L`Ève Future

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L`Ève Future
Future Sex in Queertopia
L’Ève Future
arum, so ließe sich fragen, ist das Projekt der Maschinisierung des Menschen so männlich und das Projekt
der Vermenschlichung der Maschine so weiblich?
Zunächst, so scheint es, ist die bürgerliche Gesellschaft darin übereingekommen, dass der weibliche Körper mehr Zeichen als Handlung ist. Und so ist, zum Beispiel in C.L. (= Catherine Lucile) Moores Geschichte
No Woman Born (Nie wurde eine solche Frau geboren;
1944) der Beginn allen Schreckens das Missgeschick einer Schauspielerin, die bei einem Brand ihres Theaters
alles verliert, was an ihre außergewöhnliche Schönheit
erinnert. Deirdre wird als maschinell-organische Einheit
wieder geboren, doch sie will nicht mehr das (unvollkommene) Abbild vergangener Schönheit sein, und das Bewusstsein der Widersprüchlichkeit ihrer neuen Existenz
führt sie zur Erkenntnis auch ihres früheren Lebens als
Frau und Schauspielerin; es ist die Macht, die die Projektion über das Publikum hat, und es ist zugleich die Ohnmacht gegenüber der Projektion selbst: Die Maschinenfrau ist nur die radikale Fortsetzung der »konstruierten«
Frau in der Gesellschaft.
Es liegt auf der Hand, dass sie, wie in Fritz Langs
METROPOLIS (1927), zunächst »metallisch« sein muss.
Es hängt zum einen mit dem Licht zusammen: In einer
Welt – wie der des »expressionistischen Films«, aus dem
Fritz Lang schöpft –, in der die beiden Gegensatzpaare
männlich/weiblich und gut/böse sich im Gegensatz von
hell/dunkel treffen, muss jener Frau, die schlichtweg
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das Licht ist, nämlich der guten Maria in METROPOLIS,
jene entgegenstehen, die es vollkommen reflektiert. Die
metallische Frau hat weder ein eigenes Licht noch eine
eigene Temperatur, die Haut wurde ihr zum Panzer und
die Form zum Inhalt. (Und so wie der Roboter immer
auch dem Ritter – der feudalen Kampfmaschine – ähnelte, so ähnelt die neue metallische Eva den Walküren und
gepanzerten Frauen des Mythos.)
In METROPOLIS verwandelt sich der weibliche Roboter indes in den Androiden, die vollständige Täuschung.
Und als solche tritt sie in den Ur-Mythos von der Menge, die sich das Opfer sucht. Langs künstliche Eva ist
also so etwas wie eine Schnittstelle zwischen den beiden mythischen Erzählungen vom Verbot und vom Opfer. Beides, überkommen aus der Ur-Religion, hat nun
ein weibliches Gesicht, beides aber kann nur wirken,
weil die Frau »künstlich« ist, und damit: Weil die Frau
das Geschöpf des Mannes ist. Rothwang, vom Begehren
durchdrungen, ohne das Begehrte zu kennen, erschafft
die künstliche Frau, weil er zur natürlichen ganz direkt,
durch den Tod, den Kontakt verloren hat. Aber stets ist
die künstliche Frau mehr als nur ein Ersatz, sie ist immer
auch der Ausweg aus der Beziehung von Verbot und Opfer. Im Ursprung liegt nicht nur die Liebe, sondern vor
allem die Rivalität.
Nun ist also die Frage, ob die künstliche Frau entweder
eine Möglichkeit darstellt, der Rivalität zu entkommen
– dafür spricht die Ausschließlichkeit, mit der Pygmalions Nachfahren ihr Geschöpf begehren. Noch in John
Hughes’ WEIRD SCIENCE (L.I.S.A. – Der helle Wahnsinn;
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Die Maschinenfrau ist die radikale Fortsetzung der
»konstruierten« Frau in der Gesellschaft: METROPOLIS
1985) ist ja der Traum des Jungen, eine Frau »für sich
allein« zu haben (wie sie sonst nur gleichsam öffentlich,
als Prostituierte oder, sublimer, als Playboy-Model zu haben ist), oder aber im Gegenteil, das verlorene Spiel der
Rivalitäten wieder aufnehmen zu können – schließlich
kann man eine künstliche Frau »haben«, wie man eine
Frau nicht einmal mehr in der patriarchalen bürgerlichen
Gesellschaft »haben« konnte (und die künstliche Frau in
METROPOLIS ist zugleich Ausdruck und Ursache fortwährender erotischer Rivalität).
Die künstliche Frau unterscheidet sich vom künstlichen Mann in unserer populären Mythologie zweifellos
bereits durch ihre Geschichte. Sie bestätigt das plato56
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nische Weltbild vom »schöpfenden Mann« und von der
»empfangenden Frau« – auch und gerade durch ihre Störung: Die künstliche Frau, die zwar geschaffen wurde,
aber nicht empfangen kann, scheint nachgerade für das
Opfer selbst kreiert. Auch Frankensteins Monster stirbt,
wie die künstliche Eva, durch den Mob, der reuelos und
vollständig legitimiert das Menschenopfer an einem vollzieht, der ja kein Mensch genannt werden muss, doch
wird das Opfer hier auf andere Art erbracht: Frankensteins Braut darf das Labor, die Aura der Schöpfers, gar
nicht erst verlassen.
