­tra­li­schen eineiigen Zwillingen zeigte jedoch, wenn ein Zwilling
unter ADHS litt, lag die Wahrscheinlichkeit bei 91 Prozent, dass sein
Ge­schwis­ter es auch hatte.
Die wegweisende Studie, die den Nachweis erbrachte, dass ADHS
auf eine biologische Abweichung zurückzuführen ist, wurde 1990
von Alan Zametkin und seinen Kollegen vom National Institute
of Mental Health veröffentlicht. Anhand von PET-Aufnahmen zur
Messung der Hirnaktivität zeigte die Studie, dass das Gehirn von
Erwachsenen mit ADHS bei einem Aufmerksamkeitstest anders
arbeitete als das von Personen ohne ADHS. Zametkin und seine
Kollegen stellten fest, dass die Gruppe mit ADHS im Vergleich zur
Kontrollgruppe zehn Prozent weniger Hirnaktivität zeigte. Das
größte Defizit war im präfrontalen Cortex festzustellen, der maßgeblich für die Regulierung des Verhaltens ist. Er ist auch empfänglich für positive Verstärkung durch körperliche Bewegung.
Zeichen von Problemen
Die Bezeichnung „Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom“ gab es nicht, bis
sie 1980 in der dritten Auflage des Klassifikationssystems Diagnostic
and Statistical Manual eingeführt wurde. Seither diskutieren wir darüber, ob nicht separate Diagnosen für die beiden Hauptkategorien
von Symptomen – Unaufmerksamkeit und Hyperaktivität – eingeführt werden sollten. Unaufmerksamkeit ist immer Teil der Störung,
und manchmal gehört Hyperaktivität auch dazu. Hyperaktivität
kommt bei Kindern häufiger als bei Erwachsenen vor und insbesondere, wenn auch nicht ausschließlich, bei Jungen. Jahrelang waren
Kinder mit der wilden und ungestümen Ausprägung von ADHS
die einzigen Fälle, die diagnostiziert wurden. Niemand verband
das Verhalten hyperaktiver Kinder mit dem von Tagträumern. Die
Behandlung ist in beiden Fällen jedoch die gleiche, und jetzt bezeichnen wir die Störung als ADHS, unabhängig davon, ob Hyperaktivität
Teil des Bildes ist.
Hyperaktive Kinder sind die, die man nicht übersehen kann:
Sie sind wie Dennis, die Nervensäge, gehen an die Decke, schaukeln
180
Der Ablenkung davonlaufen
auf ihren Stühlen, sind ständig in Bewegung – zupfen an sich herum, zappeln mit den Beinen, kritzeln und fummeln überall herum. Wegen ihrer Ungeduld drängen sie sich dazwischen und unterbrechen andere, schwadronieren drauf los, ohne nachzudenken.
Sie haben das Gefühl, sie würden ständig rennen und sie beenden
unsere Sätze, weil sie zu wissen glauben, was wir sagen werden und
sie dessen überdrüssig sind. Im Allgemeinen fällt es ihnen sehr
schwer, bei einer Aufgabe zu bleiben. Sie können es nicht ausstehen,
allein zu spielen, und übernehmen oft die Rolle des Klassenclowns,
wenn sie Probleme in der Schule haben. Viele von ihnen sind sozial geschickt, auch wenn sie sich ungeschickt verhalten können,
weil ihnen soziale Hinweise entgehen. Und wie Sam bekommen
sie oft von früher Kindheit an zu hören, dass sie nur Blödsinn im
Kopf haben. Aber bei vielen dieser Kinder ist ganz offensichtlich,
dass sie in Bewegung sein müssen, und sie engagieren sich am Ende
sport­lich, und das mit Erfolg. Impulsivität passt hier ins Bild als
Unter­punkt der Hyperaktivität. Kinder und Erwachsene können
automatisch überreagieren, negativ oder positiv, sodass sie leidenschaftlich und schnell wütend werden. Verkehrsrowdytum ist im
Grunde ein Wutanfall und ein Warnzeichen für besonders hyperaktive Formen von ADHS. Auf Biegen und Brechen durch den Verkehr
zu meiner Praxis zu kommen, ist für einige meiner Patienten eine
echte Versuchung: „Ich wünschte, ich hätte Haubitzen in meinen
Frontscheinwerfern!“, erklärte mir eine Frau, „ich würde jeden aus
dem Weg schießen!“ Ungeduld nährt diese Reaktion zusätzlich.
Personen mit ADHS tun alles, um nicht in einer Schlange zu stehen
und können explodieren, wenn sie warten müssen.
Unaufmerksamkeit oder Ablenkbarkeit ist die Konstante unter
den ADHS-Symptomen. Ein Paar kam zu mir, da die Unfähigkeit
der Ehefrau, Dingen ihre Aufmerksamkeit zu schenken, an der Be­
ziehung zehrte. Während sie geniale Qualitäten an den Tag legte,
wenn es da­rum ging, wie sie die Intensivstation leitete – dabei blühte sie regelrecht auf –, war sie nicht imstande, ihrer eigenen Familie
Aufmerksamkeit zu schenken. Selbst als ihr Mann dies in meiner
Praxis erzählte, sagte er plötzlich: „Schauen Sie!“ Und tatsächlich, sie
starrte aus dem Fenster. Personen mit ADHS kommen vom Thema
ab und vergessen Ideen und Ziele und Dinge. Eines der klassischen
181
Kapitel 6: Aufmerksamkeitsdefizit
Anzeichen ist die Pirouette: Die ADHS-Patientin geht aus der Tür
und macht nach einer Weile auf dem Absatz wieder kehrt, um nochmals die Treppe hochzugehen und etwas zu holen, was sie vergessen
hat. Das kann jedem passieren, natürlich, aber bei einigen meiner
Patienten kommt es täglich vor. Wenn der ADHS-Schüler ein einziges Mal seine Hausaufgaben gemacht hat, dann vergisst er sie garantiert zu Hause.
Das ADHS-Gehirn ist mit einer monumentalen Herausforderung
konfrontiert, wenn eine Aufgabe in Angriff genommen werden soll,
und es ist ein Meister im Hinausschieben und Verschleppen. Die an
ADHS leidende Person setzt sich hin, um etwas zu tun, das sie wirklich tun möchte, und räumt stattdessen ihren Schreibtisch auf. Oft
schafft sie es nicht, etwas fertig zu machen, bis das Damoklesschwert
über ihr hängt. Es fällt ihr entsetzlich schwer, Dinge zu organisieren, sodass ihr Zimmer und Büro chaotisch sind. Und sie unterhält
eine Hass-Liebe zu Strukturen. Mein Patient Sam rebellierte nicht
per se gegen Autoritäten – er handelte aus Frustration aus seiner
Unfähigkeit heraus, innerhalb von oder durch Strukturen zu navigieren und damit zurechtzukommen.
Eine der besten Behandlungsstrategien für ADHS ist paradoxer­
wei­se, extrem feste Strukturen zu errichten. Im Laufe der Jahre habe
ich zahllose Eltern gehört, die die gleiche Beobachtung bei ihren
ADHS-Kindern gemacht haben: Johnny geht es so viel besser, wenn er
Taek­won­do macht. Er hatte nie Hausaufgaben gemacht, war wütend,
schwie­rig und problematisch; jetzt kamen seine besten Qualitäten
zum Vor­schein.
Taekwondo könnte man durch jede Kampfsportart oder sehr
strukturierte Form sportlicher Betätigung wie Ballett, Eiskunstlauf
oder Gym­nastik ersetzen. Weniger traditionelle Sportarten wie Berg­
steigen, Mountain­biken, Wildwasserpaddeln und – tut mir leid,
Mama, wenn ich das sagen muss – Skateboardfahren sind ebenfalls in dem Sinne effektiv, da sie komplexe Bewegungen bei schwerer Anstrengung verlan­gen. Die Kombination der Herausforderung
sowohl für das Gehirn als auch für den Körper hat eine größere
positive Wirkung als aerobe Übungen für sich genommen. Eine
kleine Studie eines Studenten im Auf­bau­studium an der Hofstra
University brachte diesen Punkt auf den Prüf­stand. Er stellte fest,
182
Der Ablenkung davonlaufen
dass Jungen im Alter von acht bis elf Jahren, die zweimal wöchentlich
an Kampfsportarten teilnahmen, nach einer Reihe von Maßstäben
ihr Verhalten und ihre Leistung ver­bes­ser­ten, im Ver­g leich zu denen, die an einem typischen aeroben Übungs­programm teil­nahmen
(wobei beide Aktivitätsformen zu einer dras­ti­schen Ver­besserung im
Vergleich zu nicht aktiven Kindern einer Kon­troll­gruppe führten).
Die Kinder, die Kampfsportarten machten, er­ledig­ten ihre Haus­auf­
gaben häufiger vollständig, waren besser auf den Unter­richt vorbereitet, verbesserten ihre Noten, verletzten weniger Regeln und sprangen
weniger häufig von ihren Plätzen auf. Kurz: Sie waren besser in der
Lage, an einer Aufgabe dranzubleiben.
Die technischen Bewegungen, die mit allen diesen Sportarten
verbunden sind, aktivieren ein breites Spektrum von Hirnregionen,
die Gleichgewicht, zeitliche Koordination, Reihenfolge der Abläufe,
Be­wer­tung von Konsequenzen, Umschalten, Fehlerkorrektur, fein­
mo­to­rische Abstimmung, Hemmung und natürlich intensive Fo­
kussierung und Konzentration kontrollieren. Im Extremfall sind diese Sportarten eine Frage des Überlebens – um zu vermeiden, durch
Karate zu Boden gebracht zu werden, sich den Hals auf dem Schwe­
bebalken zu brechen oder auf einer Wildwasserbahn zu ertrinken
–, und mobilisieren somit die fokussierende Kraft der Kampf-oderFlucht-Reaktion. Wenn der Geist sich in großer Alarm­be­reit­schaft
befindet, ist jede Menge Mo­ti­va­tion vorhanden, die Fertig­keiten zu
lernen, die für diese Aktivi­tä­ten notwendig sind. Was das Gehirn
betrifft, heißt es schlicht: tun oder ster­ben. Und die meiste Zeit bewegen wir uns dabei im aeroben Bereich, was unsere kogni­tiven
Fähigkeiten fördert und es leichter macht, neue Be­we­gun­gen und
Strategien aufzunehmen.
Durchkommen, laut und undeutlich
Das Aufmerksamkeitssystem nimmt im Gehirn keine zentrale Adres­se
für sich in Anspruch. Dabei handelt es sich vielmehr um ein diffuses
Netz wechselseitiger Pfade, das am Erregungszentrum Locus coeruleus, einem Teil des Hirnstamms, beginnt und durch das ganze Gehirn
183
Kapitel 6: Aufmerksamkeitsdefizit
Signale sendet, um es aufzuwecken und unsere Aufmerksamkeit zu
erregen. Das Netz nimmt Regionen wie das Belohnungszentrum, das
limbische System und den Cortex in Anspruch; in jüngerer Zeit haben
Wissenschaftler auch das Klein­hirn mit einbezogen, welches unser
Gleichgewicht und die Koor­di­nierung von Bewegungen steuert. Es
zeigt sich, dass es viele Über­schneidungen zwischen Aufmerksamkeit,
Bewusstsein und Bewe­gung gibt.
Die Aufmerksamkeitsschaltkreise werden gemeinsam von den
Neu­ro­transmittern Noradrenalin und Dopamin reguliert, die sich
auf der molekularen Ebene so ähnlich sind, dass sie jeweils an den
Rezep­to­ren des anderen andocken können. Dies sind die Chemi­
kalien, auf die ADHS-Medikamente abzielen. Und bei den vielen Genen, die mit der Störung zusammenhängen, konzentrieren
Wissenschaftler sich auf jene, die diese beiden Neurotransmitter regulieren. Allgemein könnte man sagen, das Problem von Personen
mit ADHS ist, dass ihr Auf­merk­sam­keits­system lückenhaft und
un­aus­gewogen ist. Sie beschreiben es als unstet, bruchstückhaft
und unkoordiniert – Probleme, die auf eine Dysfunktion einer dieser Neurotransmitter oder einer der Hirn­regionen im Auf­merk­
samkeitssystem zurückzuführen sein kann. Dies hilft zu erklären,
warum eine Störung so viele unterschiedliche Gesichter haben kann.
Der Locus coeruleus dient beispielsweise als An- und Ausschalter für
unseren Schlaf und ist somit eng an den Bio­rhyth­mus geknüpft. Zu
den allgemeinen Symptomen von Personen mit ADHS gehören abnormale Schlafmuster: Sie haben oft Probleme, einzuschlafen oder
durchzuschlafen, leiden unter Schlafstörungen wie Schlaf­wandeln
oder Reden im Schlaf und habe Albträume. Frühe Theo­rien zur
Hyperaktivität gingen davon aus, dass die Erregung das Haupt­
problem sei, dass Kinder, die „an die Decke gehen“, im Grunde versuchen, sich wach zu halten und aufmerksam zu bleiben. Der Locus
coeru­leus, der in den Tiefen des Hirnstamms fleißig Noradrenalin
produziert, ist jedoch nur die erste mögliche Fehlerquelle. Die von
dort aus­gehenden Noradrenalin transportierenden Axone sowie die
mit Dopa­min ausgestatteten Axone aus dem ventralen tegmentalen
Areal (VTA) binden an Neuronen in der Amygdala an.
Wie in Kapitel 3 erwähnt, ist die Amygdala dafür zuständig, den
ankommenden Reizen eine emotionale Intensität beizumessen, und
184
Der Ablenkung davonlaufen
zwar noch bevor wir uns derer bewusst sind, und diese dann zur
Verarbeitung an höhere Hirnregionen weiterzusenden. In Zu­sam­
men­hang mit ADHS legt die Amygdala die „Wahrnehmbarkeit“ von
Dingen fest. Es ist eine nicht regulierte Amygdala, die die Tobsuchts­
anfälle oder blinde Aggression bei Patienten mit ADHS nährt, und
ihre Überem­­pfindlichkeit gegenüber Erregung und Aufregung kann
zu Panik­atta­cken führen. Manchmal ist Erregbarkeit auch etwas
Positives – Personen mit ADHS können sich so für etwas begeistern,
dass sie damit einen Raum voller Menschen anstecken können. (Die
Aufmerksamkeit anderer zu fesseln, ist für Personen mit ADHS kein
Problem.)
Dopamin befördert auch Signale zum Nucleus accumbens, dem
Belohnungszentrum, also dorthin, wo Ritalin, Amphetamin, Dextro­
amphetamin (Adderall) und die aktiven Wirkstoffe anderer Stimu­
lan­zien landen – von Kaffee über Schokolade bis hin zu Kokain. Das
Be­­l­ohnungszentrum muss ausreichend aktiviert werden, bevor es
seine wichtige Aufgabe ausführt, nämlich dem präfrontalen Cortex
zu sagen, dass es da etwas gibt, was es wert ist, ihm Aufmerksamkeit
zu schenken. Hierfür bringt es den Aspekt der Prioritätensetzung
durch die Exekutive Funktion mit ins Spiel, und dies ist eine zentrale Kom­po­nen­te der Motivation. Im Grunde macht das Gehirn nicht
viel, solange das Belohnungszentrum nicht angesprochen worden ist
und reagiert. In Laborstudien konnte gezeigt werden, dass Affen mit
Lä­sio­nen im Nucleus accumbens ihre Aufmerksamkeit nicht aufrechterhalten und somit auch die Motivation nicht aufbringen können, Aufgaben zu erledigen, die nicht mit sofortigen Belohnungen
verbunden sind. Das Gleiche gilt für Personen mit ADHS, die sofortige Belohnungen gegenüber eher profanen Aufgaben bevorzugen,
die ihnen helfen würden, über die Runden zu kommen, zum Beispiel
für eine Prüfung zu lernen, die ihnen hilft, am College aufgenommen zu werden. Ich bezeichne diese Menschen als Gefangene der
Gegenwart. Sie können die Konzentration auf ein langfristiges Ziel
nicht aufrechterhalten, und somit erwecken sie den Anschein, als
würde es ihnen an Antrieb fehlen.
Auch der präfrontale Cortex ist für ADHS mitverantwortlich.
Un­aufmerksamkeit können wir uns allgemein als eine Unfähigkeit
zur Hem­mung von Interesse an unwichtigen Reizen und motorischen
185
Kapitel 6: Aufmerksamkeitsdefizit
Im­pul­sen vorstellen. Mit anderen Worten: Wir können nicht aufhören, un­sere Aufmerksamkeit auf etwa zu lenken, dem wir eigentlich
gar keine Aufmerksamkeit schenken sollten. Im präfrontalen Cortex
ist auch das Kurzzeitgedächtnis lokalisiert, das bei einer aufgeschobenen Beloh­nung die Aufmerksamkeit aufrechterhält und gleichzeitig zahlreiche Fragen im Sinn behält. Ist das Kurzzeitgedächtnis beeinträchtigt, schaffen wir es nicht, bei einer Aufgabe oder Arbeit zu
verweilen, die ein langfristiges Ziel verfolgt. Der Grund hierfür ist,
dass wir eine Idee nicht lange genug im Sinn behalten können, um
daran zu arbeiten oder um darüber nachzudenken, sie zu verarbeiten, um eine Reihenfolge fest­zulegen, sie zu planen, durchzuspielen
und Konsequenzen zu bewerten. Das Kurzzeitgedächtnis, das wie
der RAM-Arbeitsspeicher eines Computers funktioniert, kann als
das Rückgrat aller Exekutiven Funk­tionen gesehen werden. Warum
Personen mit ADHS es so entsetzlich schwer fällt, die Zeit im Auge zu
behalten und die somit zum Aufschieben und Verschleppen neigen,
ist ebenfalls auf ein Versagen des Kurz­zeit­gedächtnisses zurückzuführen. Sie vergessen buchstäblich, sich über die verstreichende Zeit
Gedanken zu machen, sodass sie einfach nie in die Gänge kommen,
die anstehende Aufgabe in Angriff zu nehmen. Eine Person, die an
ADHS leidet und gerade ihre Stelle zu verlieren droht, weil sie stets zu
spät zur Arbeit kommt, geht vielleicht morgens zum Küchenschrank,
um die Müslipackung zu holen, um dann jedoch kurzerhand zu beschließen, dass der Schrank umgeräumt werden muss, und vergisst
dabei, dass sie zu einer bestimmten Zeit aus dem Haus gehen muss.
Wenn es ihr dann wieder einfällt, gerät sie in Panik.
Achtung, an alle Kontrolleinheiten
Es ist nicht nur eine Frage, ob die Signale durchkommen, um unsere Aufmerksamkeit zu erregen, sondern auch wie fließend die In­
for­mationen durchkommen. An diesem Punkt wird die Verbindung
zwischen dem Aufmerksamkeitssystem und Bewegung sowie sportlicher Aktivität hergestellt: Die Hirnregionen, die körperliche Bewegung
kontrollieren, koordinieren ebenso den Informationsfluss.
186
Der Ablenkung davonlaufen
Das Kleinhirn ist ein primitiver Teil des Gehirns, von dem jahrzehn­
telang angenommen wurde, er sei nur bei der Steuerung und Fein­ab­
stimmung von Bewegung involviert. Wenn wir lernen, wie wir kör­
perlich etwas tun sollen, ob es um einen Karate-Tritt oder um Fin­
ger­­schnip­sen geht, hat das Kleinhirn hart zu arbeiten. Das Kleinhirn
umfasst nur zehn Prozent des Gesamtvolumens des Gehirns, es enthält jedoch die Hälf­te unserer Neuronen, das heißt es ist eine dicht
bepackte, vor lauter Aktivitäten surrende Region. Es bestimmt jedoch den Rhyth­mus von mehr als nur den motorischen Bewegungen:
Es reguliert bestimm­te Hirn­systeme, sodass sie reibungslos funktionieren, wobei der In­for­ma­tions­fluss ständig aktualisiert und gesteuert wird, damit alles nahtlos abläuft. Bei Patienten mit ADHS sind
Teile des Kleinhirns kleiner im Volu­men und funktionieren nicht
ordnungsgemäß, sodass es einleuch­tend ist, wenn dies die Ursache
für die lückenhafte Aufmerksamkeit wäre.
Das Kleinhirn sendet Informationen an den präfrontalen und
den motorischen Cortex – die für das Denken und die Bewegung zuständigen Zentren. Auf dieser Strecke befindet sich jedoch eine wichtige An­sammlung von Nervenzellen, die sogenannten Basalganglien,
die eine Art automatische Weiterleitung übernehmen und unbewusst die Aufmerksamkeitsressourcen so verlagern, wie der Cortex
dies verlangt. Sie werden durch Dopamin-Signale moduliert, die
aus der schwarzen Substanz (Substantia nigra) stammen. Dopamin
fungiert wie eine Über­tra­gungsflüssigkeit: Mangelt es daran, wie im
Falle von Personen mit ADHS, kann die Aufmerksamkeit entweder
nicht so ohne Weiteres verlagert werden oder aber sie kann nur als
Ganzes in einen schnelleren Gang verlagert werden.
Vieles, was Wissenschaftler über die Basalganglien wissen, kommt
aus der Parkinson-Forschung, eine Krankheit, die durch einen Mangel
an Dopamin in dieser Region verursacht wird. Die Krank­heit ruiniert die Fähigkeit des Patienten, nicht nur motorische Bewegungen,
sondern auch komplexe kognitive Aufgaben zu koor­di­nieren. In den
Frühphasen der Parkinson-Krankheit treten diese Fehl­funk­tionen als
ADHS bei Erwachsenen in Erscheinung.
Diese Parallele ist wichtig, da Neurologen nunmehr aufgrund einer Reihe aussagekräftiger Studien in den Frühphasen der ParkinsonKrankheit zur Abwehr der Symptome tägliche körperliche Bewegung
187
Kapitel 6: Aufmerksamkeitsdefizit
oder sportliche Aktivität empfehlen. Wissenschaftler haben die Par­
kin­son-Krankheit bei Ratten induziert, indem sie die DopaminZellen in ihren Basalganglien abtöteten; dann „zwangen“ sie die
Hälf­te der Ratten in den zehn Tagen nach „Einsetzen“ der Krankheit
zwei­mal täglich auf einem Laufband zu laufen. Das Ergebnis war
unglaub­lich: Der Dopamin-Spiegel der Läufer blieb im normalen
Bereich und ihre motorischen Fertigkeiten verschlechterten sich
nicht. Bei einer Studie mit an Parkinson erkrankten Personen wurde
fest­gestellt, dass intensive Aktivität sowohl die motorischen Fähig­
keiten als auch die Stimmung verbesserten, und die positiven Effekte
hielten mindestens sechs Wo­chen vor, nachdem sie die Aktivitäten
beendet hatten.
Was ich so faszinierend finde, ist die starke Beziehung zwischen
Bewegung und Aufmerksamkeit. Sie teilen sich Pfade miteinander,
was wahrscheinlich erklärt, warum Aktivitäten wie Kampfsportarten
bei Kindern mit ADHS so gut funktionieren – sie müssen aufmerksam sein beim Erlernen neuer Bewegungen, wodurch beide Systeme
in Anspruch genommen und trainiert werden.
Eine umstrittene Behandlung bei Legasthenie (Dyslexie), die
etwa 30 Prozent der ADHS-Patienten betrifft, stützt sich voll und
ganz auf körperliche Bewegung, um das Kleinhirn zu trainieren.
Die Behandlung von Dyslexie, Dyspraxie und eines Aufmerksam­
keits­defizits (DDAT, Dyslexia, Dyspraxia and Attention Treat­ment),
geht von der Theorie aus, dass die gestörte Fähigkeit des Gehirns, Be­
wegung zu koordinieren, verantwortlich dafür sein könnte, wenn es
jemandem Probleme bereitet, etwas mit den Augen zu verfolgen, und
damit Schwierigkeiten beim Lesen- und Schreiben­lernen verursacht.
Die Forscher wissen auch, dass die meisten Kinder mit Legasthenie
unterdurchschnittlich schlecht bei Tests der Kleinhirnfunktion abschneiden. Bei DDAT geht es darum, eine Reihe recht einfacher motorischer Fertigungsübungen zweimal täglich fünf Minuten lang zu
machen. 2003 testeten britische For­scher die Wirksamkeit von DDAT
bei 35 Kindern mit Legasthenie und erklärten, die Resultate seien
„erstaunlich“. Im Vergleich zu Kindern, die nicht behandelt wurden, war bei den Schülern, die das DDAT-Programm sechs Monate
lang absolvierten, eine erheb­liche Verbesserung bei ihren Lese- und
Schreibfertigkeiten, den Augenbewegungen, kognitiven Fertigkeiten
188
Der Ablenkung davonlaufen
und physischen Maß­stäben wie Geschicklichkeit und Gleichgewicht
festzustellen.
Mein Freund und Kollege Ned Hallowell nutzt diese Methode
(unter anderem) in seinem ADHS-Behandlungszentrum und hat die
positiven Wirkungen an seinem eigenen Sohn erlebt. Und prominente
Wissenschaftler am Columbia University College of Physi­cians and
Surgeons haben eine große Studie zur Bewertung der Brauch­barkeit
der DDAT-Methode in der Behandlung von ADHS gestartet.
Pharmakologische Studien haben gezeigt, dass ADHS-Medi­ka­
men­te helfen, die Aktivität des Kleinhirns sowie des Corpus striatum zu nor­malisieren, sodass klar ist, dass diese Regionen wichtig
für Auf­merk­samkeit und Bewegung sind. Wenn wir die Bewegungs­
zentren un­seres Gehirns so trainieren, dass ihre höheren Funktionen
verbessert wer­den, kommt vielleicht bald der Tag, an dem wir nicht
mehr in diesem Maße auf Medikamente angewiesen sind.
Frühe Hinweise
Ich habe es nie geschafft, meine Steuererklärung vor Oktober abzugeben. Jedes Jahr das gleiche Spiel: Zu Beginn des Jahres bin ich fest
entschlossen, den Abgabetermin der Steuerbehörde zu unterbieten.
Anfang Januar trage ich ordentlich alle meine Unterlagen für den
Steuerberater zusammen. Dann stelle ich unweigerlich fest, dass ein
Monatsauszug fehlt. Ich muss mein Kreditkartenunternehmen anrufen und um Zu­sendung einer Kopie bitten, was ja eigentlich kein
Problem sein dürfte, für meinen Tatendrang aber tödlich ist. All
diese Kleinigkeiten, seien es nun die fehlenden Unterlagen herbeizuschaffen oder diese kleinen weißen Etiketten zu kaufen, um die
Ordner zu beschriften, habe ich dann monatelang im Hinterkopf,
und sie nagen an mir. Doch der erste Schwung ist weg und damit
auch meine Mo­ti­va­tion.
Als Kind hatte ich dankenswerterweise strenge Nonnen als Lehr­
meister, und wenn ich nicht in der Schule war, betrieb ich unter Auf­
bietung von Höchstleistungen verschiedene Sportarten. Dennoch
war mein Zimmer eine Katastrophe; ich vergaß ständig Dinge und
189
Kapitel 6: Aufmerksamkeitsdefizit
mein Tennistrainer behauptete, ich sei der am beständigsten unbeständige Spieler, den er je erlebt habe.
Ich habe offenkundig ADHS, aber ich wusste es nie. Den Begriff
gab es in meiner Kindheit noch nicht. Wenn sich irgendjemand über
Aufmerksamkeitsdefizite Gedanken machte, dann war von Hyper­
ak­ti­v ität die Rede.
Als Arzt hatte ich mit der Störung nie etwas zu tun, bis ich An­
fang der 1980er-Jahre am Massachusetts Mental Health Center
lehr­te. Meine Assistenzärzte präsentierten mir einen 22 Jahre alten
Pa­tien­ten, der immer wieder wegen Anfällen von Gewalttätigkeit
in der Klinik gewesen war. Er erwähnte, dass er als hyperaktiver
Teenager Ritalin genommen hatte, das Medikament aber schon vor
Langem abgesetzt worden war. Man ging davon aus, dass Kinder
nach der Adoleszenz einfach aus ihrer Hyperaktivität herauswuchsen, und dass es gefährlich sei, sie bis ins Erwachsenenalter ständig
Stimulanzien nehmen zu lassen, aus Furcht, sie könnten abhängig
werden. Ich schlug vor, dass wir es nochmals mit dem Ritalin versuchten, und es dämpfte tatsächlich seine gewalttätigen Ausbrüche.
Er war sehr erleichtert; er sagte, er habe vergessen, dass er sich ruhig
und konzentriert fühlen konnte.
Etwa zur gleichen Zeit beschäftigte ich mich sehr intensiv mit der
Frage schwerer Aggressionen. Ich forschte, behandelte und schrieb
da­rüber, was Patienten aller Art so gewalttätig machte. Dabei stieß
ich auf eine Studie von Frank Elliott, damals Vorsitzender der Neuro­
logischen Fakultät an der University of Pennsylvania. Bei einer großen Anzahl von Gefängnisinsassen stellte er fest, dass mehr als 80
Prozent als Kinder gravierende Lernprobleme gehabt hatten.
Somit begann ich, in den schulischen Geschichten meiner Ag­
gres­sionspatienten zu graben, dabei kamen Geschichten zutage, die
einiges gemeinsam hatten. Es war klar, dass sie ein Leben lang die
Schwierig­keit teilten, ihre Gedanken, Verhaltensweisen und Hand­
lungen zu hemmen. Viele von ihnen hassten Autorität, hatten ein geringes Selbstwertgefühl, das aus chronischem Versagen geboren worden war, und wurden von Im­pul­sen getrieben. Die Bekanntschaft
mit Problemen machten sie früh in ihrem Leben, und sie schafften es
nie, auf die positiven Aspekte ihrer Persönlichkeit zurückzugreifen.
Viele von ihnen waren als Teenager dro­genabhängig. Diese Neigung
190
Der Ablenkung davonlaufen
ging vielfach mit einer leicht reizbaren Reak­tion auf Frustrationen
einher und mündete in gewalttätigen Aus­brü­chen. Allmählich dämmerte mir, dass solche destruktiven Ver­hal­tens­weisen ihre Wurzeln
im Aufmerksamkeitssystem haben könnten.
So begann ich, meine ambulanten Patienten durch die Linse der
Aufmerksamkeit zu betrachten. Was ich sah, war, dass einige Per­
sonen mit chronischen Problemen wie Depression, Ängsten, Dro­
gen­miss­brauch und Wut auch einen grundlegenden Zustand des
Auf­merk­samkeitssystems zu teilen schienen, was leicht übersehen
werden konnte, wenn er nicht in eine Hyperaktivität verpackt war.
Ich begann, sie mit ADHS-Medikamenten zu behandeln und erlebte eine großartige Verbesserung. Als ich mit Kollegen über meine
Ideen sprach, wurde klar, dass es mildere Formen des Auf­merk­sam­
keitsdefizits gab, die jemanden nicht unbedingt ins Gefängnis, in die
Klinik oder aufs Gleis der Arbeitslosigkeit brachten. Nachdem wir
hinter die Kulissen des Stigmas geschaut hatten, erkannten mein
Freund Ned und ich die Symp­tome schließlich bei uns selbst.
Das erste Papier, das ich über ADHS bei Erwachsenen schrieb,
wurde von den Kritikern rundweg zerrissen, die mir unterstellten, ich
würde wohl irgendeine Form grundlegender Depression oder Angst
fehldiagnostizieren oder versuchen, eine neue Störung einzuführen.
Aber ich wusste, dass wir einer Sache auf der Spur waren, als Ned
und ich 1989 unseren ersten Vortrag über das Thema bei einer kleinen Konferenz in Cambridge, Massachusetts, für eine Organisation
hielten, die von Eltern von Kindern mit ADHS gegründet worden
war. Der Titel unseres Vortrags war einfach „Erwachsene mit ADS“
(damals sprachen wir noch nicht von ADHS). Nach unserem Vortrag
in dem Saal vor 200 Zuhörern waren wir davon ausgegangen, dass
wir etwa 15 Minuten Fragen sammeln und beantworten würden. Es
dauerte vier Stunden. Um das Mikrofon im Mittelgang gedrängt, erzählte einer nach dem anderen einen kleinen Ausschnitt aus seiner
persönlichen Geschichte und fragte dann nach. Viele von ihnen hatten die gleiche Störung wie ihre Kinder, und sie wussten es.
So war es auch bei einem Psychiaterkollegen, der zu mir in Be­
hand­lung kam, nachdem er bei einer Party eines Abends zufällig
mitbekommen hatte, wie ich über eine Fallstudie sprach. „Ich glaube,
Sie haben mich beschrieben“, sagte er und begann mit einer hoch
191
Kapitel 6: Aufmerksamkeitsdefizit
intellektuellen Schilderung seiner eigenen Geschichte. Charles, wie
ich ihn nennen möchte, war der klassische zerstreute Professor, mit
Brille, ungekämmtem Haar und Tweedjacke. Und er wusste wesentlich mehr über Psychiatrie als ich zum damaligen Zeitpunkt – ich
hatte mehrere seiner Bücher gelesen!
Der Wendepunkt in Charles’ Geschichte war, dass er sich als
Ma­ra­t honläufer eine Knieverletzung zugezogen hatte und depressiv wurde, als er gezwungen war, seine Leidenschaft aufzugeben.
Dies war auch der Zeitpunkt, an dem er die Symptome bemerkt
hatte, bei denen wir uns darin einig waren, dass es sich um ADHS
handelte. Er erklärte, dass er einen Wutanfall bekam, wenn seine
Freundin ihn beim Schreiben unterbrach, oder dass er das Telefon
aus der Wand riss, wenn es klingelte, während er versuchte, sich zu
konzentrieren. Er verlor den Kontakt zu seinen Freunden. Er passte
ins Profil und wir beschlossen, ihm ADHS-Medikamente zu geben,
die ihm auch halfen.
Als er das erste Mal zu mir kam, nahm er bereits Antidepressiva,
aber nachdem er seine Physiotherapie beendet und das Training wieder aufgenommen hatte, setzte er sie ab, da es ihm so viel besser ging.
Als er sein altes Fitnessniveau fast wieder erreicht hatte, war er der
Überzeugung, dass die ADHS-Medikation seine Leistungsfähigkeit
beschnitt. Charles kannte seine Kilometerzeiten bis auf die Sekunde,
und er war zehn Sekunden langsamer als früher.
Er beschloss, es ein paar Tage ohne die Medikamente zu versuchen, und stellte fest, dass er sich, so lange er trainierte, gut konzentrieren konnte. Rückblickend erkannten wir, dass seine Aufmerk­
samkeit ihn vorher, als er noch ständig trainierte, nicht behindert
hatte, da er sein Laufen stets ernst genommen hatte. Ohne das stete
Trainingsprogramm während seiner Verletzung war er jedoch außerstande gewesen, seine Aufmerksamkeit so zu kontrollieren, dass
er zurechtkam. Sportliche Aktivität hatte einen starken Effekt, so
viel war klar, und dies war eine tolle Nachricht für mich.
192
Der Ablenkung davonlaufen
Auf körperliche Bewegung
konzentrieren
Etwa zu der Zeit, als Charles zu mir kam, begegnete ich noch einer Reihe anderer intelligenter Spezialisten auf unterschiedlichen
Gebieten, die mit Höchstleistungen funktionierten, ADHS hatten
und dies entsprechend kompensieren konnten. Sie passten nicht
zum Stereotyp in der Literatur. Niemand hatte je über erfolgreiche
Erwachsene mit Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom gesprochen, bis
Ned und ich ihre Fallstudien in unserem Buch Zwanghaft zerstreut
veröffentlichten.
Einige dieser Patienten hatten selbst festgestellt, dass sie körperliche Bewegung oder Sport als Weg der Selbstmedikation nutzen
konnten, der es ihnen ermöglichte, produktiver zu sein. Insbesondere
erinnere ich mich an einen Mann, der inzwischen einen MilliardenDollar-Hedge­fonds verwaltet: Morgens nimmt er ein Stimulans ein,
und in der Mittags­pause, etwa um die Zeit, in der das Medikament
seine Wirkung verliert, spielt er jeden Tag Squash.
Die meisten Menschen wissen instinktiv, dass körperliche Akti­
vität Energie verbrennt. Und jeder Lehrer, der je mit einem hyperaktiven Kind zu tun hatte, wird Ihnen sagen, dass Kinder nach der
Pause wesentlich ruhiger sind. Ruhiger und konzentrierter zu sein,
ist eine der ausgesprochen positiven Konsequenzen des „Stunde
Null“-Programms in Naperville, auf das ich in Kapitel 1 eingegangen bin.
Für ein Kind mit ADHS ist die Schule eine qualvolle Umgebung,
angesichts der Notwendigkeit, still zu sitzen, das Gesicht nach vorne
gerichtet zu halten und einem Lehrer fast eine Stunde lang intensiv
zuzuhören. Für einige Kinder ist dies unmöglich und der Grund für
ihr störendes Verhalten im Unterricht.
Vor etwa zehn Jahren, bei einer Reise in das Indianerreservat San
Carlos Apache in Arizona, wurde ich heftig daran erinnert. Im Rah­
men der Bemühungen des Stammes, die Gesundheitsprobleme in der
Gemeinschaft in den Griff zu bekommen, hatte man mich eingeladen, vor Ärzten, medizinischem Personal, Eltern und Lehrern über
193
Kapitel 6: Aufmerksamkeitsdefizit
ADHS zu sprechen. ADHS ist bei den Kindern im Reservat ein gewaltiges, aber weitgehend undiagnostiziertes Problem, da die Störung bei
Apachen wesentlich verbreiteter zu sein scheint als in der allgemeinen Be­­völkerung. Als ich vor einer Gruppe von Mittel­schul­lehrern
die Symp­tome und Behandlungen beschrieb, meinten mehrere von
ihnen, dass ihre Kinder alle Probleme hätten, still zu sitzen. Ich erkundigte mich nach Pausen, und mir wurde erklärt, dass die Kinder
drei am Tag hatten. „Wenn es regnet und sie nicht nach draußen können“, erklärte ein Lehrer, „bringen wir die Kinder mit dem Bus nach
Hause. Sonst werden wir nicht mit ihnen fertig.“
Unglaublich. Es gibt nur wenige Studien, die gute Statistiken über
das Vorkommen von ADHS liefern. Eine der Besten stammt von der
Mayo Clinic. Die Forscher erfassten alle Kinder, die zwischen 1976
und 1982 in Rochester, Minnesota, geboren wurden, und verfolgten
die Entwicklung der Kinder, die dort wohnen blieben, bis sie fünf
Jahre alt waren. Dies waren insgesamt 5.718 Kinder. Im Alter von 19
Jahren, so die Studie, hatten mindestens 7,4 Prozent von ihnen ADHS,
und man mutmaßte, dass die Verbreitung gar bei 16 Prozent liegen
könnte. Andere Studien gehen davon aus, dass etwa 40 Prozent der
Kinder mit ADHS aus der Störung „herauswachsen“, und wenn sie bis
ins Er­wachse­nenalter fortbesteht, Symptome der Hyperaktivität oft
abklingen. Es ist kein Zufall, dass der präfrontale Cortex, der für die
Hem­mung von Impulsen verantwortlich ist, sich erst voll entwickelt,
wenn wir Anfang 20 sind. Dies ist die Biologie der Reife.
Das Gehirn (heraus-) fordern
Angesichts der führenden Rolle von Dopamin und Noradrenalin bei
der Regulierung des Aufmerksamkeitssystems lautet die allgemeine wissenschaftliche Erklärung auf die Frage, wie Bewegung ADHS
abmildert, dass dies durch Erhöhung dieser Neurotransmitter geschieht. Und die Wirkung zeigt sich in der Tat sofort. Durch regelmäßige körperliche Betätigung können wir den Grundspiegel von
Dopamin und Noradrenalin erhöhen, indem das Wachstum neuer
Rezeptoren in bestimmten Hirnregionen angeregt wird.
194
Der Ablenkung davonlaufen
Im Hirnstamm ist ein Ausgleichen des Noradrenalin-Spiegels im
Erregungszentrum ebenfalls hilfreich. „Chronische körperliche
Betätigung verbessert den Tonus des Locus coeruleus“, sagt Amelia
Russo-Neustadt, Neurowissenschaftlerin und Psychiaterin an der
California State University. Das Ergebnis ist, dass wir weniger anfällig dafür sind, in irgendeiner Situation unverhältnismäßig zu erschrecken oder zu reagieren. Und wir sind weniger reizbar.
Ähnlich sehe ich körperliche Bewegung sozusagen als „Ver­ab­rei­
chung“ der Übertragungsflüssigkeit für die Basalgan­g lien, die wiede­
rum für die reibungslose Verlagerung des Auf­merk­sam­keitssystems
zu­ständig sind. Diese Region ist eine wichtige An­bin­dungs­fläche
für Rita­lin, und Gehirnaufnahmen zeigen, dass sie bei Kindern mit
ADHS ab­normal ist. In der äquivalenten Region von Ratten erhöht
körperliche Be­wegung den Dopamin-Spiegel, indem neue DopaminRezeptoren ge­schaffen werden.
Eine Gruppe von Forschern untersuchte zusammen mit Rodney
Dishman von der University of Georgia die Effekte von Bewegung
bei Kindern mit ADHS, indem sie motorische Funktionstests nutzten, die indirekt Messgrößen für die Dopamin-Aktivität lieferten.
Die Ergebnisse verschlugen Dishman die Sprache, da die Jungen
und Mädchen unterschiedlich reagierten. Bei Jungen verbesserten
anstrengende körperliche Aktivitäten beispielsweise ihre Fähigkeit,
geradeaus zu schauen und die Zunge herauszustrecken, was eine bessere motorische Reflexhemmung anzeigte, die bei Hyperaktivität
fehlt. Mädchen zeigten diese Verbesserung nicht, was vielleicht daran liegt, dass Hyperaktivität bei Mädchen seltener vorkommt. Sowohl
Mädchen als auch Jungen hatten sich außerdem bei einer weiteren
Messgröße verbessert, die sich auf die Sensitivität der DopaminSynapsen bezog; dabei schnitten die Jungen besser nach einer maximalen Aktivität ab, die Mädchen hingegen nach einer submaximalen
Aktivität (bei 65 bis 70 Prozent der maximalen Herzfrequenz).
Ein überaktives Kleinhirn trägt ebenfalls zu Unruhe und Zap­pe­
lig­keit bei Kindern mit ADHS bei, und jüngste Studien haben gezeigt,
dass ADHS-Medikamente, die den Dopamin- und NoradrenalinSpiegel erhöhen, diese Region wieder ins Gleichgewicht bringen.
Kör­perliche Bewegung erhöht auch den Noradrenalin-Spiegel. Und
je kom­plexer die Aktivität oder Übung ist, umso besser. Ratten
195
Kapitel 6: Aufmerksamkeitsdefizit
machen kein Judo; Wissenschaftler haben sich jedoch die neurochemischen Ver­änderungen in ihrem Gehirn nach akrobatischen
Übungen angeschaut, die einer Kampfsportart am nächsten kommen. Im Vergleich zu Ratten, die auf dem Laufband liefen, war bei
denen, die komplexe motorische Fertigkeiten praktizierten, eine
wesentlichere Verbesserung des Spiegels des neurotrophen Faktors
BDNF festzustellen, was darauf schließen lässt, dass ein Wachstum
im Kleinhirn stattfindet.
Im limbischen System hilft körperliche Bewegung, wie ich erklärt
habe, bei der Regulierung der Amygdala, die in Zusammenhang
mit ADHS die leicht reizbare Ansprechbarkeit abstumpft, die viele
Patienten erleben. Sie nivelliert die Reaktion auf einen neuen Reiz,
damit wir beispielsweise in einem Anflug von Wut im Straßenverkehr
nicht ausrasten und einen anderen Fahrer anschreien.
Soweit es sich bei ADHS um einen Mangel an Kontrolle handelt
– von Impulsen und Aufmerksamkeit –, ist die Leistung des prä­
frontalen Cortex von entscheidender Bedeutung. Die bahnbrechende
Studie von Arthur Kramer von der University of Illinois, die 2006
veröffentlicht wurde, nutzte MRT-Aufnahmen, um zu zeigen, dass
simples Gehen an nur drei Tagen in der Woche über den Zeitraum
von sechs Monaten das Volumen des präfrontalen Cortex bei älteren
Erwachsenen erhöhte. Und als er Aspekte ihrer Exekutiven Funktion
untersuchte, zeigten sie Verbesserungen im Kurzzeitgedächtnis, wo­
bei sie reibungslos zwischen Aufgaben wechseln und irrelevante
Reize ausblenden konnten. Kramer war nicht ADHS auf der Spur,
aber seine Ergebnisse verdeutlichen einen anderen Weg, wie körperliche Bewegung hilfreich sein kann.
Jeder pflichtet bei, dass körperliche Bewegung den Dopamin- und
Noradrenalin-Spiegel erhöht. Und einer der intrazellularen Effek­
te dieser Neurotransmitter ist, wie die Neurobiologin Amy Arn­
sten von der Yale University erklärt, eine Verbesserung des Signal/
Rausch-Ver­hält­nis­ses im präfrontalen Cortex. Sie hat festgestellt,
dass Nor­adre­nalin die Signalqualität der synaptischen Übertragung
verbessert, während Do­pamin das Rauschen oder die atmosphärische Störung durch den ziel­losen Signalaustausch von Neuronen
reduziert, indem die empfangen­de Zelle daran gehindert wird, irrelevante Signale zu verarbeiten.
196
Der Ablenkung davonlaufen
Arnsten geht auch davon aus, dass die Spiegel der Aufmerksam­­
keits-Neurotransmitter einem u-förmigen Muster von oben nach
unten fol­gen. Eine Erhöhung ist also bis zu einem gewissen Punkt
hilf­reich, anschließend folgt dann aber ein negativer Effekt. Wie in
jedem anderen Teil des Gehirns müssen die Spiegel des neurologischen Gemischs in einem optimalen Verhältnis zueinanderstehen.
Kör­per­liche Bewegung ist das beste Rezept dafür.
Ein klassischer Fall
Wenn Sie zufällig Jackson begegnen würden, so hätten Sie einen
21-Jährigen mit kompakter Statur vor sich, der sein Hemd über der
Hose trägt und sich artikuliert über seine Pläne für die Zukunft äußert – ein typisches amerikanisches College-Kid, wenn nicht etwas
klüger. Das Besondere an ihm ist nicht so sehr, wo er heute steht,
sondern welch weiten Weg er zurückgelegt hat, um hierher zu kommen, und wie er dies erreicht hat. Jackson läuft fast jeden Tag; wenn
er am selben Tag auch noch Gewichte hebt, dann läuft er rund fünf
Kilometer, an den anderen Tagen etwa 6,5 Kilometer. „Wenn ich
das nicht mache, ist es zwar nicht so, dass ich Schuldgefühle hätte“,
sagt er. „Ich habe vielmehr das Gefühl, als ob ich an meinem Tag
etwas verpasst hätte, und ich möchte los, um es nachzuholen. Denn
ich weiß, wenn ich Sport treibe, habe ich keine Probleme, mich auf
irgendetwas zu konzentrieren.“
Jackson war 15 Jahre alt, als er wegen Ängsten, die durch sein
ADHS verschärft wurden, das erste Mal in meine Praxis kam. Seine
Nei­gung, immerzu alles zu verschieben und zu verschleppen, brachte
ihn in unmögliche Situationen. Auch wenn er sich damit brüstete,
wie gerissen er seine Lehrer und schulische Fristen manipulierte,
zehrte das permanente Herumlavieren an seinen Nerven. Am Ende
der Highschool hatte er sich eine so tiefe Grube gegraben, dass nicht
einmal er sicher war, ob er nicht doch hineinfallen würde. Seine
Zukunft hing am Ende von einer Frage, einem Mathetest ab, den
er bis unmittelbar vor dem Abschluss vor sich herschob. „Ich habe
ihn so viele Tage vor mir hergeschoben, dass ich tatsächlich nicht
197
Kapitel 6: Aufmerksamkeitsdefizit
wusste, ob ich den Abschluss schaffen würde“, erinnert er sich. „Ich
war da draußen, in Talar und mit Barett, und ich wusste nicht, ob
sie meinen Namen nennen würden.“ Er hält einen Augenblick inne,
und fügt dann hinzu: „Ich fühlte mich so blöd.“
ADHS war früh bei Jackson diagnostiziert worden, nachdem sein
Lehrer in der dritten Klasse aufgrund seines störenden Verhaltens
und seiner Unfähigkeit, Klassenarbeiten fertig zu schreiben, etwas unternommen hatte. Er begann mit der Einnahme von Ritalin
und nahm während seiner ganzen Schulzeit irgendeine Form von
Stimulans. Er war intelligent, hatte aber eine Menge Probleme mit
der Schule. Als Tagesschüler einer erstrangigen privaten Hochschule
musste er einfach mehr tun, als er schaffen konnte. Schlafmangel war
an der Tages­ord­nung, und wenn er schlafen konnte, wachte er oft mit
Magen­schmer­zen auf und hatte fürchterliche Angst vor der Fahrt zur
Schule. Nach einer Panikattacke ging er von der Schule ab – obwohl
er einen guten Notendurchschnitt hatte, den er hauptsächlich seinem
hervorragenden Abschneiden bei Prüfungen zu verdanken hatte –,
und wechselte zu einer öffentlichen Highschool.
Im Unterschied zu manchen Kindern mit ADHS war Jackson
sehr gesellig, gründete Klubs, die sich nach der Schule trafen, und
übernahm die Funktion des Schülerbeirats für gleichaltrige Schüler
mit Problemen. Er meinte, dass er nach allem, was er durch seine eigenen Probleme gelernt hatte, von Psychologie durchaus etwas
verstand.
Alle diese außerschulischen Aktivitäten kaschierten, was sich
in seinem Innern zu schweren Ängsten und einer Depression verdichtete, und irgendwann nahm er Adderall, Paroxetin (Paxil) und
auch Clon­aze­pam (Klonopin) ein, ein lang wirkender Arzneistoff
gegen Ängste. Der Unterrichtsstoff war kein Problem, aber die Haus­
aufgaben waren eine derartige Quelle von Stress, dass er sie entweder gar nicht machte oder in den kurzen Pausen zwischen den
Unterrichtsstunden hinhuschelte. Er hatte sich selbst überzeugt, dass
er intelligent genug war, die Highschool zu schaffen, ohne wirklich etwas zu tun. Er sagt, er fühlte sich wie ein „Geheimagent“, der
herumschlich, die Teilnahmeregeln unterlief und die Lehrer überlistete, wenn es darum ging, Aufgaben fertig zu machen, und dann
den Unschuldsengel spielte. „Ich fand mich so cool“, sagt er. „Die
198
Der Ablenkung davonlaufen
Krönung war, dass ich im Geschichtsunterricht, den ich eigentlich
sogar mochte, diesen einen großen Aufsatz nicht geschrieben habe.
Aber irgendwie schaffte ich es, den Lehrer auszutricksen, sodass er
irgendwann glaubte, ich hätte ihn geschrieben – und ich bekam eine
Eins dafür. In Wirklichkeit habe ich ihn nie abgegeben.“
Sie riefen Jacksons Namen bei der Abschlussfeier auf. Er rutschte eben noch so durch, seine Noten waren jedoch viel zu schlecht,
trotz familiärer Beziehungen, um aufs College zu gehen, wie er es
sich erhofft hatte. Ein kleines Junior College nahm ihn dennoch auf,
und das war genau das Richtige für ihn. Der Triumph, den Schul­
abschluss geschafft zu haben, und das gute Gefühl, im nächsten
Herbst ein Ziel vor Augen zu haben, machten ihn so glücklich, dass
er die ganze Welt hätte umarmen können. Es ging ihm in jenem
Sommer so gut, dass er beschloss, seine Medikamente abzusetzen
– und zwar alle. (Ich brauche wohl nicht eigens zu sagen, dass ich
zu der Zeit in seine Entscheidung nicht einbezogen war.) Es war das
erste Mal seit der Grundschule, dass er länger als einen Tag oder
zwei Tage keine Medikamente einnahm. „Ich merkte, dass viele der
Kleinigkeiten, die mir zu schaffen machten, verschwanden“, berichtet er. Und auch einige der Dinge, die nicht ganz so banal waren: Zum ers­ten Mal in seinem Leben hatte er einen ganz normalen Schlafrhyth­mus, und seine Ängste ließen nach. Er ging davon
aus, dass es ihm einfach so unglaublich gut ging, weil er die Schule
geschafft hatte, aber als er später einige ADHS-Medikamente einnahm, um eine Aufnahmeprüfung fürs College zu machen, kehrten
die ärgerlichen Nebenwirkungen wieder zurück. Danach räumte er
die Medikamente weg.
Die Wende kam in jenem Sommer jedoch in Spanien, bei einer Reise mit seiner Freundin. Als er mit nacktem Oberkörper am
Strand herumspazierte, inspirierte ihn das, angesichts der spanischen Ado­nis­se, etwas gegen seinen Buddha-Bauch zu machen. „Ich
fing einfach an zu laufen“, sagt er. „Und ich fühlte mich super dabei.
Natürlich spielte dabei mit, dass ich in Spanien im Urlaub war. Alles
war super in meinem Leben. Und ich würde aufs College gehen, das
nicht so schwer sein würde, und deswegen glaubte ich: Ich kann das
vielleicht einfach alles schaffen! Ich ging in dem Herbst aufs College,
und ich hatte keine Sekunde zu kämpfen.“
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Kapitel 6: Aufmerksamkeitsdefizit
Jacksons Geschichte gefällt mir zum Teil auch deshalb, weil er mit
Sport etwas für seine Figur tun wollte, aber wegen des therapeutischen Effekts dabei geblieben ist. An seinem Körperbau änderte das Laufen zuerst keinen Deut (dank Pizza und Bier), aber er
blieb dabei, weil es ihm half, sich zu konzentrieren. In seinem ersten
Semester am Junior College schnitt er mit einem Notendurchschnitt
von 1,3 ab, und nach einem Jahr wurde er von dem College, das er
ursprünglich hatte besuchen wollen, nachträglich aufgenommen;
er gehörte zu den wenigen Studenten, die wechseln durften. Es ist
eine kleine, wettbewerbsfähige Institution in New England, wo er im
zweiten Semester einen Noten­durch­schnitt von 1,5 erreichte. Sein
Hauptfach? Psychologie.
