Interkulturelle Forschung an deutschsprachigen Hochschulen

Transcription

Interkulturelle Forschung an deutschsprachigen Hochschulen
online-Zeitschrift für Interkulturelle Studien
Inhalt I Jahrgang 11 I Ausgabe 16 I www.interculture-journal.com
Vorwort
Elias Jammal
Interkulturelle Philosophie
und Interkulturalität
Dominic Busch
Aktuelle Entwicklungen in der
sprachwissenschaftlichen Forschung zur
interkulturellen Kommunikation
Anne Schreiter
Kultur zwischen Ökonomisierung
und kreativer Unordnung.
Eine designtheoretische Perspektive
Jan-Christoph Marschelke
Recht und Kultur Skizze disziplinärer Zugänge der
Rechtswissenschaften zu Kultur
und Interkulturalität
Mirjam Hermann/
Maja Schachner/ Peter Noack
„Ich bin eigentlich anders.“
Subjektive Konstruktionen ethnischer
Identität im Migrationskontext
und neue Wege in der psychologischen Akkulturationsforschung
Karsten Müller/ Regina Kempen/
Tammo Stratmann
Methodische Ansätze und Entwicklungen
interkultureller Forschung in der
Wirtschaftspsychologie am Beispiel
organisationaler Einstellungen
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Interkulturelle Forschung
an deutschsprachigen
Hochschulen
– disziplinäre Perspektiven und
interdisziplinäre Best Practices
Gastherausgeber:
Daniela Gröschke | Jürgen Bolten
Isabella Waibel
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als interkulturelles Forschungsfeld
Jan-Christoph Marschelke
Interdisziplinäre „Best Practice“–
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(GSiK) der Uniive
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Elke Bosse
Perspektivtriangulation am
Beispiel der Kombination von
Gesprächs- und Inhaltsanalyse
Herausgeber:
Jürgen Bolten
Stefanie Rathje
unterstützt von: / supported by:
2012
Herausgeber:
Prof. Dr. Jürgen Bolten (Jena)
Prof. Dr. Stefanie Rathje (Berlin)
Gastherausgeberin: Daniela Gröschke (Jena) | Jürgen Bolten (Jena)
Wissenschaftlicher Beirat:
Prof. Dr. Dr. h.c. Rüdiger Ahrens (Würzburg)
Prof. Dr. Manfred Bayer (Danzig)
Prof. Dr. Klaus P. Hansen (Passau)
Prof. Dr. Jürgen Henze (Berlin)
Prof. Dr. Bernd Müller-Jacquier (Bayreuth)
Prof. Dr. Alois Moosmüller (München)
Prof. Dr. Alexander Thomas (Regensburg)
Chefredaktion und Web-Realisierung:
Mario Schulz
Editing:
Diana Krieg
Fachgebiet:
Interkulturelle Wirtschaftskommunikation
Friedrich-Schiller-Universität Jena
ISSN: 1610-7217
www.interculture-journal.com
Inhalt / Content
1
Vorwort der Herausgeber [Preface]
Teil I: Disziplinäre Zugänge zu Kultur und
Interkulturalität
5
Interkulturelle Philosophie und Interkulturalität
[Intercultural philosophy and interculturalism]
Elias Jammal
23
Aktuelle Entwicklungen in der sprachwissenschaftlichen
Forschung zur interkulturellen Kommunikation
[Recent Changes in Linguistic Research on Intercultural Communication]
Dominic Busch
49
Kultur zwischen Ökonomisierung und kreativer Unordnung.
Eine design-theoretische Perspektive
[Designing Culture. Dynamics between economiza-tion and creative mess]
Anne Schreiter
63
Recht und Kultur – Skizze disziplinärer Zugänge
der Rechtswissenschaften zu Kultur und Interkulturalität
[Essay on: How can jurists contribute to the topics and
concepts of culture and in-terculturality?]
Jan-Christoph Marschelke
95
„Ich bin eigentlich anders.“ Subjektive Konstruktionen
ethnischer Identität im Migrationskontext und neue Wege
in der psychologischen Akkulturationsforschung
[„Actually I am different.“ Subjective constructions of ethnic identity in a
migration context and new ways in psychological acculturation research]
Mirjam Hermann/ Maja Schachner/ Peter Noack
Inhalt / Content
Teil II: Methodische Zugänge zum Forschungsgegenstand
Methodische Ansätze und Entwicklungen interkultureller Forschung
in der Wirtschaftspsychologie am Beispiel organisationaler
Einstellungen
117
[Methodological approaches and developments in intercultural research
on business psychology using the example of organizational attitudes]
Karsten Müller/ Regina Kempen/ Tammo Straatmann
Perspektiventriangulation am Beispiel der Kombination
von Gesprächs- und Inhaltsanalyse
143
[Triangulation of perspectives: combining conversation and content analysis]
Elke Bosse
Teil III: Aktuelle Forschungsprojekte
Zur linguistischen Analyse biografisch-narrativer Interviews:
Die Innen- und Außenperspektive von internationalen
Studierenden am Beispiel von zwei aktuellen Forschungsprojekten
167
[A linguistic analysis of auto-biographical narrative interviews:
The internal and exter-nal perspectives of interna-tional students using the
example of two current research projects]
Vasco da Silva/ Helena Drawert
Interprofessionelle Zusammenarbeit in Integrierten Leitstellen
[Inter-professional cooperation in integrated control centers]
Gesine Hofinger/ Verena Jungnickel/ Robert Zinke/ Laura Künzer
181
Inhalt / Content
187
Interkulturelle Online-Communities im
Hochschulbereich: Konzept für ein deutsch-polnisches
Hochschulnetzwerk
[Intercultural communities at institutions of tertiary education:
A concept for a German-Polish university network]
Isabella Waibel
197
Akademische Wissensproduktion
als interkulturelles Forschungsfeld
[Academic communication as an intercultural topic of interest]
Gundula Gwenn Hiller/ Stephan Wolting
Teil IV: Best Practices in interkultureller Lehre und
Forschung
211
Interdisziplinäre Best Practice –
Das Projekt „Globale Systeme und interkulturelle
Kompetenz“ (GSiK) der Universität Würzburg
[An example of interdisciplinary best practice –
The study program „Global Systems and Intercultural Competence“
(GSIC) run by the University of Wuerzburg
Jan-Christoph Marschelke
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Unser Special Issue enthält die Beiträge des 2. Jenaer
Sommer-Symposiums „Interkulturelle Forschung an deutschsprachigen Hochschulen – disziplinäre Perspektiven und
interdisziplinäre Best Practices“. Die Veranstaltung wurde
Anfang September 2011 auf den Dornburger Schlössern und
in der Universität Jena durchgeführt.
Im Mittelpunkt stand dabei die Frage nach Möglichkeiten,
Methoden und praktischen Strategien der Erforschung von
Interkulturalität im deutschsprachigen Raum.
Das Thema war bewusst weit gefasst und sollte Vertreter
unterschiedlicher Fachdisziplinen einladen, aus ihren fachlichen Perspektiven heraus Schnittstellen für kooperative,
interdisziplinäre Forschungsansätze zu markieren. Motiviert
war dieses Vorhaben durch die Beobachtung, dass interkulturelle Forschungstätigkeiten in den vergangenen Jahren
einen deutlichen Aufschwung erfahren haben und inzwischen über das gesamte Spektrum der Fakultäten hinweg
anzutreffen sind. Sie bilden Thema sowohl in den Kultur- und
Kommunikationswissenschaften als auch in den Wirtschafts-,
Rechts- und Sozialwissenschaften oder inzwischen verstärkt
auch in den Technik- und Naturwissenschaften. Eine gemeinsame Verständigungsplattform existiert indes bislang nicht,
was zum Teil zu asynchronen Entwicklungen geführt hat, in
deren Rahmen so manches Rad bereits mehrfach erfunden
worden zu sein scheint.
Die Transparenz interkultureller Forschung und Lehre an
Hochschulen des deutschen Sprachraums zu erhöhen, ist
zentrale Zielsetzung des Hochschulverbands für Interkulturelle
Studien (IKS). Vor diesem Hintergrund lag es nahe, den Hochschulverband IKS als Partner des Symposiums zu gewinnen.
Dies sollte dazu beizutragen, den Aufbau einer Community
interkulturell orientierter ForscherInnen zu unterstützen, die
sich über ihre unterschiedlichen Ansätze und Zugänge zu
interkulturellen Fragestellungen austauscht, voneinander
lernt, neue Perspektiven entwickelt und Synergien lebt. Eine
wichtige Voraussetzung hierfür war durch die vielfältigen disziplinären Hintergründe der Symposiumsteilnehmer gegeben
(siehe Abbildung 1).
1
© Interculture Journal 2012 | 16
Abb. 1: Disziplinäre Primärsozialisationen: Hintergrund der TeilnehmerÌnnen des 2. Jenaer Sommersymposiums. Quelle: Eigene Darstellung.
In vergleichbarer Weise bunt stellte sich das Tableau der Forschungsschwerpunkte der SymposiumsteilnehmerInnen dar:
Abb. 2: Forschungsschwerpunkte der Teilnehmer des 2. Jenaer Sommersymposiums. Quelle: Eigene Darstellung.
Da sich in den Fachdisziplinen unterschiedliche Theorien und
Methoden zur Erforschung interkultureller Fragestellungen
entwickelt haben, ist es geboten, einzelne theoretische
Ansätze und Methoden zu vergleichen, zu reflektieren und
Anknüpfungspunkte aufzuzeigen.
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2
In diesem Sinn setzt sich auch unser Special Issue zum Ziel
fachspezifische Ansätze aus einer theoretischen und methodologischen Perspektive zu beleuchten, Überschneidungspunkte zu skizzieren und mögliche Synergien zu identifizieren. Daher gliedert sich der Band in vier thematische Spektren: 1) Disziplinäre Zugänge zu Kultur und Interkulturalität,
2) Methodische Zugänge zum Forschungsgegenstand, 3) Aktuelle Forschungsprojekte und 4) ein Best-Practice aus der
interdisziplinären Lehre.
Im ersten Themenspektrum geht es um disziplinäre Zugänge
zu Kultur und Interkulturalität. Elias Jammal appelliert in
seinem Beitrag an die interkulturelle Philosophie, zur Professionalisierung und zur wissenschaftstheoretischen Fundierung
interkultureller Forschung verstärkt beizutragen. Dominic
Busch referiert Entwicklungstrends in den Sprachwissenschaften und ihre Positionierung gegenüber Fragestellungen der
interkulturellen Kommunikationsforschung. Anne Schreiter
setzt sich aus einer managementorientierten Perspektive mit
dem Kulturbegriff auseinander und beleuchtet Schnittstellen
zwischen Wirtschaft und interkultureller Kommunikationsforschung. Jan-Christoph Marschelke geht der Frage nach, wie
sich die Rechtswissenschaften mit interkulturellen Fragestellungen befassen (müssen) und welche Zugänge hierbei
gewählt werden. Mirjam Hermann, Maja Schachner und
Peter Noack berichten aus einer psychologischen Perspektive,
wie sich ethnische Identität entwickelt und welche Forschungshinweise sich daraus für die Akkulturationsforschung
ableiten lassen.
Im zweiten Themenspektrum werden methodische Zugänge
zum Forschungsgegenstand sowohl unter quantitativen als
auch unter qualitativen Gesichtspunkten beleuchtet. Karsten
Müller, Regina Kempen und Tammo Straatmann skizzieren
auf der Grundlage einer psychologisch orientierten Forschungslogik die methodischen Entwicklungen und Herausforderungen interkultureller Forschung am Beispiel organisationaler Einstellungen. Elke Bosse beschreibt einen qualitativen Ansatz, die Perspektiventriangulation, um darüber zu
Erkenntnisgewinnen über interkulturelle Trainings gelangen
zu können.
Im dritten Themenspektrum werden aktuelle Forschungsprojekte vorgestellt. Da sich die Projekte in unterschiedlichen
Projektstadien befinden, kommen unterschiedliche Beschreibungsperspektiven zur Geltung. Vasco Da Silva und Helena
Drawert stellen ihre Dissertationsprojekte in den Sprachwissenschaften vor und stellen hierbei ihren gemeinsamen Kern
– die linguistische Analyse biografisch-narrativer Interviews –
in den Mittelpunkt ihrer Beschreibungen. Aus einer interdisziplinären Perspektive fassen Gesine Hofinger, Verena Jung-
3
© Interculture Journal 2012 | 16
nickel, Robert Zinke und Laura Künzer Ergebnisse ihrer Befragung zu Herausfor-derungen der interorganisationalen Kooperation in Integrierten Leitstellen zusammen. Die letzten
beiden Beiträge beziehen sich auf zum Tagungszeitpunkt
soeben erst konzi-pierte Projekte: Isabella Waibel stellt die
Entwicklung interkultureller Communities im Hochschulbereich als Element des interkulturellen Dialogs und Wissensaustauschs vor; Gundula Gwenn Hiller und Stephan Wolting
gehen in ihrem Projekt der Frage nach, wie sich Interkulturalität auf die Wissensproduktion in akademischen Kontexten
auswirkt.
Das vierte Themenspektrum ist Best Practices in der interkulturellen Lehre gewidmet. Jan-Christoph Marschelke ermöglicht in seinem Beitrag Einblicke in den Aufbau und die
Organisation eines interfakultären Projektes der Universität
Würzburg, bei dem es darum geht, Studierende auf das
Handeln in globalen Kontexten vorzubereiten und die interkulturelle Kompetenz zu optimieren. Unter Bezugnahme
unterschiedlicher Ansätze wird dargelegt, wie interkulturelle
Sensibilität oder Kompetenz in der Hochschullehre vermittelt
werden kann.
Wir bedanken uns bei den AutorInnen für die eingereichten
Beiträge und hoffen mit diesem Band Reflexionen über das
Forschungshandeln in interkulturellen Gegenstandsbereichen
anzuregen. Ein ganz besonderer Dank geht an die ErnstAbbe-Stiftung und die Universität Jena, ohne deren finanzielle Unterstützung die Tagung in diesem Rahmen nicht
hätte stattfinden können.
Daniela Gröschke (Jena) und Jürgen Bolten (Jena) im Mai
2012
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4
Jammal: Interkulturelle Philosophie und Interkulturalität
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[Intercultural philosophy
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1998
Professor
für
interkultution,
institution)
tion, institution)
relle Studien an der Hochschule
Heilbronn. Dort leitet er das Orient Institut für Interkulturelle Studien (OIS).
Abstract [English]
Intercultural philosophy is a young field of research. In this
paper, a short history of this field is provided and some major
scholars of intercultural philosophy are presented. After an
overview of the characteristics of intercultural philosophy, a
suggestion is made on extending the current scope of research to include reflections on notions and assumptions of
the research on intercultural communication. The suggestion
made is discussed and exemplified by the notions of culture
and intercultural competence. The suggestion given in this
paper refers mainly to Aristotle and his works on metaphysics
and ethics.
Keywords: Philosophy, intercultural philosophy, intercultural
communication, Aristotle
Abstract [Deutsch]
Interkulturelle Philosophie ist eine junge Forschungsrichtung.
Die Geschichte sowie einige Hauptvertreter der interkulturellen Philosophie werden in diesem Papier vorgestellt. Nach einer näheren Charakterisierung wird ein Vorschlag zur Erweiterung der interkulturellen Philosophie präsentiert und erörtert. Der Vorschlag zielt darauf ab, Begriffe und Annahmen
der Forschung über interkulturelle Kommunikation zu reflektieren. Ferner wird dieser anhand eines Beispiels zu den Begriffen der Kultur und der interkulturellen Kompetenz
exemplifiziert. Dabei wird auf Aristoteles in seinen Schriften
zur Metaphysik und Ethik rekurriert.
Stichworte: Philosophie, interkulturelle Philosophie, interkulturelle Kommunikation, Aristoteles
1.
Einleitung
Man wird wohl kaum sinnvollerweise die Frage stellen,
warum Ethnologen sich mit Interkulturalität beschäftigen.
Höchst wahrscheinlich ruft diese Frage auch bei Sprachwissenschaftlern keine allzu große Verwunderung hervor und bei
Erziehungswissenschaftlern – gerade in Anbetracht des demographischen Wandels, Stichwort Migration, auch nicht
ganz.
Dass aber nun Philosophen mit der Interkulturalität liebäugeln, ruft die Frage nach dem Warum in besonders scharfer
Form hervor. Warum sollen Philosophen, die sich ja bekanntlich mit den ewigen Fragen der Menschheit beschäftigen, also
mit den Fragen nach dem Woher und Wohin, nach dem Sinn,
5
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Jammal: Interkulturelle Philosophie und Interkulturalität
nach der ewigen Ordnung der Dinge etc., warum ausgerechnet sie nun Interkulturalität thematisieren und ob die Begriffsarbeit der Philosophen einen Erkenntnisgewinn in Sachen Interkulturalität hervorbringen kann.
In diesem Beitrag wird versucht, Antworten auf diese Fragen
zu geben.
Zunächst wird auf die Geschichte des interkulturellen Philosophierens und dabei auf die wesentlichen Vertreter und deren Ansätze eingegangen. Dabei soll verständlich gemacht
werden, was Interkulturalität in diesen Ansätzen meint.
Anschließend wird für eine Erweiterung der bestehenden
Ansätze plädiert und die Erweiterung diskutiert. Ein Hauptanliegen dieser ist die Reflexion über Grundbegriffe und
Annahmen der interkulturellen Kommunikation. Am Ende
wird anhand eines Beispiels die Sinnhaftigkeit der Erweiterung der bestehenden Ansätze interkulturellen Philosophierens exemplifiziert.
2.
2.1
Was ist interkulturelle Philosophie (IP)?
Geschichte und Hauptvertreter
Geschichte
Bereits im Jahre 1973 hatte der Philosoph Ram Adhar Mall
regelmäßig einmal im Monat Dozenten, Studenten und Oberstufenschüler eingeladen, um mit ihnen über europäische
und asiatische Philosophie zu diskutieren. Im Jahre 1992 ließen die Mitglieder dieses Zirkels einen Verein beim Amtsgericht Köln eintragen und Gründungspräsident wurde Ram
Adhar Mall. Zurzeit bilden Claudia Brickmann (Uni Köln) und
Georg Stenger (Uni Wien) das Präsidium der Gesellschaft für
interkulturelle Philosophie (GIP) e.V.
Es gibt inzwischen auch eine Wiener Gesellschaft für IP (derzeitiger Stand: Präsidentin ist Ursula Baatz und Vize-Präsident
ist Franz Wimmer, beide von der Uni Wien).
Im Jahre 2004 wurde die Schriftenreihe Interkulturelle Bibliothek ins Leben gerufen und die Gesellschaft für IP veranstaltet
jährlich Konferenzen in und außerhalb des deutschsprachigen
Raums. Eine Zeitschrift mit dem Namen polylog erscheint seit
1998 zweimal jährlich. Herausgeber ist die Wiener Gesellschaft für Interkulturelle Philosophie, der Franz Wimmer von
der Uni Wien vorsteht. Die aktuelle Ausgabe (25 / 2011)
widmet sich der Reflexion über die Entwicklungen auf dem
Gebiet der interkulturellen Philosophie. Andere Beispiele aus
den Inhalten der Zeitschrift sind: In der Ausgabe (24 / 2010)
geht es um das Thema Übersetzen, in der Ausgabe davor (23
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6
Jammal: Interkulturelle Philosophie und Interkulturalität
/ 2010) ging es um das Thema Geld. Es finden sich aber auch
Themen wie Toleranz (21 / 2009), Sinneskulturen (22 / 2009),
Gerechtigkeit (6 / 2000) oder Hybridität (8 / 2001).
Hauptvertreter
Hauptvertreter der IP sind heute neben Ram Adhar Mall und
Franz Wimmer Heinz Kimmerle, Claudia Brickmann, Georg
Stenger, Rolf Eberfeld, Wolfgang Welsch, Bernhard Waldenfels, Dieter Lohmar, Elmar Holenstein, Thomas Göller, Hamid
Reza Yousefi, Raimon Panikkar u. v. a. Nachfolgend wird aus
Platzgründen lediglich kurz auf einige Hauptvertreter eingegangen.
Ram Adhar Mall beschäftigt sich mit einem Vergleich deutscher und indischer Philosophie und diskutiert in seinen zahlreichen Veröffentlichungen unterschiedliche Antworten auf
dieselben philosophischen Fragen. Er beleuchtet also Grundfragen der Philosophie im kulturellen Vergleich. Vieles schrieb
er über Logik (Mall 1998, Mall / Lohmar 1993).
Franz Wimmer beschäftigt sich mit der Interkulturalität und
dem Dialog der Kulturen allgemein (Yousefi / Mall 2005:43).
Etwas pointierter als andere Hauptvertreter stellt Wimmer der
IP die Aufgabe, sie möge die kulturellen Voraussetzungen des
jeweiligen Philosophierens ans Tageslicht bringen. Wimmer
stellt die Frage als Aufgabe: „Welche Werte und welche
Menschenbilder [haben] die regional begrenzten Kulturen
hervorgebracht […], die zur Bewältigung der gegenwärtigen
und absehbaren Menschheitsprobleme fruchtbar sind“
(Wimmer 2004:47). Er schreibt weiter: IP solle „implizite, kulturell bedingte Denkweisen analysieren“ (Wimmer 1998:12).
Heinz Kimmerles Schwerpunkt ist die Philosophie in der SubSahara in Afrika. Darüber hinaus versucht er, die Werke
abendländischer Philosophen, wie z. B. Hegel, aus interkultureller Perspektive zu lesen, so auch in seinem Buch aus dem
Jahre 2005 „Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Interkulturell
gelesen“.
Thomas Göller arbeitet die historischen Bezüge interkulturellen Philosophierens heraus und führt mehrere Beispiele von
Philosophen auf, die – freilich ohne den Begriff zu verwenden
– eine interkulturelle Perspektive aufweisen: Leibniz, Vico,
Schopenhauer etc. Damit will er zeigen, dass eine interkulturelle Perspektive in der Philosophiegeschichte – zumindest bei
einigen Philosophen – nicht unüblich war.
Interessant ist schließlich, dass die genannten Hauptvertreter
IP in der Hauptsache auf drei Philosophen zurückgreifen:
Plessner, Jaspers und Max Scheler. Vor allem wird häufig auf
einen Aufsatz Schelers mit dem Titel „Der Mensch im Zeitalter des Ausgleichs“ (Scheler 1976) Bezug genommen. Der
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© Interculture Journal 2012 | 16
Jammal: Interkulturelle Philosophie und Interkulturalität
Mensch, so Scheler in dem besagten Text, befinde sich auf
der Schwelle in ein neues „Weltalter“, in welchem – einer
Logik des „Ausgleichs“ folgend – die in seinem Wesen angelegten Möglichkeiten weiter „ausgewirkt“ und seine Gruppierungen (Zivilisationen, Kulturen, Rassen, Völker) in den
Verhaltensweisen und Vorstellungsgehalten sich einander
weiter annähern würden (Scheler 1976:151ff.). Mit Fokus auf
die ihm gegenwärtige westliche Gesellschaft und die asiatischen Zentren China, Japan und Indien prognostiziert Scheler
einen voranschreitenden Ausgleich vor allem im Hinblick auf
die spezifischen Welt-, Selbst- und Gottesauffassungen; sodann einen Ausgleich zwischen den Menschen, so z. B. zwischen männlichen und weiblichen „Geistesarten“, zwischen
Kapitalismus und Sozialismus; einen Ausgleich zwischen Jugend und Alter et cetera (ebd.).
Institutionelle Verankerung an Hochschulen
Zum Schluss dieses Abschnittes ist auf die Verankerung interkultureller Philosophie an den Universitäten einzugehen.
Es gibt einen einzigen Lehrstuhl, der sich interkultureller Philosophie explizit verschreibt: Das ist der neulich ins Leben gerufene Lehrstuhl für Philosophie in einer globalen Welt an der
Universität Wien. Lehrstuhlinhaber ist Georg Stenger. Ansonsten, und nach einer Studie von Nausikaa Schirilla an 20
deutschsprachigen Universitäten, ist ein Modul Interkulturelle
Philosophie lediglich an drei Universitäten im Curriculum verankert: Bremen, Wien und Köln (Schirilla 2011:31ff.).
2.2
Grundverständnis von Philosophie und IP
Die o. g. Hauptvertreter IP würden vermutlich dem Vorschlag
Wimmers zustimmen, wonach Philosophie Antworten auf
ewige, in allen Kulturen zu findende ontologische oder erkenntnistheoretische oder wert- und normentheoretische
Grundfragen sucht (Wimmer 2004:26). Dies kann sie tun,
indem sie Begriffe definiert, Argumente entwickelt, Methoden des Erkenntnisgewinns und der Irrtumsvermeidung
reflektiert. Aber nicht nur. Die Antworten können, so
Wimmer, auch in Form von oral überlieferten Mythen oder in
Religionen erfolgen (ebd.).
Panikkar geht hier am weitesten, in dem er apodiktisch behauptet: „Philosophie ist Mythos“ (Panikkar 1998:13ff.). Ram
Adhar Mall schreibt in der ersten polylog-Ausgabe: „Philosophie ist ein Kulturprodukt, und jede Kultur enthält Philosophie, mag diese auch im Poetischen oder gar Mythologischen
impliziert sein“ (Mall 1998:54). Nach Kimmerle gehört zu jeder menschlichen Kultur eine spezifische Form der Philosophie (2002:47). Für ihn gilt als Philosophie „jede Deutung der
Welt und des menschlichen Lebens, die mit dem Anspruch
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8
Jammal: Interkulturelle Philosophie und Interkulturalität
auf rationale Begründbarkeit unternommen wird“ (ebd.:54).
Die rationale Begründbarkeit, so Kimmerle, besteht jedoch
nicht ausschließlich in der logischen Konsistenz und in der
argumentativen Richtigkeit. Vielmehr versteht er darunter einen „Denkzusammenhang, der sich in jeder Hinsicht nur der
eigenen Mittel des Denkens bedient“ (ebd.).
Mit diesem Philosophieverständnis ist es den Autoren möglich, die ältesten schriftlichen Dokumente, das sind Rig-Veda
und Artharva-Veda aus der indischen Überlieferung (zwischen
2000 und 1000 v. u. Z. entstanden) als philosophische Dokumente zu bezeichnen. Dieser Logik folgend, gilt z. B. auch
das Gilgamesch-Epos als philosophisches Traktat.
Es dürfte nun erkennbar geworden sein, dass die Vertreter
der IP die in der Literatur zur Philosophiegeschichte verbreitete Unterscheidung zwischen Mythos und Logos (vgl. z. B.
Schadewaldt 1979) jedenfalls relativieren, wenn nicht gänzlich ablehnen. Für Kimmerle ist die Entstehungsgeschichte der
Philosophie die Geschichte der nicht abschließbaren relativen
Herauslösung des Philosophischen aus den mythischen, poetischen oder auch religiösen Formen des Denkens (Kimmerle
2002:55). IP, so lautet also die erste These, stellt einen abgeschlossenen Übergang vom Mythos zum Logos als Weg zur
Philosophie in Frage.
Eine etwas andere Auffassung zum Verhältnis von Mythos
zum Logos vertritt Christian Thies (2011). Philosophieren, so
Thies, ist das systematische Nachdenken über zentrale Probleme unseres Lebens, die sich z. B. aus den Fragen Kants
ergeben: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf
ich hoffen? Was ist der Mensch? (Thies 2011:192). Was Thies
unter „systematisch“ verstanden haben möchte bzw. ob sein
Begriffsverständnis es erlaubt, auch geschriebene Mythen als
philosophische Werke zu betrachten, ist in seinen Ausführungen nicht ganz klar. Er unterscheidet fünf Formen einer „philosophischen Interkulturalität“ (ebd.:202ff.), die seinen Begriff interkulturellen Philosophierens weiter verdeutlichen:
Vernichtung, Transfer, Rezeption, Gedankenanstoß und Desinteresse. Dadurch wird klar, dass sein Begriff interkulturellen
Philosophierens im Wesentlichen die Beziehungen zwischen
Philosophien meint bzw. wie sie aufeinander wirken (ebd.).
So verstanden, folgert er richtigerweise, dass das Philosophieren schon immer interkulturell war und heute noch ist.
Weitere Thesen i. d. H. von Mall und Wimmer zum interkulturellen Philosophieren lassen sich wie folgt zusammenfassen:
9
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Jammal: Interkulturelle Philosophie und Interkulturalität
•
IP ist keine Disziplin neben der Philosophie. Auf der
Homepage der GIP ist zu lesen: „Interkulturelle Philosophie versteht sich […] nicht als eine Philosophie innerhalb
einer jeweils bestehenden Philosophie, auch ist sie nicht
Theorie der Kulturen so wenig wie eine besondere Art der
Kulturtheorie; sie ist überhaupt nicht ein besonderes Teilgebiet der Philosophie; sondern sie betrifft die Grundfragen der Annäherung aller Weltphilosophien untereinander. Dazu müssen all diese Traditionen aber in der gesamten thematischen und disziplinären Breite der in ihnen
entfaltenden Weltentwürfe zur Sprache kommen können
und Gegenstand der Forschung sein“ (http://www.intgip.de).
•
IP ist eine kritische Denkungsart innerhalb der Philosophie. Sie übt Zentrismuskritik aus: Nicht die abendländische Philosophie ist die einzige Philosophie. Man denke
dabei an Heidegger, der die Formulierung, Philosophie sei
abendländisch, als eine Tautologie ansieht (Heidegger
1981). Der Philosophiebegriff, so Heidegger, ist griechisch
und folglich ist Philosophie nur abendländisch (ebd.). Der
Begriff polylog, den Franz Wimmer einführte, steht für
verschiedene Philosophien, von denen keine besser oder
schlechter ist als andere.
•
IP will des Weiteren Philosophiebegriffe entkolonialisieren,
in dem sie nicht abendländische Philosophien in ihren eigenen Begriffen sprechen lässt. Folglich finden wir in den
Schriften zur IP zahlreiche Versuche, andere Philosophien
als die abendländische vorzustellen und zu zeigen, dass
sie ebenso ernstzunehmende Philosophien sind wie auch
die abendländische Philosophie. Beispiele: Afrikanische
1
Philosophie, lateinamerikanische etc. IP versucht somit,
die Philosophiegeschichte neu zu schreiben, auch in dem
sie sie vom Rassismus befreit (Wimmer 1998:5ff).
•
Und schließlich: IP versucht, die Grundfragen der
Menschheit in allen Kulturen aufzuspüren und deren
Antworten darauf mit einander ins Gespräch zu bringen.
Die Antworten auf die ewigen Fragen seien, so Mall, sich
ähnlich im Sinne von Wittgensteins Familienähnlichkeit.
Sie ähneln sich eben nicht in allen Merkmalen, und doch
2
sind sie sich ähnlich (Mall 1998:54ff.). Als Beispiel: Mall
unternimmt den Versuch, die Fragen der Logik aus aristotelischer Sicht mit indischen Syllogismus-Ansätzen zu vergleichen.
Weitere Charakterisierungen IP erfolgen nun in Bezug auf die
Begriffe der Kultur und der Interkulturalität.
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10
Jammal: Interkulturelle Philosophie und Interkulturalität
3.
Kultur und Interkulturalität
Wimmer schreibt: „Mit der Kultur einer Gesellschaft, eines
Volkes, eines Menschen bezeichne ich […] etwas intern Universelles, die jeweilige Einheit der Form aller Lebensäußerungen einer Gruppe von Menschen, und wir grenzen sie von
der Kultur einer anderen Gruppe ab, welche wiederum für
diese intern universell ist“ (1998:8). Für ihn bezeichnet Kultur
einen statischen wie auch einen dynamischen Sachverhalt
(ebd.) und „wird der statische Aspekt bei der Beschreibung
menschlicher Gesellschaften verabsolutiert, so führt dies zu
Vorstellungen von ‘kulturellen Inseln‘, die reinlich voneinander getrennt existieren“ (ebd.:9). Die Verabsolutierung des
rein dynamischen Aspekts hingegen, so Wimmer, kommt
dem Verhalten aus reiner Spontaneität gleich und stellt den
anderen logischen Grenzwert dar. In Wahrheit, so Wimmer,
bewegt sich Kultur zwischen beiden Extremen: „Womit wir es
in Wirklichkeit zu tun haben, könnte vielmehr die Formel
´cultura creata quae creat` bezeichnen“ (ebd.). Es gibt jeweils
den bestimmten Zustand von Vorstellungen, Normen, Anschauungen einer Gesellschaft oder Gruppe von Menschen,
innerhalb dessen die einzelnen Mitglieder handeln, denken
und fühlen. Dieser Zustand verändert sich jedoch durch und
in den einzelnen Akten der jeweiligen Menschen, wobei geringere und stärkere Brüche stattfinden. Der Grad an Dynamik und Kreativität ist höchst unterschiedlich. Zwei Dinge, so
Wimmer,
„müssen wir uns vergegenwärtigen, wenn wir von den ‘Kulturen‘ sprechen, die aus der Geschichte und der Gegenwart bekannt sind: Erstens,
dass es sich um Sachverhalte handelt, die sozusagen einen Kosmos, eine
regelhafte Einheit schaffen. Kulturelle Einheiten tendieren dazu, ‘intern
universell‘ zu sein, das heißt, alle Lebensbereiche und Ausdrucksweisen der
Menschen, die sie repräsentieren, zu bestimmen. Zweitens sind wir seit
Beginn der Neuzeit mit dem Phänomen konfrontiert, dass wesentliche Züge
einer alten Kultur global wirksam etabliert werden, dass also eine globale
‘extern universelle‘ Kultur entsteht“ (Wimmer 2004:44ff.)