Gewiss eine gewagte These: In der populären Mythologie (also unserer barbarischen Religion) wird die
Ève Future geschaffen, um geopfert zu werden, so wie
der Posthumane geschaffen wurde, um geopfert zu werden. Wie gegenüber dem Halbwesen ist der Mob auch
ihr gegenüber vollkommen »im Recht«. Ève Future in
ihren schwärzesten Bildern ist ja nicht nur die Fremde,
die radikalste Femme fatale, die Verbrecherin, sie ist die
Frau, die nicht sein darf. Ihre bloße Existenz ist Verbrechen genug, um sie zu verbrennen.
Und dennoch hat die Ève Future größere Chancen
mit dem Leben davonzukommen als der Adam Future.
Zum einen liegt dies wohl in ihrer mimetischen Kunst.
Ève Future sieht viel eher aus wie eine »echte Frau« als
Adam Future wie ein »echter Mann«, und während Adam
aus schierem Zorn zu bestehen scheint, ist Eva, bei allem Bösen, was sie bringen mag, von der Liebe getrieben
(oder dem, was die Schöpfer der populären Mythen dafür jeweils gerade halten).
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Jedenfalls geht fast immer etwas schief, wenn es gilt,
die ideale Frau herzustellen, sei es in maschineller oder
organischer Form, durch plastische Chirurgie oder chemisches Doping: FRANKENSTEINS BRAUT (1935; Regie:
James Whale) verliebte sich statt in das Monster, für das
sie geschaffen wurde, in ihren Schöpfer. Frank Henenlotters FRANKENHOOKER (1990), eine aus den Leichenteilen von ermordeten Prostituierten zusammengesetzte Traumfrau eines jugendlichen Mad Scientist, richtete
Blutbäder unter ihren Kunden an (sie kann, grotesk genug,
eben nicht aus ihrer Haut). In Fred Olen Rays ATTACK
OF THE 60 FOOT CENTERFOLDS (1995) will ein Playmate bei einer Schönheitskonkurrenz durch unerlaubte
Mittelchen einen Vorteil erringen und verwandelt sich
prompt in ein Riesenweib, ebenso wie eine Rivalin, mit
der sie sich auf dem Hollywood Boulevard einen bemerkenswert destruktiven catfight liefert. In Jesus Francos
LA MALDICIÓN DE FRANKENSTEIN (Das Blutgericht der
gequälten Frauen; 1972) hat Dr. Frankenstein wieder mal
ein Monster erschaffen, doch diesmal wird es von einer
(glücklicherweise) blinden, menschenfressenden Vogelfrau zwecks Begründung einer Supperrasse entführt. (Im
Steinbruch der Mythen ist es ein Leichtes, die Neurosen
spazierenzuführen.)
Signifikant jedenfalls bleibt noch weit in die neuere
Genre-Entwicklung, dass die Gefahr der Zukunft von
weiblichen Sex-Robotern und männlichen Kriegs-Robotern ausgeht. Thomas Bergers Roman Adventures of the
Artificial Woman (2004) spiegelt die Rolle von Frauen
in der Sex- und Pornoindustrie, aber auch im Entertain58
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ment und in der Politik am Werdegang eines täuschend
menschenähnlichen weiblichen Roboters.
Ève Future ist indes, wie erwartet, längst kein Mythos
und keine Fiktion mehr; sie wird gebaut. EveR-2 zum Beispiel wurde in Korea entwickelt als direkte Antwort auf
den japanischen Actroid, ein androider Roboter, der in der
Lage ist, eine (sehr) einfache Unterhaltung zu führen (»ihr«
Wortschatz umfasst etwa vierhundert semiotische Elemente), menschliche Ausdrucksweisen in Mimik und Gestik
zu simulieren (die Maschine bewegt die Lippen synchron
zur Sprachmodulation) und vor allem: EveR-2 kann singen!
Eves Körper ist nach dem Idealmaß einer koreanischen
etwa zwanzigjährigen Frau geformt (160 cm groß, 50 kg
schwer), ihre bewegliche Silikon-Haut ist durchaus »täuschend«, sie kann ihr Gegenüber vermittels Kamera und
Bildverarbeitung erkennen und nach einfachen Kriterien
einschätzen (männlich/weiblich, alt/jung, asiatisch/europäisch etc.).
Das Künstliche
nun kann ebenso
wie das Androgyne auch als Shifter oder relationales
Zeichen verwendet
werden: Künstlich
in Bezug auf was?
Stets ist das Geschöpf »künstli- Immer geht etwas schief, wenn es gilt, die
cher« als der Schöp- ideale Frau herzustellen: ATTACK OF THE
fer, da erstere in 60 FOOT CENTERFOLDS
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ihm gedacht war, und ein wenig ist vom Schöpfen auch
im »Zeugen« geblieben. Und das Künstliche ist ein Shifter
zwischen Subjekt und Objekt, immer ist das Subjekt weniger »künstlich« als das Objekt. Und darüber wölbt sich
der alte Geschlechter-Diskurs, der seit Plato das Männliche
als das Formende, Planende und Aktive, das Weibliche als
das Passive, Stoffliche und eben »Natürliche« darstellt, mit
wechselnden Begriffen. So entsteht ein Beziehungssystem
männlich/künstlich – Schöpfung – weiblich/natürlich.