Er hatte sich ganz klar auf seine Verfassung eingestellt. Wenn
er in seinem Trainingsprogramm nachlässt, machen sich Kon­zen­
trations­schwä­chen bemerkbar. „Ich kann genau sagen, was passiert,
wenn ich nicht laufe“, erklärt er. „In der Mitte des Semesters kam
ich jeweils an den Punkt, dass ich keine Zeit hatte. Aber wissen Sie
was? Es ist so, ich muss einfach raus und laufen und einen freien
Kopf bekommen. Ich muss es einfach tun.“
Er weiß, wie er sich danach fühlt, und diese Erkenntnis allein
sorgt dafür, dass er daran festhält.
„Ich habe immer eine Million Stimmen in meinem Kopf, die ganze Zeit“, erklärt er. „Als ich anfing Sport zu treiben, war es nicht so,
dass ich nur an eine Sache dachte, da ich auch ein Problem mit dem
Hyperkonzentrieren habe. Aber es war so, dass ich mich auf Dinge
konzentrieren konnte, die wichtig für mich waren. Dann habe ich
angefangen, darüber nachzudenken, und im Allgemeinen habe ich
jetzt eigentlich kein Problem damit, mich zu konzentrieren. Und da
ich die Medikamente abgesetzt habe, habe ich nicht annähernd so
viele Schlafprobleme wie früher. Es war für mich nie eine Frage, dass
es mit der körperlichen Bewegung zusammenhängt, weil es diese riesige Veränderung in mein Leben gebracht hat. Es ist einfach so klar.“
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Der Ablenkung davonlaufen
Die Initiative ergreifen
Nicht jeder, der ADHS hat, wird die umfassende Wirkung körperlicher Bewegung so erleben, wie es bei Jackson war. Und ich hätte
nie vorgeschlagen, dass er seine Medikation so abrupt absetzt, insbesondere nicht das Antidepressivum. Seine Erfahrung wirft indes
die Frage auf, ob Bewegung oder Sport Ritalin oder Adderall oder
Bupropion (Wellbutrin) ersetzen können, und bei der überwiegenden Mehrzahl der Fälle würde ich sagen, die Antwort lautet nein.
Zumindest nicht so, wie James Blumenthal und seine Kollegen von
der Duke University es gezeigt haben: Dass nämlich körperliche
Betätigung bei der Behandlung von Depressionen an die Stelle von
Zoloft treten kann.
Dennoch hat Jacksons Motivation, seine Medikation abzusetzen,
auch etwas Lehrreiches. Ich denke, er hatte das Gefühl, keine Kontrolle
mehr zu haben, wobei er wusste, dass er intelligent genug war, um erfolgreich zu sein, aber eben nicht in der Lage, es auch tatsächlich zu
schaffen. Permanente Frustration kann demoralisierend wirken, und
dies nährte in Jacksons Fall seine Depressionen und seine Ängste. Bei
ihm verschärfte die Einnahme von Medikamenten jenes Gefühl, sodass ein Gefühl der Abhängigkeit entstand. Umgekehrt gab ihm die
Routine des Laufens ein Gefühl der Kontrolle über sein inneres Selbst
– seine Stimmung, seine Ängste, seine Konzentration. Zum ersten Mal
in seinem Leben hatte er das Gefühl, dass er seine eigene Zukunft steuern konnte. Das Laufen war das Medikament seiner Wahl.
Den meisten meiner Patienten empfehle ich Bewegung als Mittel,
das ihnen zusammen mit ihrer Medikation bei der Bewältigung ihrer Symptome hilft. Die beste Strategie ist, sich morgens sportlich zu
betätigen, und die Medikamente dann etwa eine Stunde später einzunehmen, wenn die sofortige Wirkung der körperlichen Aktivität
auf das Konzentrationsvermögen abzuklingen beginnt. Bei einer
Reihe von Patienten habe ich festgestellt, dass sie mit einer geringeren Dosis an Medikamenten zurechtkommen, wenn sie sich täglich
körperlich bewegen.
Ich will darauf hinaus, dass Sie Ihre eigene Behandlung federführend selbst in die Hand nehmen: Je mehr sie darüber wissen, wie
201
Kapitel 6: Aufmerksamkeitsdefizit
ADHS sich im Einzelnen auswirkt, umso besser erkennen Sie Ihre
Schwachstellen, und umso besser können Sie sich darauf einstellen. Ich erkläre meinen Patienten, dass sie äußerste Wachsamkeit
bei ihrer Terminplanung und Struktur entwickeln müssen. Wenn
Sie Ihre Umgebung entsprechend einrichten, können Sie Ihre Auf­
merksamkeit durch Ihr eigenes Handeln fokussieren und produktiver werden.
Richten Sie Ihren Tag und Ihre Umgebung so ein, dass dies Ihrer
Konzentration und Leistung förderlich ist – den Ball nach vorne
bewegen, statt zuzulassen, dass er von den Wänden abprallt. Damit
möchte ich nicht sagen, dass Symptome verschwinden, wenn Sie sich
organisieren und sich eine Struktur geben, Sie können Ihre Aufmerk­
samkeit dadurch jedoch gezielt in die richtige Richtung lenken.
Heut­zutage nehmen viele Menschen ADHS-Trainer in Anspruch,
die ihnen dabei zu helfen. Die Verlässlichkeit des äußeren Rahmens
ist ein wirksamer Weg, der Ihnen hilft, eine Routine wie sportliche
Betätigung aufrechtzuerhalten und Ihre Ziele zu erreichen.
Jackson gibt sich seine Struktur durch seine täglichen Läufe, und
dies funktioniert auf zwei Ebenen: Der regelmäßige Terminplan prägt
seinen Zeitplan und gibt seinem Tagesablauf eine feste Struk­tur, sodass er sich weiter keine Gedanken darüber zu machen braucht, und
die sportliche Betätigung als solche sorgt dafür, dass das Gehirn in
jeder Hinsicht, wie ich dies beschrieben habe, fokussiert wird.
Es stimmt, dass viele Kinder mit ADHS aktiver als gleichaltrige Kinder sind – Studien zeigen, dass sie im Durchschnitt weniger
Kör­per­fett haben –, und ich sehe viele Erwachsene mit ADHS, die
sich bereits sportlich betätigen. Aber sie müssen mehr tun, und das
regelmäßig. Ich bitte meine Patienten, alle Anstrengungen zu unternehmen, um täglichen körperlichen Aktivitäten einen festen Platz
einzuräumen – oder zumindest an den fünf Wochentagen, an denen sie sich auf die Schule oder ihre Arbeit konzentrieren müssen.
Dishmans Studie lässt darauf schließen, dass submaximale körperliche Bewegung, was 65 bis 75 Prozent der maximalen Herzfrequenz
entspräche, bei Mädchen effektiver ist, während anstrengendere
Aktivitäten (knapp unter der anaeroben Schwelle, worauf ich in
Kapitel 10 noch eingehen werde) bei Jungen besser funktionieren.
Für Erwachsene haben wir eigentlich keine Paralleldaten, aber nach
202
Der Ablenkung davonlaufen
allem, was ich gesehen habe, ist es wichtig, dabei die Herzfrequenz
20 oder 30 Minuten lang zu steigern – vielleicht auf 75 Prozent Ihrer
maximalen Herzfrequenz.
Insbesondere bei ADHS sind komplexe, konzentrationsintensive Sportarten wie Kampfsportarten und Gymnastik ein großartiger Weg, um das Gehirn stark in Anspruch zu nehmen. Durch
Ein­beziehung jedes Elementes des Aufmerksamkeitssystems sorgen
Sie dafür, dass Sie hellwach und hoch konzentriert bleiben. Diese
Sportarten sind einfach interessanter als das Laufen auf einem Lauf­
band, und wenn Sie sich mit anderen zusammentun, um mit ihnen
gemeinsam Sport zu treiben, so hat dies in der Regel einen sich selbst
verstetigenden Effekt, sodass es leichter ist, dabei zu bleiben.
Mein eigenes Training versuche ich morgens als Erstes zu absolvieren, sowohl wegen der Struktur, die dadurch entsteht, als auch um
den richtigen Tonus für den Tag zu finden. Oftmals hält mich das auf
Vordermann. Und sobald ich in die Intensität der Therapiesitzungen
komme, fällt es mir nicht schwer, mich auf jeden Patienten richtig zu
konzentrieren. Wie lange das Hoch bei Dopamin und Noradrenalin
nach einer sportlichen Aktivität anhält, ist von Forschern noch nicht
quantifiziert worden, anekdotische Belege gehen jedoch von einer
Stunde oder vielleicht auch 90 Minuten aus, in denen die Ruhe und
Klarheit anhält. Personen, die eine Medikation brauchen, empfehle
ich, sie an dem Punkt zu nehmen, an dem die Effekte der körperlichen Aktivität nachlassen, um von beiden Ansätzen optimal zu
profitieren.
Die Wahrheit ist, dass das Ausmaß des Aufmerksamkeitsdefizits
bei jedem Menschen unterschiedlich ist, und Sie müssen experimentieren, um herauszufinden, was am besten funktioniert. Meine
Hoffnung ist, wenn Sie wissen, wie es funktioniert, dass Sie dann
die beste Lösung für sich finden können. Wenn Sie es mit einem
Minimum versuchen wollen, würde ich sagen, 30 Minuten aerobe
Übungen täglich. Das ist nicht viel Zeit, insbesondere wenn Sie bedenken, dass es Ihnen helfen wird, sich genügend zu konzentrieren,
um den Rest des Tages weitestgehend gut zu meistern.
203
7. Abhängigkeit

Die Biologie der
Selbstkontrolle
mobilisieren
U
nter den 35.000 Läufern, die im November 2006 den New York
City Marathon absolvierten, waren 16 ehemalige Drogen­ab­
hängige, von denen eine Reihe offen darüber scherzte, dass sie die
meiste Zeit in ihrem Leben „vor den Bullen davon gelaufen“ waren.
Als sie die Ziel­li­nie überquerten, hatten sie weitaus mehr als „nur“
eine Strecke von 42 Kilometern zurückgelegt. Viele von ihnen waren im Gefängnis, obdachlos oder anderweitig hilflos gewesen, als
sie von sich aus ins Odys­sey House kamen, um sich aufnehmen zu
lassen. Dabei handelt es sich um ein Reha-Programm in New York,
im Rahmen dessen etwa 800 Per­sonen stationär an einem halben
Dutzend Standorten in der ganzen Stadt behandelt werden.
Es sind die seltenen, schlimmsten Beispiele, was Menschen passieren kann, wenn sie die Kontrolle über ihr Verhalten völlig verlieren.
Auch wenn das Leben derjenigen, die von harten Drogen wie Crack,
Heroin oder Crystal Meth abhängig sind, erheblich anders aussieht
als das Leben jener, die Drogen nehmen oder miss­brauchen, ohne abhängig zu sein, gelten für ihr Gehirn jedoch die glei­chen Grundsätze.
Das heißt, dass die Lektionen des Odyssey House für jeden gelten, der
mit Selbstkontrolle zu kämpfen hat, wozu auch diejenigen gehören,
die meinen, sie hätten eine abhängige Per­sön­lich­keit. Wissenschaftler
205
Kapitel 7: Abhängigkeit
charakterisieren Ver­hal­tens­weisen wie Spielen, zwanghaftes Ein­kau­
fen oder selbst übermäßiges Essen mit den gleichen biologischen
Begriffen, die sie verwenden, um Dro­gen­missbrauch zu erklären.
Der gemeinsame Nenner ist ein außer Kon­trolle geratenes Be­loh­
nungssystem, mit dem manche Personen geboren werden und das
andere im Laufe ihres Lebens entwickeln.
Das Odyssey House gibt es seit etwa Ende der 1960er-Jahre, wobei
die Hilfsangebote von Beratung bis zu beruflichen Aus­bil­dungs­­pro­
gram­men, von Altenpflege bis zu Familienhilfe reichen. Im Frühjahr
2000 begann John Tavolacci, ein Mitarbeiter des Odyssey House,
mit den Klienten in den Central Park zu gehen, um dort zu laufen, und zwar mit dem Ziel, für einen fünf Kilometer langen Wohl­
tätigkeitslauf zu trainieren, der jeden Herbst stattfand. „Wir laufen in
Gruppen mit ihnen und reden darüber, was das Laufen alles bringt
– Disziplin, Struk­tur, Teamwork“, sagt Tavolacci, der inzwischen
Geschäftsführer des Odyssey House ist. „Abhängige isolieren sich
in der Regel, aber hier mo­­tivieren sie sich gegenseitig, und sie sehen,
was es heißt, sich Ziele zu setzen und sie zu erreichen.“
Viele seiner Schützlinge fangen mit einfachem Gehen an, und
die erste Herausforderung ist, sich an die eine Regel zu halten, die
Tavolacci ihnen vorgibt: Nicht Rauchen. Darauf bauen sie dann weiter auf, um als Nächstes die rund 2,5 Kilometer um das Central Park
Reservoir zu laufen. Um die 100 Menschen beteiligen sich an dem
Trainingsprogramm, das „Lauf um dein Leben“ heißt. Und jene, die
sich zu ernsthaften Läufern entwickeln, bleiben etwa dop­pelt so lange
in der Behandlung wie nicht aktive Klienten. „Es klingt logisch“, sagt
Tavolacci, „aber das einzige, was wir über die Behandlung wissen,
sind die zunehmenden Erfolgsaussichten, je länger ein Teilnehmer
bei der Stange bleibt.“
Das Odyssey House hat seit jeher einen ganzheitlichen Be­hand­
lungs­an­satz genutzt und die Bedeutung der Gemeinschaft betont.
Peter Provet zufolge, dem Direktor des Odyssey House, ist dies von
ent­schei­dender Bedeutung, da Abhängigkeit eine so allumfas­sende
Störung ist, die jeden Aspekt des Lebens betrifft, von der Familie
über die Stimmung bis zur Arbeit. „Die Droge ist für den Ab­hän­
gigen alles“, sagt Provet. Nimmt man sie ihm weg, dann ist in Körper
und Geist plötz­lich nur noch Leere.
206
Die Biologie der Selbstkontrolle mobilisieren
„Gibt es einen besseren Weg, diese Leere zu füllen, als durch sport­
liche Betätigung?“ meint Provet. „Ich bin fest davon überzeugt,
dass Sport als ein Gegenmittel und eine Art Schutzimpfung gegen
Abhängig­keit dienen kann“, sagt er. „Im Sinne des Gegenmittels
gibt man dem Einzel­nen die Möglichkeit, eine Erfahrung in seinem Leben zu machen, die die meis­ten der Teilnehmer noch nicht
gemacht haben – die Ziele des Trainings, das Gefühl der körperlichen Bewegung, die Herausforderung des Sports, die Freude und
den Schmerz, die Leistung, das physische Wohl­befin­den, das Selbst­
wert­gefühl. All dies gibt der Sport uns, und damit gibt man dem
Abhängigen eine sehr faszinierende Option.“
Die Schutzimpfung ist ähnlich wichtig, angesichts dessen, dass
die meisten Abhängigen einen langen, manchmal lebenslänglichen
Kampf mit dem Rückfallrisiko führen. Und für Provet ist Sport die
beste Form der Schutzimpfung. „Sportliche Aktivitäten sind der direkte Gegen­­satz zu drogenabhängigem Verhalten. Man braucht Lun­
gen­k raft, Muskel­k raft, mentale Klarheit, um physischen Akti­v itäten
nachzugehen – viele Dinge, die Drogen einem entziehen. Wenn man
nicht isst, sich nicht um seinen Körper kümmert, ihn dahinsiechen
lässt, der Geist durch die ständige Betäubung verwirrt ist, kann man
kein ernst­hafter Sport­ler sein. Man kann keinen Sport machen.“
Die Neurologie ist gerade dabei, das nachzuholen, was 20 Jahre
Er­fahrung Peter Provet gelehrt haben. Wie er die Wirkung von
sportli­cher Aktivität auf den Abhängigen beschreibt, ist ein Spiegel
dessen, wo­rüber ich in Kapitel 5 in Zusammenhang mit Depressio­
nen gesprochen habe. Als Behandlung wirkt sportliche Aktivität im
Gehirn von oben nach unten, indem Abhängige gezwungen werden,
sich auf einen neuen Reiz einzustellen und sich ihm anzupassen,
was es ihnen ermöglicht, alternative und gesunde Szenarien zu erlernen und auch schätzen zu lernen. Es ist ein aktivitätsabhängiges
Training. Auch wenn es vielleicht nicht zu dem sofortigen Rausch
wie bei einer Dosis Kokain führt, so führt es dennoch zu einem
diffusen Gefühl des Wohlbefindens, das mit der Zeit als solches zur
Sucht werden kann. Die Impfung wirkt hingegen von unten nach
oben, indem physisch der Drang gedämpft wird, durch Einschalten
der primitiveren Elemente des Gehirns zu handeln. Durch sportliche Betätigung werden synaptische Umleitungen um die alten,
207
Kapitel 7: Abhängigkeit
eingefahrenen Verbindungen herumgebaut, die automatisch die
nächstliegende Abhilfe suchen.
„Nicht jeder wird ein Marathonläufer, aber immer mehr entwi­
ckeln sich vom Abhängigen zum Athleten“, sagt Provet. „Ist es für
jeden geeignet? Wahrscheinlich nicht. Für die meisten? Wahr­schein­
lich ja.“
Ungute und ungerechtfertigte
Belohnungen
Wie bei so vielen Entdeckungen darüber, wie das Gehirn funktioniert, stießen Wissenschaftler durch Zufall auf erste Hinweise zu
Ab­hängig­kei­ten. 1954 führten der Psychologe James Olds und ein
Student im Auf­bau­­stu­dium namens Peter Milner an der McGill
University in Mont­real Untersuchungen zum Verhalten durch, indem sie Elektroden in das Ge­hirn lebender Ratten einführten. Sie
wollten eine Region, die sich auf das Lernen bezog, genau lokalisieren; bei einem der Tiere landete die Elek­­tro­de jedoch an der falschen
Stelle. Das Ergebnis war sogar noch interessanter als das, wonach
sie eigentlich gesucht hatten: Die Ratte kehrte immer wieder in die
Ecke ihres Käfigs zurück, in der sie ihren ersten elektrischen Schock
erhalten hatte. Zu ihrem Erstaunen stellten die Forscher fest, dass sie
das Nagetier wie ein ferngesteuertes Spielzeug durch Verabreichen
von Stromstößen steuern konnten. Am nächsten Tag suchte die Ratte
dieselbe Ecke auf. Klar war, die Ratte wünschte sich die Stimulation
so sehr, dass sie das Futter, das in der anderen Ecke stand, ignorierte,
um sich den elektrischen Schock in „ihrer“ Ecke abzuholen.
Bei dem berühmtesten ihrer Experimente bastelten Olds und
Milner einen Hebel zusammen, mit dem sich die Ratte ihre eigene Ge­hirn­­stimulation verabreichen konnte. Nachdem sie entdeckt
hatte, dass sie einen Stromstoß erhielt, wenn sie den Hebel drückte,
drückte sie ihn etwa alle fünf Sekunden, bis der Strom abgeschaltet
wurde. Die Ratte versuchte den Hebel noch einige Male ergebnislos
zu betätigen und schlief dann postwendend ein.
208
Die Biologie der Selbstkontrolle mobilisieren
Die Hirnregion, die Olds und Milner mit der Elektrode trafen, ist
eng mit dem Nucleus accumbens, dem Belohnungszentrum, verknüpft und steht seither im Mittelpunkt der Suchtforschung. Das
Be­loh­nungszentrum ist ein entscheidender Knotenpunkt des Auf­
merk­sam­keits­systems, wie ich im letzten Kapitel beschrieben habe,
und es spielt auch bei der Abhängigkeit eine wichtige Rolle. Es liefert dem Gehirn die notwendige Motivation, ein Verhalten zu erlernen, das uns Dinge bringt, die wir mögen oder uns wünschen oder
brauchen. Alle die Dinge, nach denen Menschen süchtig werden –
Alkohol, Koffein, Nikotin, Drogen, Sex, Kohlenhydrate, Glücksspiel,
Videospiele, Ein­kau­fen, gefährlich leben –, erhöhen den DopaminSpiegel im Nucleus accumbens. Unabhängig von den unterschiedlichen psychischen Effek­ten, die verschiedene Drogen auf den Geist
haben, erhöhen sie alle den Dopamin-Spiegel im Belohnungs­zen­
trum. Die Macht von Drogen wird sicher deutlich, wenn man bedenkt, dass der Dopamin-Spiegel beim Sex um 50 bis 100 Prozent
erhöht wird, durch Kokain jedoch um 300 bis 800 Prozent über den
Normalspiegel hinausschießt.
Der Nucleus accumbens wurde früher gemeinhin als das Freu­
de­zen­trum bezeichnet, was die Vorstellung nährte, dass Abhängige
vor allem darauf aus waren, es sich gut gehen zu lassen. Auch wenn
Freu­de oder Vergnügen sicher auslösende Faktoren sein mögen, der
Men­­schen dazu verleitet, Drogen oder ihr Glück am Spieltisch zu
versuchen, ist es nicht ganz richtig, Abhängige schlechterdings nur
für Hedonis­ten zu halten. Niemand genießt es, abhängig zu sein.
Aufgrund ihrer Untersuchungen, wie Dopamin als wichtiger Bot­
schaf­ter im Be­loh­­nungs­system funktio­niert, sind Wissenschaftler
inzwischen dazu über­­gegangen, klar zu unterscheiden, ob man etwas
mag oder es sich wünscht. „Mögen bezieht sich auf die tatsächliche
Erfahrung der Freu­de, im Unterschied zu dem motivationsbedingten
Zustand des Wünschens, der die Bereitschaft bedingt, für Belohnung
zu arbeiten“, sagte Terry Ro­bin­son, Ver­hal­tens­neu­ro­w issenschaftler
an der Univer­sity of Michigan. „Do­pa­min ist bei diesem Wünschen
involviert, beim Mögen jedoch nicht.“
Das Belohnungszentrum ist der Punkt, an dem ADHS und Ab­
hän­gig­keit zusammentreffen und ineinander übergehen, was erklärt,
warum beide Probleme sowohl Motivation, als auch Selbstkontrolle
209
Kapitel 7: Abhängigkeit
und Erinnerungsvermögen untergraben. Es ist kein Zufall, dass
etwa die Hälfte aller ADHS-Betroffenen auch mit irgendeiner Art
von Dro­gen­missbrauch zu kämpfen haben. Die Implikationen haben dazu geführt, dass Wissenschaftler ihren früheren Ansatz zur
Beschreibung von Abhängigkeit geändert haben.
Die ausschlaggebenden Punkte scheinen Salienz und Motivation
statt Freude oder Vergnügen zu sein. In diesem Zusammenhang bedeutet Salienz, dass etwas aus dem gewöhnlichen Rahmen des Lebens
hervorgehoben wird und gegenüber allen anderen Reizen dominiert.
Hinweise sowohl auf Freude als auch auf Schmerz sorgen dafür, dass
Dopamin im Nucleus accumbens umherjagt, um unsere Auf­merk­
sam­keit zu erregen, damit wir handeln können, um zu überleben. Wer
im Begriff ist, durch Drogenmissbrauch eine Abhängigkeit zu entwickeln, in dessen Gehirn verleitet die Über­frach­tung mit Dopamin
ihn zu glauben, es sei eine Frage von Leben oder Tod, der Droge
Aufmerksamkeit zu schenken. „Drogen zapfen genau die Kernsysteme
an, die evolutionsbedingt von entscheidender Bedeutung für die Frage
des Überlebens sind“, sagt Robinson. „Sie aktivieren das System in
einer Weise, wie es eigentlich nie vorgesehen war.“
Das National Institute on Drug Abuse definiert Abhängigkeit
nun­mehr als Zwang, der trotz negativer gesundheitlicher und sozialer
Kon­se­quen­zen fortbesteht. Sehr viele Menschen nutzen oder missbrauchen Drogen, aber nur relativ wenige werden abhängig. Warum?
Das Dopamin im Belohnungszentrum lässt zwar das anfängliche
Inte­resse an einer Droge oder Verhaltensweise entstehen und liefert
die Motivation, sie zu bekommen. Was die Abhängigkeit jedoch zu
einem so überaus hartnäckigen Problem macht, sind die strukturellen Ver­än­derungen, die sie im Gehirn verursacht. Wissenschaftler
betrach­ten Abhängigkeit als eine chronische Krankheit, weil sie mit
einer Erinnerung verdrahtet ist, die reflexives Verhalten auslöst. Im
Gehirn treten die gleichen Veränderungen auf, egal, ob es bei der
Abhängigkeit um Drogen oder Spielen oder Essen geht.
Sobald die Belohnung die Aufmerksamkeit des Gehirns erregt
hat, weist der präfrontale Cortex den Hippocampus an, sich an das
Szenario und die Sinnesempfindungen in lebhaften Details zu erinnern. Wenn es das fettige Essen ist, dem Sie nicht widerstehen
können, verbindet das Gehirn den Geruch von Brathähnchen mit
210
Die Biologie der Selbstkontrolle mobilisieren
dem verführerisch duftenden Imbissstand an der Ecke. Solche Hin­
weise treten in den Vordergrund (Salienz) und werden mit einem
Netz von Assoziationen verknüpft. Jedes Mal, wenn Sie also an dem
Imbissstand vorbeikommen, werden die synap­tischen Ver­bin­dun­
gen, die alles miteinander verknüpfen, verstärkt und nehmen zusätzlich neue Hinweise auf. So entstehen Gewohnheiten.
Wenn wir etwas lernen, stabilisieren sich die Verbindungen in der
Regel, und der Dopamin-Spiegel flaut mit der Zeit ab. Bei Abhän­gig­
keit, insbesondere bei Drogenabhängigkeit, überschwemmt Dopa­
min das System bei jeder Einnahme von Drogen, was die Erinnerung
verstärkt und andere Reize weiter in den Hintergrund rücken lässt.
Tierstudien zeigen, dass Drogen wie Kokain und Amphetamin die
Dendriten im Nucleus accumbens wachsen und gedeihen lassen und
somit ihre sy­­naptischen Verbindungen erhöhen. Die Veränderungen
können Monate, vielleicht sogar Jahre be­stehen bleiben, nachdem
die Drogen ab­gesetzt wurden. Dies erklärt, warum die Betroffenen
so leicht rückfällig werden. Bei einer Abhän­gigkeit könnte man auch
sagen, dass das Gehirn etwas zu gut gelernt hat. Diese Anpassungen
führen zu einem Teufels­­kreis, bei dem die Basalganglien auf Auto­pilot
gestellt werden, wann immer Sie Brathähnchen riechen, und zugleich
kann sich der prä­fron­tale Cortex bei dem, was Sie tun, partout nicht
durchsetzen, auch wenn Sie es vielleicht besser wissen.
Eine der Verantwortlichkeiten des präfrontalen Cortex ist, Risiko
versus Belohnung einzuschätzen und zu entscheiden, ob ein Ver­
hal­ten gehemmt werden soll, das Schaden verursachen kann. Bei
Abhängigen geht es nicht so sehr darum, dass sie schlechte Ent­schei­
dungen treffen, sondern dass es ihnen nicht gelingt, ein Verhalten zu
hemmen, das zum Reflex geworden ist. Aus Studien über Tiere und
Menschen wissen wir, dass Kokain beispielsweise Nervenzellen im
präfrontalen Cortex schädigt und sogar die graue Substanz reduziert.
Und Untersuchungen von Aufnahmen des Gehirns haben in den
letzten Jahren gezeigt, dass der präfrontale Cortex sich erst voll entwickelt, wenn wir weit in den Zwanzi­gern sind. Dies könnte erklären,
warum die meisten Personen, die mit Drogen experimentieren und
abhängig werden, dies als Teenager oder im frühen Erwachsenenalter
tun, wenn diese Hemmung noch nicht voll entwickelt ist. „Sie haben
schlussendlich ein hypersensibles System, das sich Drogen wünscht,
211
Kapitel 7: Abhängigkeit
und sie treffen sehr schlechte Entscheidungen“, sagt Robinson. „Es
ist die schlimmste von zwei möglichen Varianten.“
Wieder auf die Füße kommen
Es gibt nichts, was die Entwicklung der Hemmung eines TeenagerGehirns so beschleunigt, wie wenn er vor einem Richter zu erscheinen hat. Rusty, einer meiner Patienten, wäre vielleicht als Drogen­
abhängiger geendet, aber die Aussicht auf drei Jahre im Gefängnis
schreckte ihn dermaßen ab, dass er sein Verhalten änderte. Und die
Routine sportlicher Aktivitäten, die er in dem Zuge entwickelte, ist
der Grund, warum er heute wieder auf dem richtigen Weg ist.
Ich begann Rusty im Sommer nach seinem zweiten Jahr auf der
High­school zu behandeln, wenige Monate, nachdem er wegen eines
Sui­zid­versuchs in eine Klinik eingewiesen worden war. Er fühlte sich
einsam und ausgestoßen und hatte jede Menge heimlich gesammelter Pillen mit einem großen Glas Pfirsichschnapps geschluckt. In der
Schule schnitt er bei schriftlichen Tests gut ab, hatte aber dennoch
aufgrund verschiedener Defizite in seinen mündlichen Leistungen
und anderen Bereichen schlechte Noten, und er konnte auf eine
Reihe von Wutanfällen zurückblicken –, aber er hatte überhaupt keine Freunde. Mir war klar, dass er an einem Aufmerksamkeitsdefizit
litt, in Kombination mit ziemlich schweren Symptomen einer sozialen Legasthenie, wie ich sie bezeichne, das heißt, er wusste nicht,
wie er mit anderen reden oder im Gespräch entspannt oder flexibel
sein konnte. Rustys Strategie cool zu sein und Freunde zu finden,
bestand darin, sich ganz in Schwarz zu kleiden und Mari­huana zu
verkaufen, das er selbst züchtete.
Ich verordnete ihm ein lang wirkendes Stimulans – ein Medika­
ment, das er nicht missbrauchen konnte – gegen ADHS. Er verbesserte seine Noten etwas und schnitt im Frühjahr seines dritten
Jahres an der Highschool bei den Schuleignungstests sehr gut ab.
Dennoch, wann immer er sich gelangweilt oder verloren fühlte,
nahm er alles, was er in die Hände bekommen konnte, von Kokain
bis hin zu Hustensaft. Als er in seinem dritten Highschool-Jahr eines
212
Die Biologie der Selbstkontrolle mobilisieren
Nachmittags allein zu Hause war, verursachte eine Überdosis Kokain
eine Panikattacke und er wählte den Notruf. Der Rettungswagen kam
sofort – zusammen mit der Polizei, die in seinem Zimmer Drogen
fand. Wegen des Besitzes und beabsichtigten Vertriebs von Drogen
wurde er verhaftet und verbrachte die Nacht im Gefängnis.
Ein Gerichtstermin wurde angesetzt, der vier Monate später
statt­finden sollte. Rustys Anwalt und ich arbeiteten einen Behand­
lungs­plan für ihn aus – er musste jede Woche zwei Drogen­tests machen und an einem Treffen der Anonymen Alkoholiker und der
Ano­ny­men Drogen­süch­ti­gen teilnehmen. Er wusste, zumindest bis
zu seinem Erscheinen vor Gericht musste er clean bleiben. Es dauerte jedoch nicht lange, bis bei ihm ein heftiges Verlangen nach Ko­
kain einsetzte. Sein Anwalt erklärte ihm, er würde wahrscheinlich
die Höchststrafe von drei Jahren Ge­fängnis bekommen, und Rusty
wünschte sich verzweifelt Hilfe. Unse­re vordringlichste Aufgabe war
also zunächst, seinem heftigen Ver­­langen nach Kokain etwas entgegenzusetzen. Ich erklärte Rusty, dass sportliche Aktivitäten eine
enorme Wirkung haben konnten. Er mochte jedoch weder Laufen
noch sonstige Sportarten, und abgesehen von etwas Fußballspielen
als Kind, war er im Grunde inaktiv.
Ich war gerade von meinem ersten Besuch in Naperville zurück­ge­
kehrt und vielleicht lag es an der Art, wie er sich anzog, dass ich an ein
Mädchen denken musste, das auch auf diesen Grufti-Stil stand und
sich durch Dance Dance Revolution wirklich verwandelt hatte. Dabei
handelt es sich um jenes interaktive Videospiel, bei dem der Spieler
die Hand­lung auf dem Bildschirm kontrolliert, indem er auf einer
Matte tanzt, die mit dem Bildschirm verbunden ist. Die Fußarbeit,
die dazu erforderlich ist, ist schon beim Zuschauen anstrengend und
ähnelt dem stra­pa­ziö­sen Drill, den Fußballspieler zu absolvieren haben, nur, dass das Spiel mit jeder Stufe schneller wird.
Rusty willigte ein, es zu versuchen. Obwohl er sich am Anfang
etwas unbeholfen fühlte, fing er doch an, es zu genießen. Es dämpfte seine Suchterscheinungen fast sofort, wie er sagte. Da er in jenem Sommer nicht viel zu tun hatte, außer sich zu sorgen, ob er im
Gefängnis landen würde, nutzte er das Spiel, um sich zu beschäftigen und sich selbst „medizinisch zu behandeln“. Sich vor Langeweile
zu schützen, ist von entscheidender Bedeutung, da jeder Leerlauf
213
Kapitel 7: Abhängigkeit
oder jede Phase, in der man nichts mit sich anzufangen weiß, für
jemanden, der gegen die Ge­wohn­heit des Drogenkonsum kämpft,
gefährlich ist.
Rusty gelangte an den Punkt, dass er jeweils morgens und abends
mehrere Stunden Dance Dance Revolution spielte. Ich sah, dass sein
Energiepegel und sein Optimismus zunahmen. Ich schrieb einen
Brief an den Richter und Rusty erhielt eine Bewährungsstrafe statt
einer Haft­strafe, mit der Auflage, dass er sich weiterhin Drogentests
unterzog, zu den Anonymen Drogensüchtigen und zur Beratung am
College ging. Er nahm seine Dance Dance Revolution-Anlage mit
und spielte weiterhin jeden Tag für eine gewisse Zeit. Dann schloss
er sich einer Fußballmannschaft an der Highschool an und begann
regelmäßig in die Turnhalle zu gehen.
Sport war für Rusty ein Kanal, um seinen Fokus auf ein produktiveres Leben zu verlagern. Meines Erachtens sind sportliche
Aktivitäten ein Weg, um Gefühle der Hoffnungslosigkeit und Nutz­
lo­sig­keit zu bekämpfen, die viele Drogenkonsumenten haben, und
dies war mit Sicherheit ein Punkt bei Rusty. Durch die Routine und
die körperliche Aktivität wird das Gehirn in Anspruch genommen
und der Geist bewegt sich in eine andere Richtung. Dadurch denkt
er nicht mehr nur an die Droge, sodass die Basalganglien umprogrammiert und mit einem alternativen reflexiven Verhalten „verkabelt“ werden können. Viele ziehen sich einfach auf die Couch zurück
und geben auf. Wenn man jedoch in Bewegung ist, so stärkt dies das
Gefühl, dass man etwas erreichen kann.
Der Arzt Gene-Jack Wang, einer der führenden Suchtforscher in
den Vereinigten Staaten und Vorsitzender der Medizinischen Fakultät
des Brookhaven National Laboratory, hat einen philosophischen An­
satz. „In der chinesischen Sprache ist das Subjekt ein Lebewesen, und
ein Objekt ist eine Pflanze“, sagt er. „Man kann eine Pflanze nicht auf­
for­dern, von hier nach dort zu springen. Wenn man sich nicht bewegt,
ist man kein Lebewesen mehr – man wird zur Pflanze!“
Bei den Marathonläufern des Odyssey House ist dies mit Sicher­
heit ein Punkt. Aber selbst bei einem weniger schwer wiegenden Fall,
wie bei Rusty, war es so, dass die Dance-Dance-Revolution-Übung
die Trost­lo­sig­keit aus seiner Sicht der Zukunft verjagt hatte. Auch
wenn die meisten Erfahrungen im Vergleich zu dem Hochgefühl
214
Die Biologie der Selbstkontrolle mobilisieren
beim Kokain-Schnup­fen verblassen, kann die Aussicht auf ein reiches, mehrdimensionales Leben helfen, diese Erinnerung nicht aus
den Augen zu verlieren.
Inzwischen ist Rusty in seinem zweiten Jahr auf dem College. Er
hat gute Noten und ist mit einem Mädchen zusammen, das ebenfalls
fest entschlossen ist, clean zu bleiben. In seinem Studentenwohnheim
hat er eine Führungsrolle übernommen, hat mit Bergsteigen angefangen und spielt auch weiterhin Fußball. Er hat sogar das Sporttauchen
begonnen, eine Familienaktivität, die er in der Vergangenheit gemieden hatte. Nach einem kürzlichen Tauchurlaub erzählte er mir,
dass es ihn immer wieder erstaunt zu sehen, wie reich und bunt das
natürliche Leben sein kann.
Süchtig nach einem Schuss Dopamin
Was Rusty schließlich sieht, nämlich dass er ohne Drogen Freude
finden kann, ist entscheidend, um dem Drang zu widerstehen. Wenn
man mit Schwerstabhängigen spricht, bekommt man oft zu hören,
dass sie den meisten Dingen gegenüber abgestumpft sind. Natürlich
befriedigende Formen der Stimulation wie Liebe, Essen und soziale
Interaktion verblassen angesichts der eindringlichen Erfahrung mit
der Droge. Das normale Leben hat dies nicht zu bieten – und deshalb
können sie es nicht fühlen.
Bei manchen Personen ist dies einfach angeboren. Eine bahn­bre­
chen­de Studie offenbarte 1990 beispielsweise, dass viele Alkoholiker
eine Gen-Variation haben (D2R2-Allel), wodurch Do­pa­min-Rezep­
to­ren in ihrem Belohnungszentrum abgebaut und so der Spiegel
dieses Neurotransmitters sinkt. Das Vorhandensein des D2R2Allels bedeutet zwar nicht unbedingt, dass Sie suchtkrank werden, aber die Wahr­­scheinlichkeit ist größer. Während 25 Prozent
der allgemeinen Be­­­völ­kerung mit dieser Gen-Variation leben, haben Forscher sie in einer Studie mit Alkoholikern bei 70 Pro­zent
der Teilnehmer nachgewiesen, die eine Zirrhose hatten – vermut­
lich also Schwerstabhängige, da sie trotz der lebensbedrohlichen
Leberschädigung weiter tranken. Bei einer anschließen­den Studie
215
Kapitel 7: Abhängigkeit
über Kokainabhängige wurde das D2R2­-Allel bei der Hälfte der
Betroffenen nachgewiesen, und bei 80 Pro­zent derjenigen, die auch
andere Drogen konsumierten, wurde es ebenfalls gefunden. Die
Untersuchungsergebnisse von Spielern und krank­haft Über­ge­w ich­
ti­gen erzählen eine ähnliche Geschichte: Bei etwa der Hälfte wurde die Gen-Variation nachgewiesen, aber wenn noch andere sucht­
artige Verhaltensweisen mit ins Spiel kamen, lag die „Treffer­quote“
eher bei 80 Prozent. Forscher prägten für dieses Pro­blem den Begriff
„Belohnungsdefizitsyndrom“, und die Medien erklär­ten, Wissen­
schaft­ler hätten das „Alkoholiker-Gen“ gefunden.
So einfach ist es leider nicht. Es steht jedoch außer Frage: Wenn
das Belohnungszentrum nicht genügend Input erhält, sind Sie genetisch prädisponiert, ständig heftig nach etwas zu verlangen, unentwegt nach einer Möglichkeit zu suchen, um dieses Defizit zu kompensieren. Ein Belohnungsdefizit untergräbt auch das Aufmerksamkeitsund das Stresssystem: Wenn Dopamin aus dem Gleichgewicht
gerät, kommt die Amygdala ins Spiel, weil sie denkt, das Überleben
sei gefährdet, und dies verstärkt wiederum das Streben, das Gehirn
zurück ins Gleich­gewicht zu bringen. Dies erklärt auch, warum so
viele Personen mit ADHS als „Stress-Junkies“ angesehen werden –
das Cortisol erhöht den Dopa­min-Spiegel schnell, sodass die Auf­
merk­samkeit sich verbessert. Es ist verständlich, dass dieses nagende
Gefühl – die Betroffenen sagen, sie fühlen sich innerlich hohl –, jemanden anfällig für suchtartige Verhaltensweisen macht, angefangen
vom Drogenkonsum über das Ver­schlingen von Schokolade bis hin
zum Spielen von Videospielen an 40 Stunden pro Woche.
Aber nur weil Sie ein Belohnungsdefizitsyndrom haben, bedeutet
dies nicht, dass Ihr Schicksal das Odyssey House ist. Es gibt Hun­
derte, wenn nicht Tausende von Faktoren, die eine Abhängigkeit beeinflussen, und der Trieb, etwas Neues und Aufregendes zu finden,
kann ebenso gut dazu führen, dass Menschen kühne Forscher, bilderstürmerische Künstler oder selbstständige Unternehmer werden.
Oder sie beschreiten Wege, wo es sehr geschätzt wird, sich über die
Grenzen der Konventionen hinwegzusetzen und die Welt mit völlig
anderen Augen zu sehen.
Es überrascht sicher nicht, dass Sportler, die risikoreiche Sport­ar­
ten wie Fallschirmspringen betreiben, weniger Hemmung und eher
216
Die Biologie der Selbstkontrolle mobilisieren
Ver­haltensweisen zeigen, die von der Suche nach Nervenkitzel geprägt sind, als beispielsweise Ruderer. Eine Studie jüngeren Datums
aus den Nie­der­­landen zeigte auch, dass viele Fallschirmspringer, genau wie Schwer­st­abhängige, aus dem typischen Alltagsleben keine Freude beziehen. Sowohl bei Fallschirmspringern als auch bei
Abhängigen ist die Er­re­gungsschwelle höher als im Normalfall,
aber ist dies die Ursache oder das Ergebnis des Dopamin fördernden Verhaltens?
Andere Forschungen zeigen, dass Drogen wie Kokain die D2-Re­
zeptoren schädigen, jene Rezeptoren, an die der Neurotransmitter
anbindet, um Salienz zu signalisieren. Wenn Sie Ihr Gehirn kontinuierlich mit Dopamin überfrachten, schrumpft die Anzahl der
Rezeptoren. Das heißt, egal wie Ihr Gehirn zum Zeitpunkt Ihrer
Geburt einmal aussah, je mehr Drogen Sie nehmen, desto mehr
Drogen brauchen Sie auch, um den gleichen Rausch zu empfinden.
Das Gleiche gilt für Personen, die übermäßig viel essen: „Sie brauchen mehr, mehr und immer mehr, damit sie sich gut fühlen“, sagt
Gene-Jack Wang vom Brookhaven Na­tional Laboratory.
Den Drang bekämpfen,
die Gewohnheit abschütteln
Eine 2004 in London veröffentlichte Studie zeigte, dass bereits eine
zehnminütige sportliche Aktivität das heftige Verlangen eines Al­
ko­ho­likers abschwächen könnten. Die Forscher teilten 40 Klinik­
pa­tien­ten, die gerade ein Entgiftungsprogramm hinter sich hatten,
in zwei Gruppen ein: Eine Gruppe wurde angewiesen, mit mäßiger
Intensität auf dem Heimtrainer Rad zu fahren, und die andere sollte das Gleiche mit leichter Intensität tun. Am nächsten Tag tauschten sie die Gruppen aus und stellten fest, dass intensive körperliche Bewegung den Drang nach einem Schluck erheblich reduzierte.
Genau das erlebte auch meine Patientin Susan aus Kapitel 3, die ihr
Sprungseil nutzte, um den stressbedingten Drang abzuwehren, mitten am Tag Wein zu trinken.
217
Kapitel 7: Abhängigkeit
Die Biologie von Stress ist insofern mit der Abhängigkeit verknüpft,
als dass der Körper bei Entzug auf den Überlebensmodus umschaltet.
Wenn Sie zum Beispiel plötzlich mit dem Trinken aufhören, drehen
Sie das Dopamin-Ventil zu, und die HPA-Achse (Hypothalamus über
die Hirnanhangdrüse zur Nebenniere) gerät aus dem Gleichgewicht.
Die starken Entzugsbeschwerden dauern nur wenige Tage an, Ihr
System bleibt jedoch wesentlich länger sensibel. Wenn Sie in diesem prekären Zustand sind und unter zusätzlichen Stress geraten,
interpretiert Ihr Gehirn die Situation als Notfall und lässt Sie nach
Alkohol suchen. Das ist der Grund, warum ein Problem bei der
Arbeit oder ein Streit mit einem Freund einen Rückfall verursachen kann. Für jemanden, der drogenabhängig (gewesen) ist und
sein Dopamin-System verändert hat, ist die effektivste Lösung für
eine stressige Situation – und die Einzige, die er kennt – die Droge.
Bewegung ist jedoch eine weitere Lösung.
Bei Rauchern können bereits fünf Minuten intensive sportliche
Ak­­tivität nutzbringend sein. Nikotin fällt bei den suchterzeugenden Substanzen insofern aus dem Rahmen, als dass es gleichzeitig
sowohl an­regend als auch entspannend wirkt. Sportliche Aktivität
bekämpft den Drang zu rauchen, da sie nicht nur den DopaminSpiegel leicht er­höht, sondern auch Ängste, Spannungen und den
Stresspegel reduziert – die Gereiztheit, die Personen so grantig sein
lässt, wenn sie versuchen, mit dem Rauchen aufzuhören. Sportliche
Aktivitäten können Suchterscheinungen für 50 Minuten abwehren
und den Abstand bis zur nächsten Zigarette verdoppeln oder verdreifachen. Und hier kommt der Umstand ins Spiel, dass körperliche
Bewegung das Denken schärft, da zu den Entzugssymptomen von
Nikotin eine Beeinträchtigung des Kon­zen­tra­tions­vermögens gehört.
Als Beleg dafür stellte eine Studie fest, dass es an dem jährlich in den
USA ausgerufenen Nichtrauchertag („Great American Smokeout“)
mehr Arbeitsunfälle gibt als an jedem anderen Tag des Jahres. Viele
meiner ADHS-Patienten nutzen Zigaret­ten als Mittel, das ihnen
hilft, sich zu konzentrieren, wenn sie eine wich­tigere Aufgabe vor
sich haben, und ohne Nikotin fühlen sie sich ver­loren.
Manche Drogen lassen das Gehirn natürlich zunächst einmal abstumpfen. Im Rahmen einer neuen Studie von iranischen Forschern
wur­de kürzlich untersucht, welche Auswirkungen körperliche
218
Die Biologie der Selbstkontrolle mobilisieren
Be­we­gung bei Ratten hat, denen Morphium verabreicht wurde. Sie
gingen dabei von der Hypothese aus, dass körperliche Be­we­gung,
da sie den Do­­pa­min-Spiegel und die Plastizität in denselben Hirn­
regionen beein­flusst, die bei Abhängigkeit und Lernen involviert
sind, vielleicht dem Ge­dächt­nis­verlust entgegenwirken würde, der
mit dem High-Sein einhergeht. Die Wis­senschaftler konditionierten die Ratten, indem sie sie in eine dunkle Kiste steckten, in der
ihre Füße durch den Boden Strom­stöße erhielten. Dann führten sie
Nachfolgetests durch, um zu mes­sen, wie lange die Ratten brauchten,
um zu einer anderen Kiste zu gehen, die harmlos, aber hell erleuchtet
war (Nagetiere bevorzugen die Dun­kel­heit).
Die Ratten wurden in vier Gruppen unterteilt: Eine Gruppe lief
auf einem Laufband und erhielt vor jedem Versuch eine Mor­phium­
gabe; eine andere lief ebenfalls auf dem Laufband und erhielt eine
salzhaltige Placebo-Injektion; eine weitere erhielt Mor­phium, musste sich jedoch nicht körperlich betätigen; und eine Kon­troll­gruppe
erhielt weder eine Injektion noch bewegte sie sich. Die Ratten der
beiden Gruppen, die sich körperlich betätigten, erinnerten sich, dass
die dunkle Kiste böse Überraschungen bereithielt: Sie zögerten am
längsten, sie zu betreten, und verließen sie am schnellsten, wenn sie
die Stromstöße erhielten. Erstaunlich war, dass die Gruppe, die sich
sowohl körperlich betätigte als auch Morphium erhielt, besser ab­
schnitt als die Kontrollgruppe, was darauf hinweist, dass die körper­
liche Betätigung die den Geist abstumpfenden Effekte der Droge
kom­pensierte.
In derselben Studie stellten die Forscher fest, dass die körperliche Betätigung in der Gruppe, die sich sowohl bewegte als auch
Morphium erhielt, die Entzugssymptome drastisch reduzierte, wenn
die Droge abgesetzt wurde – bei Ratten zeigt sich der Entzug in der
Form, dass sie sich wie ein nasser Hund schütteln, sich um die eigene Achse drehen, sich winden und Durchfall bekommen. Diese
Tatsache allein sollte genügen, um einen genesenden Abhängigen zu
überzeugen, sich die Lauf­schuhe anzuziehen, und sie untermauert
wissenschaftlich den Be­hand­lungsansatz des Odyssey House.
219
Kapitel 7: Abhängigkeit
Das Märchen von der Abhängigkeit
Ich habe im Laufe der Jahre viele Personen mit dem Belohnungs­de­fi­
zitsyndrom gesehen. Das dramatischste Beispiel ist eine Holländerin,
die ich Zoe nenne, die an schwerem ADHS leidet und eine turbulente Geschichte von Depression, Aggression und Drogenmissbrauch
unterschiedlichster Art hat. Anzumerken ist vor allem, dass sie 20
Jahre lang chronische Marihuana-Raucherin und der Überzeugung
war, dass die Selbstmedikation der einzige Weg für sie sein konnte,
ruhig und konzentriert zu sein.
In Wirklichkeit versuchte sie, die Frustration und Wut aus ihrem
Leben zu verbannen. Als Kind, erzählte Zoe mir, sei sie streitsüchtig
gewesen und habe gravierende Lernprobleme gehabt. Inzwischen ist
sie 40 und immer noch anfällig für Wutanfälle und Ängste. Einmal,
als sie für einen Besuch nach Boston fliegen wollte, hatte sie in eine
Panikattacke und zwang das Flugzeug, nach Amsterdam zurückzukehren.
Zoe brauchte 13 Jahre, um das College zu absolvieren, was selbst
für ihr Fach, die Veterinärmedizin, sehr lang war. Dies lag zum Teil
auch daran, dass bei ihr erst im Alter von 27 Jahren ADHS diagnostiziert wurde. Ihr wurde Ritalin verschrieben, erst musste sie jedoch
noch in eine Entzugsklinik gehen, um von dem Marihuana wegzukommen. „Ich rauch­te zehn bis 20 Joints am Tag“, erinnert sie sich.
„Als ich dort war, fühl­te ich mich wie ein wildes Tier in einem Käfig.“
Etwa ein Jahr lang hör­te sie auf, Marihuana zu rauchen, wurde dann
jedoch wieder rückfällig und fiel bald in ihre alte Gewohnheit zurück und war den ganzen Tag über high (während sie auch Ritalin
und Antidepressiva nahm).
Obwohl sie in ihrem Beruf eine gute Stelle in einer hohen Position
fand, hing sie in den ersten zehn Jahren nach dem College durch
und hörte in vielerlei Hinsicht auf, sich weiter zu entwickeln. Da sie
ständig so getrieben davon war, eine sofortige Belohnung zu finden,
setzte sie sich keine Ziele und entwickelte keine Strategien, um im
Leben vorwärtszukommen. Sie klagte oft, dass sie das Gefühl habe,
das Leben sei nicht lebenswert. Marihuana zu rauchen, sagt sie, hielt
sie davon ab, über die Tatsache nachzudenken, dass sie eigentlich
unglücklich und unzufrieden war.
220
Die Biologie der Selbstkontrolle mobilisieren
Sie hatte immer sporadisch Sport getrieben – Radfahren, Segeln und
Reiten. Ich sprach jedoch das Thema an, dass es gut wäre, regelmäßig etwas zu tun. Ich appellierte an ihre medizinischen Kennt­nisse
und erklärte, wie sportliche Aktivitäten ihre Hirnchemie verändern
und die Verbindungen neu verdrahten konnten, die ihre Stimmung,
Aggression und Aufmerksamkeit sowie ihre Sucht kontrollierten.
Nachdem sie einige der Studien gelesen hatte, über die ich in diesem
Buch schreibe, nahm sie sich fest vor, täglich Sport zu treiben, und sie
gab ihr Marihuana-Rauchen erneut auf. „Es gab keine Alternative“,
sagt sie. „Ich musste etwas tun.“
Was sie machte, war sich einen Indoor-Radtrainer von der Sorte
zu besorgen, wie Radsportler ihn nutzen, um ihr Gleichgewicht und
ihre Ausdauer zu verbessern – während man in die Pedale tritt, laufen die Räder auf freidrehenden Rollen, sodass man sich der Mög­
lichkeit nur zu bewusst ist, dass man abrutschen und quer durch den
Raum segeln kann. Ich bin nicht sicher, wie Zoe mit dieser höchst
anspruchsvollen Form sportlicher Aktivität zurechtkam, aber sie
funktionierte in jedem Fall ausgesprochen gut. Durch das Gleich­
gewicht und die Präzision, die erforderlich sind, um auf den Rollen
zu bleiben, wird das ganze Aufmerksamkeitssystem in An­spruch
genommen, von den motorischen Zentren des Kleinhirns und der
Basalganglien bis hin zum Belohnungszentrum und zum präfrontalen Cortex. „Zuerst hasste ich es, weil man damit nicht vom Fleck
kommt“, sagt sie. „Aber jetzt bin ich sehr geschickt darin, und ich
spüre den nutzbringenden Effekt, weil ich mich dabei konzentrieren
muss und mich auch sportlich betätige. Es ist aufregend, weil man
natürlich nicht herunterfallen möchte.“
Als ob es für sie noch nicht schwierig genug gewesen wäre, sich
das Marihuana-Rauchen abzugewöhnen, verließ ihr Mann sie auch
noch, als sie mitten in ihren Abgewöhnungskämpfen steckte, und
das unmittelbar vor Weihnachten. Ich machte mir Sorgen um sie
und sie sich selbst auch. „Im Winter wird es in Holland kalt und
sehr dunkel“, schrieb sie in einer E-Mail. „Ich hatte solche Angst,
dass ich wieder eine Depression bekommen und mit dem Marihuana
anfangen würde, aber ich bin weder rückfällig noch depressiv geworden. Die Veränderung kommt durch den Unterschied, sich wie
ein Verlierer (Rauchen) oder wie ein Gewinner (Sport) zu fühlen.“
221
Kapitel 7: Abhängigkeit
Zoes Genesung ist anstrengend, wie bei jedem Langzeit-Dro­gen­kon­­
sumenten. Aber sie ist mit Sicherheit auf dem richtigen Weg. Sie hält
mich regelmäßig auf dem Laufenden, was ihre Versuche angeht, ihren eigenen Streckenrekord auf dem Radtrainer zu brechen, und sie
hat auch mit dem Seilspringen angefangen. Hier ist ein Schnipsel aus
ihren für gewöhnlich sehr lebendigen Mitteilungen: „Ich bin gerade
zehn Minuten Seil gesprungen, Herzfrequenz 140, anstrengend, aber
ich musste es tun. Es tut so GUT, weil man sich nach zehn Minuten
so fühlt wie nach einer halben Stunde Radfahren! Vielleicht mache
ich damit weiter – es ist eine SCHNELLE BELOHNUNG!!! Es ist der
Sport, nach dem ich heute süchtig bin.“
Ein natürliches Hochgefühl
Mancher würde sicher gerne darüber diskutieren, ob Zoe überhaupt
süch­tig nach Marihuana war, in jedem Fall steht jedoch fest, dass
sie abhängig davon war. Sie hatte alle Anzeichen einer chemischen
Ab­hän­gig­keit, einschließlich der physischen und psychischen entzugsbedingten Ge­­reizt­heit.