Beim Begriff der Interkulturalität wird auf die bekannte Unschärfe der Unterscheidung zwischen Inter- und Intrakulturalität hingewiesen. Das Präfix inter in dem Begriff der IP weist
auf einen Zwischenraum hin, in dem Philosophien miteinander ins Gespräch kommen. Es geht also darum, zu zeigen,
welche Antworten die verschiedenen Philosophien auf die
ewigen Fragen der Menschheit gegeben haben. Wie oben
dargelegt wurde, handelt es sich um eine Familienähnlichkeit
zwischen den Antworten. Ähnlich argumentiert Thies im Rekurs auf Ottfried Höffe: Die Philosophie sei durch ihre lange
Geschichte und durch ihren multikulturellen Ursprung dafür
prädestiniert, als ein „Anwalt der Menschheit“ aufzutreten
(Thies 2011:204).
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Jammal: Interkulturelle Philosophie und Interkulturalität
Leider finden wir weder bei Mall, noch in den Schriften von
Wimmer und Kimmerle Bezüge zu den aktuellen Diskursen
der interkulturellen Kommunikation. Dies wird erst recht
deutlich, wenn man sich die Ausführungen von Hamid Reza
Yousefi zu interkultureller Kompetenz anschaut. Auch er
bleibt leider hinter dem Forschungsstand in der interkulturellen Kommunikation zurück (vgl. hierzu Yousefi / Braun
2011:51). Wenn auf die Literatur der interkulturellen Kommunikation Bezug genommen wird, dann erfolgt dies selektiv, in Nebensätzen und in Fußnoten (ebd., siehe auch Thies
2011). Dies ist symptomatisch für die derzeitige interkulturelle
Philosophie: Bei allen Hauptvertretern der IP gilt, dass sie den
Stand der Diskussionen in der interkulturellen Kommunikation nicht kommentieren. Dass dies als Mangel anzusehen ist,
soll im Laufe dieses Aufsatzes gezeigt werden.
Jedenfalls trifft die Aussage von Thies in diesem Zusammenhang nicht uneingeschränkt zu, wonach die Philosophie stärker als alle anderen universitären Fächer eine Vermittlungsfunktion zwischen den verschiedenen Wissenschaften hätte
und in diesem Sinne, so Thies, interkulturell sei (Thies
2011:200). Jedenfalls erfüllt sie diese Funktion in Bezug auf
das Fach der interkulturellen Kommunikation nicht einmal in
einer annähernd befriedigenden Weise. Ob dies daran liegt,
dass in der interkulturellen Kommunikation weiterhin darüber
debattiert wird, ob sie eine Disziplin darstellt oder nicht (vgl.
Moosmüller 2007), mag dahin gestellt sein.
Elmar Holenstein, der die zwei Fragen von Leibniz (Warum ist
überhaupt etwas, und nicht vielmehr nichts?) und Locke (Wie
ist es möglich, dass bare, nicht denkende Materie ein denkendes, intelligentes Wesen hervorbringt?) als zentrale,
transnationale Fragen der Philosophie (Holenstein 2003) betrachtet, stellt in gewisser Weise eine Ausnahme unter den
Autoren zur interkulturellen Philosophie dar, da er – wenn
auch implizit – auf die Diskurse in der interkulturellen Kommunikation Bezug nimmt. In einer Schrift mit dem Titel „Ein
Dutzend Daumenregeln zur Vermeidung interkultureller Missverständnisse“ arbeitet er scharfsinnig heraus, wie das Sprechen über Kulturen Rassismen und Verunglimpfungen unterliegt und wie man diese vermeiden kann (Holenstein 2003).
Er bezieht sich – wenn auch indirekt – auf die Diskurse in der
interkulturellen Kommunikation und zeigt in amüsanter Weise auf, welche Fehler den Interkulturalisten unterlaufen können.
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Jammal: Interkulturelle Philosophie und Interkulturalität
4.
Ein zentraler Kritikpunkt
Es ist sicherlich nicht abwegig, Ähnlichkeiten zwischen philosophischen Fragen über alle Kulturen hinweg aufzuzeigen
und die unterschiedlichen Antworten miteinander ins Gespräch zu bringen. Die Frage bleibt aber offen, von welchem
Standpunkt aus solche Analysen und Vergleiche erfolgen
können. Thomas Göller schreibt dazu: Es bleibt offen, „ob die
Geltung (philosophischer) Argumentationsregeln – und damit
die von Denkformen und Handlungsregeln […] ausschließlich
auf den kulturellen Kontext bezogen und in ihrer Bezogenheit
abhängig von ihm ist bzw. ob sie auch unabhängig vom jeweiligen kulturellen Kontext bestehen kann“ (Göller
2007:275).
Seit ihrer Entstehung in den achtziger Jahren des letzten
Jahrhunderts bleibt somit die Frage in der interkulturellen Philosophie offen, ob und wie die Spannung „zwischen beanspruchter Unbedingtheit philosophischer Aussagen in ihrer
kulturellen Bedingtheit“ (Göller 2007:275) aufgelöst werden
kann.
5.
Erweiterung: Interkulturelle Philosophie (IP) als Reflexion der interkulturellen Kommunikation
Wenn man nach dem Hauptanliegen der Philosophie im Bezug zu anderen Wissenschaften gefragt wird, dann ist eine
weitverbreitete und wohl durchaus sinnvolle Antwort: Philosophie problematisiert die Grundbegriffe der Wissenschaften
und thematisiert damit die impliziten Grundannahmen der
Wissenschaften. Diese können das nicht leisten, zumindest
solange sie sich ihrem jeweiligen Gegenstand widmen. Würden Physiker sich mit dem Begriff des unendlichen Raums
jenseits der physikalischen Definitionen befassen, sie würden
aufhören, Physik zu betreiben. Gleiches gilt für alle anderen
Wissenschaften.
Folgt man dieser Annahme über das Hauptanliegen der Philosophie, dann ergibt sich im Hinblick auf die IP die Schlussfolgerung, dass sie die Grundbegriffe u. a. der interkulturellen
Kommunikation problematisieren müsste. Abgesehen von
Elmar Holensteins Arbeiten (Holenstein 2003) tut sie dies bislang nicht. IP wäre damit eine Reflexion über die Grundbegriffe und Diskurse der interkulturellen Kommunikation. Die
Frage, wozu die IP dies leisten soll, ergibt sich eigentlich geradezu von selbst. Ansätze der interkulturellen Kommunikation greifen häufig unreflektiert auf Begriffe und Modelle anderer Wissenschaften, auch auf solche der Philosophie zurück. Zentrale Begriffe werden zuweilen leichtfertig verwendet und kaum auf ihre philosophische Geschichte hin unter-
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Jammal: Interkulturelle Philosophie und Interkulturalität
sucht. Würden die Interkulturalisten die philosophisch beladenen Grundbegriffe und Annahmen problematisieren, sie
würden das Feld der interkulturellen Kommunikation verlassen. Genau dies soll die IP leisten. Sie soll zeigen, ob und inwiefern die übernommenen Begriffe und Modelle in der interkulturellen Kommunikation plausibel und Erkenntnis erweiternd sind sowie mögliche Denkalternativen anbieten.
Demjenigen, der immer noch einwendet, dies sei auch das
Geschäft der interkulturellen Kommunikation, sei nachfolgendes Beispiel gewidmet, in dem gezeigt wird, wie IP sinnvolle Reflexion der interkulturellen Kommunikation sein kann.
6.
Ein Beispiel
In seinem Aufsatz „Unschärfe und Mehrwertigkeit: Interkulturelle Kompetenz vor dem Hintergrund eines offenen Kulturbegriffs“, erschienen in dem Sammelband „Perspektiven
interkultureller Kompetenz“ , stellt Jürgen Bolten (2011:5570) die These auf, dass unsere Bemühungen um eine Klärung
der Begriffe Kultur und interkulturelle Kompetenz implizit von
der Maxime bestimmt sind, eindeutige Zuordnungen und
Klassifizierungen zu erreichen. Das wiederum sei einem rigiden Entweder-Oder-Denken geschuldet, das sich stets in Extremen bewegt: 0 und 1, wahr oder falsch, 0 oder 100% etc.
Bolten plädiert für eine andere Denk-Logik. Mit der Fuzzylogik, die zwischen den Extremwerten unendlich viele Schattierungen kennt, wäre man in der Lage, die Vieldeutigkeit in der
Zuordnung und Klassifizierung nicht als Mangel zu sehen.
Vielmehr wäre die Vieldeutigkeit die Normalität (ebd.).
In einem weiteren Schritt führt Bolten die erwähnte implizite
Maxime bzw. die Rigidität auf Aristoteles bzw. auf dessen
Logik zurück, genauer auf den Satz des Widerspruchs: Eine
Aussage A kann nicht gleichzeitig wahr und falsch sein. Oder
anders: A kann nicht sein und gleichzeitig nicht sein.
Die Fuzzylogik biete hier einen Ausweg, so Bolten, da sie zwischen A und Non-A weitere Zustände des Seins identifiziert.
Es gebe dann nicht nur A und Non-A, sondern auch Zustände
des Seins, in denen etwas von A und etwas von Non-A
koexistieren. Seine Beispiele dafür sind: Das Paradoxon der
lügenden Kreter, das Glaswasser, das halb voll und halb leer
ist oder eben der Zustand von Kunden, weder zufrieden noch
unzufrieden zu sein.
Nun wird man sicherlich Bolten zustimmen, dass die Aristotelische Logik tatsächlich den Satz des Widerspruchs zum
Grundpfeiler der (wie wir heute sagen würden – formalen)
Logik erhebt. Und wir werden sicherlich nicht bestreiten, dass
östliche Denkströmungen das Entweder-Oder verbinden, wie
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Jammal: Interkulturelle Philosophie und Interkulturalität
z. B. die Idee vom Yin und Yang, auf die Bolten auch eingeht.
Ram Adhar Mall betont auch, dass die Janina-Logik nicht so
sehr „die Gültigkeit, sondern nur die bedingungslose Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch“ bestreitet (1998:65).
Es ist allerdings zu fragen, ob Aristoteles tatsächlich den Satz
des Widerspruchs auf alle Bereiche des Lebens anwendet
oder nicht.
Schauen wir zunächst in die Metaphysik des Aristoteles. Dort
finden wir den denkwürdigen Satz, man dürfe keineswegs
auf allen Gebieten mathematische Genauigkeit fordern (Aristoteles Die Metaphysik, Buch α, 10-15). Was das zu bedeuten
3
hat, erfahren wir genauer in der Nikomachischen Ethik.
Da wo es um das soziale Handeln geht, so Aristoteles, ist eine
eindeutige Zuordnung nach dem Schema richtig und falsch
kaum möglich. Die Wahrheit könne nur grob in Umrissen angedeutet werden. Sie ist nicht im mathematischen Sinne eindeutig bestimmbar. Dies wiederholt Aristoteles mehrfach in
der Nikomachischen Ethik (z. B.: Die Nikomachische Ethik,
Buch I, 1094b 13-1095a 8).
Aristoteles verteidigt in der Nikomachischen Ethik die Auffassung, dass es im menschlichen Zusammenleben bzw. im sozialen Handeln darum geht, situativ angemessene Mittelwege
zu finden. Der Mittelweg als Ergebnis eines gelungenen MitSich-Zu-Rate-Gehens (Prohairesis), ist des Näheren zu bezeichnen als weder zu viel noch zu wenig. Er liegt eben im
Zwischen und dieses Zwischen kann je nach Situation variieren. Vor allem sind es die Stellen in 1106a 14 - b3 der Nikomachischen Ethik, die man heranziehen sollte. Da heißt es:
„Unter dem Mittleren des Dinges verstehe ich das, was von
den beiden Enden gleiches Abstand hat und für alle Menschen eines ist und dasselbe. Mittleres dagegen in Hinsicht
auf uns ist das, was weder zu viel ist noch zu wenig: dies jedoch ist nicht eins und dasselbe für alle“. Es ist die Urteilskraft des lebensklugen Menschen, was das Treffen der Mitte
möglich macht. Aristoteles nennt die Urteilskraft Orthos Logos. Man kann sich das Mittlere beispielhaft an den Begriffen
der Selbstbeherrschung (Mäßigung), der Großzügigkeit und
der Tapferkeit verdeutlichen. Das Mittlere der Selbstbeherrschung (Mäßigung) liegt zwischen Wollust und Stumpfheit,
Großzügigkeit als Mittleres liegt zwischen Verschwendung
und Geiz und bei der Tapferkeit schließlich geht es um das
Mittlere zwischen Tollkühnheit und Feigheit. Dass das Mittlere stets situativ variieren kann, verdeutlicht MacIntyre wie
folgt: „die gleiche Handlung, die in einer Situation Großzügigkeit ist, könnte in einer anderen Verschwendungssucht
und in einer dritten Geiz sein“ (MacIntyre 1995:207).
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Jammal: Interkulturelle Philosophie und Interkulturalität
Befragt man den Aristotelischen Text nach dem Vermögen,
das das Treffen der Mitte ermöglicht, so findet man die Antwort in seinen Erläuterungen zum Begriff der Phronesis (Die
Nikomachische Ethik Buch VI). Phronesis, meistens mit „praktische Vernünftigkeit“ oder „sittliche Trefflichkeit“ übersetzt,
ist ein dianoetisches Vermögen, das die Anwendung eines
Allgemeinen auf ein Besonderes erlaubt.
Es kann hier nicht genauer auf die Begriffe des Mittleren, der
Phronesis etc. bei Aristoteles eingegangen werden, ohne den
Rahmen des Beitrags zu sprengen. Soviel mag jedoch klar
geworden sein: Aristoteles schränkt den Gültigkeitsbereich
der formalen Logik ein. Der Satz des Widerspruchs hat im Bereich des sozialen Handelns nur bedingt seine Gültigkeit. Im
Bereich des sozialen Handelns ist mit Ungenauigkeit und Unbestimmtheit zu leben. Aristoteles weiß sehr wohl, dass die
Bestimmungen A und Non-A im Bereich des sozialen Handelns nicht diejenigen Bestimmungen sind, die alleine uns zur
Erkenntnis verhelfen. Vielmehr ist es die Erfahrung, die Ge4
wöhnung, die Erziehung , das induktive Schließen etc., was
den Menschen dazu befähigen soll, das jeweils situativ Mittlere zu finden, wobei das Mittlere durch nicht zu viel und nicht
zu wenig gekennzeichnet ist. Das dianoetische Vermögen
zum Treffen der Mitte ist die Phronesis und sie lässt sich von
den Charaktertugenden nicht trennen (vgl. MacIntyre
1995:197ff.).
In Bezug auf Begriffe wie Kultur und interkulturelle Kompetenz – so können wir schlussfolgern – wäre es abwegig, mathematische Genauigkeit zu fordern. Dies soll nun am Begriff
des interkulturellen Handelns etwas deutlicher gemacht werden.
7.
Exkurs: Interkulturelle Kompetenz und interkulturelles Handeln
Interkulturelles handeln, soweit wir es nicht instrumentell auffassen (sonst wäre es Techné), ist auch soziales Handeln. Es
geht um menschliches Zusammenleben und insofern ist es
nicht abwegig, die Überlegungen Aristoteles zur sittlichen
Trefflichkeit (Phronesis) auf interkulturelles Handeln zu übertragen.
Drei eng verwandte Argumentationsfiguren aus der Antike
sind heute für das Verständnis interkultureller Kompetenz
und interkulturellen Handelns aktueller denn je: Die eine betrifft Platons Argument, wonach die Experten einen größeren
Schaden anrichten können als Laien. Sein Paradebeispiel ist
der Arzt. Dieser weiß zwar am besten, wie ein Patient zu heilen ist, jedoch ist er gleichzeitig am besten in der Lage, Scha-
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Jammal: Interkulturelle Philosophie und Interkulturalität
den anzurichten. Die zweite Argumentationsfigur betont,
dass die Beherrschung einer Technik noch nichts darüber aussagt, ob ein (im rudimentären Sinne) kompetenter Mensch
auch Gutes hervorbringt. Es gibt eben den kompetenten
Dieb, den kompetenten Verräter oder eben den kompetenten
Mörder. Kompetenz in dieser rudimentären Form ist also kein
Garant für gute Taten.
Übertragen auf die Frage, was interkulturelle Kompetenz ist,
können wir aus den obigen zwei Argumentationsfiguren verstehen, warum sich die Forschung weitgehend darin einig ist,
dass interkulturelle Kompetenz strukturell drei Elemente umfasst (vgl. Barmeyer / Davoine 2011:301ff, Jammal / Schwegler 2007:58ff.): Wissen, Können und Haltung (griechisch:
Hexis). Bleibt man nur bei Wissen und Können, so wird interkulturelle Kompetenz instrumentell und gleicht dann einem
Kleidungsstück oder besser einer Maske, die man je nach Bedarf an- und ablegen kann. Das ist Kompetenz in ihrer rudimentären Form. Die Vermittlung von Rezeptwissen und
Übungen zur situativen Anwendung von Handlungsrezepten
in interkulturellen Situationen mag zwar eine Art Kompetenz
hervorbringen, jedoch kann der in diesem Sinne Kompetente
auch großen Schaden anrichten. Er kann besser als der Nichtkompetente seine Partner täuschen und manipulieren. Er
kann so tun, als ob er seine Geschäftspartner anerkennen
und respektieren würde, in dem er sein Verhalten an die andere Kultur anpasst und sein schauspielerisches Können für
den eigenen Vorteil auf Kosten des Anderen missbrauchen.
Fragt man nun weiter nach dem interkulturellen Handeln, so
kann auf die dritte Argumentationsfigur zurückgegriffen
werden. Diese besagt, dass soziales Handeln allgemein eine
Sache der Phronesis ist, eben der praktischen Vernünftigkeit.
Interkulturelle Kompetenz hieße dann, das angemessene
Mittlere in der jeweiligen Situation zu finden und entsprechend zu handeln. Entscheidend ist dabei, dass das Mittlere
erstens je nach Situation variieren kann und somit nicht eindeutig bestimmbar ist und zweitens, dass die Phronesis im
außermoralischen Sinne normativ ist (vgl. Frankfurt 2005).
Denn: Am Tun von praktisch vernünftigen Menschen kann
abgelesen werden, wie „man“ sich in bestimmten Situationen zu verhalten hat, freilich ohne dass daraus eine allgemeine Regel abgleitet werden könnte. Welches Verhalten in einer
bestimmten Situation angemessen und welches nicht angemessen ist, lässt sich nicht angeben. Phronesis ist eben die
situativ jeweils verschiedene angemessene Anwendung des
Allgemeinen auf ein Besonderes (vgl. Rese 2007).
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Jammal: Interkulturelle Philosophie und Interkulturalität
8.
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
Aristoteles hat den Gültigkeitsbereich des Satzes vom Widerspruch und das Konzept des Mittleren für den Bereich des
menschlichen Zusammenlebens klar umrissen. Er hat tatsächlich – da haben Jürgen Bolten und Ram Ahdar Mall Recht –
die ersten Grundlagen der formalen Logik gelegt. Aber er hat
auch einen anderen Wahrheitsbegriff für das menschliche
Zusammenleben aufgestellt. Diesen näher zu beleuchten, wäre eine Aufgabe interkulturellen Philosophierens. IP kann
dann genauer zeigen, was Familienähnlichkeit der Antworten
auf die Frage „Was soll ich tun“ bzw. „Wie soll ich handeln“
bedeutet. An dem obigen Beispiel wurde deutlich, dass es
eine Ähnlichkeit zwischen östlichen und abendländischen
Denkweisen gibt. Yin und Yang als Ort geradezu unendlich
vieler Begegnungen zwischen scheinbar extremen Polen hat
sein Pendant im Aristotelischen Mittleren. Was zu klären wäre, ist allerdings die Frage, ob eine solche Trennung zwischen
den Gültigkeitsbereichen von Wahrheitsbegriffen tatsächlich
spezifisch für die abendländische Philosophie ist. Ram Adhar
Mall zeigt überzeugend auf, dass syllogistisches Schließen in
der indischen Philosophie keine klare Trennung zwischen Gültigkeitsbereichen kennt. So etwas wie formale Logik, so Mall,
kennt die indische Philosophie nicht (1998:65). Er schreibt
weiter: „Während der Aristotelische Syllogismus in der Regel
deduktiver und formaler Natur ist, bleibt der indische Syllogismus mehr im lebendigen Kontakt mit den erkenntnistheoretischen und psychologischen Faktoren“ (ebd.). Es findet also – aus aristotelischer Sicht – eine Vermischung der Gültigkeitsbereiche statt. Die Vermutung drängt sich also auf, dass
wir es in diesem Zusammenhang mit Unterschieden zwischen
den Philosophien zu tun haben und es wäre interessant zu
wissen, woher diese Unterschiede stammen.
Es kann hier nur am Rande angemerkt werden, dass die Geschichte der Philosophie zahlreiche Belege dafür aufweist, wie
man mit Begriffen jenseits mathematischer Genauigkeit vernünftig umgehen kann. Es ist allerdings kaum zu bestreiten,
dass ein Siegeszug des Exaktheitsideals in den Geisteswissenschaften zu verzeichnen ist. Mit Exaktheitsideal ist gemeint,
dass Begriffe und Ansätze – wie Jürgen Bolten ausführt –
analog zur mathematischen und naturwissenschaftlichen Genauigkeit eindeutig bestimmbar sein sollten. Es meint also
nicht, dass genau argumentiert und analysiert werden soll.
Dies ist ja nur wünschenswert. Vielmehr wird damit angestrebt, sowohl die Wahrheitskonzepte der Mathematik und
der Naturwissenschaften als auch deren Methodik auf die
Geistes- und Kulturwissenschaften zu übertragen.
In vielen Abschlussarbeiten von Studenten ist es leider üblich
geworden, zu bedauern, dass der Begriff der Kultur nur man© Interculture Journal 2012 | 16
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Jammal: Interkulturelle Philosophie und Interkulturalität
nigfach definierbar sei. Dabei ist es in der Philosophie eher die
Normalität, dass man sich bestimmten intelligiblen Begriffen
nur im Rahmen von theoretischen Perspektiven annähern
kann und, dass die Perspektiven jeweils andere Aspekte der
intelligiblen Begriffe beleuchten können. Dabei geht es nicht
um Wahrheit oder Falschheit von Theorien im Sinne von naturwissenschaftlicher Exaktheit. Heidegger und Gadamer, um
nur zwei Beispiele zu nennen, haben andere Wahrheitsbegriffe entwickelt. Darauf kann hier leider nicht genauer eingegangen werden.
Natürlich kann man auf östliche Philosophien und / oder auf
die Fuzzylogik, die ja eigentlich im Ringen um das mathematische Erfassen von Zwischenzuständen entstanden ist, zurückgreifen, um das Exaktheitsideal in die Schranken zu weisen.
Aber vielleicht wäre es auch fruchtbar, sich mit Aristoteles zu
beschäftigen und die Frage zu stellen, warum sein Ansatz des
Mittleren im menschlichen Zusammenleben bei den Interkulturalisten in Vergessenheit geraten ist bzw. nicht rezipiert
wird.
IP könnte vor allem die Begriffe und Argumente der interkulturellen Kommunikation reflektieren und zur Weiterführung
der Diskussionen um die zentralen Begriffe derselben beitragen, so z. B. in Bezug auf die Begriffe Kultur und Interkulturalität. Das steht noch aus. Jürgen Bolten hat implizit Recht und
damit spricht er eine Hauptaufgabe interkulturellen Philosophierens an: Dem Siegeszug des Exaktheitsideals in den Geisteswissenschaften Einhalt zu gebieten. Sein Vorschlag ist, auf
die mathematisch-technisch belastete Fuzzy-Logik zurückzugreifen. Das Plädoyer dieses Beitrags lautet: Lassen Sie uns
Aristoteles lesen.
Literatur
Aristoteles: Die Metaphysik. Übersetzt und herausgegeben von Franz
Dirlmeier. 1970. Stuttgart: Reclam.
Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. Übersetzt und herausgegeben von
Franz F. Schwarz. 1980. Stuttgart: Reclam.
Barmeyer, C. / Davoine, E. (2011): Kontextualisierung und interkulturelle
Kompetenz in einer deutsch-französischen Organisation: ARTE. In: Dreyer
W. / Hößler U. (Hrsg.): Perspektiven interkultureller Kompetenz. Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht, S. 299-315.
Bolten, J. (2011): Unschärfe und Mehrwertigkeit: Interkulturelle Kompetenz
vor dem Hintergrund eines offenen Kulturbegriffs. In: Dreyer, W. / Hößler,
U. (Hrsg.): Perspektiven interkultureller Kompetenz. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 55-70.
Frankfurt, H. G. (2005): Gründe der Liebe. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
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Günther Neske.
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Kimmerle, H. (2002): Interkulturelle Philosophie. Eine Einführung. Hamburg: Junius.
Kimmerle, H. (2005): Georg Wilhelm Friedrich Hegel interkulturell gelesen.
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MacIntyre, A. (1995): Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der
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Mall, R. A. / Lohmar, D. (1993): Philosophische Grundlagen der Interkulturalität. Studien zur interkulturellen Philosophie. Amsterdam - Atlanta: Rodopi B. V.
Moosmüller, A. (2007): Interkulturelle Kommunikation. Konturen einer
Disziplin. Münster u. a.: Waxmann.
Panikkar, R. (1998): Religion, Philosophie und Kultur. polylog 1998(1), S.
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Berlin: Akademie Verlag, S. 127-150.
Schadewaldt, W. (1979): Die Anfänge der Philosophie bei den Griechen.
Die Vorsokratiker und ihre Voraussetzungen. Tübinger Vorlesungen Band 1.
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Jammal: Interkulturelle Philosophie und Interkulturalität
Yousefi, H. R. / Braun, I. (2011): Interkulturalität. Eine interdisziplinäre Einführung. Darmstadt: WBG.
Nur am Rande sei erwähnt, dass dabei das Problem der
Übersetzung auftaucht.
1
Familienähnlichkeit besagt, dass Vertreter einer Kategorie
nicht über Eigenschaften verfügen müssen, die allen Vertretern gemeinsam sind. Sie werden vielmehr durch Familienähnlichkeit zusammengehalten. Das heißt, durch die Unschärfe der Kategoriengrenzen werden auch untypische Vertreter
einer Kategorie noch derselben zugerechnet, obwohl sie
kaum Eigenschaften teilen mit den Vertretern, durch die die
Kategorie definiert wird.
2
Ethisches Handeln ist nach Aristoteles alles Handeln, das
nach dem Guten strebt und das die Arete, die sittliche Trefflichkeit, zum Inhalt hat. Es geht um eine Philosophie des
menschlichen Zusammenlebens und um eine nicht moralische
Normativität. Zu diesem Begriff vgl. Frankfurt 2005. In der
Aristotelischen „Ethik werden relativ selten Regeln erwähnt“
(MacIntyre 1995:202).
3
MacIntyre betont, dass moralische Erziehung bei Aristoteles
wesentlich eine „éducation sentimentale“ ist (MacIntyre
1995:201).
4
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Busch: Aktuelle Entwicklungen in der sprachwissenschaftlichen Forschung zur interkulturellen
Kommunikation
Aktuelle Entwicklungen
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Forschung
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Communication]
the author here (e.g. title, posithe author here (e.g. title, position,institution)
institution)
tion,
Dominic Busch
Prof. Dr., Professur für interkulturelle Kommunikation und Konfliktforschung an der Universität
der Bundeswehr München.
Abstract [English]
Linguists have contributed significantly to intercultural research delivering precise and promising operationalizations of
culture for decades. This paper provides a literature review on
linguistic research on intercultural communication for the
years from 2004 to 2011. This review shows that linguists
successively have started to retreat from precisely looking at
how aspects of culture may influence social interaction. This
retreat may be caused by the critical debates on US-based
cultural anthropology constructing culture as its own object
of research at the turn of the millennium. Meanwhile, cultural
anthropologists as well as authors from neighbouring disciplines have developed concepts to constructively cope with
these constructivist problems to their discipline. However, linguists so far have not mapped this change of paradigms but
except from a few publications. The paper at hand provides a
concept on how to integrate constructivist as well as performance-based notions of culture into linguistic, especially conversation-analyst research. Empirically based methods of research from ethnomethodology, esp. membership categorization analysis (MCA) may help to produce new and adequate
insights into individuals’ use of notions of culture in conversation.
Keywords: notions of culture, linguistics, literature review, the
construction of research objects, membership categorization
analysis
Abstract [Deutsch]
Für die Weiterentwicklung der Forschung zur interkulturellen
Kommunikation haben die Sprachwissenschaften über Jahrzehnte hinweg zahlreiche und vielschichtige Beiträge sowie
wegweisende Operationalisierungen beigetragen. Ein Forschungsüberblick über die Jahre 2004 bis 2011 zeigt, dass
sich die Sprachwissenschaften zunehmend aus einer Arbeit
an der Entwicklung von Modellen zu einer präzisen Nachzeichnung von Auswirkungen von Kultur auf soziales Handeln
zurückgezogen haben. Ein möglicher Grund für diesen Rückzug wird in den kritischen Debatten um den Kulturbegriff in
der US-amerikanischen Kulturanthropologie um die Jahrtausendwende gesehen. Während die Kulturanthropologie selbst
sowie einige Nachbardisziplinen zwischenzeitlich konstruktive
Formen des Umgangs mit dem damals angemahnten Konstruktionscharakter des eigenen Forschungsgegenstands
entwickelt haben, ist diese Transformation der Herangehensweise an den Kulturbegriff von den Sprachwissenschaften
bislang nur in geringem Maße mitvollzogen worden. Der vor23
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Busch: Aktuelle Entwicklungen in der sprachwissenschaftlichen Forschung zur interkulturellen
Kommunikation
liegende Beitrag zeigt Wege einer Integration konstruktivistischer und performanzbasierter Kulturverständnisse in die
Sprachwissenschaften auf, die mit Methoden der Membership Categorization Analysis (MCA) aus der ethnomethodologischen Konversationsanalyse gewinnbringend beschrieben und erforscht werden können.
Stichworte: Kulturbegriff, Sprachwissenschaften, Literaturstudie, Konstruktion des eigenen Forschungsgegenstands,
Membership Categorization Analysis
1.
Ist interkulturelle Kommunikation wirklich immer
noch ein Trendfach?
Als Bildungsinhalt in der Hochschulbildung sowie in der beruflichen Weiterbildung hat das Themenfeld interkulturelle
Kommunikation bereits seit fast drei Jahrzehnten den Ruf eines Mode- und Trendfachs, dessen zugeschriebene Relevanz
angeblich weiterhin permanent und ungebrochen wächst.
Dem interkulturellen Forscher winken demnach vorzügliche
berufliche Perspektiven, er hat definitiv auf das richtige Pferd
gesetzt – so hört man es auch von Neidern.
Bekanntlich klingt jedoch jeder Hype meist auch so schnell
wieder ab, wie er gekommen ist. Kaum einem Messverfahren
wird für das frühe Aufspüren solcher sich anbahnender gesellschaftlicher Abstürze gegenwärtig mehr Feingespür zugeschrieben als den Statistiken der Internet-Suchmaschine
Google, wenngleich deren wissenschaftsmethodische Herangehensweise sicherlich kritisch diskutiert werden kann. So
zeigt die Funktion Google Insights for Search bereits auf den
ersten Blick, dass das Interesse der Internet-Suchenden an
dem Begriff interkulturelle Kommunikation in den Jahren
2004 bis 2011 merklich zurückgegangen ist:
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Busch: Aktuelle Entwicklungen in der sprachwissenschaftlichen Forschung zur interkulturellen
Kommunikation
Abb. 1: Auswertungsergebnisse der Suchfunktion Google Insights for
Search für das Interesse von Web-Suchenden an dem Suchbegriff
interkulturelle Kommunikation im Zeitraum 2004 bis 2011. Quelle:
URL: http://www.google.com/insights/search/ [Zugriff am 11.11.
2011].