Das »Natürliche« meint in diesem Zusammenhang
mehr als das »Gegebene«, wie wir es am Beginn beschrieben haben, etwas das zugleich vor der Ordnung existiert
und als ihr Ziel: Der »Mann« dieser Mythen-Linie ist demnach mit nichts anderem beschäftigt, als die Ordnung, aus
der er sich durch seine Umtriebigkeit entfernt hat, wieder
herzustellen, oder, mit anderen Worten, seine Angst und
sein Begehren auszubalancieren, »Mutter« und »Geliebte«, »Körper« und »Bild« etc. zu trennen. Doch statt den
Shifter des Androgynen zu verwenden, verwendet er den
Shifter des »Erschaffens«. In der künstlichen Frau versucht
er die beiden Aspekte zu vereinen.
Drei Grundmodelle haben dabei die Fantasien immer
wieder beflügelt und einen Kanon geschaffen, aller Versuche literarischen Widerspruchs zum Trotz:
a) E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann (1817): die künstliche Frau als Wahrnehmungsproblem (nebst Ableitung
des Kindheitstraumas);
b) Mary W. Shelleys Frankenstein, oder Der neue Prometheus (1818): der künstliche Mensch (nebst Ableitung
des Inzesttabus);
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c) Philippe Auguste
de Villiers de L’IsleAdams Ève Future
(Die Eva der Zukunft; 1886): die
künstliche Frau als
Idealkonstruktion
(nebst Ableitung des
Narzissmus).
In Der Sandmann verfällt der
arme Nathanael hoffnungslos der schönen
Olimpia, und dass sie
auf seine Verse und
Schwärmereien immer nur mit »Ach!«
antwortet, interpre- Die koreanische Antwort auf den
tiert er als ein schön- japanischen Actroid: EveR-3
geistiges, inniges Verständnis. Nicht zufällig bei einem Streit ihrer Schöpfer, der
Alchemisten Spalanzani und Coppelius, erkennt Nathanael
erst, dass Olimpia nichts anderes als eine animierte Holzpuppe ist. Nach einer Zeit im »Tollhaus« vermeint er sich
geheilt, doch bei einer Wiederbegegnung mit Coppelius,
jener traumatischen Wiederkehr des Sandmannes aus der
Kindheit, der den Schlafenden die Augen ausreißt, wirft
er sich vom Rathausturm. Ob das Problem für Nathanael
diese Wiederkehr des Kindertraums ist, der künstliche
Mensch oder das mehr oder weniger wissenschaftliche
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Instrument, mit dem er »sieht«, nämlich das »Perspektiv«
(durch das alles auf den Kopf gestellt wird), muss ungeklärt bleiben. Aber ganz offensichtlich ist die Konkurrenz
der beiden Frauen, der intelligenten Clara, mit der Nathanael verlobt ist, und Olimpia, die Erfüllung des »Ideals«.
Bei alledem gibt es so etwas wie einen »Turing«-Test: Das
Publikum, aber vielleicht auch die Menschen einer Performance-Gesellschaft, möchte am falschen Singen oder Tanzen bewiesen haben, dass man es mit einem Menschen aus
Fleisch und Blut und nicht mit einem Automaten zu tun
hat. Das Misstrauen ist ebenso groß wie der Zorn auf den
Betrug. Die Angst vor dem Verlust des Augenlichts, der
Unfähigkeit zu Sehen, durchzieht die Handlung wie ein
tiefgreifender Bruch zwischen den Geschlechtern.
In dem Roman L’Ève Future von Auguste de Villiers
de L’Isle-Adam, ist es der Forscher Thomas Edison, der
in der Abgeschiedenheit seines Landsitzes Manlo Park
über den Gerätschaften brütet, als der englische Lord
Ewald mit einem ungewöhnlichen Problem an ihn herantritt: Ewald ist rasend in eine Sängerin verliebt, deren
Körper man wohl nicht anders als perfekt beschreiben
kann. Aber die Seele! Nichts außer Plattheiten und Eitelkeit. Edison weiß Rat: Er verspricht, einen Automaten
zu bauen, der Ewalds Vorstellung von einer idealen Frau
erfüllen würde. Und seine künstliche Frau wird in der
Tat ein Meisterwerk der Harmonie, nicht nur zwischen
Körper und Geist, sondern offensichtlich auch zwischen
der europäischen Mythologie und dem neuen »amerikanischen« Geist des technischen Fortschritts. (Die deutsche Ausgabe erscheint denn auch unter dem Titel Edi62
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sons Weib der Zukunft.) Hadaly, die neue Eva, hat eine
Gegenspielerin in Evelyn Habal, gleichsam die Lilith in
diesem neuen Ur-Drama. Sie ist die »verworfene« Frau,
wie in den Apokryphen auch von Adams erster Frau berichtet wird, einem geflügelten Dämon, um genau zu sein,
deren Untaten dazu führen, dass die »richtige« Frau aus
Adams Rippe geschnitten wird, also ein Teil von ihm selber ist. Aber auch die neue Eva ist für die Unvollkommenheit der Liebe und der Welt keine Lösung: Hadaly
und ihr Liebhaber müssen kläglich bei einem Schiffsunglück untergehen.
So unterschiedlich die drei Grundmodelle sein mögen,
und noch mehr ihre Revisionen, wie Angela Carters The
Passion of New Eve (In der Hitze der Stadt; 1977), so ist
ihnen doch allen gleich, dass die Auflösung der Verhältnisse zwischen dem Künstlichen und dem Natürlichen,
die zugleich die Auflösung der Verhältnisse zwischen dem
Männlichen und dem Weiblichen ist, eine Situation des
»Chaos« bringen, das sowohl Bedrohung als auch Chance bedeutet: »Ich weiß nichts. Ich bin eine Tabula rasa,
ein leeres Blatt Papier, ein noch nicht ausgebrütetes Ei.