Aus Studien über Ratten geht hervor, dass sie sich an eine ständig
verabreichte Dosis Tetrahydrocannabinol (THC), den aktiven Wirk­
stoff in Marihuana, gewöhnen. Wenn er ihnen dann wieder entzogen
wird, überschwemmt das Gehirn das System mit dem Cortico­tro­
pin-freisetzenden Faktor (CRF), der die Amygdala und somit das
ganze Stresssystem aktiviert. Die Folgen äußern sich in Form von
Schütteln, Zittern und unruhigen, nervösen Bewegungen, die etwa
48 Stunden nach der letzten Dosis ihren Höhepunkt erreichen.
Zoe fühlte sich wie eine Ratte im Käfig, als sie den Entzug durchmachte: Neben den physischen Symptomen bewirkte das Abschal­
ten des Dopamin-Systems, dass sie unter starken Gefühlen der De­
pression und Angst zu leiden hatte. Sportliche Aktivitäten schwächen
die Ent­zugs­symptome ab, indem sie die Amygdala beruhigen und
den Dopa­min-Spiegel erhöhen.
Unabhängig davon, ob es so etwas wie eine Marihuana-Ab­­hän­­
gig­keit gibt, haben Untersuchungen über die Wirkung von THC auf
222
Die Biologie der Selbstkontrolle mobilisieren
das Gehirn jedenfalls neue Hinweise geliefert, wie sport­liche Ak­ti­
vi­täten Ab­hängig­­keiten jedweder Art entgegenwirken. Das Gefühl,
das sich oft nach der Aktivi­tät einstellt, kann zunächst einmal als
harm­loser Er­satz für das Drogen-High dienen. In einer kürzlich im
British Jour­nal of Sports Medicine veröffentlichten Studie schrieb
der Forscher Arne Diet­rich, dass die Art und Weise, wie das „Run­
ner’s High“ von Läufern beschrieben wird, „vergleichbar sei mit den
Schilde­run­gen einer verzerrten Wahrnehmung, atypischer Gedan­
ken­muster, eines ge­trübten Bewusstseins von der eigenen Um­ge­
bung, eines ver­stärkten in­tro­spek­tiven Verständnisses des eigenen
Identitäts­ge­f ühls und eines psy­chischen Status von Personen, die
Drogen- oder Trance-Zustände be­schreiben.“
Mit dem „Runner’s High“ beschäftigen wir uns seit drei Jahr­
zehn­ten, und in den letzten Jahren haben wir den Fokus über die
Endorphi­ne hinaus erweitert, wonach nunmehr auch Endo­canna­
bi­noide, eine Klas­se von Neurotransmittern, in den Mittel­punkt des
Interesses gerückt sind. Das Verhältnis zwischen Endocannabinoi­
den und THC ist ver­g leich­bar mit dem zwischen Endorphinen und
Mor­phium. Es handelt sich dabei um Substanzen, die im Körper
produziert werden und den glei­chen Effekt wie eine Droge hervorrufen. Gleichermaßen dämpfen beide Schmerzen.
Anfang der 1990er-Jahre haben Wissenschaftler die Endocan­na­
bi­noide entdeckt, nachdem sie festgestellt hatten, dass THC an spezialisierte Rezeptoren im Gehirn anbindet. Diese Rezeptoren wurden
im Zuge der Evolution ganz offensichtlich nicht dafür entwickelt,
um Marihuana zu rauchen, sodass es eine natürliche Substanz geben musste, die der Körper für sie produziert. Was sie fanden, waren
die Neu­rotransmitter Anandamid und 2-Arachidonylethanolamid
(2-AG). Wie sich herausstellte, werden die gleichen Rezeptoren im
Gehirn durch Ma­ri­huana, körperliche Aktivitäten und Schokolade
aktiviert.
Diese beiden Endocannabinoide werden im Körper und im Ge­­hirn
produziert, wenn wir uns sportlich betätigen. Sie werden über das Blut
transportiert und gelangen so zu den Rezeptoren im Rü­cken­­mark,
die sie aktivieren. Die Folge ist, dass Schmerzsignale blo­ckiert werden
und so verhindert wird, dass diese zum Gehirn gelangen (ähnlich wie
bei Morphium). Sie sind auch im gesamten Belohnungssystem und
223
Kapitel 7: Abhängigkeit
im präfrontalen Cortex zu finden, wo sie direkten Einfluss auf Dopa­
min haben. Wenn die Endocannabinoid-Re­zep­toren stark aktiviert
werden, produzieren sie all die euphorischen Gefühle, die Marihuana
hervorruft, und zusammen mit En­dor­phinen wirken sie wie ein extra
starkes, körpereigenes Aspirin.
Ärzte beginnen inzwischen, Anandamid zur Behandlung von
Schmerz­syndromen zu verwenden, wie chronische Müdigkeit und
Fi­bro­­­my­­al­gie; eine Reihe von Studien hat gezeigt, dass eine allmäh­
liche Er­höhung sportlicher Aktivitäten den Schmerz und die Müdig­
keit lin­dern können, die mit diesen Syndromen einhergehen. Die
Ver­bin­dung zwischen sportlichen Aktivitäten und diesen natürlichen Schmerz­mitteln ist absolut einleuchtend: Sie wurden im Zuge
der Evolu­tion entwickelt, um uns zu helfen, mit dem unausweichlichen Schmerz der Muskel- und Gelenkbelastungen bei der Jagd
fertig zu werden.
Im Gegensatz zu Endorphinen können Endocannabinoide die
Blut-Hirn-Schranke problemlos überqueren, wodurch sie für manche
For­scher eine plausiblere Erklärung für das „Runner’s High“ sind.
2003 wies eine Forschergruppe unter der Leitung des Psychologen
Philip Spar­­ling von der Georgia Tech University zum ersten Mal
nach, dass sport­liche Aktivitäten das Endocannabinoid-System aktivieren. Bei körper­lich fit­ten, männlichen College-Studenten, die
entweder 50 Minuten bei 70 bis 80 Prozent ihrer maximalen Herz­
fre­quenz auf Laufbändern liefen oder auf Heimtrainern Rad fuhren,
maßen die Forscher, wie die körper­liche Anstrengung den Blutspiegel
von Anandamid beeinflusste. Das Er­geb­nis? Die Anandomid-Werte
verdoppelten sich nahezu.
Es ist schwierig, das „Runner’s High“ selbst zu untersuchen, da
es so unvorhersehbar ist. Nicht einmal Marathonläufer erleben das
Gefühl jedes Mal, wenn sie trainieren. Und warum gibt es dann nicht
auch so etwas wie ein Schwimmer-High? Eine faszinierende Theorie
geht von der relativ neuen Erkenntnis aus, dass es EndocannabinoidRezeptoren in der Haut gibt, die vielleicht nur durch das heftige
Auf­treten und die Erschütterungen beim Laufen aktiviert werden.
Un­geachtet dessen, ob jenes leichte Delirium des „Runner’s High“
eintritt, besagt Sparlings Arbeit klar, dass der Anstieg des Anan­da­
mid-Spiegels zumindest ein Grund ist, warum wir uns nach einer
224
Die Biologie der Selbstkontrolle mobilisieren
mäßig intensiven sportlichen Aktivität entspannt und zufrieden
fühlen. Die Wissenschaftler diskutieren allerdings noch, ob auch
Endorphine mit im Spiel sind; und es sieht so aus, als ob es sich
bei dem Gesamteffekt wahrscheinlich um eine Kombination dieser
Faktoren handelt.
Süchtig nach dem guten Zeug
Wenn sportliche Aktivitäten die gleiche Wirkung wie bestimmte
Dro­gen im Gehirn haben, fragen Sie sich vielleicht, ob sie auch süchtig machen können. Diese Frage wird mir immer wieder gestellt, und
die Antwort ist kurz und knapp: Ja. Aber deswegen müssen Sie sich
keine Sorgen machen.
Wissenschaftler haben die Sucht nach körperlicher Bewegung bei
Ratten untersucht und festgestellt, dass sie etwa zehn Kilometer am
Tag zurücklegen und sich schließlich zu Tode laufen, wenn sie un­ein­
ge­­­­­s­chränkten Zugang zu einem Laufrad haben und nur eine Stunde
am Tag Futter bekommen. Sie lernen nicht, dass sie ihre ganze Nah­
rung während der einstündigen Fütterung aufnehmen müssen. Je
mehr sie laufen, desto weniger essen sie, und ihre Kalorienaufnahme
bleibt hinter dem Verbrauch durch ihre Leistung zurück. Das Laufen
macht sie genauso süchtig wie dies beispielsweise bei Kokain der Fall
wäre. Seltsamerweise funktioniert das Experiment nicht, wenn das
Laufrad durch ein Laufband ersetzt wird; vielleicht hat das „immerzu-der-nächsten-Sprosse-hinterjagen“ etwas, was die Ratten süch­
tig macht. Wie auch immer, das Laufrad ist jedenfalls eine perfek­te
Meta­pher für Sucht.
Die Gefahr, von sportlichen Aktivitäten abhängig zu werden, betrifft einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung, vor allem Mädchen
mit Ma­gersucht oder Personen mit einer Körperdysmorphen Störung
(KDS), einer psychischen Störung, bei der eine übermäßige Be­schäf­
ti­gung mit einem vermeintlichen Makel im Aussehen vorliegt. Sie essen zu­nehmend weniger, und wenn sie sich dann sportlich betätigen,
setzt bei ihnen ein Gefühl der Benommenheit und Erregtheit ein,
ein High, das den Teu­fels­k reis weiter verstärkt. Für eine kurze Zeit
225
Kapitel 7: Abhängigkeit
fühlen sie sich groß­ar­tig, und sie glauben, auf dem besten Weg zu
sein, bald toll auszu­sehen. Mit ihrem Ansatz werden sie dies jedoch
nie erreichen. Für die über­­wie­gen­de Mehrzahl der Bevölkerung ist
diese Falle jedoch keine große Gefahr. Selbst wenn Sport zur Sucht
wird – wie es beispielsweise bei Zoe der Fall sein könnte –, braucht
man sich keine großen Sorgen zu machen.
Ich könnte mir kein besseres Beispiel für jemanden mit einer
Sport­abhängigkeit vorstellen als den Ultra-Marathonläufer Dean
Karna­zes, den 44-jährigen Kalifornier, der wegen seiner unvorstellbaren Leistung, an 50 Tagen 50 Marathons (in 50 verschiedenen
Bundesstaaten) zu laufen, in US-amerikanischen Fernsehsendungen
wie 60 Minutes und The Tonight Show aufgetreten und auf der Titel­
seite zahlloser Zeitschriften erschienen ist. Er lief auch mehr als 560
Kilometer ohne anzuhalten. Kaum weniger beeindruckend für mich
ist, dass in den letzten 15 Jah­ren der längste Zeitraum, in dem er
keinen Sport getrieben hat, drei Tage waren. „Ich hatte die Grippe“,
erinnert sich Karnazes. „Ich war immer noch krank. Aber dann sagte
ich schließlich: Scheiß drauf, ich muss einfach einen Lauf machen.“
Anfängern sei gesagt, dass seine Leis­tungs­fähigkeit etwas über die
ausgezeichnete Stärke seines Immun­sys­tems aussagt.
Karnazes saß an seinem 30. Geburtstag betrunken in einer Bar,
als er beschloss, in seinem Leben etwas zu ändern – und zwar sofort.
Er stolperte nach Hause, schnappte sich seine alten Laufschuhe und
lief rund 50 Kilometer in der Nacht. Er war kein Alkoholiker und
hatte nie etwas mit Drogen zu tun. Aber dennoch bleibt die Frage:
Hat dieser Mann ein Problem? „Zehn bis zwanzig Prozent der Zeit
denke ich, dass das Laufen eine Sucht ist“, sagt er. „Wonach ich mich
wirklich sehne, ist das Glücks- oder Sattheitsgefühl, das ich nach einem Lauf bekomme. Es gibt mir das Gefühl, ganz und vollständig
zu sein. Am meisten denke ich daran, wenn ich keinen Sport treiben
kann. Wenn ich im Auto, Zug oder Flugzeug unterwegs bin oder den
ganzen Tag in Besprechungen sitze, spüre ich, wie es an mir zerrt.
Ich frage mich: Warum implodiere ich gleich? Ich will raus aus meiner Haut hier. Dann wird mir klar, dass mein Körper sich bewegen
muss. Es ist fast ein Gefühl, wie in der Falle zu sitzen.“
Für Karnazes gibt es keine typische Woche. Aber er sagt, dass
er durchschnittlich 110 bis 140 Kilometer läuft, etwa drei bis vier
226
Die Biologie der Selbstkontrolle mobilisieren
Stunden täglich. Mit anderen Worten, er bewegt sich an nur einem
Tag mehr als die meisten US-Amerikaner in einer Woche. Dies erschreckt die Leute. Von Karnazes könnte man leicht das Bild eines
Monstrums zeichnen, und viele haben das getan. Wenn man sich
jedoch mit ihm unterhält, hat man den Eindruck, dass er trotz des
immensen Zeitaufwandes, den das Training verlangt, ein ausgeglichenes Leben führt. Er war mehr als zehn Jahre bei einigen der 500
größten Unternehmen des Landes angestellt, die jährlich von der
Zeitschrift Fortune vorgestellt werden, und wurde dann Präsident
eines Naturkost-Unternehmens, wobei er diesen Job vor einiger
Zeit jedoch an den Nagel gehängt hat, um Profisportler und Autor
zu werden (sein Buch Ultramarathon Man. Aus dem Leben eines
24-Stunden-Läufers ist ein Bestseller). Er hat zwei Kinder im Alter
von elf und neun Jahren, die er meistens abends zu Bett bringt und
jeden Tag zur Schule fährt und wieder abholt. In der Regel steht er
etwa um drei Uhr nachts auf, nachdem er vier oder fünf Stunden
geschlafen hat, um sein Training zu absolvieren, bevor er die Kinder
zur Schule bringt.
„Ich habe mein Leben um das Laufen herum so eingerichtet, dass
ich dieses Aktivitätsniveau halten kann“, sagt Karnazes. „Vielleicht
ist es eine Sucht – ich weiß es nicht; ich habe nie eine Psychoanalyse
gemacht. Ich höre einfach auf das, was mein Kopf und mein Körper
mir sagen. Ich spritze mir nichts in die Venen und springe auch nicht
jeden Abend nach der Arbeit in der Bar vorbei. Sport ist die ultimative Droge, oder? Welche Droge funktioniert schon immer und hat
keine ungesunden Nebenwirkungen?“
Die Leere füllen
Meine Patienten Rusty und Zoe sind inspirierende Beispiele von
Per­so­nen, die Sucht durch körperliche Aktivität ersetzt und einem
Übungs­pro­gramm in ihrem Leben einen festen Platz eingeräumt
haben, das eine gesunde Alternative zu der Vollzeitjagd nach Drogen
ist. Das Ge­hirn des Abhängigen passt sich, wie gesagt, auf jeder
Stufe so an, dass sich die ganze Aufmerksamkeit und Mühe darauf
227
Kapitel 7: Abhängigkeit
konzentriert, die Be­loh­nung zu bekommen. Das Gehirn funktioniert immer gleich, ob es um die Sucht nach Alkohol, Drogen, Essen,
Spielen oder einer anderen Su­bstanz oder um ein anderes Verhalten
geht. Je weiter die Sucht fort­schrei­tet, um so weniger Raum bleibt
für irgendetwas anderes im Leben.
Was bleibt, wenn ein Abhängiger sein Suchtverhalten aufgibt,
ist Leere. In dieser Hinsicht ist der Umgang mit Abhängigkeit vergleichbar mit der Bekämpfung von Ängsten und Depressionen: Die
Sucht aufzugeben, ist nur der erste Schritt. Sobald die Sucht oder
die negativen Emotionen verschwunden sind, muss die Leere mit
einem positiven Verhalten gefüllt werden, damit die Veränderung
Wurzeln schlagen kann. Dazu gibt es kaum eine bessere Option als
körperliche Bewegung. Nicht zuletzt ist es genau das, was wir von
Natur aus tun sollen – uns in der Welt zu bewegen.
Die Tatsache, dass körperliche Bewegung Ängsten und De­pres­
sio­nen direkt entgegenwirkt, kann gewaltigen Einfluss auf jede
Form der Ab­hängigkeit haben, da beide Stimmungszustände eine
Be­handlung untergraben. Ein Abhängiger, der seine Sucht aufgegeben hat und versucht, wieder auf die Beine zu kommen, sich dabei
aber ängstlich oder hoff­nungslos fühlt, läuft eher Gefahr, in seiner Entschlossenheit und Fähig­keit, damit aufzuhören, rückfällig
zu werden. Personen sind impulsiver, wenn sie sich elend fühlen.
Sowohl Krafttraining als auch aerobe Übungen reduzieren Symp­
tome der Depression bei Alkoholikern und Rauchern, die ihre Sucht
aufgegeben haben. Und, wie ich in Kapitel 3 aufgezeigt habe, je fitter Sie sind, desto widerstandsfähiger sind Sie. Wenn Sie flexibel im
Umgang mit Stress sind, ist es unwahrscheinlicher, dass Sie nach
einer Flasche Likör oder einem Beutel Chips oder einer Packung
Zigaretten greifen. Das Stresssystem unter Kontrolle zu halten, ist
im praktischen Sinne auch wichtig, um die physischen Symptome
des Entzugs zu verbessern, um diese ersten albtraumähnlichen Tage
zu überstehen.
Körperliche Bewegung wirkt auch den direkteren toxischen Effek­
ten der Abhängigkeit auf das Gehirn entgegen. Forscher, die das fötale Alkoholsyndrom untersucht haben, haben beispielsweise gezeigt,
dass die Entstehung neuer Hirnzellen im Hippocampus drastisch
reduziert wird, wenn ungeborene Ratten einem hohen Alkoholpegel
228
Die Biologie der Selbstkontrolle mobilisieren
ausgesetzt werden. Ebenso wird die Langzeit-Potenzierung (LTP)
zum Erliegen gebracht, der zellulare Mechanismus des Lernens und
der Erinnerung. Studien über erwachsene Ratten, die vor der Ge­
burt Alkohol ausgesetzt wurden, weisen darauf hin, dass diese Lern­
schwie­rigkeiten haben.
Die spannende Nachricht an dieser Front ist, dass sowohl körperliche Bewegung als auch Alkoholabstinenz die Schädigung nicht
nur stoppen, sondern auch umkehren – und so die Neurogenese erhöhen und den Hippocampus erwachsener Ratten wieder wachsen
lassen. Das Gleiche gilt sogar für ungeborene Ratten, wenn bei ihren
Müttern das Ethanol abgesetzt und ihnen die Möglichkeit gegeben
wird, zu laufen. Bei Menschen haben Forscher vor einiger Zeit nachgewiesen, dass bei Abstinenz ein Teil der neuronalen Schädigung,
die durch die pränatale Exposition gegenüber Alkohol verursacht
wurde, wieder rückgängig gemacht wird, und wir wissen bereits,
dass sportliche Betätigung das Gehirn des Alkoholikers durch eine
Erhöhung der Neurogenese wieder aufbaut.
Eine der Verbindungen, die ich hier sehe, ist jene zwischen Lernen
und mentaler Stärke insgesamt. Wenn das Gehirn flexibel ist, ist der
Geist stärker, und damit kommen wir zu einem Konzept, das als
Selbst­w irksamkeit bezeichnet wird. Selbstwirksamkeit ist schwierig
zu messen, aber sie hängt mit dem Vertrauen in unsere Fähigkeit
zusam­men, uns selbst zu verändern. Bei den meisten Abhängigen
ist es so, dass sie plötzlich das Gefühl haben, nichts mehr im Griff zu
haben, geschweige denn ihre Selbstkontrolle über ihre Abhängigkeit,
wenn sie aufhören, darüber nachzudenken, wie sie ihr Leben zerstören. Kör­perliche Bewegung kann indes starken Einfluss darauf haben, wie ein Ab­hängiger sich in Bezug auf sich selbst fühlt. Wenn er
etwas Neues hat, wie etwa sportliche Aktivitäten, wonach er strebt,
was Arbeit und En­gagement verlangt, und er schafft es, dies umzusetzen und beharrlich durchzuziehen, dann greift dieses Gefühl der
Selbstkontrolle auch auf andere Lebensbereiche über.
Eine Gruppe australischer Forscher brachte diese These unlängst
auf den Prüfstand. Bei 24 Studenten, die als Versuchspersonen dien­
ten, maßen sie den Effekt eines zweimonatigen sportlichen Ak­ti­v i­
täts­pro­gramms auf die Selbstregulierung – hierbei handelt es sich
um eine etwas andere Beschreibung der Selbstwirksamkeit. Die
229
Kapitel 7: Abhängigkeit
Studenten muss­ten alle zwei Wochen zwei psychologische Tests absolvieren und führten Tagebuch über ihre täglichen Gewohnheiten.
Die Ergebnisse der Stu­die, die 2006 im British Journal of Health and
Psychology veröffentlicht wurden, waren tief greifend. Abgesehen
vom besseren Abschneiden bei den beiden Tests, bei denen die intellektuelle Hemmung (Kontrolle) ge­messen wurde, berichteten die
Teilnehmer, dass eine ganze Reihe von Ver­hal­tensweisen, die mit
der Selbstregulierung zusammenhingen, sich zum Besseren gewendet hatten.
Sie erhöhten nicht nur stetig ihre Besuche im Fitnessraum, sie
berichteten auch, dass sie weniger rauchten, weniger Koffein und
Alkohol tranken, gesünderes Essen und weniger minderwertige
Fertigkost zu sich nahmen, impulsive und übermäßige Geld­aus­ga­
ben drosselten und weniger häufig die Beherrschung verloren. Sie
schoben weniger Dinge auf die lange Bank und hielten mehr Ver­
ab­redungen und Termine ein. Und sie ließen das Geschirr nicht im
Spülbecken stehen – na ja, wenigstens nicht mehr so oft.
Die Forscher charakterisierten die Selbstregulierung als eine Res­
source, die wie ein Muskel dezimiert, aber auch wieder aufgeladen
werden kann. Je mehr man diese Ressource gebraucht, desto stärker
wird sie. Und körperliche Bewegung ist mit Abstand die beste Form
der Selbstregulierung, die wir haben.
Die Kontrolle wiedergewinnen
Ich würde Ihnen nicht vorschlagen, sich das Trainingsprogramm
von Dean Karnazes zum Vorbild zu nehmen. Wenn Sie jedoch eine
Neigung zu suchtähnlichem Verhalten haben, ist es wichtig, irgendeine Form von beständiger sportlicher Gewohnheit zu entwickeln.
Wie viel sportliche Aktivität Sie brauchen, hängt natürlich davon ab, wie ernsthaft Ihr Suchtverhalten ist. Ich würde jedoch sagen, 30 Minuten anstrengende aerobe Übungen an fünf Tagen pro
Woche sind das nackte Minimum, wenn Sie eine Abhängigkeit besiegen möchten. Am Anfang ist es jedoch am besten, wenn Sie jeden Tag etwas tun können, da die sportliche Aktivität dafür sorgt,
230
Die Biologie der Selbstkontrolle mobilisieren
dass Sie beschäftigt sind und sich auf etwas Positives konzentrieren. Ich kenne sehr viele Menschen, die, wenn sie ihre Arbeit
verlieren, sich in Suchtverhalten vergraben. Das heißt, wenn Sie
arbeitslos sind, ist es von entscheidender Bedeutung, dass Sie stattdessen Ihr Übungsprogramm haben. Ich em­pfehle zwar oft, sich
morgens sportlich zu betätigen, sofern es jedoch Ihr Ziel ist, mit einer Gewohnheit zu brechen, wie etwa jeden Abend etwas zu trinken,
wenn Sie nach Hause kommen, dann ist das Übungs­pro­gramm am
Abend wahrscheinlich die bessere Strategie. Sie können den aero­ben
„Schuss“ für eine Art Rausch nutzen.
Gleichzeitig müssen Sie darauf achten, nicht zu übertreiben und
et­was zu finden, das Sie auch langfristig beibehalten können. Die Pa­
tien­ten, von denen ich Ihnen erzählt habe, haben alle die Erfahrung
ge­macht, dass aerobe Übungen eine starke Belohnung liefern, und sie
konnten jenes Gefühl der Befriedigung bei einer Vielzahl von Ak­ti­
vi­täten finden. Rusty konnte nicht die ganze Zeit sein Dance Dance
Re­vo­lu­tion-Spiel machen, so fing er wieder mit dem Fußballspielen
und über­dies auch mit dem Bergsteigen an. Zoe fing mit dem Radeln
auf dem In­door-Trainer an, aber sobald das Frühjahr kommt, geht
sie mit ihrem Rad nach draußen und fährt durch den Wald. Je mehr
Optionen Sie haben, desto eher sind Sie in der Lage, Ihr ganzes Leben
in irgendeiner Form weiterhin Sport zu treiben.
Wenn Sie es nicht gewohnt sind, sich sportlich zu betätigen, kann
es hilfreich sein, sich in einem Fitnessstudio anzumelden oder einen
persönlichen Trainer zu engagieren, da das Geld, das Sie dafür ausgeben, ein starker Motivator ist. Sofern Sie esssüchtig sind, versuchen
Sie es mit schnellem Gehen um den Block oder mit einigen Minuten
Seilspringen oder mit 30 Mal hintereinander den Hampelmann zu
machen – irgendetwas, das Ihren Geist aus dem Teufelskreis des
ständigen Denkens an die Belohnung ausbrechen lässt.
Es mag mehr als selbstverständlich klingen, körperliche Be­we­
gung als Weg zur Kontrolle Ihrer Essgewohnheiten vorzuschlagen.
Ihr Ge­w icht ist schließlich die Summe einer einfachen Formel:
die Anzahl der Kalorien, die Sie zu sich nehmen, abzüglich der
Anzahl, die Sie verbrennen. Es ist jedoch wichtig, sich vor Augen
zu halten, dass die nutzbrin­gen­den Effekte körperlicher Bewegung
weit über den physikalischen Aspekt des Kalorienverbrauchs
231
Kapitel 7: Abhängigkeit
hinausgehen. Das bei sportlicher Be­tä­ti­gung produzierte Dopamin
bindet an Re­zep­toren an und dämpft somit die Sucht. Und mit
der Zeit werden durch die Aktivität mehr D2-Re­zep­toren produziert, die das Gleichgewicht im Belohnungssystem wie­derherstellen.
Jemandem mit einem negativen Körperbild kann die Ver­la­gerung
der Schwerpunktsetzung vom Körper auf das Gehirn ein star­kes
neues Motivationsgefühl liefern.
Viele Menschen gehen davon aus, dass das eigentliche Problem
eines Abhängigen nur der Mangel an Motivation sei. Auf einer
Ebene stimmt dies. Was aber nur sehr wenige Menschen erkennen,
ist die Tat­sache, dass Motivation eine Funktion von Gehirnsignalen
ist, und dass diese Signale von zuverlässigen Botenstoffen und intakten Ner­ven­­bahnen abhängig sind. Wenn wir Abhängigkeit als
neurologische Feh­­lfunk­tion und nicht als moralisches Versagen sehen, haben wir es plötz­lich mit etwas zu tun, das „repariert“ werden kann. Es ist sicher keine einfache Aufgabe, sie wird jedoch viel
leichter, wenn wir körperliche Bewegung als Instrument nutzen,
das sehr vielseitig ist.
Körperliche Bewegung ist nicht unbedingt ein Heilmittel, sie ist
jedoch die einzige Behandlung, die ich kenne, die sowohl von oben
nach unten als auch von unten nach oben wirkt und dabei das Ge­
hirn so neu verdrahtet, dass das Muster der Abhängigkeit umgangen
und die Sucht gedrosselt wird. Versuchen Sie es. Vielleicht werden
Sie süchtig danach.
232
8. Hormonelle Veränderungen

Der Einfluss auf
die Gesundheit des
weiblichen Gehirns
H
ormone haben zeit unseres Lebens einen starken Einfluss darauf, wie unser Gehirn sich entwickelt, und ebenso auf unsere Gefühle, Verhaltensweisen und Persönlichkeitszüge. Nach der
Adoleszenz bleiben die Hormonspiegel bei Männern relativ beständig, während sie bei Frauen jedoch ständig schwanken. Jede Frau
reagiert anders auf diese permanenten Veränderungen, und dies
muss bei jeder Diskussion über die Gesundheit des Gehirns berück­
sichtigt werden. Körperliche Be­wegung ist für Frauen besonders
wichtig, da sie bei manchen die ne­ga­tiven Konsequenzen hormoneller Veränderungen dämpft und bei anderen das Positive fördert.
Körperliche Bewegung sorgt insgesamt dafür, dass das System im
Gleichgewicht ist, sowohl von einem Monat zum anderen, als auch
in jeder einzelnen Lebensphase, einschließlich Schwangerschaft und
Menopause.
Eine Frau erlebt im Durchschnitt in ihrem Leben 400 bis 500
Mens­truationszyklen mit Blutungen, die jeweils vier bis sieben Tage
dauern. Addiert man diese zusammen, kommt man auf über neun
Jahre – eine lange Zeit für Frauen, die unter dem prämenstruellen Syndrom (PMS) leiden. „Man kann nicht zickig, gereizt und
aufbrausend sein und gleichzeitig ein vernünftiges Leben führen“,
233
Kapitel 8: Hormonelle Veränderungen
sagt eine 38-jährige Kollegin, die ich Patty nenne. „Ich weiß, die
Feministinnen hassen es, wenn man das sagt, aber einige von uns
werden dann fast verrückt.“
Von Verrücktwerden würde ich zwar nicht sprechen, es erfasst jedoch durchaus treffend die Frustration, die viele Frauen empfinden,
wenn ihre Hormone die Kontrolle übernehmen. Etwa 75 Prozent der
Frauen erleben irgendeine Form prämenstrueller Beschwerden, physisch oder psychisch oder beides, und Patty gehört zu denjenigen, bei
denen die Symptome so gravierend sein können, dass ihr normaler
Lebens­rhythmus unterbrochen wird (14 Prozent können wegen PMS
an irgend­einem Punkt nicht zur Schule oder zur Arbeit gehen). Seit
ihrem 16. Lebensjahr ist Patty jeden Monat an den Tagen unmittelbar vor ihrer Periode müde, gereizt, missmutig, nervös, angespannt
und aggressiv. Sie hat Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren; nachts
wälzt sie sich immer wieder unruhig im Bett; und sie ist süchtig nach
Kohlenhydraten. Ihre Knöchel und ihr Bauch werden dicker, ihr
Gesicht ist von roten Flecken überzogen, sie leidet an Verstopfung,
und ihre Brüste schmerzen. „In dieser Zeit muss ich mich wirklich
zusammenreißen“, sagt sie. „In der Woche, bevor ich meine Periode
bekomme, muss ich an vier Tagen eine Stunde ein Herz-KreislaufTraining machen, oder ich kann mich selbst nicht ausstehen.“
Sie lernte von früh an, dass aerobe Übungen ihre Symptome
dras­tisch lindern. Patty, 1,78 Meter groß, mit auffallend rotem Haar
und einem strahlenden, breiten Lächeln, arbeitete seit ihrer Kindheit
bis sie Anfang zwanzig war für die Modelagentur Elite. Sie stand im
Grunde nicht auf Sport, absolvierte aber geradezu manisch seit ihrer Jugend­zeit ihr Übungsprogramm, manchmal drei Stunden am
Tag, um ihr Gewicht bei rund 50 Kilo zu halten. Wenn sie keinen
Sport machte, fand ihre Mutter es unmöglich, mit ihr umzugehen,
sie war dann einfach unerträglich. Die Absurdität, dieses niedrige
Gewicht um jeden Preis zu halten, brachte sie schließlich zu der
Überzeugung, dass es bes­ser war, mit dem Modeln aufzuhören,
und inzwischen hat sie ihren Mas­ter-Abschluss in Sozialarbeit gemacht. Es gab Zeiten, sogar Jahre, in denen sie ihr routinemäßiges
Übungsprogramm zwischendurch auch einmal ausfallen ließ, sie ist
jedoch immer wieder darauf zurückgekommen. „Es hilft am besten
bei den Stimmungsumschwüngen“, sagt sie. „Es macht das Ganze
234
Der Einfluss auf die Gesundheit des weiblichen Gehirns
erträglicher und nimmt die Aggression weg, die mit den Hormonen
kommt.“
Patty, normalerweise tolerant und gelassen, sagt, dass sie „bissig“ ist und ihr leicht die Sicherungen durchbrennen, wenn sie ihrer
Periode hat. „Ihr Radar ist dann überempfindlich“, sagt ihr Mann
Amon, ein Architekt. „Ihr Geruchs- und Geräuschsinn, ihr Licht­
empfinden, ihr Ordnungssinn. Das ist dann alles schon sehr speziell.
Sie möchte dann zum Beispiel, dass ich um sie herum bin, aber ich
muss in einer sehr speziellen Weise um sie herum sein.“
„Er sitzt dann neben mir auf der Couch“, sagt sie. „Ich höre ihn
beispielsweise atmen und frage mich, ob er eine Nasennebenhöhlen­
ent­zündung oder so etwas hat.“
„Genau!“ sagt er und lacht. „Und sie fragt dann möglicherweise,
ob mein Vater Probleme mit den Nebenhöhlen hatte, und dann artet
das Ganze in eine Diskussion über die Krankengeschichte meiner
Familie mit nasalen Problemen aus.“
Patty und Amon leben normalerweise sehr bewusst, kommunizieren gut miteinander und unterstützen sich gegenseitig, was
für Frauen, die hormonelle Veränderungen durchmachen, äußerst
wichtig ist. Amon schlägt vor, dass sie an den Tagen, an denen sie
ihr Programm lieber ausfallen lassen würde, zusammen ins Fitness­
stu­dio gehen. „Patty gehört zu den Menschen, bei denen man sehen
kann, wie die Ge­w itter­wolken sich zusammenbrauen, bevor sie tatsächlich kommen“, sagt er.
Der Begriff PMS wurde in den 1970er-Jahren politisiert, da manche der Meinung waren, dass er einen natürlichen Aspekt des Lebens
von Frauen als medizinisches Problem etikettierte und den Eindruck
entstehen ließ, als würden alle Frauen einmal im Monat unter einer psychiatrischen Störung leiden. Das Thema wurde von jenen
medizinischen Experten heftig diskutiert, die darüber entscheiden, was im Einzelnen in das Klassifikationssystem Diagnostic and
Statistical Manual aufgenommen und wie jede Beschwerde bezeichnet werden soll. PMS ist in verschiedenen Ausgaben des DSM neu
benannt worden, und 1994 wurde der Eintrag von dem unverständlichen Begriff „Dysphorische Störung in der späten lutealen Phase“
(„late luteal phase dysphoric disorder“, LLPDD) in „Prämenstruelle
dysphorische Störung“ (PMDD) geändert. Die Anforderungen für
235
Kapitel 8: Hormonelle Veränderungen
eine medizinische Diagnose von PMDD sind jedoch so streng, dass
die Mehrzahl der Frauen, die darunter leiden, was wir uns unter
PMS vorstellen, nicht dazugehören. Nennen Sie es, wie Sie mögen,
entscheidend für mich ist in jedem Fall, ob irgendwelche der 150
Symptome, die im DSM aufgeführt sind, die Qualität Ihres Lebens
beeinträchtigen.
PMS: Natürliche Höhen und Tiefen
Wissenschaftler wissen nicht genau, was PMS verursacht; Ver­än­de­
run­gen der Hormonspiegel sind jedoch ein Punkt, der sich anbietet,
um nach weiteren Hinweisen zu suchen. Die Sexualhormone sind
wir­kungs­­volle Botschafter, die durch das Blut transportiert werden
und die, abgesehen davon, dass sie maßgebend für die Entwicklung
der Ge­schlechts­merkmale sind, das Gehirn in vieler Hinsicht beeinflussen. Der Zyklus beginnt mit Signalen aus dem Hypothalamus,
die dafür sor­gen, dass die Hirnanhangsdrüse (Hypophyse) Hormone
ausschüttet, die sogenannten Gonadotropine, die zu den Eierstöcken
weitergeleitet werden und die Massenproduktion von Östrogen und
Progesteron aus­zu­lösen.
Der Östrogenspiegel ist unmittelbar vor dem Eisprung fünfmal hö­her als normal und folgt danach in den etwa zwei Wochen
bis zur Pe­rio­de einem Auf- und Ab-Muster, bis er wieder ausgeglichen ist. Der Pro­­ges­teronspiegel steigt nach dem Eisprung sprunghaft an (etwa um das Zehnfache des niedrigsten Spiegels) und erreicht unmittelbar vor der Menstruation seinen Höhepunkt. In einer Schwangerschaft schießt der Östrogenspiegel regelrecht in die
Höhe – bis um das Fünfzig­fache des Nor­malniveaus –, und der
Pro­gesteronspiegel erhöht sich um das Zehn­fache. Mit Beginn der
Meno­pause sinken dann beide Hor­mon­spie­gel, bis sie schließlich
nahezu verschwinden.
Bei dem, was Frauen, die unter PMS, einer Wochenbettdepression
oder einer aufreibenden Menopause leiden, von jenen unterscheidet,
bei denen dies nicht der Fall ist, scheint der Spiegel dieser Hormone
keine Rolle zu spielen, sondern vielmehr die Sensitivität des Körpers
236
Der Einfluss auf die Gesundheit des weiblichen Gehirns
gegenüber anderen neurochemischen Veränderungen, die dadurch
ausgelöst werden.
In Zusammenhang mit der Stimmung sowie der gesamten Ge­
hirn­­funktion spielen Hormone beispielsweise eine wichtige Rolle bei
der Regulierung von Neurotransmittern. Sowohl Östrogen als auch
Pro­gesteron lassen im ganzen limbischen System mehr Rezeptoren
für Sero­to­nin und Dopamin entstehen und erhöhen somit die Wirk­
sam­keit dieser Neurotransmitter. Erst in den letzten Jahren haben
Wis­sen­schaftler entdeckt, dass Östrogen die Produktion des neurotrophen Faktors BDNF signalisiert, der wiederum mehr Serotonin
entstehen lässt. Es gibt noch vieles, was wir über das komplexe
Zusammenspiel zwischen einer Veränderung der Hormonspiegel und
der Hirnfunktion nicht wissen, diese Verbindung zu dem Neuro­trans­
mittersystem hat sich jedoch als entscheidend herauskristallisiert.
In einer Studie, die 2004 durchgeführt wurde, nutzten Forscher
PET-Scans, um die Neurotransmitteraktivität bei Frauen mit und
ohne PMDD zu vergleichen. Sie stellten fest, dass im Gehirn von
Frauen, bei de­nen man PMDD diagnostiziert hatte, die Fähigkeit
beeinträchtigt war, im präfrontalen Cortex Tryptophan „einzufangen“, wodurch die Pro­duk­tion von Serotonin eingeschränkt war,
das bei der Regulierung von Stimmungen und Verhalten wie Wut­
ausbrüchen hilft.
Bei einer anderen Studie dezimierten Psychiater des Kings Col­
lege in London absichtlich bei einer Gruppe von Frauen in der prämenstruellen Phase den Tryptophanspiegel und stellten fest, dass
dies zu vermehrt aggressivem Verhalten führte, wenn sie provoziert
wurden. Es handelte sich dabei um gesunde Frauen, die zu dieser Zeit
weder PMS-Symptome noch Stimmungsprobleme hatten. Jeder Frau
war gesagt worden, dass sie, wenn sie auf einen Computerhinweis
schneller als eine Konkurrentin reagierte, die sich in einem anderen
Raum befand, dann die Lautstärke eines nervtötenden Tons anpassen konnte, der die andere Frau bestrafen würde. Verlor sie jedoch,
dann würde es bei ihr summen.
In Wirklichkeit gab es keine Gegnerin. Alle Teilnehmerinnen
waren die Hälfte der Zeit dem Lärm ausgesetzt, der zunehmend
lauter wurde. Mit zunehmender Lautstärke drehten die Frauen, bei
denen das Trytophan dezimiert worden war, die Lautstärke aggressiv
237
Kapitel 8: Hormonelle Veränderungen
noch höher, um ihrer imaginären Gegnerin eins auszuwischen. Die
Studie kam zu dem Schluss, dass eine Reduzierung des chemischen Vorläufers von Serotonin bei gesunden Frauen die Neigung
zu Aggressivität erhöht. „Bei ihnen ist es weitaus wahrscheinlicher,
dass sie sich rächen oder Ver­geltung üben, als bei Frauen mit normalem Serotonin-Spiegel“, sagt Alyson Bond, die die Studie durchführte. „Sie verhielten sich ähnlich wie gewohnheitsmäßig aggressive Personen.“
Aggression ist nur ein Symptom und die Geschichte von PMS
ist – genau wie die der Depression, – mehr als nur ein Ein-Neuro­
transmitter-Drama. Eine lange Kette von Ereignissen verbindet die
Produktion eines Hormons mit dem Signal, das sich als Gefühl oder
Verhaltensweise manifestiert. Und jede unterbrochene oder geschädigte Verbindung kann dafür sorgen, dass das Ergebnis in eine andere Richtung geht. Dies ist nur ein Grund, warum jede Frau anders
auf PMS, Schwangerschaft und Menopause reagiert.
Man kann unmöglich sagen, wo beispielsweise in Pattys Gehirn­
che­mie die Lücke ist, es steht jedoch außer Frage, dass körperliche
Be­we­gung hilft, sie zu schließen. „Vor meiner Periode ist es fast,
als ob ich mich in einem Nebel befände“, sagt sie. „Ich könnte meine ADHS-Me­di­ka­tion nehmen und sie würde nichts, aber auch gar
nichts bewirken. Kör­perliche Bewegung hilft mir, einen klaren Kopf
zu bekommen.“
Das Gleichgewicht wiederherstellen
Körperliche Bewegung ist nicht unbedingt die einzige Hilfe, wenn
Sie unter PMS leiden, sie kann die Symptome jedoch drastisch reduzieren und Ihnen für einen Bereich Ihres Lebens eine Kontroll­
möglichkeit geben, von dem Sie normalerweise das Gefühl haben,
dass er sich Ihrer Kontrolle entzieht. Und mit einer Veränderung
Ihres Lebensstils ist eine Medikation dann möglicherweise gar nicht
mehr erforderlich.
Viele Frauen wissen dies bereits: Bei einer Umfrage unter mehr
als 1.800 Frauen wurde festgestellt, dass mindestens die Hälfte
238
Der Einfluss auf die Gesundheit des weiblichen Gehirns
von ihnen Bewegung zur Linderung der PMS-Symptome nutzte.
Die Frauen, die sich sportlich betätigten, klagten nicht nur weniger über körperliche Schmerzen, sondern schnitten auch besser bei
der Bewertung des Kon­zen­trationsvermögens, der Stimmung und
sprunghafter Ver­hal­tens­wei­sen ab.
Die Vorstellung, dass körperliche Betätigung oder Sport physi­sche
Symptome sowohl vor als auch während der Menstruation lindern,
wird weit mehr akzeptiert als die genannten Effekte auf Stim­mungen
und Ängste. Offen gestanden gibt es wenig experimentelle Nachweise,
um konkret zu belegen, dass körperliche Bewegung bei den mentalen
Symptomen von PMS hilft. Die vielleicht beste Studie zu dem Thema
kommt aus dem Labor von James Blumenthal an der Duke Univer­
sity, der bereits 1992 bei vielen der Forschungen über körperliche
Be­we­gung und Depression Pionierleistungen erbracht hat. Bei einer
kleinen Gruppe Frauen mittleren Alters (vor der Menopause) verglich
Blu­men­thal, wie aerobe Übungen und Kraft­training PMS-Symptome
be­ein­flussten. Jede Gruppe trainierte dreimal wöchentlich jeweils eine
Stun­de. Die zwölf Frauen, die aerobe Übungen machten, liefen jeweils
30 Minuten bei 70 bis 80 Prozent ihrer aeroben Kapazität, jeweils in
Kom­­bi­nation mit einem 15-minütigen Aufwärmen und Abkühlen.
Die anderen elf Frauen nutzten Gewichtsmaschinen für ein überwachtes Kraft­training. Bei beiden Gruppen verbesserten sich die physischen Symp­tome, bei den Läuferinnen waren die Verbesserungen
auf der mentalen Seite jedoch deutlicher. Bei 18 von 23 Kriterien,
die gemessen wurden, ging es ihnen besser; die Wichtigsten davon
waren Depression, Reiz­barkeit und Konzentration. Der deutlichste
Unterschied war, dass die aerobe Gruppe eine weniger pessimistische
Einstellung und mehr In­teresse an der Welt hatte.
Eine Erklärung ist sicherlich, dass physische Aktivität den Try­p­­to­­phan-Spiegel im Blut erhöht und damit auch die Serotonin-Kon­
zen­tration im Gehirn. Sie sorgt auch für ein Gleichgewicht von
Dopamin, Nor­adrenalin und synaptischer Mediatoren wie BDNF.
Durch die Sta­bilisierung einer so großen Anzahl von Variablen
hilft körperliche Be­wegung, die aufreibenden Effekte hormoneller
Veränderungen zu dämp­fen.
Körperliche Bewegung passt auch zu einer nuancierteren Theorie
von PMS, die derzeit entwickelt wird. Östrogen und Progesteron
239
Kapitel 8: Hormonelle Veränderungen
werden beide in Dutzende hormoneller Derivate umgewandelt, von
denen einige von großem Interesse für Neurowissenschaftler sind,
da sie die wichtigsten erregenden und hemmenden Neurotransmitter
des Gehirns regulieren – Glutamat und Gamma-Aminobuttersäure
(GABA). Bei den hormonellen Schwankungen in der prämenstruellen Phase geraten die Spiegel dieser Derivate im Verhältnis zueinander aus dem Gleichgewicht, was dazu führen kann, dass die
Nervenzellen im emotionalen Schaltkreis des Gehirns zu sehr erregt werden. Dies kann da­rauf zurückzuführen sein, dass zu viel
Glutamat oder zu wenig GABA produziert wird; in jedem der beiden
Fälle kann die außer Kontrolle geratene Aktivität zu Stim­mungs­
veränderungen, Angstattacken, Aggres­sio­nen und sogar zu Anfällen
führen.
In einer Studie wurde kürzlich festgestellt, dass die Hormonspie­
gel bei Frauen sowohl mit als auch ohne PMS-Symptomen zwar
identisch, ihre GABA-Spiegel jedoch unterschiedlich hoch waren.
Kör­per­liche Bewegung hat weit reichende Auswirkungen auf das
GABA-System, das eine exzessive zellulare Aktivität bremst, genau
wie das Medikament Xanax dies tut. Studien über Ratten haben gezeigt, dass nur eine sportliche Übungsrunde genügt, um die Gene
einzuschalten, die beispielsweise GABA produzieren. Körperliche
Bewegung stellt im Gehirn das Gleichgewicht zwischen den entgegengesetzt wirkenden Kräften der Ak­ti­v ität zu einem Zeitpunkt wieder her, der für einige Frauen aufreibend und turbulent ist. Sie sorgt
auch für eine Feinabstimmung der HPA-Achse (vom Hypothalamus
über die Hirnanhangdrüse zur Nebenniere), die, wie Sie sich vielleicht erinnern, unsere Fähigkeit zur Be­wältigung von Stress verbessert. Und, nicht zu vergessen, körperliche Bewegung sorgt auch
für mehr Energie und Elan, was wiederum Ein­fluss auf alle anderen
Symptome hat.
240
Der Einfluss auf die Gesundheit des weiblichen Gehirns
Schwangerschaft:
Bewegen oder nicht bewegen?
Kein Mythos über die Gesundheit von Frauen hat sich so lange gehalten wie der Glaube, Frauen sollten in der Schwangerschaft aufhören, sich sportlich zu betätigen. Vielleicht, weil die Geburt eines
Kindes, bevor es die moderne Medizin gab, ein lebensbedrohliches
Ereignis war, wurde eine Schwangerschaft als eine Phase betrachtet,
in der man sich einschränken und ruhig verhalten sollte – als eine
Zeit, in der man zu Hause blieb, Aktivitäten reduzierte und sich im
Bett ausruhte. Es könnte ja gefährlich sein, das ungeborene Kind zu
beunruhigen oder durcheinanderzubringen. Körperliche Bewegung
oder Sport? Ein Tabu.
Erst in jüngerer Zeit haben Ärzte angefangen, ihr Denken diesbezüglich zu ändern. 2002 begann das American College of Obste­
tri­cians and Gynecologists (ACOG), mindestens 30 Minuten mäßig
intensive aerobe Übungen pro Tag für Schwangere und für Müt­
ter nach der Ge­burt zu empfehlen. Es ist eine potenziell wirksame Richtlinie, angesichts der Tatsache, dass 23 Prozent der vormals
sportlich aktiven Frauen aufhören, sich sportlich zu betätigen, sobald sie schwanger wer­den. Gleichermaßen wichtig ist jedoch, dass
das ACOG erstmals auch empfahl, dass Frauen, die bisher nicht aktiv
waren, mit sportlicher Betätigung beginnen sollten, wenn sie schwanger werden, und zwar hauptsächlich, um Risiken wie Diabetes, Blut­
hoch­druck und Prä­eklamp­sie entgegenzuwirken, die sich in der
Schwan­gerschaft entwickeln können und sowohl der Mutter als
auch dem Kind schaden.
Es gibt sicher Komplikationen, bei denen Bettruhe das Beste
ist; deshalb ist es wichtig, mit Ihrem Arzt zu sprechen, bevor Sie
mit einem Übungsprogramm beginnen. Vergessen Sie Eishockey,
Racketball, Bas­ketball und andere Kontaktsportarten. Das Gleiche
gilt für Reiten, Moun­tainbiken, Übungen auf dem Schwebebalken
oder irgendetwas, bei dem Hinfallen Teil des Spiels ist. Dies gilt
auch für Sporttauchen. Vergessen Sie jedoch nicht, dass Ärzte in der
Regel konservativ sind. In seinen Empfehlungen von 2002 warnt das
241
Kapitel 8: Hormonelle Veränderungen
ACOG indes vor einer sportlichen Betätigung schwangerer Frauen,
die übergewichtig, Diabetikerinnen oder starke Raucherinnen sind,
oder die hohen Blut­druck haben – also genau die Frauen, die eigentlich körperliche Be­we­gung brauchen. In diesen Fällen ist eine sportliche Betätigung aber vielleicht dennoch kein völliges Tabu; wichtig ist
nur, dass die betroffenen Frauen sehr langsam beginnen und dabei
mit ihren Ärzten zusammen­arbeiten sollten.
Viele werdende Mütter haben keine klare Vorstellung davon, was
sie tun können, und denken eher daran, Aktivitäten möglichst zu
meiden, als daran, wirklich etwas zu tun. Wenn sie die nutzbringenden Effekte körperlicher Bewegung oder sportlicher Betätigung verstanden hätten – nicht nur, was die Reduzierung der Risiken in der
Schwangerschaft angeht, sondern auch in Bezug auf eine Verbesserung
ihrer physischen und mentalen Gesundheit und der ihrer Babys –,
dann wäre ihnen bei dem Gedanken, körperlich aktiv zu sein, wesentlich wohler. Die Wahr­heit ist, dass wir nicht alles wissen über die
Auswirkungen sportlicher Betätigungen auf die Schwangerschaft haben, aber einige gute Antworten haben wir sehr wohl.
In der Schwangerschaft bleiben die Östrogen- und ProgesteronSpiegel auf einem exponentiell höheren Niveau als normal, was in
manchen Fällen die Stimmung stabilisiert und Ängste sowie De­
pressionen lindert. Eine Schwangerschaft kann in der Tat eine Reihe
unterschiedlicher Systeme zum Besseren verändern. Einige Frauen,
die unter ADHS leiden, können erstaunlicherweise zum Beispiel still
sitzen und lesen, wenn sie schwanger sind. Die Reaktion des Körpers
auf Hormone ist jedoch individuell verschieden, sodass manche
Frauen auch unter neuen Problemen zu leiden haben.
Wie der Körper auch immer reagieren mag, fest steht, dass körperliche Aktivitäten Stress und Ängste reduzieren und die Stim­mung sowie die gesamte psychische Gesundheit während der Schwan­gerschaft
verbessern. Eine Studie, die 2007 in England durch­geführt wurde,
be­wertete die Effekte einer einzigen sportlichen Übungs­runde auf
die Stim­mung von 66 gesunden schwangeren Frauen, die in vier
Gruppen unter­teilt wurden. Bei der ersten Gruppe stand Gehen auf
einem Lauf­band, bei der zweiten Schwimmen auf dem Programm,
die dritte machte einen kunsthandwerklichen Kurs und die vierte
machte nichts Zu­sätz­liches. Bei den Frauen in den beiden Gruppen,
242
Der Einfluss auf die Gesundheit des weiblichen Gehirns
die sich körperlich betätigten, verbesserte sich ihre Stimmung, auch
wenn diese von vorneherein nicht unbedingt problematisch war.