Beginnen das Wissen und die vermeintliche Neugier um kulturelle Differenzen seitens der deutschsprachigen Gesellschaft
oder zumindest der Internet-Gemeinde bereits zu versiegen?
Seitens der Wissenschaften, die erst durch diese gesellschaftliche Neugier zu einer erforschenden Suche angestoßen worden waren, wird die Auseinandersetzung mit interkultureller
Kommunikation demgegenüber auch weiterhin als ein vergleichsweise junges Tätigkeitsfeld eingeschätzt, das um
akademische Anerkennung auch weiterhin ringen muss. Vertreter der Disziplin sehen sich immer wieder mit dem Druck
konfrontiert, sich für unzureichend präzisierte Kernbegriffe
und Forschungsgegenstände rechtfertigen zu müssen. Diese
Rechtfertigungsversuche bewirken jedoch häufig das Gegenteil: Der Verweis auf eine junge Disziplin betont noch einmal
mehr den offenkundigen Mangel einer soliden und tragfähigen Grundlage. Gegenüber diesen Befürchtungen ließe sich
umgekehrt argumentieren, dass eine permanente Selbstproblematisierung und eine Infragestellung des eigenen Forschungsgegenstands eine wissenschaftliche Disziplin doch
erst ausmachen sollte. Viele, auch etabliertere Disziplinen
kennen diese Problematik und widmen sich immer wieder
grundlegenden Positionsbestimmungen. Auch die Forschung
zur interkulturellen Kommunikation könnte diese Selbstreflektion demnach zu ihrer eigenen disziplinären Stärkung nutzen.
Tatsächlich kann der Forschungsbereich bereits auf eine beachtliche Tradition solcher Selbstvergewisserungen zurückblicken. In internationalen Zeitschriften erscheinen in größeren
25
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Busch: Aktuelle Entwicklungen in der sprachwissenschaftlichen Forschung zur interkulturellen
Kommunikation
Abständen Beiträge, die versuchen, globale Forschungsentwicklungen über längere Zeiträume hinweg nachzuzeichnen,
so beispielsweise (Hu / Fan 2011). Im deutschsprachigen
Raum liegen seit den 1980er Jahren Sammlungen unterschiedlicher Herangehensweisen vor. Zu nennen sind hier für
das Beispiel der Sprachwissenschaften Sammelbände wie die
von Rehbein (1985) sowie die beiden englischsprachigen und
auf den deutschsprachigen Raum fokussierten Bände von
Knapp, Enninger und Knapp-Potthoff (1987) und KnappPotthoff und Liedke (1997). In beiden Bänden werden jeweils
Beiträge aus der Gesprächsforschung diskutiert, die jeweils
einem vergleichsweise eng vorgegebenen theoretischen Paradigma folgen. Spätere Systematisierungen sprachwissenschaftlicher Herangehensweise liegen beispielsweise von von
Helmolt und Müller (1993), Müller-Jacquier (2000) und
Knapp (2004) vor. Ähnliche Anfänge des Sammelns in der
eigenen Disziplin finden sich beispielsweise auch in der Europäischen Ethnologie (Roth 1996) oder der Sozialpsychologie
(Thomas 1996).
Ein deutlich stärker interdisziplinär angelegter Dialog etabliert
sich im deutschsprachigen Raum in Form von Publikationen,
insbesondere Sammelbänden nach der Jahrtausendwende
(Lüsebrink 2004, Moosmüller 2007a), die wiederum von Haas
(2009) einer auf Moosmüller (2007b) aufbauenden Metareflektion mit internationaler Einordnung zugeführt werden.
Gleichzeitig scheint in der Disziplin eine Periode erreicht zu
sein, in der es angemessen erscheint, bestehende Ansätze zu
sichten, zu sammeln und in großvolumigen Handbüchern zusammenzufassen (Wierlacher / Bogner 2003, Thomas 2005,
Straub / Weidemann / Weidemann 2007, Weidemann /
Straub / Nothnagel 2010). Darüber hinaus erscheinen weiterhin Sammelbände, die jedoch weniger den Disziplinenvergleich fortführen, als sich vielmehr mit spezifischeren und jeweils zeitgenössischen Problemstellungen interkultureller Forschung zu beschäftigen (Moosmüller 2009). Nach der Jahrtausendwende ist ebenfalls ein vermehrtes Erscheinen von
Lehrbüchern zur interkulturellen Kommunikation im deutschsprachigen Raum zu verzeichnen (Bolten / Ehrhardt 2003,
Heringer 2004, Lüsebrink 2005, Bolten 2007). Wenngleich
auch weiterhin kein Kanon maßgeblicher interkultureller Theorien besteht, so erscheint doch zumindest eine Kanonisierbarkeit des angesammelten Wissens inzwischen möglich.
Nicht zuletzt begleiten einige wenige Zeitschriften und Periodika die Entwicklung der Disziplin, so das Jahrbuch Deutsch
als Fremdsprache seit 1975 oder das interdisziplinärer ausgerichtete Interculture Journal seit 2002.
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Busch: Aktuelle Entwicklungen in der sprachwissenschaftlichen Forschung zur interkulturellen
Kommunikation
1.1
Der deutsche Sonderweg?
Dieser Einblick in die Literaturlage mag den Verdacht aufkommen lassen, dass der Forschung zur interkulturellen
Kommunikation im deutschsprachigen Raum ein vergleichsweise hoher Stellenwert zukommt, der in anderen europäischen und außereuropäischen Regionen außer Nordamerika
in diesem Maße nicht festgestellt werden kann. Gegenüber
dem angelsächsischen Diskurs kann der deutschsprachigen
Community eine ausführliche Rezeption der dort besprochenen Ansätze bescheinigt werden, umgekehrt erzielen die
deutschsprachigen Ansätze im angelsächsischen Raum häufig
nur eine geringere Resonanz. Haas (2009) resümiert, dass die
deutschsprachige Forschergemeinschaft zur interkulturellen
Kommunikation, der eine relative diskursive Geschlossenheit
bescheinigt werden kann, auch disziplinär einer anderen Forschungstradition folgt als die nordamerikanische Entwicklung.
Während die interkulturelle Forschung in der angelsächsischen Welt primär von Psychologen mit deren Methoden bearbeitet werde, finde sich die Forschung zur interkulturellen
Kommunikation im deutschsprachigen Bereich noch eher in
den Geistes- und Sprachwissenschaften verortet.
Über Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen des gleichen Arbeitsbereichs in nicht-deutsch- oder englischsprachigen Nachbarstaaten in Europa verfügt die deutschsprachige Community ebenfalls nur in geringem Maße. Dies darf keinesfalls als
Kritik an der wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit des
deutschsprachigen Kollegiums verstanden werden. Vielmehr
zeichnet sich hier eine anglozentrierte Forschungsorientierung
ab, die in zahlreichen Disziplinen vorgefunden werden kann.
Darüber hinaus kann vermutet werden, dass der Gegenstand
interkultureller Kommunikation in anderen Gesellschaften als
weniger relevant erachtet wird. Entweder wird dem Gegenstand hier jeweils tatsächlich nur eine geringere Bedeutung
beigemessen oder man mag der Ansicht sein alle Probleme
interkultureller Kommunikation bereits systematisch erfasst
und im Griff zu haben. So finden sich beispielsweise in Frankreich an zahlreichen Universitäten Bildungsangebote zur interkulturellen Kompetenz im Bereich der Vermittlung von
Schlüsselqualifikationen an Studierende, die aktive Forschungslandschaft scheint demgegenüber jedoch geringer
ausgeprägt zu sein als im deutschsprachigen Raum.
Ist daher ein deutschsprachiger Sonderweg in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit interkultureller Kommunikation festzustellen? Angesichts der bisherigen Überlegungen
und Beobachtungen zu diesem Thema darf sicherlich nicht
die Frage aus dem Blick geraten, ob man hier nicht einer ethnozentrischen, deutschsprachigen Perspektive verfällt, die
man lediglich zu transzendieren nicht in der Lage ist. Den27
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Busch: Aktuelle Entwicklungen in der sprachwissenschaftlichen Forschung zur interkulturellen
Kommunikation
noch spräche auch vieles für die Möglichkeit eines deutschen
Sonderwegs: Zunächst kann die Beobachtung, dass eine Gesellschaft eine Auseinandersetzung mit interkultureller Kommunikation als wichtig erachtet, als Indiz für die eigene innere Beschaffenheit einer Gesellschaft angesehen werden. In
Zusammenhang mit Hofstedes (1980) Unsicherheitsvermeidungsindex ließe sich beispielsweise folgern, dass sich Probleme interkultureller Kommunikation für unterschiedliche Kulturen in der Tat in einer unterschiedlich wahrgenommenen
Dringlichkeit darstellen. Dass eine Erforschung interkultureller
Kommunikation einem erhöhten Bedürfnis nach Unsicherheitsvermeidung gerecht werden kann, stellt beispielsweise
Hannerz (1996) mit dem von ihm geprägten Begriff der Kulturschockvermeidungsindustrie heraus, den er jedoch der gesamten angelsächsischen Welt ebenfalls bescheinigt.
Darüber hinaus lassen sich Anknüpfungspunkte zwischen der
Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff sowie den damit
verbundenen Problematiken und bereits vorab entwickelten
Problemstellungen aus der deutschsprachigen Philosophie
ausmachen. So bescheinigt Welsch (2000) den deutschsprachigen Forschern eine unumstößliche und fortgeführte Auseinandersetzung mit einem Kulturbegriff, den bereits Herder
(1974) geprägt hat. Rational ließe sich die Inadäquatheit dieses Verständnisses sicherlich leicht belegen, unser Alltagsdenken jedoch werde weiterhin von diesem Kulturbegriff bestimmt.
1.2
Aktuelle Neuerungen in der sprachwissenschaftlichen Forschung zur interkulturellen Kommunikation?
Ein Blick auf die Veröffentlichungsdaten des Eintritts ins
Handbuchzeitalter zeigt relativ schnell, dass die Konsolidierung des Forschungswissens bereits in der ersten Hälfte der
1990er Jahre eingesetzt hat. Überblicke des Autors des vorliegenden Beitrags zu interkultureller Forschung aus sprachwissenschaftlicher Sicht liegen ebenfalls bereits vor (Busch
2007, 2009). Der Verfasser hatte selbst eine Systematisierung
von Forschungsansätzen zur interkulturellen Kommunikation
vorgeschlagen, die sich an der Lokalisierung und Identifizierung angenommener Einflüsse von Kultur auf soziales Handeln orientiert. In drei Dimensionen werden dabei Kulturerfassungsansätze (Köppel 2002) unterschieden: So kann Studien ein essentialistisches oder ein konstruktivistisches / interaktionstheoretisches Kulturverständnis zugrunde liegen. Darüber hinaus erscheint es vor einem wissenschaftstheoretischen Hintergrund sinnvoll Studien mit einer Auffassung von
Kultur als einem spezifischen Wissen gegenüber Studien mit
der Auffassung von Kultur als Ansammlung normativer Werte
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Busch: Aktuelle Entwicklungen in der sprachwissenschaftlichen Forschung zur interkulturellen
Kommunikation
zu unterscheiden. Zuletzt spielt die Unterscheidung zwischen
emischen und etischen Forscherperspektiven insbesondere in
der interkulturellen Forschung eine maßgebliche Rolle, so
dass sich eine Kategorisierung von Studien entlang dieser Dimension anbietet. Am Beispiel der Forschung zur interkulturellen Mediation und Konfliktbearbeitung hat der Verfasser
dargelegt, wie sich Studien aus einem längeren Publikationszeitraum in eine solche dreidimensionale Schematik einordnen lassen und wie auf diese Weise aus den Studien Gruppen
gebildet werden können, die aufgrund ihrer Herangehensweisen jeweils unterschiedliche Rückschlüsse auf den Gegenstand interkultureller Kommunikation nahe legen. Darüber
hinaus macht eine solche Systematisierung deutlich, dass in
der Forschung zur interkulturellen Kommunikation – allen
Selbstzweifeln zum Trotz – doch häufig recht klare und operationalisierbare Kulturverständnisse zugrunde liegen (Busch
2012:9).
2.
Ein kursorischer Forschungsüberblick
Zur Sondierung dieser Tendenzen wurde für die Erstellung
des vorliegenden Beitrags eine eigene und systematische Literaturrecherche durchgeführt. Durchsucht wurden OnlineDatenbanken zu jüngeren Publikationen aus den Sprachwissenschaften zur interkulturellen Kommunikation. Für eine international ausgerichtete Suche wurde hierzu primär die Datenbank Web of Science / Web of Knowledge zu Rate gezogen, für einen kursorischen aber dennoch erschöpfenden
Einblick darüber hinaus die Suchmaschine Google scholar
sowie die Aufsatzdatenbank des Verlegers Sage Journals, als
einem der bedeutendsten Anbieter internationaler Fachzeitschriften auf sozialwissenschaftlichem Gebiet.
Diese Datenbanken wurden nach den Suchbegriffen intercultural communication AND conversation analysis durchsucht.
Sicherlich kann diese Eingrenzung der Suchbegriffe problematisiert werden: Der Begriff der interkulturellen Kommunikation konkurriert insbesondere in der englischsprachigen
Verwendung mit einer permanent zunehmenden Zahl benachbarter alternativer Begriffe mit Attributen wie cultural,
cross-cultural, transcultural, interethnic oder interracial. Auch
die Beschränkung der Sprachwissenschaften auf die Konversationsanalyse mit dem Suchbegriff conversation analysis mag
irritieren, erweist sich jedoch auf einen zweiten Blick als zielführend, zumal ein Großteil der sprachwissenschaftlichen Forschung zur interkulturellen Kommunikation für sich den Anspruch erhebt, empirisch zu arbeiten und seine Erkenntnisse
aus gesprächsanalytisch generiertem Material gesprochener
Sprache zu entnehmen.
29
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Busch: Aktuelle Entwicklungen in der sprachwissenschaftlichen Forschung zur interkulturellen
Kommunikation
Zusätzlich wurde eine gezielte Suche nach sprachwissenschaftlich ausgerichteten Beiträgen in einschlägigen internationalen Fachzeitschriften zur interkulturellen Kommunikation
durchgeführt. Hierzu zählen das International Journal of Intercultural Relations (IJIR), Language and Intercultural Communication (LAIC) sowie das internetbasierte Journal of Intercultural Communication. In den Blick genommen wurden in
allen Fällen die Publikationsjahre 2004 bis 2010.
2.1
Die sprachwissenschaftliche Forschung zur interkulturellen Kommunikation zwischen 2004 und
2010
Nach einer ersten Sichtung und Lektüre wurde versucht, die
Beiträge zumindest tendenziell Kategorien zuzuordnen, die
Bestandteil der eingangs vorgestellten Systematisierung von
Kulturerfassungsansätzen des Verfassers sind. Eine solche Zuordnung erwies sich dabei in den meisten Fällen zwar als
möglich, in vielen Fällen jedoch nicht mehr als hinreichend
aussagekräftig, um vor diesem Hintergrund aktuelle Tendenzen identifizieren und beschreiben zu können. Darüber hinaus zeigte sich, dass die zuletzt prognostizierten Tendenzen
hin zu zunehmend konstruktivistischen Kulturverständnissen,
Studien, die Kulturen als Normen verstehen, sowie emischen
Forscherperspektiven nicht bestätigt werden konnten. Geht
man tatsächlich von einem Veränderungsprozess aus, der sich
an einem imaginären wissenschaftstheoretischen Fortschritt
orientiert, dann müssten die vorgefundenen jüngeren Publikationen eher als rückwärtsgewandt eingestuft werden:
Spürbar ist eine deutliche Tendenz oder gar eine Rückbesinnung in der sprachwissenschaftlichen Forschung auf frühere,
primordiale und essentialistische Kulturverständnisse. Darüber
hinaus ist sogar bei Autoren, die in früheren Publikationen
präzise Beschreibungen des Einflusses von Kultur auf kommunikatives Handeln vorgelegt haben, gelegentlich eine Tendenz dazu erkennbar, Kultur als variable aus einer weiterhin
auf internationale Interaktionen fokussierten Forschung zu
verdrängen oder in ihrem Einfluss zu reduzieren. Diese allgemeinen Tendenzen sollen in den folgenden Abschnitten an
einzelnen Beispielen illustriert und weiter ausdifferenziert
werden.
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30
Busch: Aktuelle Entwicklungen in der sprachwissenschaftlichen Forschung zur interkulturellen
Kommunikation
2.2
2.2.1
Das schrittweise Verschwinden von Kultur aus der
interkulturellen Forschung
Konstruktivistische Kulturverständnisse in der Gesprächsforschung
Forschungsarbeiten zur interkulturellen Kommunikation auf
der Grundlage interaktionstheoretischer, bzw. konstruktivistischer Kulturverständnisse trafen spätestens seit den 1980er
Jahren in der Forschungslandschaft auf wachsende Zustimmung, weil sie zu versprechen schienen, argumentative Ungereimtheiten früherer, kulturessentialistischer Konzepte zu
umgehen. Jüngere Arbeiten, die sich auch weiterhin einem
interaktionstheoretischen und konstruktivistischen Paradigma
verschreiben, scheinen jedoch zunehmend – zunächst implizit
– wieder essentialistische Anklänge und Grundannahmen in
ihre Kulturkonzepte einfließen zu lassen.
Zunehmende Aufmerksamkeit in der sprachwissenschaftlichen Forschung zur interkulturellen Kommunikation seit der
Jahrtausendwende hatte beispielsweise das Konzept der
Communities of Practice (CofP) erfahren, das für den genannten Bereich an prominentester Stelle zuletzt von Corder und
Meyerhoff (2007) vorgestellt worden war. Eine erste Einführung des Konzepts finden die Autorinnen zunächst in der
Lehr- und Lernforschung bei Lave und Wenger (1991), in der
Angewandten Sprachwissenschaft im Allgemeinen dann erst
wenige Jahre zuvor bei Sarangi und van Leuwen (2003). Die
Grundannahme dieser Theorie besteht dabei darin, dass Mitglieder einer sozialen Gruppe, die sich allesamt mit einem
gemeinsamen Ziel in der Weiterentwicklung und dem Fortbestand der Gruppe engagieren, gemeinsame Handlungsregeln
entwickeln werden, die einmalig für sie bleiben werden und
die nur mit dem Fortbestehen der Gruppe selbst Bestand haben können (Corder / Meyerhoff 2007:444f.). Kultur erscheint hier zunächst als ein Produkt interaktiver Prozesse.
Bereits ein Jahr zuvor hatte jedoch Charlebois (2006) im online erscheinenden Journal of Intercultural Communication kritisch angemerkt, dass das Konzept der Communities of Practice offenbar lediglich dazu diene, eine theoretische, plausible
Erklärung für das Zustandekommen kultureller Muster zu liefern, die im Anschluss dennoch als statische und essentialistisch betrachtbare Gegenstände beschrieben werden können.
Die ursprünglich wesentliche Neuerung interaktionstheoretischer und konstruktivistischer Ansätze, die vor allem in der
Beschreibbarkeit der Prozessualität von Kultur ihre Vorteile
ausspielen konnten, rückt auf diese Weise in den Hintergrund
zugunsten von Kulturen, die nun wieder beschrieben und
miteinander verglichen werden können.
31
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Busch: Aktuelle Entwicklungen in der sprachwissenschaftlichen Forschung zur interkulturellen
Kommunikation
2.2.2
Kultur als Wissen im Gespräch
Gestärkt und weiterhin unterstützt wird auch innerhalb des
Untersuchungszeitraums die kulturrelativistische Öffnung
ehemals angenommener sprachpragmatischer Universalien,
denen jedoch trotz aller Bemühungen der Öffnung vormals
starrer Prinzipien auch weiterhin ein primordialessentialistisches Kulturverständnis zugrunde liegt. So waren USamerikanische Sprachwissenschaftler vormals davon ausgegangen, dass Sprechakte in allem Kulturen auf die gleiche
Weise produziert werden. Aufbauend auf der von Austin vorgestellten Sprechakttheorie (Austin 1962) und den daran anschließenden Konversationsmaximen von Grice (1975) veranschaulichten insbesondere Brown und Levinson diese Kulturuniversalität am Beispiel sprachlicher Höflichkeit (Brown /
Levinson 1978). Bereits Ende der 1980er Jahre stellten BlumKulka et al. (1989) heraus, dass die Produktion von Sprechakten zahlreichen kulturellen Divergenzen unterliegt. Im Untersuchungszeitraum schließt Fetzer (2007) daran an und stellt
heraus, dass die Formulierung von Ablehnungen und Abweisungen als Sprechakte unterschiedlichen kulturellen Ausprägungen unterliegt. Diese Ausprägungen gestalteten sich Fetzer zufolge vor dem Hintergrund kulturspezifischen Kontextwissens, über das die jeweiligen Sprecher qua Akkulturation verfügen müssten. Fetzer stellt in ihrer Studie insbesondere die Bedeutung einer Verbindung zwischen einer MakroEbene kulturspezifischen Wissens und einer Mikro-Ebene situativer Äußerungsproduktionen heraus. Grundsätzlich geht
die Studie jedoch von einem vergleichsweise herkömmlichen,
essentialistischen Kulturverständnis aus.
2.2.3
Kulturen als Werte manifestieren sich direkt im
Gespräch
Auch Ansätze, in denen Kulturen als sich in Werten manifestierend aufgefasst werden, sind im Untersuchungszeitraum
weitergeführt worden, jedoch auch hier zeigt sich im Rahmen
der vorgefundenen Publikationen mehr oder weniger eine
Rückbesinnung auf vermeintlich stabile und empirisch belegbare, essentialistische Kulturverständnisse. Weitergeführt
wurde so beispielsweise der von Wierzbicka bereits in früheren Publikationen (1994) vorgestellte Ansatz der Natural Semantic Metalanguage (NMS), der Modellkonstruktion einer
universal übersetzbaren Kernsprache aus ca. 60 grundlegenden Begriffen, mit deren Hilfe sich alle komplexeren Sachverhalte ausdrücken ließen. Übersetzt man kulturspezifische Inhalte in diese Modellsprache zurück und transferiert sie dann
in eine Fremdsprache, dann bleiben die darin vermittelten
kulturspezifischen Werte erhalten, so Wierzbicka (2006). Der
Ansatz beruht demnach auf der Annahme, dass sich kultur© Interculture Journal 2012 | 16
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Busch: Aktuelle Entwicklungen in der sprachwissenschaftlichen Forschung zur interkulturellen
Kommunikation
spezifische Werte unmittelbar in sprachlichen Äußerungen
manifestieren, mit anderen Worten: Sprecher intendieren
auch wirklich eine Befolgung der kulturspezifischen Werte,
die sich in ihren Formulierungen zum Ausdruck bringen. Ähnlich wie bei dem Ansatz von Fetzer handelt es sich hier um
eine Öffnung vormals kulturuniversal intendierter sprachpragmatischer Ansätze, doch auch Wierzbicka ignoriert auf
diese Weise parallele Entwicklungen zu konstruktivistischen
Kulturbegriffen in benachbarten kulturwissenschaftlichen Disziplinen. Einer ähnlichen Kritik kann der Ansatz des kulturspezifischen Rapport Managements nach Spencer-Oatey
(2000) unterzogen werden.
2.2.4
Kulturen als Werte beeinflussen Gespräche indirekt
Der Einfluss kulturspezifischer Werte auf die Produktion von
Sprechakten im Sinne eines indirekten Einwirkens war bereits
in den 1980er Jahren von den Sprachwissenschaften ausführlich untersucht worden. Auch hier hatten Autorinnen wie
Blum-Kulka et al. (1989) eine ursprünglich angenommene
sprachpragmatische Universalie als durchweg kulturspezifisches Produkt entlarvt, in ihrem Modell sollten kulturspezifische Werte für unterschiedliche Ausformungen der Sprechaktproduktion verantwortlich sein. Diese Annahmen werden
auch von einzelnen Publikationen im jüngeren Untersuchungszeitraum weitergeführt, in ihrer breiten Offenheit für
kulturspezifische Variationen jedoch wieder eingegrenzt und
beschnitten. Das zeigt beispielsweise Jiang (2006) im Rahmen
eines amerikanisch-chinesischen Vergleichs von Sprechakten,
die im Rahmen von Pressekonferenzen geäußert wurden.
Jiang zufolge existierten neben den von Blum-Kulka et al. beschriebenen kulturspezifischen Ausprägungen doch auch
zahlreiche Universalien, wie beispielsweise das Bedürfnis nach
einer erfolgreichen Imagearbeit (facework) in der Interaktion.
Dieses universale Bedürfnis wird Jiang zufolge auch mit Hilfe
universal auffindbarer Strategien, wie beispielsweise dem Einsatz von Indirektheit im Gespräch, bearbeitet. Diese Rückbesinnung auf kulturelle Universalien nach einer Epoche des
Kulturrelativismus ist in diesem Fall jedoch nicht immun gegen bereits einfache Einwände. So drängt sich beispielsweise
der Verdacht auf, dass es sich bereits bei dem einzigen untersuchten Genre der Pressekonferenzen um eine westlich und
europäische vorgeprägte Kommunikationsform handelt. Insbesondere wenn die Autorin von „routine press conferences“
(Jiang 2006:237) spricht, erhärtet sich der Verdacht, dass eine
Sensibilität für kulturspezifische Prägungen des Untersuchungsgegenstands verloren gegangen ist.
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Busch: Aktuelle Entwicklungen in der sprachwissenschaftlichen Forschung zur interkulturellen
Kommunikation
2.2.5
Kulturen als überwindbare ethnozentrische Routinen
Neben einer fortschreitenden Simplifizierung angenommener
Einflüsse von Kultur auf soziales Handeln gegenüber früheren, differenzierteren Studien kann, wie auch das Beispiel von
Jiang bereits gezeigt hat, eine Aufwertung universalistischer
Perspektiven festgestellt werden. Im Umkehrschluss wird der
Glaube an die Wirkmächtigkeit kulturspezifischer Besonderheiten relativiert. So geht beispielsweise O’Driscoll (2007) davon aus, dass kulturelle Werte möglicherweise die Ausgestaltung sprachlicher Routinen beeinflussen. Die Form dieses Einflusses wird jedoch nicht weiter ausgeführt, und auch die
Auswirkungen dieser kulturellen Einflüsse über die Formulierung hinaus werden als gering eingeschätzt. So sind nach
O’Driscoll sprachspezifische Routinen schlicht Konventionen
auf sprachlicher Ebene, die auch verändert werden können.
2.2.6
Interkulturelle Forschung ohne Berücksichtigung
von Kultur
Die vorangegangenen Abschnitte haben Tendenzen aufgezeigt, nach denen der angenommene Einfluss von Kultur auf
soziales Handeln entgegen früheren Modellen im Untersuchungszeitraum immer weiter abgewertet worden ist. Damit
verbunden scheint eine zunehmende Präferenz für die Annahme und die Gewichtigkeit kulturuniversaler Grundlagen
menschlicher Interaktion. Exemplarisch hierfür mag eine Studie von Roberts, Sarangi und Moss (2004) gelten, in der Interaktionen und Gespräche in den jeweils ersten 15 Sekunden der Arzt-Patienten-Kommunikation in Krankenhausvisiten
untersucht wurden. Die Autoren der Studie räumen zwar ein,
dass Kulturen sich in Form konversationeller Routinen manifestieren und dass sich Sprecher dieser Routinen aus ihrer jeweiligen ethnozentrischen Haltung heraus bedienten. Als
problematisch erachten die Autoren jedoch nicht die Kulturspezifik der Routinen, sondern lediglich die unüberlegte Verwendung von Routinen im Allgemeinen. Angehörige anderer
Kulturen liefen in diesem Fall Gefahr, die Bedeutungen der
Routinen nicht zu verstehen. Die Autoren fordern demnach
eine De-Ethnozentrierung der Sichtweisen und Sprecherhaltungen des medizinischen Personals. Folglich wird zwar nicht
bestritten, dass kulturelle Differenzen durchaus existieren.
Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit diesen Differenzen sei jedoch für die erfolgreiche Durchführung von Interaktionen nur wenig hilfreich. Letztendlich kommt jedoch auch
eine Forderung nach De-Ethnozentrierung nicht ohne die Akzeptanz der Existenz kultureller Differenzen aus. So beziehen
sich auch Roberts et al. auf Goffman’s Theorie der Interaktionsrituale, die jeweils nur innerhalb von kulturellen Gruppen
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Busch: Aktuelle Entwicklungen in der sprachwissenschaftlichen Forschung zur interkulturellen
Kommunikation
geteilt werden (Roberts / Sarangi / Moss 2004:161). Dieser
Kulturspezifik könne jedoch auch nicht durch das Einüben der
Routinen aller jeweils an einer Situation beteiligten Kulturen
kompetent gehandhabt werden, da in vielen Fällen für Kontexte, für die in einer Kultur eine Routine vorhanden ist, in
einer anderen Kultur keine Routine existiert. In der Praxis manifestiere sich demnach für die Akteure eine interkulturelle
Kontaktsituation als eine Unordnung, die von den Akteuren
nur akzeptiert werden könne.
2.2.7
Interkulturelle Kommunikation als lernersprachliche Kompetenz
Interkulturelle Kontaktsituationen scheinen auch gemäß der
Ergebnisse aus dem Untersuchungszeitraum im Fokus eines
gewissen wissenschaftlichen Interesses zu stehen. Wie das
Beispiel im vorangegangenen Abschnitt bereits gezeigt hat,
erscheint es in diesen Fällen jedoch nicht erforderlich zu sein,
kulturelle Einflüsse selbst ins Zentrum der entsprechenden
Forschungsarbeiten zu rücken. Exemplarisch dafür mag eine
Studie der Sprachwissenschaftlerin Gabriele Kasper (2004)
stehen, die 15 Jahre zuvor an dem bereits referierten, kulturrelativistisch ausgerichteten Cross-Cultural Speech Act Realization Project von Blum-Kulka, House und Kasper (1989)
mitgearbeitet hatte. Kasper untersucht auch weiterhin interkulturelle Kontaktsituationen, aber sie geht zwischenzeitlich
davon aus, dass eine Untersuchung der Ausformulierungen
von Sprechakten keinen Aufschluss über den Verlauf und das
Ergebnis interkultureller Kontaktsituationen geben kann. Für
vielversprechender hält Kasper stattdessen einen Blick auf die
Transformation und Entwicklung zwischenmenschlicher Beziehungen in interkulturellen Kontaktsituationen, die letztendlich auch für den Gesprächsverlauf und -erfolg verantwortlich seien. Dabei geht Kasper davon aus, dass eine Etablierung positiver interpersonaler Beziehungen trotz möglicher
Beeinträchtigungen und Erschwernisse durch missverständnisschwangere lernersprachlicher Defizite immer und in allen
interkulturellen Kontexten durch die Anwendung von Strategien positiver und negativer Höflichkeit erreicht werden könne. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen im Untersuchungszeitraum auch Palotti und Varcasia (2008): In ihrer Studie
vergleichen sie die Eröffnungssequenzen von Telefongesprächen in verschiedenen europäischen Sprachen und setzen
dabei Kulturen mit Sprachen gleich.
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Kommunikation
3.
Warum versiegt in den Sprachwissenschaften das
Interesse an Kultur?
Obwohl in den 1980er und 1990er Jahren die internationalen
Sprachwissenschaften eine wesentliche und mitgestaltende
Rolle in der Forschung zur interkulturellen Kommunikation
eingenommen hatte, scheint das Interesse an kulturellen Einflüssen auf sprachliche Interaktion nach der Jahrtausendwende deutlich zurückgegangen zu sein. Im Vergleich mit früheren Studien weisen die im Untersuchungszeitraum der vorliegenden Arbeit identifizierten Publikationen deutlich simplizistischere Operationalisierungen von Kultur auf, sie schreiben
kulturellen Einflüssen auf soziales Handeln ein deutlich geringeres Gewicht zu, bzw. sie vertrauen auf eine deutlich größere kulturuniversale Basis kommunikativer Verständigungsmöglichkeiten, die letztendlich den Ausgang auch interkultureller Kontaktsituationen bestimmten.
Offen bleibt angesichts dieser Beobachtungen die Frage nach
möglichen Gründen für die vorgefundene Entwicklung: Das
geringere angenommene Gewicht von Kultur wird in den seltensten Fällen argumentativ begründet, sondern in der Überzahl der gesichteten Publikationen schlicht statuiert.
3.1
Mögliche Gründe für das Versiegen des Interesses
an Kultur in den Sprachwissenschaften
Wenn das Versiegen des Interesses an einer Auseinandersetzung mit Kulturverständnissen in den Sprachwissenschaften
nicht mit Hilfe von Beobachtungen innerhalb der Disziplin
begründet werden kann, dann können benachbarte Disziplinen nach Entwicklungen durchsucht werden, die entsprechende Veränderungen in den Sprachwissenschaften angestoßen haben. Besonders lohnenswert erscheint in diesem Fall
ein Blick in die Kulturanthropologie, in deren Rahmen insbesondere seit Mitte der 1980er Jahre eine zunehmend kritische
Diskussion des Kulturbegriffs stattgefunden hat und deren
Kritiken sicherlich nicht ohne Folgen an den TheorieEntwicklungen anderer geistes- und sozialwissenschaftlicher
Disziplinen vorübergegangen sind.
