Jugendschreibwettbewerb „Heimat zählt. Erzählte Heimat.“

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Jugendschreibwettbewerb „Heimat zählt. Erzählte Heimat.“
Jugendschreibwettbewerb
„Heimat zählt. Erzählte Heimat.“
Von Ostpreußen nach Mannheim
Von Anja Hartlieb
Ich sitze im Wohnzimmer neben meiner Oma und sie erzählt mir, wie sie nach Krieg und
Flucht vor 60 Jahren nach Mannheim kam.
Die Heimat Ostpreußen
„Meine Familie lebte schon seit ewigen Zeiten in Ostpreußen. Mein Großvater und seine
Vorfahren waren schon seit Generationen Lehrer in Masuren.“, beginnt Oma zu erzählen. Ihr
Vater war Berufsoffizier und als sie klein war, lebte sie mit ihren Eltern und Schwestern in
einer großen Wohnung in der Kaserne in Sensburg. Mit den Kindern von anderen Offizieren
hatten sie das ganze Kasernengelände, das direkt an einen See grenzte, als Spielplatz. Im
Sommer konnte man in den vielen Seen ringsum herrlich baden und im Winter Schlittschuh
laufen. Sonntags machte die Familie meiner Oma manchmal einen Ausflug zu einem
Ausflugslokal, mit einem großen Tanzsaal, der so spiegelglatt gebohnert war, dass die Kinder
dort wunderbar schliddern konnten. Oder sie machten einen Ausflug zur Krutinna, auf der
man sich mit dem Boot staken lassen konnte. Nicht weit wohnten auch die Großeltern, die in
einer kleinen Landwirtschaft viele Tiere hatten. Besonderen Spaß machte es aber, wenn
mein Urgroßvater die Pferde vor die Kutsche spannte und mit seinen Enkeln eine Fahrt ins
Blaue machte. Gerne erinnert sich meine Oma auch an die festlichen
Weihnachtsgottesdienste in ihrer Heimat. Sie hatten im Winter ja immer viel Schnee, und
wenn dann an Heiligabend beim Abendgottesdienst die Kirchentüren weit offen standen und
draußen der Schnee glänzte, sahen die vielen Kutschen draußen vor der Kirche mit ihren
blankgeputzten, silbernen Lampen ganz festlich aus.
Die Flucht
Als die russischen Truppen Ostpreußen einnahmen, ging auch meine Oma auf die Flucht.
Trotz der schon lange drohenden Gefahr hatten die Machthaber der Bevölkerung bei Strafe
verboten, ihre Heimat zu verlassen. Erst als die Front schon dicht vor ihrem Heimatort
Sensburg war, machte sich meine Oma mit ihrer Mutter und zwei kleinen Schwestern am
späten Abend des 26. Januar 1945 auf den Weg. Als sie das Haus verlassen mussten, war
es draußen bei -27°C bitterkalt. Sie konnten nur da s mitnehmen, was sie schnell in ihre
Koffer und eine geflochtene Kiepe gepackt hatten. Ihr Gepäck zogen sie auf zwei
Rodelschlitten hinter sich her. Sie dachten ja nicht, dass das eine Flucht für immer wäre. Sie
hofften, dass sie nur für eine Weile weg müssten und dann wiederkämen, so wie es die
Familie in Ostpreußen schon im 1.Weltkrieg erlebt hatte. Dabei verließen sie sich auch auf
die Propaganda der Machthaber, die ihnen versprochen hatten, dass durch die Wunderwaffe
bald eine Wende des Krieges käme. So schlossen sie das Haus sorgfältig ab und meine
Oma nahm den Schlüssel an sich, bevor sie zum Bahnhof gingen. Sie erreichten gerade
noch den letzten Zug, der mit Soldaten und Flüchtlingen total überfüllt war.