Es ist auch hinreichend gesichert, dass die Gemütsverfassung einer werdenden Mutter die Entwicklung ihres Babys verändern kann.
Stress, Angst und Depression können einen erschreckend starken
Ein­fluss auf die Schwangerschaft haben und im Extremfall zu einer
Fehl­geburt, einem geringen Geburtsgewicht, Geburtsfehlern oder
dem Tod des Babys führen. Babys, die von unglücklichen Müttern geboren werden, können schwieriger, weniger ansprechbar und schwerer zu beruhigen sein und unvorhersehbare Schlafmuster haben.
Und bei Nach­fol­ge­un­ter­suchun­gen ist es wahrscheinlicher, dass diese
Babys hyperaktiv sind und unter kognitiven Beeinträchtigungen leiden. Bei Nagetieren sind die Jungen von Müttern, die während der
Schwan­ger­schaft Stress ausgesetzt worden (durch Verabreichung von
Strom­schocks an den Füßen), launisch, ungeschickt und weniger
abenteuerlustig. Und ihre Stressregulierungssysteme sind für immer verändert, sodass sie anfälliger für künftige Probleme sind. Die
Psychiaterin Cathe­rine Monk von der Columbia University hat diese
Veränderungen auf menschliche Versuchspersonen übertragen. Sie
stellte fest, dass bei schwan­geren Müttern mit klinischen Ängsten,
wenn sie gebeten wurden, an einem stressintensiven Ereignis teilzunehmen, wie beispielsweise eine kurze Rede vor einer Gruppe zu
halten, die Herzfrequenz des Fötus übermäßig reaktiv war und sich
nicht so schnell beruhigte wie bei den Föten von Müttern, bei denen keine klinischen Ängste vorlagen. Dies ist ein sicheres Zeichen
dafür, dass die HPA-Achse sich selbst nicht richtig reguliert, das
heißt, dass Cortisol ungehindert ausgeschüttet werden kann. Auch
eine unruhige, nervöse HPA-Achse ist ein Risikofaktor für künftige
psychiatrische Probleme.
Trotz der Tatsache, dass körperliche Bewegung eine Fülle unnötiger Komplikationen verhindern kann, sind viele Frauen nach
wie vor miss­trauisch gegenüber sportlichen Betätigungen in der
Schwangerschaft: Erhebungen zufolge bleiben bis zu 60 Prozent aller Schwangeren inaktiv.
Studien zufolge vermögen körperliche Aktivitäten im Allge­mei­
nen Beschwerden wie Brechreiz, Müdigkeit, Gelenk- und Mus­kel­
schmerzen sowie Fettansammlungen zu reduzieren. Körperliche
243
Kapitel 8: Hormonelle Veränderungen
Aktivitäten halbieren das Risiko, abnormal hohe Glukosespiegel zu
entwickeln, was zu Schwangerschaftsdiabetes führen kann – und
das wiederum zu übergewichtigen Babys und vor der Geburt zu
länger andauernden Wehen. Ein hoher Glukosespiegel ist auch ein
Risikofaktor für Fettleibigkeit und Typ-2-Diabetes sowohl bei der
Mutter als auch bei dem Baby, und diese physischen Bedingungen
sind schlecht fürs Gehirn. Körperliche Bewegung hilft glücklicherweise immer, egal, wie aktiv eine Frau vor der Schwangerschaft war.
Eine Studie zeigte, dass das Risiko einer Schwangerschaftsdiabetes
durch strammes Gehen von wöchentlich fünf Stunden um 75 Pro­
zent reduziert wird.
Vor einigen Jahren beschloss eine Gruppe deutscher Forscher
zu un­tersuchen, ob sportliche Aktivitäten einen Einfluss auf den
schmerzhaften Prozess der Wehen haben können. Sie brachten einen Heim­trai­ner in den Kreißsaal. Irgendwie fanden sie 50 Frauen,
die damit einverstanden waren, jeweils 20 Minuten Rad zu fahren,
die Intensität ihrer Schmerzen zu bewerten und ihr Blut bis unmittelbar vor der Geburt auf Endorphine untersuchen zu lassen. Die
meisten der Frauen (84 Pro­zent) sagten, die Kontraktionen (Wehen)
seien während der sportlichen Be­tätigung weniger schmerzhaft als
im Ruhezustand gewesen, und ihre Be­wertungen entsprachen spiegelbildlich den Endorphin-Spiegeln. Die Forscher schlussfolgerten,
dass „körperliche Bewegung auf einem Ra­d­er­go­meter bei den Wehen
unbedenklich für den Fötus, ein Stimu­lus für die Kontraktionen der
Gebärmutter und eine schmerzlindernde Quel­le zu sein scheint.“
Vergessen Sie das Baby nicht
James Clapp, Geburtshelfer und Professor für Fortpflanzungsbiolo­
gie an der Case Western Reserve University, hat untersucht, wie
sportliche Aktivitäten mehr als 20 Jahre lang Einfluss auf das Kind
haben. Sein Buch Exercising through Your Pregnancy, das 2002
erschien, kommt einem weit gehenden Zuspruch gleich und baut
auf Lang­zeitstudien auf, die er mit Hunderten von Frauen durchführte. Zunächst einmal räumt er darin mit dem Mythos auf, dass
244
Der Einfluss auf die Gesundheit des weiblichen Gehirns
sportliche Aktivitäten gefährlich seien, und merkt an, dass bei seinen Forschungen keine Unterschiede im Gewicht oder bei der Schä­
delgröße zwischen den Babys festgestellt wurden, die von aktiven
oder inaktiven Müttern zur Welt gebracht wurden. Mit sportlichen
Aktivitäten wächst die Brennstoffversorgungslinie zwischen Mutter
und Kind, wodurch sichergestellt wird, dass der Fötus die Nährstoffe
und den Sauerstoff erhält, den er braucht. Studien von Clapp und anderen haben gezeigt, dass die Neugeborenen aktiver Frauen schlanker sind, was Sie vielleicht für bedenklich halten, wobei die physischen Unterschiede sich jedoch innerhalb des ersten Lebensjahres
ausgleichen.
Körperliche Bewegung scheint allerdings mehr als nur nicht
schäd­lich zu sein. Im Rahmen einer Studie verglich Clapp fünf
Tage nach der Geburt 34 Neugeborene von sportlich aktiven Frauen
mit 31 Neu­­ge­bo­renen von inaktiven Müttern. Es gibt nicht soviel,
was man in dieser frühen Phase zur Messung des Verhaltens tun
kann, aber die Babys der sportlich aktiven Mütter schnitten in jedem Fall bei zwei von sechs Tests besser ab: Sie waren ansprechbarer auf Reize und konnten sich besser selbst beruhigen, nachdem
sie durch Geräusche oder Licht gestört worden waren. Aus der Sicht
von Clapp ist dies wesentlich, da es die Schlussfolgerung zulässt,
dass die Säuglinge von körperlich aktiven Müttern neurologisch
entwickelter sind als die von inaktiven Müttern. Seine Theorie ist,
dass die körperliche Aktivität dem Baby im Mutterleib sozusagen
einen Schubs und damit eine Stimulation gibt, die nicht unähnlich
den Effekten des Berührens und Haltens von Neugeborenen ist, die
klar die Entwicklung des Gehirns verbessern. Bei einem anderen
Vergleich von fünfjährigen Kindern stellte er keine Unterschiede
beim Verhalten und den meisten kognitiven Maß­stäben fest, es gab
jedoch statistisch signifikante Unterschiede beim IQ und bei den
mündlichen Sprachfertigkeiten. Die Kinder sportlich aktiver Mütter
schnitten besser ab, und seine unveröffentlichten Beo­bach­tun­gen
lassen darauf schließen, dass ihre schulischen Leis­tun­gen später
besser sind als die von Kindern, deren Mütter inaktiv waren, was
erstaunlich ist.
Es gibt noch keine Möglichkeit festzustellen, warum dies beim
Men­schen so ist, verlockende Hinweise finden sich jedoch in Studien
245
Kapitel 8: Hormonelle Veränderungen
über Laborratten. Am faszinierendsten ist eine Studie von 2003, die
zeigt, dass Rattenjunge, die von sportlich aktiven Müttern geboren
worden, sofort nach der Geburt und ebenso 14 und 28 Tage nach der
Ge­burt höhere BDNF-Spiegel aufwiesen. Gleichzeitig schnitten sie
besser als die Rattenjungen der Kontrollgruppe bei Lernaufgaben
ab, die sich auf den Hip­po­campus bezogen. Sie lernten vor allem
besser und schneller als Rat­ten, die von inaktiven Müttern geboren
worden. Eine Studie zeigte, dass Rat­tenjunge von Müttern, die viel
liefen, aus irgendeinem Grund bei der Geburt weniger Neuronen im
Hippocampus hatten; dieses Defizit wurde jedoch schnell wieder
wettgemacht und am Ende übertrafen sie sogar die Rattenjungen
aus der Vergleichsgruppe. Nach den ersten sechs Wochen verfügte die körperlich aktive Gruppe über 40 Prozent mehr Zel­len im
Hippocampus. Bei einer 2006 durchgeführten Studie wurde fest­
gestellt, dass es bei den Jungtieren zu mehr BDNF, einer verstärkten Neu­ro­ge­nese und einer Verbesserung des Kurzzeitgedächtnisses
führte, wenn man schwangere Ratten zwang, zehn Minuten am Tag
zu schwimmen. Kurz: Wenn schwangere Ratten sich sportlich betätigen, sind die Neu­ro­nen im Gehirn ihrer Föten besser in der Lage,
sich aneinander anzubinden.
Auch wenn diese Ergebnisse nicht direkt auf den Menschen über­
tragen werden können, so entsprechen Sie doch dem Rahmen dessen, was wir über körperliche Aktivitäten und das Gehirn in den
vergangenen zehn Jahren gelernt haben. Wir können nicht sagen,
dass ihre Tochter es aufs beste College schaffen wird, wenn Sie in
der Schwangerschaft laufen, aber andererseits legen diese Ergebnisse
jedoch den Schluss nahe, dass es die neurotrophe Unterstützung für
die Gehirnzellen des Babys verbessert, wenn man körperlich aktiv
bleibt. Und diese Verbesserungen optimieren das Lernvermögen, das
Erinnerungsvermögen und die gesamte geistige Verfassung, wie Sie
sich aus früheren Kapiteln erinnern werden. Die Vorstellung, dass
sportliche Aktivitäten während Ihrer Schwangerschaft Einfluss auf
die Zukunft des Gehirns Ihres Baby haben könnten, finde ich überwältigend.
Bei einer anderen faszinierenden Untersuchungsreihe haben For­
scher die Wirkungen sportlicher Aktivitäten zur Bekämpfung des
föta­len Alko­hol­syndroms untersucht, einer verheerenden Störung,
246
Der Einfluss auf die Gesundheit des weiblichen Gehirns
die zu gehemm­tem Wachstum, einer Entwicklungsverzögerung und
zu Ent­­stel­lun­­gen im Gesicht führt. Sie ist die führende, vermeidbare Ursache von Ge­burts­fehlern in den Vereinigten Staaten, und
einige Studien haben gezeigt, dass selbst mäßiger Alkoholkonsum
in der Schwan­gerschaft Lern-, Ver­haltens- und soziale Probleme
für das Baby zur Folge haben kann. Im Ge­hirn von Ratten, die von
Müttern ge­boren worden, denen während der Schwangerschaft
Ethanol verabreicht wurde, wurde ein niedrigerer BDNF-Spiegel sowie eine geringere Neu­ro­ge­nese und Neuroplastizi­tät nach­gewiesen.
Der Hippocampus war geschrumpft, was zur Folge hatte, dass die
Jungen nicht sehr gut lernen oder erinnern konnten. Abgesehen vom
Hippocampus schädigt Al­ko­hol auch die Glutamat-Synapsen, und
dies hat weit reichende Folgen für das Gehirn.
Im Jahr 2006 untersuchten Forscher aus dem Labor des Neu­ro­
wis­senschaftlers Brian Christie an der University of British Colum­
bia die neurologischen Auswirkungen einer pränatalen Exposition
ge­gen­über Ethanol bei Ratten und überprüften dann die Effekte
sport­licher Ak­ti­v i­täten auf diese Veränderungen. Wie erwartet, hatten die Jungen, deren Mütter Ethanol verabreicht worden war, eine
deutlich ge­ringere Neu­rogenese und Neuroplastizität. Nachdem die
Jungen geboren und in der Lage waren, sich selbst sportlich zu betätigen, wurde die Gehirnschädigung durch diese Aktivität allerdings
wieder in den Nor­mal­zu­stand umgekehrt, was verblüffend war.
Diese Erkenntnisse hatten bereits Einfluss darauf, was Ärzte
zum Umgang mit Babys mit fötalem Alkoholsyndrom empfehlen.
Frü­her riet man den Eltern, dafür zu sorgen, dass die Umwelt der
Babys ruhig und dunkel war, um sie nicht übermäßig zu stimulieren.
Inzwischen scheint es jedoch besser zu sein, für physische Sti­mu­la­
tion und Aktivität zu sorgen, um dem Gehirn des Babys eine Chan­ce
zu geben, den neurologischen Defiziten entgegenzuwirken.
Es erstaunt mich immer wieder, wie unser Gehirn sich selbst reparieren kann, wenn wir unseren Körper nur so bewegen, wie es die
Evo­lu­tion vorgesehen hat.
247
Kapitel 8: Hormonelle Veränderungen
Wochenbettdepression:
Ein Stachel der Schwermütigkeit
Tony und Stacy waren verzweifelt. Es war ein regnerischer Freitag­
nach­mit­tag, als das Paar beschloss, dass sie jetzt sofort einen elliptischen Kreuz­­trainer brauchten. Das kleine Sportgeschäft in der Mall
hatte jedoch keinen mehr vorrätig. Sie mussten zu einem schä­bi­
gen Lagerhaus in Boston fahren, um ihn abzuholen, und dann ließen sich auch noch die Sitze in ihrem Wagen nicht flach um­legen,
sodass der Trainer aus dem Heck herausragte, derweil es auf dem
Nachhauseweg in Strömen regnete. Das völlig durchnässte Paket
muss 100 Kilos gewogen haben, und es ins Haus zu schlep­pen, war
erst der Anfang von Tonys Arbeit an diesem Abend.
„Wir kamen nach Hause und ich musste ihn sofort zusammenbauen“, sagt er. „Das ist nicht gerade meine Stärke, aber an dem
Punkt wünschte ich mir einfach nur, dass sie diejenige wäre, die
besser in solchen Dingen ist.“
Sie mussten etwas gegen Stacys Wochenbettdepression tun, die
nach der Geburt ihres ersten Kindes, einem Sohn namens Carter,
wie aus dem Nichts gekommen war. Seit fünf Monaten war sie jetzt
erschöpft, dabei aber gleichzeitig unfähig, vernünftig zu schlafen;
sie hatte Schuldgefühle, wenn sie ihren Säugling allein ließ, sie hasste ihren Körper, hatte das Interesse an der Welt verloren und brach
ohne Vor­warnung ständig in Tränen aus. Diese Symptome haben
nichts mit der vorübergehenden Schwermut zu tun, die die meisten
Frauen in den ersten Wochen nach der Geburt erleben, und sie sind
verbreiteter, als den meisten Menschen bewusst ist. Bei zehn bis
15 Prozent der jungen Mütter wie Stacy scheint zunächst alles in
Ordnung zu sein, aber dann schlägt die Wochenbettdepression zu,
und sie kann ein Jahr oder länger andauern. Wenn ich gegenüber
meinen Mediziner- und Psy­chia­te­rkollegen erwähne, dass eine so
große Anzahl junger Mütter an einer Wochenbettdepression leidet – eine Tatsache, die ich auch jetzt erst durch meine Recherchen
für dieses Buch erfahren habe –, sind sie genauso schockiert, wie
ich es war.
248
Der Einfluss auf die Gesundheit des weiblichen Gehirns
Solche Depressionen werden in der Regel mit Antidepressiva behandelt, aber das Lexapro, das Stacy versuchsweise einnahm, hatte nur bewirkt, dass sie sich wie betäubt allem gegenüber fühlte.
Sie nahm es nur wenige Tage und wehrte sich dagegen, ein anderes
Medikament zu versuchen. Als sie und Tony an jenem regnerischer
Nachmittag in meiner Praxis saßen, erklärte ich ihnen, dass aerobe Übungen bei manchen Personen mit Depressionen genauso gut
oder sogar besser als Medikamente wirken. Ich wünschte mir nur,
alle meine Patienten würden so auf meine Ratschläge ansprechen:
Als sie die Praxis verließen, fuhren sie auf dem kürzesten Weg zur
Mall, um den Trainer zu kaufen.
Später an jenem Abend hatte Tony ihn schließlich fertig zusammengesetzt und Stacy sprang sofort darauf, um ein 20-minütiges
Training zu absolvieren.
„Das ist wirklich hart, wenn man damit anfängt!“ erinnert sie
sich. „Ich wusste, dabei passiert etwas – man bekommt dieses Bren­
nen.“
„Ich glaube, das ist es, was sie zuerst gepackt hat“, sagt Tony. „Das
Bren­nen und das Gefühl, dass es bei ihren Figurproblemen helfen
würde. Ich glaube nicht, dass sie sofort verstanden hat, dass es ihr
auch men­tal und ihrem Schlaf half.“
„Nein, das habe ich wirklich nicht.“
„Ich sagte zu ihr: ‘Stacy, es ist ein Unterschied wie Tag und
Nacht.’ Es war wirklich so. Das Erste, was sich änderte, war die Qua­
li­tät ihres Schlafes …“
„Was natürlich zur Folge hatte, dass ich mich tagsüber besser
fühlte.“
„Und als Nächstes verbesserte sich ihre Stimmung.“
„Ich hatte viel mehr Energie. Ich fühlte mich besser, wenn ich
von dem Trainer abstieg, als wenn ich mich daraufsetzte. Selbst jetzt
noch, nachdem ich den ganzen Tag mit Carter gespielt habe, fühle
ich mich zwar erschöpft, aber ich nutze den Trainer dennoch. Und
ich bin dann in besserer Stimmung, bin glücklicher und fühle mich
energiegeladener.“
Was Stacys Geschichte so erstaunlich macht, ist, dass sie vor der
Ge­burt ihres Kindes, im Alter von 29 Jahren, durchaus treffend als
tem­pera­mentvoll beschrieben werden konnte. Sie hatte nie unter
249
Kapitel 8: Hormonelle Veränderungen
Depressionen gelitten und war „der glücklichste Mensch“, dem Tony
je begegnet war. Sie sind ein unglaublich liebenswertes Paar, jung
und dennoch altmodisch, und vor allem hatten sie immer sehr viel
Spaß miteinander. Aber nach ihrer Schwangerschaft, sagt sie, „hat
sich alles verändert“.
Stacy ist groß, blond, hat eine sportliche Figur und wog zwei
Wo­chen nach der Geburt nur fünf Pfund mehr als ihr Normal­ge­
wicht. Sie sah fantastisch aus, was hier nur insofern relevant ist, als
sie es selbst nicht so sah. Bei den seltenen Anlässen, wenn sie, nachdem Carter auf der Welt war, einmal ausgingen, probierte Stacy ein
Dutzend verschiedener Kleidungsstücke an. „Ich dachte, ich sähe
fürchterlich aus“, sagt sie. „Egal, was sonst jemand sagte, tief in meinem Herzen glaubte ich es nicht.“
„Ohne Quatsch, sie probierte neun oder zehn verschiedene Paar
Schuhe und Shirts sowie Hosen an“, sagt Tony. „Sie sah im Spiegel
eine andere Person.“
Da war jedoch mehr als nur dieses negative Selbstbild im Spiel.
Nach der ersten freudigen Aufregung, als sie endlich mit Carter nach
Hause fahren durften, setzte Müdigkeit ein, und damit kam eine Fülle
unguter Gefühle. Stacy hörte auf, zu irgendetwas ihre Meinung zu sagen oder sich für irgendetwas zu interessieren. Sie schob das Kinder­
bett­chen in ihr Schlafzimmer und wachte alle paar Stunden auf, um
nach dem Baby zu sehen. „Ich wollte Carter nie allein lassen“, sagt sie.
„Und ich hatte immer Schuldgefühle, wenn ich es tat.“
Junge Mütter, die von einer Depression überwältigt werden, fangen an, sich selbst infrage zu stellen, und sie fragen sich, ob mit ihnen etwas nicht in Ordnung ist. Wenn sie Probleme haben, gehen
sie davon aus, dass sie schreckliche Mütter sein müssen. Instinktiv
ziehen sie sich von der Welt zurück, insbesondere auch das Baby, und
dies führt zu inneren Konflikten und zur Selbstgeißelung. Hier ist
der biologische Zweck unseres Dasein und Sie schämen sich, dass
nicht alles die reine Glückseligkeit ist, und sind überzeugt, dass Sie
die einzige Mutter auf der Welt sind, die solche Gefühle hat. Dabei
lässt dieses Ereignis, das vermeintlich so wunderbar lebenserfüllend
ist, schwarze Wolken heraufzuziehen.
Es dauerte mehrere Monate, in denen Tony das Thema immer
wieder vorsichtig anzusprechen versuchte, bis Stacy erkannte, dass
250
Der Einfluss auf die Gesundheit des weiblichen Gehirns
etwas nicht in Ordnung war. „Ich hatte das Gefühl, nicht mehr ich
selbst zu sein“, sagt sie. „Ich hatte keine Ahnung, wie ich wieder dahin kommen sollte.“
Sie hatte gelegentlich Gewichte gehoben, ich erklärte ihr und
Tony jedoch, dass aerobe Übungen anders – und entscheidend für die
Stimmung – waren. Jetzt verbringt sie fast jeden Abend 45 Minuten
auf ihrem elliptischen Kreuztrainer. Wenn sie es mehr als einige
Tage ausfallen lässt, bekommt sie Schlafprobleme und verspürt einen Energie- und Stimmungsabfall. Bedeutet dies, dass sie nach wie
vor depressiv ist und dies nur mit sportlichen Aktivitäten maskiert?
Nicht unbedingt. Lediglich wenn die Symptome aufflackern, wie
dies manchmal der Fall ist, dann steigt sie auf den Kreuztrainer, um
sicherzustellen, dass daraus kein Schneeballeffekt wird, der sich zu
etwas Schlimmerem verschärft. In jedem Fall weiß sie, dass sie damit fertig werden kann. „Wenn ich meine Übungen mache, geht es
mir gut“, sagt sie. „Ich fühle mich wieder normal.“
Den Weg nach draußen wieder finden
Wissenschaftler wissen sehr viel darüber, wie aerobe Aktivitäten die
Symptome einer allgemeinen Depression (siehe Kapitel 5) eindämmen, junge Mütter bedürfen jedoch besonderer Überlegungen. Es
seien nicht so sehr die Erhöhung der Hormone, die eine Wochen­
bettdepression verursachen, mutmaßt die Forschung, sondern vielmehr die Effekte des Rückzugs, wenn sie nach der Geburt ihres Kin­
des in ein Tief stürzten.
Im Jahr 2000 veröffentlichte Miki Bloch vom National Institute of
Mental Health eine Studie im American Journal of Psychiatry, bei der
ihr Labor bei zwei Gruppen von Müttern im Alter von etwas über 30
Jah­ren die hormonellen Bedingungen einer Schwangerschaft wieder­
her­stell­te: Die Mütter der einen Gruppe hatten bereits unter Wo­chen­
bett­depressionen gelitten, die anderen nicht. (Keine der Gruppen von
jeweils acht Frauen hatte während der Studie Symptome einer De­
pres­sion gezeigt.) Um die Östrogen- und Progesteronproduktion
anzuregen, wurden allen Frauen Pillen verabreicht, und nach acht
251
Kapitel 8: Hormonelle Veränderungen
Wochen wurden die Hormone insgeheim durch ein Placebo ersetzt. Der Effekt war dramatisch. Während des Östrogenentzugs
war bei fünf der acht Frauen, die in der Vergangenheit bereits eine
Wochenbettdepression erlebt hatten, eine Rückkehr der Symptome
festzustellen; die andere Grup­pe bemerkte keine Veränderung.
Angesichts dessen, wie stark Hormone Einfluss auf Neuro­trans­
mitter nehmen, ging Bloch davon aus, dass das Gehirn mancher
Frauen die plötzlichen Veränderungen einfach nicht kompensieren
kann, oder dass die normalen Signale so verstärkt werden, dass die
Stimmung gestört wird. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, könnten
sportliche Aktivitäten für junge Mütter, die eine Depression erleben,
sogar noch wirksamer sein als für die allgemeine Bevölkerung, da
Bewegung die Spiegel der Neurotransmitter normalisiert.
Die beste Studie zu diesem Thema wurde vor mehreren Jahren
in Australien mit 20 Frauen durchgeführt, die unter einer Wo­chen­
bett­de­pression litten und innerhalb der letzten zwölf Monate ein
Kind zur Welt gebracht hatten. Die Hälfte von ihnen nahm Anti­de­
pressiva. Die Forscher wählten eine Form der körperli­chen Betäti­
gung, die überaus bequem für junge Mütter ist: Gehen mit einem
Kinderwagen. Eine Gruppe von zehn Frauen ging 40 bis 60 Mi­nu­
ten bei 75 Prozent ihrer maximalen Herzfrequenz mit dem Kin­der­
wagen dreimal wöchentlich spazieren und nahm an einem sozialen
Unterstützungstreffen teil, während die anderen zehn Frauen in der
Kon­troll­gruppe an ihrem routine­mä­ßigen Tagesablauf festhielten.
Bei ihnen allen wurde anhand der Edin­burgh Postnatal De­pres­sion
Scale (EPDS), der Skala zur Ermittlung der Intensität einer Wo­
chen­bett­de­pression, ein Grundwert ermittelt; anschließend wurden sie erneut nach sechs Wochen und dann nochmals nach zwölf
Wochen überprüft, als der Versuch endete. Jede Frau, die anhand
dieser Skala einen Wert von über zwölf Punkten erreicht, wird als
klinisch depressiv angesehen. Bei den Kin­derwagenschieberinnen
wurde in beiden Untersuchungen fest­gestellt, dass sich ihre Fitness
erhöht hatte und ihre EPGS-Werte sich erheblich reduziert hatten.
Bei dieser Gruppe hatte der Wert anfänglich bei durchschnittlich
17,4 gelegen, und er fiel auf 7,2 und dann auf 4,6. Die Kontrollgruppe
begann mit einem Durchschnittswert von 18,4, der zunächst auf 13,5
fiel, um dann jedoch wieder auf 14,8 zu steigen.
252
Der Einfluss auf die Gesundheit des weiblichen Gehirns
Statistisch gesehen kommt eine Depression bei fitten Müttern seltener vor. Bei einer Umfrage unter 1.000 Frauen im Süden Englands
sechs Wochen nach der Geburt ihres Kindes hatten die 35 Prozent,
die angaben, dreimal wöchentlich intensiv Sport zu treiben, erheblich weniger Stim­mungsprobleme. Sie hatten auch mehr Gewicht
abgenommen, blieben sozial aktiver, waren selbstsicherer und mit
ihrem Muttersein zu­f riedener. Ein regelmäßiges Übungsprogramm
kann jungen Müttern helfen, wieder die Kontrolle über ihr Leben
zu gewinnen und zu verhindern, dass sie sich überwältigt fühlen.
Überdies bietet es ihnen auch eine gute Gelegenheit, sich Zeit für
sich selbst zu nehmen, was wichtig ist, um Aversionen abzuwehren.
Etwa 70 Prozent der Frauen sind, genau wie Stacy, sechs Monate
nach der Geburt mit ihrem Körper unzufrieden, und es liegt auf der
Hand, dass sportliche Betätigung sie wieder in Form bringen und
ihr Selbstbild fördern kann.
Die Botschaft, dass körperliche Bewegung sich ein wenig mehr
als nur physisch auszahlt, hat die Ärzte und ihre Patienten leider nur
langsam erreicht. „Bei körperlicher Bewegung oder Sport denken
die Leute an körperliche Gesundheit, nicht aber an mentale“, sagt
Jennifer Shaw, Geburtshelferin und Gynäkologin in Brookline, Mas­
sachusetts, die auch an der Harvard Medical School lehrt. „Als Arzt
oder Ärztin ist es schwierig, Menschen davon zu überzeugen, sportliche Betätigung ernst zu nehmen, und zwar als eine Behandlung,
die tatsächlich medizinisch nutzbringende Effekte hat, einmal abgesehen davon, dass die Pfunde dabei verschwinden.“
In den Bereich der Geburtshilfe fällt eigentlich weder die Diagno­
se noch die Behandlung psychischer Gesundheitsprobleme in Zu­
sam­men­hang mit Schwangerschaften. Shaw spricht das Thema körperliche Bewegung oder Sport als Lösung für ein Problem an, sie
sagt jedoch, dass es für einen Arzt oder eine Ärztin schwierig sei, die
Zeit zu finden, um über präventive Medizin zu sprechen. Es kann
auch etwas heikel sein, meint sie, einer Frau körperliche Bewegung
vorzuschlagen, die mit so vielen neuen Verantwortlichkeiten fertig werden muss und sich in ihrem Körper vielleicht nicht so wohl
fühlt. „Das Erste, was Frauen von der Liste streichen, wenn das Leben
komplizierter wird, ist Sport“, sagt Shaw. „Ich glaube nicht, dass
wir wirklich verstanden haben, was körperliche Bewegung bewirkt,
253
Kapitel 8: Hormonelle Veränderungen
ich glaube jedoch, dass sie eine stabilisierende Wirkung auf die
Stimmung hat.“
Der schlimmste Rat, den man niedergeschlagenen jungen Müt­
tern geben kann, ist zu sagen, dass sie es leicht nehmen sollten. Ruhe
ist wichtig, sicherlich, aber nicht so wichtig wie Aktivität. Jun­ge
Mütter brauchen die Unterstützung von ihren Ehemännern, um
sich die Zeit nehmen zu können, um sobald wie möglich an ihrem
Körper – und ihrem Gehirn – zu arbeiten.
Menopause: Die große Veränderung
Genau genommen ist die Menopause ein eintägiges Ereignis, welches
das Ende des zwölften Monats nach der letzten Periode einer Frau
markiert. In der Praxis stellt sie die Zeitspanne der hormonellen Ver­
än­de­run­gen dar. Da die Eierstöcke mit zunehmendem Alter weniger zuverlässig arbeiten, erfolgt die Produktion von Östrogen und
Progesteron eher sporadisch und schwindet schließlich. Wenn diese
Hormone nicht mehr regelmäßig verfügbar sind, gerät das delikate
Gleichgewicht der Neurochemikalien im Gehirn durcheinander.
Die ersten Symptome treten in der Regel mehrere Jahre vor der
Meno­pause auf, etwa zwischen Mitte 40 und Mitte 50 (das Durch­
schnitts­a lter für die Menopause liegt bei 51), und kann danach mehrere Jahre andauern. Zu den Symptomen gehören die sogenannten
vasomotorischen Symptome wie Hitzewallungen und nächtliches
Schwitzen sowie Gereiztheit und Stimmungsschwankungen. Und
genau wie bei den anderen hormonellen Veränderungen, über die
ich gesprochen habe, ist nicht vorhersehbar, wie eine Frau darauf
reagiert – einige überstehen die Menopause, ohne sie wirklich wahrzunehmen, während sie für andere dies reinste Qual ist. Die meisten
Frauen spüren zumindest einige der Symptome, und viele derjenigen,
die sich sportlich betätigen, finden, dass Bewegung hilft. Der große Wert sportlicher Betätigung für Frauen jenseits der Menopause
besteht darin, dass sie die Auswirkungen geringerer Hormonspiegel
ausgleichen kann und – wie Sie im nächsten Kapitel noch sehen
werden –, vor einem Rückgang der kognitiven Fähigkeiten schützt.
254
Der Einfluss auf die Gesundheit des weiblichen Gehirns
Aus dem Blickwinkel der Evolution betrachtet, überlistet körperliche
Bewegung das Gehirn sozusagen, sodass dieses versucht, sich trotz
der hormonellen Hinweise auf seine Alterung aufrechtzuerhalten,
um zu überleben.
Angesichts der Ebbe der natürlichen Hormonspiegel bietet körperliche Bewegung auch Schutz vor Gesundheitsproblemen wie
Herz­k rank­heiten, Brustkrebs und Schlaganfall. Es ist selten, dass
Frauen vor der Menopause einen Herzinfarkt bekommen, sofern bei
ihnen keine genetische Prädisposition oder keine Komplikationen
wie Fettleibigkeit oder Diabetes vorliegen. Dies war immer die rationale Begründung für eine Hormonersatz-Therapie: Östrogen und
Progesteron schützen Frauen vor chronischen Krankheiten, sodass
diese Hormone nach der Meno­pause ersetzt werden müssen. Diese
An­nahme ist in den letzten Jahren jedoch über Bord geworfen worden und viele Ärzte verschreiben in­zwischen keine HormonersatzTherapie mehr.
Die Kontroverse explodierte 2002 regelrecht, als Forscher am
National Institute of Health auf alarmierende statistische Daten von
einer Gruppe von Frauen stießen, die die Menopause bereits hinter
sich hatten und an einer Studie der Women’s Health Initiative (WHI)
teilgenommen hatten. Bei den Frauen, die sich einer HormonersatzTherapie unterzogen, lag das Brustkrebsrisiko 26 Prozent höher, das
Risiko, einen Schlaganfall zu bekommen, lag 41 Prozent höher und
das Risiko eines Herzinfarkts lag 29 Prozent höher.
Nach dieser beunruhigenden Nachricht hörten in der Folge Mil­
lio­nen von Frauen auf, Hormone zu nehmen, und das New England
Jour­nal of Medicine veröffentlichte eine Umfrage in der Be­völ­ke­
rung, die zeigte, dass die Brustkrebsraten 2004 um 9 Prozent gefallen
waren. Dann berichtete eine prominente britische Studie, dass bei
Frauen, die eine Hormonersatz-Therapie durchführten, das Risiko,
eine Demenz zu entwickeln, doppelt so hoch ist – eine Hauptsorge
von jedem, der die Lebensmitte überschritten hat. Es gibt jedoch
Studien, die eine kurzfris­tige Anwendung einer HormonersatzTherapie in der Menopause unterstützen. Der einzige allgemein
gültige Rat für Frauen in der Menopause ist, ihren Arzt zu fragen.
Wie auch immer die Antwort ausfällt, die Wi­der­sprüche bedeuten
für viele Frauen eine schmerzhafte Zwickmühle.
255
Kapitel 8: Hormonelle Veränderungen
Die Symptome beachten
Der häufigste Grund, warum Frauen sich für eine HormonersatzThe­­­ra­pie entscheiden, ist die Linderung der physischen Symptome
der Meno­pause, insbesondere die Hitzewallungen, und niemand
bestreitet, dass sie diesbezüglich Wunder vollbringt. Körperliche
Bewegung ist eine Alternative, auch wenn die Belege über ihre Wir­
kung auf Hitze­wal­lun­gen und nächtliches Schwitzen nicht beweiskräftig sind. Mehrere große Beobachtungsstudien, darunter eine,
die 66.000 italienische Frauen in der Menopause einbezog, zeigten,
dass ein geringeres Maß an körperlicher Bewegung oder sportlicher Betätigung mit verstärkten vaso­motorischen Symptomen korreliert, in anderen Studien wurde eine solche Verbindung jedoch
nicht nachgewiesen.
Einige Geburtshelfer oder Gynäkologen werden Ihnen sagen, dass
Hitzewallungen in Wirklichkeit durch sportliche Betätigung ausgelöst werden. Fest steht jedoch, dass Sie bei einer solchen Betätigung
zumindest ohne Angst vor langfristigen Nebenwirkungen bedenkenlos Ihre eigenen Experimente durchführen können. Entweder
hilft sie Ihre Symp­tome zu lindern, oder sie hilft nicht, Sie müssen
sich aber in jedem Fall keine Gedanken darüber machen, ob Sie
Ihrer Gesundheit damit schaden. Was bei der Frage, ob sportliche
Betätigung Frauen in der Menopause bei der Linderung von Hitze­
wallungen hilft, auf der Strecke bleibt, ist das große Bild, näm­­lich
dass Bewegung generell vor Herz­k rankheiten, Diabetes, Brustkrebs
und einem Rückgang der kogni­tiven Fähigkeiten schützt.
Die physischen Symptome der Menopause verschlimmern die
Stim­mungssymptome, und es steht außer Frage, dass körperliche
Bewegung diesbezüglich hilfreich ist. Eine Frau erklärte mir, das
Frustrierendste am Altern sei für sie, dass sie das Gefühl habe, ihr
Körper sei außer Kontrol­le geraten. Sie nahm zu, litt unter Hitze­wal­
lun­gen und hohem Blut­druck und ihre Sehschärfe verschlechterte
sich. Außerdem ist sie bisweilen nervös, ängstlich und depressiv. Was
körperliche Bewegung liefert, ist ein Gefühl der Kontrolle über die
physischen Veränderungen, aber mehr noch über die emotionalen
Veränderungen. „Ich weiß, dass körperli­che Bewegung hilft, viele
256
Der Einfluss auf die Gesundheit des weiblichen Gehirns
dieser Symptome im Zaum zu halten“, sagt sie. „Sie hilft mir, damit
ich so proaktiv wie möglich beim Umgang mit einigen dieser Dinge
sein kann, die so sehr außer Kontrolle geraten sind.“
Wie bei PMS scheinen es in der Menopause die Schwankungen
der Hormone, nicht die Hormonspiegel als solche zu sein, die manche Frauen anfällig für Ängste und Depressionen machen. Bei
Frauen ist die Wahrscheinlichkeit generell doppelt so hoch wie bei
Männern, unter Ängsten und Depressionen zu leiden, und dieses
Risiko erhöht sich weiter, wenn sie in die Wechseljahre kommen.
Dies ist das Er­gebnis einer Studie, die der Psychiater Lee Cohen
durchführte, Spezialist für Frauenkrankheiten am Massachusetts
General Hospital. Im Rahmen einer großen Studie, der sogenannten Harvard Study of Moods and Cycles, verfolgte er sechs Jahre
lang die Entwicklung von 460 Frauen im Alter zwischen 36 und 45
Jahren, um eventuelle Stim­mungs­ver­än­de­run­gen zu vergleichen,
wenn sie in die Menopause kamen. Keine dieser Frauen hatte in der
Vergangenheit an Depressionen gelitten, ihr Risiko, eine Depression
zu entwickeln, verdoppelte sich in der Menopause jedoch.
Bei einer kürzlich durchgeführten Erhebung unter 883 Frauen
(im Alter von 45 bis 60 Jahren) stellten Forscher der University of
Queens­land in Australien eine starke Korrelation zwischen sportlicher Betätigung und Symptomen der Menopause fest. Erstaunliche
84 Prozent der Frauen berichteten, dass sie zweimal oder mehrmals
pro Woche Sport trieben, und sie hatten erheblich weniger physische
und psychische Symptome einer Depression als Frauen, die sich nicht
sport­lich betätigten. Im Einzelnen fühlten sie sich weniger verspannt,
müde und erschöpft. Sie klagten weniger über Kopfschmerzen und
weniger über Enge oder Druck in ihrem Körper. Insgesamt können
sportliche Ak­tivitäten, so das Fazit der Studie, enormen Einfluss auf
das Wohl­be­fin­den und die Lebensqualität einer Frau haben.
257
Kapitel 8: Hormonelle Veränderungen
Sportliche Ersatztherapie
Es ist hinreichend gesichert, dass mehr Frauen an der AlzheimerKrankheit leiden als Männer, dies gilt auch dann, wenn die Stat­istiken
hinsichtlich der längeren Lebenserwartung von Frauen bereinigt worden sind. Auf der anderen Seite scheint die schützende Wir­kung sportlicher Betätigung beim Rückgang kognitiver Fähigkeiten bei Frauen
herausgestellt zu werden. In einer 2001 in den Archives of Neuro­logy
veröffentlichten Studie analysierte Danielle Laurin von der Laval Uni­
versity im kanadischen Quebec die Beziehung zwischen sport­lichen
Betätigungen und physischen Aktivitäten bei einer Gruppe von 4.615
älteren Männern und Frauen über einen Zeitraum von fünf Jahren.
Laurin stellte fest, dass bei Frauen im Alter von über 65, die ein höheres Maß an physischen Aktivitäten hatten, die Wahrscheinlichkeit,
eine Form von Demenz zu entwickeln, um 50 Prozent geringer war
als bei ihren inaktiven Altersgenossen und -genossinnen.
Bis zur Veröffentlichung der WHI-Studien waren Wissenschaftler
der Überzeugung, dass eine Hormonersatz-Therapie vor dem Ver­
fall kognitiver Fähigkeiten schützt, die Belege unterstützen diese
An­nahme jedoch nicht. Eine der Fragen, die Forscher inzwischen
aufgegriffen haben, ist, ob sportliche Aktivitäten und Hormone
inter­a ktive Effekte auf den Rückgang kognitiver Fähigkeiten nach
der Menopause haben. For­schungen von Carl Cotmans Labor an
der University of California, Irvine, legen den Schluss nahe, dass
Östro­gen notwendig ist, damit sportliche Aktivitäten den BDNFSpiegel im präfrontalen Cortex weiblicher Raten erhöhen können.
Die Studie war jedoch so angelegt, dass sie sich nicht unbedingt
auf die Be­din­gungen der Menopause beim Menschen übertragen
lässt; bei den Ratten waren die Eierstöcke im Alter von drei Monaten
entfernt worden, was vom Alter her jungen, gesunden Frauen entsprechen würde. Die ersten Berichte über Untersuchungen beim
Menschen zu dieser Frage lassen darauf schließen, dass Östrogen
kein wesentlicher Bestandteil ist, damit sportliche Betätigung vor
dem Verfall kognitiver Fähigkeiten schützen kann. Im Rahmen einer Studie untersuchte die Physiologin Jennifer Etnier, die jetzt an
der University of North Carolina in Greensboro ist, mittels Tests die
258
Der Einfluss auf die Gesundheit des weiblichen Gehirns
geistige Verarbeitungsgeschwindigkeit und die Exekutive Funktion
bei 101 Frauen nach der Menopause und verglich die Ergebnisse mit
dem von ihnen berichteten Niveau regelmäßiger aerober Übungen.
Diejenigen, die körperlich aktiver waren, hatten höhere Werte, ungeachtet dessen, ob sie eine Hormonersatz-Therapie gemacht hatten
oder nicht.
Die aufschlussreichste Studie zu diesem Thema kommt aus dem
Labor des Psychologen Arthur Kramer an der University of Illinois
in Urbana-Champaign, die als eine der Ersten einen Zusammenhang
zwischen bestimmten kognitiven Fähigkeiten und Veränderungen
in der Hirnstruktur herstellte, was durch MRI-Scans festgestellt
worden war. Kramer wollte sehen, ob sportliche Aktivitäten und
eine Hormonersatz-Therapie in ihrem Einfluss auf die Exekutive
Funktion und das Vo­lu­men des präfrontalen Cortex zusammenwirkten. Im Rahmen einer komp­liziert angelegten Untersuchung
rekrutierte er 54 Frauen, die die Menopause bereits hinter sich hatten und sich jeweils damit einverstanden erklärten, einen MRI-Scan,
mentale Tests der Exekutiven Funktion und einen Test auf dem
Laufband zur Feststellung ihres maximalen Sauerstoffverbrauchs
(VO2) zur Messung ihrer Fitness zu machen. Die Daten wurden in
vier Kategorien unterteilt, je nach Dauer der Hormonersatz-Thera­
pie. Die erste Gruppe hatte sich nie einer Hor­mon­behandlung unter­
zogen, und bei den übrigen drei Gruppen wurde zwischen einer
kurzfristigen (zehn Jahre oder weniger), einer mittelfristigen (elf bis
15 Jahre) und einer langfristigen (16 Jahre oder mehr) Behandlung
unterschieden.
Die 2005 veröffentlichten Ergebnisse zeigten, dass die Frauen
mit der kurzfristigen Hormonersatz-Therapie bei den Tests besser
abschnit­ten und ein größeres Gehirnvolumen hatten als Frauen, die
nie eine Therapie gemacht hatten oder die eine Therapie von mehr
als zehn Jahren gemacht hatten. Dies legt den Schluss nahe, dass eine
Ho­r­mon­er­satz-Therapie in der Tat kurzfristig eine schützende Wir­
kung haben kann. Als aerobe Fitness einbezogen wurde, hatte dieser
Um­stand einen erheblichen Einfluss auf die Leistungswerte und das
Gehirnvolumen. Bessere Fitness scheint die Verschlechterung oder
den Verfall bei Frauen auszugleichen, die beziehungsweise den sie
ansonsten erleben würden, wenn sie nie eine Hormonersatz-Therapie
259
Kapitel 8: Hormonelle Veränderungen
gemacht hätten, oder wenn sie daran mehr als zehn Jahre teilgenommen hätten.
Eine der Theorien aus der Nagetierforschung besagt, dass bei einer langfristigen Hormonersatz-Therapie die Östrogen-Rezeptoren
im Hypothalamus langsam abgebaut werden, also in jener Region,
die die Immunreaktion aktiviert. Und dass Frauen, wenn der Hy­
pothalamus nicht richtig arbeitet, anfälliger für Krankheiten wie
Krebs sein würden. Ebenso wichtig ist, dass eine langfristige Östro­
gen­behandlung bei Nagetieren auch Zellentzündungen verur­sa­chen
kann, die ein Risikofaktor für Alzheimer sind und mit einer Be­ein­
trächtigung des Erinnerungsvermögens assoziiert werden.
Kramers These ist, dass sportliche Betätigung die positiven Effek­
te einer kurzzeitigen Hormonersatz-Therapie zu fördern scheint,
und dies entspricht den neuroprotektiven Mechanismen, die ich
beschrieben habe. Körperliche Bewegung zündet den Funken für
die Produktion von Neurotransmittern und Neurotrophinen, lässt
mehr Rezeptoren für sie in Schlüsselregionen des Gehirns entstehen
und schaltet Gene ein, die dafür sorgen, dass der positive Kreislauf
sich immer weiter dreht. Diese Eigendynamik ist für Frauen generell
sehr wichtig, aber ins­besondere nach der Menopause.
Eine Routine entwickeln
Mein Vorschlag ist, sich an mindestens vier Tagen pro Woche aufzuraffen und nach draußen zu gehen, um schnell zu gehen, zu joggen, Tennis zu spielen oder einer anderen Aktivität nachzugehen,
die dafür sorgt, dass Ihr Puls auf 60 bis 65 Prozent Ihrer maximalen
Herzfrequenz steigt. Auf diesem Niveau sollten Sie ihn eine Stunde
lang halten. Jeder möchte immer gerne wissen, welche aeroben
Übungen am besten sind, und die Antwort ist: Was immer Sie in
Ihren Lebensstil einbauen können. Entscheidend ist, dass Sie daran
festhalten und sicherstellen, dass ihre Herzfrequenz dabei hoch genug ist, um die nutzbringenden Effekte zu erzielen. Ebenso wichtig
ist, an einigen Tagen in der Woche ein Krafttraining einzubauen,
um ihre Knochen vor Osteoporose zu schützen.
260
Der Einfluss auf die Gesundheit des weiblichen Gehirns
Für jüngere Frauen, die an PMS leiden, schlage ich aerobe Übun­
gen auf dem gleichen Niveau an fünf Tagen in der Woche vor, wobei es jedoch eine gute Idee sein könnte, kurze, intensivere Teile wie
Sprints an zwei der Tage mit einzubauen, allerdings nicht unmittel­
bar hintereinander. Einige der Studien weisen darauf hin, dass
Aktivitäten mit einer höheren Intensität einen deutlicheren Effekt
auf Symptome wie Reizbarkeit, Ängste, Depressionen und Stim­
mungs­schwankungen haben. Und wenn Ihre Symptome besonders
schlimm sind und Sie nicht durch Krämpfe völlig lahmgelegt sind,
ist es wahrscheinlich eine gute Idee, in der prämenstruellen Phase
Ihres Zyklus jeden Tag etwas zu tun.
Der Rat, der meines Erachtens alle am meisten überrascht, ist, sich
auch während einer Schwangerschaft weiterhin sportlich zu betätigen
– eine Empfehlung, die schließlich auch vom American College of
Ob­st­et­ri­cians and Gynecologists abgesegnet wurde. Nach den Richt­
linien des American College werden täglich 30 Minuten mäßig intensive, aerobe Aktivität während der Schwangerschaft für gesunde
Frauen em­pfohlen. Natürlich ist es wichtig, diesbezüglich auch die
Zustimmung ihres Arztes einzuholen, für die meisten Frauen sind
solche sportlichen Aktivitäten jedoch unbedenklich. Ebenso kann ich
nicht genug betonen, wie wichtig es ist, ihr routinemäßiges Übungs­
pro­gramm so bald wie möglich nach der Geburt des Babys wieder
aufzu­nehmen, am bes­ten bereits nach einigen Wochen. Auch wenn
es wider­sinnig erscheinen mag, aber Bewegung sorgt tatsächlich dafür, dass Sie weniger müde sind. Und bei Frauen wie meiner Patientin
Stacy vertreibt sie außerdem Ängste und Depressionen.
Wenn Frauen jünger sind, ist eine der großen Motivationen, um
Sport zu treiben, dass sie schlank bleiben möchten, und dies ist absolut in Ordnung. Nutzen Sie alles, welcher Beweggrund auch immer
Sie dazu bringt, etwas zu tun. Die Botschaft, die ich Ihnen jedoch
geben möchte, ist Folgende: Sportliche Betätigung verändert nicht
nur Ihren Körper, sondern sorgt auch dafür, dass Ihr Geist fit und
aufnahmefähig bleibt. Und mit dieser mentalen Fitness werden Sie
gerüstet sein, um mit den hormonellen Schwankungen umzugehen,
die jede Frau zeit ihres Lebens erfährt. Ganz zu schweigen von den
Schwankungen des Lebens selbst.
261
9. Altern

Der weise Weg
M
eine Mutter war als schnelle Geherin bekannt. Mit ihrer Kör­
per­größe von 1,70 Metern beherrschte sie die Gehwege in unserer Stadt im Westen Pennsylvanias, und die Leute fragten meine
Ge­schwister und mich immer, wo sie denn hinliefe. Mit schnellem
Schritt ging sie jeden Morgen in die Kirche zur Frühmesse, außer
an Sonn­tagen, wenn mein Vater mit uns allen, herausgeputzt in
unserem Sonntags­staat, dorthin fuhr. Es waren etwa zweieinhalb
Kilometer bis zur Kirche, was bei dem Tempo, das meine Mutter an
den Tag legte, ein ziemlich gutes Training war, sie ging jedoch nicht,
um in Form zu bleiben. Sie ging, weil sie gerne ging (und um die
Preise in den Lebens­mit­tel­geschäften zu vergleichen, die anderthalb
Kilometer auseinander lagen).
In Anbetracht dessen, was Wissenschaftler über die „nährenden“ Effekte körperlicher Bewegung auf das Gehirn gelernt haben,
bin ich mir sicher, dass es das Ausmaß an körperlichen Aktivitäten
meiner Mutter war, das dafür sorgte, dass sie auch geistig so lange
so fit war. Mit weit über 80 Jahren führte Vern Ratey noch ein volles, beschwingtes Leben. Es war einfach ein Teil ihrer Persönlichkeit,
dass sie immer irgendetwas tun musste. Ich erinnere mich, dass wir
einmal eine Couch kauften, nachdem sie sich wochenlang endlos Gedanken über Farbe und Größe gemacht und immer wieder
263
Kapitel 9: Altern
gemessen und nachgemessen hatte. Als ich an dem Tag, an dem sie
geliefert wurde, aus der Schule nach Hause kam, überraschte ich
meine Mutter dabei, wie sie gerade die gepolsterten Armlehnen absägte, damit unser neues Möbelstück auch so passte, wie sie es sich
wünschte.
Mit ebendiesem ungebrochenen Eifer kümmerte sie sich um alles, egal, ob es um das Pflanzen von Tomaten in einem unwegsamen
Stückchen Land neben dem Haus oder um Schneeschaufeln ging. Sie
war sozusagen eine professionelle Ehrenamtlerin (mein Vater wollte
nicht, dass sie arbeiten ging) und unser Keller war voll von Kleider­
spen­den für den Kirchenbasar, was hieß, dass wir Kinder immer die
erste Wahl hatten. Als Kind einer Familie der Arbeiterklasse einst
tschecho­s­lo­wakischer Einwanderer war sie eine Amerikanerin in der
zweiten Generation und sicher ein Produkt der Großen Depression:
Sparsam und ernst, rau, aber liebevoll.
Mein Vater Stephen war vier Jahre älter als sie und starb, als meine
Mutter 59 war. Auch wenn sie einige Jahre brauchte, um darüber hinwegzukommen, so war sie doch eine widerstandsfähige Frau, die sehr
viele Freunde hatte. Schließlich lernte sie dann einen anderen Mann
kennen und heiratete mit Mitte 60 noch einmal. Die beiden verbrachten den Winter jeweils in Vero Beach, Florida, wo er ihr beibrachte,
wie man Golf spielte, und sie lernte sogar schwimmen. Im Sommer
zog sie gleich nach dem Aufstehen ihren Badeanzug unter die normale Kleidung an, sodass sie bei ihren diversen Besorgungen gleich noch
im Schwimmbad vorbeigehen konnte. Die einzige Schwim­mtechnik,
die sie beherrschte, war herumzupaddeln wie ein Hund, das heißt,
sich in Brustlage durch leichtes Kreisen der Hän­de und Füße über
Wasser zu halten, und dies machte sie dann jeweils eine Stunde lang
im kalten Wasser. Und Gehen stand weiterhin auf der Tagesordnung;
sie ging sehr viel: zur Kirche, zum Lebens­mittelgeschäft, zum Tanzen
oder zum Bowlen oder dreimal wöchentlich zum Bridgespielen ins
Seniorenzentrum.