In der Kulturanthropologie reflektiert Anfang der 1990er Jahre Richard G. Fox in einer Tagungsdokumentation (Fox
1991b) den Umstand, dass zentrale Begriffe und Normvorstellungen, wie beispielsweise der Kulturbegriff, mit dem innerhalb der Kulturanthropologie hantiert wird, nicht mehr
aus der Disziplin selbst heraus generiert, sondern zunehmend
von gesellschaftlichen Diskursen vorgegeben werden (Fox
1991a). Insbesondere bezieht sich Fox dabei auf die Beobachtung, dass westliche Gesellschaften eine Dichotomisierung
zwischen westlichen und nicht-westlichen Kulturen an die
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Busch: Aktuelle Entwicklungen in der sprachwissenschaftlichen Forschung zur interkulturellen
Kommunikation
Kulturanthropologie herantrage, die sich innerhalb der Disziplin aus sich heraus nicht als relevant ergeben würde, der sich
die Disziplin aber letztlich beugen müsse. Fox sieht zentrale
Interessenpunkte dagegen vielmehr in den Interrelationen
zwischen Individuen und Gruppen, bzw. Institutionen.
Zu besonderer Bekanntheit hat es innerhalb des Sammelbandes von Fox das Plädoyer Writing against culture von Lila
Abu-Lughod (1991) gebracht, demzufolge die Kulturantrhopologie nicht mehr in der Lage sei, sich gegenüber der normierenden Übermacht gesellschaftlich generierter Kulturverständnisse zu emanzipieren und einen eigenen Kulturbegriff
herauszuarbeiten. Gesellschaftliche Kulturverständnisse fokussierten demnach nicht nur die West-Ost-Dichotomie, sondern akzeptierten darüber hinaus fast ausschließlich essentialistische Kulturverständnisse, die innerhalb der Kulturanthropologie als zunehmend inadäquat wahrgenommen wurden.
Da eine distanzierte und beschreibende Forschung auf dieser
Grundlage nicht mehr möglich sei, plädierte Abu-Lughod für
eine Abschaffung des Kulturbegriffs als einem wissenschaftlichen Terminus.
Wenige Jahre später beklagt auch Stolcke (1995) die Übermächtigkeit essentialistischer Kulturverständnisse. Darüber
hinaus steht zu befürchten, dass jedwede Verwendung des
Kulturbegriffs grundsätzlich nur dazu führen kann, dass kulturelle Differenzen noch einmal zusätzlich untermauert und
gefestigt werden – völlig unabhängig davon, wie relativierend
eine Kulturtheorie selbst mit dem Konstruktions- und Prozesscharakter kultureller Grenzen auch umgehen mag. Auch
über zehn Jahre später finden sich vergleichbare Plädoyers für
eine Abschaffung des Kulturbegriffs, wie beispielsweise das
von Hann (2007), der ebenfalls in der großen Divergenz zwischen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Vorstellungen von Kultur ein wesentliches Hindernis sieht.
In der Folge versuchen US-amerikanische Ethnologen in der
Tat, sich von einem kulturzentrierten Paradigma zu emanzipieren. Stattdessen solle eine Beschreibung von Individuen
mit einem starken Gegenwartsfokus erprobt werden
(Westbrook 2008). Im Rahmen des so genannten Civilizational Approach, der dennoch auch selbst weiterhin mit seinen
Emanzipationsbemühungen gegenüber Kultur- und Naturverständnissen wesentlich zu schaffen hat (Goody 2010, Rees
2010), wird zunächst davon ausgegangen, dass es Kulturen
in einem beinahe naturwissenschaftlichen Sinne gar nicht
gibt. Eine davon losgelöste Anthropologie müsse sich demnach zunächst auf die Beschreibung einzelner Individuen
konzentrieren (Arnason 2010a, 2010b). Erchinger (2010:12)
plädiert für eine Konzentration auf die Kategorien aus
Mensch, Leben und Lebendigkeit, die die Grundlagen für die
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Kommunikation
Schaffung von Vielfalt bildeten. Kulturalistisch informierten
Sozialwissenschaftlern wiederum ist es jedoch ein leichtes
Spiel, den Geltungsanspruch eines solchen Ansatzes zu relativieren, deutet doch die starke Fokussierung auf Individuen an
sich bereits auf eine sehr westlich-kulturelle Perspektive des
Ansatzes hin (Elliott 2007).
3.2
Die Rehabilitierung von Kultur in der Kulturanthropologie
Trotz dieser erheblichen Selbstzweifel scheint den Vertretern
der Kulturanthropologie die Rettung ihrer eigenen Disziplin
vorerst dennoch geglückt zu sein: So ruft Brumann in seinem
Plädoyer Writing for culture: Why a successful concept should
not be discarded (1999) die zahlreichen Vorteile des Kulturbegriffs in Erinnerung, die zum Zuge kommen, wenn es darum gehen soll, soziale Prozesse angemessen zu beschreiben.
Ähnlich führen Borofsky et al. (2001) eine Debatte über angemessene und differenzierende Verwendungen des Kulturbegriffs in der Forschung. Zwischenzeitlich haben sich insbesondere anwendungsorientierte Forschungsfelder, wie beispielsweise das der interkulturellen Konfliktmediation, auf
konstruktive Weise mit den unterschiedlichen Verwendungsformen des Kulturbegriffs in Wissenschaft und Gesellschaft
arrangiert. Hier weist beispielsweise Avruch auf die bereits
von Geertz (1983:57) verwendete Unterscheidung zwischen
erfahrungsnahen und erfahrungsfernen Begriffsverständnissen hin („experience-near and experience-distant“, Avruch
2003:355ff), mit denen auch unterschiedliche Verwendungsformen des Kulturbegriffs voneinander unterschieden und
konstruktiv in die Bearbeitung von Konflikten in internationalen Kontexten mit eingebracht werden können.
3.3
Mit dem Konstruktionscharakter des eigenen
Forschungsgegenstands konstruktiv umgehen
Die Gender Studies mögen gegenwärtig als prominentestes
Beispiel einer geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplin
gelten, die als eine der ersten damit begonnen hat, den Konstruktionscharakter des eigenen Forschungsgegenstands
theoriegeleitet zu hinterfragen. Zugleich wurden hier Wege
entwickelt, diesen Konstruktionscharakter nicht zu einer finalen Dekonstruktion und Destruktion der gesamten Disziplin
führen zu lassen, sondern ihn in ein erneuertes Selbstverständnis der Forschung zu integrieren. Begründet wurde diese Tendenz insbesondere innerhalb der Genderforschung, die
sich an den US-amerikanischen Literaturwissenschaften orientiert hat, bzw. auch aus ihnen hervorgegangen ist. Maßgeblich geprägt wurde diese Entwicklung durch die Genderforscherin Judith Butler (1990, 1993), die an die diskurstheoreti© Interculture Journal 2012 | 16
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Busch: Aktuelle Entwicklungen in der sprachwissenschaftlichen Forschung zur interkulturellen
Kommunikation
schen Überlegungen Foucaults anknüpfend das bisherige
Verständnis der Genderforschung von ihrem eigenen Forschungsgegenstand umkehrte: Bis dato hatten Genderforscher sich maßgeblich für die gesellschaftliche Bewusstmachung einer Unterscheidung zwischen biologischem (sex) gegenüber einem sozial erworbenen und zugeschriebenen Geschlecht (gender) eingesetzt. Eine mit der Forschung verknüpfte gesellschaftspolitische Zielstellung bestand dabei darin, auf den hohen Anteil gesellschaftlicher Zuschreibungen in
Geschlechterdifferenzierungen aufmerksam zu machen. Soziale Ungleichheiten, die aus diesen Zuschreibungen resultierten, seien demnach nicht von Natur aus vorgegeben. Stattdessen seien Gesellschaften selbst in der Verantwortung für
eine gerechte Gestaltung des Umgangs mit Geschlechterdifferenzen.
Butler radikalisierte diese Einsicht in die Konstruktion sozialen
Geschlechts, indem sie auf diskurstheoretischen Grundlagen
statuierte, dass auch die Annahme einer Existenz eines biologischen Geschlechts immer nur selbst Bestandteil einer sozialen Konstruktion von Geschlecht sein könne. Aufgrund der
universalen und alles einschließenden Diskursivität der sozialen Umwelt sei dagegen eine ausschließlich biologische Geschlechterdifferenzierung der Wahrnehmung gar nicht unmittelbar zugänglich, sondern immer schon diskursiv aufgeladen.
Dabei beschreibt Butler den Prozess der Sedimentierung sozialer Konstruktionen über das biologische Geschlecht als eine
Materialisierung, deren Zustandekommen später kaum noch
reflektiert und hinterfragt werden kann. Anknüpfend an
Theorien des Performativen nach Derrida (1967, 1992) zeigt
Butler, wie die soziale Konstruktion der Geschlechterdifferenz
erst durch das permanente Repetieren und Iterieren dieser
Grenzziehungen durch die Mitglieder einer Gesellschaft immer weiter aufrecht erhalten wird. Mit diesem Rekurs auf das
kleinschrittige Weiterführen sozialer Differenz durch einzelne
Handlungen von Individuen deckt Butler jedoch auch Handlungsspielräume auf, in denen Individuen soziale Grenzziehungen durchaus auch verändern und aufbrechen können.
Daraus leitet Butler eine politische Verantwortung des Individuums zu einer Herstellung sozialer Gleichberechtigung über
Geschlechtergrenzen hinweg ab.
Die Gender Studies als wissenschaftliche Disziplin erhalten
durch die Transformation des Verständnisses des eigenen Forschungsgegenstands durch Butler eine neue und sinnvolle
Aufgabe. Diese besteht darin, Konstruktionsprozesse der Annahme eines biologischen Geschlechts auf einer Mikro-Ebene
nachzuzeichnen und das genaue Ausmaß von Handlungsspielräumen von Akteuren auszuloten sowie auf diese Handlungsspielräume aufmerksam zu machen.
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Busch: Aktuelle Entwicklungen in der sprachwissenschaftlichen Forschung zur interkulturellen
Kommunikation
4.
Wege der Rehabilitierung des Kulturbegriffs
Auch die Forschung zur interkulturellen Kommunikation hat,
ähnlich den Gender Studies, ihr ursprüngliches Selbstverständnis auf einem gesellschaftlichen Differenzparadigma begründet. Sicherlich war dieses Differenzparadigma weniger
dichotomisch angelegt als das der Gender Studies, jedoch
liefen insbesondere kulturvergleichende und kulturkontrastierende Studien dennoch häufig auf eine bipolare Gegenüberstellung von Differenzen hinaus. Auch in der interkulturellen
Forschung wird dieses Differenzparadigma sicherlich schon
seit langem hinterfragt und als Konstruktion verstanden, diese Einsichten verwiesen bislang jedoch meist auf die Begrenztheit und die Krisenanfälligkeit der Disziplin.
Trotz einiger Unterscheidungen gegenüber den Gender Studies mögen die Parallelen mit der interkulturellen Forschung
einen akzeptablen Anlass geben, um zu überlegen, inwieweit
die Transformation des fachlichen Selbstverständnisses aus
den Gender Studies nicht auch im Bereich der Forschung zur
interkulturellen Kommunikation anwendbar sei. Erste Überlegungen hierzu finden sich beispielsweise bei Mae (2003).
Demnach kann auch die Annahme von der a priori-Existenz
unterschiedlicher Kulturen als grundsätzlicher Bestandteil von
Diskursen über interkulturelle Kommunikation und kulturelle
Differenz verstanden werden. Tatsächlich existierende kulturelle Differenzen wären demgegenüber, folgt man der Logik
von Butler, ohnehin gar nicht unmittelbar wahrnehmbar und
erfassbar. Indem wir über kulturelle Differenzen sprechen und
uns (auch wissenschaftlich) mit dem Gegenstand interkultureller Kommunikation auseinandersetzen, reproduzieren wir
diesen permanent selbst.
Eine neue Forschungsaufgabe besteht aus dieser Sicht für die
interkulturelle Forschung parallel zur Genderforschung dann
darin, Handlungsspielräume individueller Akteure im Umgang
mit kultureller Differenz auszuloten: Inwieweit müssen Individuen in unterschiedlichen Kontexten der gesellschaftlichen
Konstruktion kultureller Differenzen einerseits Rechnung tragen, um keine sozialen Sanktionen aus ihrem eigenen Umfeld
befürchten zu müssen oder gar nicht erst verstanden zu werden? Und inwieweit können sich Individuen andererseits vielleicht auch selbstverantwortlich über gesellschaftliche Konventionen kultureller Differenz diese verändernd und modifizierend hinwegsetzen?
Eine entsprechende Geisteshaltung zum bewussten und auch
unbewussten Konstruktionscharakter kultureller Differenz aus
theoretischer Sicht hat bereits 1993 die Kultur- und Geschlechterforscherin Gayatri Spivak entwickelt. Der von ihr
eingeführte Begriff des strategischen Essentialismus
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Busch: Aktuelle Entwicklungen in der sprachwissenschaftlichen Forschung zur interkulturellen
Kommunikation
(„strategic essentialism“, Spivak 1993) weist auf die Annahme hin, dass sich Individuen in der Alltagspraxis in sehr vielen
Fällen durchaus des Konstruktionscharakters kultureller Differenz bewusst seien, dass sie jedoch vielfach trotzdem auf der
Grundlage der angenommenen Existenz dieser Differenzen
handelten, weil sie auf diese Weise auf eine mit ihren Mitmenschen konsensuell geteilte und gemeinsame Lebenswelt
zurückgreifen könnten. Empirische Beispiele für Handlungsformen auf dieser Grundlage liefert unter anderen Pütz
(2004) im Rahmen einer ethnographischen Studie über Unternehmer mit türkischem Migrationshintergrund in Berlin.
4.1
Neue Arbeitsfelder für die Sprachwissenschaften
Auch die Sprachwissenschaften können Beiträge zu einer Erforschung dieser vorgefundenen und potentiellen Handlungsspielräume mit dem Konstruktionsgegenstand Kultur leisten.
Insbesondere mit empirisch basierten Herangehensweisen aus
der Gesprächsforschung und Konversationsanalyse können
Umgangsformen mit dem Gegenstand Kultur auf einer Mikro-Ebene nachgezeichnet werden. Erste empirische Arbeiten
liegen dazu beispielsweise von Day (1994, 2006) vor. Um eine noch präzisere Operationalisierung von Umgangsformen
mit dem Konstruktionsgegenstand Kultur in Gesprächen zu
ermöglichen, erscheint eine (Re-)Aktivierung konversationstheoretischer Ansätze sinnvoll, die – seit den 1970er Jahren
vorliegend (Sacks 1974) – in den Sprachwissenschaften zugunsten sequenzanalytisch orientierter Studien in der Gesprächsforschung (Sacks / Schegloff / Jefferson 1974) bislang
eher ein Schattendasein geführt hat. Mit Hilfe der so genannten Membership Categorization Analysis (MCA) lassen sich
Konstruktionsprozesse sozialen Sinns auf einer Mikro-Ebene
einzelner gesprochener Sätze rekonstruieren. Im Rahmen der
Publikationen zur ethnomethodologischen Konversationsanalyse wurde die ursprüngliche Perspektive des Ansatzes ausschließlich auf die Satzebene für eine Fassbarmachung übergreifender sozialer Phänomene wie beispielsweise für die Differenzparadigmen von Kultur und Geschlecht ausgeweitet
(Jayyusi 1984, Moermann 1988, McIlvenny 2002).
Angewendet auf die Fragestellung nach Kulturalisierungen im
Gespräch können auf diese Weise Konstitutionen kulturalistischer Kategorisierungen in Gesprächen identifiziert werden
und vor allem in ihren vollständigen Auswirkungen auf die
Organisation von Situationen und Beziehungen ausgelotet
werden. So kann beispielsweise aufgedeckt werden, auf welche Weise einander zugeschriebene Eigenschaften und Handlungslegitimierungen, die auch zu Ungleichheiten führen
können, durch (teils verdeckte) kulturalisierende Kategorisierungen als unhinterfragbar und gegeben statuiert werden.
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Busch: Aktuelle Entwicklungen in der sprachwissenschaftlichen Forschung zur interkulturellen
Kommunikation
Zugleich können – wiederum im Sinne der Theorie Butlers –
jedoch auch Handlungsspielräume und -optionen aufgedeckt
werden. Dabei kann nachgezeichnet werden, wie Akteure in
authentischen Situationen exemplarisch kulturelle Grenzen
innerhalb eines für sie sich darstellenden Handlungsspielraums transzendieren. Eine exemplarisch durchgeführte Analyse liegt in Busch (2012) vor.
4.2
Konsequenzen für Begriffe interkultureller Kompetenz
Der vorliegende Beitrag hat anhand einer eigenen Literaturstudie nachgezeichnet, wie sich die sprachwissenschaftliche
Forschung als einer der früheren zentralen Impulsgeber im
Forschungsfeld interkultureller Kommunikation seit der Jahrtausendwende aus diesem Bereich immer weiter zurückgezogen hat. Mögliche Gründe für diesen Prozess wurden in der
Problematisierung bisheriger gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Kulturverständnisse, auf die sich auch die
sprachwissenschaftliche Forschung bis dato größtenteils gestützt hatte, durch die US-amerikanische Kulturanthropologie
in den 1990er Jahren gesehen. Während einige geistes- und
sozialwissenschaftliche Disziplinen im Nachgang bereits Wege
eines konstruktiven Umgangs mit dem Konstruktionscharakter des eigenen Forschungsgegenstands gefunden haben, um
dem damals postulierten Dilemma zu entkommen, ist dieser
Prozess von der sprachwissenschaftlichen Forschung zur interkulturellen Kommunikation bislang kaum aufgegriffen
worden. Der vorliegende Beitrag hat auf Anschlussmöglichkeiten und entsprechende erste, angewandte Beispiele hingewiesen, mit deren Hilfe die Sprachwissenschaften auch zukünftig konstruktive Beiträge zu einer Erforschung interkultureller Kommunikation leisten und dabei ihr mikro-analytisches
Potential einbringen kann.
Angesichts des hier nachgezeichneten und vorgeschlagenen
Paradigmenwechsels wird auch eine zusätzliche Facette des
bereits vielfach belegten Begriffs der interkulturellen Kompetenz sichtbar. Ehlich und ten Thije (2010) haben in diesem
Zusammenhang bereits für den Begriff der Alltagshermeneutik als einem Bestandteil interkultureller Kompetenz plädiert.
Darunter verstehen die Autoren ein bewusstes Infragestellen
des Systems eigener Gewissheiten, durch die das eigene
Selbstbewusstsein aber nicht erschüttert, sondern durch das
Wissen um angenommene Differenzen bereichert und gestärkt wird (Ehlich / ten Thije 2010:266f). Diese offene und
konstruktionsbewusste Suchhaltung kann vor dem Hintergrund der hier getätigten Überlegungen noch präzisiert werden. Interkulturelle Kompetenz bestünde demnach in der Fähigkeit, die eigenen, subjektiven Konstruktionsprozesse von
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Busch: Aktuelle Entwicklungen in der sprachwissenschaftlichen Forschung zur interkulturellen
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Kulturverständnissen zu reflektieren und Grenzen und Möglichkeiten darüber hinausgehender Handlungsoptionen auszuloten und anzuwenden.
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Schreiter: Kultur zwischen Ökonomisierung und kreativer Unordnung. Eine designtheoretische
Perspektive
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institution)
tion, institution)
Anne Schreiter
Dipl.-Kommunikationswirtin, wissenschaftliche Assistentin im Profilbereich „Kulturen, Institutionen,
Märkte“ der Universität St. Gallen, Schweiz.
Abstract [English]
The paper introduces two different perspectives on culture:
An economic lens focussing on pre-rationalised models and a
kaleidoscopic lens revealing cultural fuzziness. However, the
latter approach faces challenges of methodology and scientific self-conception. A rather unorthodox way of dealing with
such challenges could be examining how the activity of
design as a professionalized process deals with complex situations. After outlining characteristic practices of the design
process, the paper then applies these dynamics to the enactment of reciprocal relationships. Finally, it draws conclusions
for the field of inter-cultural research.
Keywords: Constructions of culture, design, fuzzy cultures,
inter-cultural research
Abstract [Deutsch]
Die wissenschaftlichen Perspektiven auf den Gegenstand Kultur konstruieren kulturelle Wirklichkeit auch immer ein Stück
weit mit. Der vorliegende Beitrag stellt zwei solcher möglichen Blickwinkel auf Kultur vor: Den durch eine ökonomisierte Linse, die vorab rationalisierte Modelle sichtbar macht und
den durch eine kaleidoskopische Linse, die kulturelle Fuzziness erkennen lässt. Um den Herausforderungen in der
Methodologie und dem wissenschaftlichen Selbstverständnis
der letzteren zu begegnen, skizziert der Beitrag eine recht
unkonventionelle Möglichkeit: Es zeigt, wie Designer idealtypischer Weise an komplexe und unsichere Vorgaben herangehen. Die Ideen aus dem Prozess des Designens werden
dann zum einen auf den Entstehungsprozess von Reziprozitätsdynamiken übertragen; zum anderen helfen sie im Anschluss mit neue Denkanstöße für den Bereich der interkulturellen Kommunikationsforschung zu formulieren.
Stichworte: Kulturkonstruktionen, Design, fuzzy cultures, interkulturelle Kommunikationsforschung
1.
Beyond the Looking Glass – Einleitung
Der Versuch, kaleidoskopisch vielfältige und über mehrere
Ebenen verstrickte Netzwerke reziproker Beziehungen unter
dem Begriff Kultur zu subsumieren, kann durchaus in der Einsicht münden, Kultur sei nicht viel mehr (oder weniger) als
„messy human stuff“ (Jordan 1994:4). Wozu also überhaupt
Kultur? Die Frage stellt sich inzwischen nicht mehr nur aus
wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse, sondern ist zunehmend an die Vergabe von Geldern und Anforderungen aus
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Schreiter: Kultur zwischen Ökonomisierung und kreativer Unordnung. Eine designtheoretische
Perspektive
der Wirtschaft geknüpft. Die Rechtfertigungsversuche seitens
der wissenschaftlichen Community und des Feldes der interkulturellen Dienstleister schlagen sich daher mitunter in einer
Ökonomisierung des Gegenstands Kultur nieder, also in einem „Vorgang, durch den Merkmale, die man gemeinhin mit
Wirtschaft verbindet, wirkmächtiger werden“ (Schimank
2008:622). So soll sich Kultur zunehmend auch verkaufen
lassen. Eine Schlussfolgerung daraus – bevorzugt, aber nicht
ausschließlich bei wirtschaftsrelevanten Fragestellungen – ist
die konsequente Rationalisierung und Objektivierung von Kultur. Ooi (2007) unterscheidet daher zwischen „lived culture“
und „packaged culture“ (ebd.:127): „In packaging culture,
researchers make tacit decisions. Eventually, the packaging
process involves what to accentuate, what to marginalize,
how much complexity to present and to whom the
knowledge is to be sold” (ebd.:128). Die Auswahl und Dominanz solcher „packages“ sind insofern relevant, als dass sie
Präferenzen für Wahrnehmungskategorien bestimmen können. Ein deutscher Manager, der beispielsweise in mehreren
Trainings von nationalkulturellen Dimensionen gehört hat,
wird in seinem chinesischen Geschäftspartner gezielt nach
diesen gelernten Merkmalen suchen. Das heißt nicht, dass er
diese nicht auch finden könnte oder Unterschiede nicht existent wären. Es bleibt jedoch offen, inwieweit er deren kontextgebundene Relevanz einschätzen kann und ob er womöglich andere Anknüpfungspunkte übersieht. Kulturelle Interaktionen sind daher zwar immer auch konstruiert,
primordiale Einflüsse wie nationale und organisationale Rahmenbedingungen und ex- oder implizite Annahmen der Interaktanten sind allerdings Bestandteil dieser Konstruktionen.
Eine Verbindung konstruktivistischer und primordialer Ansätze muss konsequenterweise kein Widerspruch sein, wie auch
Hinweise aus der Literatur zeigen, bspw. bei Law und Urry
(2003): „[T]he world we know in social science is both real
and it is produced” (ebd.:5). Alvesson (1995) versteht Kultur
als „a way of thinking about social reality” (ebd.:2), auch hier
finden Konstrukt und Gegebenes zusammen. Das bedeutet
jedoch, dass sich Wissenschaftler der Auswirkungen ihrer Forschungsarbeiten bewusst sein müssen, denn „[i]f methods
also produce reality, then whatever we do, and whatever we
tell, social science is in some measure involved in the creation
of the real. There is no innocence” (Law / Urry 2003:10). So
konstruieren nicht nur die Forschungssubjekte, sondern eben
genauso die verschiedenen wissenschaftlichen Annahmen
über Kultur den Gegenstand selbst mit (Busch 2011:16). Dabei bringt jeder Forscher einen bestimmten Blickwinkel mit in
seine Untersuchungen ein, aus dem heraus er die emischen
Perspektiven auf das, was als Kultur gelabelt wird, bewertet.
Kulturtheorie funktioniert also eher als Linse, durch die kultu-
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Schreiter: Kultur zwischen Ökonomisierung und kreativer Unordnung. Eine designtheoretische
Perspektive
relle Prozesse betrachtet werden können und weniger als deren Spiegel (vgl. Rorty 1979, zitiert nach Alvesson / Deetz
2000:37). Doch wie sieht der Blick durch unterschiedliche Linsen aus? Worauf ist er gerichtet und welche Auswirkungen
hat er auf den Gegenstand Kultur?
2.
2.1
Wissenschaft, Design und Kultur
Vom Umgang mit komplexen Systemen
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Kultur ist auch
immer eine kritische Beschäftigung mit Komplexität. Der Begriff Komplexität, der inzwischen Buzzword-Charakter erreicht hat, ist an sich zunächst recht unspektakulär. Nüchtern
betrachtet tritt Komplexität dann auf, wenn die Zahl der Variablen in einem System relativ hoch ist, wenn diese Variablen
miteinander verbunden sind und sie sich gegenseitig beeinflussen (Glanville 2007:86). Die dabei auftretende Grundsatzfrage, ob Komplexität im System liegt, das ein Beobachter
betrachtet oder ob sie darin liegt, wie der Beobachter dieses
System betrachtet, ist dabei die eigentlich interessante und
streitbare Überlegung (ebd.:77). So ist zwar feststellbar, dass
Komplexität relativ größer oder kleiner sein kann, die subjektive Wahrnehmung ist jedoch nicht zwangsläufig gleich. Die
daraus resultierenden Diskrepanzen werden dann relevant,
wenn sie problematisch erscheinen und beispielsweise die
Handlungsfähigkeit einschränken oder generell als unangenehm empfunden werden. In einem komplexen System heißt
das, dass Variablen und deren Verbindungszusammenhänge
unbekannt oder undeutlich sind. Übertragen auf Kultur oder
zumindest zunächst einmal auf menschliche Interaktionen
folgt daraus, dass es zu mehr oder minder starken Fremdheitsgefühlen kommen kann. Das Spektrum reicht dabei von
kommunikativ leicht behebbaren Irritationen bis dahin, dass
Erklärungs- und Plausibilitätsspielräume ausgeschöpft sind
und Konflikte entstehen (Bolten 2009:252). Teilweise oder
völlig unbekannte komplexe Systeme sind also der Schauplatz
klassischer interkultureller Kontaktsituationen. Je nachdem,
wie Komplexität aus einer Betrachterperspektive heraus gehandhabt wird, gestaltet sich der etische Schliff der Linse,
durch die der Blick auf solche interaktiven Prozesse fällt.
Eine ökonomisierte Linse ergibt sich hauptsächlich aus einem
normativ-funktionalistischen oder mitunter positivistischen
Verständnis von Kultur. Das betrifft zum einen Bereiche der
kulturvergleichenden Psychologie. Zum anderen fördert deren
Methodenähnlichkeit auch die inhaltliche Nähe beim Verständnis von Kultur in Teilgebieten der Wirtschaftswissenschaften (Janzer 2007:28). Kultur hat in solchen Kontexten
51
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Schreiter: Kultur zwischen Ökonomisierung und kreativer Unordnung. Eine designtheoretische
Perspektive
eine konkrete Aufgabe, beispielsweise die, Managementprozesse oder Mitarbeiterleistungen effizienter zu gestalten.
Komplexität wird dabei vordergründig als Störfaktor für Routinen und die Ausschöpfung von Ressourcen wahrgenommen
und muss als Konsequenz reduziert werden. Dafür werden
relevant erscheinende Variablen präzise definiert und in bestehende Modelle und Schemata eingefügt (Glanville
2007:88). Einflüsse, die nicht in Variablen übersetzt werden,
finden darin (meist) keinen Eingang. Dazu gehören z. B. oft
irrationale oder emotionale Verhaltensweisen, spezifische Persönlichkeitsmerkmale und Kontexte etc. Aus einer solchen Art
der Simplifizierung von Komplexität lässt sich dann nicht nur
eine, sondern die beste Lösung in einem abgesteckten Rahmen für ein vorgegebenes Problem durch logische Schlussfolgerungen finden (ebd.). So können Leitfäden und Verhaltenskataloge für verschiedene Interaktionssituationen erstellt
werden. Das ist besonders dann hilfreich, wenn sich wiederholende Arbeitsabläufe routinisiert und ressourcenschonender geplant werden sollen oder auch wenn z. B. schnelle Orientierung in moralischen Dilemmasituationen innerhalb von
Organisationen möglich gemacht werden soll.
Die generelle Krux einer solchen Vorgehensweise liegt darin,
dass Komplexität nicht nur im Sinne einer mathematisch definierbaren Variablenlandschaft existiert, sondern auch chaotische, irrational-veränderliche oder gänzlich unvorhersehbare
Elemente bereithält. Kultur umfasst und vereint allerdings
auch solche Bruchlinien. Einerseits gelingt das dadurch, dass
Kultur Normalität (Schütz / Luckmann 1979), d. h. „Orientierungssicherheit, Plausibilität, Sinnhaftigkeit und Fraglosigkeit“
(Bolten 2000:1) angesichts dieser Verwerfungen stiften kann
(Rathje 2004), andererseits können solche Irritationen als Initialzündung für Reflexionsprozesse wirken und bilden damit
die Voraussetzung für die stetige Erneuerung kultureller Prozesse (Kettner 2008, Krotz 2005). Werden diese Besonderheiten und nicht erfassten Variablen vollständig und von vornherein bei Seite geschoben, entsteht sehr wahrscheinlich eine
Diskrepanz zwischen etischer und emischer Wahrnehmung
von interaktiven Prozessen (Mahadevan 2007). Dadurch erklärt sich auch die Schere zwischen eher praxisorientierten
und stark vereinfachten Kulturmodellen und interpretativdetaillierten Beschreibungen. Zudem erschweren es VorabReduktionen, Wandlungsprozesse zu erfassen und darauf zu
reagieren. Diese Probleme fließen auch in die ausführliche
Kritik der wissenschaftlichen Community, einschließlich der
Wirtschaftswissenschaften, hauptsächlich an den bekannten
Dimensionsmodellen ein (z. B. Bolten 2000, Cray / Mallory
1998, Hansen 2009b, Kirkman et al. 2006, McSweeney
2002, Ooi 2007, Rathje 2003). Doch obwohl bspw. interpretative Ansätze besonders durch eine andere methodische
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Schreiter: Kultur zwischen Ökonomisierung und kreativer Unordnung. Eine designtheoretische
Perspektive
Herangehensweise die genannten Fallstricke zu vermeiden
suchen, ist damit ein basales und disziplinenübergreifendes
Problem noch nicht behoben: Es sind nicht die unterschiedlichen Modelle und divergierenden „Idea[s] of Culture“ (Eagleton 2000), die problematisch sind. Denn solange eine immanente und kontextrelevante Kritik möglich ist, belebt und erneuert sie das Feld interkultureller Forschung. Vielmehr bleibt
zu diskutieren, inwieweit disziplinär eigene Theorien selbst
hinterfragt werden und inwieweit auch in Zusammenarbeit
oder zumindest auf andere Anregung hin Neues entstehen
kann. Eine Brücke zu einem verstärkten und tatsächlich interdisziplinären Austausch versucht das Konzept der „fuzzy cultures“ (Bolten 2011:3) zu schlagen. Aufbauend auf der Idee
der fuzzy logic (Zadeh 1973) versucht der Ansatz statt verschiedener Pole das Spektrum dazwischen in den Blick zu
nehmen. Es geht demzufolge um „Zugehörigkeitsgrade“
(Bolten 2011:3), die Aspekte sowohl des einen wie auch des
anderen Pols in sich tragen: „Eine fuzzy culture ist dementsprechend eher beziehungs- als substanzorientiert aufzufassen: Sie definiert sich vor allem über die Intensität, mit der
sich Akteure auf sie beziehen“ (ebd.). Daher können bei der
Beschreibung von Interaktionen auch mehrere kulturtheoretische Ansätze gleichzeitig wirksam werden und je nach Kontext nebeneinander auftreten. Die Linse ist dabei am besten
mit einem Kaleidoskop vergleichbar: Je nachdem wie sie gedreht wird, entsteht ein anderes, neues Bild aus den bestehenden Bausteinen. Damit soll jedoch kein blinder Kulturbegriffsrelativismus propagiert werden. Auch hier müssen dem
Forschungsdesign Plausibilität und Nachvollziehbarkeit zu
Grunde liegen.