Es begann eine wochenlange Irrfahrt kreuz und quer durch Ostpreußen. Der erste Zug
endete schon am nächsten Eisenbahnknoten in Korschen. Dort mussten alle Zivilisten
aussteigen, weil der Zug mit den Soldaten in die Kampfzone weiterfuhr. Sie luden also ihre
Koffer auf die Rodelschlitten und machten sich zu Fuß auf den Weg. Die nächste Nacht
verbrachten sie in einem verlassenen Bahnwärterhäuschen mit anderen Flüchtlingen und
Soldaten aus umliegenden Schützengräben. Am frühen Morgen wurden sie aus dem Schlaf
gerissen, als auf der Straße ein Soldat rief: „Der Iwan ist da!“ Als sie mit ihren Schlitten
losziehen wollten, rief ein Offizier ihnen zu, dass sie alles stehen und liegen lassen und so
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schnell rennen sollten, wie sie nur können. Und da ging die Schießerei auch schon los, sie
ließen alles stehen und rannten und rannten, bis sie nach einer Weile an einer
Straßenkreuzung auf einen langen Flüchtlingstreck trafen und zu Fuß zwischen den
Pferdewagen weiterzogen. Sie kamen an Brücken vorbei, an denen Soldaten schon
Sprengladungen befestigt hatten, die gezündet werden sollten, sobald die Russen näher
kämen. In den Straßengräben lagen tote Pferde und umgestürzte Bauernwagen.
Die nächste Station war Bartenstein. Hier stand ein Zug bereit, der aber erst abfahren durfte,
wenn die Russen kommen. Erst als die ersten russischen Soldaten schon in die Ortschaft
eingedrungen waren, setzte der Zug sich langsam in Bewegung. Diesmal kamen sie bis
Heilsberg, wo es wieder hieß, „Alles aussteigen“. Doch diesmal hatten sie Glück und
bekamen bald darauf Plätze in einem Viehwaggon, der an einem Panzerzug des Regiments
„Großdeutschland“ hing. Sie kamen bis zum Bahnhof von Zinten, wo wieder alle Zivilisten
aussteigen mussten, weil der Zug mit den Panzern zur Verteidigung von Königsberg
weiterfuhr. Von hier aus ging es wieder nur zu Fuß weiter. In langen Kolonnen bewegten sich
Pferdewagen und Fußgänger in Richtung Meer.
Nach einigen Tagen und Nächten im Schnee kamen sie am Ufer an. Vor ihnen lag die riesige
Eisfläche des Frischen Haffs. Soldaten regelten hier den Verkehr und ließen die schweren
Pferdefuhrwerke nur mit Abstand auf die Eisfläche fahren. Eine endlose Kolonne von
Flüchtlingen zog über das Eis in Richtung Frische Nehrung. Sorge machten ihnen nicht nur
die vielen in das Eis eingebrochenen Fuhrwerke, sondern vor allem die Warnung vor den
Tieffliegern. Als sie schon die ersten Häuser an der Nehrung sehen konnten, kamen diese
dann auch angeflogen und schossen auf alles, was sich auf dem Eis bewegte. Meine Oma
und ihre kleine Schwester entkamen nur, weil sie sich auf das Eis warfen und tot stellten.
Über die Nehrung zogen sie dann viele Tage zu Fuß weiter nach Danzig, wo hunderttausend
Flüchtlinge auf Schiffe warteten, die sie in den Westen fahren sollten. Immer wieder kamen
Angriffe von Tieffliegern und am Rand des Weges lagen unzählige erschossene und
erfrorene Flüchtlinge. Als sie Ende Februar nach Danzig kamen, war der Großteil der
Einwohner schon geflohen. Die Stadt war aber voller Flüchtlinge, die auf Schiffe warteten,
die sie in den Westen bringen sollten.
Nach vielen Wochen gelang es ihnen dann, Plätze auf einem dänischen Frachtschiff zu
bekommen. Ganz langsam musste das Schiff durch die verminte Ostsee fahren und hatte
Glück, nicht von einem U-Boot angegriffen worden zu sein. Ende März 1945 legte ihr Schiff
dann in Rostock an und sie wurden mit dem Zug nach Niedersachsen gefahren.
In der Osternacht 1945 wurde der Zug wegen einem Bombenalarm in Lüneburg gestoppt.
Alle Passagiere mussten aussteigen und in Luftschutzkeller fliehen. Als sie nach der
Entwarnung wieder zum Bahnhof zurückkehren wollten, sahen sie zwischen den
Fachwerkhäusern bei einem Gasthaus noch Lichter brennen. Der friedliche Eindruck dieses
Augenblicks veranlasste sie, die Weiterfahrt zu unterbrechen und erst einmal nach einer
Unterkunft zu fragen. Damit war ihre Flucht zu Ende und meine Oma blieb bis zu ihrer
Hochzeit in Lüneburg.