Abgesehen von einer Osteoporose, ging es ihr gesundheitlich sehr
gut. Und sie hatte einen scharfen Verstand. Wann immer ich sie
anrief, erzählte sie mir detailliert, wie viele Punkte sie beim Bridge
gewonnen hatte, oder wir unterhielten uns darüber, wie sie ihr Geld
anlegen sollte. Ihr zweiter Ehemann starb, als sie Anfang 70 war,
264
Der weise Weg
aber sie ließ sich nicht unterkriegen und war weiterhin ständig in
Bewegung.
Als meine Mutter 86 war, stolperte sie und brach sich eine Hüft­
sei­te – es war genau die Art von Unfall, durch die rund 1,8 Mil­
lio­nen Senio­ren jährlich in der Notaufnahme landen. Auch wenn
Herzkrank­hei­ten, Krebs, Schlaganfall und Diabetes bei US-Ame­
rikanern im Alter von über 65 Jahren die führenden Todes­ur­sachen
sind, leben viele von ihnen in der Furcht, zu fallen und sich ihre
spröden Knochen zu brechen. Hüft­f rakturen sind besonders problematisch, da sie eine monate­lange Re­ha­bilitation erfordern; und die
Beweglichkeit in einem so wichti­gen Gelenk zu verlieren, das nahezu
das ganze Körpergewicht trägt, bedeutet in der Regel eine drastische
Beschränkung der eigenen Bewe­gungs- und Aktivitätsmöglichkeiten.
Etwa 20 Prozent der älteren Men­schen, die einen Hüftbruch erleiden,
sterben innerhalb eines Jahres.
Was meine Mutter angeht, so war sie nach etwa sechs Monaten
wieder so weit auf den Beinen, dass sie mit einer Gehhilfe zurechtkam. So kamen wir umhin, sie in einem Pflegeheim unterzubringen,
und konnten die Situation damit lösen, dass wir eine Pflegekraft
engagierten, die bei ihr im Haushalt lebte. Der Unfall hatte sie in
ihrer Mobilität jedoch eingeschränkt – sie schlurfte, statt zu gehen.
Und ihre Osteoporose schritt nun schneller voran, sie krümmte ihr
Rückgrat und das zwang sie in eine gebeugte Haltung. Als ihr Körper
langsamer wurde, verlangsamte sich auch ihr Geist: Sie hörte auf,
Bridge zu spielen, und fing an, sich Seifenopern anzuschauen. Eine
Freundin nahm sie an Sonntagen mit zur Kirche, ansonsten kam
sie jedoch nicht mehr viel nach draußen. Sie baute geistig ab, hatte
aber noch keine Demenz – sie wusste genau, wer ich war, bei unseren
Gesprächen wusste sie jedoch immer weniger zu sagen.
Im darauf folgenden Jahr fiel sie dann erneut hin und brach
sich die andere Hüftseite. Es war erschütternd für mich, sie völlig
immobili­siert zu sehen, und dies war der Punkt, an dem sie dann
wirklich auf­hörte, sie selbst zu sein. Sie konnte nicht mehr unterscheiden zwi­schen dem, was real war und was nicht. Die Darsteller
aus den Seifen­opern wurden Teil ihres Lebens und sie sprach mit
ihnen, als wären sie unmittelbar bei ihr im Zimmer. Sie starb eines
natürlichen Todes im Alter von 88 Jahren.
265
Kapitel 9: Altern
Alles zusammenhalten
Ich habe in diesem Buch sehr viel über die biologischen Ver­bin­
dungen zwischen Körper und Gehirn gesprochen, und diese Ver­bin­
dungen sind bei keinem anderen Thema wichtiger als beim Altern.
Schließlich hilft einem ein gesunder Geist nicht sonderlich viel, wenn
der Körper nicht mehr mitmacht.
Im Jahr 1900 lag die Lebenserwartung der US-Amerikaner im
Durch­schnitt bei 47 Jahren. Heute liegt die Lebenserwartung bei
über 76 Jahren, und wenn ältere Menschen sterben, ist die Ursache
eher eine chronische Krankheit als eine akute Erkrankung. Aller­
dings werden diejenigen, die diese Widrigkeiten überleben, mit anderen erschreckenden Statistiken konfrontiert: Den Erhebungen der
Zentren für Krank­heits­kontrolle (CDC, Centers for Disease Control)
zufolge leidet ein 75-Jähriger im Durchschnitt unter drei chronischen medizinischen Be­schwerden und nimmt fünf verschriebene
Medikamente ein. Von den über 65-Jährigen leiden die meisten unter Bluthochdruck, mehr als zwei Drittel sind übergewichtig, und
fast 20 Prozent haben Diabetes (so­dass das Risiko, Herzkrankheiten
zu entwickeln, dreimal so hoch ist). Die führenden Todesursachen
sind Herzkrankheiten, Krebs und Schlaganfälle; insgesamt gehen 61
Prozent aller Todesfälle in dieser Altersgruppe auf ihr Konto.
Wir wissen bereits, dass Rauchen, Bewegungsarmut und schlechte Ernährung die eigentliche Ursache dieser körperlichen Krank­
heiten sind. Ebenso lassen die neuesten Forschungen keinen Zweifel
daran, wie der Lebensstil Einfluss auf die Krankheitsrisiken auf
mentaler Ebene hat, die mit dem Alterungsprozess verbunden sind.
Die gleichen Dinge, die den Körper umbringen, bringen auch das
Gehirn um, was der Neurowissenschaftler Mark Mattson vom Na­
tional Institute on Aging indes als etwas Positives sieht. „Wenn wir
dies ernst nehmen, dann ist die gute Nachricht meines Erachtens,
dass viele der Faktoren, die das Risiko reduzieren können, an einer
Herz- und Gefäßkrankheit sowie an Diabetes zu erkranken, auch das
Risiko für altersbedingte neurodegenerative Störungen reduzieren“,
sagt er. Die Maßnahmen, die wir ergreifen würden, um uns beispielsweise vor Diabetes zu schützen, halten auch den Insulinspiegel
266
Der weise Weg
im Gehirn im Gleichgewicht und unterstützen die Neuronen bei
der Bewältigung von metabolischem Stress. Laufen, um unseren
Blutdruck zu senken und unser Herz zu stärken, verhindert auch,
dass die Kapillare im Gehirn zusammenbrechen oder angegriffen
werden und einen Schlaganfall verursachen. Gewichte heben, um
zu verhindern, dass unsere Knochen durch Osteoporose zersetzt
werden, sorgt auch dafür, dass Wachstumsfaktoren ausgeschüttet
werden, die wiederum die Dendriten wachsen und gedeihen lassen. Umgekehrt stärkt die Einnahme von Omega-3-Fettsäuren zur
Förderung der geistigen Fitness auch unsere Knochen.
Die mentalen und physischen Krankheiten, mit denen wir mit
zu­nehmendem Alter konfrontiert sind, sind durch das Herz- und
Gefäß­system und das Stoffwechselsystem miteinander verknüpft.
Ein Ver­sagen dieser grundlegenden Verbindungen erklärt, warum
bei fett­leibi­gen Personen die Wahrscheinlichkeit, eine Demenz zu
erleiden, dop­pelt so hoch ist, und warum bei denjenigen, die Herz­
krankheiten haben, das Risiko weitaus größer ist, Alzheimer zu entwickeln, die am meisten verbreitete Form von Demenz. Wenn Sie
Diabetes haben, liegt das Risiko, eine Demenz zu entwickeln, statistisch gesehen 65 Prozent höher, und ein hoher Cholesterinspiegel
erhöht das Risiko um 43 Prozent. Wir haben über die medizinischen
Belege gesprochen, dass körper­liche Bewegung jahrzehntelang vor
diesen Krankheiten schützt; den Zentren für Krankheitskontrolle
(CDC) zufolge gibt jedoch ein Drittel der Bevölkerung im Alter von
über 65 Jahren an, keiner Freizeitaktivität mehr nachzugehen. Meine
Hoffnung ist, dass Sie, wenn Sie verstehen, wie körperliche Bewegung
auch ihren Geist schützt, sich dies zu Herzen nehmen.
Einige der überzeugendsten Nachweise über den Effekt körperlicher Bewegung auf das alternde Gehirn stammen aus einem
bahnbrechenden Forschungsprojekt, der sogenannten Nurses’
Health Study, bei dem Mitte der 1970er-Jahre die gesundheitlichen
Gewohnheiten von mehr als 122.000 Krankenschwestern alle zwei
Jahre erfasst wurden. 1995 begannen Forscher mit kognitiven Tests,
die sie mit einigen der Krankenschwestern durchführten. Diese ermöglichten es der Epidemiologin Jennifer Weuve an der Harvard
University, bei 18.766 Frauen im Alter zwischen 70 und 81 Jahren
die Beziehung zwischen dem Ausmaß an körperlicher Bewegung
267
Kapitel 9: Altern
und ihren kognitiven Fähigkeiten zu analysieren. Weuve nutzte den
Datenbestand, um der Frage nachzugehen, ob es einen direkten
Zusammenhang zwischen regelmäßigen körperlichen Aktivitäten
während des ganzen Erwachsenenlebens und geschärfteren geistigen Funktionen gibt, wenn wir älter werden. Die im Journal of the
American Medical Association veröffentlichten Ergebnisse unterstreichen eindrucksvoll, was sie im Vorfeld bereits ahnte: Bei Frauen, die
das höchste Maß an Energie auf körperliche Aktivitäten verwendeten, lag das Risiko kognitiver Beeinträchtigungen bei Tests über
das Auffassungsvermögen und die allgemeine Intelligenz 20 Prozent
niedriger. In dieser Gruppe bestand das Durchschnittsniveau der
Aktivitäten darin, dass diese Frauen zwölf Stunden in der Woche
gingen oder insgesamt knapp vier Stunden joggten, im Vergleich
knapp einer Stunde Gehen bei der am wenigsten aktiven Gruppe
(von insgesamt fünf). Man muss jedoch keine „Supersportlerin“
sein, meint Weuve, um einen nutzbringenden Effekt zu erzielen.
„Das Schöne ist wirklich, dass wir bereits bei einem bescheidenen
Maß an Aktivitäten Effekte sehen konnten – wir sprechen hier von
anderthalb Stunden Gehen pro Woche“, sagt sie. Selbst auf diesem
relativ niedrigen Niveau „sieht man bereits einen nutzbringenden
Effekt, der im Vergleich zu den am wenigsten aktiven Frauen wesentlich höher liegt.“
Wie wir altern
Dass wir älter werden, lässt sich nicht vermeiden, dabei zu verfallen,
jedoch sehr wohl. Aber wie kommt es, dass manche Leute mit relativ
wenig gesundheitlichen Problemen 100 Jahre alt werden, während
andere an chronischen Krankheiten leiden, die sie jeder normalen
mentalen und physischen Funktionsfähigkeit berauben? Um zu verstehen, wieso das Alter so unterschiedliche Wege gehen kann, ist es
hilfreich, sich das Leben und den Tod auf zellularer Ebene anzuschauen.
In dem Zuge, wie wir altern, verlieren die Zellen im ganzen Kör­
per allmählich ihre Fähigkeit, sich Stress anzupassen. Warum dies
268
Der weise Weg
so ist, muss die Wissenschaft erst noch klären; fest steht jedoch,
dass die Schwelle zur Bekämpfung molekularen Stresses, der durch
freie Radikale, außerordentlichem Energiebedarf und übermäßige
Erreg­bar­keit ausgelöst wird, bei älteren Zellen niedriger ist. Und die
Gene, die für die Produktion von Proteinen verantwortlich sind, die
schädliche Ab­fall­produkte beseitigen, hören auf, ihrer Aufgabe nachzukommen, was zu einer zellularen Todesspirale führen kann, die
von Neu­ro­w is­sen­schaftlern als Apoptose (programmierter Zell­tod)
bezeichnet wird. Mit zunehmender Schädigung wird das Immun­
system aktiviert, sodass weiße Blutkörperchen und andere Faktoren
ausgesandt werden, um die toten Zellen „aufzuwischen“, wodurch
eine Entzündung entsteht; wird die Schwellung chronisch, entstehen noch mehr schädigende Proteine. Und diese Proteine werden
unmittelbar mit der Alzheimer-Krankheit assoziiert.
Wenn bei den Neuronen im Gehirn aufgrund von zellularem
Stress Verschleißerscheinungen eintreten, zehrt dies an den Synap­
sen, was am Ende zu einer Unterbrechung der Verbindungen führt.
Mit nachlassender Aktivität schrumpfen schließlich die Den­dri­
ten physisch und schwinden. Wenn hier und da ein Signal verloren
geht, so stellt dies zunächst kein großes Problem dar, da das Gehirn
so konzipiert ist, dass es solche Schwächen durch Umleiten von
Informationen um derartige toten Flecken im Netzwerk dadurch ausgleicht, dass andere Regionen für die Weiterleitung der Informationen
rekrutiert werden. Das System hat gewissermaßen eine eingebaute
Sicherheitskapazität. Vergessen Sie nicht, dass wir von mehr als rund
100 Milliarden Neuronen sprechen, von denen jede bis zu 100.000
Inputs haben kann. Es ist ein sehr soziales Netz­werk, das dadurch
wächst und gedeiht, dass neue Verbindungen hergestellt werden,
und das sich, wie gesagt, ständig neu verdrahtet und anpasst – vorausgesetzt, es gibt genügend Stimulation, um das Wachstum neuer
Verbindungen anzukurbeln. Mit zunehmendem Alter ist mehr Fläche
erforderlich, um irgendeine Funktion auszuführen. Weisheit ist, glaube ich, ein Spiegel dessen, wie geschickt und versiert das Gehirn darin
ist, diesen Effizienzverlust auszugleichen.
Erfolgt der synaptische Verfall schneller als die Bildung neuer Sy­
nap­sen, bemerkt man allmählich, dass es Probleme mit der mentalen
oder physischen Funktionsfähigkeit gibt, angefangen von Alzheimer
269
Kapitel 9: Altern
bis hin zur Parkinson-Krankheit (je nachdem, wo die Degeneration
auftritt). Im Grunde sind kognitive Verfallserscheinungen und
neu­rode­ge­ne­rative Krankheiten auf dysfunktionale und sterbende
Neuronen zurück­zuführen; es handelt sich dabei um einen Zusam­
men­bruch der Kom­mu­nikation. Bei der Forschung über das Altern
geht es hauptsächlich um Bemühungen, „die Fähigkeit der Nerven­
zellen, zu kommunizieren und am Leben zu bleiben, wiederherzustellen“, erklärt Mattson. „Wenn man dies kann, dann kann man
ihre Degeneration und damit die Krankheit verhindern.“
In dem Zuge, wie die synaptische Aktivität nachlässt und die
Den­dri­ten sich zurückziehen, schrumpfen auch die Kapillare, die
das Gehirn versorgen, sodass die Durchblutung eingeschränkt wird.
Der Prozess kann jedoch auch umgekehrt verlaufen: Schrumpfen
die Kapil­lare, weil nicht genügend Blut durch sie gepumpt wird, folgen die Den­driten diesem Prozess. So oder so, es ist tödlich. Ohne
Sauerstoff, Brenn­stoff, Nähr­stoff und Reparaturmoleküle, die allesamt durch das Blut transportiert werden, sterben die Zellen. Die
Spiegel nährender Neu­ro­trophine – wie der neurotrophe Faktor
BDNF und der vaskuläre endo­t he­liale Wachs­tums­faktor (VEGF) –
schwinden mit zunehmendem Alter auch, und die Produktion des
Neurotransmitters Dopamin verlangsamt sich, was sowohl die motorische Funktion als auch die Mo­ti­va­tion untergräbt. Unter­dessen
erhält der Hippocampus zunehmend weniger neue Neu­ro­nen, mit
denen er arbeiten kann.
Studien über Ratten weisen darauf hin, dass die Neurogenese
sich mit zunehmendem Alter drastisch verlangsamt – nicht weil
weniger Stamm­zellen geboren werden, sondern weil sich aus dem
Anfangspool weniger Stammzellen teilen und sich zu voll funktionierenden Neu­ro­nen entwickeln (wahrscheinlich aufgrund von weniger VEGF). Die meisten neuronalen Stammzellen sterben sowieso,
aber die Anzahl derjenigen, die am Ende genutzt werden, fällt bei
Nagetieren mittleren Alters von 25 Prozent auf acht Prozent (was bei
uns etwa dem Alter von 50 Jahren entspricht), und schließlich, wenn
sie alt sind, auf vier Prozent (d. h. im menschlichen Alter von mehr
als 65). Dies sagt jedoch nichts über die großen Anteile des Gehirns
aus, die nicht von der Neuro­genese profitieren. Ab einem Alter von
etwa 40 Jahren verlieren wir pro Jahrzehnt im Durchschnitt fünf
270
Der weise Weg
Prozent unserer Gehirnmasse, bis wir etwa 70 sind, wobei der Pro­
zess ab diesem Punkt dann durch eine Reihe von Faktoren beschleunigt werden kann.
Personen wie meine Mutter, die auch mit zunehmendem Alter
engagiert und aktiv bleiben, können die Degeneration verlangsamen. Bei einer Studie über Personen, die vor einiger Zeit in den
Ruhe­stand gegangen waren, stellten Forscher fest, dass bei denjenigen, die körperlich oder sportlich aktiv waren, die Durchblutung
des Gehirns nach vier Jahren auf nahezu gleich bleibendem Niveau
war, während bei der inaktiven Gruppe ein erheblicher Rückgang zu
verzeichnen war. Wenn Ihr Gehirn nicht aktiv wächst, dann stirbt
es. Körperliche Bewegung ist eine der wenigen Möglichkeiten, dem
Alterungsprozess entgegenzuwirken, sodass sich der natürliche
Rück­gang der Stressschwelle verlangsamt. „Paradoxerweise“, sagt
Matt­son, „ist es gut, wenn Zellen in periodischen Abständen leichtem Stress ausgesetzt werden, weil dies ihre Fähigkeit verbessert, mit
schlimmerem Stress umzugehen.“
Darüber hinaus sorgt körperliche Bewegung für neue Ver­bin­dun­
gen und Wachstum in den Zellennetzwerken Ihres Gehirns genau so,
wie ich dies in früheren Kapiteln beschrieben habe: Bewegung erhöht
die Blutmenge, reguliert die Brennstoffversorgung und fördert die
neu­ronale Aktivität und Neurogenese. Da das alternde Gehirn anfälliger für Schädigungen ist, hat alles, was Sie tun, um es zu stärken,
einen nachhaltigeren Effekt, als dies bei einem jungen Erwachsenen
der Fall wäre. Das heißt jedoch nicht, dass es nicht wichtig wäre,
früh damit anzufangen – wenn Sie ein besseres, stärkeres Gehirn
mit mehr Ver­bin­dun­gen haben, das fit ist, ist es mit Sicherheit widerstandsfähiger und wird einem neuronalen Zusammenbruch wesentlich länger standhalten. Körperliche Bewegung ist sowohl präventive Medizin als auch ein Gegenmittel. Altern ist ein ebenso unweigerlicher wie natürlicher Prozess. Es gibt nichts, was Sie an dem
Warum ausrichten könnten, definitiv tun können Sie jedoch etwas
für das Wie und Wann.
271
Kapitel 9: Altern
Rückgang kognitiver Fähigkeiten
Dass kognitive Fähigkeiten nachlassen, zeigt sich zuerst an den kleinen Dingen. Wenn die Verbindungen im Gehirn zusammenbrechen, fällt es Ihnen schwerer, sich an Personen und Orte zu erinnern,
die Sie kennen. Jeder erlebt dies an irgendeinem Punkt – es liegt einem förmlich auf der Zunge, aber irgendwie will es einem partout
nicht einfallen. Der präfrontale Cortex, der die Suchmaschine Ihres
Gedächtnisses ist, kann es nicht abrufen. Der Hippocampus liefert
weitere Assoziationen, um Ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen; es ist aber in jedem Fall frustrierend, dass Sie sich bei etwas, das
einmal unbewusst, sozusagen automatisch erfolgte, so sehr anstrengen
müssen. Dies passiert den meisten von uns, wenn wir älter werden,
wobei jedoch das Ausmaß, in dem sich eine sogenannte leichte kognitive Beeinträchtigung bei Einzelnen äußert, sehr verschieden ist.
Ein solcher Rückgang kognitiver Fähigkeiten verläuft nicht unbedingt immer fortschreitend. Sofern eine leichte kognitive Beein­
träch­ti­gung unkontrolliert fortbesteht und sich weiter fortsetzt,
kann sie jedoch zur Demenz werden. Es beginnt damit, dass Sie die
Ereignisse einfach nicht mehr „auf die Reihe bekommen“ die Sie
geprägt und zu der Person gemacht haben, die Sie sind, ein schrecklich bedrohliches Ge­f ühl, das an Ihrem Selbstwertgefühl nagt. Sehr
viele Menschen, die merken, dass sie in dieser Situation sind, neigen
dazu sich zurückzuziehen, was unwissentlich ein Spiegelbild ihrer
Dendriten ist. Sie gehen nicht mehr aus sich heraus und stellen keine
neuen Verbindungen mehr her, aus Furcht, nicht zu wissen, wie sie
reagieren sollen. So ziehen sie sich aus der Welt zurück, entweder aus
Beschämung oder einfach, weil sie sich außerhalb der Vertrautheit
der eigenen vier Wände unwohl fühlen. So oder so, das Ergebnis ist,
dass sie von Beziehungen abgeschnitten werden, die ihnen etwas bedeuten und eine wichtige Form der Stimulation für das Gehirn sind.
Isolation und Inaktivität nähren die zellulare Todesspirale, und dies
lässt das Gehirn schrumpfen und verkümmern.
Die Erosion hinterlässt die deutlichsten Spuren im Frontallappen,
der sowohl die graue Substanz des präfrontalen Cortex als auch
die weiße Substanz seiner Axone sowie den Schläfenlappen
272
Der weise Weg
(Temporal­lap­pen) mit einschließt, der Worte und Namen katalogisiert und durch seine enge Verbindung mit dem Hippocampus
bei der Bildung des Langzeitgedächtnisses hilft. Wenn der prä­
frontale Cortex nicht mehr funktioniert, kommen auch höhere kognitive Funktionen zum Erliegen, und dies ist der Punkt, an dem
grundlegende Aspekte des All­tags­lebens beschwerlich werden. Iro­
nischerweise hängen die Fähig­kei­ten, die wir für selbstverständlich
nehmen – die Schuhe schnü­ren, eine Tür aufschließen oder zum
Supermarkt fahren –, von den höchstrangigen Hirnfunktionen wie
dem Kurzzeitgedächtnis sowie der Fähigkeit ab, zwischen Aufgaben
zu wechseln und irrelevante In­for­mationen auszublenden. Das ist
der Grund, warum selbst ein trainierter Affe Schwierigkeiten hat,
ein Hemd richtig zuzuknöpfen, und wahr­scheinlich auch, warum
einer meiner Patienten immer vergisst, den Reißverschluss an seiner Hose zu schließen. Mit 78 Jahren macht er ständig den gleichen
Fehler, obwohl seine Frau ihm immerzu Predigten hält, weil sein
Kurzzeitgedächtnis sich einfach nicht merken kann, dass er gerade
die Toilette benutzt hat.
Der Schläfenlappen, unser mentales Wörterbuch, ist eine der
Hirnregionen, die bei der Alzheimer-Krankheit verkümmern. Ein
einfacher Test zum Nachweis der Krankheit ist, jemandem eine Liste
von Worten zu zeigen und nach einer halben Stunde zu fragen, woran er sich noch erinnern kann.
Wie im ersten Kapitel erwähnt, haben Forscher an der University
of Illinois eine Reihe von Studien durchgeführt, bei denen ein starker Zusammenhang zwischen dem Fitnessniveau und besseren
Leis­tun­gen in Tests nachgewiesen werden konnte, bei denen diese Hirnregionen angesprochen wurden. Einer Studie zufolge war
das Gehirn von älteren Erwachsenen, die, eigenen Angaben zufolge, in der Vergangenheit konsequent aerobe Übungen gemacht hatten, eindeutig besser erhalten, das zeigten die MRT-Aufnahmen. Ein
Zu­sam­menhang ist jedoch nur für Laborwissenschaftler interessant. Sie wollten sehen, ob körperliche Bewegung zu strukturellen
Veränderungen in diesen Hirnregionen führt.
Ein Team unter der Leitung des Neurowissenschaftlers Arthur Kra­
mer teilte 59 inaktive Personen im Alter von 60 bis 79 Jahren in zwei
Gruppen ein, die im Laufe von sechs Monaten dreimal wöchentlich
273
Kapitel 9: Altern
jeweils für eine Stunde ins Fitnessstudio gehen sollten. Diejenigen, die
zur Kontrollgruppe gehörten, machten ein Dehnübungsprogramm,
die anderen gingen auf Laufbändern, wobei sie bei 40 Prozent ihrer maximalen Herzfrequenz begannen, diese dann jedoch auf 60
bis 70 Prozent stei­gert­en. Die einzige Variable war die Fitness, und
tatsächlich war nach sechs Monaten bei der Walking-Gruppe eine
Verbesserung von durch­schnittlich 16 Prozent bei ihrem maximalen
Sauerstoffverbrauch (VO2 max.) festzustellen, der ein Maßstab für
die Kapazität der Lungen ist, Sauerstoff zu verarbeiten.
Die eigentliche bahnbrechende Erkenntnis offenbarten jedoch
die vorher und nachher gemachten MRT-Aufnahmen: Bei denjenigen, bei denen sich die Fitness verbessert hatte, war eine Erhöhung
des Ge­hirn­volumens im Frontal- und Schläfenlappen festzustellen.
Den Wis­sen­schaft­lern war zwar bekannt, dass dies im Hippocampus
möglich war, aber die These, dass das Gehirnvolumen sich auch im
Cortex erhöhte, lag nach Schätzung des Neurowissenschaftlers Carl
Cotman, der die Verbindung zwischen körperlicher Bewegung und
BDNF aufgezeigt hatte, „damit auf dem Tisch“. „Ich bin sicher, dass
er Recht hat“, sagt Cot­man von Kramer. „Er ist ein sehr ehrlicher, gewissenhafter Mensch. Aber die Ergebnisse sind mit Sicherheit grenzwertig. Ich meine, soviel ich weiß, hat bisher niemand in Tierstudien
aufgezeigt, dass eine Hirn­region bei einem älteren Tier durch eine
sehr kurze Phase physischer Ak­tivität größer wird.“
Es wird sich zeigen, ob Kramers Ergebnisse replizierbar sind, aber
die Idee, dass diese wichtigen Regionen des Gehirns durch körperliche Betätigung in nur sechs Monaten verbessert oder neu gestaltet
werden können, ist ermutigend. Auf den MRT-Aufnahmen sah das
Gehirn derjenigen, die sich körperlich betätigt hatten, so aus, als sei
es zwei oder drei Jahre jünger, als es tatsächlich war. Anhand der
Bildauflösung war nicht ersichtlich, worin das Wachstum bestand,
aber demzufolge, was wir aus Tierstudien wissen, hat Cramer einen Verdacht. „Es könnte eine neue Gefäßstruktur sein oder neue
Neuronen oder neue neuronale Verbindungen“, sagt er. „Womöglich
kommen, denke ich, alle diese Punkte zusammen.“
Die wichtigste logische Schlussfolgerung ist, dass körperliche
Be­we­gung nicht nur den Verfall des Gehirns verhindert, sondern
auch den Verfall der Zellen umkehrt, der mit dem Altern einhergeht.
274
Der weise Weg
Was Kramers Auf­nahmen höchstwahrscheinlich zeigen, ist die Kom­
pen­sierung von Defiziten des Gehirns durch körperliche Bewegung.
„Nehmen wir beispielsweise an, der präfrontale Cortex funktioniert
nicht ord­nungs­ge­mäß“, erklärt er. „Vielleicht kann man dann andere
Re­gionen des Cor­tex rekrutieren, um die jeweils anstehende Aufgabe
auf eine andere Art und Weise zu erledigen. Eine mögliche Ursache
für das erhöhte Ge­hirn­volumen könnte sein, dass dadurch die Uhr
zurück­gedreht wird im Hin­blick auf die optimale Funktionsweise
von Schalt­k rei­sen, die es uns er­mög­lichen, verschiedene Dinge zu
tun.“ Unser Gehirn kann in jedem Fall mit zwei oder drei zusätzlichen Jahren unendlich viel anfangen.
Psychische Verschlechterung
Es ist kein Wunder, dass manche Personen im hohen Alter griesgrämig werden. Es ist eine Zeit, die oft durch Verluste gekennzeichnet
ist – Verlust der Berufstätigkeit, von Beziehungen, Möglichkeiten,
von Sinn und Zweck, der Widerstandskräfte, des Mutes und der
Vitalität. Wie aus dem Nichts kann eine Depression zum Vorschein
kommen, und dies ist ein wichtiges Thema für ältere Menschen, weil
sie das Risiko erhöht, an einer Demenz zu erkranken. Die Hormone
Östrogen (bei Frauen) und Testosteron (bei Männern) nehmen mit
dem Alter ab, und dies kann zu einer Veränderung der Stimmung
oder zu einem Verlust von Elan und Interesse führen.
Einer der Gründe, warum eine Depression ein Risikofaktor für
Demenz ist, ist auch, dass sie eine zersetzende Wirkung auf den
Hippo­cam­pus hat: Wenn wir ständig unter Stress stehen und das
Hormon Cortisol erhöht bleibt, zersetzt es unsere Synapsen. Da alternde Neu­ronen zunächst einmal weniger widerstandsfähig gegenüber den Effek­ten von Stress sind, ist dies wirklich etwas, wovor
man sich schützen oder, besser noch, wogegen man proaktiv angehen sollte.
Wenn wir älter und unsere Körper schwächer werden und unsere Energiepegel nachlassen, sind wir möglicherweise wenig geneigt,
He­raus­forderungen der Art anzunehmen, uns einem Treck in Nepal
275
Kapitel 9: Altern
anzuschließen oder gar am örtlichen Bridgeturnier teilzunehmen.
He­rausforderungen sind jedoch wichtig, da sie unsere Wider­stands­
kräf­te fördern.
Ich komme noch einmal auf meine Mutter zurück, die förmlich vor Leben strotzte und engagiert war, bis sie sich die Hüfte
brach. Man hatte den Eindruck, dass sie mit zunehmendem Alter
sogar noch wagemutiger wurde, statt etwas langsamer zu treten,
was neue Erfahrungen anging. Wagte man in dieser Richtung einen
Kommentar, dann meinte sie für gewöhnlich: „Warum nicht!?“ Ein
kleines Beispiel: Eines Abends, als sie bei uns zu Besuch war, machte
ich spontan den Vorschlag, an dem Abend in ein ausgefallenes neues Thai-Restaurant zum Essen zu gehen; dabei tat ich die Idee dann
jedoch genauso schnell wieder ab, wie ich sie angesprochen hatte, in
der Annahme, dass es meiner Mutter nicht gefallen würde. Sie muss
damals etwa 80 Jahre alt gewesen sein, und ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie sich auf einem Teller mit exotischer Küche vorarbeitete, der so angerichtet war, dass es wie kunst­volle Architektur aussah.
Sie meinte jedoch: „Lasst uns gehen. Ich möchte es ausprobieren.“
Ich muss heute immer noch in mich hineinlachen, wenn ich an ihr
Gesicht denke, als sie mein Currygericht probierte, das schärfste
Essen, das sie je gekostet hatte. Sie liebte allerdings ihre Ko­kos­nuss­
suppe, und wir lachten die ganze Zeit während des Essens.
Körperliche Bewegung ist natürlich ein wunderbarer Weg, um
sich selbst und Ihr Gehirn herauszufordern – umso besser, wenn Sie
auf diese Weise in Kontakt mit anderen Menschen und nach draußen kommen. Ich denke da nur an eine Studie, die unlängst vom
Rush Alz­hei­mer’s Disease Center durchgeführt wurde. Sie zeigte, dass
bei Menschen, die sich einsam fühlen – jene, die sich mit Aussagen
iden­ti­fizieren wie: „Ich vermisse es, Menschen um mich herumzuhaben“ und „Ich empfinde ein allgemeines Gefühl der Leere“ –, die
Wahrscheinlichkeit doppelt so hoch ist, Alzheimer zu entwickeln. Und
Studien der Duke University zufolge ist klar, dass körperliche Be­we­
gung Depressionen reduziert und, was die Vermeidung von Rück­fällen
angeht, sogar noch besser als das Medi­kament Zoloft ist.
Ein besonders wichtiger Effekt körperlicher Bewegung für ältere Erwachsene ist die Förderung des Dopamin-Spiegels, der
mit zunehmendem Alter nachlässt. Dies ist ein entscheidender
276
Der weise Weg
Neu­ro­transmit­ter im Zusammenhang mit dem Altern, da er der
Haupt­trans­porteur von Signalen des Belohnungs- und Mo­ti­vations­
systems ist. Apathie kann ein bezeichnendes Charakteris­tikum älterer Menschen werden, und es ist besonders wichtig, darauf zu achten,
wenn ältere Menschen in Senioren-Wohngemeinschaften, Alten­
heime oder Pflegeheime ziehen. Selbst in den besten und schönsten
Ein­richtungen können Depression und ein Mangel an Motivation
um sich greifen, wenn Menschen das Gefühl haben, dass sie nur
noch auf ihren Tod warten.
Ich kenne ein Altenheim, das etwas gegen dieses Problem tut,
indem es versucht, die Bewohner zu engagieren und für körperliche
Be­wegung zu interessieren. Das University Living in Ann Arbor,
Michi­gan, verfügt über ein Fitnesscenter mit aeroben Fitnessgeräten
und Kraft­trainingsgeräten, die auf ältere Personen abgestimmt sind,
die nicht mehr so agil sind, und selbst für jene geeignet sind, die
Gehhilfen benutzen, um sich fortzubewegen. Und sie haben eine
Sportphysiologin engagiert, die sich auf das Thema Altern spezialisiert hat und für die Nichtbehinderten unter den 70 Bewohnern
Kurse gibt und als persönliche Trainerin dient. Was June Smedley
in ihrer Rolle als Fitnessleiterin tut, besteht in weiten Teilen darin, an Türen zu klopfen und die Bewohner eindringlich zu bitten,
zum Training zu kommen. „Mann! Manchmal werden sie richtig
sauer auf mich!“ sagt Smedley. „Sie jagen mich dann aus ihrem
Zimmer.“ Die meisten ihrer Schützlinge sind über 80 und nicht mit
dem Gedanken groß geworden, dass körperliche Bewegung gesund
ist, und sie sagt, die Motivation zur Teilnahme sei ziemlich gering.
„Sehr viele von ihnen sind depressiv und das beherrscht einfach ihre
ganze Mentalität“, sagt sie. „Ihre Lieblingsbeschäftigung ist einfach
von Stuhl zu Stuhl zu gehen und sich hinzusetzen.“
Einer ihrer sportlichen Vorzeigeschützlinge ist ein 80-jähriger
ehemaliger Ingenieur, ich nenne ihn Harold, der in dem Heim lebt,
weil seine Frau Alzheimer hat und tägliche Pflege braucht. Er trainiert
an fünf Tagen in der Woche, wobei er ein volles Übungsprogramm
absolviert, zu dem ein zehnminütiges Aufwärmen, eine Runde an
den Gewichtsmaschinen, Gleichgewichtsübungen auf dem Physioball
und dann ein 30-minütiges aerobes Training auf dem NuStep gehören, einer Art Liege-Stepper mit Armlehnen.
277
Kapitel 9: Altern
„Ich trainiere nicht, um Karriere damit zu machen“, sagt Harold,
„meine Hauptmotivation ist einfach, Dinge tun zu können, die gerne
tue.“ Das heißt, Skifahren im Winter und Golfspielen im Sommer,
wenn er zweimal wöchentlich 18 Löcher zurückgelegt. Sechs Monate
nach seinem 80. Geburtstag fuhr Harold mit Freunden eine Woche
nach Utah zum Skilaufen, womit er eine 15-jährige Tradition fortsetzte. Er sagt, das Kerntraining, das er mit June absolviert hat, habe
ihm geholfen, seine Ausdauer und seine Form zu verbessern. Im
Skigebiet von Alta fuhr er vom Gipfel auf 3.215 Metern nonstop nach
unten – eine Abfahrt, bei der ein Höhenunterschied von rund 610
Metern zu überwinden war, was jedem Flachländer schwer fallen
dürfte. Sein Übungsprogramm half ihm nicht nur, weiterhin Ski zu
fahren, sondern auch mit der Belastung fertig zu werden, sich um seine Frau zu kümmern. „Auch wenn die medizinische Versorgung hier
gut ist, bleiben doch noch eine Menge Pflichten an mir als Ehemann
hängen“, sagt er. „Ich glaube, die sportliche Betätigung reduziert den
Stress. Ich tue immer so viel, dass ich ordentlich schwitze, und damit habe ich etwas, worauf ich mich jeden Tag freue. Und ich habe
dabei auch Zeit für mich selbst. Ich habe dann das Gefühl, etwas
geleistet zu haben. Es ist keine Frage, dass es meinem mentalen und
psychischen sowie physischen Wohlbefinden hilft.
Demenz
Bei einer Demenz handelt es sich um einen Funktionsverlust, der
drastisch unsere Fähigkeit untergräbt, das Leben im Alltag zu bewältigen. Zu diesem Verlust kommt es, wenn eine bestimmte Region
des Gehirns beeinträchtigt wird oder zum Erliegen kommt, ähnlich
wie wenn zu Hause eine Sicherung im Stromkasten herausfliegt:
Die Küchengeräte funktionieren vielleicht noch, die Lampen im
Schlafzimmer bleiben jedoch dunkel.
Es gibt verschiedene Arten von Demenz, je nachdem, welcher
Schalt­k reis zusammengebrochen ist und was den Zusammenbruch
ausgelöst hat. Die mit Abstand häufigste Form ist die AlzheimerKrank­heit. Hierbei handelt es sich in der Regel um eine Entzündung
278
Der weise Weg
und um Ablagerungen von Amyloid-Plaques, was im Hippocampus
beginnt und sich bis zu den Frontallappen und Schläfenlappen ausbreitet, sowie um Ablagerungen intrazellularer Abfallprodukte, sogenannter neuro­fibrillärer Tangles. Einer Erhebung aus dem Jahr
2000 zufolge haben etwa 4,5 Millionen US-Amerikaner Alzheimer,
und es wird davon ausgegangen, dass sich diese Zahl im Laufe der
nächsten 50 Jahre auf mehr als 13,2 Millionen verdreifacht, wenn
erst die Babyboomer zu den Älteren zählen.
Ein Schlaganfall ist auf einen Kollaps oder einen Bruch oder
eine Blockade von Kapillaren irgendwo im Gehirn zurückzuführen. Wird die Durchblutung zum Schläfenlappen, dem Wörterbuch
des Gehirns, un­terbrochen, können Sie zwar sprechen, aber Sie werden nicht die rich­tigen Worte finden. Sofern Sie einen Schlaganfall
im frontalen Cor­tex haben, sind Sie nicht in der Lage zu sprechen,
können jedoch verstehen, was andere zu Ihnen sagen.
Die nächsthäufigste Form von Demenz ist die Parkinson-Krank­
heit, bei der die Dopamin-Neuronen in der schwarzen Substanz verschwinden, sodass der Fluss der Neurotransmitter zu den Basalgang­
lien unterbrochen wird, die für die automatische Weitergabe von
Infor­mationen im Gehirn zuständig sind. Die Basalganglien sind
für einen reibungslosen Wechsel zwischen mentalen oder physischen Aufgaben sowie für den Start und die Beendigung motorischer Bewegungen notwendig; wenn das Dopamin versiegt, ist es
so, als wäre die Weiter­lei­tungsflüssigkeit abgelassen worden, was das
klassische Zittern bei Parkinson-Patienten erklärt. Diese Krankheit
tritt in der Regel im späteren Leben auf, und davon betroffen ist etwa
ein Prozent der Be­völ­kerung im Alter von über 60 Jahren (Fälle,
bei denen die Krankheit früher einsetzt, wie bei dem US-ameri­ka­
nischen Schauspieler Michael J. Fox, sind selten.) Die motorischen
Beeinträchtigungen zeigen sich zuerst, wobei die mentalen Be­ein­
träch­tigungen wie Depression, Auf­merk­sam­keitsprobleme und am
Ende Demenz, später folgen.
Der größte Risikofaktor für Demenz sind die Gene, mit denen
wir geboren werden. Es gibt eine Reihe von Genen, die mit Alz­
hei­mer in Verbindung gebracht werden, etwa die Genvariation
Apo­li­poprotein (Apo) E4. Es ist jedoch wichtig, nicht zu vergessen, dass das bloße Vor­handensein eines bestimmten Gens nicht
279
Kapitel 9: Altern
unbedingt von vorneherein über unser Schicksal entscheidet. Die
Apo-E4-Variation kommt beispielsweise bei rund 40 Prozent aller
Alzheimer-Patienten vor, aber auch bei 30 Prozent der allgemeinen Bevölkerung (die nicht von der Krank­heit betroffen sind). Und
es gibt jede Menge Alzheimer-Patienten, bei denen die Apo-E4Variation nicht nachgewiesen wurde. Gene bestimmen zwar unser
Risiko für eine Krankheit, unser Lebensstil und unserer Umwelt
können diese Risiken jedoch entweder auslösen oder unterdrücken.
Eine Studie zeigte beispielsweise, dass unsere Chance, Alz­heimer zu
entwickeln, um 17 Prozent für jedes Jahr sinkt, das wir über eine
weiterführende Schule hinaus in Bildung investieren.
Jenseits von Statistiken wissen wir aus Tierstudien, dass körperli­
che Aktivitäten die Biologie des Gehirns umschalten und in neue
Bah­nen lenken können. Carl Cotman testete die Auswirkungen
körper­li­cher Aktivitäten bei Mäusen, die mit einem Gen gezüchtet worden waren, das sie für Plaques-Ablagerungen prädisponierte. Er stellte fest, dass diese Aktivitäten den Ablagerungsprozess
im Gehirn im Ver­g leich zu inaktiven Mäusen verlangsamten. Kör­
perliche Aktivitäten ver­­hindern auch Entzündungen, die nach Cot­
mans Überzeugung Pla­ques-­Ablagerungen auslösen können – Ent­
zün­dungen nehmen in der Über­gangsphase vom Rückgang kognitiver Fähigkeiten bis zur Alz­hei­mer-Krankheit zu.
Die gleichen Ergebnisse stellte Mattson bei Ratten fest, deren
Do­pa­min-Neuronen außer Gefecht gesetzt worden waren, um die
Biologie der Parkinson-Krankheit nachzuahmen. Das Gehirn von
Tieren, die in Rädern laufen durften, zeigte eine bessere Plastizität
und mehr Ver­bindungen in den Basalganglien, was darauf schließen lässt, dass sie sich der Situation angepasst hatten, indem sie
Schaltkreise aufgebaut hatte, um den Dopamin-Mangel auszugleichen.
Unser Wissen, was körperliche Bewegung insbesondere für die
Parkinson-Krankheit tut, geht jedoch weit über Laborratten hinaus.
In den letzten fünf oder zehn Jahren sind körperliche Aktivitäten
zunehmend als Behandlung vor allem in den Frühphasen der Krank­
heit genutzt worden. Forscher begannen, die Auswirkungen kör­per­
licher Aktivitäten zu untersuchen, weil sie die motorische Region
aktivieren, die bei der Parkinson-Krankheit degeneriert; eine
280
Der weise Weg
Sti­mulation der Basalganglien durch körperliche Aktivitäten erhöht
die Verbindungen und fördert den BDNF-Spiegel sowie den Spiegel
anderer neuroprotektiver Faktoren. In einer Studie wurden die
Effek­te körperlicher Aktivitäten in Verbindung mit der Einnahme
von Levodopa (L-Dopa) untersucht, der gängigen medikamen­tö­
sen Behandlung bei Parkinson und ein Dopamin-Vorläufer, der die
Produktion des Neurotransmitters erhöht. Das Problem bei L-Dopa
ist, dass es mit der Zeit seine Wirk­sam­keit verliert (und viele Neben­
wirkungen hat). Durch vierzigminütiges leichtes Radfahren auf einem Heimtrainer unmittelbar vor der Einnahme von L-Dopa ver­
besserte sich die Wirksamkeit des Me­di­ka­mentes bei der motorischen Funktion.
Während Forscher nicht genau sagen können, wie körperliche Ak­
ti­v itäten den Auswirkungen der Alzheimer-Krankheit entgegenwir­
ken – sie versuchen nach wie vor, die Ursachen der Krankheit zu
fin­den –, ist Cotman der Überzeugung, dass eine Reduzierung der
Ent­­zün­dung und die Förderung neurotropher Faktoren mögliche
Er­k lä­­run­­gen sind.
Studien über die allgemeine Bevölkerung stützen die Aussage,
dass körperliche Aktivitäten Demenz abwehren. Im Rahmen einer
Studie wurden rund 1.500 Personen in Finnland, die ursprünglich
Anfang der 1970er-Jahre untersucht worden waren, nochmals 21
Jahre später kontaktiert, als sie zwischen 65 und 79 Jahre alt waren. Bei denjenigen, die sich mindestens zweimal wöchentlich sport­
lich betätigt hatten, war die Wahrscheinlichkeit, eine Demenz zu
haben, 50 Prozent geringer. Besonders interessant ist, dass der Zu­
sammenhang zwischen regelmäßigen Aktivitäten und dem Ein­
setzen einer Demenz bei denjenigen, die das Apo-E4-Gen hatten,
noch deutlicher war. Den Forschern zufolge könnte eine Erklärung
dafür sein, dass das neuroprotektive System ihres Gehirns durch
die Genvariante natürlich beeinträchtigt ist, sodass der Lebensstil
hier besonders wichtig ist. Unter dem Strich heißt dies, wie Mattson
meint, dass „wir derzeit nur eines tun können, nämlich, die Umwelt­
fak­toren zu modifizieren, um das Beste aus unseren wie auch immer
gearte­ten Genen zu machen.“
281
Kapitel 9: Altern
Die Lebensliste
Ein Großteil des öffentlichen Diskurses über das Altern konzentriert sich auf den Zeitpunkt, an dem die einstigen Babyboomer
Senioren sein werden, und auf die Überzeugung, dass die riesige
Zahl der dann älteren Menschen dem Gesundheitssystem durch
Demenz und andere kostspielige Gesundheitsprobleme einen nie da
gewesenen Tribut abverlangen werden. Ich glaube wohl, dass es eine
Alternative zu diesem verhängnisvollem, düsterem Bild geben kann.
Auch wenn meine Generation mit Fast Food und Pay-TV bestens
vertraut ist, so sind wir doch auch mit dem revolutionären AerobicKonzept von Kenneth Cooper aufgewachsen. Im Unterschied zu
früheren Generationen wissen wir, wie ein gesundes Herz und gesunde Lungen Krankheiten abwehren, und wir wissen auch, wie
wir um das Fitnessstudio herumkommen. Meine Mutter hatte einfach die gute Angewohnheit, viel zu gehen, und selbst Harold, der
87-jährige Skifahrer aus Michigan weiß nicht allzu viel über Fragen
der Gesundheit und Fitness. Er fragte einmal seine Trainerin June
Smedley, was eine Muskelzerrung verursacht, und als sie ihm erklärte, dies könnte zum Beispiel auf Dehydration zurückzuführen sein,
spottete er und meinte: „Ich nehme doch jede Menge Flüssigkeit zu
mir – Kaffee, Milch und Wein!“
Ich glaube daran, wenn Menschen erkennen, wie ihr Lebensstil
die Le­bensspanne verbessern kann, in der sie gesund sind, das heißt,
in der sie besser leben, nicht einfach nur länger, dass sie dann zumindest geneigter sein werden, aktiv zu bleiben. Und wenn sie zu akzeptieren gelernt haben, dass körperliche Bewegung für das Gehirn
genauso wichtig ist wie für das Herz, dann werden sie dies ernst
nehmen. Wie körperliche Be­wegung dafür sorgt, dass Sie fit bleiben,
finden Sie im Folgenden:
282
Der weise Weg
1. Bewegung stärkt das Herz-Kreislauf-System
Ein starkes Herz und starke Lungen senken den Ruhe-Blutdruck. In­
fol­ge dessen werden die Gefäße im Körper und im Gehirn weniger
stark belastet. An dieser Stelle kommen nun eine Reihe von Mecha­
nis­men ins Spiel. Erstens werden durch das Zusammenziehen der
Mus­keln bei körperlicher Bewegung Wachstumsfaktoren wie VEGF
und FGF-2 (Fibroblasten-Wachstumsfaktor-2) freigesetzt. Abgesehen
von ihrer Rolle, dass sie den Neuronen helfen, sich anzubinden, und
dass sie die Neurogenese fördern, lösen sie eine Kettenreaktion aus,
die endothe­liale Zellen produziert, aus denen die innere Auskleidung
der Blut­ge­fäße besteht, und die somit wichtig für die Bildung neuer
Gefäße sind. Dadurch erweitert sich das Gefäßnetzwerk, wodurch
jede Region des Gehirns so viel näher an eine Lebensader herangebracht wird und reich­lich Zirkulationsrouten entstehen, die vor
künftigen Blockaden schützen. Zweitens wird durch körperliche
Bewegung mehr Stickoxid zu­geführt, ein Gas, das die Gefäße erweitert, sodass mehr Blut hindurchflie­­ßen kann. Drittens reduziert
die erhöhte Durchblutung bei mo­dera­ten intensiven Aktivitäten eine
Verhärtung der Hirnarterien. Und nicht zuletzt kann körperliche
Bewegung in gewissem Rahmen auch Ge­fäß­schädigungen entgegenwirken. Schlaganfallpatienten und sogar Alz­heimer-Patienten,
die an aeroben Übungsprogrammen teilnehmen, verbessern ihre
Werte bei kognitiven Tests. In jungen Jahren anzufangen, ist das
Beste, aber es ist nie zu spät.
2. Bewegung reguliert die Brennstoffversorgung
Am Karolinska-Institut führten Forscher eine neunjährige Studie
mit 1.173 Personen im Alter von über 75 Jahren durch. Keine dieser
Per­so­nen hatte Diabetes, aber bei denjenigen mit einem hohen Glu­
ko­se­spie­gel lag die Wahrscheinlichkeit, Alzheimer zu entwickeln,
um 77 Pro­zent höher.
Wenn wir altern, fällt der Insulinspiegel, und es wird für die Glu­
kose schwieriger, in die Zellen zu gelangen, um sie mit Brennstoff
zu versorgen. Der Glukosespiegel kann dann in die Höhe schnellen,
283
Kapitel 9: Altern
wodurch Abfallprodukte in den Zellen entstehen – wie freie Radikale
–, die die Blutgefäße schädigen, sodass wir dem Risiko, einen Schlag­
anfall zu erleiden und Alzheimer zu bekommen, ausgesetzt sind.
Wenn alles im Gleichgewicht ist, wirkt Insulin der Ablagerung von
Amyloid-Plaques entgegen, zu viel Insulin fördert jedoch die Ab­
lagerung ebenso wie eine Entzündung, die die Neuronen in der unmittelbaren Umgebung schädigen.
Körperliche Bewegung erhöht den Spiegel des insulinähnlichen
Wachstumsfaktors (IGF-1), der das Insulin im Körper reguliert und
die synaptische Plastizität im Gehirn verbessert. Indem körperliche
Bewegung überschüssigen Brennstoff verbraucht, fördert sie auch
unsere Versorgung mit BDNF, jenem neurotrophen Faktor, der bei
einem hohen Glukosespiegel reduziert ist.
3. Bewegung reduziert Fettleibigkeit
Abgesehen davon, dass Körperfett verheerenden Schaden am HerzKreis­lauf-System und am Stoffwechselsystem anrichtet, hat es auch
nachteilige Auswirkungen auf das Gehirn. Schätzungen der Zen­
tren für Krankheitskontrolle (CDC) zufolge sind 73 Prozent der USAmerikaner im Alter von mehr als 65 Jahren übergewichtig, und
angesichts der potenziellen Probleme, zu denen Fettleibigkeit führen kann – von Herz-Kreislauf-Krankheiten bis hin zu Diabetes –,
haben sie Recht, wenn sie Fettleibigkeit zu einer Pandemie erklären.
Allein die Tatsache der Übergewichtigkeit verdoppelt das Risiko, eine
Demenz zu entwickeln, und wenn wir Bluthochdruck und einen hohen Cholesterinspiegel noch zusätzlich berücksichtigen, Symptome
also, die oft mit Fettleibigkeit einhergehen, erhöht sich das Risiko
um das Sechsfache. Wenn Personen in den Ruhestand gehen, denken
sie für gewöhnlich, dass sie sich eine Pause verdient haben, nachdem
sie ihr ganzes Leben hart gearbeitet haben, mit der Folge, dass sie
anfangen, Fett in Form von nicht verbrauchten Kalorien anzusetzen.
Nicht bewusst ist ihnen jedoch, dass sie sich mit einem Dessert nach
jeder Mahlzeit keineswegs etwas Gutes tun. Körperliche Bewegung
wirkt Fettleibigkeit auf natürliche Weise an zwei Fronten entgegen:
Sie verbrennt Kalorien und senkt den Appetit.
284
Der weise Weg
4. Bewegung erhöht unsere Stressschwelle
Körperliche Bewegung bekämpft die zersetzenden Auswirkungen
von zu viel Cortisol, ein Produkt chronischen Stresses, das zu De­
pressionen und Demenz führen kann. Sie unterstützt auch Neuro­nen
gegen ein Zuviel an Glukose, freien Radikalen und dem leicht er­
reg­baren Neu­ro­transmitter Glutamat, die zwar alle notwendig sind,
aber die Zellen schädigen können, wenn sie unkontrolliert bleiben.
In der Folge bauen sich Abfallprodukte auf, welche die zellulare Ma­
schinerie behindern, sodass sie sich als gefährliche Produkte erweisen – geschädigte Proteine und abgefallene Fragmente der DNS, die
den latenten, ultimativ unausweichlichen Prozess des Zelltodes auslösen, der das Altern bestimmt. Körperliche Bewegung sorgt dafür,
dass Proteine entstehen, die den Schaden reparieren und den Prozess
verzögern.