Die größte Herausforderung bei diesen Überlegungen ist deren methodische Erfassung und die kreative, aber auch alltagstaugliche Weiterentwicklung der verschiedenen Einstellungen gegenüber dem Forschungsgegenstand Kultur. Einen
interessanten, wenn auch ausdrücklich experimentellen Ansatz bieten Ideen aus einem Bereich, der sich normalerweise
nicht sofort als Möglichkeit einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Kultur erschließt: dem Design. Zwar muss
sich auch Design ökonomischen Anforderungen beugen und
so ist auch diese Perspektive in der Praxis nicht völlig idealtypisch. Im Bereich der Theorie kann allerdings gerade das Idealtypische bestimmte Zusammenhänge besonders gut illustrieren. Dabei spielt der Prozess von Design als Tätigkeit, also
des „to design“, die zentrale Rolle (Glanville 2007:77). Am
Anfang dieses Prozesses steht, wie auch bei der Auseinandersetzung mit kulturellen Prozessen, eine komplexe
Situation oder Aufgabe, die geprägt ist von Unsicherheiten
(ebd.:78). Als professionalisierter Umgang mit Komplexität
folgt der Designprozess bei der Bewältigung dieser Anforde53
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Schreiter: Kultur zwischen Ökonomisierung und kreativer Unordnung. Eine designtheoretische
Perspektive
rungen immer wiederkehrenden Abläufen, die mit einem besonderen Selbstverständnis zusammentreffen: So wechseln
sich immer wieder Sequenzen des Ausprobierens mit zwischengeschalteten Reflexionen ab. Meist gelingt das dadurch,
dass erste Ideen durch analoge oder digitale Skizzen, aber
auch durch einfaches Kritzeln, visualisiert werden. Dadurch ist
es für den Designer leichter, die eigene Idee zu überdenken,
weiterzuentwickeln oder zu verwerfen (Glanville 2007:89).
Deutlich fruchtbarer ist der Prozess allerdings in einem Team,
das nicht nur die Ursprungsidee verändern, sondern gänzlich
neue Ideen einbringen kann (ebd.:90). Die Variablen und deren Verknüpfungen werden also kritisch reflektiert und ausgehandelt – die Idee als Ganzes wird so entwickelt, modifiziert, beibehalten oder aber auch völlig verworfen.
Solche Sackgassen oder Überschüsse und damit verbundene
Neuanfänge sind jedoch nicht nur eingeplant, sondern sogar
wichtig: Zum einen kann erst so Neues und Unerwartetes
überhaupt in Erwägung gezogen werden, zum anderen bietet ein vermeintlicher Fehlschlag mitunter die Lösung für ein
Problem, das noch gar nicht definiert und entdeckt wurde. In
diesem Fall bestimmt nicht das Problem die Lösung, sondern
umgekehrt die Lösung das eigentliche Problem (ebd.:93). Die
Wirkkraft dieser Annahme zeigt sich in einem Zitat, das dem
britischen Architekten Sir Denys Lasdun zugeschrieben wird:
„Our job is to give the client not what he wanted, but what
he never knew he wanted until he saw it“ (zit. in Glanville
2010:5).
Eine weitere Stärke von Brüchen während des Designprozesses ist die Einsicht, dass es beim Ergebnis um Angemessenheit
anstelle von Perfektion im Sinne einer einzigen, besten Lösung geht (Glanville 2007:93). Für ein vorgegebenes komplexes Problem sind immer mehrere Lösungen denkbar und passend. Ein Designprozess ist daher nie geschlossen und bietet
immer wieder die Möglichkeit von Anschlusshandeln (ebd.).
Zudem kann die scheinbar eine perfekte Lösung nach unterschiedlichen Maßstäben beurteilt werden. Am Beispiel des
US-amerikanischen Grafikdesigners David Carson lässt sich
diese These gut illustrieren: Carson bricht ganz selbstverständlich mit Regeln der Typografie, des Satzes, der Übersichtlichkeit. Nach diesen Gesichtspunkten sind seine Designprodukte alles andere als perfekt. Gerade deswegen sind sie
jedoch in bestimmten Kontexten besonders angemessen und
wecken Interesse beim Betrachter.
Ziel eines Designprozesses ist es schließlich, etwas Neues zu
gestalten und ein Ergebnis vorzuweisen, das einer komplexen
Anforderung zumindest für den Moment gerecht wird. Die
Begründung dafür kann nachträglich als simpel, stringent und
nachvollziehbar präsentiert werden. Der Weg hin zum Ergeb-
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Schreiter: Kultur zwischen Ökonomisierung und kreativer Unordnung. Eine designtheoretische
Perspektive
nis ist allerdings ungerade und voller Hindernisse, aber auch
partizipatorisch und vielschichtig reflektiert (Glanville
2007:87). In diesem besonderen Umgang mit Komplexität
liegt der Unterschied zu einer reinen Vorab-Reduktion, die
den Möglichkeiten komplexer Vorgaben kaum gerecht werden kann.
2.2
Kultur als interaktiver Designprozess
Der beschriebene Designprozess ist zunächst auch immer ein
kultureller: Die soziale Praxis des Designens ist ein Aspekt, der
Normalität im Sinne sozialen Routinehandelns, Plausibilität
und Vertrautheit (Bolten 2003:108) im abstrakten Kollektiv
(Hansen 2009a) der Designschaffenden herstellt. Ähnliche
Abläufe zeigen sich allerdings auch in anderen, nichtprofessionalisierten interaktiven Prozessen, in denen die Akteure mit mehr oder minder neuen Variablen zurechtkommen
müssen. Deren vorläufiges Ziel ist dann kein Designprodukt,
wie ein Logo etc., sondern vielmehr sind es Reziprozitätsdynamiken, d. h. Beziehungen, die Normalität in einem bestimmten Kontext aufbauen. Wie ein Designprodukt sind diese nicht ewig aktuell und perfekt, bestenfalls wohl aber angemessen. Damit dies gelingen kann, müssen Beziehungen
gepflegt werden, es geht hier also um Kultur in ihrem ganz
ursprünglichen Sinn. Kultur als Beziehungspflege impliziert
dann einen aktiven und möglichst verantwortungsbewussten
Prozess. Idealerweise „verhindert [Kultur dabei aber nicht] die
Überlegung, was man anstelle des Gewohnten anders machen könnte“ (Luhmann 1997:588, zitiert nach Günther
2004:16), sondern äußert sich eben gerade in der Fähigkeit
zur Auseinandersetzung, zum Eingreifen und zur Entwicklung. Das ist immer dann notwendig, wenn Brüche, kommunikative Unfälle und Verstehensdefizite das Nicht-Normale
und Nicht-Vertraute sichtbar machbar. In einer solchen interkulturellen Situation lassen sich durchaus Parallelen zum Prozess des Designens ziehen, auch wenn hierbei natürlich wieder auf das Idealtypische zurückgegriffen wird. Zunächst geht
es auch in menschlichen Interaktionen, in denen noch keine
Normalitätsspielräume ausgehandelt worden sind, um das
Ausprobieren. Die Art hängt dann von verschiedenen Faktoren ab, bspw. von persönlichen Erfahrungen, also der Historizität (Bolten 2009), die eingebracht wird, aber auch von der
Persönlichkeit, von machtpolitischen und egoistischen Motiven, von gesellschaftlichen oder funktionalen Anforderungen.
All diese Größen können zudem zu unterschiedlichen Zeiten
und in unterschiedlichen Kontexten virulent werden, die Situation ist also hochgradig fuzzy und mitunter auch messy. Es
ist daher kaum überraschend, dass es zu Missverständnissen
oder kommunikativen Unfällen kommen kann. Obwohl es
generell nachvollziehbar ist, dass dabei tiefgreifende Konflikte
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Schreiter: Kultur zwischen Ökonomisierung und kreativer Unordnung. Eine designtheoretische
Perspektive
verhindert werden sollen, sind doch gerade kleine Irritationen, ein Sich-Wundern oder Aufhorchen durchaus nützlich,
da sich erst dann Neues entwickeln kann, wie auch Lotman
(2010) festhält: „Neues entsteht nicht, wo Verständigung reibungslos funktioniert und kulturelle Muster uns die Orientierung im Alltag erleichtern. Es entsteht, wo wir nicht unmittelbar verstehen und unsere Ordnungsmuster versagen“
(ebd.:2). Denn Brüche regen im Idealfall Kollektive und Individuen zum Nachdenken an, „warum sie erleben, was sie erleben, warum sie sich verhalten, wie sie sich verhalten, und ob
es auch anders und womöglich besser gehen könnte“ (Kettner 2008:19). Das, was normal und vertraut ist, wird hinterfragt. Was dann letztendlich in Folge solcher Brüche passiert,
ob das bisher Selbstverständliche verworfen, geändert oder
auch verteidigt wird, bleibt offen. Ohne diese Verwerfungen
wird Kultur jedoch statisch und sklerotisch, sie verliert die Fähigkeit zur Weiterentwicklung und damit in letzter Konsequenz ihre Existenzgrundlage (Krotz 2007).
Die kontingenten Möglichkeiten von Reziprozitätsdynamiken,
die Kultur entstehen lassen, sind konsequenterweise niemals
perfekt im Sinne einer singulären Lösung, wenn auch einige
Optionen angemessener sein mögen als andere. Dadurch
wird zum einen Raum für Anschlusshandeln geschaffen, zum
anderen spielt dabei auch wieder die Perspektive auf eine bestimmte Lösung eine Rolle. Was aus der einen als angemessen erscheint, mag aus einer anderen Blickrichtung weniger
gelungen sein. Das liegt auch daran, dass sowohl die Wahrnehmung von Brüchen und Differenzen, als auch die von
Normalität und Vertrautheit subjektiv und kontextabhängig
sind. Kultur ist niemals neutrales Terrain, besonders nicht in
organisationalen Zusammenhängen:
„Organizational culture not only serves ‘positive‘ functions such as fulfilling
people’s needs for meaning, guidance, and expressiveness but also leads to
closure of mind, restriction of consciousness, and reduction of autonomy.
Culture provides direction, but also prevents us from ‘seeing’. Culture reflects and reinforces not only (true) consensus but also hegemony and
domination” (Alvesson 1995:120).
Gerade in solchen Kontexten ist es interessant zu erfragen,
wie denn dort ein verbindender „Kitt“ (Hansen 2000:213) als
gemeinsamer Normalitätsspielraum für die Unterschiede aushandelbar ist. Im besten Falle kommt dabei ein wenig Design
zum Zug, das einen partizipativen Prozess zulässt, in dem verschiedene Möglichkeiten ausprobiert, verworfen oder modifiziert werden können und nicht von vornherein eliminiert und
zurechtgestutzt werden. Ansonsten besteht die bereits benannte Gefahr einer Diskrepanz zwischen emischen und etischen Wahrnehmungen (Mahadevan 2007). Darin liegt bspw.
auch ein Grund, warum vorgefertigte Wertekataloge oder
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Schreiter: Kultur zwischen Ökonomisierung und kreativer Unordnung. Eine designtheoretische
Perspektive
Corporate Identities oft schwer in die gelebte Praxis eines Unternehmens übersetzt werden können.
2.3
Ideen für die Interkulturelle Kommunikationsforschung
Designer schaffen es, Anforderungen, die messy und fuzzy
sind, auf professioneller Basis mit Methoden zu begegnen,
die ebenfalls einen solchen Charakter haben. Law (2006)
überträgt diese Idee auf die wissenschaftliche Sozialforschung:
„In practice research needs to be messy and heterogeneous. It needs to be
messy and heterogeneous, because that is the way it, research, actually is.
And also, and more importantly, it needs to be messy because that is the
way the largest part of the world is – messy, unknowable in a regular and
routinised way“ (ebd.:2).
Auch die interkulturelle Kommunikationsforschung kann von
diesen Einsichten profitieren, denn der Gegenstand Kultur
bzw. kulturelle Emergenzprozesse ähneln in ihrer Beschreibung anderen komplexen Prozessen, die sich Designer für
ihre tägliche Arbeit zu eigen gemacht haben. Laws (2006)
Frage: “If this is an awful mess …then would something less
messy make a mess of describing it?” (ebd.:2) könnte dann
umformuliert lauten: Könnte Kultur, die fuzzy und messy ist,
mit eben solchen (designähnlichen) Methoden umfassender
oder zumindest einmal anders und innovativ erfasst werden?
Dabei ist jedoch anzunehmen, dass Wissenschaftler nach ihrem intuitiven Verständnis oftmals ähnlich wie Designer an
ein Problem herangehen – aber genau wie auch Designer mit
ökonomischen oder funktionalen Anforderungen konfrontiert
sind, die sie darin einschränken. Die Auswirkungen können
dann – durchaus etwas überspitzt zusammengefasst – so aussehen:
„Wir neigen nämlich in Deutschland genauso wie im ganzen Westen dazu,
zu glauben, dass uns nur dann Gesellschaft ein verlässlicher Ordnungszusammenhang ist, wenn er auf irgend eine Art von Technik reduziert werden kann, auf irgend eine Art von Technik, die etwas mit Kausalität, mit
Ursache- und Wirkungsverhältnissen zu tun hat. Wir kriegen das innere
Kribbeln, wenn wir merken, hier hat man es nicht mit Kausalität zu tun,
hier läuft kein technischer Prozess, hier gibt es keinerlei Verlässlichkeit, was
als nächstes passiert, sondern nur Unzuverlässigkeit und ein extremes Raffinement der Verhältnisse, mit dieser Unzuverlässigkeit umzugehen“
(Baecker / Eckold 2006:1).
Aufgrund dieser einwirkenden Annahmen ist es hilfreich, eigene Routinen gelegentlich aktiv zu hinterfragen und sich
auszutauschen. In der wissenschaftlichen Community tauchen zunehmend gerade auch Fragen nach der methodischen
Erfassung von Phänomenen, die als kulturell gelabelt werden,
auf: Reichen Interviews als Instrument aus bzw. sind sie im-
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Schreiter: Kultur zwischen Ökonomisierung und kreativer Unordnung. Eine designtheoretische
Perspektive
mer angemessen? Wie sollten sie geführt werden? Welche
ergänzenden Methoden, bspw. aus dem Bereich der Ethnografie, darunter der visuellen Ethnografie, der Bildanalyse
oder ganz anderen methodischen Ansätzen können kombiniert und neu entdeckt werden? Damit verzahnte Überlegungen können bei der Präsentation von Ergebnissen und Forschungsideen ansetzen. So wäre es bspw. interessant, auch
krumme Wege und Hindernisse, Irritationen und darauf bauende, fruchtbare Neuanfänge vorstellen und diskutieren zu
können. Dabei kann insbesondere die grafische Umsetzung
der Inhalte sehr hilfreich sein, wie Studien zu Designanwendungen aus dem Managementbereich zeigen (Eppler 2008,
2009). So unterstützt eine Bandbreite an Visualisierungstechniken, wie z. B. Metaphern, Mind-Maps und dynamische Präsentationsprogramme das Verständnis und die Verknüpfung
von Gesagtem.
3.
Fazit
Interkulturelle Kommunikationsforschung ist in verschiedener
Hinsicht eine Herausforderung: „Doing and understanding
(qualitative) empirical research on intercultural communication […] is tricky as the researched ‘objects‘ are phenomena
in flux, explored via various disciplinary – and sometimes interdisciplinary – approaches” (Otten / Geppert 2009:5).
Gerade in dieser Schwierigkeit liegt jedoch auch eine bedeutende Chance: „Instead of bemoaning this situation it seems
more appropriate to remember what intercultural communication, in its very practical and existential sense, is all about:
Specifically, a matter of curiosity, ambiguity, surprise, enrichment, and – occasionally – irritation” (ebd.:22).
Es wäre wünschenswert, dass jene Faktoren nicht gänzlich
von (derzeitigen) ökonomischen und technisierten Anforderungen überlagert würden. Das soll jedoch keinesfalls heißen,
dass Wissenschaft selbstgenügsam wirtschaftlichen Ansprüchen trotzen müsste. Vielmehr sollten eben gerade neue
Ideen aus der interkulturellen Kommunikationsforschung attraktiv für wirtschaftliche Zwecke werden und so ein Umdenken in Gang setzen, das schrittweise festgefahrene (konstruierte) Wirklichkeiten aufbricht. Ideen aus der Tätigkeit des
Designens können helfen, über solche neuen Wege in der
interkulturellen Forschung weiter nachzudenken und vielleicht in einigen Bereichen verstärkt umzusetzen. Dazu gehört
ein zunehmender interdisziplinärer Austausch, der auf immanenter Kritik und wohlwollender Irritation eigener und fremder Auffassungen beruht. Krumme Wege sollten es wert sein
– zumindest im internen Austausch und zum Zweck der Reflexion – nicht künstlich zurechtgebogen zu werden, auch
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Schreiter: Kultur zwischen Ökonomisierung und kreativer Unordnung. Eine designtheoretische
Perspektive
oder gerade wenn das Ergebnis dann nachvollziehbar und
plausibel ist. Dabei können verschiedene Methoden ausprobiert und kombiniert werden. Die Darstellung von Ergebnissen kann mit Verweis auf bestehende Designanwendungen
nicht nur Schnörkel, sondern tatsächlich Werkzeug für die
Vermittlung einer Idee sein. Die Möglichkeiten sind für alle
Punkte vielgestalt und können letztendlich im Sinne Foucaults
(1999:141) begriffen werden: „What is interesting is always
interconnection. Not the primacy of this over that, which has
never any meaning."
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Schreiter: Kultur zwischen Ökonomisierung und kreativer Unordnung. Eine designtheoretische
Perspektive
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Marschelke: Recht und Kultur – Skizze disziplinärer Zugänge der Rechtswissenschaften zu Kultur
und Interkulturalität
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tion, institution)
Jan-Christoph Marschelke
Dr. Jan-Christoph Marschelke ist
Geschäftsführer des Projekts
„Globale Systeme und interkulturelle Kompetenz“ (GSiK) an der
Universität Würzburg.
Abstract [English]
This article reflects on the relation between jurisprudence and
culture and interculturality on three levels. It firstly describes
the need for jurists to acquire intercultural competence. This
need is not only one for personal skills but one for the improvement of a legal system. It secondly states that specific
methods of jurisprudence cannot contribute significantly in
an interdisciplinary discourse about culture and interculturality. The third and most important part of the article figures
out conceptual relations between law, right, culture, inter-,
multi- and transculturality. The focus lies on the human compliance with (legal) rules, the differentiation between law in
the books and law in action, comparative law and the legal
challenges of a multicultural society.
Keywords: Law, jurisprudence, culture, interculturality, multiculturality
Abstract [Deutsch]
Der Beitrag reflektiert das Verhältnis von Recht, Kultur und
Interkulturalität auf drei Ebenen. Erstens wird skizziert, warum Juristen interkultureller Kompetenz bedürfen: nicht nur
als personelle Qualifikation sondern auch, damit das Rechtssystem besser funktioniert. Zweitens wird festgestellt, dass
spezifisch rechtswissenschaftliche Methodik keinen signifikanten Beitrag zum interdisziplinären Diskurs um Kultur und Interkulturalität leisten dürfte. Drittens werden begriffliche
Konstellationen zwischen Recht auf der einen und Kultur, Inter-, Multi und Transkulturalität auf der anderen Seite skizziert. Der Fokus liegt auf dem Phänomen der Regelbefolgung,
der Unterscheidung zwischen geschriebenem und gelebtem
Recht, dem Rechtsvergleich und den Herausforderungen,
welche die multikulturelle Gesellschaft an das Recht stellt.
Stichworte: Recht, Kultur, Rechtsvergleich, Interkulturalität,
Multikulturalität
1.
Einleitung
Welchen disziplinären Zugang könnte die Rechtswissenschaft
zu den Themen und Begriffen der Kultur und der Interkulturalität haben? Welchen Beitrag könnte sie leisten, um das interdisziplinäre Verständnis zu befördern?
Eine gründliche Beantwortung dieser Fragen ist herausfordernd, interessant und in diesem Rahmen nicht zu bewältigen. Prinzipiell setzt sie nämlich voraus, alle drei Topoi adä-
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Marschelke: Recht und Kultur – Skizze disziplinärer Zugänge der Rechtswissenschaften zu Kultur
und Interkulturalität
quat zu erklären: Recht bzw. Rechtswissenschaft, Kultur und
Interkulturalität. Mehr als Skizzieren und exemplarisches Anreißen wird angesichts derart abstrakter Begriffe nicht möglich sein. Ich gehe zudem davon aus, dass die Leserschaft des
Interculture Journal ein ausgeprägtes Vorverständnis der letzten beiden Begriffe mitbringt.
Die Fragestellung ist des Weiteren interessant, weil man wohl
behaupten darf, dass Rechts- und Kulturwissenschaften keinen gemeinsamen Diskurs über ihre Grundbegriffe pflegen.
Ziel dieses Beitrags ist es daher, von einigen rechtswissenschaftlichen Ausgangspunkten auf die Begrifflichkeiten Kultur
und Interkulturalität hinzuführen. Derart sollen Schnittstellen
sichtbar werden, die konkretisiert werden können. Eine Differenzierung zwischen Kulturwissenschaften im engeren Sinne
und weiterer mit Kultur befasster Disziplinen (z. B. Kultursoziologie) erfolgt nicht: Dass sich mit Kultur und Interkulturalität
mehrere andere Disziplinen beschäftigen, ist schließlich das
Lebenselixier dieses Special Issue und wird vorausgesetzt.
Interessant ist die Fragestellung schließlich deshalb, weil sie
dem Verfasser meist umgekehrt begegnet: Warum und wozu
sollten Rechtswissenschaftler sich mit Kultur und Interkulturalität beschäftigen? Warum und wozu sollten Juristen (das
schließt Studierende und Praktiker mit ein) interkulturelle
Kompetenz erwerben?
Beginnen möchte ich mit einigen Präliminarien (2.), die helfen
sollen, die diversen eingenommenen Blickwinkel auseinander
zu halten. Anschließend wird kurz abgehandelt, welchen
Nutzen interkulturelle Kompetenz für Juristen haben kann (3.)
und ob sich ein gewichtiger methodischer Beitrag der
Rechtswissenschaft zu dem interdisziplinären Diskurs über
Kultur und Interkulturalität vorstellen lässt (4.). Der Hauptteil
(5.) beschäftigt sich damit, Begriffe und Gegenstandsbereiche
aus den Rechtswissenschaften zu denen aus dem Umfeld von
Kultur und Interkulturalität in Bezug setzen.
2.
Präliminarien: Fünf Grundunterscheidungen
Vorweg sollen fünf Grundunterscheidungen getroffen werden, welche die verschiedenen Perspektiven des Beitrags erkennbar machen. Auseinanderzuhalten wären erstens Rechtswissenschaft und juristische Praxis; zweitens die durchaus
theoriegesättigten Begrifflichkeiten Kultur und Interkulturalität einerseits und die praxisaffine Schlüsselqualifikation Interkulturelle Kompetenz andererseits. Diese Unterscheidungen
sind vor allem für den dritten Teil von Belang.
Um die Orientierung im vierten und fünften Teil zu erleichtern, ist die Rechtswissenschaft auszudifferenzieren und zwar
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Marschelke: Recht und Kultur – Skizze disziplinärer Zugänge der Rechtswissenschaften zu Kultur
und Interkulturalität
in ihren Kernbereich (Rechtsdogmatik) und ihren Grundlagenbereich (Rechtstheorie, Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie). Die Rechtsdogmatik konzentriert sich darauf, das bestehende Rechtssystem im Hinblick auf einzelne Normen, Normenkomplexe und Falllösungen zu interpretieren und anzuwenden. Darin liegt der Ausbildungs-, Forschungs- und Anwendungsschwerpunkt der Rechtswissenschaften. Im Grundlagenbereich werden hingegen Strukturfragen behandelt: das
Verständnis der grundlegenden und übergreifenden Begrifflichkeiten (Staat, Recht, Pflicht, Vertrag etc.), die Frage nach
der Gerechtigkeit, aber auch z. B. die logischen Grundstrukturen von Rechtssätzen (siehe dazu Neumann 2009) oder die
Wechselwirkung von Recht und Gesellschaft.
Viertens ist es vonnöten, das geschriebene Recht (law in the
books) von der Rechtswirklichkeit (law in action) zu unterscheiden. Dass sich eine Rechtsnorm in den Gesetzesbüchern
finden lässt, muss nicht heißen, dass sie tatsächlich auch befolgt und durchgesetzt wird.
Fünftens schließlich sollte man nach Erkenntnisgegenstand
abgrenzen: Betrachtet man das Recht der eigenen Gesellschaft, das einer anderen (sogenannte Auslandsrechtskunde,
Rheinstein 1974:27), macht man einen Rechtsvergleich oder
konzentriert man sich auf inter- und transnationale Rechtsstrukturen? Ähnliche im interkulturellen Diskurs: Hier spricht
man z. B. von kultureller Selbstreflexion, Cultural Studies (anderer Kulturen), Kulturvergleich oder der Betrachtung interbzw. transkultureller Phänomene.
Der Schwerpunkt dieses Beitrags wird bei den Verbindungslinien zu verorten sein, die sich zwischen dem Grundlagenbereich der Rechtswissenschaft und den Begriffen der Kultur
und Interkulturalität herstellen lassen. Dennoch will ich andere Perspektiven nicht gänzlich aussparen.
Zunächst möchte ich die Frage anreißen, die das Grundanliegen dieses Texts – Beitrag der Rechtswissenschaften zu Kultur
und Interkulturalität – umkehrt: nämlich wie sich das Bedürfnis juristischer Praktiker nach interkultureller Kompetenz beschreiben lässt.
3.
Der Nutzen interkultureller Kompetenz für Juristen
Dass interkulturelle Kompetenz für Juristen von Nutzen ist,
lässt sich sehr leicht begründen. Schließlich leben und arbeiten sie in derselben kulturell pluralisierten Welt wie alle anderen auch. Akzeptiert man diese meist nur noch beiläufig mit
den Schlagworten Globalisierung und Internationalisierung
skizzierte Grundkonstellation als Ausgangspunkt, geht es nur
noch darum zu illustrieren, an welchen Stellen sich Auswir-
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Marschelke: Recht und Kultur – Skizze disziplinärer Zugänge der Rechtswissenschaften zu Kultur
und Interkulturalität
kungen konkret im juristischen Berufsleben nachweisen lassen.
Zu beachten ist, dass es insoweit häufig nicht um eine dezidiert juristische Kompetenz geht: Zwar ist ein Mandantengespräch eine anwaltliche und mithin juristische Tätigkeit, doch
die interkulturelle Erweiterung der Sozial- und Kommunikationskompetenz von Rechtsvertretern scheint zunächst einmal
nicht weiter juristisch spezifiziert.
Die Berufsfelder von Juristen sind ebenso im internationalen
Bereich interkulturalisiert (bei einer Tätigkeit in internationalen Großkanzleien, Unternehmen, Organisationen) wie im
nationalen: Deutschland ist eine multikulturelle Gesellschaft.
Justiz und Verwaltung sehen sich einer multikulturellen Bürgerschaft gegenüber. Exemplarisch möchte ich diesen letzten
Bereich kurz vertiefen, da ihm gesellschaftliche Bedeutung
zukommt.
3.1
Interkulturelle Öffnung der Justiz
Unter der Überschrift Interkulturelle Öffnung der Justiz firmiert ein Bündel von Bereichen, in welchen interkulturelle
Kompetenz den Juristen helfen soll, ihre Arbeit noch ein
Stück besser zu verrichten.
3.1.1
Der reformerische Impetus
Dahinter steckt ein reformerischer Impetus: Der Zugang zum
Justizsystem und der adäquate Umgang mit den Situationen,
die sich z. B. rund um ein juristisches Verfahren ergeben, sind
Grundlagen dafür, dass Bürger die ihnen gesetzlich verbrieften Rechte tatsächlich wahrnehmen können. Anderenfalls
bestehen diese Rechte nur auf dem Papier. Wer für den gekauften, sich als mängelbehaftet herausstellenden PKW ein
Gewährleistungsrecht hat, sich aber nicht traut, dieses gegenüber dem Autohändler durchzusetzen – und sei es notfalls durch Einschalten von Anwälten und den Gang vor ein
Gericht –, steht letztlich so, als hätte er das Recht nicht. Passiert dies, geht damit eine Verunsicherung im Geschäftsverkehr (der immer auch Rechtsverkehr ist) einher. Nicht auszuschließen sind zudem Ressentiments gegen die Geschäftspartner sowie gegen die rechtlichen Institutionen.
Das gilt umso mehr in Straf- oder Verwaltungsverfahren. Hier
steht den Bürgern der Staat gegenüber, und dies allein kann
zu einem Gefühl der Hilflosigkeit führen, wenn sie nicht wissen, welche Rechte sie haben und wie man sie durchsetzt.
Zudem drohen empfindliche staatliche Eingriffe (im schlimmsten Fall Freiheitsstrafe oder Abschiebung). Ist ein Asylbewerber beispielsweise nicht in der Lage, bei der Erstanhörung
seine Sicht auf den rechtlich zu bewertenden Sachverhalt
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Marschelke: Recht und Kultur – Skizze disziplinärer Zugänge der Rechtswissenschaften zu Kultur
und Interkulturalität
(Verfolgung) kommunikativ deutlich zu machen, besteht die
Gefahr, dass der Sachverhalt nicht adäquat gewürdigt wird
(z. B. Ablehnung des Asylantrags). Bei diesen Vorgängen entscheiden Nuancen (Gensel 2008). Die Folgen können verheerend sein. Mit den Worten von Driesen: „Ein Fehler kann Leben zu Grunde richten“ (Gensel 2008). Passiert dies, wird das
Vertrauen einer Person in das Rechtssystem als solches erschüttert. Bei einer hohen Fehlerquote und Betroffenenanzahl
wäre gar eine Destabilisierung denkbar.
Soweit diese Fehler vom System mitverantwortet sind, liegt
zudem nicht nur ein tatsächliches Problem vor, sondern mitunter ein rechtliches: Der Zugang zu den Gerichten und die
Möglichkeit, die eigenen Rechte wahrnehmen zu können, ist
verfassungsrechtlich festgeschrieben (Art. 19 Absatz 4, 103
Absatz 1 Grundgesetz). Es ist im Einzelfall denkbar, dass Justizbeamte, die ihre Befugnisse – etwa im Bereich des Dolmetschereinsatzes (dazu gleich) – nicht adäquat wahrnehmen,
diese Grundrechte verletzen.
Soweit spezifisch interkulturelle Barrieren beim Zugang zum
Rechtssystem bestehen, lautet die Aufgabe, diese abzubauen.
3.1.2
Barrieren
Wo liegen diese Barrieren? Sie beginnen bereits beim Zugang
zum System. In den Gerichten z. B. gibt es Geschäftsstellen,
bei denen einfache rechtliche Begehren auch ohne die kostspielige Einschaltung von Anwälten aufgegeben werden können. In diesem behördlichen Vorgang besteht die erste Hürde: Sie kann sowohl sprachlicher (wie erfahre ich, was ich tun
muss; wie drücke ich aus, was ich sagen möchte), sachlicher
(welche Informationen muss ich angeben) als auch allgemeiner kommunikativer Natur (werde ich vom Personal korrekt
behandelt bzw. wird auf meine Schwierigkeiten Rücksicht
genommen?) sein.
Das plastischste Beispiel stellt die Kommunikation im Gerichtssaal selbst dar. Abstrakt ausgedrückt: Die Aufgabe der
Richter ist es, einen Sachverhalt rechtlich zu bewerten. Zu
diesem Zweck müssen sie den Sachverhalt in Erfahrung bringen. Das tun sie durch Vernehmung der Verfahrensbeteiligten und die Erhebung von Beweisen (u. a. Zeugenaussagen,
Gutachten). Vorausgesetzt ist, dass z. B. vernehmende Richter
präzise erfassen, was die Personen kommunizieren. Ihre Aufgabe ist dann einerseits zu beurteilen, ob das Ausgesagte
glaubhaft ist, andererseits legen sie den mithilfe glaubhafter
Aussagen erstellten Sachverhalt ihrer rechtlichen Bewertung
zugrunde. Das heißt, dass alle allgemeinen Grundsätze der
interkulturellen Kommunikation in dieser Situation zur Anwendung kommen können. Eine Besonderheit ist, dass etwa-
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Marschelke: Recht und Kultur – Skizze disziplinärer Zugänge der Rechtswissenschaften zu Kultur
und Interkulturalität
ige interkulturelle Missverständnisse in diesem Rahmen zumeist rechtliche Auswirkungen haben.