Mannheim – Die zweite Heimat
Im November 1953 heirateten meine Großeltern in Lüneburg und fuhren mit dem Zug nach
Mannheim. Mein Opa arbeitete in Mannheim und hatte das große Glück, dass er mit
Baukostenzuschuss eine Wohnung in der Mannheimer Innenstadt bekommen hatte. Meine
Oma freute sich schon sehr, da dies die erste eigene Wohnung der Familie nach der Flucht
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war. Als sie zu ihrer neuen Wohnung in S3 kamen, war aber noch kein Boden verlegt, der
Strom war noch nicht angeschlossen und nicht einmal eine Wohnungstür war vorhanden. Sie
hatten noch viel zu tun, bis alles bewohnbar war. Meine Oma hat diese Zeit aber doch in
positiver Erinnerung: „Es ist alles schön, wenn man seit 3 Tagen verheiratet ist!“
Mannheim war damals noch sehr stark zerstört: wenige Häuser, die nach den
Bombenangriffen stehen geblieben waren, wenige neugebaute Häuser, und dazwischen
Lücken und Abgänge in Keller, die noch von zerbombten Häusern übrig geblieben waren.
Viele Menschen waren froh, wenigstens in diesen Kellern ein Dach über dem Kopf zu haben.
Auch auf den Planken gab es noch viele Baulücken. Aber die waren mit Pappwänden
geschlossen, auf denen bunte Werbung zu sehen war. Überall in der Stadt war noch der Ruß
und Staub der Zerstörungen vom Krieg. Der Wind trug den Staub in die Wohnungen und
wenn man eine Weile durch die Stadt gegangen war, hatte man schwarze Füße bis zu den
Knöcheln.
Kühlschränke waren damals noch ein Luxus und den konnten sich meine Großeltern
natürlich nicht leisten. Aber sie hatten es ja nicht weit zum Marktplatz, wo es alles ganz frisch
zu kaufen gab. Viele Marktfrauen kamen aus der Pfalz und verkauften frisches Obst und
Gemüse. Um den Marktplatzbrunnen herum hatten sich die Metzger und die Fischhändler
versammelt, weil sie dort am fließenden Wasser ihr Fleisch und ihre Fische waschen und
einigermaßen frisch halten konnten.
Was meiner Oma in Mannheim als erstes aufgefallen war, dass die Menschen hier viel
aufgeschlossener waren, als sie es in Norddeutschland erlebt hatte. Wo Menschen sich
trafen, unterhielten sie sich auch gleich. In Norddeutschland dagegen waren sie wie stumm.
Allerdings hatte Oma anfangs Probleme mit der Sprache in der Kurpfalz. In der Metzgerei
hörte sie immer wieder, wie andere Frauen „Brotwürste“ kauften. In Norddeutschland hatte
sie schon Grützwürste kennengelernt, aber Brotwürste waren ihr neu. Erst nach längerer Zeit
bekam sie heraus, dass mit „Brotwärscht“ Bratwürste gemeint waren.
Im Frühjahr 1954 erlebte sie ihre erste Mannheimer Fasnacht. Sie hat sich furchtbar
erschreckt, als sie die ersten “Mannemer Schwellköpp“ gesehen hat. Viele Geschäfte waren
damals noch in eingeschossigen, flachen Häusern untergebracht, die nur notdürftig
wiederaufgebaut worden waren. In der Fasnachtszeit stellten sich die Metzger auf der
Fressgass am Fasnachtsdienstag auf die Flachdächer ihrer Metzgerei und ließen an langen
Angeln Würste zu den Leuten herunter, die unten Wurstschnappen machten. Da kamen
dann immer große Menschenmengen zusammen, die ihr Glück suchten.