Ich bin noch keine Frau geworden, obwohl ich die Gestalt einer Frau besitze. Nein, keine Frau – mehr als eine
wirkliche Frau und weniger. Nun bin ich ein Wesen, so
mythisch und monströs wie Mutter selbst, doch ich kann
mich nicht dazu bringen, daran zu denken. Eva verharrt
eigensinnig in dem Zustand der Unschuld, der dem Fall
vorausgeht«, so heißt es bei Angela Carter.
In einer postapokalyptischen Welt bekämpfen sich die
Rassen, Klassen und Geschlechter in einem Bürgerkrieg.
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Es ist die Geschichte von Professor Evelyn, der gerade
einen neuen Posten an der Universität von einem heruntergekommenen New York angenommen hat. Seine
Obsession von der englischen Film-Diva Tristessa wird
abgelöst durch die Faszination von der afroamerikanischen Tänzerin Leila, doch bleibt die Beziehung zu ihr
oberflächlich und sexuell. Als sie schwanger wird, verlässt er sie. In der Wüste wird Professor Evelyn von einer
Bewohnerin der Frauenstadt Beulah gefangengenommen
und zur grausamen, vielbrüstigen »Mutter« geschleppt,
die sich mit dem Skalpell erschuf und die nun Evelyn in
die Frau verwandelt, die sie sich immer ersehnt hat. Die
neue Eve soll den »Messias« gebären, gezeugt durch Evelyns Samen, der ihm vor der Operation entnommen wurde. Eve gelingt die Flucht, aber nur, um nun in die Hände
von Zero zu fallen, dem einäugigen und einbeinigen Anführer eines nicht minder grausamen Männerkults, der
einen Harem unterwürfiger Frauen sein eigen nennt. Zero
vergewaltigt Eve und macht sie zu seiner neuen Sklavin,
aber er bezieht sie auch in seine Suche nach eben jener
Tristessa ein, die auch ihn zum Besessenen machte, diese Verkörperung von Schönheit und Trauer, von der er
glaubt, sie sei an seiner Unfruchtbarkeit schuld. So gelangen sie an Tristessas Glaspalast, in dem die Diva inmitten von Wachsfiguren ruht. Endlich, nachdem sie auf
einen der Türme ihres Refugiums gejagt wurde, offenbart
Tristessa ihr Geheimnis: Sie ist ein Mann. Zero und seine
Leute organisieren eine Hochzeit und zwingen Eve und
Tristessa zum Sex. Doch die beiden können erneut in die
Wüste entkommen. Dort indes fallen sie einer Bande von
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kriminellen Teenagern zum Opfer, deren 14jähriger Anführer panische Angst vor der Dunkelheit hat; Tristessa
wird von ihnen erschossen. Nach ihrer erneuten Flucht
trifft Eve auf Leila, die sich nun Lilith nennt (nach den
apokryphen Schriften die erste Frau Adams) und eine
Gruppe von Rebellen anführt. Nach einer neuerlichen
Begegnung mit der »Mutter«, treffen sie auf eine alte, heruntergekommene Frau am Strand, die von Wodka und
Junk Food lebt. Leila, so erkennt Eve, hat nie wirklich
existiert, sie ist eine Projektion seines Begehrens wie seiner Angst gewesen. Lilith treibt Eve zu einer neuerlichen
Begegnung mit der »Mutter« und zu einer symbolischen
Wiedergeburt in einem Felsenspalt. Während Lilith den
Kampf wieder aufnimmt, will Eve eins mit den unendlichen Wassern werden: »Ozean, Ozean, Mutter der Mysterien, trag mich zum Ort der Geburt.«
Wie Virginia Woolfs Orlando ist The Passion of New
Eve ein Wandern durch die geschlechtlichen und sozialen Identitäten und zeigt unterschiedlichste Weisen, wie
»Weiblichkeit« erzeugt wird, durch Performance, durch die
Operation, durch den Mythos, durch den Willen, durch
das Kino und die Interessen. Am Ende auch: durch den
Text. Angela Carters Dekonstruktionen der Weiblichkeitsmythen in The Passion of New Eve schienen ein wenig zu
ungemütlich; denn in dem, was die Autorin unterhalb der
Mythen freilegt, lauert immer auch eine ungeheure Gewalt. Und es gibt, sehen wir vom Eins-werden mit dem
Ozean ab, keine Heimat für die neue Eva, weder im Mythos selber noch im »Archetyp«. Die Frau ist das Unbewusste des Mannes, der sich wiederum des Weiblichen
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bewusst werdend, verwandeln muss, in das Bewusste des
Mannes, also: wieder eine Frau. Anders gesagt: Die Geschlechter sind nicht nur Konstruktionen, sondern auch
Konstruktionen von Konstruktionen (und schon gar nicht
in einem Jungschen Archetyp zu fassen, an dem sich die
Autorin ein wenig zu sehr abzuarbeiten hat, denn schon
zum Zeitpunkt des ersten Erscheinens wirkte das alles
schon längst nicht mehr so dräuend). Die Mär vom »geistigen« Mann und der »fühlenden« Frau ist also durchaus
drastisch widerlegt, auch
wenn die Mythen von
Eros, Anima und Thanatos nun flickern. Aber
je näher man »Frau«
ansieht, desto ferner
sieht es zurück. Der ewige Kampf des Mannes
schließlich mit der gewaltigen »Mutter« führt
zugleich hinaus und hinunter, in die Gesellschaft
und in die Seele, wenn
man so will.