Idealerweise sind daher alle Beteiligten entsprechend sensibilisiert. Dass dies der Fall ist, kann die Justiz indes nur für das
für sie tätige Personal beeinflussen. Aufmerksamkeit in der
Literatur im Hinblick auf seine interkulturelle Aufgabe erfährt
z. B. die Person des Dolmetschers (Öncü 2011). Diese muss
nicht nur sprachlich sondern auch interkulturell ausreichend
geschult und die Qualität ihrer Arbeit überwacht werden. Das
gilt als nicht flächendeckend gewährleistet. Immer wieder
kommen – bisweilen mangels Auswahl – auch Laien zum Einsatz.
Hier beginnt die Verantwortungssphäre von Richtern: Diese
haben zu beurteilen, ob solche Personen in der Lage sind zu
dolmetschen. Gerichts- und Behördendolmetscher benötigen
jedoch in der Regel nicht nur allgemeine Sprachkenntnisse,
sondern müssen auch die juristische Fachterminologie beherrschen. Darüber hinaus müssen sie sich der Rolle, die sie im
Verfahren einnehmen (Neutralitätspflicht), bewusst sein (Kaminski / Wenning-Morgenthaler 2011:119f.). Unter Umständen benötigen sie wenigstens rudimentäre Kenntnisse der
Rechtskultur, mit welcher die vernommene Person vertraut ist
(Gensel 2008). Um zu beurteilen, ob diese Voraussetzungen
erfüllt sind, müssen sich Richter selbst im Klaren über die Bedeutung dieser Anforderungen sein. Insbesondere die falsche
Einschätzung, dass Zweisprachigkeit automatisch die Fähigkeit zum Dolmetschen mit sich bringe, ist nicht selten anzutreffen (ebd.). Mit diesem Unterschätzen der Dolmetscherleistung geht zudem bisweilen ein Mangel an Wertschätzung
einher, der sich unter anderem in unzureichenden Einsatzbedingungen manifestiert (Terminabsprachen, Kenntnisnahme
von Inhalten).
Vernehmende Personen wiederum müssen sich kulturspezifischer Faktoren in der Aussagepsychologie bewusst sein,
wenn sie die Glaubhaftigkeit eines Parteivortrags oder die
Glaubwürdigkeit von Zeugen bewerten (Yalcin 2011:117, für
den Internationalen Strafgerichtshof Bock 2010:400). Gerade
non-verbales Verhalten kann eine Chiffre dafür sein, ob eine
Aussage glaubhaft erscheint oder nicht. Ein plastisches Beispiel ist das Vermeiden von Augenkontakt: Dieses Verhalten
kann die vernehmende Person – dies geschieht meist unbewusst – als Zeichen von Unehrlichkeit werten. Denkbar ist
aber auch, dass die vernommene Person derart auf die Ehrrührigkeit der Situation reagiert oder das Wegschauen Zeichen der Respektsbekundung – bzw. Vermeidung einer Respektlosigkeit (ebd.:11) – gegenüber der Amtsperson ist.
Problematische Beispiele gibt es des Weiteren aus dem Bereich der Strafzumessung (z. B. Ehrrührigkeit von Arbeitsauf© Interculture Journal 2012 | 16
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Marschelke: Recht und Kultur – Skizze disziplinärer Zugänge der Rechtswissenschaften zu Kultur
und Interkulturalität
lagen) oder des Strafvollzugs (z. B. Berücksichtigung religiöser
Speisevorschriften).
3.2
Zusammenfassung
Dass Juristen interkulturelle Kompetenz benötigen, lässt sich
schwerlich bestreiten. Dabei besteht seitens der Ausbildung
die Aufgabe, die Situationen im juristischen Arbeitsleben zu
identifizieren, in denen diese Schlüsselqualifikation von Nutzen ist (z. B. Zeugenvernehmung). Mittels dieser Situationen
kann ein Kanon fachspezifischer Beispiele gebildet werden,
um bei der Vermittlung interkultureller Kompetenz für Juristen Anwendungsbezug herzustellen. Inwieweit dabei ein spezifisch juristisches Profil interkultureller Kompetenz entsteht,
wird sich zeigen.
Von Bedeutung ist, dass die interkulturelle Öffnung der Justiz
bewirkt wird. Darin liegt ein gesellschaftliches Bedürfnis: Die
Optimierung der Teilhabe an Rechtsschutz und -sicherheit für
die Bürger. Der Weg dorthin ist eine Mischung aus persönlicher Fort- und organisatorischer Umbildung, mit anderen
Worten Diversity Management. Dazu zählt auch eine entspre1
chende Ausbildungspraxis (z. B. an den Universitäten ) und
Einstellungspolitik.
4.
Ein methodischer Beitrag der Rechtswissenschaften?
Rechtssoziologen – Rechtswissenschaftler des Grundlagenbereichs (siehe 2.) – forschen vielfach sozialempirisch. Sie wenden Methoden aus den Sozialwissenschaften auf rechtswissenschaftliche Fragestellungen an (Raiser 2009:6). Man könnte sagen, dass sie nicht über eine fachspezifische Methodik
verfügen, sondern einfach die Methode anderer Disziplinen
importiert, nach eigenem Bedürfnis angewandt und gegebenenfalls modifiziert haben. Könnte in ähnlicher Weise der interkulturelle Diskurs von einer spezifisch rechtswissenschaftlichen Methode profitieren?
Rechtsdogmatiker arbeiten mit einer bestimmten Methodik.
Deren Schwerpunkt ist eine besondere Form der Textauslegung, deren deutsche Variante ich kursorisch vorstellen
möchte. Ziel der Methode ist, die Ermittlung von Inhalt und
Bedeutung von Normen (der Begriffe und Sätze, die sie bilden) zu ermöglichen. Zu diesem Zweck betrachten Juristen
zunächst schlicht den Wortsinn. Reicht das zur Bedeutungsermittlung nicht aus, können sie die Norm in Zusammenhang
zu anderen Normen stellen (systematische Auslegung). Des
Weiteren können sie nach dem Zweck der Norm fragen: Was
soll sie bewirken? Dies kann man an der Intention des Gesetzgebers abzulesen versuchen, der seinerzeit die Norm er-
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Marschelke: Recht und Kultur – Skizze disziplinärer Zugänge der Rechtswissenschaften zu Kultur
und Interkulturalität
lassen hat (historisch); oder man versucht, den Zweck zu
verobjektivieren, etwa weil das Gesetz schon alt ist und / oder
Entwicklungen nicht bedacht worden sind (teleologisch)
(Larenz / Canaris 1995:141ff.). Sollten die Juristen feststellen,
dass trotz Anwendung all dieser Methoden ein Fall nicht unter die Norm fällt, obwohl er dies eigentlich müsste, kommt –
2
in bestimmten Bereichen des Rechts und unter bestimmten
Voraussetzungen – ein Analogieschluss in Betracht: Es wird
also eine Lücke im Gesetz festgestellt, die Norm aber dennoch auf den vorliegenden Fall angewandt – in Analogie
(Larenz / Canaris 1995:202ff.).
Es ist offensichtlich, dass dieser Methodenkanon auf die
Textsorte Gesetz ausgerichtet ist. Er ist das Handwerkszeug
der Rechtsdogmatik. Keinesfalls will ich behaupten, dass nicht
auch andere Disziplinen von dieser Art des Umgangs mit einem Text etwas lernen könnten. Allerdings sind dies letztlich
Engführungen allgemeinen hermeneutischen, analytischen,
systematischen und analogen Arbeitens mit Texten, die in
anderen textnahen Disziplinen auch zu finden sind.
Das gilt auch für zwei Bereiche der juristischen Methodik, die
auf den ersten Blick ein Stück vom Gesetzestext entfernt zur
Anwendung kommen. Gemeint ist zum einen der Bereich der
juristischen Begriffs- und Systembildung, zum anderen die
Methodik zur Ermittlung des rechtlich zu bewertenden Lebenssachverhalts. Was die Begriffs- und Systembildung angeht, bleibt stets das Normensystem der entscheidende Bezugspunkt (Larenz / Canaris 1995:263ff.). Der Referenzrahmen ist damit in einer Weise fixiert, wie es gerade für den
kulturübergreifenden und -vergleichenden Diskurs ungünstig
ist. Ähnlich in der Methodik, nach welcher Juristen den Sachverhalt ermitteln. Diese dient dazu, bei einem Geschehnis
rechtlich relevante von rechtlich irrelevanten Tatsachen zu
scheiden. Doch setzt dieser Vorgang die Kenntnis der vermutlich auf ihn anzuwendenden Rechtssätze bereits voraus
(Larenz / Canaris 1995:101f).
Ein spezifischer Beitrag lässt sich von der rechtsdogmatischen
Methodik am ehesten erwarten, wenn man in den Rechtsvergleich eintritt (siehe dazu unten 5.4.). So können rechtsvergleichend tätige Juristen rechtssystemspezifische Methoden
der Rechtsauslegung vergleichen, zum Beispiel indem sie experimentell die eigene Methode auf fremde Rechtstexte anzuwenden versuchen.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die spezifische
juristische Methodik sich am ehesten im fachspezifischen interkulturellen Diskurs verwenden lässt; nicht jedoch im interdisziplinären.
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Marschelke: Recht und Kultur – Skizze disziplinärer Zugänge der Rechtswissenschaften zu Kultur
und Interkulturalität
5.
Recht und Kultur: Inhaltliche Beiträge der Rechtswissenschaft
Im Grundlagenbereich der Rechtswissenschaften (Rechtstheorie, -philosophie, -soziologie) werden die Bedeutung von
Recht und Gerechtigkeit und ihre Rolle in der Gesellschaft
behandelt. Hier liegt die größte Anschlussfähigkeit der
Rechtswissenschaft an den interkulturellen Diskurs. Das ist
nicht weiter verwunderlich, bedenkt man, dass die Teilbegriffe -philosophie und -soziologie bereits auf interdisziplinäre
Gegenstandsbereiche verweisen. Wie unter zweitens bereits
angekündigt, liegt hierauf der Schwerpunkt dieses Beitrags.
Im Folgenden will ich exemplarisch einige Konstellationen
nachzeichnen, in denen die Begriffe Recht, Kultur, Natur, Nation, Inter-, Multi-, Transkulturalität zueinander in Beziehung
gesetzt werden.
5.1
Recht, Kultur, Natur
Zu Beginn bietet sich ein begrifflicher Vergleich von Recht
und Kultur an. Demnach wäre die erste Frage, ob einer der
beiden Begriffe dem anderen unterfällt oder ob sie sich auf
gleicher Ebene befinden. In diesem Fall wiederum wäre zu
fragen, ob sie aufeinander bezogen sind z. B. in Form der Antonymie. Dieser Gedanke bietet sich an, da es hierfür einen
Anknüpfungspunkt gibt: Der Kultur setzt man gemeinhin
nicht das Recht entgegen sondern die Natur: Erstere soll
menschengemacht sein und letztere nicht (Hansen 2011:17).
Das legt nahe, dass das Recht Kulturphänomen ist, schließlich
ist das Recht Menschenwerk.
Lässt sich das Recht auch als Teil der Natur verstehen? Denkbar wäre das aus zwei Perspektiven: Entweder, indem man
das Recht als evolutionär notwendige Struktur zur sozialen
Regulierung versteht; oder indem man für die Legitimation
von Recht auf die Natur zurückgreift. Beide Ansätze sind den
3
Rechtswissenschaften bekannt : Ähnlich wie ethologischevolutionäre Kulturtheorien es tun (Losch 2006:50), werden
auch evolutionäre Perspektiven gegenüber dem Recht eingenommen: Demnach kann etwas wie das Rechtsgefühl möglicherweise auch bereits bei gesellig lebenden höheren Tieren
vermutet werden (Raiser 2009:337). Moderne Rechtssysteme
in ihrer Hochkomplexität lassen sich mit einem solchen Ansatz indes kaum adäquat beschreiben, ohne dass man sich in
Reduktionismen verliert.
Sehr viel verbreiteter in der rechtsphilosophischen Geistesgeschichte ist der Rekurs auf das sogenannte Naturrecht (siehe
dazu Ellscheid 2009). Diesem vielschichtigen – und hier daher
stark vereinfacht dargestellten – Diskurs, der sich bis in die
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Marschelke: Recht und Kultur – Skizze disziplinärer Zugänge der Rechtswissenschaften zu Kultur
und Interkulturalität
Antike zurückverfolgen lässt, ist die Suche nach einer Quelle
des richtigen Rechts gemein. Schließlich können Menschen
schlechtes und falsches Recht schaffen. Doch muss es einen
Maßstab geben, woran die Schlechtigkeit und Falschheit dieses menschlichen Rechts zu erkennen ist. Womöglich hilft
hier der Rückgriff auf die Natur. Dadurch ist häufig der Bezug
zur Schöpfungsordnung hergestellt worden: Gott – Inbegriff
ewiger Gerechtigkeit – hat die Natur schließlich geschaffen
(Kaufmann 2009:41). Hinter der Natur verstecken sich in diesen Fällen religiöse Gebote. Wer an solche nicht glaubt, wird
also kritisch darauf verweisen, dass dieses Naturrecht nur
Ausdruck einer bestimmten menschlichen Weltanschauung
ist. Denkbar wäre aber auch, die Natur ohne göttlichen Bezug
als Maßstab zur Beurteilung richtigen Rechts zu nutzen: z. B.
indem man das in der Natur zu erkennende Recht des Stärkeren proklamiert und / oder darauf verweist, wie unterschiedlich die Menschen doch von Natur aus seien, weshalb man sie
auch rechtlich unterschiedlich behandeln müsse (Kaufmann
2009:31f.)
Was ist davon zu halten? Erstens: Der Erkenntnisvorgang,
was in der Natur gilt, ist ein menschlicher. Und während Naturgesetze nur beschreiben, wie etwas ist (Sein), schreiben
menschliche Gesetze vor, was sein soll (Sollen). Wer also aus
dem ersten das zweite ableitet, vermischt zwei unterschiedliche Ebenen und begeht den berühmten Sein-SollensFehlschluss (Hume 1978:211). Ähnlich wie im Falle des letztlich religiös begründeten Naturrechts gilt insoweit: Die Natur
muss rhetorisch herhalten für menschliche Interpretationen
(Kunz / Mona 2006:78).
Zweitens: Damit zeigt sich strukturell dasselbe Problem wie
im Kultur-Natur-Diskurs: Dreh- und Angelpunkt ist der
Mensch. Das macht ihn zum Problemfall, zum einen weil er in
beiden zur Abgrenzung anstehenden Kategorien zuhause ist
(Hansen 2011:17), zum anderen weil er diese kategoriale Unterscheidung selbst erfunden hat. Man beachte, dass gerade
im menschenrechtlichen Diskurs nicht selten mit der Natur
des Menschen argumentiert wird: Derart werden z. B.
menschliche Minimalbedürfnisse (wie Essen und Trinken) erklärt und derart begründet, dass diese unabdingbare Rechte
sein müssten. Der Rekurs auf die Natur führt also zu Aussagen, deren Inhalte bei Weitem nicht so einfach zu disqualifizieren sind, wie es oben scheinen mochte.
Drittens: Um der lauernden Verwirrung entgegenzuwirken,
empfehlen die sogenannten Rechtspositivisten, Naturrecht als
Teil der Moral zu betrachten und von positivem Recht zu unterscheiden. Recht wäre alles, was nach den in einem Rechtssystem geltenden Kriterien diesen Namen verdient – unabhängig vom Inhalt. Schlechtes Recht wäre demnach immer
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Marschelke: Recht und Kultur – Skizze disziplinärer Zugänge der Rechtswissenschaften zu Kultur
und Interkulturalität
noch Recht, es wäre jedoch moralisch zu kritisieren und seine
Änderung bzw. Abschaffung politisch anzustreben (Kunz /
Mona 2006:37). Kompliziert wird es, wenn man fragt, ob
auch moralisch für falsch gehaltenes Recht moralische Verbindlichkeit beanspruchen kann – weil es Recht ist (Ellscheid
2009:222).
5.2
Recht als kulturelles Phänomen
Die Gegenüberstellung von Natur und Kultur hat das Recht
dem kulturellen Bereich zugewiesen: Recht ist Teil der Kultur.
Freilich ist es voreingenommen, diese Antonymie zum Ausgangspunkt zu machen: Das legt nahe, dass man den Kulturbegriff für umfänglicher hält. Im interkulturellen Diskurs ist
ein solcher allumfassender Kulturbegriff gängig. Nach diesem
sind alle menschlichen Phänomene, die nicht Ausfluss der
biologischen Natur des Menschen sind, kulturelle. Das Recht
ist daher als kulturelles Phänomen zu begreifen. Diese Einschätzung erfährt auch von Rechtswissenschaftlern Zustimmung (z. B. Rheinstein 1974:21, Losch 2006:35, Zimmermann 2008:32, Hilgendorf 2011:23, Beck 2011:70f.) Es manifestiert sich in allen Dimensionen von Kultur: in der mentalen (z. B. Bejahung rechtlicher Regeln, Angst vor Strafe), sozialen (z. B. Befolgung besagter Regeln) und in der materiellen
(z. B. Gesetzbücher, Gerichtsgebäude). Es befindet sich nach
dieser Interpretation – wie alle gesellschaftlichen Phänomene
– in einem dialektischen Verhältnis zur Kultur: Es beeinflusst
sie und wird von ihr beeinflusst. Das Recht ist – mit dem Titel
von Loschs Buch gesagt – Kulturfaktor (Losch 2006).
5.2.1
Begriffliche Herausforderungen der Dialektik
Daraus ergibt sich eine allgemeine – d. h. nicht nur aber auch
für das Verhältnis von Recht und Kultur geltende – begriffliche Herausforderung, die sich wie folgt beschreiben lässt:
Auch wenn das Recht die Kultur beeinflusst und die Kultur
das Recht – auch wenn beide sich gegenseitig verändern,
bleibt es doch stets die gleiche Kultur. Wir sprechen von der
deutschen Kultur zur Zeit der Weimarer Republik und erklären, welche Rolle das Recht damals spielte. Ebenso beschreiben wir die deutsche Kultur und die Rolle des Rechts in ihr
kurz vor der deutschen Wiedervereinigung. Beide Male geht
es jedoch um die deutsche Kultur. Das ist erklärungsbedürftig.
Zwei Strategien bieten sich an: Die erste Möglichkeit ist, dass
man dem Kulturbegriff das Merkmal der Dynamik zuweist
und dieses für begriffskonstitutiv erklärt. Die Dynamik des
Rechts wäre somit nur Ausfluss der Dynamik der Kultur:
Recht verändert sich, weil sich Kultur verändert und Recht als
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Marschelke: Recht und Kultur – Skizze disziplinärer Zugänge der Rechtswissenschaften zu Kultur
und Interkulturalität
kulturelles Phänomen davon erfasst wird. Zugleich wäre eine
Rechtsveränderung somit eine Kulturveränderung.
Die zweite Möglichkeit ist, Kultur aus drei Perspektiven betrachten: Erstens einer allgemeingültigen (kulturtheoretischen), die sich auf alle kulturellen Kollektive unabhängig von
Raum und Zeit anwenden lässt. Zweitens einer kollektivbezogenen, die in unserem Beispiel die deutsche Nationalkultur
(eine historische Formation) betrifft. Diese Perspektive nimmt
eine bestimmte Kultur im Allgemeinen in den Blick. Drittens
eine konkrete, welche sich – historisch gesehen – mit der
Momentaufnahme einer bestimmten Kultur befasst, also z. B.
die deutsche Kultur zur Zeit der Weimarer Republik im Unterschied zur deutschen Kultur kurz vor der Wiedervereinigung.
Diese Darstellung ist indes unvollständig, sie lebt – wie so viele begriffliche Kunststücke – von mal bewusst gewählten, mal
unbewusst unterlaufenden Auslassungen. Denn auf den Befund, dass es trotz der historisch bedingten Änderungen noch
immer um die deutsche Kultur gehe, lässt sich erwidern, dass
es sich trotz dieser Änderungen auch noch immer um das
deutsche Recht handele. Beide begrifflichen Strategien funktionieren auch für das Recht: Man kann es einerseits als dynamisch beschreiben und andererseits ebenso einen allgemeingültigen Rechtsbegriff zu finden versuchen wie zwei auf
das Recht eines Kollektivs anzuwendende.
5.2.2
Kulturelle und rechtliche Sachverhalte: Abgrenzungsversuche
Dass das Recht Teil der Kultur ist, ergibt sich daraus, dass
man den Kulturbegriff entsprechend weit definiert. Stattdessen – und zwecks Festlegung disziplinärer Erkenntnisbereiche
– könnte es sinnvoll sein, rechtliche Sachverhalte von kulturellen abzugrenzen. Dafür benötigt man zunächst eine Heuristik
für die Unterschiede zwischen beiden Bereichen. Ein sehr allgemein gehaltener Versuch, rechtliche Sachverhalte festzulegen, könnte lauten: Unter das Recht fallen Gesetzgebung,
rechtliche Normen, rechtliche Institutionen (z. B. Gerichte)
und Verfahren (z. B. Verwaltungsverfahren, Gerichtsprozesse).
Problematisch an dieser sehr allgemein gehaltenen Unterscheidung könnte sein, dass moderne Gesellschaften in hohem Maße verrechtlicht sind. Würde das nicht dazu führen,
dass für den kulturellen Bereich nicht mehr viel übrig bliebe?
Betrachten wir folgendes Beispiel: Lege ich im Supermarkt
schweigend eine Ware auf das Band und lasse sie zur Kasse
vorlaufen, mache ich non-verbal (in juristischer Terminologie:
konkludent) das Angebot auf Abschluss eines Kaufvertrages
(§§ 145, 133, 433 Bürgerliches Gesetzbuch). Hier findet also
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und Interkulturalität
ein alltäglicher Vorgang statt, dem eine juristische Matrix unterliegt. Derer ist sich vermutlich keiner der Beteiligten vollumfänglich bewusst. Dennoch müsste ich ihn aus der kulturellen Sphäre herausnehmen, da er rechtliche Relevanz hat.
Das führt freilich nicht dazu, dass das gesamte Einkaufsgeschehen zu einem rechtlichen würde: Ich könnte schließlich
den konkreten Vorgang des Vertragsschlusses abgrenzen von
den rechtlich zunächst einmal irrelevanten Einkaufsgewohnheiten der Kunden. Warum und seit wann fällt einer Person
die Bio-Kennzeichnung einer Frucht auf, und warum ist sie
bereit, mehr Geld für diese Frucht zu zahlen als für das größere und glänzendere Exemplar derselben Fruchtgattung ohne Bio-Kennzeichnung? Die Gründe, die für diese Entscheidung maßgeblich sind, sind nicht rechtlicher Natur. Es steht
also nicht zu befürchten, der unternommene Abgrenzungsversuch ließe für die kulturelle Sphäre nichts mehr übrig.
Es gibt aber eine andere Schwierigkeit mit dieser Art der Abgrenzung. Sie ist sicherlich hilfreich für Rechtswissenschaftler,
deren Aufgabe stets ist, rechtlich relevante von rechtlich irrelevanten Lebenssachverhalten zu scheiden. Für Kulturwissenschaftler wäre dies indes eine wenig begrüßenswerte Beschneidung ihres Erkenntnisgegenstands. Zum Zwecke interdisziplinärer Betrachtungen ist dieses Vorgehen zu einseitig
und damit unzureichend, weil es die Mehrfachrelevanz solcher Geschehnisse ausblendet.
Diese Schwierigkeit räumt man aus, indem man Kultur und
Recht nicht als Dinge betrachtet, sondern als Perspektiven
(Haltern 2008:207). Der Vorgang an der Supermarktkasse
lässt sich aus rechtlicher Perspektive betrachten (z. B. Vertragsschluss) aber auch aus nichtrechtlicher. Ich könnte also
das oben beschriebene Verhalten daraufhin untersuchen,
welche konventionalisierte Form der Kommunikation stattfindet: Wie wird bewirkt, dass welche Aussagen von wem an
wen übermittelt werden?
Verbinden lässt sich beides, indem man überlegt, welche
kommunikativen Zeichen in welchen Kontexten als rechtlich
relevantes Angebot verstanden werden können. In einem berühmten (intrakulturellen) Lehrbuch-Fall hatte der Besucher
einer Auktion zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt einem
Bekannten zugewunken: Seine non-verbale Begrüßung wurde als Abgabe eines Angebots interpretiert, der Besucher bekam den Zuschlag und musste im Folgenden zusehen, wie er
sich von dem Vertrag wieder lösen könnte. Solche Fälle eignen sich als kulturwissenschaftliche Analysienda. Die Überlegung lautet, wie auf kulturell standardisierte Art und Weise
solche rechtlich verbindlichen Handlungen vollzogen werden.
Vergleichbare interkulturelle Fälle (z. B. ungewollte Beleidigung durch eine Geste) sind leicht vorstellbar.
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Was den Abgrenzungsversuch betrifft, bleibt festzuhalten,
dass eine Asymmetrie vorliegt. Rechtswissenschaftler betrachten Phänomene unter der Perspektive ihrer rechtlichen Zuordnung (Losch 2006:35). Während sie daher manches nicht
interessieren muss, finden Kulturwissenschaftler überall Anknüpfungspunkte. Das Beispiel ist indes nur illustrativ. Es bestätigt, was vorausgesetzt wurde: Dass nämlich alles Kultur ist
– oder besser gesagt – kulturell betrachtet werden kann. Das
gilt auch für Phänomene aus der rechtlichen Sphäre, sei dies
rechtliche relevante Kommunikation (wie im Beispiel), die Architektur von Gerichtsgebäuden (Gephart 2006:237ff., Haltern 2008:208f.), oder Gemälde von Gerichtsverfahren (Gephart 2006:271ff.), der Habitus der Berufsjuristen oder ihr
Sozialprofil (Raiser 2009:351ff.). Rechtstexte lassen sich (z. B.
Gesetze, Urteile) – wie jede Textsorte – nach literaturwissenschaftlichen Kriterien untersuchen (Rheinstein 1974:24, Losch
2006:233ff.). In diesen Erkenntnisbereichen können Rechtswissenschaftler wertvolle Beiträge leisten, um die Bedeutungsdimensionen zu erschließen.
5.2.3
Schnittstelle: Regelbefolgung
Dass Sachverhalte aus rechtlicher und kultureller Perspektive
relevant sind, lässt sich besonders gut am Beispiel der Regelbefolgung nachzeichnen. Rechtsgehorsam ist eine Form der
Regelbefolgung. Die Parallelität der Regelgeleitetheit im kulturellen und im rechtlichen Bereich ist in den Kulturwissenschaften bei Hansen zu finden (2011:126ff.).
Der Regelbefolgung vorgeschaltet ist die Regelentstehung. Ins
Auge fällt, dass es Rechtsnormen oder bestimmte Auslegungen derselben gibt, die kulturelle (nationale, historische, mithin kollektivspezifische) Gründe haben. In Deutschland beispielsweise ist eine Leugnung des Holocaust strafbar, d. h.
nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt, wie das Bundesverfassungsgericht in den 1990er-Jahren entschieden hat. In vielen Ländern gibt es diese Strafbarkeit nicht. Rechtliche Regeln
– in Form von Gesetzen und Urteilen – entstehen bzw. werden geschaffen aus gesellschaftlichen Gründen, die anderenorts nicht wahrgenommen oder nicht für ausschlaggebend
gehalten werden.
Das gilt umgekehrt auch für die Abschaffung von Rechtsregeln. Die bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts
bestehenden Strafbarkeiten von Ehebruch (bis 1969) und
Homosexualität (in Abstufungen bis 1994!) in Deutschland
wurden mit der Zeit infolge sich wandelnden Werteverständnisses nicht mehr konsequent durchgesetzt. Das heißt, es gab
gültige Gesetze, an die sich aber zunehmend weniger Bürger
und Offizielle (Staatsanwälte, Richter etc.) hielten. Denn sie
befanden – in Einklang mit einem wachsenden Teil der Ge© Interculture Journal 2012 | 16
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sellschaft – diese Regeln für inhaltlich nicht akzeptabel, für
moralisch falsch. De facto wurden die gültigen Normen unwirksam. Daher wurden sie schließlich abgeschafft. Um den
Vorgang mit drei Begriffen zu beschreiben: Kulturwandel,
Wertewandel, Rechtswandel.
Hinter dem Begriff der Normakzeptanz verbirgt sich die einleitend eingeführte Unterscheidung zwischen law in the books
und law in action. Laut Gesetzbuch ist etwas verboten, tatsächlich wird das Verbot nicht befolgt. Die deutsche Rechtssoziologie spricht von der Gültigkeit oder Geltung einer
Rechtsnorm (d. i. das rechtgemäße Zustandekommen der
Norm) und ihrer Wirksamkeit (d. i. ihre Effektivitätsquote, die
sich aus Befolgung einerseits und Durchsetzung gegenüber
Regelverstößen andererseits zusammensetzt) (Raiser 2009:
237ff.). Die Frage lautet: Warum befolgen Personen die Gebote einer Norm? Diese Frage ist eine äußerst vielversprechende Schnittstelle zwischen Rechtswissenschaften und Soziologie, Psychologie und Kulturwissenschaft.
Gründe für die Befolgung gibt es mehrere. Raiser nennt – Bezug nehmend auf sozialpsychologische Erkenntnisse – fünf
(2009:261). Drei seien hier herausgegriffen. Rechtliche Sank4
tionen können für die entsprechende Motivation sorgen, seien es negative (Strafe) oder positive (Belohnungen, Subventionen). Soweit lässt sich die rechtliche Regelbefolgung als
durch das Recht selbst bedingt erklären. Allerdings ist davon
auszugehen, dass Sanktionsdruck alleine nicht ausreicht, um
eine ausreichende Effektivitätsquote zu erzielen. Raiser
schreibt ausdrücklich, dass die Steuerung der Menschen
durch gesellschaftlich verwurzelte Normen und sozialen
Druck stärker sei als die Motivation durch das Recht
(2009:258). Zu diesem Ergebnis kommt auch Hansen
(2011:128). Damit müssen wir nach Befolgungsgründen suchen, die nicht exklusiv der rechtlichen Sphäre entstammen.
Ein zweiter Grund für die Normbefolgung wurde bereits genannt: inhaltliche Akzeptanz. Menschen befolgen Regeln,
wenn sie davon überzeugt sind, dass der Regelinhalt richtig
und gut ist. Folgt man den oben angesprochenen Rechtspositivisten, liegt der Grund für den Gehorsam darin, dass Recht
5
und Moral in diesem Falle zusammenfallen. Ein moralisch für
richtig gehaltener Wert ist rechtlich kodifiziert. Hier besteht
eine Schnittstelle: Denn moralische Wertewelten können kulturell unterschiedlich ausgestaltet sein. Die aufsehenerregenden Ehrenmorde in Deutschland geben dafür ein extremes
Beispiel ab. Die Unterschiede können sowohl die Norminhalte
betreffen als auch deren Begründung. Ein und dieselbe Norm
kann in zwei unterschiedlichen Kollektiven effektiv sein, ohne
jedoch auf denselben Gründen zu beruhen: Die Todesstrafe
könnte ich ebenso aus rein utilitaristischen wie aus religiösen
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und Interkulturalität
Gründen ablehnen. Den Begriff der Menschenwürde kann ich
auf Grundlage christlicher Imago-dei- oder ob muslimischer
Statthalter-auf-Erden-Lehre für moralisch grundlegend befinden.
Der dritte Regelbefolgungsgrund, den ich nennen will, ist
ebenfalls kulturell aufgeladen: Gewohnheit. Es wäre wenig
realistisch zu glauben, Menschen würden unentwegt Vorund Nachteile der Normbefolgung im Hinblick auf die Sanktionen kalkulieren; oder über Sinn und Unsinn des Norminhalts
philosophieren. Sie befolgen viele rechtliche Regeln ebenso
schematisch wie individuelle Gewohnheiten oder kulturelle
Standardisierungen: Ohne es sich bewusst zu machen. Ein
Schritt weiter gedacht: Rechtsbefolgung kann als individuelle
Gewohnheit und / oder Teil kollektiver Standardisierungen
beschrieben werden.
