EA Swift: Popular Theater and Society in Tsarist Russia - H-Soz-Kult

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EA Swift: Popular Theater and Society in Tsarist Russia - H-Soz-Kult
E. A. Swift: Popular Theater and Society in Tsarist Russia
Swift, Eugene Antony: Popular Theater and Society in Tsarist Russia. Berkeley: University of
California Press 2002. ISBN: 0-520-22594-5.
Rezensiert von: Martina Winkler, Zentrum
für vergleichende Geschichte Europas, Freie
Universität Berlin
„Theater“ ist ein hoch willkommener Untersuchungsgegenstand der Kulturgeschichte, sind doch so viele ihrer Motive an diesem
Ort versammelt: karnevaleske Buntheit, Sprache und Bilder, Inszenierung von Wirklichkeiten, Machtausübung und widerstrebende
Subversivität. Ein wunderbares Thema, und
E. Anthony Swift ist bei weitem nicht der Einzige, der sich aktuell der Theatergeschichte
Russlands angenommen hat. Das Theater als
Ort der Konstruktion von Wirklichkeiten und
Selbstdefinitionen sowie als wichtige Quelle für Historiker, die mit den aus offiziellen
Quellen gezogenen Erkenntnissen nicht zufrieden sind, ist zu einem methodisch nicht
unproblematischen, aber heuristisch wichtigen Forschungsobjekt geworden. Swifts Ansatz beruht dabei in erster Linie auf Foucault,
aber auch Bourdieu findet Eingang in seine
Arbeit.
Die Entwicklung der Theater der Zaren und
der adligen Elite als Ort westlicher Kultur
in Russland steht der Tradition von Karneval
und „balagany“ (Wandertheater) mit Akrobatik, Magie und Puppenspiel gegenüber. Diese Kluft zwischen den beiden (Theater-)Kulturen versuchten verschiedene Gruppen im
späten 19. Jahrhundert zu überwinden.1 Das
Theater entwickelte sich, so Swift, zu einem
Raum der Machtausübung durch Kultur, Bildung und Zivilisierung und zu einem Diskurs, in dem ein Kampf um symbolisches Kapital geführt wurde. Die Ambitionen liberaler und national orientierter „kulturtregery“
konkurrierten mit sozialistischen Hoffnungen
auf Erziehung zu mehr Klassenbewusstsein
durch das Theater sowie mit den unterschiedlichen Plänen von Fabrikbesitzern und Abstinenzgesellschaften zivilisierend auf Arbeiter
einzuwirken. Das Repertoire wurde von diesen verschiedenen Akteuren ausgesucht und
von der Zensur beschnitten; die Arbeiter sahen sie als erziehungsbedürftig und bildungshungrig, als moralisch verkommen und als
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unbeschriebenes Blatt.
Wenn diese selbsterklärte Bildungsmacht
bei Swift anhand ausgiebiger Quellenstudien detailliert dargestellt wird, so drängt
sich der Eindruck auf, dies alles in ähnlicher Weise bereits anderswo gelesen zu haben: Das klassische Scheitern der NarodnikiBewegung und die Probleme der Rechtsreform von 18642 haben diese Kluft zwischen
Elite und Volk und den arroganten Idealismus der Intelligenzija ebenso illustriert wie
beispielsweise die erfolglosen Versuche russischer Psychiater, das Phänomen der „klikuschi“ („Schreierinnen“) aufzuklären, oder
die „künstlerisch“-machtorientierten Ambitionen aufgeklärter Gutsbesitzer.3 Vor allem
aber nährt sich der Verdacht, ein ursprünglich
wichtiger Ansatz sei hier deutlich überstrapaziert worden und stoße an seine Grenzen:
Ein auf die These vom disziplinierenden Wissen reduzierter Foucault ist mittlerweile allgemein bekannt und erweist sich forschungsleitend als nur noch wenig ergiebig; die Kulturund Diskursgeschichte braucht nicht unbedingt mehr und mehr Details zur Illustration von inzwischen kaum bestrittenen Thesen,
sondern vor allem neue Fragen.