Auch bei Angela
Carter ist die androgyne zugleich eine apokalyptische Welt. Die Ordnung der Geschlechter
Dekonstruktionen der Weiblichmuss zuerst zerfallen,
keitsmythen: THE PASSION OF
NEW EVE
und ein blutiger Bürger66
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krieg scheint unabwendbar, bevor es eine neue Gerechtigkeit geben kann. Und offensichtlich sind auch die postjungianischen Konzepte des Androgynen gewaltige Fallen
(unter anderem eine klammheimliche Rettung männlicher
Vorherrschaft in einer ent-patriarchalisierten Welt). Und
wie der Held, so muss sich nun auch die Heldin einen
neuen Geburtsraum suchen, was wahrhaft keine einfache Angelegenheit ist: »Oh wie streng und ernst sind die
Bewohnerinnen von Beulah! Beulah liegt im Inneren, in
den Eingeweiden der Erde, sein Zeichen ist der Stumpf
einer zerbrochenen Säule; in Beulah herrscht die Philosophie über die Steine. Mutter hat diese unterirdische
Stadt erbaut, sie hat sie unter dem Sand ausgehöhlt; die
Heilige Mutter, deren Finger Skalpelle sind, hat die konzentrisch absteigenden Sphären von Beulah ausgegraben,
sofern sie nicht selbst von Anbeginn dort unten gewesen
ist – eine Erdgöttin, eine Gegenwart, die in der Bildkraft
des Traumes stets gegenwärtig ist. Sie ist eine heilige
Frau; es ist ein profaner Ort. Es wird zum Ort meiner
Geburt werden.«
Wie ihre Vorgänger, Olimpia, das Monster, die Ève
Future, muss sich das Geschöpf erst »entpuppen«, und
wie bei jenen, so sind auch bei Angela Carters neuer Eva
mehrere, widersprüchliche »Schöpfer« am Werk. Sie
selbst zu werden ist daher kein einfacher Akt der Befreiung, und kein role playing. Als der Mann zur Frau werden soll, fragt er sich nach der Veränderung. Wird er, wie
eine Frucht, die die Farbe ihrer Schale wechselt, doch er
selbst bleiben? »Eine Veränderung des äußeren Aussehens
wird auch das Wesen verändern, versicherte mir Sophia
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kühl. Psychochirurgie nennt Mutter es.« Diese neue Eva
ist das Subjekt-Geschöpf, und neben vielem anderen
geht es bei Angela Carter auch darum, die Geschichte
der Parallelschöpfung (oder des Diskurswechsels, wie
man es nimmt) nicht von den Schöpfern bzw. den fassungslos kindlichen Zeugen, sondern vom Geschöpf aus
zu schreiben. Schon weil es Eves Geschichte ist, funktionieren die prä-diskursiven Zuschreibungen nicht. Die
Suche nach sich selbst erscheint dann wie eine Parodie
der Heldenreise, und statt sich seiner Männlichkeit zu
vergewissern, ist dieser »androgyne« Held bereit, sich der
Dekonstruktion der Geschlechtlichkeit zu stellen. Alle
Geschlechter erweisen sich als Phantasmen, jedes ist die
Unterdrückung des anderen. »Tristessa fuhr sich mit den
langen Händen über das Gesicht, als riebe er sich die Augen, und sah mit leerem Blick auf seine eigene Männlichkeit hinunter, als hätte er sie noch nie gesehen. Er schien
betäubt von der Wiederentdeckung des Männlichen bei
sich; es war ihm unbegreiflich.«
Wie der gewöhnliche Held auf seiner Reise so begegnet
auch die neue Eva vorwiegend den eigenen Spiegelungen
und Abspaltungen. Mutter, der Harem, Tristessa, Leila
und Lilith – es sind die Frauen-Bilder einer zerfallenden
patriarchalen Gesellschaft, die auch in ihrer »Rebellion«
noch die Herkunft nicht verleugnen. Die »herrschende«
wie die »unterworfene« Weiblichkeit, die flüchtende
wie die angreifende, stets produziert dies »unglückliches
Bewusstsein« bei der Gegenseite; unausweichlich aber
scheint der Kampf des Helden / der Heldin mit »Mutter« zu sein, so unausweichlich wie das Durchqueren der
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L’Ève Future
Wüste, der Zerfall der Städte (Sodom und Gomorrha,
zweifellos) und das Erreichen des Ozeans, wo Ende und
Anfang keinen Unterschied mehr machen.
Das System der Geschlechter ist untrennbar mit
dem der Räume verbunden: Der Held bzw. die Heldin
wird vom Mann zur Frau, indem er die Stadt verlässt.
Und Identität ist vor allem an den Schmerz gebunden,
den andere dem Körper zufügen. Für die Protagonisten
in Passion of New Eve genügen niemals die chirurgischen
Eingriffe (ein einfaches Wegnehmen oder Hinzufügen),
um ein Geschlecht – im doppelten Sinne – anzunehmen. Aber auch die schmerzhafte biografische Arbeit
reicht dazu nicht, und weil es weder »Waffenstillstand«
zwischen den Geschlechtern noch neue Harmonie,
weder Ambiguität noch Androgynität als Lösung gibt,
bleibt in Angela Carters schwerer Mythe nur die Zerstörung der Geschlechter. Das sexuelle Hybrid zerfällt
so schnell, wie es sich bildet. Und Chaos ist »das früheste Stadium der unorganisierten Schöpfung«. Auch
der Text und das Bild müssen sich daher dem Chaos
beugen, weder hier noch dort gelangen wir zu einer diskursiven Einheit des Geschlechterdiskurses (zurück).