5. Bewegung hebt Ihre Stimmung
Mehr Neurotransmitter und Neurotrophine sowie eine verbesserte
Verbindungsfähigkeit wappnen den Hippocampus gegen eine Ver­
küm­merung, die mit Depression und Ängsten verbunden ist. Eine
Reihe von Studien hat gezeigt, dass unser Risiko, eine Demenz zu
entwickeln, geringer ist, wenn wir unsere Stimmung „oben“ halten. Die dafür vorliegenden Beweise gelten nicht nur für eine klinische De­pres­sion, sondern auch für die allgemeine Einstellung.
Wenn wir mobil bleiben, ermöglicht dies uns auch, engagiert und
mit anderen verbunden zu bleiben, mit anderen Schritt zu halten
und neue Freunde zu finden; soziale Verbindungen sind wichtig für
eine Verbesserung und Auf­recht­erhaltung der Stimmung.
6. Bewegung stärkt das Immunsystem
Stress und Alter schwächen das Immunsystem, und körperliche
Be­­we­­gung stärkt es in direkter Weise in zweierlei wichtiger Hin­
sicht. Erstens, selbst ein moderates Aktivitätsniveau mobilisiert
285
Kapitel 9: Altern
die Anti­kör­per und Lymphozyten des Immunsystems, die Ihnen
wahrscheinlich als T-Zellen bekannt sind. Antikörper attackieren
bakterielle und Virus­in­fek­­tionen, und mehr T-Zellen zu haben,
bedeutet, dass der Körper wach­samer ist für die Entwicklung von
Bedingungen wie beispielsweise Krebs. Studien über die allgemeine
Bevölkerung verdeutlichen dies: Der konsistente Risikofaktor für
Krebs ist ein Mangel an Aktivitäten. Bei denjenigen, die körperlich
aktiv sind, liegt das Risiko, Darmkrebs zu entwickeln, zum Beispiel
50 Prozent niedriger.
Zweitens, zur Aufgabe des Immunsystems gehört es, Zellen zu
aktivieren, die geschädigtes Gewebe reparieren. Gerät es aus dem
Gleich­gewicht, eitern diese geschädigten Stellen, und was bleibt,
ist eine chronische Entzündung. Deshalb wird Ihr Blut, wenn
Sie über 50 sind, bei Ihrer ärztlichen Routineuntersuchung auf
C-reaktive Pro­te­ine untersucht. Diese Proteine sind ein Zeichen einer chronischen Ent­zündung, was ein Hauptrisikofaktor für HerzGefäß-Krankheiten und Alzheimer ist. Körperliche Bewegung
stellt das Gleichgewicht des Immunsystems wieder her, sodass es
Entzündungen Einhalt gebieten und diese Krankheiten bekämpfen kann.
7. Bewegung stärkt Ihre Knochen
Osteoporose hat nicht viel mit dem Gehirn zu tun, es ist jedoch ein
Thema, das wichtig ist und angesprochen werden sollte, da Sie ein
starkes Knochengerüst brauchen, um weiterhin, wenn Sie älter werden, körperlich aktiv zu sein, denn Osteoporose ist eine in weiten
Teilen vermeidbare Krankheit.
In den USA sind 20 Millionen Frauen und zwei Millionen Männer
von Osteoporose betroffen. Jedes Jahr sterben mehr Frauen an Hüft­
frakturen, aufgrund ihrer Anfälligkeit durch Osteoporose, als an
Brustkrebs. Im Alter von etwa 30 Jahren erreicht die Knochenmasse
bei Frauen ihren Höhepunkt, und danach verlieren sie etwa ein Pro­
zent pro Jahr bis zur Menopause, ab der sich die Geschwindigkeit
dann verdoppelt. Infolgedessen sind mit 60 Jahren etwa 30 Prozent
der Knochenmasse einer Frau verschwunden. Es sei denn, sie nimmt
286
Der weise Weg
Cal­cium und Vitamin D zu sich (wobei Letzteres in Form von zehn
Mi­nu­ten Morgensonne pro Tag kostenlos zu haben ist) und betätigt
sich in irgendeiner Form körperlich oder macht ein Krafttraining,
um die Knochen zu belasten. Mit reinem Gehen ist es in diesem
Falle nicht ganz getan – heben Sie sich das für später in Ihrem Leben
auf. Bei jungen Er­wachsenen wird der natürliche Verlust durch ein
Gewichtstraining oder einen Sport, der Laufen oder Springen mit
einbezieht, jedoch konter­kariert. Das Ausmaß, in dem man dem
Ver­lust vorbeugen kann, ist beeindruckend: Eine Studie stellte fest,
dass Frauen ihre Beinkraft in nur wenigen Monaten mit einem
Gewichtstraining verdoppeln konnten. Selbst Frauen, die über 90
sind, können ihre Kraft verbessern und dieser zermürbenden Krank­
heit vorbeugen.
8. Bewegung fördert die Motivation
Der Weg zu erfolgreichem Altern beginnt in Wirklichkeit mit dem
Wunsch, denn ohne den Wunsch, engagiert und aktiv und lebendig
zu bleiben, geraten viele Menschen schnell in die tödliche Falle der
Be­we­gungsarmut und Einsamkeit. Eines der Probleme des Alterns ist
der Mangel an Herausforderungen, aber mit körperlicher Bewegung
oder sportlicher Betätigung können wir uns selbst kontinuierlich
verbessern und uns selbst antreiben.
Körperliche Betätigung wirkt dem natürlichen Rückgang des Do­
pa­min-Spiegels entgegen, jenes wichtigen Neurotransmitters im Mo­
ti­va­tions- und motorischen System. Wenn Sie sich bewegen, fördern
sie unweigerlich die Motivation, indem Sie die Verbindungen zwischen den Dopamin-Neuronen stärken, die gleichzeitig vor Parkin­
son schützen. Dies unterstreicht die Idee, dass, wenn Sie nicht fleißig leben, Ihr Körper fleißig stirbt. Es ist wichtig, Pläne und Ziele
und Verabredungen zu haben, und deshalb sind Sportarten wie Golf
und Tennis so em­pfehlenswert. Sie verlangen ständige Selbstüberwa­
chung und die Mo­ti­vation, sich zu verbessern.
287
Kapitel 9: Altern
9. Bewegung fördert die Neuroplastizität
Der beste Weg, sich vor neurodegenerativen Krankheiten zu schützen, ist, für den Aufbau eines starken Gehirns zu sorgen. Aerobe
Übungen erreichen dies, indem sie die Verbindungen zwischen Ihren
Hirnzellen stärken, sodass mehr Synapsen entstehen, um das Netz an
Verbindungen zu erweitern, sowie neugeborene Stammzellen dazu
angeregt werden, sich zu teilen und zu funktionalen Neuronen im
Hip­po­campus zu entwickeln. Körperliche Bewegung sorgt dafür,
dass das Gehirn wächst, indem die Versorgung mit neurotrophen
Faktoren erhöht wird, die für die Neuroplastizität und Neurogenese
notwendig sind und ansonsten naturgemäß mit dem Alter abnehmen würden. Durch das Zusammenziehen Ihrer Muskeln werden
Faktoren wie VEGF, FGF-2 und IGF-1 freigesetzt, die sich ihren Weg
vom Körper ins Gehirn bahnen und den Prozess hilfreich unterstützen. All diese strukturellen Veränderungen verbessern die Fähigkeit
Ihres Gehirns, zu lernen und zu erinnern, höhere Gedankenprozesse
auszuführen und mit Ihren Emotionen umzugehen. Je robuster
die Verbindungen, desto besser ist Ihr Gehirn gerüstet, mit einem
Schaden fertig zu werden, der vielleicht irgendwann auftritt.
Hören Sie auf meine Mutter
Meine Familie bekam ihren ersten Fernseher, als ich etwa acht Jahre
alt war, aber wir haben nie davor kampiert. Wir durften es nicht;
meine Mutter sagte: „Sitzt nicht einfach hier herum, geht nach draußen spielen.“ Wir aßen jede Woche Fisch, aber nicht nur, weil wir
katholisch waren, sondern auch, weil Fisch damals schon als „Futter
fürs Gehirn“ bekannt war. Die Nonnen in der Schule wurden nicht
müde zu betonen, wie wichtig es sei, geistig aktiv zu bleiben, und
drillten uns förmlich mit dem Mantra: „Müßiggang ist aller Laster
Anfang“. Lange bevor irgendwelche wissenschaftliche Belege veröffentlich wurden, hatten die strengen Frauen, mit denen ich groß
wurde, mir die drei Säulen eines gesunden Lebensstils eingebläut:
Ernährung, körperliche Bewegung und geistige Aktivität. In diesem
288
Der weise Weg
Sinne hat sich das Rezept für ein langes und reiches Leben nicht
sehr viel geändert. Inzwischen wissen wir jedoch so viel mehr über
das Warum und Wie, sodass dieser Rat schwerlich ignoriert werden
kann.
Ernährung: Leichtes Essen, richtig essen
Ein bewährter Weg, um länger zu leben, ist, weniger Kalorien zu sich
zu nehmen – zumindest wenn Sie eine Laborratte sind. In Versuchen,
bei denen Nagetiere 30 Prozent weniger Kalorien zu sich nahmen,
lebten sie bis zu 40 Prozent länger als Tiere, die so viel essen durften, wie sie wollten. „Unsere Kontrollgruppe ist wirklich überfüttert
und zu wenig körperlich aktiv“, sagt der Neurowissenschaftler Mark
Mattson und weist darauf hin, dass diese Gruppe „gut zu vielen in
der US-ameri­kanischen Bevölkerung passt“. Eine Studie über Affen,
die vor 18 Jahren im gerontologischen Versuchslabor am National
Institute on Aging begann, lässt darauf schließen, dass das Gleiche
für Primaten gilt. Und eine Untersuchung mit Versuchspersonen
zeigte, dass Asthma­patienten, die zwei Monate lang auf Diät gesetzt
worden waren – mit abwechselnd drei Mahlzeiten an dem einen
und nur 500 Ka­lo­rien am nächsten Tag –, weniger Marker für oxidativen Stress und Ent­zündungen in ihrem Blut hatten (und ihre
Asthmasymptome sich verbesserten). Diese Erkenntnis stützt die
Theorie, dass die Einwirkung von leichtem Stress auf die Zellen –
in diesem Fall durch den Entzug von Brennstoff –, dazu führt, dass
sie widerstandsfähiger für künftige Herausforderungen werden und
dass freie Radikale reduziert werden. „Es ist wie täglich eine Stunde
Sport“, sagt Mattson. „Es ist ein leichter Stress, aber solange es eine
Erholungsphase gibt, ist er gut.“
Er ist vorsichtig, wenn es darum geht, Leuten zu raten, Mahlzei­
ten ausfallen zu lassen, aber im Grunde ist es genau das, was er tut:
Kein Frühstück, ein Salat zum Mittag und ein normales Abendessen,
alles in allem etwa 2.000 Kalorien. Normalgewichtige Personen werden wohl nicht so stark davon profitieren, und jeder, der die 50 bereits überschritten hat, sollte sich vor einer Mangelernährung hüten,
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Kapitel 9: Altern
da er sowieso bereits Muskel- und Knochenmasse verliert. Sofern
Sie jedoch übergewichtig sind, fügen Sie mit den überflüssigen Kilos
Ihrem Gehirn Schaden zu.
Bei der Frage, was Sie essen, sei darauf hingewiesen, dass es bestimmte Nahrungsmittel gibt, die zellulare Reparaturmechanismen
aktivieren, wie ich in Kapitel 3 erwähnt habe. Kreuzkümmel, Knob­
lauch, Zwiebel und Brokkoli enthalten zum Beispiel alle Toxine, die
dazu da sind, Schädlinge im Zaum zu halten; die Mengen, in denen
sie in diesen Nahrungsmitteln vorkommen, sind zwar gering, aber
ausreichend, um eine nutzbringende Stressreaktion auslösen. Das
Gleiche gilt für Nahrungsmittel, die freie Radikale bekämpfen, wie
Heidelbeeren, Granatäpfel, Spinat und Rüben – es sind die Toxine
sowie die Antioxidanzien, die letzten Endes zur zellularen Reparatur
führen. Grüner Tee und Rotwein haben den gleichen nutzbringenden Effekt.
Der Rest auf Ihrem Teller sollte ausgewogen aus Vollkornproduk­
ten, Proteinen und diätetischen Fetten bestehen. Eine kohlen­hydrat­
ar­me Ernährung hilft Ihnen vielleicht, Gewicht zu ver­lie­ren, sie ist
jedoch nicht gut für Ihr Gehirn. Vollkornprodukte enthalten komplexe Kohlen­hy­dra­te, die für einen steten Energiefluss sorgen, anstelle des ständigen Auf und Ab, das durch einfachen Zucker ausgelöst
wird, und sie sind notwendig, um Aminosäuren wie Tryptophan
ins Gehirn zu transportieren. Wie Sie in Kapitel 4 gelernt haben,
ist Tryptophan ein chemischer Vorläufer, der für die Produktion
von Serotonin notwendig ist, und Tryptophan sowie andere wichtige
Aminosäuren entstehen aus Protein.
Das Gehirn besteht zu mehr als 50 Prozent aus Fett, sodass Fette
ebenfalls wichtig sind, solange es sich um die richtigen handelt. Trans­
fette, tierische Fette und hydrogenierte Öle verkleben das „Ge­triebe“,
aber die Omega-3-Fettsäuren, die in Fisch vorkommen, sind äußerst
nutz­bringend. In Studien wurde festgestellt, dass in Ländern, in denen
viel Fisch gegessen wird, Krankheiten wie bipolare Störungen seltener
vor­kommen. Und manche Personen nutzen Omega-3-Fettsäuren als
eigen­ständige Behandlung von Stim­mungs­störungen und ADHS. Eine
Studie zeigte, dass sich bei Personen, die einmal in der Woche Fisch essen, die jährliche Rate des Rückgangs kognitiver Fähigkeiten um zehn
Prozent verlangsamte. Die Framingham-Herzstudie verfolgte neun
290
Der weise Weg
Jahre lang die Entwicklung von 900 Personen und stellte fest, dass bei
denjenigen, die pro Woche drei Mahlzeiten mit Fisch­öl zu sich nahmen, die Wahrscheinlichkeit nur halb so hoch war, eine Demenz zu
entwickeln. Omega-3-Fettsäuren senken Blutdruck, Cholesterinspiegel
und neuronale Entzündungen, und sie verbessern das Immunsystem
und den BDNF-Spiegel. Omega-3-Fettsäuren finden sich in Tief­
wasser­fi­schen wie Lachs, Kabeljau und Thunfisch; alternativ können Sie auch eine tägliche Ergänzung nehmen, die 1.200 Milligramm
Eico­sa­pen­taen­­säure (EPA) und 200 Milli­gramm Docosahexaensäure
(DHA) enthält, die zwei wichtigen Omega-Fettsäuren.
Vitamin D ist bekanntermaßen nicht nur wichtig wegen seiner
Bedeutung zur Stärkung der Knochen, sondern auch als Maß­nah­
me gegen Krebs und Parkinson. Ich würde generell 1.000 IE (Inter­
nationale Einheiten) Vitamin D und für Frauen zusätzlich 1.500
Milligramm Kal­zium empfehlen. Ich würde auch zur Ein­nahme
von Vitamin B mit mindestens 800 Milligramm Fol­säure ra­ten, zur
Verbesserung des Erin­ne­rungsvermögens und der Ver­ar­bei­tungs­
geschwindigkeit.
Körperliche Bewegung:
Die Beständigkeit macht’s
Jedem über 60-Jährigen empfehle ich, sich fast jeden Tag körperlich
zu bewegen oder sportlich zu betätigen. Sie sind im Ruhestand, warum also nicht? Sechs Tage in der Woche wären ideal, aber machen Sie
es so, dass es Ihnen Spaß macht und Sie es nicht als Mühe empfinden.
Es ist eine gute Idee, dabei eine Pulsuhr zu benutzen. Sie ist unendlich wertvoll, um zu sehen, welche Fortschritte Sie machen, und die
Werte, die Sie auf diese Weise ablesen können, sind sowohl motivierend als auch beruhigend. Sie brauchen sich dann nicht zu fragen, ob
Sie genug getan haben und ob es die richtige Intensität war, denn die
Pulsuhr gibt Ihnen die Antwort. Sie erhalten sie zwar zusammen mit
einer Anleitung, aber im Grunde brauchen Sie nur Ihr Alter von der
Zahl 220 abzuziehen, um Ihre theoretische maximale Herzfrequenz
291
Kapitel 9: Altern
zu ermitteln; diese Zahl ist dann Ihre Orientierungshilfe, um herauszufinden, wie hart Sie trainieren sollten. (Im nächsten Kapitel
werde ich noch eingehender auf die Verwendung solcher Pulsuhren
eingehen.)
Das Übungsprogramm sollte vier Bereiche einbeziehen: aerobe
Ka­pa­zität, Kraft, Gleichgewicht und Beweglichkeit. Sie sollten in jedem Fall einen Arzt oder Trainer konsultieren, der Ihre eventuelle
Kranken­ge­schichte kennt; einige solide Richtlinien kann ich Ihnen
jedoch bereits geben.
Aerobe Übungen
Machen Sie solche Übungen an vier Tagen in der Woche, jeweils
zwischen 30 Minuten und einer Stunde, bei 60 bis 65 Prozent Ihrer
maximalen Herzfrequenz. Mit diesem Intensitätsniveau verbrennen
Sie Fett im Körper und generieren die Wirkstoffe, die für all jene
strukturellen Veränderungen im Gehirn notwendig sind, über die
ich gesprochen habe. Gehen dürfte absolut ausreichend sein, machen Sie es jedoch draußen zusammen mit einem Freund oder einer
Freundin, wenn das möglich ist. Wofür Sie sich auch immer entscheiden, versuchen Sie etwas zu finden, das Ihnen auf lange Sicht
Spaß macht. Versuchen Sie dabei jeweils an zwei Tagen in der Woche
20 bis 30 Minuten mit einer intensiveren Geschwindigkeit, bei 70 bis
75 Prozent Ihrer maximalen Herzfrequenz, zu gehen. Sofern Sie in
der Vergangenheit nichts für Ihre körperliche Bewegung getan haben, werden Sie Ihre Kondition erst aufbauen müssen, bis Sie dieses
Tempo erreichen, das ist völlig in Ordnung. Beständigkeit ist wahrscheinlich wichtiger als die Intensität. „Sie brauchen sich nicht so
anzustrengen, wie Sie vielleicht meinen“, erklärt Kramer. „Wenn Sie
härter rangehen und laufen statt gehen können, ist das wunderbar.
Aber wenn nicht, so ist Gehen genau das, was wir uns angeschaut
haben, und es kann einige recht erhebliche Effekte haben.“
292
Der weise Weg
Kraft
Arbeiten Sie zweimal wöchentlich an den Gewichtsmaschinen, wobei Sie jeweils drei Übungsrunden an den Gewichten absolvieren,
mit jeweils zehn bis 15 Wiederholungen pro Runde. Dies ist wichtig zur Vorbeugung und zur Bekämpfung von Osteoporose: Selbst
wenn sie alle aeroben Übungen dieser Welt machen, werden Ihre
Mus­keln und Knochen dennoch mit zunehmendem Alter schwinden. Eine Stu­die der Tufts University über Frauen im Alter zwischen 50 und 70 Jah­ren zeigte, dass bei denjenigen, die ein Jahr lang
an einem Kraft­trai­ning teilgenommen hatten, die Knochendichte
an der Hüfte und im Rückgrat um ein Prozent zugenommen hatte, während bei der inaktiven Kontrollgruppe die Knochendichte
in diesen Bereichen um 2,5 Prozent abgenommen hatte. Wenn Sie
keine Erfahrung mit Widerstandstraining haben, ist es ratsam, sich
für den ersten Monat einen Trainer zu besorgen oder sich zumindest einige Anleitungen geben zu lassen; eine gute Körperhaltung
ist wichtig, um Verletzungen zu vermeiden. Aktivitäten, die Hüpfen
oder Springen einbeziehen, sind ebenso hilfreich zur Stärkung ihrer Knochen: Tennis, Tanzen, Aerobic, Seilspringen, Basketball und
natürlich Laufen.
Gleichgewicht und Beweglichkeit
Konzentrieren Sie sich zweimal in der Woche jeweils ungefähr 30 Mi­
nu­ten auf diese Fähigkeiten. Bei Yoga, Pilates, Tai-Chi, Kampf­sport­
ar­ten und Tanzen geht es um diese Fähigkeiten, die wichtig sind,
um agil zu bleiben. Ohne Gleichgewicht und Beweglichkeit schwindet unsere Fähigkeit, eine aerobe Übung oder ein Krafttraining
durchzu­zie­hen. Anstelle einer Aktivität wie den Vorgenannten, können Sie Übun­gen auf einem Gymnastikball, Schwebebalken oder
einem Gleich­ge­w ichts­trainer machen, wobei es sich um einen halben, mit Luft gefüllten Gum­­mi­ball handelt, auf den man sich stellt
und die Balance zu halten versucht, sodass die Kernmuskulatur in
Anspruch genommen wird. Erinnern Sie sich an Harold, den 80-jährigen Skiläufer? Für seinen letzten Skiurlaub trainierte er darauf.
293
Kapitel 9: Altern
Mentale Übung: Unentwegt lernen
Mein Rat hier ist, Ihren Geist immerzu vor neue Herausforderungen
zu stellen. Sie wissen inzwischen, dass körperliche Bewegung Ihre
Neu­ro­nen dafür rüstet, sich anzubinden, während mentale Stimu­
lation es ihrem Gehirn ermöglicht, das Beste aus der so geschaffenen
Voraus­setzung zu machen. Es ist kein Zufall, dass eine Studie nach
der anderen zeigt, dass es umso wahrscheinlicher ist, dass Ihnen Ihre
kognitiven Fähigkeiten erhalten bleiben und Sie Demenz abwehren, je gebildeter Sie sind. Es geht hier jedoch nicht unbedingt um
Diplome. Der Punkt ist einfach, dass diejenigen, die sehr viel Zeit
mit Schule oder Studium verbracht haben, weitaus eher am Lernen
interessiert bleiben. Diese Statistiken beziehen sich auf eine Vielzahl
von Menschen, die nie auf eine Hochschule gegangen sind, aber dennoch großes Interesse an der Welt um sie herum haben.
Der inspirierendste Beleg dafür kommt von einer städtischen Ge­
sundheitsstudie, dem sogenannten Experience Corps, die von Epi­de­
mio­logen an der Johns Hopkins University durchgeführt wurde. Für
die Studie rekrutierten sie 128 vornehmlich Afroamerikanerinnen
im Alter zwischen 60 und 86 Jahren mit geringem Bildungsstand
und sozioökonomischen Status. Und die Wissenschaftler schulten
sie, um Grundschulkinder in Lesefertigkeiten, dem Umgang mit
Biblio­t he­ken usw. zu unterrichten. Die Kinder verbesserten nicht nur
ihre Punkt­zahlen bei standardisierten Tests, auch die Gesundheit der
Freiwilligen verbesserte sich erheblich: Die Hälfte der Frauen, die einen Gehstock genutzt hatten, konnte ihn beiseitelegen; 44 Prozent
berichteten, dass sie sich stärker fühlten; die Zeit, die sie vor dem
Fernseher verbrachten, nahm um vier Prozent ab; und sie gaben an,
dass sich die Zahl der Personen, an die sie sich Hilfe suchend wenden
konnten, erheblich größer geworden war.
Ehrenamtliche Tätigkeiten haben nutzbringende Effekte, da sie
soziale Kontakte mit sich bringen, die unweigerlich mit Heraus­
forderungen für das Gehirn verbunden sind. Alles, was Ihnen hilft,
mit anderen Menschen in Kontakt zu bleiben, hilft Ihnen, besser und
länger zu leben. Statistiken zeigen eine enge wechselseitige Beziehung
294
Der weise Weg
zwischen Geselligkeit und Sterblichkeit. Neuartige Erfahrungen
ver­langen Ihrem Gehirn mehr ab, und dies baut die Fähigkeit des
Gehirns auf, Defizite zu kompensieren. Dadurch erhalten Sie mehr
„Wunderdünger“, mehr Verbindungen, mehr Neuronen und mehr
Möglichkeiten.
Es gab eine Nonne, Schwester Bernadette, die Mitte der 1990erJahre im Alter von 85 Jahren an einem Herzinfarkt starb. Zusammen
mit mehr als 600 weiteren Nonnen spendete sie im Rahmen einer
fortlaufenden Studie ihr Gehirn der Wissenschaft. Durchgeführt
wurde die Studie von dem Epidemiologen David Snowdon, der den
Schwestern von der Schule Notre Dame in Mankato, Minnesota, in
seinem inspirierenden Buch Lieber alt und gesund. Dem Altern seinen Schrecken nehmen ein Denkmal setzte. Die Nonnen fordern ihren Geist ständig heraus, mit Vokabelrätseln, mentalen Puzzles und
Diskussionen über allgemeine, öffentliche Themen, und viele von
ihnen werden 100 Jahre oder älter. Das Interessante an Schwester
Bernadette ist jedoch, dass sie bei kognitiven Tests bis unmittelbar
vor ihrem Tod Werte erzielte, die auf der 90. Perzentile lagen. Als ihr
Gehirn jedoch nach ihrem Tod untersucht wurde, zeigte sich eine
massive Schädigung durch Alzheimer. Vom Hippocampus bis zum
Cortex war das Gewebe mit Ablagerungen von Plaques und neurofibrillären Tangles hochgradig durchsetzt, und bei ihr wurde auch
die Apo-E4-Gen-Variante nachgewiesen. Mit anderen Worten, sie
hätte eigentlich voll den verheerenden Auswirkungen einer Demenz
erliegen müssen. Aber trotz der Schädigung ihres Ge­hirns blieb sie
geistig fit.
Snowdon weist als mögliche Erklärung auf die Idee der kognitiven Reserve hin. Dies ist die Fähigkeit des Gehirns, sich anzupassen
und Schä­digungen zu kompensieren, indem andere Regionen rekrutiert wer­den, um bei Aufgaben zu helfen. Indem sie bis ins hohe Alter
lehrte und geistig aktiv blieb, hat Schwester Bernadette ihr Gehirn
mit Sicher­heit dahin gehend trainiert, um das genetische Handicap
herumzuarbeiten, das ihr in die Wiege gelegt worden war. Genau wie
das Beispiel meiner Mutter ist auch das von Schwester Bernadette
nachahmenswert.
295
10. Das Übungsprogramm

Bauen Sie Ihr Gehirn auf
D
en erstaunlichen Einfluss, den aerobe Aktivitäten auf das Ge­
hirn haben, habe ich deshalb so betont, weil ich die Hoffnung
habe, dass Sie wirklich motiviert sind, sich jeden Tag Ihre Laufschuhe
anzuziehen, sobald Sie verstanden haben, was wirklich „da oben“
passiert, wenn Sie einen Lauf machen. Oder wenn Sie zum Schwim­
men gehen oder sich auf Ihr Fahrrad schwingen oder etwas anderes
machen, das Ihnen gefällt und Sie ins Schwitzen bringt. Ich wünsche
mir nichts weniger, als dass Sie süchtig danach werden.
Was ich versucht habe zu verdeutlichen – nämlich dass körperliche Bewegung für sich allein genommen das wirksamste Instrument
ist, das Sie haben, um Ihre Gehirnfunktion zu optimieren –, beruht
auf wissenschaftlichen Belegen, die ich aus Aberhunderten von For­
schungs­unterlagen zusammengetragen habe, von denen die meisten
erst in den letzten zehn Jahren veröffentlicht wurden. Unser Wissen
darüber, wie das Gehirn funktioniert, ist in diesem relativ kurzen
Zeit­raum regelrecht explodiert, und es war und ist eine unglaublich spannende Zeit für jeden, der sich dafür interessiert. Was mich
persönlich angeht, so hat sich durch meine Recherchen für dieses
Buch meine Begeisterung über die nutzbringenden Effekte körperlicher Bewegung oder sportlicher Betätigung verdoppelt, und meine
Intuition ist durch harte wissenschaftliche Fakten ersetzt worden.
297
Kapitel 10: Das Übungsprogramm
Um zu verdeutlichen, wie neu dieses Gebiet ist, möchte ich kurz
auf die Geschichte der Neurogenese zurückkommen, jene einst als
ketze­risch angesehene Theorie, derzufolge zeit unseres Lebens neue
Nerven­zellen im Gehirn wachsen. „Vor zehn Jahren war man nicht
überzeugt davon, dass es so sein könnte“, sagt der Neurologe Scott
Small. Es war in seinem Labor an der Columbia University, wo die
Forscher 2007 zum ersten Mal auf aufschlussreiche Anzeichen für
die Neurogenese bei lebendigen Menschen stießen. „Vor fünf Jahren
hieß es, okay, es könnte so sein, aber ist es wirklich aussagekräftig?
Inzwischen vergeht keine Woche, ohne dass eine weitere Studie vorgelegt wird, die zeigt, dass die Neurogenese einen bestimmten Effekt
auf das Gehirn hat.“
Bei seiner Studie verordnete Small einer Gruppe von freiwilligen
Ver­suchspersonen ein dreimonatiges sportliches Übungsprogramm
und machte dann Aufnahmen von ihrem Gehirn. Indem er den bild­
ge­ben­den Prozess an einem Standard-MRT-Gerät dahin gehend
mani­pu­­lier­te, dass er hineinzoomte und den Shutter halb offen
ließ, erhielt er Aufnahmen der neu gebildeten Kapillaren, die für
das Über­leben der werdenden Neuronen erforderlich sind. Was er
sah, war, dass das Vo­lumen der Kapillaren in der Gedächtnisregion
des Hip­po­campus um 30 Prozent zugenommen hatte, eine wahrlich bemerkens­werte Ver­än­derung. Als der eigentliche Durchbruch,
der hier erzielt wurde, könnte sich jedoch die Tatsache erweisen,
dass es möglich ist, die Neurogenese sozusagen zu kartieren, ohne
das Gehirn zu sezieren, sodass sich der Fokus der Forschung von
Laborratten auf Menschen verlagern könnte. Die neue Technologie
dürfte es den Wissenschaftlern ermöglichen, den Einfluss jeder beliebigen Variablen auf die Neurogenese zu untersuchen, etwa auch,
wie viel körperliche Bewegung notwendig ist. „Ist es eine Stunde in
der Woche? Jeden Morgen? Oder wird die Neurogenese nur durch
ein grausames Marathonprogramm maximiert?“ fragt Small. „Wir
wissen es einfach nicht. Niemand weiß es. Nun, nachdem wir dieses Instrument haben, das die Neurogenese indirekt messen kann,
können wir tatsächlich versuchen, ein Übungsprogramm zu optimieren.“
Das war vor einigen Jahren. Heute sehen Small und seine Kollegen
kör­perliche Bewegung vor allem als einen treffsicheren Auslöser, um
298
Bauen Sie Ihr Gehirn auf
das Wachstum neuer Zellen zu erhöhen. Sie nutzen dies selbst bei ihren Experimenten, um einen anderen Prozess zu beobachten; aber
an den Punkt, Bewegung oder sportliche Aktivitäten als solche zu
untersuchen, sind die meisten noch nicht gekommen.
Ähnlich ist es bei vielen anderen positiven Effekten körperlicher
Be­tätigung, über die ich gesprochen habe, angefangen bei der Er­hö­
hung der Neurotransmitter und neurotrophen Faktoren bis hin zur
Frei­setzung von Faktoren aus den Muskeln, die dann neue Kapillare
im Gehirn aufbauen und die synaptische Plastizität fördern. Nach
Auf­fas­sung des Neurowissenschaftlers William Greenough, der
An­fang der 1970er-Jahre mithilfe eines Elektronenmikroskops erkannte, dass körperliche Bewegung neue Verästelungen bei Neuro­
nen hervorbrachte, steht es außer Frage, dass aerobe Übungen wunderbar für Ihr Gehirn sind. Und er ist sich ziemlich sicher, dass es
auch wichtig ist, komplexe motorische Bewegungen (wie Aerobic
oder Kampfsportarten) in Ihr Übungsprogramm einzubeziehen.
Konkrete Empfehlungen kann er dazu aber noch nicht geben.
Das ist nicht weiter tragisch. Schließlich sind wir nicht ausschließlich auf Neurowissenschaftler angewiesen. Zunächst einmal gibt es
bereits bestimmte Schlussfolgerungen, die wir aus den bereits vor­
liegenden Arbeiten ziehen können. Zweitens liegen aufschlussreiche
Belege aus anderen Forschungsbereichen vor. Untersuchungen aus
Bereichen von der Kinesiologie bis hin zur Epidemiologie zeigen immer wieder, dass das Gehirn umso besser funktioniert, je höher das
Fitnessniveau ist. Charles Hillman hat nachgewiesen, dass fitte Kinder
bei kognitiven Tests der Exekutiven Funktion besser abschneiden als
nicht fitte Kinder; Arthur Kramer hat gezeigt, dass das Gehirnvolumen
bei älteren Erwachsenen zunimmt, wenn sie etwas für ihre Kondition
tun; und Studien, in die Zehntausende von Personen allen Alters einbezogen waren, zeigten, dass ein direkter Zusammenhang zwischen
einem höheren Fitnessniveau und positiven Stimmungen sowie einem
geringen Maß an Ängsten und Stress besteht.
Wenn jemand mich fragt, wie viel er sich sportlich betätigen
muss, um etwas für sein Gehirn zu tun, sage ich ihm, der beste Rat,
den ich ihm geben kann, sei, dafür zu sorgen, dass er fit wird, und
sich dann kontinuierlich selbst vor neue Herausforderungen zu stellen. Das Rezept, wie man dies erreicht, wird von Person zu Person
299
Kapitel 10: Das Übungsprogramm
verschieden sein; die Forschung zeigt jedoch durchgehend, dass das
Gehirn umso widerstandsfähiger wird und besser funktioniert, sowohl kognitiv als auch psychisch, je fitter man ist. Wenn Sie Ihren
Körper in Form bringen, folgt Ihr Geist von selbst.
Heißt das, dass man wie ein Supermodel aussehen muss, damit das Gehirn in den Genuss der nutzbringenden Effekte körperlicher Bewegung kommt? Tatsache ist, dass viele der überzeugendsten Studien die Aktivität des Gehens (heutzutage auch gerne
„Walking“ genannt) als körperliche Bewegung nutzen. Ich setze den
Schwerpunkt jedoch in erster Linie darauf, fit zu werden, da wir definitiv wissen, dass ein gesunder Body Mass Index (BMI) und ein
robustes Herz-Kreislauf-System das Gehirn optimieren. Jedes Maß
an körperlicher Aktivität ist sicherlich hilfreich, sofern es Ihnen jedoch ein Anliegen ist, etwas für Ihr Gehirn zu tun, dann könnten
Sie, praktisch gesehen, ebenso gut so viel tun, um auch Ihren Körper
vor Herzkrankheiten, Diabetes, Krebs und Ähnlichem zu schützen.
Körper und Geist sind miteinander verbunden. Warum sich also
nicht um beide kümmern?
Zum Laufen geboren
In seinem Buch Laufen: Geschichte einer Leidenschaft beschreibt
der Biologe Bernd Heinrich die menschliche Spezies als Feind der
Ausdauer. Die Gene, die unseren Körper heute steuern, haben sich
im Zuge der Evolution vor Hunderttausenden von Jahren entwickelt,
als wir noch ständig in Bewegung waren, sei es auf der Suche nach
Nahrung oder bei der Jagd, als wir stunden- oder tagelang einer
Antilope durch die Ebenen hinterher jagten. Heinrich beschreibt,
wie es unseren Vorfahren möglich war, Antilopen zu jagen, obwohl
diese zu den schnellsten Säugetieren gehören: Sie trieben sie bis zur
Erschöpfung, hielten sich an ihren Schwänzen fest, bis die Tiere keine Energie mehr hatten, um zu fliehen. Antilopen sind Sprinter, ihr
Stoffwechselsystem erlaubt es ihnen jedoch nicht, endlos weiterzulaufen. Das unsere jedoch sehr wohl. Wir verfügen über ein ziemlich ausgewogen verteiltes Netz an schnell zuckenden und langsam
300
Bauen Sie Ihr Gehirn auf
zuckenden Nervenfasern, sodass wir, selbst wenn wir kilometerweite
Strecken zurückgelegt haben, noch die Stoffwechselkapazität haben,
um kurze Sprints einlegen und unserer Beute den tödlichen Stoß zu
versetzen.
Heute ist es natürlich nicht mehr notwendig, lange nach Nahrung
zu suchen und auf die Jagd zu gehen, um zu überleben. Diese Ak­ti­vi­
tä­ten sind jedoch noch in unseren Genen kodiert, und unser Gehirn
soll diese Aktivitäten steuern. Mit dem Wegfall dieser Ak­ti­vi­tä­ten ist
jedoch ein delikates biologisches Gleichgewicht zerbrochen, das im
Laufe einer halben Million von Jahren fein abgestimmt wurde. Das
heißt konkret ganz einfach, dass wir unser auf Ausdauer ausgelegtes
Stoffwechselsystem in Anspruch nehmen müssen, um unseren Körper
und unser Gehirn in optimaler Kondition zu halten. Der alte Rhyth­
mus an Aktivitäten, der in unserer DNS verankert ist, lässt sich in
etwa auf Gehen, Joggen, Laufen und Sprinten in jeweils unterschiedlicher Intensität übertragen. Der beste Rat ist meines Erachtens somit,
grob gesagt, sich an die Routine unserer Vorfahren zu halten: Jeden
Tag gehen oder joggen, einige Male in der Woche laufen, und ab und
zu einen Sprint einlegen, um sozusagen den Widrigkeiten des Lebens
einen Todesstoß zu versetzen.
Ihre Wahlmöglichkeiten sind natürlich nicht auf diese Formen
aerober Aktivitäten begrenzt, ich denke jedoch, diese Auflistung ist
hilfreich, um zwischen weniger intensiven (Gehen), mäßig intensiven
(Joggen) und hoch intensiven (Laufen) Aktivitäten zu unterscheiden. Wenn Sie das Beste aus Ihrer Zeit und Ihren Anstrengungen
machen möch­ten, müssen Sie eine Möglichkeit finden, um das Maß
Ihrer Kraft­anstrengung nach diesen Kategorien genau beurteilen zu
können. Wenn ich von Gehen oder einer weniger intensiven Aktivität
spreche, meine ich damit eine körperliche Aktivität bei 55 bis 65
Prozent Ihrer ma­x imalen Herzfrequenz. Nach meiner Definition
liegt eine mäßig intensive Aktivität etwa bei 65 bis 75 Prozent, und
eine hoch intensive bei 75 bis 90 Prozent. Das obere Ende hoch intensiver Aktivitäten ist manchmal schmerzhaft, aber ein stets wirksamer Bereich, dem in letzter Zeit viel wissenschaftliches Interesse
geschenkt wurde.
Sofern Sie sich gerne an einem Fitnessgerät mit eingebau­tem Puls­
messer abplagen, ist die einzige Möglichkeit, Ihr Intensitätsniveau
301
Kapitel 10: Das Übungsprogramm
genau zu messen, einen Herzfrequenzmonitor zu nutzen. Diese Ge­rä­
te sind der Eckpfeiler des revolutionären Sportunterrichtsprogramms
in Na­perville, und sie sind so einfach zu bedienen, dass selbst Grund­
schul­­kinder wissen, wie man damit umgeht. Eine solche Pulsuhr besteht aus einem Brustgurt, der Ihren Herzschlag registriert, und einer
Digitaluhr, die das Signal empfängt und die Anzahl der Herzschläge
pro Minute auf dem Display anzeigt.
Angenommen, Ihr Übungsprogramm verlangt einen hoch intensiven Lauf. Sofern Sie 45 Jahre alt sind, wäre Ihre theoretische
maxi­male Herzfrequenz etwa 175, nach dieser groben Formel gerechnet: 220 minus Alter. Wenn Sie bei 75 Prozent und 90 Prozent
Ihrer maxi­malen Herzfrequenz trainieren möchten, so liegt die
Gren­ze für ein hoch intensives Training zwischen 131 und 158.
Dies ist Ihre Ziel­herz­f requenzzone für das Training. Sie brauchen
nun nichts weiter zu tun, als diese Grenzwerte auf der Uhr einzugeben, was nicht schwieriger ist, als die Zeit einzustellen, und dann
Ihre Geschwindigkeit entsprechend den Werten anzupassen, die der
Monitor Ihnen anzeigt. Sobald Ihre Herzfrequenz die gewünschte
Zone verlässt, piepst die Uhr. Dies ist ein sehr präziser Weg, um auf
Ihren Körper zu hören.
Pulsuhren sind nicht teuer, einfach zu bedienen und unverzichtbar für jeden, der ernsthaft daran interessiert ist, sein Potenzial bei
sportlichen Aktivitäten zu erschließen. Darüber hinaus ist es einfach
auch gut zu wissen, dass man genug tut und nicht zu viel. Aber wieder stellt sich die Frage: Wie viel muss ich tun? Den Empfehlungen
öffent­licher Gesundheitseinrichtungen zufolge, angefangen von den
Zen­tren für Krankheitskontrolle (CDC) bis zum American College
of Sports Medicine, sollte man an mindestens fünf Tagen in der
Woche 30 Minuten lang moderate aerobe Übungen irgendeiner
Form machen. Ich denke jedoch, dass diese Institutionen sich dabei
nach allen Seiten abzusichern versuchen. US-Amerikaner sind so
inaktiv, dass die Experten sich scheuen, Richtlinien herauszugeben,
die zu schwierig sind und der Bevölkerung zu viel abverlangen, aus
Angst, dass dann alle von vorneherein kapitulieren. „Jeder möchte
nur das Minimum wissen, was er tun kann, um einen durchschlagenden Effekt zu erzielen“, sagt der Sportphysiologe Brian Duscha
von der Duke University, der mit Medienanfragen überhäuft wurde,
302
Bauen Sie Ihr Gehirn auf
nachdem er eine Studie veröffentlicht hatte, die zeigte, dass nur drei
Stunden Gehen pro Woche genügen, um nutzbringende Effekte für
das Herz-Kreislauf-System zu erzielen. „Ich versuche, die Leute nicht
zu überfordern, weil sie sonst gleich aufgeben.“ Für alle, die es hören
wollen, weist er aber auch darauf hin, dass eine Erhöhung der Dauer
oder der Intensität der Aktivitäten noch größere Fitnessgewinne mit
sich bringt.
Duscha ist ein Experte, was die Herz-Kreislauf-Gesundheit angeht. Er sagt jedoch das Gleiche wie fast jeder Neurowissenschaftler,
den ich in diesem Buch zitiert habe: „Ein bisschen ist gut, mehr
ist besser.“ Auf der Grundlage dessen, was ich gelesen und gesehen
habe, wäre es jedoch das Beste, irgendeine Form aerober Aktivitäten
an sechs Tagen pro Woche jeweils 45-60 Minuten zu praktizieren.
Vier dieser Tage sollten dem längeren Pensum mäßig intensiver
Aktivitäten gewidmet werden und zwei dieser Tagen dem kürzeren
Pensum hoch intensiver Aktivitäten.
Es gibt zwar widersprüchliche Belege darüber, ob hoch intensive
Ak­tivitäten, die Ihren Körper in den Bereich eines anaeroben Stoff­
wechsels zwingen können, Auswirkungen auf das Denken und die
Stim­­mung haben, fest steht jedoch eindeutig, dass dabei einige der
wich­ti­ge­ren Wachstumsfaktoren vom Körper freigesetzt werden, die
das Gehirn aufbauen. An den kürzeren, hoch intensiven Tagen sollten Sie irgendeine Form von Kraft- oder Widerstandstraining mit
einbeziehen. Diese Tage sollten jedoch nicht unmittelbar aufeinander
folgen; Ihr Körper und Ihr Gehirn brauchen eine Erholungsphase,
um nach hoch intensiven Trainingstagen zu wachsen. Was ich sagen
möchte, ist, dass Sie insgesamt etwa sechs Stunden in der Woche
für ihr Gehirn aufbringen sollten. Das macht etwa fünf Prozent der
Stunden aus, in denen Sie wach sind.
Nachdem ich das nun losgeworden bin, möchte ich indes auch
nicht unerwähnt lassen, dass ich mit Experten wie Duscha natürlich einer Meinung bin, dass es nämlich das Wichtigste ist, überhaupt etwas zu tun. Und einfach einmal damit anzufangen. Dies
mag selbstverständlich klingen, aber für inaktive Personen – insbesondere wenn diese Inaktivität auf eine Depression zurückzuführen
ist –, kann es unmöglich erscheinen, diesen ersten Schritt zu tun.
Bei einigen ist es ein Paradoxon: Sie können nicht anfangen, weil
303
Kapitel 10: Das Übungsprogramm
sie die Energie nicht haben, und sie haben die Energie nicht, weil
sie sich nicht körperlich betätigen. Ich habe dies bei einigen meiner
Patienten erlebt, es ist ein sehr reales Problem, nicht nur eine Frage
der Willenskraft. Der Schlüssel ist, an die Frage des Anfangens so
heranzugehen, als sei sie selbst eine Herausforderung.
Es ist hinreichend bekannt, dass es leichter ist, mit jemandem
zu­sammen zu trainieren, egal, ob Sie mit einem Freund oder einer
Freundin laufen, in einer Gruppe Rad fahren oder mit dem Nachbarn
zu­sam­men gehen. Darüber hinaus gibt es mehrere neue Studien, die
zeigen, dass die nutzbringenden neurologischen Effekte, die ich beschrieben habe, größer sind, wenn man das Übungsprogramm mit
je­man­dem gemeinsam absolviert. Patienten, denen es wirklich schwer
fällt, ihr Programm durchzuziehen, rate ich, zu überlegen, sich eine
Zeit lang einen persönlichen Trainer zu nehmen, weil es dann weniger wahrscheinlich ist, dass sie eine Sitzung ausfallen lassen (schließlich bezahlen sie, egal, ob sie die Stunde wahrgenommen haben oder
nicht, und Geld ist ein guter äußerer Motivator). Tragen Sie sich Ihr
Übungs­programm genauso in ihren Terminkalender ein wie einen
Zahn­arzt­termin. Nach einer Weile wird Ihr Gehirn dies als Routine,
genau wie das Zähneputzen, verinnerlicht haben.
Wernn Sie noch nicht aktiv gewesen sind, ist es meines Erachtens
am besten, mit einfachem Gehen zu beginnen. Nehmen Sie stets
die Treppe statt des Aufzugs, parken Sie Ihr Auto am hinteren
Ende des Park­platzes, und drehen Sie zur Mittagszeit eine Runde
um den Block. Bereits seit einigen Jahrzehnten gibt es die Gesund­
heits­initiative der so­ge­nannten „Zehntausend Schritte“, die dazu
anhält, einen einfachen Schritt­zähler zu nutzen, um zu berechnen,
wie viel man jeden Tag geht, sozusagen als Weg, um körperliche
Bewegung in den alltäglichen Ablauf einzubeziehen, ohne sich allzu viele Gedanken darüber machen zu müssen. Ausgehend von einer durchschnittlichen Schrittlänge von 75 Zentimetern ergeben
10.000 Schritte eine Strecke von annähernd acht Kilometern. Es ist
ein cleverer Weg, um in Form zu kommen, selbst ohne dafür viel
zusätzliche Zeit zu investieren. Und es funktioniert! Ihre Schritte zu
zählen, hilft, genau wie sich zu wiegen oder eine Puls­uhr zu nutzen,
um bei den eigenen Bemühungen eine Orientierung zu haben, um
fokussiert und motiviert zu bleiben, und dies insbesondere dann,
304
Bauen Sie Ihr Gehirn auf
wenn Sie verstanden haben, was Ihr Körper und Ihr Gehirn auf den
verschiedenen Intensitätsebenen tun.
Gehen
Das A und O, wenn Sie fit werden möchten, ist, Ihre aerobe Grund­
lage aufzubauen. Je mehr Sie Ihr Herz und Ihre Lungen trainieren,
desto effizienter werden sie, um Ihren Körper und Ihr Gehirn mit
Sauerstoff zu versorgen. Auf die erhöhte Durchblutung folgt unweigerlich die chemische Kaskade, die Serotonin, den neurotrophen
Faktor BDNF und andere wichtige Moleküle produziert.
Wenn Sie anfangen, eine Stunde pro Tag zu gehen, und zwar
bei 55 bis 65 Prozent Ihrer maximalen Herzfrequenz, werden Sie
ganz von selbst die Distanz erhöhen, die Sie in dieser Zeit gehen,
und damit all­mählich in Form kommen. Auf diesem Niveau verbrennen Sie Fett als Brennstoff, und damit wird Ihr Stoffwechsel
angeregt. Wenn ein Körper zu viel Fett mit sich herumträgt, bauen die Muskeln einen Wider­stand gegenüber Insulin auf, was den
Aufbau von Fett verschlimmert und die Produktion des insulinähnlichen Wachstumsfaktors (IGF-1) drosselt. Eine Studie, die
2007 von der University of Michigan veröffentlicht wurde, berich­
tete, dass eine einzige Runde aerober Ak­ti­v i­täten genügte, um
den Insulinwiderstand bis zum nächsten Tag voll­ständig aufzuheben. Die Forscher verglichen Muskelbiopsien von vor und nach
der Übungsrunde und stellten auch fest, dass die durch sportliche Aktivi­täten in Anspruch genommenen Muskelfasern Proteine
produ­zieren, die wichtig für die Fettsynthese sind. Sie wissen nicht,
wie lange der Effekt anhält, die Ergebnisse unterstreichen jedoch,
dass selbst ein geringes Maß an Aktivitäten den Funken für einen
positiven Dominoeffekt zünden kann.
Wenn Sie Ihren Körper beanspruchen und Ihre Muskeln spüren
den Bedarf nach mehr Brennstoff, geschehen die verschiedensten
Din­ge, die gut für Ihren Körper und Ihr Gehirn sind. Bei wenig
intensi­ven körperlichen Aktivitäten, bei denen Fett verbrannt wird,
wird auch freies Tryptophan in den Blutkreislauf gepumpt, das, wie
305
Kapitel 10: Das Übungsprogramm
Sie sich erinnern, ein notwendiger Bestandteil für die Produktion des
stimmungssta­bi­li­sierenden Serotonins ist. Dieses Aktivitätsniveau
verändert zudem auch die Verteilung von Noradrenalin und
Dopamin. Wenn man sich dies im evolutionären Kontext von
Hein­richs „Feind der Aus­dauer“ an­schaut, ergibt es absolut Sinn:
Während unsere Vorfahren ihre Beute jagten, muss­ten sie Geduld,
Opti­mis­mus, Konzentration und Motivation haben, um sie zu verfolgen. All diese Eigenschaften werden durch Sero­to­nin, Dopamin
und Noradrenalin beeinflusst.
Gehen wird dafür sorgen, dass Sie sich mit der Welt um Sie he­
rum mehr verbunden fühlen. Es wird nicht lange dauern, bis Sie noch
häufiger nach draußen gehen möchten. Ärzte messen die Fitness ihrer
Patienten anhand eines einfachen Kriteriums: Sie prüfen, wie weit sie
in sechs Minuten gehen können. An der medizinischen Fakultät der
University of Alabama haben Forscher jedoch festgestellt, dass die
Verbesserung dabei so schnell eintritt, dass der beste Weg, eine präzise Messung zu erhalten, ist, sie zunächst einmal zwei Mal gehen zu
lassen. Das heißt, es ist gut möglich, dass Sie angenehm überrascht
sein werden, wie schnell Sie an Boden gewinnen.
Sobald Sie sich auf eine Stunde in einem Tempo hochgearbeitet haben, bei dem Sie sich gerade nicht mehr unterhalten können,
sind Sie bereits so weit, dem Ganzen eine mäßig intensive Aktivität
hinzuzufügen. Wenn Sie sich auf dieser Ebene selbst herausfordern,
werden Sie merken, dass Sie nicht nur bei Ihrem Training mehr tun
oder leis­ten können, sondern auch in jedem anderen Bereich Ihres
Lebens. Sie werden mehr Elan und Energie haben, weniger negativ
eingestellt sein und ein stärkeres Kontrollgefühl entwickeln. Und
vor allem werden Sie, wenn Sie aktiv sind, nicht isoliert und reglos
zu Hause herumsitzen.
Joggen
Sobald Sie zu mäßig intensiven Aktivitäten, zwischen 65 und 75
Prozent Ihrer maximalen Herzfrequenz, wechseln, geht Ihr Körper
dazu über, nicht mehr nur alleine Fett, sondern auch Glukose zu
306
Bauen Sie Ihr Gehirn auf
verbrennen, sodass infolge der Belastung im Muskelgewebe Mikro­
risse entstehen. Alle Zellen in Ihrem Körper und Gehirn befinden
sich immerzu in einem Zustand fortwährender Schädigungen und
Reparaturen, wobei die Stoff­­wech­selanforderungen auf diesem Ni­veau
die Reaktion jedoch in die Höhe schnellen lassen. Ihr Körper erkennt
nun, dass er ein robusteres Sauerstoffversorgungssystem braucht,
sodass die Muskeln den vas­ku­lären endothelialen Wachs­tums­
faktor (VEGF) und den Fibro­blas­ten-Wachs­tumsfaktor-2 (FGF-2)
freisetzen, die dann dafür sorgen, dass sich Zellen teilen, damit
mehr Gewebe für mehr Blutgefäße entsteht, jene neuen Kapilla­
ren, die Scott Small bei seinen Aufnahmen entdeckt hat. In Labor­
kul­tu­ren haben Forscher festgestellt, dass VEGF und FGF-2 Zellen
ak­ti­v ieren, innerhalb von nur zwei Stunden nach der Ex­po­si­tion
mehr Blutgefäße entstehen zu lassen. Außer dem Aufbau neuer Blut­
gefäße fördern diese beiden Faktoren auch die Zellanbindung und
die Neurogenese im Gehirn.
Das höhere Aktivitätsniveau löst in Ihren Gehirnzellen die Frei­
set­zung von „Reinigungstrupps“ in Ihrem Stoffwechselsystem aus,
wobei Proteine und Enzyme produziert werden, die freie Radikale,
abgefal­lene DNS-Teilchen und Entzündungsfaktoren beseitigen, die
– wenn sie unkontrolliert bleiben – zur Zerstörung der Zelle führen
können. Die For­schung kommt zunehmend zu dem Schluss, dass
es möglicherweise nicht hilfreich ist, Antioxidanzien in Pillenform
zu sich zu nehmen, und dass dies vielleicht sogar schädlich ist. Den
meisten Menschen ist jedoch nicht bewusst, dass aerobe Übungen
ein Weg sind, um ihre Versorgung mit Antioxidanzien in den Zellen
zu gewährleisten. Außerdem sind Antioxidanzien nur ein Teil der
Geschichte: Sofern es eine ausreichende Erholungsphase gibt, bewirkt die Reparaturreaktion auf körperliche Aktivitäten auch, dass
Ihre Neuronen stärker werden.