Interessanter als die zuweilen sehr redundante Beschreibung der Kontroll- und Disziplinierungsambitionen ist somit der Blick
auf die Zielgruppe des Ganzen: die Arbeiter Moskaus und St. Petersburgs. Sehr stark
als Gegensatz zum herrschenden Diskurs
konzipiert, werden sie als Theaterpublikum
und Theatermacher beschrieben: immer aktiv, immer ein wenig subversiv. Ein Problem
der Beschreibung von „Volkskultur“, wie sie
im Rahmen einer machtkritischen, an Foucault orientierten Konzeption häufig üblich
ist, wird hier deutlich. Das proletarische Publikum und sein „Miss“-Verstehen der Elitenkultur wird mit großer Sympathie dargestellt:
1 Vgl.
McReynolds, Lousie; Neuberger, Joan (Hgg.), Imitations of Life. Two Centuries of Melodrama in Russia,
London 2002; Kimerling Wirtschafter, Elise, The Play of
Ideas in Russian Enlightenment Theater, DeKalb 2003.
2 Vgl. Baberowski, Jörg, Autokratie und Justiz. Zum Verhältnis von Rechtsstaatlichkeit und Rückständigkeit im
ausgehenden Zarenreich 1864-1914, Frankfurt am Main
1996.
3 Vgl. Worobec, Christine D., Possessed. Women, Witches, and Demons in Imperial Russia, DeKalb 2001;
Roosevelt, Priscilla, Life on the Russian Country Estate.
A Social and Cultural History, New Haven 1995.
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„Many mistook the actors´ curtain calls for a
continuation of the action. After one performance of Ostrovky´s ‘Poverty is No Vice´, the
appearance of the actors onstage to take their
bows provoked the audience to conclude that
Korshunov had married Liubushka after all,
since they came out holding hands.“ (S. 208)
Die Anekdoten, mit denen Swift das Scheitern der disziplinierenden Wissensvermittlung zeigt, lassen den Leser unwillkürlich lächeln. Dieses Lächeln ist der Grundhaltung
der russischen Intelligenzija, welche die Arbeiter als erziehungs- und lenkungsbedürftige Kinder sah und behandelte, nicht so unähnlich – es ist genau das Lächeln, das Foucault kritisiert hat. So intensiv in den letzten
Jahren die Konstruktion des Anderen auch
analysiert wurde, enthüllt sich doch in vielen historiografischen Texten eine Vorstellung
von den historischen Subjekten, die dem klassischen Bild des „edlen Wilden“ so unähnlich
nicht ist. Ob und wie diese foucaultsche Falle
zu umgehen ist, muss hier dahingestellt bleiben. Festzustellen bleibt nur, dass dies keine
Frage von political correctness ist; vielmehr
scheint sie zuweilen die analytische Schärfe
zu beeinträchtigen. Die „positiven“ Aspekte
proletarischen Missverstehens der ihnen aufgedrängten Elitenkultur werden bei Swift als
Anekdoten erwähnt und bleiben heuristisch
leer. Erst mit dem Befund: „Other laughter
was more problematic“, kommt er zu interessanten Ergebnissen: beispielsweise wenn das
Publikum über einen Kindsmord auf der Bühne lacht (und Swift dies als Reaktion auf einen Konflikt mit der traditionalen patriarchalischen Kultur zurückführt, S. 222) oder das
Weinen einer jungen Braut, deren Ehemann in
den Krieg ziehen muss, mit Lachen und zweideutigen Kommentaren bedacht wird (von
Swift als Ausdruck für das geringe Ansehen
und die Gewalterfahrungen junger Ehefrauen
interpretiert, S. 228f.) – wenn also die Reaktionen des Publikums nicht nur unseren Erwartungen, sondern auch unseren Werten widersprechen und somit die Sympathie gegenüber
der Naivität des anderen nicht mehr greift.
Das stärkste Kapitel des Buches ist folgerichtig dasjenige, welches von dem Paradigma der Machtkritik weniger bestimmt ist.