Der nicht geplanten Stadt entspricht der nicht geplante
Körper, der dekonstruierten Stadt der dekonstruierte
Körper. Das Heterotopia der neuen Eva ist ganz direkt
kenntlich als ein Labyrinth, das keinen Ausweg kennt
(denn vermutlich geht die Geschichte von Eve auch
im nächsten Geburtsraum, dem Ozean, weiter oder
beginnt von neuem). Besonders Mainstream-fähig ist
das alles natürlich nicht.
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Future Sex in Queertopia
Im unendlichen Irrgarten der Sinnlichkeit:
Barbarella, Alice und die anderen
ine etwas derrangierte Galaxis im Jahr 40.000: Der
Präsident der Erde schickt die Astronautin Barbarella aus, um den Wissenschaftler Durand-Durand zu suchen, der mit seinen furchtbaren Waffen-Erfindungen
den kosmischen Frieden bedroht. »Sieg der Liebe«, lautet
die Parole. Auf dem Weg zu dem Planeten, auf dem man
Durand-Durand vermutet, gerät Barbarellas Raumschiff
indes in einen elektrischen Strudel und stürzt ab.
Roger Vadims BARBARELLA (1968) entstand nach den Comic
Strips von Jean-Claude
Forest, die seit 1962 im
V-Magazine erschienen
und in einem weltweit
populären Buch zusammengefasst wurden. Als
dieses 1964 wegen seiner Freizügigkeit verboten wurde (und 1966
eine nur leicht retuschierte Ausgabe herauskam), war der Mythos perfekt: Barbarella
triumphierte über den
Mief der Reaktion. Der
Jean-Claude Forests BarbarellaComics
klassische sexploitation
E
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Im unendlichen Irrgarten der Sinnlichkeit
strip mit nicht gerade überwältigend eigenem Strich erwies sich als Geniestreich der erwachsenen bandes dessinées, weil er auf eine ausgesprochen unbekümmerte Art
mit den Pop-Mythen verfuhr, ohne den Realitätsbezug
und die Provokationspflicht der amerikanischen Underground-Comics. Comic wie Film setzen sich gleichsam
aus bewusst ikonischen erotischen Traumbildern zusammen, beginnend mit dem Striptease in Schwerelosigkeit,
über die Orgasmusmaschine, den blinden Engel, den wilden »Jäger« auf dem Eis, die bösen Puppen – alle diese
Bilder lassen sich zugleich innerhalb der Pop Art und der
Psychoanalyse verstehen.
Auf dem Planeten wird Barbarella zuerst einmal von
Kindern angegriffen, die ihre mörderischen Puppen auf
sie hetzen. Vor deren kannibalistischen Gelüsten wird sie
in letzter Minute von einem zotteligen »Jäger« gerettet,
der ihr zum ersten Mal das Vergnügen körperlicher Sexualität bereitet (was für jemanden, der bislang nur »Verzückungsübertragungpillen« kannte einigermaßen überraschend kommt). Mit seinen beiden Roboter-Gehilfen
bringt der Jäger Barbarella zu ihrem Raumschiff zurück
und repariert es. Nicht gut genug indes, denn bald darauf
erleidet sie erneut Havarie. Diesmal findet sie bei ihrer
Suche nach Hilfe einen blinden Engel namens Pygar, der
Barbarella schließlich zum Labyrinth bringt. Es ist der
Ort, an den der »große Tyrann« alle jene verbannt, die
sich der Herrschaft nicht vollständig unterwerfen. Pygar,
der nach den Folterungen die Fähigkeit zu fliegen verloren
hat, wird durch Barbarellas Hingabe geheilt. Er bringt sie
zur Stadt des großen Tyrannen (ein Angriff feindlicher
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Future Sex in Queertopia
Alice im Sex-, Drogen- und Pop-Art-Wunderland: BARBARELLA
Raumschiffe muss noch überstanden werden), und der
entpuppt sich als grausame Frau, die es nicht minder auf
Barbarella abgesehen hat. Als diese sich indes den lesbischen Avancen dieser schwarzen Königin – gespielt von
der Rock-Muse Anita Pallenberg – entzieht, werden sie
und Pygar in den Kerker geworfen. Aber die Rebellen
verhelfen ihr zur Flucht, und endlich steht sie DurandDurand gegenüber, der seine gefährlichste Waffe an ihr
erprobt: Die »Lustorgel«, durch die die Opfer an einem
»Übermaß sexueller Freude« sterben. Aber Barbarella ist
diesbezüglich mittlerweile einigermaßen widerstandsfähig geworden; sie hält die Lustfolter durch und zerstört
damit das Gerät. Endlich können die Rebellen die Roboter und Raumschiffe des großen Tyrannen zerstören.