Bei mäßig intensiven Aktivitäten wird auch Adrenalin in den
Blut­k reislauf freigesetzt. Bei einer untrainierten Person wird dadurch
die HPA-Achse (vom Hypothalamus über die Hirnanhangsdrüse bis
zur Ne­ben­niere) aktiviert. Dies ist die Kampf-oder-Flucht-Reaktion
auf Stress, die ich in Kapitel 3 beschrieben habe, bei der der Körper
in hoher Alarm­be­reitschaft ist und das Cortisol im Gehirn herumzujagen beginnt. Auf einem moderaten Aktivitätsniveau mobilisiert
307
Kapitel 10: Das Übungsprogramm
das Cor­ti­sol die zellu­lare Ma­schinerie des Lernens, damit eine
Situation auf­gezeichnet wird, die der Körper für überlebenswichtig
hält. Sofern der Cor­tisol-Spiegel jedoch chro­nisch erhöht bleibt, ist
dies toxisch für die Nervenzellen. BDNF ist die beste Verteidigung
für Ihre Neuronen. Durch die mit einem moderaten Training bewirkte Erhöhung des Spiegels stärkender Chemikalien fes­tigen Sie
die Schaltkreise in Ihrem Gehirn und stimmen die HPA-Achse so
ab, dass sie künftig durch Stress­­vorfälle nicht mehr so leicht aktiviert
wird. Desgleichen wird das Immun­system gestärkt, damit es besser
gerüstet ist, um mit einem echten Angriff auf den Körper fertig zu
werden und alles abzuwehren, von Er­käl­tungen bis hin zu Krebs.
Ein weiterer Faktor aus dem Körper, der hier ins Spiel kommt, ist
das atriale natriuretrische Peptid (ANP). Es wird vom Muskelgewebe
im Herzen produziert, wenn das Herz stark pumpt. ANP wird durch
das Blut ins Gehirn transportiert, wo es hilft, die Stressreaktion weiter zu dämpfen und das Rauschen im Gehirn zu reduzieren. Es ist
ein potenter Bestandteil einer Kaskade von Chemikalien, die psychischen Stress lindern und Ängste reduzieren. Zusammen mit den die
Schmerzen abstumpfenden Endorphinen und Endocannabinoiden
hilft die Erhöhung des ANP-Spiegels zu erklären, warum man sich
nach einem moderaten aeroben Training entspannt und ruhig fühlt.
Wenn von Stress abbauen die Rede ist, dann sind diese Elemente
im Spiel.
Auf dieser Ebene reißen Sie also gewissermaßen Dinge ein und
bau­en sie wieder auf, und zwar stärker als vorher. Es ist wichtig, Er­
ho­lungs­phasen zu berücksichtigen, damit Ihr Körper und Ihr Gehirn
eine Chance haben, wieder zu Kräften zu kommen.
Laufen
Bei hoch intensiven Aktivitäten, zwischen 75 und 90 Prozent Ihrer
maximalen Herzfrequenz, gerät Ihr Körper in den Zustand eines
ausgewachsenen Notfalles, und seine Reaktion ist entsprechend
stark. In diesem Spek­trum, für gewöhnlich am oberen Ende, gerät
auch der Stoffwechsel aus dem aeroben in den anaeroben Bereich,
308
Bauen Sie Ihr Gehirn auf
bei dem die Muskeln in einen Zu­stand der Hypoxie geraten, weil sie
nicht genügend Sauerstoff aus dem Blut beziehen können. Sauerstoff
ist für eine effiziente Verbrennung von Gly­ko­gen notwendig, da die
Mus­keln ohne Sauerstoff beginnen, direkt im Mus­kelgewebe gespeichertes Kreatin und Glykogen zu verbrennen – ein unangenehmer Mechanismus, der bewirkt, dass sich Milchsäure aufbaut (das
Brennen, das Sie in Ihren Oberschenkeln und Ihrer Brust fühlen).
Die sogenannte anaerobe Schwelle tritt von Person zu Person
bei un­terschiedlichen Intensitäten auf, wobei Sie bei hoch intensiven Ak­ti­v i­täten mit dem Brennen in den Oberschenkeln (nach dem
Auf­wär­men) quasi „flirten“, während des Laufens allerdings gerade unterhalb dieser Schwelle bleiben möchten. Während Physio­
lo­gen keine magische Herz­f requenz nennen können, bei der Ihr
Kör­per die Schwelle vom aeroben zum anaeroben Bereich überschreitet, zeigte eine unlängst von dem Kinesiologen Panteleimon
Ekkeka­k is von der Iowa State Univer­sity durchgeführte Studie, dass
der zuverlässigste Marker für diese Stoff­wechselveränderung der
Bericht der Versuchspersonen war, die aus­sagten, dass das Maß ihrer Kraftanstrengung „ziemlich hart“ war. Das klingt etwas vage,
Ekkekakis hat jedoch festgestellt, dass diese Kor­re­la­tion bemerkenswert konsistent war. Eine andere Möglichkeit, diese Stufe zu beurteilen, ist, sich vor Augen zu halten, dass es, selbst wenn es „ziemlich
hart“ ist, gerade unterhalb Ihrer anaeroben Schwelle zu bleiben, es
jedoch in keinem Fall so hart sein sollte, dass Sie dieses Tempo nicht
30 Minuten oder eine Stunde beibehalten könnten.
Wenn Sie sich wirklich fordern möchten, dann legen Sie Interval­
le ein, bei denen Sie mitten in Ihrer hoch intensiven Aktivitätsrunde
je­weils kurz über diese Schwelle hinaus sprinten.
Einer der wichtigsten Unterschiede zwischen mäßig intensi­
ven und hoch intensiven Aktivitäten ist, dass die Hypophyse in
Ihrem Gehirn das menschliche Wachstumshormon (HGH, Human
Growth Hormone, auch: Somatotropin) freisetzt, sobald Sie näher an Ihr Maximum he­rankommen, insbesondere wenn Sie in
den anaeroben Bereich geraten. Gruppen, die sich mit der Frage
der Lebensverlängerung beschäftigen, bezeichnen dieses Hormon
als Jung­brunnen. Der auf natürliche Weise ins Blut ausgeschüttete HGH-Spiegel nimmt im Laufe des Lebens ab, sodass er bei
309
Kapitel 10: Das Übungsprogramm
Personen mittleren Alters auf ein Zehntel dessen zurückgegangen
ist, was in der Kindheit vorhanden war, und zwar sowohl bei Frauen
als auch bei Männern. Und ein bewegungsarmer Lebensstil verschärft diesen Rückgang: Ein hoher Cortisol-Spiegel und ein hoher
Insulinwiderstand sowie ein Übermaß an Fettsäuren im Blut drosseln
die Freisetzung des Hormons weiter.
HGH ist der Handwerksmeister des Körpers – das Wachstums­
hor­mon baut Fettpolster ab, die sich in der Bauchregion angesammelt haben, lässt Muskelfasern sprießen und erhöht das Gehirn­
volumen. For­scher sind der Überzeugung, dass es den Verlust des
Gehirnvolumens wettmachen kann, der naturgemäß mit zunehmendem Alter eintritt. Sportler wie Olympia-Sprinter und Fußballspieler
bringen im Grunde ihren HGH-Spiegel auf Vordermann, wenn
sie ein Intervall-Training absolvieren und sich so auf natürliche
Weise dopen. Im Ergebnis werden auf diese Weise schnell zuckende
Muskel­fasern aufgebaut, die ihre Be­wegungen zusätzlich kraftvoller machen. Die Rekrutierung neuer Mus­­kelfasern fördert darüber
hinaus auch den Stoffwechsel insgesamt, und nach dem IntervallTraining behält der Körper die verbesserte Fä­hig­keit, Fett und Koh­
len­hydrate zu verbrennen, bei.
Normalerweise bleibt das menschliche Wachstumshormon nur
einige Minuten im Blut, durch eine Runde Sprints kann der Spiegel
jedoch bis zu vier Stunden erhöht sein. Im Gehirn sorgt HGH für
ein Gleich­gewicht der Neurotransmitter-Spiegel und es fördert die
Pro­duk­­tion aller erwähnten Wachstumsfaktoren. Am nachdrücklichsten scheint es jedoch den insulinähnlichen Wachstumsfaktor
(IGF-1) zu be­ein­flussen, den evolutionären Dreh- und Angelpunkt,
der Aktivität, Brenn­stoff und Lernen miteinander verbindet. Er
gelangt genau in den Zellkern und schaltet die Gene ein, die die
Mechanismen des neuronalen Wachstums in Gang bringen.
Psychologisch gesehen ist dies der Punkt, an dem man mit „dem
Selbst konfrontiert“ ist, um es mit den Worten meines Kollegen
Robert Pyles zu sagen, jenes Psychiaters und Marathonläufers,
über den ich in Kapitel 3 geschrieben habe. Indem man über das
hinausgeht, was man glaubte, leisten zu können, indem man den
Körper noch eine Minute oder zwei Minuten weiter belastet und
beansprucht und den Schmerz aushält, gelangt man manchmal in
310
Bauen Sie Ihr Gehirn auf
einen durchaus seltenen Ge­mütszustand, in dem man das Gefühl
hat, als könnte man jede He­raus­forderung bestehen. Wenn Sie je
das Phänomen des „Runner’s High“ erlebt haben, dann war dies
wahrscheinlich ein Ergebnis dessen, dass Sie eine nahezu maximale Anstrengung aufgebracht haben. Das euphorische Gefühl ist
wahrscheinlich auf eine Mischung extrem hoher Spiegel von Endor­
phinen, ANP, Endocannabinoiden und Neuro­trans­­mittern zurückzuführen, die bei dieser Intensität an Aktivitäten durch Ihr System
gepumpt werden. Dies ist der Weg, wie das Gehirn alles andere
blo­ckiert, damit Sie durch den Schmerz hindurchgehen und Ihrer
„Beute den Todesstoß versetzen“ können.
Hoch intensive Aktivitäten härten Sie ab, sowohl physisch als auch
psychisch. Dies ist auch der Grund, warum wir auf Berge klettern
und uns für Fitness-Trainingslager anmelden oder Abenteuerreisen
mitmachen. Sie müssen jedoch nicht solche Extreme auf sich nehmen, um die Früchte zu ernten, von denen ich rede. Eine Studie
der University of Bath in England stellte fest, dass sich der Spiegel
des menschlichen Wachs­tumshormons (HGH) durch Einlegen eines einzigen Sprint­spurts von 30 Sekunden – in diesem Fall beim
Radfahren auf einem Heim­trainer – um das Sechsfache erhöhte und
zwei Stunden nach dem Sprint seinen Höhepunkt erreichte.
Und eine unlängst veröffentlichte Studie von Neurologen der
Uni­versität Münster berichtete, dass ein Intervalltraining die Lern­
fähig­keit verbessert. Während eines Laufs von 40 Minuten auf einem Laufband legten die Versuchspersonen zwei Sprints von jeweils drei Minuten ein (und zwar mit einem Abstand von zwei
Minuten mit geringerer Inten­sität dazwischen). Im Vergleich zu den
Versuchspersonen, die die ganze Zeit mit geringer Intensität gelaufen
waren, war bei den Sprintern eine erheblich höhere Zunahme sowohl beim BDNF- als auch beim Nor­ad­re­nalin-Spiegel festzustellen.
Entsprechend zeigte sich bei den kognitiven Tests, die unmittelbar
nach dem Laufen durchgeführt wurden, dass die Sprinter Vokabeln
20 Prozent schneller lernten. Das heißt, dass selbst eine kleine Dosis
an Anstrengungen, bei denen Sie sich an Ihre Grenze bringen, tief
greifende Effekte auf Ihr Gehirn hat.
Aber wie gut dies auch alles klingen mag, wenn es um ein Inter­
vall­training geht, können Sie mit Sicherheit nicht einfach von der
311
Kapitel 10: Das Übungsprogramm
Couch aufspringen und damit anfangen. Voraussetzung ist in jedem
Fall, dass Sie wirklich eine absolut solide und handfeste aerobe Basis
haben müssen und unbedingt mit Ihrem Arzt darüber sprechen sollten, was Sie vorhaben. Es wäre keine gute Idee, Ihr Herz solchen
Belastungen auszusetzen, wenn es nicht daran gewöhnt ist. Je nachdem, wie Sie in Form sind, würde ich sagen, dass Sie mindestens eine
Grundlage von sechs Monaten haben sollten, an denen Sie jeweils an
sechs Tagen in der Woche aeroben Aktivitäten nachgegangen sind,
bevor Sie ein Intervalltraining in Ihr Übungsprogramm einbauen
können. Aber auch hier gilt wiederum, dass Ihr Arzt dies im Vorfeld
absegnen muss, bevor Sie loslegen.
Nicht-aerobe Aktivitäten
Dem Thema nicht-aerober Aktivitäten habe ich bisher nicht viel
Platz eingeräumt, da es, offen gestanden, nur sehr wenige For­
schungsarbeiten darüber gibt, inwieweit sich diese Aktivitäten auf
das Gehirn in Be­zug auf Lernen, Stimmung, Ängste, Auf­merk­sam­
keit und die anderen Bereiche auswirken, über die ich gesprochen
habe. Es ist eben schwierig, Ratten Gewichte heben oder Yoga machen zu lassen, sodass Wis­sen­schaftler hier auf Untersuchungen
beim Menschen angewiesen sind, was aber gleichzeitig auch heißt,
dass sie nach den Versuchen natürlich keine Biopsie des Gehirn­
gewebes durchführen können. Sie sind auf die Untersuchung von
Blutproben und Verhaltenstests beschränkt, die weitaus mehr Inter­
pretationsspielraum lassen. Die Ergebnisse, die wir über nicht-aerobe
Aktivitäten haben, sind nicht so robust wie jene, die über aerobe
Aktivitäten vorliegen.
Dies vorangestellt, ist es dennoch keine Frage, dass ein Kraft­
training wichtig für den Aufbau der Muskulatur und zum Schutz
der Gelenke ist, und dass Praktiken wie Yoga und Tai-Chi das
Gleich­gewicht und die Beweglichkeit verbessern – die wiederum zur Fähigkeit Ihres Körpers beitragen, ein Leben lang aktiv zu
bleiben. Bei einer erst vor kurzem durchgeführten Studie über ältere Erwachsene wurde festgestellt, dass zweimal wöchentliches
312
Bauen Sie Ihr Gehirn auf
Gewichteheben über den Zeitraum von sechs Monaten bewirkte, dass die Teilnehmer nicht nur stärker geworden, sondern auch
Aspekte des Alterungsprozesses auf genetischer Ebene tatsächlich
umgekehrt worden waren. Die Gene, die für die Produktion einiger
der wichtigsten Faktoren für das Wachstum des Gehirns verantwortlich sind (VEGF, FGF-2 und IGF-1) verhielten sich so, als wären sie
30 Jahre und nicht 65 Jahre alt.
Der Großteil der Hirnforschung über Widerstandstraining hat
sich nicht auf Auswirkungen auf das Lern- und Erinnerungs­ver­­
mögen, sondern auf Stimmungen und Ängste konzentriert. Im Rah­
men einer Studie der Boston University, die vor zehn Jahren durchgeführt wurde, ließen die Forscher eine Gruppe älterer Er­wach­
sener ein Kraft­trai­nings­programm von zwölf Wochen machen (drei
Sitzungen pro Woche) und maßen die verschiedenen Aspekte der
psy­chischen und kognitiven Funktion. Sie kamen zu dem Schluss,
dass das Programm nicht nur die Muskelkraft um etwa 40 Prozent
ver­besserte, sondern auch Ängste senkte und die Stim­mung sowie das
Selbst­vertrauen verbesserte, jedoch keine nennenswerte Auswirkung
auf das Denkvermögen hatte. Etwa zur gleichen Zeit untersuchten
For­scher des Psychologischen Insti­tutes der Universität Bern in der
Schweiz im Rahmen einer anderen Studie die Auswirkungen eines
achtwöchigen Krafttrainings. Das Pro­gramm der Probanden bestand
aus einem zehnminütigen Auf­wärmen, gefolgt von acht Übungen
an Gewichtsmaschinen, das Ganze einmal pro Woche. Im Ergebnis
war sowohl eine Verbesserung des psy­chischen Wohlbefindens als
auch ein leichter Effekt auf das Erin­ne­rungsvermögen festzustellen.
Und den Nachuntersuchungen zufolge hielten diese Ergebnisse ein
Jahr lang vor, unabhängig davon, ob das Aktivitätsniveau beibehalten
wurde. Es gab jedoch zu viele Variablen, als dass die Forscher hätten
sagen können, dass das Krafttraining einen messbaren Effekt auf das
Erinnerungsvermögen hatte.
Das Intensitätsniveau des Krafttrainings scheint insofern Ein­
fluss auf die Ergebnisse zu haben, indem sich zeigte, dass moderate Gewichte einen positiveren Einfluss als schwere Ge­w ichte
hat­ten, zumindest bei einer kleinen Gruppe älterer Frauen. An­
de­re For­schungsarbeiten konnten zeigen, dass ein hoch intensi­
ves Krafttraining sowohl bei Männern als auch bei Frauen das
313
Kapitel 10: Das Übungsprogramm
Angstniveau tatsächlich sogar erhöhte. In diesem Fall wurde
„hoch intensiv“ als Heben von 85 Prozent des maximal möglichen
Gewichtes definiert; bei vielen Studien wurde diese entscheidende
Variable jedoch nicht definiert. Eine Studie, die vor einigen Jahren
im American Journal of Sports Medicine veröffentlicht wurde, zeigte,
dass ein Cross-Training – wobei 30 Minuten Gewichtheben mit 30
Minuten Radfahren auf dem Heimtrainer kombiniert wurden – das
Angstniveau verbesserte; die Studie war jedoch so konzipiert, dass
man anschließend unmöglich sagen konnte, was die Veränderung
ursächlich bewirkt hatte. Und alle Studien über dieses Thema wurden mit Gruppen älterer Menschen durchgeführt, bei denen deutliche Verbesserungen von vorneherein zu erwarten sind, da ihre
Muskeln natürlich geschwächt sind, wenn sie mit einem Programm
anfangen.
Ein Faktor, der ganz klar durch ein Krafttraining beeinflusst
wird, ist das menschliche Wachstumshormon (HGH). Bei einer
kürzlich durch­geführten Studie wurde der Hormonspiegel während eines Kraft­trai­nings mit dem Spiegel verglichen, der sich bei
aeroben Aktivitäten von gut trainierten Männern einstellt. Wurden
Kniebeugen gemacht, ver­doppelte sich der HGH-Spiegel im Vergleich
zu dem Spiegel, der durch 30-minütiges Laufen bei hoher Intensität
erreicht wurde. Ich denke, dies wird wichtige Folgen im Hinblick auf
die Empfehlungen für sport­liche Aktivitäten haben.
Noch weniger Forschungen gibt es über den Effekt von Rhyth­
mus, Gleichgewicht und fertigkeitsabhängigen Aktivitäten auf das
Gehirn. Klei­ne Studien haben gezeigt, dass Yoga-Atemtechniken
Stress und Ängs­te reduzieren und Tai-Chi die Aktivität des sympathischen Nervensystems drosselt (was anhand der Herzfrequenz
und des Blutdrucks beurteilt wurde). Eine kürzlich durchgeführte
Studie nutzte MRT-Scans bei acht Personen, die Yoga praktizierten,
und stellte fest, dass sich bei ihnen der Neurotransmitter-Spiegel
der Gamma-Aminobuttersäure (GABA) nach einer Sitzung von
60 Minuten um 27 Prozent erhöht hatte. GABA ist die Zielscheibe
von Medikamenten wie Xanax und spielt bei Ängsten eine große
Rolle, sodass dies mit ein Grund sein kann, warum Yoga manchen
Menschen hilft, sich zu entspannen. Vieles von den Belegen, die aus
diesem Bereich vorgelegt werden, ist aber eher anekdotischer Natur.
314
Bauen Sie Ihr Gehirn auf
Ich bin jedoch sicher, dass Neurowissenschaftler, wenn sie erst weiter in die Tiefen des Gehirns vorgedrungen sind, Bahnen entdecken
werden, die diese Stellen miteinander verbinden.
Durchhalten
Statistiken zeigen, dass etwa die Hälfte derjenigen, die irgendwann
mit einem neuen Aktivitätsprogramm beginnen, dies innerhalb
von sechs Monaten bis zu einem Jahr wieder fallen lassen. Einer
der Haupt­grün­de scheint, was nicht überrascht, der zu sein, dass
viele sich auf ein von hoher Intensität geprägtes Programm stürzen, was dazu führt, dass sie sich sowohl physisch als auch psychisch schlecht fühlen und es dann einfach wieder sein lassen. Der
Kinesiologe Ekkekakis konzentrierte sich bei seinen Untersuchungen
in weiten Teilen auf die Be­ziehung zwischen der Intensität körperlicher Aktivitäten und den Un­an­nehmlichkeiten, die mit solchen
Aktivitäten verbunden waren.
Wie man sich im Vorfeld des Wechsels oder Übergangs vom aeroben zum anaeroben Stoffwechsel fühlt, ist von Person zu Person
verschieden; er stellte jedoch fest, dass, sobald die Linie überschritten wird, fast jeder bei psychologischen Tests von negativen Ge­
fühlen und hohen Werten berichtete, was die subjektiv empfun­
dene Kraftanstrengung anging. Es ist Ihr Gehirn, das Sie über einen Notfall alarmiert. Wenn Sie sich selbst auf einem niedrigen
Intensitätsniveau nicht gut fühlen, ist es wichtig, in den Frühphasen
Ihres neuen Übungsprogramms kein Intervalltraining einzulegen.
(Nochmals: Es ist wichtiger, irgendetwas zu tun, als gar nichts zu
tun.)
Und lassen Sie sich nicht unterkriegen, wenn Sie sportliche Ak­
ti­­vi­täten nicht lieben – vielleicht sind Sie genetisch prädisponiert,
sie nicht zu mögen. Im Jahr 2006 verglichen europäische Forscher
das phy­­sische Aktivitätsniveau von 13.670 eineiigen Zwillingspaaren
und 23.375 zweieiigen Zwillingspaaren; Letztere hatten jeweils nur
zur Hälf­te die gleichen Gene. Sie stellten fest, dass die Frage, ob die
Zwil­lin­ge zu sportlichen Aktivitäten neigten, zu 62 Prozent durch
315
Kapitel 10: Das Übungsprogramm
unter­schied­liche Gene erklärt wurde. Bei anderen Forschungen
wurde fest­gestellt, dass Genvariationen Einfluss darauf haben, ob
man das Gefühl, sich körperlich zu betätigen, genießt, oder ob man
an einem Ak­­t­i­v itätsprogramm festhält, nachdem man damit begonnen hat, und selbst ob man eine erhebliche Verbesserung der
Stim­mung feststellt. Von den vielen Genen, die hier involviert
sind, haben die Forscher sich auf eines konzentriert, das mit Do­
pa­min, dem Belohnungs- und Mo­­tivations-Neurotransmitter, zu­
sam­men­hängt, sowie auf eines, das die Ex­pression von BDNF kon­
trolliert. Personen mit dieser Dopamin-Variation können ein Be­
loh­nungs­defizitsyndrom haben, das sie jenes An­flugs von Ver­gnü­
gen und Spaß beraubt, von dem sie denken, dass alle anderen in
der Turnhalle oder im Fitnessstudio ihn haben. Wenn die BDNFSignal­gebung abgeschaltet ist, kann es gut sein, dass sich die stim­
mungs­­ver­bessernden Mechanismen sportlicher Betätigung nur
schlep­pend einstellen. Ich gebe Ihnen diese Informationen, nicht
als Ent­schuldigung, sondern zur Erinnerung: Wir alle können unser Gehirn neu verdrahten, indem wir aktiv werden. Es ist sicher
nicht so leicht, als wenn wir noch Kinder wären, aber es ist dennoch
definitiv möglich.
Sportliche Aktivitäten führen zu einer sofortigen Erhöhung des
Do­pa­min-Spiegels. Wenn Sie an einem regelmäßigen Übungs­pro­
gramm festhalten, werden die Gehirnzellen in Ihrem Motivations­
zen­trum neue Dopamin-Rezeptoren sprießen lassen, wodurch Sie
völlig neuen Auftrieb erhalten. Damit bahnen Sie sich neue neuronale Wege oder reaktivieren vielleicht bereits vorhandene wieder,
die durch Nicht­nutzung eingerostet sind – und es dauert nur wenige Wochen, bis es zur Ge­wohn­heit geworden ist und sich gefes­
tigt hat. Sich körperlich oder sportlich zu betätigen, kann ein sich
selbst verstärkendes Verhalten sein, das Ihnen hilft, Ihre Gene auf
Vordermann zu bringen. Ihre Gene sind in Wahrheit nur ein Teil
einer sehr komplexen Gleichung, und Sie haben die Kontrolle über
viele der anderen Variablen.
Ähnlich gelagert ist die Geschichte mit dem neurotrophen Fak­
tor BDNF: Mag sein, dass Sie etwas länger brauchen, bis Sie es geschafft haben, ein Übungsprogramm zur Routine zu machen und
sich gut dabei zu fühlen, aber sobald Sie es erreicht haben, wird ihr
316
Bauen Sie Ihr Gehirn auf
Gehirn zunehmend effizienter den „Wunderdünger“ produzieren.
Carl Cotman, der Neurowissenschaftler, der an der University of
California das Insti­tute for Brain Aging and Dementia in Irvine leitet, entdeckte, dass der Hip­pocampus ein, wie er es nannte, „molekulares Gedächtnis“ für die Produktion von BDNF hat. Im Rahmen
eines dreimonatigen Ver­suchs maß er bei verschiedenen sportlichen Aktivitätsprogrammen den BDNF-Spiegel von Laborratten.
Dabei verglich er den Effekt, den Laufen auf dem Laufrad sowohl
täglich als auch jeden zweiten Tag hatte, und untersuchte an, welche Auswirkungen es hatte, wenn dieses Laufen mehrere Wochen
ausfiel. Den Anstoß zu der Studie gab ihm seine durchaus treffende
Beobachtung, dass bei den meisten Labor­ex­pe­ri­menten zwar tägliche körperliche Aktivitäten genutzt werden, „bei Menschen diese
Aktivitätsmuster im Allgemeinen jedoch weniger rigoros sind und
nur selten konsequent auf einer täglichen Basis genutzt werden“.
Er kam zu einer Reihe aufschlussreicher Ergebnisse. Zunächst
einmal stellte er fest, dass tägliche Aktivitäten den BDNF-Spiegel
schneller erhöhen, als wenn diese nur jeden zweiten Tag erfolgen
– und zwar nach einem Zeitraum von zwei Wochen mit einer Er­
höhung von 150 Prozent im Vergleich zu 124 Prozent. Seltsamer­
weise hatten diejenigen, die sich nur jeden zweiten Tag sportlich betätigten, nach einem Monat jedoch aufgeholt und einen Gleichstand
mit der täglich aktiven Gruppe erzielt. Nachdem die Ratten die
Aktivitäten eingestellt hatten, dauerte es, unabhängig vom vorherigen Aktivitätsrhythmus, nur zwei Wochen, bis der BDNF-Spiegel
wieder auf das Ausgangsniveau zurückgekehrt war. Das interessanteste Ergebnis war jedoch, dass der BDNF-Spiegel nur innerhalb von
zwei Tagen wieder in die Höhe schnellte, als man den zuvor aktiven Tieren erneut Zugang zu ihren Laufrädern gab (137 Prozent
über Normalniveau bei den täglich Aktiven und 129 Prozent bei der
Gruppe, die jeden zweiten Tag aktiv war). Das ist es, was Cotman mit
dem molekularen Gedächtnis meint, und das heißt für Sie: Wenn
Sie die Erfahrung gemacht haben, sich regelmäßig körperlich oder
sportlich zu betätigen, kann Ihr Hippocampus sehr schnell wieder
zu seinem alten Tempo zurückfinden.
Cotman zog das Fazit, dass tägliche Aktivitäten zwar am besten
sind, aber selbst periodische Aktivitäten Wunder wirken. Ich glaube,
317
Kapitel 10: Das Übungsprogramm
es ist für viele wichtig zu erkennen, dass körperliche Bewegung keine Frage von „alles oder nichts“ ist. Wenn Sie ein paar Tage oder
eine Wo­che oder zwei versäumen, denken Sie einfach daran, dass
Ihr Hip­po­campus wieder seinen hohen BDNF-Spiegel erreicht, und
zwar bereits wieder am zweiten Tag, an dem Sie sich wieder sportlich betätigen.
Gemeinsam sind wir stark
Einer der besten Wege, um erfolgreich zu sein, ist sich einer Gruppe
anzuschließen. Der Stimulus der sozialen Interaktion lässt Ihre
Neuronen feuern wie nichts Vergleichbares – der Umgang mit anderen ist kompliziert, voller Herausforderungen, voller Belohnungen
und vergnüglich. Und wenn Sie diese Art der mentalen Aktivität
mit den „zündenden“ Effekten körperlicher Bewegung kombinieren,
maximieren Sie das Wachstumspotenzial Ihres Gehirns. Kör­per­
liche Bewegung aktiviert die Bausteine des Lernens, und die soziale
Interaktion zementiert sie an der richtigen Stelle.
Elizabeth Gould, Neurowissenschaftlerin an der Princeton Uni­
ver­sity, eine Pionierin auf dem Gebiet der Neurogenese, deren For­
schungen sich darauf konzentrieren, wie Erfahrungen und Um­welt
das Gehirn verändern, hat die unterschiedlichen Effekte kör­per­licher
Bewegung bei Tieren untersucht, die allein leben, und diese mit jenen verglichen, die in einer Gruppe leben. Sie hat fest­gestellt, dass
soziale Interaktion einen starken Einfluss auf die Neuro­genese hat.
Im Rahmen eines Experimentes zeigte sich bei Na­ge­tieren, nachdem diese zwölf Tage gelaufen waren, dass bei denjenigen, die in
sozialen Gruppen untergebracht waren, eine erhebliche Erhöhung
der Neurogenese im Vergleich zu jenen festzustellen war, die sich
zwar genauso viel körperlich betätigt hatten, aber isoliert gehalten
wurden. Bei den isolierten Läufern war die Zellvermehrung auf
dem gleichen niedrigen Niveau wie bei den in Gruppen untergebrachten Kontrolltieren, die sich nicht körperlich bewegten. Der
Grund hierfür hat mit dem Stresshormon Cortisol zu tun. Bei ihrer
Studie, die 2006 in Nature Neuroscience veröffentlicht wurde, stellte
318
Bauen Sie Ihr Gehirn auf
Gould fest, dass alle Läufer zwar einen erhöhten Cortisol-Spiegel
hatten, während sie ihren Aktivitäten nachgingen, bei der isolierten
Gruppe dieser jedoch auch zu anderen Tageszeiten hoch war. Mit
anderen Worten, unter den isolierten Bedingungen hat das Cortisol
den Wettbewerb gegenüber der Neurogenese gewonnen, während
„die Reaktivität“ der HPA-Achse durch soziale Unterstützung jedoch „gedämpft“ und das Stresshormon daran gehindert wurde,
das Wachstum zu beeinträchtigen. Bedeutet dies, dass es schlecht
ist, wenn Sie alleine laufen? Überhaupt nicht.
Halten Sie sich stets vor Augen, dass körperliche oder sportliche
Aktivitäten als solche ein Stressfaktor sind, der die HPA-Achse aktiviert und den Cortisol-Spiegel erhöhen kann. Das Gleiche gilt für die
Isolation. Offenbar hat der kumulative Stress, der durch das Laufen
und das Alleinsein hervorgerufen wurde, den Cortisol-Spiegel so
weit erhöht, dass dieser die Neurogenese verhinderte – vielleicht
auch, weil die Ratten keine ausreichende Erholungsphase hatten.
Was das Ganze noch verschlimmerte, war, dass die Ratten vorher
inaktiv gewesen waren, da der sprunghafte Wechsel von Inaktivität
zum Laufen von mehreren Kilometern pro Tag eine erhebliche neue
Belastung für das System darstellt.
Als Gould das Experiment über die anfänglichen zwölf Tage hinaus ausdehnte, stellte sich die Geschichte jedoch ganz anders dar. Sie
stellte fest, dass das System der isolierten Läufer langfristig aufholte,
wenn die Ratten weiterhin unter den gleichen Bedingungen gehalten wurden. Irgendwann nach 24 bis 48 Tagen Laufen pendelte sich
die Neurogenese zwischen der isolierten und der sozialen Gruppe
auf dem gleichen Niveau ein. Gould spekuliert, dass es vielleicht mit
Serotonin zu tun haben könnte, da der Serotonin-Spiegel durch soziale Interaktion erhöht wird und wiederum die Neurogenese fördert. Sowohl Isolation als auch Cortisol-Ausschüttungen über längere Zeit ausgesetzt zu sein, führt dazu, dass sich die Anzahl der
Serotonin-Rezeptoren im Hip­po­campus reduziert. Vielleicht ist es
so, dass durch das Laufen der Sero­tonin-Spiegel zwar erhöht wird,
dieser jedoch ohne genügend Rezep­to­ren, über die das Serotonin sich
an die Neuronen bindet, seine Auf­gabe nicht erfüllen kann.
Gould versucht, extrem komplexe Beziehungen zwischen Stress,
Umwelt und körperlicher Bewegung zu klären, und es gibt einige
319
Kapitel 10: Das Übungsprogramm
wichtige Punkte, die ihrer Studie zu entnehmen sind: Erstens ist
es wichtig, langsam zu beginnen, wenn Sie sich vorher nicht bereits sportlich betätigt haben und sehr viel Stress in Ihrem Leben
haben. Zweitens hat soziale Unterstützung einen starken Effekt
auf das Gehirn und kann sowohl die negativen Auswirkungen von
Stress verhindern als auch dafür sorgen, dass der Weg dafür geebnet
wird, dass körperliche Bewegung die Maschinerie des Wachstums in
Gang setzen kann. Bleiben Sie also mit anderen verbunden, um Ihre
Verbindungen (im Gehirn) aufrechtzuerhalten. Drittens, wenn Sie an
Ihrem Übungsprogramm festhalten, wird Ihr System sich entsprechend anpassen, um den Nutzen aus der Aktivität zu ziehen.
Natürlich kann man nur bedingt Schlussfolgerungen aus Tier­
stu­dien ziehen, betont Gould. „Nagetiere unterscheiden sich schon
sehr vom Menschen“, sagt sie. „Wenn man einer Ratte oder einer
Maus Zu­gang zu einem Laufrad gibt, wird jede, aber auch wirklich
jede von ihnen laufen. Das ist beim Menschen ganz anders. Sehr
viele von ihnen kaufen sich einen Heimtrainer oder andere Geräte,
die dann letztlich nur als Kleiderständer dienen.“
Es stimmt zwar, dass wir zum Laufen geboren sind, wir sind
aber auch darauf programmiert, die Vorzüge von Perioden zu nutzen, in denen wir zur Genüge mit allem versorgt sind, und unsere
Energie für die langen Phasen zu konservieren, in denen wir wieder
Nahrung suchen und auf die Jagd gehen müssen. Der Instinkt, sich
auf die Couch fallen zu lassen, ist keineswegs erst in den letzten 100
Jahren in unserer DNS zum Vorschein gekommen; es ist nur so, dass
unsere moderne Umwelt so gar nicht mit unseren Genen vereinbar
ist. Essbares ist nie wirklich außer Reichweite – nach Nahrung zu
suchen, bedeutet allenfalls, zehn Schritte bis zum Kühlschrank, nicht
zehn Kilometer quer durch die Savanne –, deshalb ist es wichtig, die
ursprünglich dafür notwendige Mühe durch die Anforderungen zu
ersetzen, die aerobe Übungen an unseren Körper stellen.
Werden Sie jedoch nicht zur Laborratte. Heben Sie sich das
Laufen auf einem Laufband für Regentage oder für Zeiten auf, an denen Sie es nicht einrichten können, mit anderen lebendigen, atmenden menschlichen Wesen etwas gemeinsam zu tun. Sich einem Team
anzuschließen oder sich das Ziel zu setzen, einen Zehn-KilometerBenefizlauf mitzumachen, und mit einer Gruppe von Freunden zu
320
Bauen Sie Ihr Gehirn auf
trainieren, bringt ein zusätzliches Gefühl der Verpflichtung mit sich,
dass ein starker Motivator sein kann. In Naperville lehrt Zientarski
Kooperation statt Konkurrenz oder Wettbewerb, aber bei manchen Erwachsenen kann die Tatsache zu einem Team zu gehören,
bewirken, dass sie richtig anbeißen und süchtig werden, egal, ob
sie bei einem städtischen Basket­ballturnier, bei einem AltherrenFußballturnier oder einer Schwimm­meisterschaft antreten.
Vielleicht erweist sich Gehen zusammen mit Ihrem Partner oder
Ihrer Partnerin ja für Sie genau als das Richtige, oder vielleicht wollten Sie immer schon einmal Taekwondo lernen, oder viel­leicht entde­
cken Sie, wie Jessie Wolfrum, die Absolventin der Central Highschool
in Naperville, Ihre Leidenschaft für die unendliche Herausforderung
des Bergsteigens (wozu ein Partner erforderlich ist). Als Schülerin an
der Highschool hatte sie das Glück, aus 18 verschiedenen Aktivitäten
wählen zu können. Sie haben demgegenüber das Glück, jede Aktivität
wählen zu können, die Sie sich vorstellen können. Das Schöne an
körperlicher Bewegung ist, je mehr Sie tun, um so mehr stellen Sie
sich vor zu tun.
Beweglich bleiben
Natürlich ist es wichtig, Dehnübungen zu machen, um beweglich
zu bleiben, aber genauso wichtig ist es, dafür zu sorgen, dass Ihr
Geist beweglich bleibt. Das Problem bei jedem Übungsprogramm
ist natürlich, dass es im Grunde unserer Natur zuwiderläuft. Die
Welt um uns he­­rum verändert sich ständig, und es ist schwer, immer wieder das Gleiche zu machen. Das würde ich auch nie von
Ihnen verlangen. Die beste Strategie ist, fast jeden Tag irgendetwas zu
tun, innerhalb dieses Rah­mens jedoch flexibel zu bleiben, das heißt,
den Rahmen so zu gestalten, dass er biegsam ist, aber nicht bricht.
Wenn Sie Ihr Programm vielseitig gestalten und immer einmal wieder neue Aktivitäten ausprobieren, stellen Sie sich immerzu neue
Herausforderungen und passen sich an. Meine eigene Erfahrung mit
sportlichen Aktivitäten ist ein perfektes Beispiel dafür, was schief
laufen und auch was gut gehen kann.
321
Kapitel 10: Das Übungsprogramm
Ich wuchs im Westen Pennsylvanias auf, in einer Zeit, in der diese
Gegend etliche Footballstars mit großen Namen wie Jow Namath,
Mike Ditka und Tony Dorsett hervorbrachte. Ich spielte die großen
Sportarten – Football, Basketball und Baseball –, ich war jedoch immer eher jemand, der sich redlich und hart abmühte, als ein echter
Spielmacher zu sein. Meine sportliche Berufung fand sich schließlich auf dem Tennisplatz, wo ich ständig mit meinem besten Freund
und Doppelpartner während der ganzen Highschool-Zeit spielte.
Ich sollte sogar an der Colgate University spielen, brach mir jedoch
einen Arm und ein Bein bei einem Autounfall, kurz bevor ich aufs
College kam. Mein Arm musste zweimal operiert werden, sodass
ich mehrere Jahre nicht spielen konnte. So habe ich es schließlich
aufgegeben, bei Tennisturnieren anzutreten, und mindestens zehn
Jahre lang auch ansonsten kaum Sport getrieben.
Erst während meiner Assistenzarztzeit wurde ich wieder aktiv. Es
war die Zeit, in der allgemein nach dem Erfolg von Bill Rogers und
der Beliebtheit des Boston-Marathons das Lauffieber ausgebrochen
war. Das Laufen weckte auch in mir wieder den Spaß daran, Tennis
zu spielen, und dann fing ich irgendwann an, mit einer Reihe von
Kollegen Squash zu spielen, darunter auch mein guter Freund und
langjähriger Kollege Ned Hallowell. Fast 25 Jahre lang spielten wir
dreimal in der Woche, konkurrierten miteinander, ermunterten und
ermutigten einander. Wir waren beruflich alle sehr eingespannt und
hatten wahnsinnig viel zu tun, aber unsere Squashtermine waren
sakrosankt. Sie hatten etwas Magisches.
Etwa vor sieben Jahren zog ich mir am rechten Arm eine irreparable Rotatorenmanschettenruptur zu, sodass ich keinen Schläger
mehr schwingen kann. Zur Rehabilitation fing ich an, Gewichte zu
heben, und dies war das erste Mal, dass ich konsequent in ein Fit­
ness­studio ging. Ich ging jeweils drei oder vier Mal wöchentlich
dort­­hin, verbrachte ungefähr 40 Minuten auf dem Stepper oder
dem elliptischen Kreuztrainer und hob weiterhin an zwei Tagen
in der Woche Gewichte. Dann legte ich einen Tick zu und reservierte mir in meinem Terminkalender eine Stunde pro Tag, mir
fehlte jedoch die Kameradschaft des Squashspiels. Ned ließ jedoch
nicht locker und überredete mich, mich bei seinem persönlichen
Trainer, Simon Zaltzman, anzumelden. Er ist ein Unikum: ein
322
Bauen Sie Ihr Gehirn auf
ehemaliger Box­trainer mit einem starken russischen Akzent und
einer scheinbar un­er­schöpflichen Vorstellungskraft, um mich mit
Herausforderungen zu konfrontieren.
Ich machte es mir zur Gewohnheit, zweimal in der Woche Ge­
wich­te zu heben sowie Sit-ups und Gleichgewichtsübungen zu absolvieren, und gehe sogar dreimal wöchentlich ins Studio, wenn ich sehr
fokussiert war; an den anderen Tagen absolvierte ich 40 Minuten auf
dem ellip­tischen Kreuztrainer oder auf dem Laufband, wenn ich
zusätzlich ein paar Intervalle einlegen wollte.
Bei meinen Recherchen für dieses Buch erfuhr ich von der wundersamen Wirkung des menschlichen Wachstumshormons (HGH)
und wie ich mithilfe von Sprints vielleicht dorthin kommen konnte,
wo ich wirklich hinwollte. An zwei Tagen in der Woche begann ich,
wenn ich auf dem Laufband war, eine Handvoll Sprints einzulegen,
und ich kann Ihnen sagen, sie tun weh. Selbst beim Schreiben darüber zieht sich in mir etwas zusammen, aber die zusätzliche Mühe
hat sich durchaus gelohnt. Nachdem ich dies einen Monat praktiziert
hatte, war ich die letzten zehn Pfund los, die ich seit Jahren schon
hatte abnehmen wollen – sie schälten sich regelrecht von meiner
Bauchpartie ab. Nicht, dass ich übergewichtig gewesen wäre. Aber
es war einfach so, dass nichts, was ich bis dahin ausprobiert hatte,
meinem „Ersatzreifen“ etwas anhaben zu können schien. Inzwischen
halte ich es so, dass ich an zwei meiner aeroben Tage (und nicht mehr
als an zweien) 20 Minuten jogge und zwischendurch fünf Sprints
von jeweils 20 oder 30 Sekunden ein­lege, bei denen ich jeweils so
schnell laufe, wie ich kann. Wenn andere wissen möchten, was sie
tun sollen, wenn sie nur wenig Zeit haben, dann erzähle ich ihnen
diese Geschichte.
Obwohl ich fast 60 bin, fühle ich mich wesentlich jünger, und
wenn ich Arthur Kramer dazu bewegen könnte, mein Gehirn zu
scannen, bin ich sicher, dass es auch jünger aussehen würde. Ich
tue alles, was ich kann, um dafür zu sorgen, dass mein präfrontaler
Cortex und all das, was mit ihm verbunden ist, auf Vordermann
bleibt. Natürlich fallen auch bei mir manchmal Tage aus, ich bemühe mich jedoch, dass es nicht zwei hintereinander sind. Wenn ich es
einfach nicht schaffe, ins Fitnessstudio zu gehen, dann gehen meine
Frau und ich mit den Hunden los, um einen schnellen Marsch von
323
Kapitel 10: Das Übungsprogramm
30 Minuten anstelle eines Spaziergangs von zehn Minuten zu machen. Für unsere lebhaften und unermüdlichen Jack-Russel-Terrier
Jack und Sam ist das, was für mich sozusagen eine Notlösung ist,
jedenfalls ein Riesenspaß. Wenn sie nur wüssten.
324
Nachwort

Das Feuer entfachen
I
ch bleibe hoffnungsvoll, was die Zukunft unseres Landes und die
unserer Kinder angeht, deshalb habe ich dieses Buch geschrieben.
Der Funke beginnt natürlich bei ihnen, unseren Kindern, und ich
habe erlebt, was geschieht, wenn er Feuer fängt, wie in Naperville.
19.000 Kinder, und nur drei Prozent von ihnen sind übergewichtig. Und sie sind auch entsprechend klüger. Trotz der Tatsache, dass
wir Gefahr laufen, uns zu Tode zu essen und unser Gehirn damit
umzubringen, gibt es doch Grund zu der Annahme, dass die Dinge
angefangen haben, sich zu ändern. Körperliche Aktivitäten und
sportliche Betätigungen finden wieder einen Platz im Leben der
US-Amerikaner. 2007 setzte Charlie Crist, der neue Gouverneur
von Florida, als erste Amtshandlung ein neues Gesetz durch, wonach Grundschüler mindestens 30 Minu­ten Sportunterricht täglich haben müssen. Er konnte Shaquille O’Neal gewinnen, in den
USA als Rapper und Basketballspieler eine Legen­de, für dieses Pro­
gramm Werbung zu machen. Der Dekan der Schulen in Kansas
City, Missouri, führte im ganzen Bezirk täglichen Sport­unter­richt
ein, nachdem er gesehen hatte, wie dadurch an einer seiner Grund­
schulen in der Innenstadt Gewalt reduziert wurde und die Prü­f ungs­
ergebnisse fast über Nacht verbessert wurden. In anderen Teilen des
Landes führen die Gesetzgeber Anhörungen durch, um den Damm
325
Nachwort
der Inaktivität zu brechen und den düsteren Statistiken die Stirn
zu bieten.
Selbst in der Medizin erleben wir inzwischen Ansätze, wonach
körperliche Bewegung offiziell ernst genommen wird. In seiner
Antrittsrede im Jahr 2007 drängte Ronald M. Davis, Präsident der
American Medical Association, alle AMA-Mitglieder dazu, eine
Bro­­schüre mit dem Titel „Körperliche Bewegung ist Medizin“ zu
lesen, damit sie wirklich jedem Patienten auch dabei helfen können, für sich ein Übungsprogramm zu erstellen. In der Psychiatrie
ist das Gleiche zu beobachten. In der Ausgabe von Mai 2007 bot
der psychiatrische Verband zum ersten Mal im Journal of Clinical
Psychiatry einen fort­laufenden medizinischen Ausbildungskurs
im Zusammenhang mit körperlichen Aktivitäten an: Bewegung
bei Stimmungs- und Angststörungen. Die vom Verband angebotenen Kurse sind für die Ärzte ein wichtiger Treffpunkt, um sich
über den neuesten Stand der me­dizinischen Wissenschaft auf dem
Laufenden zu halten, das heißt, es dürfte reichlich Gesprächsstoff
gegeben haben. Jeden Tag tauchen mehr Studien auf, die körperliche
Bewegung als Intervention bei mentalen Ge­sundheitsproblemen untersuchen. Bei dem Personal, das bei betreuten Wohnprojekten und
in Pflegeheimen eingesetzt wird, werden jetzt auch Sportphysiologen
einbezogen, und in den Fitnessstudios gibt es nicht genügend persönliche Trainer, um den Bedarf zu decken.
Wir beziehen unsere Informationen von der Neurowissenschaft
und unsere Inspiration von all den Menschen, die bereits erlebt
haben, was körperliche Bewegung für ihr Gehirn tun kann. Ich
hoffe, dass alles, was ich in diesem Buch dargelegt habe, Sie ermuntert, statt der Fernbedienung Ihre Sporttasche in die Hand zu
nehmen, oder Ihre Zeit auf dem Spielfeld zu verbringen statt an der
Seitenlinie. Ihr Körper und Ihr Gehirn lechzen nach physischem
Leben – von Ihren Genen bis hin zu Ihren Emotionen. Ihr Körper
ist dazu da, sich zu bewegen. Wenn Sie es tun, werden Sie bald Feuer
und Flamme sein.
326
Anhang: Danksagungen
Danksagungen
Ich bin vielen Personen dankbar, die mir geholfen haben, damit dieses Buch entstehen konnte.
Phil Lawler und Paul Zientarski sowie ihr Mitarbeiterstab an
den Schulen im Schulbezirk 203 von Naperville waren für mich
eine ständige Quelle der Inspiration. Das von ihnen ins Leben gerufene fitness­orientierte Modell des Sportunterrichts ist der lebendige Beweis für die wachsenden Belege, wie körperliche Bewegung
ein besseres Gehirn aufbaut. Ihre revolutionäre Gestaltung des
Sport­unterrichts hat die schulischen Leistungen und das Leben ihrer Schüler verbessert. Nicht minder wichtig ist, dass dadurch eine
Atmosphäre geschaffen wurde, in der die Sportlehrer die Freiheit
und den Wunsch haben, neue Ideen auszuprobieren, die einen positiven Effekt auf ihre Schützlinge haben können. Vom Geiste her
und in der Praxis sind Lawler und Zientarski selbst Forscher – hartnäckig, mutig und neugierig.
Besonders erwähnen möchte ich Neil Duncan und seine Schüler
des Sportunterrichts der „Stunde Null“ sowie ihre Lehrerinnen für
Lesen und Schreiben, Maxyne Kozil und Debbie St. Vincent. Sie
haben für mich ein Fenster zu der in Naperville vorherrschenden
Gesinnung geöffnet.
Anne Flannery und ihre Mitarbeiter des PE4life-Programms waren für mich eine große Hilfe mit ihren Hinweisen auf andere Kom­
munen, in denen das Naperville-Modell Fuß gefasst hat. Titusville
in Pennsylvania ist nur ein Beispiel, und Tim McCord hat sich stundenlang Zeit genommen, um mir von den Effekten des Programms
dort zu erzählen.
Herzlich danken möchte ich all den Neurowissenschaftlern und
Experten, die wir interviewten, für die Großzügigkeit, mit der sie
mir ihre Zeit und Hilfe zur Verfügung gestellt haben. Dazu gehören: James Blumenthal, Alyson Bond, Craig Broeder, Darla Castelli,
Eero Castrén, Maureen Dezell, Rodney Dishman, Wayne Drevets,
Andrea Dunn, Brian Duscha, Panteileimon Ekkekakis, Fred Gage,
Sam Goldstein, Eliza­beth Gould, William Greenough, Thom Hart­
mann, Charles Hill­man, Marian Joels, Dean Karnazes, Arthur
327
Anhang: Danksagungen
Kramer, Helen May­berg, Bruce McEwen, Ina Mullis, Peter Provet,
Robert Pyles, Amelia Russo-Neustadt, Terry Robinson, Jennifer
Shaw, Tracey Shors, Scott Small, June Smedley, Dean Sholden, John
Tavolacci, Gene-Jeck Wang, Jennifer Weuve und Martin Wojtowicz.
Besonders dankbar bin ich Carl Cotman und Mark Mattson, deren
Forschungen und Erkenntnisse uns die Augen geöffnet haben für
die intrazellularen nutzbringenden Effekte körperlicher Bewegung.
Ich kann nur hoffen, dass ich ihrer Leidenschaft für Entdeckungen
nacheifere.
Meine tiefe Dankbarkeit möchte ich den Patienten und Freunden
zum Ausdruck bringen, die sich damit einverstanden erklärt haben,
dass ich ihre Geschichten erzählen kann, und den vielen anderen,
deren Erfahrungen in Kurzform in diesem Buch eingeflossen sind,
um es lebendig zu machen.
Meine Lektorin, Tracy Behar, und die Mitarbeiter beim Verlag
Little, Brown and Company fanden dieses Buch so spannend, dass
sie selbst ein sechsmonatiges Experiment durchführten, um herauszufinden, inwieweit eine Erhöhung ihres Maßes an körperlicher
Bewegung sie beeinflussen und sich bei ihnen bemerkbar machen
würde. Ihr unbän­diges Interesse goss zusätzliches Öl ins Feuer,
was dazu beitrug, das Manus­k ript über die Ziellinie zu bringen.
Brooke Stetson, meine Schalt­stelle zu Tracy Behar, war mit ihrer
Begeisterung eine Quelle der Er­mutigung.
Meine Agentin und unermüdliche Fürsprecherin Jill Kneerim
ließ meine Vision Gestalt annehmen und half von Anfang an, das
Buch zu strukturieren. Und Elisabeth Weed stellte die Verbindung
zwischen Eric Hagerman und mir her.
Mein Dank gilt auch all jenen, die Teile des Manuskriptes gelesen und mir ihr wertvolles Feedback gegeben haben, dazu gehören
meine Schwester Veronica Crain, Dave Goodrich, Allen Ivey, Erics
Mutter Judy Sinderson sowie sein Freund Stephen Milioti und viele
andere. Jacob Sattelmair nahm sich wertvolle Zeit, die er eigentlich
für seine Doktorarbeit benötigt hätte, um bei vielen Gelegenheiten
über diese Wissenschaft mit mir zu diskutieren. Ich stehe auch in
der Schuld von Ned Hallowell, zunächst mein Schüler, dann mein
Lehrer, der vor vielen Jahren von mir verlangte, pro Woche eine
Nische für Squash und Kameradschaft heiligzuhalten. Er war es
328
Anhang: Danksagungen
auch, der mich Simon Zaltzman vorstellte, einem Meistertrainer,
der es nie versäumt, mich mit einer „Tortur des Tages“ herauszufordern. Danke auch Ben Lopez für seine Freundschaft, seine Gedanken
zu diesem Buch sowie seine Großzügigkeit, mir sein Haus am Meer
zu überlassen, als ich einen Ort suchte, um anzufangen.