Swift setzt sich hier mit Arbeitertheater und
Proletkult-Konzepten auseinander und stellt
diese Kultur in den Rahmen von Urbanisierung und Modernisierung. Volkstheater wurden um die Jahrhundertwende zu einem festen Bestandteil hauptstädtischer Kultur. Ein
neuer Bildungshunger der Arbeiter und der
Stolz, sich zu entwickeln und „dazu zu gehören“ bilden sich heraus. Daneben greift Swift
hier überzeugend den spezifischen Charakter
des Theaters im Unterschied zur geschriebenen Literatur auf – erst hier geht er deutlich
über Arbeiten wie die von Jeffrey Brooks4 hinaus – und weist auf die Möglichkeiten der Improvisation und Interpretation hin, durch die
Inszenierungen einen besonderen Charakter
bekamen. Theater wurde so zum Werkzeug
einer Identitätskonstruktion, welche Elemente der Jahrmarkts- und Karnevalstraditionen
mit Elitenkultur und urbanen Problemen und
Kritik verband.
Bei all dem ist Swifts Umsicht im Umgang
mit seinen Quellen hervorzuheben. Allzu verführerisch muss es gewesen sein, die Chancen, welche der Quellenkorpus zum Thema
Theater im Gegensatz zum Bereich der Literatur bietet, zu überschätzen. Es gibt ein Publikum, das unmittelbar reagieren konnte, Bilder von Theaterbauten und Aufführungen sowie Befragungen der Zuschauer. Doch Swift
bleibt sich der Grenzen, innerhalb derer seine Erkenntnisse sich bewegen, stets bewusst.
Die tatsächlichen Aufführungen müssen nicht
unbedingt den Manuskripten entsprochen haben; Antworten bei Umfragen wurden vor allem von Zuschauern gegeben, die lesen und
schreiben konnten. Die Arbeitertheater wurden nicht von der Mehrzahl, sondern von einer kleinen Auswahl der städtischen Arbeiter
organisiert. Ebenso wie die Realität des Theaters und die Mehrzahl der Zuschauer dem
Bildungseifer der Elite verschlossen blieben,
werden sie sich weitgehend wohl auch der
historischen Forschung entziehen.
Wenn Swift trotz des sehr skeptischen Blickes auf „Modernisierung“ und „Zivilisierung“ wiederholt den Begriff der civil society benutzt, so beschreibt er damit einen Ansatz, ein Konzept und vor allem eine Entwicklung. Wenn er die lebendige Theaterkultur der Jahrhundertwende, die zunehmende
Alphabetisierung, Engagement und Kommu4 Vgl. Brooks, Jeffrey, When Russia learned to read. Liter-
acy and popular literature 1861 – 1917, Princeton 1988.
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E. A. Swift: Popular Theater and Society in Tsarist Russia
nikation darstellt, so setzt er diese in Kontrast
zur Situation vor der Bauernbefreiung 1861
und vor der Aufhebung des staatlichen Monopols auf den Theatermarkt der Hauptstädte 1882. Auf diese Weise wird eine von vielen Modernisierungen beschrieben: die Modernisierung der russischen Arbeiterkultur
im urbanen Kontext Moskaus und St. Petersburgs. Insbesondere die Forschungen der letzten Jahre, die Modernisierung in Russland
mit der Entwicklung von populärer Konsumkultur in Verbindung brachten, werden hier
in vielfacher Weise ergänzt. Wenn dieses detailreiche und zuverlässig recherchierte Buch
deutlich macht, wie weit die Kulturgeschichte in den letzten Jahren gediehen ist, so zeigt
es aber auch, an welche Grenzen diese Forschungsrichtung stoßen kann – in methodologischer wie in heuristisch-konzeptioneller
Hinsicht.
HistLit 2003-4-159 / Martina Winkler über
Swift, Eugene Antony: Popular Theater and Society in Tsarist Russia. Berkeley 2002, in: HSoz-Kult 17.12.2003.
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