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Im unendlichen Irrgarten der Sinnlichkeit
Aber Durand-Durand hat noch ein Ass im Ärmel: Mit
seiner Laserwaffe versetzt er seine Widersacher in die
vierte Dimension. Der große Tyrann setzt dagegen den
»Mathmos« ein und zerstört die Stadt, Durand-Durand
und seine Wunderwaffen. Nur Pygar, Barbarella und die
schwarze Königin überleben die Katastrophe und kehren
zu Barbarellas Raumschiff zurück, das unterdessen von
Pygars Freund, dem Professor, endgültig instandgesetzt
wurde. Als Barbarella Pygar fragt, warum er denn auch
die böse Tyrannin gerettet habe, die ihn doch so malträtierte, antwortet er, ein Engel habe kein Gedächtnis (und
außerdem sei es leichter, mit einer Frau in jedem Arm
das Gleichgewicht zu halten).
Schöner Blödsinn in einigermaßen trashigen Kulissen, einerseits. Und andererseits war BARBARELLA ein
Schlüssel für die sexuelle und ästhetische Befreiung der
kommenden Jahre: Ein erotischer Drogentrip, in dem
die Kaninchen nicht weiß, sondern blau sind, Kinder
ein Ski-Jöring mit roten Mantarochen veranstalten und
sich Wände in amorphe Blasen auflösen. Und das alles
geschieht hier noch in einer Form von Unschuld, die es
sehr rasch nicht mehr geben wird: Alice im Sex-, Drogen- und Pop-Art-Wunderland.
Für die textilen Codes wurden Barbarellas knappe
Weltraumkleider beinahe so wichtig wie Mary Quandts
Minirock oder die langen Haare der Beat-Musiker. Der
Modedesigner Paco Rabanne, der die glänzenden Catsuits
und Korsagen für den Film entworfen hatte, entwickelte
daraus eine Linie des space look. Jenseits des Beat und
Hippietums sah er hier schon die nächste Bewegung des
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Future Sex in Queertopia
Körperkults, im Disco,
Psychedelia und Glamour um die Ecke. Und
gegen die Natürlichkeit
der Sexualität, die die
erste Welle der Befreiung betont hatte, setzten
Vadim und seine Mitarbeiter (nur Jane Fonda
war kreuzunglücklich
über diesen Film) die
künstlichen Paradiese
angewandter Pop Art.
Natürlich war die
Zahl der NachfolgerinBeauty & the Space-Biests: Uranella nen Legion, in den italienischen fumetti neri
(Uranella) bis zu leicht trashigen Fernseh-Varianten in
deutschen Serien oder amerikanischen Sexploitation
Movies. Uranella (1968–1969), die Blaupause für die
Sub-Barbarella-Heldinnen jener Zeit, ist eine Prinzessin,
die durch die Intrigen des bösen Zauberers Morbius von
ihrem Heimatplaneten Neutron vertrieben wurde und
seitdem als mehr oder minder einsame Kämpferin für die
Gerechtigkeit das All durchstreift. Kindisch-sexistisch wie
das ganze war, bedeuteten die Weltraumheldinnen der
sechziger und siebziger Jahre doch einen bemerkenswerten Wechsel in der populären Mythologie. Diese Heldin
war aus dem Rang der screaming lady befreit, agierte, in
all dieser suggestiven Fülle von Angst-Bildern, autonom
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Im unendlichen Irrgarten der Sinnlichkeit
und selbstbewusst und definierte sich nicht mehr durch
die Beziehung zu einem männlichen Beschützer.
Und es gab eine Hoffnung darauf, dass im Weltraum
ganz allgemein, wie einst in den unentdeckten Ländern,
ein kindlich-erotisches Paradies zu finden sei. Schon in
Georges Méliès’ LE VOYAGE DANS LA LUNE (Die Reise
zum Mond; 1902) zeigte sich, worum es im Genre stets
auch gehen würde: um schöne Frauen und glibbrige Monster, um den perfekten Frauenkörper, der in der Schwerelosigkeit wie in der polymorphen Grenzenlosigkeit
nur noch perfekter werden konnte, und um deformierte
Mischwesen mit seltsamen Begehren, und natürlich war es
auch die Wiederkehr des Motivs vom Tod und dem Mädchen. Aber »dort draußen« eben konnten sich seit Fritz
Langs DIE FRAU IM MOND (1929) auch Emanzipationsgeschichten abspielen, und bis in die ALIEN-Saga hinein
war die Frau im All scheinbar befreit von den normalen
Zuschreibungen, insbesondere der »Mütterlichkeit« und
der Passivität, und die Heldinnen durften erleben, was
vorher ihren männlichen Kollegen vorbehalten war, die
konstante Begegnung mit den abgespaltenen Phantasmen
des eigenen Begehrens.
Doris Wishman und Raymond Phelan versprachen
uns die NUDE ON THE MOON (1961) in einem wunderschön bescheuerten sexploitation movie, wo die üblichen zwei Wissenschaftler mit einer Rakete auf dem
Mond landen, der bewohnbarer ist als die Erde, nämlich
voll mit blühender Vegetation und, oweh!, Goldbrocken, und der bewohnt wird vom Volk der telepathisch
begabten »Nudi«, die natürlich ihrem Namen Ehre ma75
Future Sex in Queertopia
chen (obwohl es eher um »Oben ohne« als um vollständige Nacktheit geht). Das alles muss natürlich gründlich
untersucht werden, und insbesondere die nackte Mondkönigin bringt die beiden Männer auch in romantische
Verwicklungen. Nach der Rückkehr zur Erde allerdings
sind alle Beweise zerstört. So können die Nudi hoffen,
in Ruhe gelassen zu werden.