Meine Assistentin Mary Haroun war mir eine unendlich wertvolle Hilfe und hat bei der Unzahl von Details, die mit dem Projekt
verbunden waren, nie die Orientierung verloren. Sie bewältigte eine
Vielzahl von Aufgaben, was mir die zusätzliche Zeit gab, die ich für
dieses Buch benötigte. Das Wichtigste aber: Sie war eine Freundin,
ein Fels in der Brandung und eine Kraftquelle, die mich bei jeder
Kurve aufgemuntert und angefeuert hat. Ebenso hätte ich es ohne
die Freundschaft, Unterstützung und technische Notfallhilfe von
Marys Ehemann, Majdi Haroun, nicht geschafft.
Bei Eric Hagerman hat sich erwiesen, dass er mehr als ein Mit­
arbeiter und Co-Autor ist. Er hat mein Gehirn, das so gerne auf
Abwege gerät, gefordert und dafür gesorgt, dass es konzentriert
bleibt, und mich genötigt, mich so auszudrücken, dass jeder verstehen kann, was ich zu sagen versuchte. Seine Fähigkeit, das Wesent­
liche auf den Punkt zu bringen und aus wissenschaftlichen Papieren,
die sich auf zwei Gigabytes summieren, die wichtigsten Kernaussagen
herauszuziehen, war unentbehrlich, um dieses Buch auf die Beine
zu stellen. Wir haben so manchen Tag zusammen verbracht, um die
Texte auszuarbeiten. Er schreibt vorzüglich und seine Leidenschaft
war unverzichtbar. Ich weiß die Zeit zu schätzen, die er geopfert hat
und nicht mit seiner geliebten Partnerin Christelle zusammen sein
konnte.
Mit das Härteste beim Schreiben dieses Buches war, über einen
Zeitraum von zwei Jahren die Energie aufrechtzuerhalten, was ohne
die Unterstützung, Ermutigung und Liebe meiner Familie, Freunde
und Kollegen nicht denkbar gewesen wäre. Danke euch allen, dass
ihr da wart, wenn ich euch brauchte. Besonders dankbar bin ich
meinen wunderbaren Töchtern Jessica und Kathryn sowie meinem neuen Schwiegersohn Aaron Cohen für ihre Vorschläge zum
Manuskript und ihre unerschütterliche Unterstützung.
Und schließlich meiner Frau Nancy, die, während sie selbst in der
Schluss­phase der Arbeit an ihrem eigenen Buch war, irgendwie noch
329
Anhang: Danksagungen
die Kraft und das Verständnis fand, mir die Zeit zu geben, meines
so beenden. Sie war die ganze Zeit meine Vorkämpferin.
330
Anhang: Glossar
Glossar
Adrenalin: Adrenalin, auch Epinephrin genannt, ist sowohl ein
Neu­ro­­transmitter im Gehirn als auch ein Hormon, das von den Ne­
ben­nieren freigesetzt wird. Bei der Stressreaktion wird Adre­nalin
sofort ausgeschüttet, um das Nervensystem dafür zu rüs­ten, auf
Herausforderungen für das Überleben zu reagieren.
Aerober Stoffwechsel: Dabei handelt es sich um die Langzeitform
der Energieumwandlung, die durch die ausreichende Verfügbarkeit
von Sauerstoff zur Verbrennung von Brennstoff bestimmt wird –
zuerst Fett, dann Fett und gespeicherte Glukose –, um die aktiven
Muskelzellen zu versorgen. Er findet bei wenig bis mäßig intensiven
körperlichen Aktivitäten statt und kann über lange Zeiträume auf­
rechterhalten werden.
Anaerober Stoffwechsel. Eine Form der Energieumwandlung, die
durch einen Mangel an ausreichendem Sauerstoff bestimmt wird,
um Fett und Glukose in brauchbaren Brennstoff für den Körper
umzuwandeln. Wenn der Körper angetrieben wird, sich so schnell
und so hart zu bewegen, dass der Bedarf der arbeitenden Muskeln
an frischem Sauerstoff die jeweiligen Zufuhrmöglichkeiten über den
Blutkreislauf übersteigt, beginnen die Muskeln, Brennstoff inef­fi­
zient zu verbrennen.
Anandamid: Ein Neurotransmitter im Körper und im Gehirn, der
sich an Cannabinoid-Rezeptoren, Tetrahydrocannabinol (THC),
den aktiven Wirkstoff in Marihuana, anbindet und diese Rezep­toren
auch aktiviert. Sind die Cannabinoid-Rezeptoren aktiviert, helfen
sie dem Körper und dem Gehirn, mit Schmerzen, Stim­mun­gen und
Freude umzugehen.
Atriales natriuretrisches Peptid (ANP): Ein natürlich vor­kom­men­
des Hormon, das im Herzen und im Gehirn produziert wird. Er­höht
sich die Herzfrequenz, steigt die ANP-Produktion, und ANP wird in
den Blutkreislauf ausgeschüttet. Es passiert die Blut-Hirn-Schranke,
331
Anhang: Glossar
um den Aktivitäten bestimmter Elemente der Stressreaktion entgegenzuwirken. ANP dämpft Stress und Ängs­te und hilft, Stimmungen
zu regulieren. Siehe auch → Blut-Hirn-Schranke
Blut-Hirn-Schranke: Dabei handelt es sich um ein Netz von Ka­pil­
laren mit dicht beieinanderliegenden Zellen, das verhindert, dass einige Nährstoffe und Substanzen ohne Weiteres vom Blut ins Gehirn
transportiert werden. Die Blut-Hirn-Schranke filtert Giftstoffe und
Infektionen aus.
Cortex: Dabei handelt es sich um die dünne äußere Schicht der grauen Substanz des Gehirns, gerade einmal sechs Zellen dick. Als letzter Teil des menschlichen Gehirns, der sich im Zuge der Evolution
entwickelte, ist er Sitz der schnellen Informationsverarbeitung und
steuert den Rest des Gehirns. Im ganzen Gehirn strecken Neu­ronen
ihre Axone so aus, dass sie mit dem Cortex verbunden sind, sodass
unser Gehirn über ein breites Spektrum mentaler Akti­v itäten informiert wird.
Cortisol: Das Hauptstresshormon mit Langzeitwirkung, das Brenn­
stoff mobilisiert, die Aufmerksamkeit und das Gedächtnis akti­
viert sowie dem Körper und dem Gehirn hilft, sich für den Kampf
zu rüsten, wenn das Gleichgewicht in Frage gestellt wird. Cortisol
überwacht die Vorratshaltung von Brennstoff, in Form von Fett, für
künftige Belastungen. Seine Aktivitäten sind für unser Überleben
von entscheidender Bedeutung. In hohen oder unkontrollierten
Konzentrationen hat Cortisol jedoch einen toxischen Effekt auf
die Neuronen, zersetzt die Verbindungen zwischen ihnen und baut
Muskeln und Nervenzellen ab, um eine sofortige Brennstoffquelle
verfügbar zu haben.
Dopamin: Ein Neurotransmitter, der eine entscheidende Rolle bei
der Bewegung, Aufmerksamkeit, Kognition, Motivation und Freu­de
sowie bei Abhängigkeiten (Sucht) spielt.
Endocannabinoide: Eine Klasse von Hormonen, die als hirneige­
nes Ma­rihuana bekannt sind. Sie sind insofern mit Endorphinen
332
Anhang: Glossar
ver­g leichbar, als dass sie Schmerz dämpfen, werden allerdings we­
sent­lich schneller als Tetrahydrocannabinol (THC) durch den Stoff­­
wechsel abgebaut und haben somit einen relativ flüchtigen Effekt.
Endorphine: Hormone, die in Körper und Gehirn produziert werden und als natürliches Morphium dienen. Sie werden freigesetzt,
wenn Körper und Gehirn strapaziert werden, um Schmerzsignale
zu blockieren, damit wir körperlich unangenehme Situationen
durchstehen können. Sie haben Einfluss auf viele physiologische
Funktionen wie Freude, Befriedigung und Glückseligkeit.
Fibroblasten-Wachstumsfaktor-2 (FGF-2): Ein Protein, das in
Kör­per und Gehirn produziert und ausgeschüttet wird, wenn Ge­
we­be Belastungen ausgesetzt wird. Genau wie der vaskuläre en­do­
theliale Wachstumsfaktor (VEGF) hilft VGF-2, mehr Blut­ge­fäße
und andere Gewebe entstehen zu lassen. FGF-2 ist an der Aus­lö­
sung des Prozesses der Stammzellteilung beteiligt, der für die Neu­
rogenese notwendig ist, und es fördert auch die Langzeit-Po­ten­
zierung (LTP) sowie die Bildung von Erinnerungen. Siehe auch →
Lang­zeit-Potenzierung, → Neurogenese, → vaskulärer en­do­t he­
lia­ler Wachstumsfaktor
Gamma-Aminobuttersäure (GABA): Dies ist der wichtigste hemmende Neurotransmitter des Gehirns. Er hemmt die Über­a k­tivität
aller Nervenzellen, insbesondere jener im limbischen Sys­tem, wo die
Amygdala, das emotionale Zentrum, lokalisiert ist. Zielscheibe vieler angstlösender Medikamente sind die GABA­-Rezeptoren. GABA
spielt bei Ängsten, Aggressionen, Stim­mun­gen und der Kontrolle
von Anfällen eine Rolle.
Glutamat: Dies ist der wichtigste erregende Neurotransmitter des
Gehirns. Er ist von entscheidender Bedeutung für die Anbindung
von Zellen und somit für die Neuroplastizität.
Hippocampus: Der Hippocampus dient sozusagen als Streckensta­
tion für viele Aspekte des Lernens und des Gedächtnisses. Er sam­
melt ankommende Reize aus dem ganzen Gehirn, gleicht die neuen
333
Anhang: Glossar
In­­for­mationen mit bereits gespeicherten Informationen ab und bündelt sie zusammen als eine Erinnerung, die dann zur weiteren Ver­
ar­beitung an den präfrontalen Cortex gesendet wird. In den letzten
Jahren ist nachgewiesen worden, dass er eine entscheidende Kom­­
po­­nente in der Biologie von Stress und Stim­mungen ist, da er eine
Vielzahl von Cortisol-Rezeptoren enthält und die erste Station bei der
Regulierung der Feedback-Schleife in der Kampf-oder-Flucht-Reaktion
ist. Durch seine enge Beziehung zu Cortisol ist der Hippo­campus besonders verwundbar, wenn es um die ver­hee­­ren­den Auswirkungen
von Stress und des Alterungsprozesses geht. Andererseits ist er eine
der nur zwei Struk­turen im Gehirn, die nach­weis­lich ihre eigenen
Nervenzellen produzieren. Siehe auch → Neurogenese
Hirnanhangsdrüse (Hypophyse): Eine erbsengroße endokrine
Drü­se, die unmittelbar unterhalb des Hypothalamus lokalisiert ist.
Sie schüttet Hormone und Faktoren aus, die im ganzen Körper andere Hormone kontrollieren. Siehe auch → Hypothalamus
HPA-Achse: Die HPA-Achse ist eine Signalroute vom Hypothalamus
über die Hirnanhangdrüse zur Nebenniere, die die Stressreaktion
kon­trolliert. Sie ist wichtig für solch lebenswichtige Funktionen
wie Brennstoffregulierung und Immunsystem. Siehe auch → Ne­
ben­nieren, → Hypothalamus, → Hirnanhangsdrüse (Hypo­phy­se)
Hypothalamus: Eine kleine Drüse, die oberhalb der Hirn­anhangs­
drü­se lokalisiert ist und Hormone produziert und ausschüttet, um
der Hirnanhangsdrüse zu signalisieren, dass Hormone und andere Faktoren freigesetzt werden müssen. Der Hypothalamus ist eine
Schaltstation, die Anweisungen vom Gehirn übersetzt, die durch
neurochemische Signale übertragen werden; diese An­wei­sungen
werden in hormonelle Signale übersetzt, die über das Blut transportiert werden und biologische Bedürfnisse wie Sex, Hun­ger, Schlaf
und Aggression steuern. Siehe auch → Hirn­an­hangs­drüse
Insulinähnlicher Wachstumsfaktor (IGF-1): Ein Hormon, das
haupt­sächlich in der Leber produziert wird und eng mit dem mensch­
lichen Wachstumshormon (HGH) und Insulin zu­sam­menarbeitet,
334
Anhang: Glossar
um Zellwachstum zu stimulieren und dem na­tür­li­chen Verfall der
Zellen entgegenzuwirken.
Kleinhirn (Zerebellum): Ein kleiner Teil des Gehirns, voller dicht
beieinanderliegender Zellen, der die Hälfte aller im Gehirn vor­
kommenden Nervenzellen enthält und in die Integration der sensorischen und automatischen motorischen Funktionen involviert
ist. Das Kleinhirn ist ständig damit beschäftigt, die eingehenden
und ausgehenden Informationen zu aktualisieren und zu verarbeiten. In den letzten 20 Jahren haben Wissenschaft­ler erkannt,
dass das Kleinhirn bei der Aufrechterhaltung des Rhyth­mus und
der Kontinuität vieler Hirnfunktionen eine Rolle spielt, etwa bei
Emotionen, dem Erinnerungsvermögen, der Spra­che und bei sozialen Interaktionen, und es uns ermöglicht, gerade­aus, das heißt, in
einer geraden Linie, zu gehen. Ich be­zeich­ne es gerne als das Rhythm
& Blues-Zentrum.
Langzeit-Potenzierung (LTP): Hierbei handelt es sich um den zel­
lularen Mechanismus für Lernen und Erinnerungsvermögen, der
eine Stärkung der Fähigkeit der Gehirnzellen oder ihres Po­ten­zials
erforderlich macht, um ein Signal über den synap­ti­schen Spalt zu
übermitteln. Die Langzeit-Potenzierung ist für den Pro­zess der
Zellanbindung und somit für die Kommunikation von entscheidender Bedeutung.
Maximale Herzfrequenz: Die physiologische Grenze, wie viele Male
das Herz einer Person in einer Minute schlagen kann. Diese Zahl
ist hilfreich, um die Intensität körperlicher Anstrengungen korrekt
einzuschätzen und zu berechnen. Sie kann im Phy­sio­lo­gie-Labor
durch Anstrengung bis zur Erschöpfung ermittelt werden. Üblicher
für Freizeitsportler ist jedoch, ein theoretisches Ma­x i­mum zu Hilfe
zu nehmen, das durch Subtrahieren ihres Alters von der Zahl 220
ermittelt wird.
Menschliches Wachstumshormon (Human Growth Hormone,
HGH): Ein Hormon, das als der Meister aller Hormone bekannt
ist. Es ist von entscheidender Bedeutung für das Wachstum und
335
Anhang: Glossar
die Entwicklung aller Zellen in Gehirn und Körper bis ins Er­
wachse­nenalter und ist eng in den Aufbau des Körpers in­vol­v iert.
Es kontrolliert die Brennstoffzuteilung und wirkt dem natürlichen
Schrumpfen der Zellen beim Alterungsprozess entgegen.
Mitochondrien: Dies sind winzige Strukturen in jedem Zellkern,
die sozusagen als Kraftwerk der Zelle dienen und Sauerstoff nutzen, um Glukose im Rahmen des aeroben Stoffwechsels in einen
brauchbaren Brennstoff umzuwandeln. Sofern der Sauerstoffspiegel
nicht ausreicht, wird die Brennstoffumwandlung außerhalb der
Mitochondrien in den Bereich des anaeroben Stoff­wechsels verlagert.
Der anaerobe Stoffwechsel ist ein weitaus weniger effizienter Prozess
als der aerobe Stoffwechsel. Siehe auch → aerober Stoffwechsel, →
anaerober Stoffwechsel
Nebennieren: Dabei handelt es sich um kleine Organe, die un­
mit­tel­bar vor den Nieren lokalisiert sind. Ein Teil der Neben­nie­
ren produziert und schüttet Adrenalin (Epinephrin) aus, um eine
Stressreaktion auszulösen; ein anderer Teil produziert und schüttet
Cortisol sowie cortisolähnliche Hor­mo­ne aus, wenn durch Signale
entsprechende Anweisungen von der HPA-Achse kom­men, dass die
Stressreaktion unterstützt werden soll. Siehe auch → HPA-Achse
Neurogenese: Der Prozess der Stammzellteilung und der Weiter­ent­
wicklung der Stammzellen zu funktionalen neuen Gehirnzellen oder
Neuronen im Gehirn wird als Neurogenese bezeichnet. Dass dieser
Prozess bei erwachsenen Menschen stattfindet, wurde stichhaltig
1998 nachgewiesen. Es wird davon ausgegangen, dass er auf einen
Teil des Hippocampus und eine andere Hirnregion, die sogenannte
subventrikulare Zone, beschränkt ist, die mit dem Geruchssinn assoziiert wird. Siehe auch → Stammzellen
Neurotropher Faktor BDNF (Brain-Derived Neurotrophic Factor):
Ein Protein, das in den Nervenzellen produziert wird, wenn sie
aktiv sind. BDNF dient als „Wunderdünger“ fürs Gehirn, der die
Hirnzellen „düngt“, damit sie funktionieren und wachsen. BDNF
kurbelt auch das Wachstum neuer Neuronen an.
336
Anhang: Glossar
Noradrenalin (Norepinephrin): Ein Neurotransmitter, der Erregung,
Wachsamkeit, Aufmerksamkeit und Stimmung beein­flusst. Nor­
adrenalin-Signale aktivieren das sympathische Nerven­sys­tem und
schärfen die Sinne. Siehe auch → sympathisches Nerven­sys­tem
Präfrontaler Cortex: Die Region des Cortex, die im vorderen Ab­
schnitt des Stirnhirns lokalisiert ist. Als letzter Teil der grauen
Substanz, der sich im Zuge der Evolution entwickelte, kon­trolliert
der präfrontale Cortex die Eigenschaften und Qualitäten, die uns
am meisten als Menschen auszeichnen. Er ist der „Generaldirektor“
der meisten Hirnfunktionen, wozu unter anderem Funktionen
wie Planen, Festlegen eines Ablaufs oder einer Reihenfolge, Üben
und Proben, Bewerten und Verstehen gehören, ohne jedoch darauf beschränkt zu sein. Im präfrontalen Cortex hat auch das
Kurzzeitgedächtnis seinen Sitz, der RAM-Speicher des Gehirns,
der für Entscheidungsfindungen von entscheidender Bedeutung ist.
Siehe auch → Cortex
Serotonin: Ein Neurotransmitter, der für Stimmung, Ängstlichkeit,
Impulsivität, Lernvermögen und Selbstwertgefühl von ent­schei­
dender Bedeutung ist. Serotonin, das oft als „Polizist“ des Ge­hirns
bezeichnet wird, hilft bei einer Vielzahl von Hirnsystemen, eine
überaktive oder außer Kontrolle geratene Reaktion zu unter­drücken.
Stammzellen: Als Stammzellen werden undifferenzierte Zellen be­
zeichnet, die sich zu voll funktionierenden neuen Zellen ent­w i­­ckeln
können. Im erwachsenen menschlichen Gehirn sind sie in einem Teil
des Hippocampus, dem sogenannten Gyrus dentatus, und in einer
anderen Region, der sogenannten subventrikularen Zone, lokalisiert.
Die Teilung und Entwicklung von Stamm­zellen zu neuen Neuronen
wird durch den Fibroblasten-Wachs­tumsfak­tor (FGF-2) und den
vaskulären endothelialen Wachs­tumsfak­tor (VEGF) gefördert. Siehe
auch → Fibroblasten-Wachstumsfak­tor, → Hippocampus, → vaskulärer endothelialer Wachstumsfaktor
Sympathisches Nervensystem: Dabei handelt es sich um ein weit
reichendes Netzwerk von Nervenzellen, die das Gehirn mit dem
337
Anhang: Glossar
Körper verbinden und durch Noradrenalin aktiviert werden. Es ist
ein Bestandteil des stets eingeschalteten autonomen Nerven­sys­tems,
seine Aktivität wird bei der Stressreaktion jedoch dras­tisch erhöht.
Synapse: Dies ist die Verbindungsstelle zwischen Axon und Dendrit
zweier nebeneinanderliegender Neuronen. Im Axon werden elek­
trische Impulse in chemische Botschafter übersetzt – Neu­ro­trans­
mitter –, um Anweisungen über den synaptischen Spalt zu trans­
portieren. Am Dendrit wird das Signal des Neuro­transmitters wieder
in einen chemischen Impuls zurück­ver­wandelt, der das empfangende Neuron veranlasst, eine Auf­ga­be auszuführen.
Vaskulärer endothelialer Wachstumsfaktor (VEGF): Dies ist
ein wichtiges Signal gebendes Protein, das im Körper produziert
und freigesetzt wird, wenn Gewebe stark belastet wird und der
Blutkreislauf nicht ausreicht, um den Bedarf zu decken. Genau wie
der Fibroblasten-Wachstumfaktor (FGF-2) wirkt VEGF wie ein
Mitogen und signalisiert anderen Zellen, mit der Teilung zu beginnen, um mehr Blutgefäße entstehen zu lassen. Unlängst haben
Wissenschaftler entdeckt, dass VEGF auch im Gehirn pro­duziert
wird und bei der Verankerung von Erinnerungen eine Rolle spielt.
Siehe auch → Fibroblasten-Wachstumsfaktor
VO2 max: Dies bezeichnet den maximalen Sauerstoffverbrauch und
ist somit ein Maßstab für die Kapazität der Lungen, Sauerstoff zu
verarbeiten; es wird auch als aerobe Kapazität bezeichnet. Der maximale Sauerstoffverbrauch ist der Hauptindikator für kar­diovaskuläre
Fitness.
338
Anhang: Stichwortverzeichnis
Stichwortverzeichnis
A
Abhängigkeit (Sucht) 151, 201, 205 ff.
Adderall (Amphetamin/
Dextroamphetamin)
185, 198, 201
Adenosintriphosphat (ATP) 92 f., 99
ADHS → Aufmerksamkeitsdefizit-/
Hyper­a kti­v i­täts­störung
Adrenalin (Epinephrin) 82 ff., 123, 130,
307, 331
Agoraphobie 126, 131
Alameda Country Study 147
Alkoholiker 213, 215 ff.
Alprazolam (Xanax, Tafil) 115
Altern, Alterungsprozess 263 ff.
- Demenz 278
- Ernährung 289
- Lernen 294 f.
- Rückgang der kognitiven
Fähigkeiten 272
- Wie wir altern 268
Alzheimer-Krankheit 65, 273, 278 ff.
- Altern 268 ff.
- Depression 158ff., 275 ff.
258
- Frauen - Gene 279
- Glukose-Spiegel 283
- Hormonersatz-Therapie 260
- Lernen 280
- Neurodegeneration 92
American College of Obstetricians
and Gyne­co­logists (ACOG) 241, 261
American College of
Sports Medicine 31, 302
American Journal of Psychiatry 132, 251
American Journal of Sports Medicine 314
American Medical Association 268, 326
American Psychiatric Association (APA)
156
Amphetamin/Dextroamphetamin
185, 211
(Adderall) Amygdala 81 f.
- Abhängigkeit 216, 222
- ADHS 184 f., 196
118 f., 130 f.
- Angst - ANP 129
- Betablocker 123
- Depression 159
- Kampf-oder-Flucht-Reaktion 81 f.
- Panikattacken 124
- Serotonin 134
- Stress 84, 86, 89, 95, 97 f.
Amyloid-Plaques 279, 284
Anaerobe Übungen 303, 308 ff., 331
Anandamid 223 f., 331
Angst 11, 43, 109 ff., 228, 285
- Abhängigkeit 220 ff.
- ADHS 190, 198 f.
- ANP 308
- Behandlung von 123
- Depression 141
- Fitnessniveau 299
- Furcht 118 ff., 130 ff.
- Hormonelle Veränderungen 198, 261 f.
137 f.
- Kinder - Krafttraining 313
- Medikamente 110 f.
- Menopause 257
- Rauchen 218
- Schwangerschaft 243
- Sensitivität 113 ff., 137 f.
- Serotonin 51
110 ff., 118 f.
- Störungen 78, 98
- Stress - Yoga 314
→ auch: Generalisierte Angststörung,
Panik­­störung, Phobien, soziale
Angststörung
ANP → atriales natriuretrisches Peptid 331
165
Anteriores Cingulum 92 ff., 163, 290, 307
Antioxidanzien Apo-E4-Gen 280, 281, 295
Apoptose 269
Archives of General Psychiatry 163
Archives of Neurology 258
Arnsten, Amy 196
339
Anhang: Stichwortverzeichnis
ATP → Adenosintriphosphat
Atriales natriuretrisches Peptid (ANP)
101, 117, 129 ff., 308, 331f.
Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperakti­
vitäts­stö­r ung (ADHS) 38, 175 ff.
- Abhängigkeit 210, 220
- Ablenkung 175 ff.
- Aufmerksamkeitssystem 184 ff.
- Dopamin 52
- Medikamente 184 ff.
291
- Omega-3 - Rauchen 218
- Schwangerschaft 242
- Stress 84, 216
- Unaufmerksamkeit 180 ff.
B
Basalganglien 57, 72, 74, 187, 195, 211, 214,
221, 279, 281
BDNF, neurotropher Faktor (BrainDerived Neurotrophic Factor) 53 ff., 336
- ADHS 196
270, 274
- Altern - Depression 316
118, 120
- Furcht - Intervalltraining 311 f.
- Körperliche Bewegung 57 ff., 284, 305 ff.
258
- Menopause 161
- Neurogenese - Omega-3 291
237
- Östrogen 281
- Parkinson-Krankheit 246 f.
- Schwangerschaft - Stress 100, 162
Belohnungsdefizitsyndrom 216, 220, 316
Belohnungszentrum, Belohnungssystem
151, 176, 184 f., 209, 215 f., 221
31
Benedictine University Benzodiazepin 136
Bergsteigen 35, 40, 73, 182, 321
123 f., 134
Betablocker 292 ff.
Beweglichkeit 14, 172, 290
Bipolare Störung 251
Bloch, Miki 151 ff., 201, 239
Blumenthal, James 283
Blutdruck 257, 266
- Altern 124
- Betablocker - Bluthochdruck 241
33, 101,
- Körperliche Bewegung
267, 283
256
- Menopause - Omega-3 291
242
- Schwangerschaft - Stress 82, 101, 103
34
- Übergewicht Body-Mass-Index (BMI) 31, 300
10
Body-Mind-Verbindung Boston University 313
British Journal of Health and Psychology 230
223
British Journal of Sports Medicine Broeder, Craig 31, 35
115
Broman-Fulks, Joshua Broocks, Andreas 125, 152
201
Bupropion (Wellbutrin) C
Calcium 287
California Department of Education 32
California State University 195
„Call to Action, A: Overcoming Anxiety
through Active Coping“ (Le Doux
132
u. Gor­man)
Case Western Reserve University 244
37
Castelli, Darla 53, 60
Castrén, Eero CCK-4 (Cholecystokinin Tetrapeptid)129 f.
Centers for Disease Control (CDC) 266
Cholecystokinin Tetrapeptid → CCK-4
247
Christie, Brian 244 f.
Clapp, James 125, 152
Clomipramin 198
Clonazepam (Klonopin) Cohen, Lee 257
54, 60, 67, 148,
Columbia University 189, 243, 298
Conquering Depression and Anxiety 131
156
Cooper-Institut Cooper, Kenneth 104, 282
340
Anhang: Stichwortverzeichnis
Cortex 159, 184
Corticotropin-freisetzender Faktor → CRF
Cortisol 82, 85, 332
- Altern 275
- BDNF 161 f.
- Cushing-Syndrom 97
- Depression 159
- Körperliche Bewegung 99, 285, 308, 319
- Schwangerschaft 129, 243
- soziale Interaktionen 319
- Stress 82, 86 ff., 95, 276
Cotman, Carl 258, 274, 280, 317
C-reaktive Proteine 286
CRF (Corticotropin-freisetzender Faktor
82, 129, 222
Crist, Charlie 325
Cross-Training 314
Cushing-Syndrom
97
Cybex Trazer 45
D
D2R2-Allel
215
Dance-Dance-Revolution 30, 213
„Das menschliche Gehirn, eine
Gebrauchs­a n­weisung“ (Ratey)
57
Davis, Ronald M. 326
DBS → Tiefe Gehirnstimulation
DDAT → Dyslexie, Dyspraxie u. Aufmerk­
sam­keitsdefizit (Dyslexia, Dyspraxia, and
Atten­t ion Treatment)
de Vries, Herbert 134
Degenerative Krankheiten 58, 65
Demenz 278 ff.
- Altern 275
- Depression 142, 275 f. 285
- Gewicht 266, 285
- Hormonersatztherapie 255
258, 281 f.
- Körperliche Bewegung - Lernen 280, 294
- Stress 285
Dendriten 51, 54, 338
- Abhängigkeit 211
- Altern 267, 272
- BDNF 54, 63, 163
- Depression 159
- Lernen 211
- Stress 87, 92, 95, 97, 159
Depression 11, 14, 77, 98, 128, 141 ff.
- Abhängigkeit 222, 228
- ADHS 191, 196, 201
- Altern 275
- Angst 112, 137 f.
- Behandlung von 123
- Hormonelle Veränderungen 261
88
- Lernen - Medikamente 14, 123, 141, 143, 152
- Menopause 254 ff.
- Parkinson-Krankheit 279
- Schwangerschaft 243, 248 ff.
- Serotonin 11, 52, 117, 121, 131, 134, 150
- Stress 77, 98 f., 195 f.
- Wochenbettdepression 248 ff.
DHA (Docosahexaensäure) 291
Diabetes 10, 97, 103, 241, 244, 255,
265 ff., 284
Diagnostic and Statistical Manual of
Mental Disorders 155, 180, 235
„Die Welt ist flach“ (Friedman) 22
Dietrich, Arne 223
Dishman, Rodney 195, 202
Docosahexaensäure → DHA
Dopamin 51 f., 332
- Abhängigkeit 209 ff., 232
- ADHS 52, 176, 185, 187, 195
- Altern 276
- Belohnungszentrum 176, 185, 209, 215, 223
- Depression 144, 149
151
- Gene - Hormone 237
- Körperliche Bewegung 100, 151, 160 f., 195
- Lernen 52
188, 279
- Parkinson-Krankheit 84
- Stress Duke University 14, 151, 201, 239, 276, 302
Duman, Ronald 163 f.
17 ff.
Duncan, Neil Dunn, Andrea 170
302 f.
Duscha, Brian Dyslexie → Legasthenie
Dyslexie, Dyspraxie u. Aufmerksam­keits­­
defi­zit, DDAT (Dysexia, Dysraxia, and
Attention Treatment) 188 f.
341
Anhang: Stichwortverzeichnis
E
Edinburgh Postnatal Depression Scale
(EPDS) 252
EEG → Elektroenzephalogramm
Effexor (Venlafaxin) 149
Eicosapentaensäure (EPA) 291
Ekkekakis, Panteleimon 309, 315
EKT → Elektrokonvulsive Therapie
Elektroenzephalogramm (EEG) 37
Elektrokonvulsive Therapie (EKT) 164
Elliot, Frank 190
El-Mallak, Olfat 43
Emory University 165
„End of Stress as We Know It, The“
(McEwen)
82, 98
Endocannabinoide 223, 308, 311, 332
Endorphine 9, 83, 145 ff., 223 ff., 244,
308, 311, 333
EPA → Eicosapentaensäure
Epinephrin → Adrenalin
Eriksson, Peter 65
Erinnerung, Erinnerungsvermögen →
Gedächt­nis
Ernährung 10, 94, 266, 289
Escitalopram (Lexapro) 150
Etnier, Jennifer 258
Exekutive Funktion
38, 71, 166 f., 176,
185, 259
„Exercising Through Your Pregnancy“
(Clapp) 244
Exzitotoxischer Stress 92
F
Faktoren 58
Fettleibigkeit 14, 25, 29, 33, 90, 244, 284 f.
FGF-2 (FibroblastenWachstumsfaktor)
68, 70, 93, 100, 162,
283, 288, 307, 313, 333
Fibroblasten-Wachstumfaktor → FGF-2
Fibromyalgie-Syndrom 106, 224
37
Flanker-Test Fluoxetin (Prozac) 52
fMRT → Magnetresonanztomographie,
funktionelle
Fötales Alkoholsyndrom 228, 246
Framingham-Herzstudie 290
Freie Radikale 92, 97, 269, 284, 290
Friedman, Thomas 22
Frontaler Cortex 99, 279
Furcht 78, 81, 98, 112, 118 ff.
G
GABA → Gamma-Aminobuttersäure
65
Gage, Fred Gamma-Aminobuttersäure (GABA) 51,
117, 121, 134, 240, 314, 333
Gedächtnis (Erinnerungsvermögen)
- Abhängigkeit 210, 219
- ADHS 186 f., 196
- Altern 272 f.
- Angst 120 f., 131 ff.
53, 69
- BDNF - Depression 157
- Fötales Alkohol-Syndrom 246
- Hippocampus 72
277, 312 f.
- Krafttraining - Kurzzeitgedächtnis 37, 186, 197,
246, 273
- Langzeitgedächtnis 69, 273
- Lernen 73
- Schwangerschaft 246
- Stress 81, 86 f., 94 ff.
305 ff.
Gehen (Walking) Gene 54, 87, 89, 151, 163, 240, 260, 280,
300, 316
Generalisierte Angststörung 110, 112, 128
Genome Biology 160
Georgia Tech University 224
Gleichgewicht 77, 183, 189, 238, 293
Glukose 68, 85, 331
284
- Altern 68, 99 f., 307
- Körperliche Bewegung - Schwangerschaft 244
- Stress 92 f., 97
Glutamat 333
240
- Hormonelle Veränderungen - Körperliche Bewegung 68, 285
- Langzeit-Potenzierung (LTP) 93
- Stress 87 f., 92
Gomez-Pinilla, Fernando 60
342
Anhang: Stichwortverzeichnis
Gorman, Jack Gould, Elizabeth Greenough, William 132
67, 318 ff.
62, 70, 73, 299
H
Hallowell, Ned 178, 189
Hansen, Cheryl 153
Harkin, Tom 46
Harvard Medical School 253
Harvard Study of Moods and Cycles 257
Hebb, Donald 61, 65, 74
Heimtrainer 26, 71, 156, 224, 281
Heinrich, Bernd 300
Herzfrequenzmonitor → Pulsuhr
Herzkrankheiten 97, 255, 265 ff.
HGH → Menschliches Wachstumshormon
Hillman, Charles 36, 299
Hippocampus 67
Hippocampus 56-73, 99 f., 197, 317, 333 f.
- Abhängigkeit 211
- Altern 270 ff.
- Alzheimer-Krankheit 67, 159
- Angst 87, 98, 119
- BDNF 53, 96
- Depression 159, 285
- Fötales Alkoholsyndrom 228, 247
60, 67, 72,
- Körperliche Bewegung 246, 288
- Lernen 58, 333 f.
- Präfrontaler Cortex 56, 72, 82, 87
246
- Schwangerschaft - Soziale Interaktionen 318
86 ff., 95, 98, 101, 159
- Stress Hippokrates 128
233 ff.
Hormonelle Veränderungen Hormonersatz-Therapie 255 ff.
HPA-Achse 82, 86 f., 334
218
- Abhängigkeit 87, 111
- Angst - Atriales natriuretrisches Peptid
101, 129
(ANP)
129, 307
- Körperliche Bewegung - Schwangerschaft 129, 243
- Soziale Interaktionen 319
147
Human Population Laboratory Hüftfraktur 265, 286
Hyperaktivität 175 ff., 180 f., 184, 190,
194, 195
Hypercortisolismus 97
Hypothalamus 82, 111, 129, 236, 260, 334
I
IGF-1(Insulinähnlicher
Wachstumsfaktor)
12, 68 ff., 85, 93, 96,
100, 162, 168, 284, 288, 305, 310, 313, 334 f.
„I of the Vortx: From Neurons to Self“
(Llinás) 55
123 ff.
Imipramin 79, 103, 106, 226, 269,
Immunsystem 285, 291
29
Infinite Mind, The Institute for Brain Aging and Dementia
58, 317
Insulinähnlicher Wachstumsfaktor →
IGF-1
309 ff., 315, 323
Intervall-Training 43, 272, 319 f.
Isolation - auch → Soziale Interaktionen
J
Joggen 52, 72, 152, 172, 260, 301
- auch → Laufen
Johns Hopkins University 145, 294
Johnsgard, Keith 131
Journal of Applied Physiology 88
Journal of Clinical Psychiatry 326
Journal of the American Medical
Association
268
K
Kampf-oder-Flucht-Reaktion 78 ff., 95,
99, 119, 183, 307, 334
Kandel, Eric 54, 60
Karasu, T. Byram 156
Kardiovaskuläre Fitness 25
Karnazes, Dean 226 f.
Karolinska-Institut 53, 283
Kings College (London) 237
Kleinhirn (Zerebellum) 55, 335
343
Anhang: Stichwortverzeichnis
Klonopin (Clonazepam) 198
Kognitive Umstrukturierung 131 f.
Kognitive Verhaltenstherapie 131 f.,
138, 166 f.
Kokain 185, 207 ff., 225
Krafttraining 228, 239, 260, 277, 287,
293, 312f.
Kramer, Arthur 196 f., 259, 273 f., 292,
299, 323
Krebs 99, 107, 260
- Altern 266, 286
- Brustkrebs 107, 143, 255 f., 286
- Darmkrebs 28, 107, 286
- Hormonersatz-Therapie 255
- Körperliche Bewegung 286, 308
- Prostatakrebs 107
- Strahlung 79
77
- Stress - T-Zellen 286
- Vitamin D 291
L
Langzeit-Potenzierung → LTP
Laufen 300 f., 308 f.
- auch → Joggen
„Laufen: Geschichte einer Leidenschaft“
(Heinrich) 300
258
Laurin, Danielle Laval University (Quebec) 258
Lavie, Carl 128 f.
Lawler, Phil 24 ff., 39, 42, 44, 47
Leeds Metropolitan University (England) 105
L-Dopa (Levodopa) 281
LeDoux, Joseph 132 f.
Legasthenie (Dyslexie) 188 f., 212
Lernen 49-74, 294
- BDNF 53 ff., 68-70
- Körperliche Bewegung 53-74
- LTP 53, 66
- Neurogenese 64 ff.
- Neurotransmitter 52
54, 62, 65
- Synaptische Plastizität Levodopa → L-Dopa
Lexapro (Escitalopram) 150, 249
Llinás, Rodolfo 55 f.
LLPDD (Dysphorische Störung in der späten lutealen Phase, „late luteal phase dysphoric disorder“) 235
Locus Caeruleus 123, 129
LTP (Langzeit-Potenzierung) 53, 66, 69, 87,
93, 96, 100, 229, 335
M
Magnetresonanztomografie (MRT) 120,
158, 196, 274, 314
Magnetresonanztomografie, funktionelle
(fMRT) 159, 176
Marihuana 220 ff, 331 f.
Massachusetts General Hospital 257
Massachusetts Mental Health Center 122, 144 f., 190
93 ff., 266, 270, 281,
Mattson, Mark 289 f., 328
Mayberg, Helen 165 ff.
Mayo-Klinik 194
McCord, Tim 44 ff.
McEwen, Bruce 82, 86, 97, 98 f.
McGill University 61, 208
Menschliches Wachstumshormon (HGH) 309 ff., 323, 334
Menopause 233 ff.
76, 92
Metabolischer Stress Methoxyhydroxyphenylglykol (MHPG)
144
Methylphenidat (Ritalin) 52 f., 185, 190,
195, 198, 201, 220
MHPG → Methoxyhydroxyphenylglykol
Milani, Richard 128
Milchsäure 124, 166, 309
Milner, Peter 208 f.
„Molecular and Cellular Theory of
163
Depres­sion, A“ (Duman) Monk, Catherine 243
144, 168
Monoamin-Hypothese Mood Disorders Research Program 155
Motivation 52, 70, 88, 91, 151, 155,
160, 167, 169, 176, 183 ff, 209 f., 232,
261, 270, 277, 287, 316, 332
Motorischer Cortex 56 f., 187
MRT → Magnetresonanztomografie
Mullis, Ina 23
344
Anhang: Stichwortverzeichnis
N
Naperville (Schulbezirk 203) 15-47
National Institute on Drug Abuse 210
National Institutes of Health 255
National Institutes of Mental Health
120, 180
National Institutes on Aging 93, 266, 289
Nature 57
Nature Neuroscience 318
Neurodegeneration 92, 99
Neurofibrilläre Tangles 279, 295
336
Neurogenese - Alkohol 229
- Altern 69, 270 f., 288
- BDNF 161
161, 164
- Depression - Fötales Alkoholsyndrom 228
- Körperliche Bewegung 76, 100, 298, 307
- Schwangerschaft 246 f.
- Stress 69, 97
Neuronen 12, 61 ff., 100, 298
- ADHS 176
- Altern 269, 275, 284
- ANP 129
- Anzahl 50
- BDNF 53 ff., 161
- Depression 159
- Glutamat 51
- Kleinhirn 187
295
- Lernen - LTP 53
- Schwangerschaft 246
- Soziale Interaktionen 318
77 f., 86, 88, 92 f., 97
- Stress - Zentralnervensystem 61
Neurotransmitter 51 f., 58, 237, 299, 310
217, 223 f.
- Abhängigkeit 131
- Angst - Depression 144, 148, 168
260
- Körperliche Bewegung - Menopause 237
84 f.
- Stress 252
- Wochenbettdepression Neurotropher Faktor BDNF → BDNF
Neurotrophine
53, 163, 260, 270, 285
- auch → BDNF
New England Journal of Medicine 127, 255
Newsweek 28
New York Times 14, 22
Nicht aerobe Aktivitäten 312 f.
Niculescu, Alexander 160
51, 84, 337
Noradrenalin - ADHS 184, 195 ff., 203 f.
- Angst 134
- Depression 141-174
- Imipramin 123
- Intervall-Training 312
- Körperliche Bewegung 150, 306
- Stress 82 ff.
Norephinephrin → Noradrenalin
Northern Arizona University 153
Nucleus accumbens 176, 185, 209 ff.
Nurses Health Study 267-272
O
O’Neal, Shaquille 325
Odyssey House 205 ff.
Olds, James 208 f.
Omega-3 173, 267, 290 f.
„Organization of Behaviour, The:
A Neuro­psy­chological Theory“ (Hebb) 62
Osteoporose 260, 264 ff., 286, 293
Östrogen 236 f., 239, 242, 252, 254 f.,
258 ff., 275
Oxidativer Stress 92, 99, 289
P
Paläolithischer Rhythmus 88
Panikattacken 111, 129 ff.
- Abhängigkeit 213, 220
- ADHS 185
- Amygdala 124
- Betablocker 124
- Körperliche Bewegung 125 f., 134
Panikstörung 112 f., 122 ff., 129 f.,
137, 138
Parkinson-Krankheit 65, 92, 187, 270,
279 f., 287, 291
Paroxetin → Paxil
Patterson, Susan 60
345
Anhang: Stichwortverzeichnis
Pauling, Linus 145
Paxil (Paroxetin) 198
PE4life 34, 44, 46
Pert, Candace 145
PET-Scans 237
Phobien 112, 126, 131
Pine, Daniel 120
Plastizität 50, 54, 62 ff., 72, 73, 93, 219,
280, 284, 299
PMDD → Prämenstruelle dysphorische
Störung
PMS → Prämenstruelles Syndrom
Positronenemissionstomografie →
PET-Scans
Präeklampsie 241
Präfrontaler Cortex
- Abhängigkeit 210 f., 224
- ADHS 186, 194 f.
- Altern 196, 211, 272 ff., 279
- Angst 118, 131
- Belohnungszentrum 176, 184 f.
- Depression 159 f., 165 ff.
- Hormone 258
- Hormonersatztherapie 259
- Serotonin 134
- Stress 84 f., 87
Prämenstruelle dysphorische Störung
(PMDD)
235 ff.
Prämenstruelles Syndrom (PMS) 233 ff.,
257, 261
Progesteron 236 f., 242, 251, 254 f.
Provet, Peter 206 ff.
Prozac (Fluoxetin) 52 f., 148 f.
Psychoanalyse 105, 144, 227
Psychotherapie 123, 128, 154, 166
Pulsuhr 17, 291, 302
Pyles, Robert 102 ff., 146, 310
R
Ratey, Stephen 264
Ratey, Vern 263
Rauchen 206, 218, 266
Reattribuierung 130
Ritalin 52 f., 185, 190, 195, 198, 201
Robinson, Terry 209 f.
82
Rockefeller University Rogers, Bill, 145, 322
11, 145, 223 ff., 311
Runner’s High 276
Rush Alzheimer’s Disease Center Russo-Neustadt, Amelia 195
S
Salienz 210 f., 217
Salk Institute
65
Sarkoidose, gestreute 102 f.
Schlafstörung 172, 184
Schattensyndrome 143, 171, 179
Schildkraut, Joseph 144, 150
Schlaganfall 255, 265 f., 267, 279, 283 f.
304
Schrittzähler 129, 233, 241 ff, 261
Schwangerschaft 135, 154, 229 f.
Selbstwirksamkeit Selektive Serotonin-Wiederaufnahme­
hemmer (SSRI) 121, 131, 148 ff., 157
57, 62
Sensorischer Cortex 337
Serotonin 52, 117, 131, 134
- Angst - BDNF 69, 97, 305
- Depressionen 11, 52, 151
237, 239
- Hormone 123
- Imipramin 11, 121
- Körperliche Bewegung 138, 319
- Soziale Interaktionen 100, 151
- Stress 238, 290
- Tryptophan Sertralin → Zoloft
Shaw, Jennifer 253 f.
159
Sheline, Yvette 145
Shorter, Frank Small, Scott 67, 298
Smedley, June 277, 282
SMILE (Standard Medical Intervention
and Long-term Exercise) 151 f.
295 f.
Snowdon, David Soziale Angststörung 112 f.
Soziale Interaktionen vs. Isolation 43, 319
224 f.
Sparling, Philip Sportunterricht 15 ff., 117, 325
Square-Dance-Unterricht 43, 122
346
Anhang: Stichwortverzeichnis
SSRI →Selektive Serotonin-Wiederauf­
nahme­hemmer
Stanford Achievement Test 32
Starkman, Monica 97
Stickoxid 283
Strahlung 79
9, 75-108, 148, 271, 285, 307
Stress - Abhängigkeit 218, 228
- Altern 275
- Angst 111, 129
- ANP 117
- Betablocker 124
- chronischer 77 f., 85 ff., 96 ff., 161, 285
- Depression 159
- Fitnessniveau 299
- Gedächtnis 86 f.
- Hormone 81 f., 90, 146
- Kampf-oder-Flucht-Reaktion 80 ff.
- Schwangerschaft 243
- Soziale Interaktionen 321
Ströhle, Andreas
126, 130
Sulforaphan 94
„Super Size Me“ 29
Synapsen 50, 64, 74, 99
- Abhängigkeit 211
- Altern 268 ff.
- BDNF 54 f.
- Depression 159 f., 164, 168
- Plastizität der 54, 62, 64 f., 93, 284, 299
- Stress 87, 95
- Umwelt, Bereicherung der 62
Tryptophan Tufts University T-Zellen 117, 237, 290, 305
293
286
U
T
Übungsprogramm 292, 297 ff.
- auch → Joggen, Laufen, Gehen, nicht aerobe Aktivitäten
„Ultramarathon Man“ (Karnazes) 226 f.,
230
Umwelt, Bereicherung der (anregende)
63 f.
277
University Living (Michigan) University of Alabama School of Medicine
306
University of Bath (England) 311
313
University of Bern (Schweiz) University of British Columbia 247
University of California, Berkeley 62, 147
University of California, Irvine 58, 258,
317
University of Georgia 195
University of Illinois 36, 63, 196, 259, 273
University of Michigan 97, 209, 305
Universität Münster (Deutschland) 311
University of North Carolina at
258
Greensboro
190
University of Pennsylvania 144
University of Pittsburgh University of Queensland (Australien)
257
115
University of Southern Mississippi University of Texas Southwestern
155
Medical School Tai-chi 293, 312 ff.
Tavolacci, John
206
Testosteron 275
Tetrahydrocannabinol → THC
THC 222 f., 331, 333
Tiefe Gehirnstimulation (DBS) 165
TIMSS (Trends in International Mathe­
matics and Science Study) 15, 22 ff.
TMS → Transkranielle Magnetstimulation
Transkranielle
Magnetstimulation (TMS) 164
Trivedi, Madhukar 156, 170 f.
Van Praag, Henrietta 66
Vaskulärer endothelialer Wachstumsfaktor
→ VEGF
VEGF (vaskulärer endothelialer
Wachstums­faktor) 12, 68 ff., 93, 100,
162 ff., 270, 283, 307, 333, 338
Venlafaxin (Effexor) 149
Ventrales tegmentales Areal (VTA) 184
Visueller Cortex (Sehrinde) 63
V
347
Anhang: Stichwortverzeichnis
Vitamine VO2 max. 287, 291
259, 274, 338
W
Walking → Gehen
Wang, Gene-Jack 214, 217
Washington University 159
Weltgesundheitsorganisation 142
267, 328
Weuve, Jennifer WHI-Studien 255, 258
293, 303, 313
Widerstandstraining Wochenbettdepression 236, 248 ff.
Wolfrum, Jessie 38, 42, 321
X
Xanax (Alprazolam) 115, 240, 314
Y
Yale University Yoga 196
106, 114, 293, 312 ff.
Z
2-AG → 2-Arachidonylthanolamid
2-Arachidonylthanolamid (2-AG) 223
Zaltzman, Simon 322
Zametkin, Alan 180
Zentraler Nucleus 132
Zentralnervensystem 61
Zientarski, Paul 28 ff., 122, 321
14, 137, 152, 201, 276
Zoloft (Sertralin) „Zwanghaft zerstreut“ (Ratey u.
Hallowell)
178, 193
Zwangsstörungen 52
348
Über den Autor
Dr. John Ratey ist außerordentlicher Pro­fes­sor für Klinische Psy­­chia­
trie an der Har­vard Me­di­cal School
und unterhält eine Pri­vat­­praxis in
Cambridge, Mas­sa­­chu­­­setts, USA.
Mehr als zehn Jahre un­ter­­rich­tete er
Ärzte im Prakti­kum und Me­­di­­zin­­
studenten der Har­­vard-Uni­ver­si­tät am
Mas­­­sa­­chu­­­­setts Mental Health Cen­ter,
wo er stellvertretender Direktor für
die Aus­bil­dung von Ärzten im Prakti­
kum war. Als ordentlicher Dozent des
Fort­­laufenden Me­­di­zi­ni­­schen Fort­bil­
dungs­­pro­­gramms der Har­vard Me­di­
cal School unter­rich­tet er au­ßerdem
Psy­chia­ter.
Als klinischer Forscher hat er mehr als 60 Aufsätze in Fach­zeit­
schriften im Bereich Psychiatrie und Psychopharmakologie veröffentlicht. 1986 gründete er in Boston ein Zentrum zur Untersuchung
von Autismus (Boston Center for the Study of Autism), und 1988
rief er eine neue Ar­beits­gruppe der American Psychiatric Association
zur Untersuchung von Aggressionen ins Leben; den Anstoß dazu
hatten ihm seine For­schun­gen über neuartige medikamentöse
Behandlungen von aggressivem Verhalten gegeben. In dieser Zeit
hielt Dr. Ratey in der ganzen Welt Vorträge über Aggression und
Störungen des Gehirns, die Einfluss auf das soziale Funktionieren
haben.
Dr. Ratey und Dr. Edward Hallowell begannen in den 1980er-Jahren, sich eingehender mit ADHS zu beschäftigen, und veröffentlichten ihre Untersuchungsergebnisse gemeinsam in Zwanghaft zerstreut
oder die Unfähigkeit, aufmerksam zu sein (Reinbek bei Hamburg:
Rowohlt, 1998), welches das erste in einer Reihe von Büchern war,
die diese Störung entmystifizieren sollten. Zusammen mit Catherine
Johnson pub­li­zier­te Dr. Ratey das Buch Das Schattensyndrom:
Neurobiologie und leichte Formen psychischer Störungen (Stuttgart:
349
Klett-Cotta, 1999), das schwächere Formen klinischer Störungen
untersucht. Er ist auch Autor des Bestsellers Das menschliche Gehirn:
Eine Gebrauchsanweisung (Düssel­dorf, Zürich: Walter, 2001), worin
er erklärt, wie die Neuro­w is­sen­schaften Emotionen, Verhalten und
die Psychologie insgesamt beeinflussen.
Seit 1998 ist Dr. Ratey jedes Jahr von seinen Kollegen zu einem
der besten Ärzte in den Vereinigten Staaten gewählt worden. 2006
wurde er von der gemeinnützigen Einrichtung PE4Life mit dem
Preis „Excellence in Advocacy“ für seinen Einsatz zur Förderung der
Einführung eines regulären, aerob ausgerichteten Sportunterrichts
ausgezeichnet – PE4Life setzt sich für eine besondere Philosophie
des Sportunterrichts ein, von dem Schüler ein Leben lang profitieren sollen.
Mehr über den Autor erfahren Sie auch auf seiner Website (in
englischer Sprache): www.johnratey.com
350
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sogar schadet, denn es schrumpft dadurch!
DR. JOHN J. RATEY ERIC HAGERMAN
DR. JOHN J. RATEY ERIC HAGERMAN
Wir brauchen Bewegung wie die Luft zum Atmen, unser
Körper ist biologisch darauf programmiert: Unsere Vorfahren mussten gut zu Fuß zu sein, um sich vor Feinden
in Sicherheit zu bringen und bei der Jagd erfolgreich zu
sein. Heute – mit dem Supermarkt um die Ecke und dem
Auto in der Garage – brauchen wir Bewegung zwar nicht
mehr zum Überleben, aber doch in besonderem Maße,
um gesund und leistungsfähig zu bleiben. Gelingt es uns
nicht, mit unserem evolutionären Erbe in Einklang zu
leben, werden wir krank.
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DAS BESTE FÜR IHR GEHIRN!