Gar nicht weit von ihrer Wohnung war auf der Breiten Straße im Kino Schauburg (neben dem
Kaufhaus Braun, später Karstadt) das Nationaltheater untergebracht. Auf einer kleinen
Bühne wurde gespielt und die Menschen saßen in engen Reihen auf Klappstühlen. Ein
Foyer gab es nicht. Als sie dort einmal in der Oper waren, wurden in der Pause einfach die
seitlichen Türen zur Straße geöffnet, um frische Luft hereinzulassen. Direkt neben den
Sitzreihen des Theaters gingen nun die Passanten vorbei und schauten herein. Einige
Besucher des Theaters hatten Butterbrote und Getränke dabei, die sie nun zu sich nahmen,
wenige gingen auch hinaus auf die Straße, aber die meisten blieben auch in der Pause auf
ihren Plätzen sitzen, denn bei der Enge war es schwer, seinen Platz zu verlassen und auch
wieder zu seinem Platz zurückzukommen. Weil es durch dieses Schocklüften stark zog und
manchmal auch sehr kalt wurde, gewöhnten sich viele Frauen an, ins Theater immer mit
einem doppelten Kopftuch zu gehen, das sie sich dann über die Schultern zogen. Diese
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Kleidersitte war auch nach Wiedereröffnung des Nationaltheaters noch lange zu beobachten.
Sonntags gingen viele Mannheimer schon damals am Stephanienufer spazieren. Die Brücke
zur Reißinsel gab es noch nicht, aber am Rheinufer konnte man wunderbar flanieren und traf
viele Bekannte. Spannend waren natürlich auch die vielen Schiffe, die man dort beobachten
konnte und mein Opa zeigte meiner Oma immer wieder Schiffe, die er aus seiner beruflichen
Tätigkeit als Transportversicherer kannte. Es gab damals auch einen Aufruf in der Zeitung
zur Spende von Bänken für den Uferweg. Immer wieder kamen so neue Bänke dazu und
jeder suchte immer gleich nach dem Schild, wer denn der neue Spender war. Vor der
Reißinsel gab es zwar noch die große schwimmende Badeanstalt im Rhein, aber das Baden
war wegen der starken Verschmutzung des Rheins verboten.
Manchmal fuhren meine Großeltern mit der Rhein-Haardt-Bahn nach Dürkheim und gingen
dort durch den Kurpark und weiter zu ihrem damaligen Lieblingsplatz, der Limburg. Gerne
fuhren sie auch mit der OEG nach Heidelberg und liefen dort über den Philosophenweg bis
Ziegelhausen, wo sie in der Stiftsmühle einkehrten und dann mit der Neckarfähre auf die
andere Neckarseite übersetzten, wo sie wieder in die Straßenbahn stiegen und
zurückfuhren.
Noch heute ist Oma dem Kaufhaus Vetter dankbar für das tolle Angebot, dass man sich für
nur 10,- Mark ein Kleid nähen lassen konnte, wenn man sich im Kaufhaus Vetter den Stoff
dafür gekauft hatte. Sie kaufte sich also beim Kaufhaus Vetter einen schönen Dirndlstoff und
bekam für ihre 10,- Mark ein komplettes Kleid genäht, sogar eine Rüsche und Knöpfe waren
dran, für die sie nichts extra bezahlen musste.
Nachdem in Mannheim der erste Sohn geboren wurde, zog die Familie nach Neuostheim.
Dort kam dann der zweite Sohn zur Welt. Es folgten weitere Umzüge nach Feudenheim und
auf die Vogelstang, wo meine Großeltern als Rentner noch heute leben. Wir Enkel sind nun
schon die dritte Generation Mannheimer.
Meine Oma ist jetzt über 80 Jahre alt und am kulturellen Leben in Mannheim weiterhin stark
interessiert. Noch immer besucht sie regelmäßig die Aufführungen des Mannheimer
Nationaltheaters und die Veranstaltungen des Mannheimer Altertumsvereins. Mit besonderer
Begeisterung besucht sie aber Konzerte und Veranstaltungen der Mozart-Gesellschaft
Kurpfalz, in der sie auch seit vielen Jahren Mitglied ist. Dennoch hat sie auch die Liebe zu
ihrer alten Heimat nicht verloren und hält weiterhin über den Kreisverband Sensburg
Kontakte zu ihren alten Freunden und ehemaligen Mitschülern aus der alten Heimat.
Die ersten Jahre in Mannheim fühlte sich meine Oma zwischen den alteingesessenen
Mannheimern nur als Gast. Flüchtlinge wurden von einigen gerne als Sündenböcke
betrachtet. Schließlich stellt Oma aber fest: “Heute spielt es keine Rolle mehr, woher man
kommt!“