Aber erst in der Popmusik entwickelten sich ähnlich
polymorphe Rollenmodelle wie etwa Madonna, die beständig die Bühnen-Persona wechseln und sogar innerhalb
einer Performance vom Mädchen zum Vamp wechseln
konnte. Nicht Angela Carters schöpferisches Chaos (zurück zum »Beginn vor dem Beginn des Beginnens«), wohl
aber ein schönes semantisches Durcheinander war mit den
drei Chiffren Frau, Zukunft, Weltraum zu erzielen
Ungefähr das, was lange vorher, mit Alice im Wunderland (1865) zu erzielen war: Das Mädchen, das auf
der Spur eines weißen Kaninchens in eine Welt fiel, in
der, ausgerechnet, die Logik ein gewaltiges Chaos anrichtete, und in der der Körper sich beständig verändern konnte, (im Beginn vor dem Beginn des Beginnens
oder aber jenseits des Endes vom Ende des Beendens),
konnte sich nur hier behaupten, gegen freundliche Zurichtungen, Texte und Erziehung. (Wir können uns, die
Fotografien betrachtend, die der Professor von den kleinen Mädchen machte, dem sexuellen Misstrauen nicht
entziehen, indes kam Alice aus dem Wunderland mit
einer gehörigen Portion Selbstermächtigung zurück: Ihr
war vermutlich klar geworden, dass Ordnungen nicht
natürlich sind.)
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Im unendlichen Irrgarten der Sinnlichkeit
Barbarella und ihre Schwestern waren, logisch,
Männerfantasien, sie waren sexualisierte (und vereinfachte) Versionen von Alice, und sie waren weibliche
Ermächtigungsfantasien. Ob sie reaktionär oder revolutionär, Sexobjekte oder Rebellenbilder waren, das kam
jeweils auf den Blickpunkt an. (Und guilty pleasures
waren es von allen Seiten her.) Die nächste vergleichbare Ikone, auf den ersten Blick in allem eher ein Rückschritt, entstammte naturgemäß dem neuen Medium
des Computergames. Die Heldin des abenteuerlichen
Jump-and Run-Spiels Lara Croft war wohl die erste
Computerspiel-Figur, die wesentlich mehr auslöste als
die rudimentäre »Sympathie«, auf die sich die Erben
von PacMan und SuperMario berufen durften. Die
Heldin der 1996 gestarteten Spieleserie unterscheidet
sich von ihren Vorgängern durch drei Attribute: Sie ist
»realistisch« gestaltet, sie hat eine Identität, komplett
mit einer Art Familienroman: Tochter eines britischen
Lords mit einer perfekten Ausbildung, unter anderen
in der Schweiz, danach einzige Überlebende eines Flugzeugabsturzes im Himalaya, und sie ist geschlechtlich
(über-)determiniert. »Sie war die erste virtuelle Gestalt, die den Schritt aus der Spielewelt in die universale Medienrealität schaffte. Schon wenige Monate nach
der Lancierung des Computerspiels begegnete man ihr
auf Plakatsäulen, im Fernsehen, auf den Titelseiten von
Magazinen wie Playboy, Spiegel und Stern, in einschlägigen Game-Zeitschriften und in den Feuilletons diverser
Tages- und Wochenzeitungen. Junge Frauen liehen der
Kunstfrau ihren Körper, um sie als ›offizielle Lara-Croft77
Future Sex in Queertopia
Models‹ in der realen Welt zu vertreten. Sie gaben im
Namen von Lara Croft Interviews und Autogramme und
ließen sich im Lara-Kostüm fotografieren. Lara Croft
ist auf Konzerten bekannter Rockgruppen aufgetreten
und hat Modedesignern Modell gestanden. Sie diente
als Werbefigur für Uhren, Autos, Softdrinks, für Zeitungen wie die Welt und Magazine wie Brigitte.« (Astrid Deuber-Mankowsky).
Es ist eine »Ermächtigungsfantasie«, nun vielleicht
im post-postmodernen (bzw. post-post-feministischen)
Stadium. Zugleich aber auch die Erfüllung der Männerfantasie (der überdimensionale Busen der Heldin) und
daher ein theoretisches Problem. Lara Croft war die
karnevalisierte Gestalt der Begegnung »männlicher« und
»weiblicher« Wünsche und daher eine dritte Variante der
Neuschöpfung. Alle Subtexte sind hier nach außen gekehrt und einer radikalen Komplexitätsreduzierung unterworfen; Barbie, die neue Eva, Barbarella; das Chaos,
die Neuordnung, die Aneignung; die Erfüllung, der Widerspruch, der Kompromiss, etc. Die »unlesbare« (neue)
Frau, die ambigue (neue) Frau, und nun: die beliebig lesbare Frau. Die weibliche Oberfläche ohne weiblichen Inhalt: Ganz im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen
und Vor-Bildern bestehen Lara Crofts Abenteuer nicht
in der Konstruktion ihres Geschlechts, sondern im ironischen Aufdecken und Verbergen. Bei Lara Croft ist
Weiblichkeit, zum ersten Mal jedenfalls in dieser Deutlichkeit, weder Inhalt noch Wesen, weder Problem noch
Projekt, weder Mythos noch Materie. Weiblichkeit bei
Lara Croft ist ein Effekt.
Auszug aus: Georg Seeßlen: Future Sex in Queertopia.
78 978-3-86505-713-6
© Bertz + Fischer Verlag. ISBN
http://www.bertz-fischer.de/futuresex.html