Kategorien, die erhellen, wie sich Menschen mit dem Recht
auseinandersetzen, sind das Rechtsgefühl, das Rechtsbewusstsein und die Rechtskenntnis (Raiser 2009:337ff.). Sie
stehen für interdependente Gegenstandsbereiche, deren Erforschung zu erklären verspricht, wie es um die Gründe der
rechtlichen Regelbefolgung bestellt ist.
Wichtig ist es schließlich, beim Bezugspunkt rechtlichen Gehorsams zu differenzieren: Es kann um den Inhalt einzelner
rechtlicher Regeln gehen oder um das Recht an sich wegen
seiner Rechtsqualität. Im letzten Fall befolgen Menschen
rechtliche Regeln, weil sie es für moralisch richtig halten, das
Recht selbst dann zu befolgen, wenn man es für falsch hält.
Das historisch berühmteste Beispiel für diese Einstellung stellt
Sokrates dar. Er nimmt die über ihn verhängte Todesstrafe
an, obwohl er sowohl eine Fluchtmöglichkeit hatte als auch
der Überzeugung war, dass er nicht hätte verurteilt werden
dürfen. Sokrates Begründung lautete, dass man das Recht zu
befolgen habe, da anderenfalls der Zerfall der Rechtsgemeinschaft drohe (Platon 2002:50).
Damit wird augenfällig, dass kulturell durchsetzte Normbefolgungsgründe Grundlage eines Rechtssystems sind und von
Staaten. Einer der ersten Denker, der ernsthaft versucht hat,
die Grundlage des Staats ohne Rückgriff auf Legitimationsmodelle (z. B. „Herrscher von Gottes Gnaden“, Gesellschaftsvertrag) zu konstruieren, war Jeremy Bentham (1748-1832).
Wissend darum, dass ein Rechtssystem an logische Grenzen
stößt, sah er seine Grundlage in der faktischen Gehorsamkeitsgewohnheit (habit of obedience) eines Kollektivs (Mar6
schelke 2009:90ff.). Einen solchen Begriff zu durchleuchten,
ist gemeinsame Aufgabe von Rechtssoziologen und beispielsweise Kulturwissenschaftlern und Sozialpsychologen.
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Mit dieser faktischen Grundlage, die sich auf die Einstellungen und Gewohnheiten der Menschen bezieht, korreliert die
symbolische Dimension rechtlicher und staatlicher Systeme.
Recht leidet an einem letztlich nicht einlösbaren Legitimitätsanspruch (Gephart 2006:170). Dieser Mangel und das gleichzeitig bestehende Bedürfnis nach der Legitimität manifestieren sich unter anderem in der Suche nach gesellschaftlichen
bzw. (national-)staatlichen Ursprungsakten oder -ereignissen,
die bisweilen sehr treffend Gründungsmythen genannt werden. Dass solche Mythen nichtrechtlich und menschlich konstruiert sind, liegt auf der Hand.
Insgesamt macht die Untersuchung des Phänomens der Regelbefolgung zweierlei deutlich: Erstens liegt hierin ein weites
kulturelles Feld, das Rechtswissenschaftler (insbesondere
Rechtssoziologen) gemeinsam mit anderen Disziplinen bestellen können. Zweitens legen die Ausführungen nahe, dass das
Fundament des Rechts wesentlich von der Kultur getragen
wird.
5.3
Recht, Kultur, Nation
Die Frage nach der Regelbefolgung hat an die Grenze des
Rechtssystems geführt. Dort, so der Befund, kann Legitimität
womöglich nur noch durch gesellschaftliche (Gründungs-)
Mythen erzeugt werden. Beide Begriffe – Rechtssystem und
Gründungsmythos – legen nahe, die Frage nach dem Verhältnis von Recht, Kultur und Nation zu thematisieren. Denn
der Geltungsbereich von Rechtssystemen fällt häufig mit Nationalstaaten zusammen; heutzutage, wie man ergänzen
muss, denn das Phänomen des Rechts ist älter als das der Nationalstaaten.
Im interkulturellen Diskurs herrscht keine einheitliche Meinung darüber, wie das Verhältnis von Nation und Kultur beschaffen ist. Eine Ad-Hoc-Diagnose zum Stand der Dinge
könnte lauten: Anerkannt ist, dass die Eigenschaften und
Verhaltensweisen von Menschen von viel mehr Einflüssen
(und das in gewichtigerer Weise) bestimmt werden als von
ihrer Nationalität: Nämlich z. B. von ihrer sozialen Herkunft,
ihrem Beruf, ihren Interessen etc. Die meisten können auch
der Aussage zustimmen, dass diese Kollektive, denen ein Individuum angehört, selbst (Sub-)Kulturen sind. Nichtsdestotrotz bleibt Nationalität in der interkulturellen Kommunikation
der paradigmatische Bezugspunkt (Haas 2009:167, Hansen
2011:172). Inwieweit sich Einflüsse auf die Standardisierungen der Individuen feststellen lassen, die nur oder ganz
überwiegend durch die Nationalität erklärt werden können,
ist umstritten. Denn die ausgeprägte interne Heterogenität
der meisten Nationalkulturen macht es kaum möglich, ge-
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meinsame Nenner für die Vielzahl der sie konstituierenden
Individuen zu finden.
Genau diese Schwierigkeit scheint das Rechtssystem einer
Nation nicht in vergleichbarer Weise aufzuwerfen. Das deutsche Recht ist deshalb deutsches Recht, weil es der deutsche
Gesetzgeber geschaffen und deutsche Institutionen (Behörden, Gerichte etc.) konkretisiert und fortgebildet haben. Die
deutschen rechtlichen Regeln gelten als fast ausnahmslos für
alle Rechtssubjekte auf deutschem Boden. Religionsfreiheit
genieße ich, ganz gleich, welchem Glauben ich huldige, und
für einen Totschlag werde ich nach § 212 Strafgesetzbuch
bestraft, ganz gleich welcher sozialen, regionalen, ethnischen
oder nationalen Gruppe ich angehöre und mein Opfer angehörte. Das Recht scheint die intrakulturelle Heterogenität zu
überwinden. Hansen bezeichnet Gesetze als Teil eines homogenitätsstiftenden Überbaus: Es gibt Interaktionsregeln vor
(Hansen 2009:135, 2011:176). Darin liegt die kontrafaktische
Stabilisierung der Kommunikation (Losch 2006:62), eine
Kommunikationsordnung (Losch 2006:37).
Sicher: Gewisse Einschränkungen muss man machen: So gibt
es im Grundgesetz einige sogenannte Deutschen-Grundrechte (z. B. Wahlrecht zum Bundestag). Zudem haben einige
Gruppen einen Sonderstatus inne, z. B. Diplomaten, Minderjährige oder aus anderen Gründen (z. B. Geisteskrankheit)
nicht rechtsfähige Personen. Auch darf man nicht vergessen:
Wenn eine Gesellschaft zum einen sehr heterogen und arbeitsteilig ausdifferenziert ist und zum anderen stark verrechtlicht, dann gibt es Unmengen von Rechtsstoff, der nur einen
beschränkten Empfängerkreis hat. Die beruflichen Regeln für
Ärzte, Anwälte oder Lehrer gelten natürlich nicht unmittelbar
für Personen, die keinen dieser Berufe ausüben. Schließlich
führt auch der Föderalismus zu einer intranationalen Begrenzung der Reichweite bestimmter Rechtsbereiche (Raiser
2009:333, zum Rechtspluralismus siehe auch 5.5.3.).
Dennoch: Einige Regelungsbereiche – zum Beispiel das Strafrecht – richten sich an alle Bürger. Daraus folgt eine Fragestellung in Bezug auf die Kultur, zu deren Beantwortung die
Rechtswissenschaft wesentlich beitragen kann: Wenn sich
(wenigstens) Teilbereiche des Rechts relativ weitgehend mit
der Nation identifizieren lassen, könnte dies ein tauglicher
Anknüpfungspunkt für die Untersuchung sein, welche nationalkulturellen Prägungen identifizierbar sind. Anders formuliert: Inwieweit lässt sich das Recht als nationalkultureller Faktor verstehen? Inwieweit könnte man bestimmte Standardisierungen als durch das Recht und daher nationalkulturell beeinflusst ansehen?
Zwei Perspektiven sollte man auseinander halten. Erstens: Inwieweit hat das Recht Einfluss auf die kulturellen Standardi© Interculture Journal 2012 | 16
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sierungen? Hat z. B. die rechtswirksame Meinungs-, Presse-,
Informations- und Religionsfreiheit einen Einfluss auf die
Standardisierungen von Kommunikation, Denken, Handeln
und Fühlen der Bürger? Intuitiv möchte man antworten: Bestimmt, obgleich kaum in genau determinierbarem Umfang.
Inwieweit ist das weltanschauliche geprägte Schulsystem so
verrechtlicht, dass man davon sprechen kann, dass hier Recht
Werte schafft? Man denke an die Streitigkeiten um den Inhalt
von Geschichtsbüchern, wie sie vor wenigen Jahren in Russland und Griechenland geführt wurden. Die weltanschaulich
aufgeladenen Streitigkeiten um religiöse Symbole in Schulen
(in Klassenzimmern angebrachte Kruzifixe, Kopftuchtragen
seitens muslimischer Lehrerinnen) sind in Deutschland letztlich vor Bundesgerichten ausgetragen worden. Uneins blieb
man sich, inwieweit eine rechtliche Zulassung dieser Symbole
Einfluss auf die Schüler hätte: Machen diese Symbole religiös
oder eher tolerant gegenüber Religionen?
Fraglich bleibt, in welchen Fällen man von genuin rechtlichem
Einfluss sprechen kann. Man könnte auch behaupten, hier
würden politisch-weltanschauliche Entscheidungen virulent,
zu deren Durchsetzung das Recht dient. Das Recht wäre lediglich Instrument, der Inhalt jedoch stammte aus einer anderen Sphäre. Legt man die oben unter 5.1. angedeutete These,
die Recht und Moral trennt, streng aus, scheint diese Interpretation nahe zu liegen. Sie ist indes zu eng und wird dem
Eigenleben, welches das gesellschaftliche System Recht führt
(und führen muss), nicht gerecht. Weiter kann dieses rechtsphilosophische Grundlagenproblem hier nicht weiter ausgeführt werden.
Realistischer – und für die Grundfrage des Beitrags produktiver – ist es, mit Losch darauf zu verweisen, dass bestimmte
Grundwerte wie Menschenwürde oder Gleichheit sich sowohl
in kulturellen als auch in rechtswissenschaftlichen Diskursen
finden (Losch 2006:71ff.). Das gilt nicht nur für den rechtswissenschaftlichen Grundlagenbereich sondern auch für die
Dogmatik. Denn diese Grundwerte sind an verschiedenen
Orten in Rechtssystemen und in verschiedenen Konkretionsstufen kodifiziert (in Deutschland findet sich die Menschenwürde in Art. 1 Grundgesetz, der Gleichheitssatz z. B. in Art 3
Grundgesetz aber auch im Antidiskriminierungsgesetz). Sie
werden damit Bestandteil von Gerichtsurteilen und Kommentarliteratur, was sie in den Kernbereich der Rechtswissenschaften rückt.
Die These jedenfalls, dass das Recht einer Nation einen Einfluss auf die Kultur hat, ist nicht unplausibel. Wie weit dieser
Einfluss konkret reicht, ist schwierig zu bestimmen. Daher –
das wäre die zweite Perspektive – bestünde die Möglichkeit,
Nationalkulturen über das Recht zu beschreiben, indem man
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von vorneherein auf den oben angesprochenen Überbaucharakter verweist. Anders formuliert: Wenn es mir zu schwierig
ist, in der Heterogenität der menschlichen Einstellungen das
Recht zu suchen, dann untersuche ich das geschriebene
Recht als Teil der Nationalkultur; wobei ich indes die unter
5.2. gefundenen Erkenntnisse ignorieren müsste.
5.4
Rechtskultur, Rechtsvergleich, Kulturvergleich
Fassen wir die bisherigen Ausführungen zusammen, können
wir konstatieren: Das Recht ist ein kulturelles Phänomen. Wie
Kulturen sich ändern, ändert sich auch das Recht, wie Kulturen divergieren, divergiert auch das Recht. Wir finden unterschiedliche Rechtssysteme. Die Rechtssysteme knüpfen in der
Regel an den Bestand eines Staats an.
Ist das Recht Teil der Kultur, können wir den rechtlichen Teil
der Kultur Rechtskultur nennen. Der Begriff der Rechtskultur
führt zu der Frage zurück, wie sich denn rechtskulturelle von
sonstigen kulturellen Phänomenen unterscheiden. Raiser bietet für den Begriff der Rechtskultur folgende Definition an:
Sie sei der „[…] empirisch erforschbare […] Inbegriff der in
einer Gesellschaft bestehenden, auf das Recht bezogenen
Wertvorstellungen, Normen, Institutionen, Verfahrensregeln
und Verhaltensweisen“ (2009:328). Auf den ersten Blick
scheint Raiser damit die nicht empirisch arbeitende Rechtsdogmatik aus dem Bereich der Rechtskultur herauszunehmen, was sich nicht mit unserem Kulturbegriff vertrüge. Dieser Schein trügt indes, der Gegenteil ist der Fall: Der übergeordnete kulturelle Blickwinkel ermöglicht es, die Rechtsdogmatik von außen zu betrachten. Derart können z. B. Denkgewohnheiten und Sozialprofil von Berufsjuristen bei der Untersuchung der Rechtsdogmatik einbezogen werden: als Faktoren, welche die Dogmatik beeinflussen, ohne regelmäßig
von ihr mitgedacht zu werden.
Haben wir verschiedene Rechtssysteme und -kulturen, können wir sie miteinander vergleichen. Der Unterschied zwischen rechtsdogmatischer und rechtskultureller Perspektive
wird bei einem solchen Rechtsvergleich relevant. Auf diesem
Gebiet tätige Juristen können Phänomene aus beiden Blickwinkeln untersuchen. In Anknüpfung an den Grundcharakter
des geschriebenen Rechts wird auf der Makroebene z. B. die
Klassifizierung von Rechtssystemen in sogenannte Rechtskreise oder -familien vorgenommen (Raiser 2009:330). Auf der
Mikroebene arbeiten Rechtsvergleicher zumeist funktionell,
indem sie untersuchen, welche rechtlichen Lösungen in verschiedenen Systemen für ein vergleichbares gesellschaftliches
Problem gefunden werden (Rheinstein 1974:27).
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Nach den bisherigen Ausführungen wird jedoch deutlich,
dass ein gelungener Rechtsvergleich die gegenseitige Beeinflussung von geschriebenem und gelebtem Recht im Auge
behalten muss. Die Diskrepanz zwischen beidem hat zumeist
(rechts-)kulturelle Gründe. Häufig thematisiert wird dies beispielsweise im Rahmen des Menschenrechtsdiskurses. Gerade
derart abstrakt formulierte Rechtssätze wie die Menschenrechte bedürfen einer ausgeprägten Interpretations- und
Durchsetzungspraxis (Fritzsche 2009:18,40). Diese lässt sich
nur dann gewährleisten, wenn es ein ausreichend engmaschiges, effektiv und neutral arbeitendes Gerichtssystem gibt.
Zudem muss ein Mindestmaß an bürgerschaftlichem Engagement existieren, da die Gerichte anderenfalls keine Fälle
bekommen. Einfacher formuliert: Es muss Kenntnis und Bewusstsein dieser Rechte geben sowie die Bereitschaft seitens
der Bürger, den Konflikt mit dem Staat zuzulassen und die
Rechte einzuklagen (Fritzsche 2009:173f.). Diese Bereitschaft
ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig, die aus kultureller Perspektive interpretierbar sind: Sie hängen mit den Einstellungen zum Recht zusammen, wie sie unter 5.2. angerissen wurden. Wichtig ist vor allem Vertrauen in die gerichtliche Kontrolle (und damit in das Recht als solches). Die
(rechts-)kulturell bedingte Diskrepanz zwischen geschriebenem und gelebtem Recht lässt sich also zum einen an den
Bürgern festmachen, zum anderen an denjenigen Personen,
die beruflich mit der Wahrnehmung rechtlicher Aufgaben
betraut sind (z. B. Richter, Staatsanwälte, Anwälte); welche
freilich auch Bürger sind, jedoch in Rechtssachen eine Doppelrolle einnehmen.
Die Rolle dieser sogenannten Rechtshonoratioren ist von großer Bedeutung, ihre Auswahl, Reputation und ihr tatsächlicher Einfluss entscheidend für den Charakter des Rechtslebens (Rheinstein 1973:13f.). Ihre Rolle ruht auf zwei Säulen:
Die eine ist ihre Arbeitsweise. Sind sie zuverlässig und unparteiisch? Das wiederum hängt von den Rahmenbedingungen
ab, die teilweise rechtlicher (berufsspezifische Rechtsnormen,
Zulassung, Kontrollsystem, insbesondere Berufungs- und Revisionsmöglichkeiten; Entlohnung) und teilweiser faktischer
Natur sind (z. B. Berufsethos, Mindestmaß an Überzeugung
von der Richtigkeit des anzuwendenden Rechts, vgl. 5.2.).
Die zweite Säule ist die allgemeine Konfliktlösungskultur:
Denkbar ist, dass in bestimmten Kulturen eher Mediationslösungen unterhalb der Ebene klassisch konfrontativer Gerichtsverfahren bevorzugt werden. Ein solcher – und umstrittener – Erklärungsansatz wurde z. B. zur Interpretation einer
Statistik von 1990 herangezogen um zu erklären, warum die
Anzahl der Rechtshonoratioren in Japan so viel niedriger war
als in (West-)Deutschland, obwohl es sich bei beiden Ländern
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um hochdifferenzierte Industriegesellschaften handelte (Raiser 2009:335f.). Bisweilen werden Konflikte auch ganz ohne
die Hinzuziehung von Mediatoren oder Rechtshonoratioren
gelöst. Ein paradigmatisches Beispiel hierfür wäre Selbstjustiz,
wobei dies nur eine Extremform der Konfliktlösung ist. Ebenso denkbar ist, dass die Parteien auf dem Verhandlungswege
den Konflikt beilegen.
Damit greift die Betrachtung über die Rechtskultur hinaus
und bezieht die gesamte Kultur mit ein (Beck 2011:71), zumindest potentiell, denn eine Beschränkung auf relevante
Faktoren ist unabdingbar um Untersuchungen nicht ausufern
zu lassen (Perron 2011:129). Rechtsvergleich lässt sich als
Form des Kulturvergleichs betrachten. Indem man Rechtsvergleich betreibt, vergleicht man bestimmte Phänomene (Rechtsystem, Rechtsnormen, Rechtsfälle, Rechtshonoratioren,
Rechtsbewusstsein etc.) und erhält Auskunft über einen Teilbereich einer Kultur. Abschließend sei bemerkt: Dass man
den kulturellen Hintergrund und beim Rechtsvergleich zu berücksichtigen habe und interdisziplinär zusammenarbeiten
müsse, ist eine Erkenntnis, die in der Rechtswissenschaft zwar
schon seit längerem theoretisch akzeptiert, aber erst seit kurzer Zeit mit Nachdruck gefordert wird (Hilgendorf 2011:23,
Beck 2011:80f.).
5.5
Recht, Multikulturalität, Interkulturalität,
Rechtsvergleich (als Kulturvergleich) ist nur möglich, weil es
verschiedene Rechtskulturen gibt. Das ist eine internationale
Tatsache: Auf dem Planeten Erde herrscht Multikulturalität.
Seine aktuelle Bedeutung erhält dieser Begriff jedoch
dadurch, dass er auf einzelne Gesellschaften angewendet
wird: Multikulturalität – verstanden als die Tatsache des Zusammenlebens verschiedener Kulturen in einem gemeinsamen Rahmen – gilt als gesellschaftliche Herausforderung.
Denn die Multikulturalität bedingt interkulturelle Kommunikation. Diese – das ist das Grundparadigma des gesamten
interkulturellen Denkens – gilt als in spezifischer Weise chancen- und risikobehaftet.
Inwiefern spielt das Recht hier eine Rolle? Drei verschiedene
Perspektiven bieten sich an: Erstens lässt sich untersuchen,
wie nach nationalem Recht interkulturelle Sachverhalte innerhalb einer Gesellschaft bewertet werden. Daran anknüpfend
kann man zweitens die Leistungsfähigkeit des Rechts bei der
Gestaltung einer multikulturellen Gesellschaft evaluieren.
Drittens geht es um das Phänomen der Rechtspluralität.
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5.5.1
Rechtskonflikte mit interkulturellem Hintergrund
Der Grundgedanke der ersten Perspektive ist folgender: Die
Lebenswirklichkeit ist multikulturell und darum entstehen
spezifische – nämlich interkulturelle – Konflikte. Der Grund
für die Konfliktgeneigtheit in multikulturellen Gesellschaften
ist, dass mit der Pluralität von Kulturen auch die Pluralität der
Lebensweisen und Werte einhergeht. Multikulturalismus bedeutet Wertepluralismus. Treffen widersprechende Werte
aufeinander, können Konflikte entstehen und zu Rechtsfällen
werden. Deutsche Beispiele hierfür wären Ehrenmorde oder
Streitfälle um religiöse Symbole oder Praktiken in Schulen oder Betrieben. Darzustellen, wie diese Fälle gelöst werden,
könnte die Aufgabe von Rechtswissenschaftlern im interdisziplinären interkulturellen Diskurs sein.
Dabei geht es nicht nur um rechtstechnische Fragen. Von interdisziplinärem wissenschaftlichem Interesse ist, welche Personen in Gerichtsverfahren interkulturelle Sachverhalte beschreiben dürfen, wie sie das tun und wie sie bewerten. Interpretiert ein Sachverständiger das Kruzifix als religiöses oder
als traditionelles abendländisches Symbol? Was bedeutet das
für die rechtliche Bewertung? Führt das bestehende Recht zu
Lösungen, die bestimmte Gruppen begünstigen und andere
benachteiligen? Wie sind die Urteile begründet?
5.5.2
Recht als Gestaltungsinstrument in einer multikulturellen Gesellschaft
Daran anknüpfend lässt sich die Leistungsfähigkeit des Rechts
bei der Gestaltung einer multikulturellen Gesellschaft untersuchen. Lautet die Bestandsaufnahme unter 5.5.1., dass die
bestehende Rechtslage nicht zu zufriedenstellenden Lösungen führt, ist zu überlegen, wie das Recht sich ändern müsste, um bestimmte Gestaltungsziele zu erreichen.
Aus diesem Blickwinkel ist das Recht ein politisches Instrument. Das deutsche Antidiskriminierungsgesetz als Derivat
des im Grundgesetz stehenden Gleichheitssatzes (Art. 3
Grundgesetz) wäre ein Mittel zu dem Zweck, etwaige Diskriminierungen ob bestimmter Kollektivzugehörigkeiten (Alter,
Ethnie, Herkunft, Geschlecht, Behinderung u. a.) zu unterbinden. Es schützt die Mitglieder bestimmter, als in gewisser
Weise bedroht erachteter Kollektive. Es tut dies, indem es in
Aussicht stellt, dass gesellschaftliche Konflikte zugunsten der
Kollektivmitglieder gelöst werden, falls der jeweilige Streitfall
auf einer Benachteiligung beruht, die gerade an die Zugehörigkeit zu dem geschützten Kollektiv knüpft. Durch diese
Form von Schutz konzediert der Gesetzgeber mittels Recht
die Anerkennung des jeweiligen Kollektivs, genauer gesagt:
7
der Schutzwürdigkeit dieses Kollektivs.
85
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und Interkulturalität
Als Instrument dient das Recht der Politik, um die gesellschaftliche Wertehierarchie zu gestalten. Es kann daher ebenso zur Lösung von Konflikten taugen, wie es sie auch erst
herbeiführen oder perpetuieren kann. Zum Zweck der formalrechtlichen Gleichbehandlung ist es z. B. möglich, allen Lehrkräften an öffentlichen Schulen zu untersagen, äußerlich
sichtbare religiöse Symbole am Körper zu tragen. De facto
aber werden damit Personen mit bestimmten religiösen Bekenntnisformen von einem Berufsstand quasi ausgeschlossen
(Taylor / Maclure 2011:97). Diese werden mitunter versuchen,
sich gegen diese Benachteiligung zu wehren, wie die Streitigkeiten um das Kopftuchtragen von Lehrerinnen in mehreren
Ländern zeigen.
5.5.3
Rechtspluralität
Die dritte Perspektive ist etwas anders gelagert: Es geht nicht
um Pluralität im – insoweit vom Recht unterschiedenen – gesellschaftlichen Sachverhalt, auf den das Recht einwirkt. Hier
liegt die Pluralität im rechtlichen Bereich selbst. Versteht man
Recht als kulturelles Phänomen, lässt sich Rechtspluralität als
Folge der Multikulturalität und / oder internen Heterogenität
8
von Kulturen definieren.
Die Rechtspluralität kann sowohl auf internationaler als auch
auf nationaler Ebene liegen. Ein Beispiel für ersteres ist gegeben, wenn beispielsweise Geschäftsabschlüsse über Länderund Rechtssystemgrenzen hinweg durchgeführt werden. Im
Konfliktfall kann hier zu fragen sein, welches Recht anwendbar ist. Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten, z. B. das Recht,
das am Wohnort des Verkäufers gilt; oder des Käufers; oder
nach dem Recht des Landes, wo das Geschäft geschlossen
wurde. Man könnte von einer interkulturellen Rechtsbegegnung sprechen. Zur Lösung des Konflikts wäre, so sich die
Parteien nicht einigen, das internationale Privatrecht heranzuziehen.
Rechtspluralität im nationalen Bereich lässt sich nach mehreren Kriterien feststellen (Raiser 2009:333f.), wobei hier die
kulturelle in den Blick genommen werden soll. Ein klassischer
Anwendungsbereich dafür ist das Familienrecht. In diversen
Rechtssystemen steht den Bürgern die Möglichkeit offen, beispielsweise Scheidungen oder Adoptionen nach dem Recht
des – zumeist religiösen – Kollektivs, dem sie angehören,
durchführen zu lassen (Büchler 2007:702f.).
Diese Rechtspluralität entsteht jedoch in der Regel nicht von
selbst. Sie wird zumeist durch rechtliche Maßnahmen gezielt
hergestellt: Das Recht wird so konfiguriert, dass die Rechtswahl möglich wird. Der Grund für das Einräumen einer solchen Möglichkeit deckt sich in der Regel mit den instrumen-
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und Interkulturalität
tellen Erwägungen unter 5.5.2.: Der Gesetzgeber möchte der
Multikulturalität der Gesellschaft mit Rechtspluralität begegnen. Er möchte bestimmten kulturellen Gruppen auf rechtlichem Wege Anerkennung zollen (Büchler 2007:703).
Diese Anerkennung hat affirmativen und inhaltlichen Charakter: Indem bestimmte Rechtsvorschriften zur Verfügung gestellt werden, erkennt das Recht deren Inhalt positiv an. Konkrete Regelungen der Lebensweise eines Kollektivs werden
rechtlich unterstützt. Diese Form der Anerkennung geht über
den bloßen Schutz vor Diskriminierung hinaus: Das Antidiskriminierungsgesetz beispielsweise ist indifferent gegenüber
der Frage, wie die Ernährungsregeln bestimmter religiöser
Gruppen lauten, welcher Tag ihnen bevorzugt für das Abhalten von Gottesdiensten dient oder welche Kleidungsvorschriften einzuhalten sind. Diese positiven Inhalte stehen nicht im
Gesetz. Sie kommen indirekt zutage, wenn sie zum Anlass für
eine Benachteiligung gemacht werden. Das Gesetz selbst
knüpft nur an die gesellschaftliche konstituierte Kollektivzugehörigkeit an.
Die hinter diesen Ausführungen stehende Leitfrage hat Büchler sehr treffend formuliert: „Ist rechtliche Homogenität – ein
bedeutendes Element des modernen, westlichen Nationalstaats – mit kultureller Diversität zu vereinbaren?“ (2007:
699).
5.6
Recht, Universalität, Transkulturalität
Diese Leitfrage führt abschließend wieder auf die kulturübergreifende Ebene. Kulturübergreifend sind universelle und
transkulturelle Phänomene. Beides darf man nicht verwechseln. Universalität meint zeit- und raumunabhängige Allgemeingültigkeit. Mit dem maßgeblich von Welsch geprägten
Begriff der Transkulturalität (Welsch 1994) ist die unauflösbare und letztlich nicht mehr auf Ursprünge zurückverfolgbare
Verflechtung kultureller Phänomene gemeint. Sie führt dazu,
dass der Gegensatz von Fremdem und Eigenem seine Prominenz verliert (Welsch 1994:158). Man könnte wohl behaupten, dass Transkulturalität ein universelles Phänomen ist.
Gleichzusetzen sind die Begriffe nicht.
Was am Recht ist universell, was transkulturell? Beginnen wir
mit Universalität im Sinne von begrifflicher Allgemeingültigkeit. Kulturtheoretiker gehen der Frage nach, was der Begriff
der Kultur bedeutet. Ein solch allgemeiner Kulturbegriff beansprucht universelle Geltung: Jede Kultur zu jeder Zeit erfüllt
die Merkmale, die ihn kennzeichnen (siehe bereits 5.2.1.). In
derselben Art und Weise fragen Wissenschaftler nach dem
Recht: Sie verstehen es als universelle Struktur, als eine der
Grundlagen menschlicher Gesellschaften (Antweiler 2009:
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und Interkulturalität
186f.). Sie suchen nach Strukturmerkmalen eines allgemeinen
Rechtsbegriffs, der jedes Rechtsphänomen validiert. In diesem
Sinne sind das Vorkommen des Rechts und seine Strukturmerkmale universell. Sie sind kulturübergreifend wegen ihrer
begrifflichen Allgemeinheit.
Gibt es darüber hinaus Universelles und Transkulturelles am
Recht? Ich möchte das kurz an zwei Beispielen skizzieren.
Zum einen geht es um die Frage, ob es universelle rechtliche
Inhalte gibt. Zum anderen um den Rechtsex- bzw. import.
5.6.1
Universelle rechtliche Inhalte
Dass Mord, Gewalt und Vergewaltigung verboten sind, gilt
als universell gültig, indes gibt es Unterschiede bei den Ausnahmen, die von diesen Regeln gemacht werden (Antweiler
2009:187). In der Rechts- und Moralphilosophie wird die Frage nach universellen Rechtsinhalten beispielsweise im Rahmen des bereits erwähnten Naturrechtsbegriffs abgehandelt.
Antweiler verweist auf Studien, nach denen zwar nicht die
Inhalte des Naturrechts, aber die Idee nahezu universal sei
(ebd.:192).
Die Frage nach universellen rechtlichen Inhalten lässt sich im
Menschenrechtsdiskurs verankern: Der Idee nach sind Menschenrechte universell und individuell (Fritzsche 2009:15). Auf
den ersten Blick sind Menschenrechte damit kulturunabhängig. Tatsächlich sind sie es nicht. Schon über ihre geistesgeschichtliche Herkunft wird gestritten. Ihre Interpretation und
Umsetzung ist äußerst divergierend. In regionalen Menschenrechtsdokumenten werden spezifische Akzente (z. B. ShariaVorbehalt in der Kairoer-Erklärung über Menschenrechte im
Islam, ebd.:94) gesetzt. Die Erweiterung des Menschenrechtskanons auf wirtschaftliche und soziale Rechte war Teil
des Ost-West-Konflikts (ebd.:96f.). Die Diskussion um kulturelle Menschenrechte, insbesondere das Recht auf kulturelle
Identität, ist eine jüngere Entwicklung (ebd.:103f.). Gerade
aus afrikanischen Ländern kommen zudem Forderungen nach
kollektiven Menschenrechten (ebd.:25).
Die Menschenrechte bekommen also eine kulturspezifische
Prägung. Das transkulturalisiert sie. Der Menschenrechtsdiskurs mit all seinen Facetten ist international. Die drei genannten Beispiele wurden daher nicht nur regional diskutiert sondern in Foren wie z. B. den Vereinten Nationen. Dabei werden Denk-, Argumentations- und Formulierungsweisen, Themen und Fälle ausgetauscht, kritisiert, weiterentwickelt und
konkretisiert. Sie werden in einer Weise durchmischt und
wechselseitig beeinflusst, dass eine transkulturelle Struktur
9
entsteht. Man könnte diagnostizieren, dass der universelle
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und Interkulturalität
Geltungsanspruch der Menschenrechte ihre Transkulturalität
begünstigt.
In ähnlicher Weise kann man von der Transkulturalität europäischen Rechts sprechen.
5.6.2
Rechtsexport und -import
Ein Geltungsanspruch reicht indes nicht aus, um einen Inhalt
transkulturell zu verbreiten. Dazu ist Austausch erforderlich.
Das prägnanteste Beispiel hierfür ist der Rechtsexport und
-import. Rechtsstrukturen werden – wie andere Formen von
Wissen und Praxis auch – ausgetauscht. Wesentliche Teile des
deutschen Privatrechts beruhen z. B. auf der römischen
Rechtstradition. Man muss jedoch keinesfalls in der Rechtsgeschichte verweilen, um dieses Phänomen zu beobachten.
Auf der Liste deutscher Exportprodukte steht das Recht. In
vielen Ländern Ostasiens wurde und wird deutsches Recht
und deutsche Rechtswissenschaft intensiv rezipiert (Hilgendorf 2011:17). Auch das 2005 neu erlassene Strafgesetzbuch
der Türkei ist wesentlich vom deutschen Strafrecht beeinflusst. Das führt dazu, dass – genauso wie im Beispiel der
Menschenrechte – Terminologien, Theorien und Fälle nicht
mehr bloß national sondern international diskutiert werden –
nicht zuletzt durch Rechtsgelehrte, die im Ausland promoviert
haben (ebd.). Die Materie ist transkulturell.
Die Begriffe Rechtsexport und -import implizieren insoweit
noch Intentionalalität und Kontrolle. Indes gilt auch für das
Recht, dass die Vermischung und Verflechtung unübersichtlich wird. Büchler verweist darauf, dass Rechtspluralismus
auch als Sammelbegriff für die Gleichzeitigkeit von Fragmentierung, Pluralisierung, Überlagerung und Verschmelzung
rechtlicher Systeme fungiert (Büchler 2007:700). Eigenes ist
von Fremdem oft kaum mehr zu unterscheiden. Raiser spricht
von der Konvergenz der industriestaatlichen Rechtskulturen
infolge der transnationalen Verflechtung von Kommunikation, Wirtschaft und Verkehr (2009:322). Mit anderen Worte:
Rechtsphänomene sind ebenso transkulturell wie andere Kulturphänomene auch.
6.
Zusammenfassung
Der Beitrag lässt sich am besten zusammenfassen, indem
man sich die drei Hauptbezugspunkte noch einmal vor Augen
führt und ihre Bedeutung evaluiert:
Erstens: Interkulturelle Kompetenz ist auch für Juristen von
größter Bedeutung. Diese Aussage bezieht sich keinesfalls nur
auf die persönliche Dimension einer Schlüsselqualifikation. Sie
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und Interkulturalität
hat institutionelle Bedeutung für eine gesteigerte Funktionsfähigkeit des Rechtssystems. Dieser Topos wird mittlerweile
unter der Überschrift Interkulturelle Öffnung der Justiz verhandelt. Indes geht es in diesem Bereich stärker um eine Anwendung interkultureller Erkenntnisse auf den juristischen
Bereich als um einen disziplinären Zugang der Rechtswissenschaften zu Kultur und Interkulturalität.
Zweitens: Der methodische Beitrag der Rechtswissenschaft
nimmt sich im Beitrag eher exkursartig aus, und das entspricht seiner Bedeutung. Die juristische Methode im engeren
Sinne ist zu speziell, als dass der allgemeine interkulturelle
Diskurs profitieren könnte. Im Rahmen des Rechtsvergleichs
(als Kulturvergleich) kann sie jedoch einen interessanten Erkenntnisgegenstand abgegeben. Die Methoden der Rechtswissenschaft im Grundlagenbereich indes sind nicht spezifisch
juristisch.
Drittens: Am fruchtbarsten ist der Beitrag von Rechtswissenschaftlern, wenn man Recht als kulturelles Phänomen betrachtet und interpretiert. Das Recht beeinflusst die Kultur
und diese wiederum das Recht. Wie das geschieht, welche
Erkenntnisse sich im Rechts- und Kulturvergleich hierzu gewinnen lassen, wie interkulturelle Prozesse sich im gesellschaftlichen und rechtlichen Bereich auswirken – das sind die
Leitfragen, zu deren Beantwortung Rechtswissenschaftler
entscheidend beitragen können. Insbesondere die Einstellungen der Menschen zum Recht und deren Manifestationen
geben ein vielversprechendes interdisziplinäres Erkenntnisfeld
ab.
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1
An der Universität Würzburg unterbreitet die Juristische Fakultät im Rahmen des Projekts „Globale Systeme und interkulturelle Kompetenz“ (www.gsik.de) den Jurastudieren ein
den entsprechendes Ausbildungsangebot.
2
Im Strafrecht ist der Analogieschluss verboten, da er einen
Verstoß gegen § 1 Strafgesetzbuch, Art. 103 Grundgesetz
darstellen würde. Dahinter steckt die Erwägung, dass die
Bürger dem Gesetz entnehmen können müssen, für welches
Verhalten Strafe droht. Schließlich bedeutet diese einen massiven staatlichen Eingriff in ihre Rechte. Dass die Gerichte gesetzliche Begriffe interpretieren, ist hinzunehmen. Doch die
Analogie überschreitet diese Grenze des Wortlauts.
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Marschelke: Recht und Kultur – Skizze disziplinärer Zugänge der Rechtswissenschaften zu Kultur
und Interkulturalität
3
Wobei die evolutionäre Perspektive des Rechts der Sozio-,
Moralbiologie und Moralpsychologie entnommen wird (Raiser
2009:336,338).
4
Zu beachten ist, dass der Begriff der Sanktionen nicht nur
auf rechtliche Maßnahmen angewendet wird. Der zitierte soziale Druck wird ebenfalls in Sanktionsform (Ermahnungen
u. ä.) ausgeübt (Raiser 2009:221).
5
Das Thema „Recht und Moral“ ist eines der Leitthemen im
Grundlagenbereich der Rechtswissenschaften. Aus dem großen Facettenreichtum der Fragestellungen hat Rottleuthner
die wichtigsten prägnant zusammengestellt (1981:157f.).
6
Andere sehen als faktische Grundlage schlicht Gewalt (Derrida 1991:29).
7
Auf diesem Wege kann der Gesetzgeber auch selbst Kollektive konstituieren, indem er Gruppenmerkmale selektiert und
definiert.
8
Moderne Ansätze verweisen darauf, dass Nationalkulturen
angesichts der Vielzahl von Subkulturen auch ohne Bezug auf
Nationalität oder Ethnie multikulturell sind (Hansen
2011:175).
9
Nicht verschwiegen werden darf, dass dieser Diskurs teilweise erhebliche Mängel aufweist (Höffe 1996:53ff., Fritzsche
2009:109).
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Hermann / Schachner / Noack: „Ich bin eigentlich anders.“ Subjektive Konstruktionen ethnischer
Identität im Migrationskontext und neue Wege in der psychologischen Akkulturationsforschung
„Ich bin eigentlich anPleaseinsert
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institution)
tion, institution)
ethnic identity in a migration context and new ways
in psychological acculturation research]
Mirjam Hermann
B.Sc. (Psych.), Universität Bremen,
derzeit Master Klinische Psychologie.
Maja Schachner
M.Sc. (Psych.), Graduate School
for Human Behaviour in Social
and Economic Change, FriedrichSchiller-Universität Jena und Universiteit van Tilburg, NL.
Peter Noack
Prof. Dr., Lehrstuhl Pädagogische
Psychologie, Friedrich-SchillerUniversität Jena.
Abstract [English]
Psychological acculturation research deals with situations in
which regular contact between members of different cultures
occurs and an adaptation on the side of the individuals and
groups involved becomes necessary. This adaptation is the
result of a dynamic and interactive process, the core of which
form the acculturation orientations or ethno-cultural identities of the individuals involved (Arends-Tóth / Van de Vijver
2006b). Taking the example of an interview study conducted
with pupils with a migration background, the psychological
acculturation process shall be explained, with a particular
emphasis on the role of ethnic identity in this process. The
study is based on recent research which shows that acculturation orientations can vary by life domain and context
(Phinney / Devich-Navarro 1997, Roccas / Brewer 2002,
Benet-Martinez et al. 2002, Arends-Tóth / Van de Vijver
2006a). The present study aimed at finding out (1) how children construct their ethnic identities and view cultural differences, (2) whether and to what extent ethnic identities of
children in early adolescence are already domain specific, and
(3) what could be possible reasons for an alternation between
life domains. The results largely confirm earlier quantitative
studies with adults and show that a domain specific analysis
of ethnic identity already makes sense at this age. The children already showed differences in their ethnic identity or
acculturation orientation between the public and the private
life domain. Perceived cultural distance, group status, context
specific expectations of others and discrimination are discussed as possible reasons for this shift.
Keywords: Ethnic identity, acculturation orientations, domain
specificity
Abstract [Deutsch]
Die Psychologische Akkulturationsforschung beschäftigt sich
mit Situationen, in denen regelmäßiger Kontakt zwischen
Mitgliedern verschiedener Kulturen stattfindet und eine Anpassung auf Seiten der involvierten Gruppen und Individuen
erforderlich wird. Diese Anpassung ist das Resultat eines dynamischen und interaktiven Prozesses, in dessen Zentrum die
Akkulturationseinstellungen bzw. die ethnisch-kulturelle Identität der Beteiligten stehen (Arends-Tóth / Van de Vijver
2006b). Am Beispiel einer Interviewstudie mit Schülern mit
Migrationshintergrund soll die psychologische Forschung im
Hinblick auf die Rolle der ethnischen Identität im Akkulturationsprozess veranschaulicht werden. Die Grundlage bildet
neuere Forschung, die zeigt, dass Akkulturationsorientierungen nach Lebensbereichen und Kontext variieren können
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Hermann / Schachner / Noack: „Ich bin eigentlich anders.“ Subjektive Konstruktionen ethnischer
Identität im Migrationskontext und neue Wege in der psychologischen Akkulturationsforschung
(Phinney / Devich-Navarro 1997, Roccas / Brewer 2002, Benet-Martinez et al. 2002, Arends-Tóth / Van de Vijver 2006a).
Ziel der beschriebenen Studie war es, herauszufinden, (1) wie
Kinder im frühen Jugendalter ihre ethnische Identität konstruieren und woran sie ethnische Unterschiede festmachen, (2)
inwiefern ethnische Identität auch bei Kindern im frühen Jugendalter bereichsspezifisch ist, und (3) was mögliche Gründe
für Unterschiede zwischen den Bereichen sein könnten. Die
Ergebnisse bestätigten weitestgehend frühere quantitative
Studien mit Erwachsenen und zeigten, dass die Auseinandersetzung mit ethnischer Identität nach Lebensbereichen auch
in dieser Altersgruppe sinnvoll ist. Bereits in diesem Alter gab
es teilweise Unterschiede zwischen dem privaten und dem
öffentlichen Bereich. Als mögliche Ursachen werden wahrgenommene kulturelle Distanz und Status der jeweiligen Gruppe, kontextspezifische Erwartungen der anderen und Diskriminierung diskutiert.
Stichworte: Ethnische Identität, Akkulturationsorientierungen,
Domänenspezifität
1.
Einleitung
„[M]an kann hier irgendwie nicht so sein, wie man ist … Ich
bin eigentlich anders“, so äußert sich eine 11-jährige Schülerin, die in Deutschland aufgewachsen ist und zur Schule geht,
deren Mutter aus Mazedonien und deren Vater aus der Türkei stammen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes
von 2010 beträgt der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit
Migrationshintergrund an der Bevölkerung im Alter zwischen
10 bis 15 Jahren in Deutschland durchschnittlich 30 Prozent.
Oft fühlen sie sich zerrissen zwischen der Kultur ihres Herkunftslandes, die mehr oder weniger stark im Elternhaus gelebt wird, und der deutschen Mehrheitskultur, mit der sie außerhalb des Elternhauses konfrontiert werden. Schulen in kulturell heterogenen Gebieten nehmen hier eine bedeutende
Rolle ein, da sie Orte sind, an denen interkultureller Kontakt
und Austausch stattfinden kann und das, was in der Psychologie als Akkulturation bezeichnet wird.
Redfield, Linton und Herskovits (1936:149) definierten Akkulturation als „die Phänomene, die daraus resultieren, wenn
Individuen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund regelmäßigen direkten Kontakt miteinander haben, der zur
Veränderung der kulturellen Muster und Gewohnheiten auf
einer oder beiden Seiten führt.“ Somit ergibt sich ein dynamischer Akkulturationsprozess aus der Interaktion zwischen den
kulturellen Minderheiten auf der einen und der Mehrheitskultur auf der anderen Seite. Die psychologische Akkulturationsforschung befasst sich somit mit allen Situationen, in denen
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Hermann / Schachner / Noack: „Ich bin eigentlich anders.“ Subjektive Konstruktionen ethnischer
Identität im Migrationskontext und neue Wege in der psychologischen Akkulturationsforschung
regelmäßiger Kontakt zwischen Mitgliedern verschiedener
Kulturen stattfindet und eine Anpassung auf Seiten der involvierten Gruppen und Individuen erforderlich wird. Die spezifischen Situationen können hierbei sehr unterschiedlich sein –
so gibt es Menschen, die als Flüchtlinge in andere Länder
kommen, Menschen, die für bessere wirtschaftliche Verhältnisse migrieren oder auch Situationen, in denen der interkulturelle Kontakt und Austausch zeitlich begrenzt ist, wie es
z. B. bei Ex-Patriates oder Austauschstudenten der Fall ist
oder im Hinblick auf die in den 60er Jahren nach Deutschland
eingewanderten Gastarbeiter geplant war.
Der Akkulturationsprozess kann in Akkulturationsbedingungen, -orientierungen und -ergebnisse unterteilt werden. Den
zentralen Aspekt, der auch Gegenstand dieser Studie ist, bilden die Akkulturationsorientierungen, die auch als ethnische
Identität bzw. ethnisches Zugehörigkeitsgefühl oder Einstellungskomponente im Akkulturationsprozess aufgefasst werden können. Die Akkulturationsorientierungen, die oft zweidimensional im Sinne einer Orientierung zur Herkunfts- und
zur Mehrheitskultur dargestellt werden, können über Akkulturationsbedingungen beeinflusst werden und sich unmittelbar auf die Akkulturationsergebnisse auswirken, wie ArendsTóth und Van de Vijver (2006b) in ihrem „AcculturationFramework“ verdeutlichen (siehe Abbildung 1). Wenn die
primäre kausale Abfolge auch wie beschrieben ist, so ist die
umgekehrte Wirkrichtung, in der sich Orientierungen und
Ergebnisse wiederum auch auf die Bedingungen auswirken,
auch möglich. Akkulturation kann also als dynamischer Prozess aufgefasst werden, in dem sowohl die unterschiedlichen
Komponenten als auch die beteiligten Gruppen miteinander
interagieren.
Akkulturationsbedingungen
Akkulturationsorientierungen
Akkulturationsergebnisse
Abb. 1: Acculturation-Framework, basierend auf “Issues in the conceptualization and assessment of acculturation”. Quelle: Arends-Tóth /
Van de Vijver 2006b:36.
Zu den Bedingungen zählen neben individuellen Voraussetzungen wie Persönlichkeit und kognitive Leistungsfähigkeit
auch Eigenschaften der Herkunftskultur, der spezifischen
Migrantengruppe und der Mehrheitsgesellschaft sowie Aspekte, die sich aus der Interaktion dieser Gruppen bzw. der
interkulturellen Situation ergeben (z. B. wahrgenommene kulturelle Distanz, wahrgenommener sozialer Status, wahrgenommene Diskriminierung). Studien haben beispielsweise gezeigt, dass geringe wahrgenommene kulturelle Distanz mit
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Identität im Migrationskontext und neue Wege in der psychologischen Akkulturationsforschung
einer höheren Orientierung an beiden Kulturen einher geht
(Redmond / Bunyi 1993, Galchenko / Van de Vijver 2007),
wogegen geringe wahrgenommene kulturelle Distanz in Verbindung mit einem hohen wahrgenommenen sozialen Status
der ethnischen Gruppe zu einer höheren Orientierung an der
Mehrheitskultur führen (Arends-Tóth / Van de Vijver 2009).
Vermittelt über die Akkulturationsorientierungen wirken sich
Bedingungen schließlich auch auf die Akkulturationsergebnisse aus. So hat eine internationale Studie mit Jugendlichen
in 13 Ländern beispielsweise gezeigt, dass wahrgenommene
Diskriminierung zu einer niedrigeren Orientierung an der
Mehrheitskultur und einer höheren Orientierung an der Herkunftskultur führt, was wiederum insbesondere für die schulische Anpassung und im Hinblick auf Verhaltensprobleme
negative Konsequenzen hat (Vedder / Van de Vijver / Liebkind
2006). Zudem scheint ein Zusammenhang zwischen niedrigerem sozialen Status und wahrgenommener Diskriminierung
zu bestehen, was sich negativ auf das Selbstwertgefühl auswirkt (z. B. Verkuyten 1998).
Grundsätzlich unterscheidet man zwischen psychologischen
und soziokulturellen Ergebnissen. Positive psychologische Ergebnisse des Akkulturationsprozesses sind z. B. das subjektive
Wohlbefinden, Selbstbewusstsein, Lebenszufriedenheit und
die Abwesenheit von psychosomatischen Problemen. Positive
soziokulturelle Ergebnisse sind die Fähigkeit, im Alltag in der
jeweiligen Kultur zu Recht zu kommen, die Sprache zu beherrschen, Beziehungen innerhalb der jeweiligen Kultur aufzubauen und im jeweiligen kulturellen Kontext nach den Regeln spielen zu können. Frühere Studien haben gezeigt, dass
sich die Anbindung an die Herkunftskultur vor allem positiv
auf psychologische Ergebnisse auswirkt, während die Annahme der neuen Kultur sich vor allem auf die soziokulturellen Ergebnisse auswirkt (Ward 2001, Sam et al. 2006). Neuere Studien (Schachner / Van de Vijver / Noack 2011a, Jackson
/ Van de Vijver i. V.) haben jedoch gezeigt, dass sich das Aufrechterhalten der Herkunftskultur indirekt über die psychologischen Ergebnisse auch auf die soziokulturellen Ergebnisse
auswirkt.
Der zentrale Aspekt des Modells, die Akkulturationsorientierungen, stellt die Einstellungskomponente dar und ist stark
vom subjektiven Zugehörigkeitsgefühl zur jeweiligen Kultur
geprägt. Daher werden sie oft mit ethnischer Identität gleich
gesetzt, die als multidimensionales Konstrukt eine Vielzahl
von relevanten Komponenten wie Selbstkategorisierung,
Commitment und Bindung, Kenntnis von kulturellen Praktiken, Werten und Überzeugungen umfasst (Phinney / Ong
2007, Ashmore / Deaux / McLaughlin-Volpe 2004).
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Hermann / Schachner / Noack: „Ich bin eigentlich anders.“ Subjektive Konstruktionen ethnischer
Identität im Migrationskontext und neue Wege in der psychologischen Akkulturationsforschung
Aufrechterhaltung der Herkunftskultur
Die Akkulturationsorientierungen werden auf zwei Dimensionen erfasst, die sich aus der individuellen Antwort auf die
beiden Fragen ergeben, wie weit die Herkunftskultur aufrecht
erhalten werden soll und wie weit der Wunsch besteht, sich
an die Mehrheitskultur anzupassen (Berry 1997, Bourhis et al.
1997). Daraus ergeben sich vier verschiedene Akkulturationsstrategien (Berry 1997): Integration, Assimilation, Separation
und Marginalisierung (siehe Abbildung 2).
Separation
Marginalisierung
Integration
Assimilation
Aneignung der Kultur des Aufnahmelandes
Abb. 2: Akkulturationsstrategien, basierend auf “Immigration, Acculturation and Adaption”. Quelle: Berry 1997:10.
Integration im eigentlichen Sinne bedeutet, dass sich das Individuum in beiden Kulturen zu Hause fühlt. Im Hinblick auf
positive Ergebnisse – sowohl soziokulturelle wie Schulleistung
als auch psychologische wie Selbstbewusstsein – ist dies die
am meisten bevorzugte Strategie (Sam et al. 2006). Assimilation bedeutet, dass sich das Individuum stark an die Kultur
des Aufnahmelandes anpasst und dabei die Kultur des Herkunftslandes vernachlässigt. Dies kann kurzfristig zu positiven
soziokulturellen Ergebnissen führen, geht aber langfristig oft
mit psychischen Problemen einher, da ein Teil der eigenen
Herkunft und Identität nicht ausgelebt wird (Sam et al. 2006).
Assimilation ist im öffentlichen Diskurs zum Thema Migration
oft die von der Mehrheitsgesellschaft bevorzugte Variante.
Separation bedeutet, dass der Fokus auf der Aufrechterhaltung der Herkunftskultur liegt und die Kultur des Aufnahmelandes nur minimal angenommen wird. Soziale Kontakte
werden fast nur innerhalb der Migrantengruppe gepflegt und
es findet eine Abschottung von der Mehrheitsgesellschaft
statt. Die eigene ethnische Gruppe kann hier zwar als Quelle
für psychisches Wohlbefinden dienen und ein gewisses Sicherheits- und Heimatgefühl in der Fremde vermitteln, jedoch
ist klar, dass diese Strategie im Hinblick auf ein langfristiges
Leben und Möglichkeiten im Aufnahmeland nicht hilfreich ist.
So zeigen Jugendliche, die dieses Profil aufweisen, zwar posi-
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Hermann / Schachner / Noack: „Ich bin eigentlich anders.“ Subjektive Konstruktionen ethnischer
Identität im Migrationskontext und neue Wege in der psychologischen Akkulturationsforschung
tive psychologische Ergebnisse, aber zugleich auch negative
soziokulturelle Ergebnisse (Sam et al. 2006). Zuletzt gibt es
noch das Phänomen der Marginalisierung, in dem eine Distanzierung von beiden Kulturen stattfindet. Dies ist eigentlich
keine Strategie im eigentlichen Sinne, sondern beschreibt eher eine misslungene Akkulturation, die mit Orientierungslosigkeit, sozialer Isolation und oft erheblichen psychischen
Problemen einhergeht.
Neuere Forschung hat zudem gezeigt, dass die Strategie eines
Individuums in verschiedenen Situationen und Lebensbereichen wechseln kann. So gibt es beispielsweise die grobe Unterscheidung zwischen dem privaten und öffentlichen Bereich, wobei sich das Private auf Werte und eine innere Haltung sowie das Leben zu Hause bezieht und das Öffentliche
auf alles, was außerhalb des Heims passiert und nach außen
hin sichtbar ist (Arends-Tóth / Van de Vijver 2006a).
Die Akkulturationsorientierungen in beiden Kontexten können einerseits als kompatibel angesehen werden (Phinney /
Devich-Navarro 1997, Benet- Martínez / Leu / Lee / Morris,
2002, Benet-Martínez / Haritatos 2005) und nur wenig kulturelle Distanz und Konflikt zwischen ihnen wahrgenommen
werden (Cheng / Lee 2009). Diese Individuen scheinen sich
somit gleichzeitig unabhängig von Situationen an beiden Kulturen zu orientieren, was in der Forschung mit Überlagerung
(Phinney / Devich-Navarro 1997) oder Verflechtung (Roccas /
Brewer 2002) bezeichnet wird. Im Gegensatz dazu kann sich
im Extremfall eine Person im öffentlichen Bereich fast voll assimilieren, aber im privaten Bereich Separation betreiben.
Beide Kulturen werden somit trotz der Orientierung an beiden Kulturen als gegensätzlich und unvereinbar empfunden
(Phinney / Devich-Navarro 1997, Benet-Martínez / Haritatos
2005). Die Identitäten dieser Individuen scheinen nach dem
Prinzip der Alternation (Phinney / Devich-Navarro 1997) oder
der Kompartimentierung, also der Bereichsbildung (Roccas /
Brewer 2002) konstruiert zu sein und je nach sozialem Kontext zu variieren, was auch als „cultural frame switching“ bezeichnet wird (z. B. Benet-Martínez / Leu / Lee / Morris,
2002).
Als Ursache für diese Konstruktion der ethnischen Identität,
die mit der Schwierigkeit einhergeht, die verschiedenen Kulturen in einer verbundenen Identität zusammen zu bringen,
werden neben Persönlichkeitsfaktoren wie geringe Offenheit
und neurotische Dispositionen akkulturative Stressoren wie
Diskriminierung, angespannte interkulturelle Beziehungen,
Sprachprobleme, kulturelle Isolation und Separation angesehen (Benet-Martínez / Haritatos 2005).
Einerseits kann diese Strategie der Alternation durch das Erreichen einer kontextspezifischen Passung von Vorteil sein, da
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Hermann / Schachner / Noack: „Ich bin eigentlich anders.“ Subjektive Konstruktionen ethnischer
Identität im Migrationskontext und neue Wege in der psychologischen Akkulturationsforschung
sich eine mangelnde Passung zwischen der bevorzugten und
wahrgenommenen Akkulturationsstrategie laut dem „Interactive Acculturation Model“ (Bourhis et al. 1997) negativ auf
Akkulturationsergebnisse auswirken kann (Zagefka / Brown
2002, Baysu / Phalet / Brown 2011). Andererseits können sich
als unvereinbar empfundene ethnische Identitäten negativ
auf das psychologische Wohlbefinden auswirken (Chen / Benet-Martínez / Bond 2008) und in einer Konfusion der ethnischen Identität münden (Schwartz et al. 2007).
Insgesamt ist im Bereich der Akkulturationsforschung jedoch
bisher wenig bekannt zu Ursachen und Wirkung von Alternation der ethnischen Identität in spezifischen Kontexten (Phinney / Devich-Navarro 1997, Benet-Martìnez / Haritatos 2005,
Baysu / Phalet / Brown 2011).
Hinzu kommt, dass ein Großteil der Forschung in diesem Bereich bisher mit Erwachsenen durchgeführt wurde. Es ist aber
bekannt, dass gerade im frühen Jugendalter bzw. in der frühen Adoleszenz starke Veränderungen in der Identitätsentwicklung stattfinden (Phinney 1989, 1992). In dieser Phase
rücken neben den physiologischen Veränderungen auch Fragen bezüglich der eigenen ethnischen Identität stärker in den
Vordergrund und es kommt zu einer verstärkten aktiven Exploration und Auseinandersetzung mit dieser Thematik. Es
stellt sich somit die Frage, wie stark die Orientierungen an
Herkunftskultur und der Mehrheitskultur von Kindern und
Jugendlichen in der frühen Adoleszenz ausgeprägt sind und
wie ihre ethnische Identität konstruiert ist.
1.1
Fragestellungen und Ziele der Studie
1
Ziel dieser qualitativen Studie , die als Vorstudie in eine quantitative Längsschnittstudie eingebettet ist, ist es, zunächst
einmal herauszufinden, inwiefern die genannten theoretischen Modelle auf Kinder dieser Altersgruppe (10-13, frühe
Adoleszenz) anwendbar sind. Die zentralen Forschungsfragen
lauten daher:
1.) Welches Verständnis haben Kinder in diesem Alter von
ethnischer Identität und wie beschreiben sie ihre eigene Identität? Welche Aspekte werden im Hinblick auf Aufrechterhaltung und Anpassung genannt? Wo werden Unterschiede
zwischen den Kulturen wahrgenommen und wie werden diese beschrieben?
2.) Welche Akkulturationsorientierungen zeigen die Kinder?
Gibt es Unterschiede zwischen privatem und öffentlichem
Bereich?
3.) Wie begründen die Kinder ihre Akkulturationsorientierungen im jeweiligen Bereich und falls es einen Wechsel bzw.
eine Alternation gibt, womit könnte dies zusammenhängen?
101
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Hermann / Schachner / Noack: „Ich bin eigentlich anders.“ Subjektive Konstruktionen ethnischer
Identität im Migrationskontext und neue Wege in der psychologischen Akkulturationsforschung
2.
2.1
Methode
Stichprobe
Im Rahmen dieser Studie wurden vierzehn halbstrukturierte
Interviews mit zehn- bis dreizehnjährigen Schülerinnen und
Schülern mit Migrationshintergrund der Klassenstufe fünf
und sechs eines Gymnasiums (vier Schülerinnen und ein Schüler, 35%) oder einer Hauptschule (drei Schülerinnen und
sechs Schüler, 65%) durchgeführt. Die Verteilung bezüglich
des Geschlechts war ausgewogen (sieben weiblich, sieben
männlich).
Die Schülerinnen unterschieden sich stark hinsichtlich ihres
Migrationshintergrundes (Türkei (4), Türkei und Mazedonien
(1), Iran (1), Indien (1), Vietnam (1), Kasachstan (1), Eritrea (1),
Iran und Ungarn (1), Portugal (1), Marokko (1), Paraguay und
Kroatien (1)) und ihrer Religionszugehörigkeit (Islam (7),
Christentum (4), Hinduismus (1), keine Religion (2)). Vier
(30%) der Schülerinnen und Schüler wurden im Herkunftsland ihrer Eltern geboren und hatten noch ein paar Jahre dort
gelebt, bevor sie mit ihrer Familie nach Deutschland eingewandert sind. Alle anderen Schülerinnen und Schüler gehören der zweiten Generation an. Auch hinsichtlich der Bildungsnähe der Familie (d. h. geschätzte Anzahl Bücher im
Haushalt und das Erlernen eines Musikinstruments; Deutsche
Shell 2002) wiesen die Schülerinnen und Schüler große Unterschiede auf, die jedoch in erwarteter Weise mit dem Schultyp zusammen hingen.
Diese unterschiedlichen Fälle hinsichtlich der Merkmale Bildungsniveau repräsentiert über den Schultyp, Migrationshintergrund und Bildungsnähe der Familie wurden bewusst gewählt, um die Heterogenität des Untersuchungsfeldes gemäß
der „Regel der maximalen strukturellen Variation“ (Kleining
1982:234) abzubilden. Diese Strategie hat zum Ziel, einer
Stichprobenverzerrung vorzubeugen und die qualitative Repräsentation zu erhöhen (Kruse 2009:79ff.).
2.2
Erhebungsinstrument
Diese Studie bedient sich der qualitativen Interview-Methode,
wobei die „Kinder als Experten ihrer Lebenswelt“ (Trautmann
2010:46) angesehen werden. Diese Methode lässt den Schülerinnen und Schülern die Freiheit, sich über ihre Wahrnehmung und Erfahrungen zu äußern.
Die Interviews wurden mit Hilfe eines Interviewleitfadens erhoben. Die Form des halbstrukturierten Interviews wurde gewählt, da gezielt bestimmte Aspekte aufgegriffen und erfragt
werden sollten. Zudem sollten die subjektiven Deutungsmuster der Schülerinnen und Schüler erfasst und die Interviews
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Identität im Migrationskontext und neue Wege in der psychologischen Akkulturationsforschung
inhaltsanalytisch ausgewertet werden, was sich bei dieser
Form von Interviewführung anbietet (Kruse 2009).
Die Struktur des Leitfadens orientiert sich an den Empfehlungen von Kruse (2009) und Trautmann (2010). Die Auswahl
der Konzepte und inhaltlichen Aspekte des Interviewleitfadens basiert auf den im theoretischen Teil eingeführten Konzepten der Migrations- und Akkulturationsforschung und umfasst Fragen zu Akkulturationsbedingungen (Wahrgenommene kulturelle Distanz in Anlehnung an Galchenko / Van de
Vijver 2007, wahrgenommener sozialer Status in Anlehnung
an Schalk-Soekar et al. 2004, wahrgenommene Diskriminierung in Anlehnung an Ward 2008, wahrgenommene Akkulturationserwartungen seitens Mitschülerinnen und Mitschülern, Lehrerinnen und Lehrern, weitestgehend selbst konstruiert) und Akkulturationsorientierungen (Ethnische Identität in
Anlehnung an Phinney 1992, Phinney / Ong 2007; domänenspezifische Akkulturationsorientierungen in Anlehnung an
Arends-Tóth / Van de Vijver 2003).
2.3
Durchführung
Die Interviews führte eine deutsche Interviewerin in Absprache mit der Klassenlehrerin und nach Zustimmung der Eltern
während einer Unterrichtsstunde in einem separaten Raum
des Schulgebäudes durch. Die Interviews dauerten im Durchschnitt vierzig Minuten und wurden auf Tonband aufgezeichnet.
2.4
Analyse
Anschließend wurden die Tonaufnahmen mithilfe des Programms f4 transkribiert. Da der Inhalt des Gesagten im Vordergrund stand, wurde wörtlich transkribiert, wobei alle Äußerungen originalgetreu erfasst wurden; Pausen, Betonungen
und sonstige stilistische Eigenschaften aber außen vor gelassen wurden. Anschließend wurden die Transkripte mit ATLAS.ti, einer Software für qualitative Datenanalyse (Muhr
1994), analysiert. Kodiert wurden die Interviews nach dem
Prinzip der halboffenen Kodierung (Friese 2009), einer Mischform aus Top-Down- und Bottom-Up-Kodierung, die sowohl
theoriegeleitete Kategorien beinhaltet als auch für zusätzliche
Kategorien, die sich aus dem Text selbst ergeben, offen ist.
Aus dem Interviewmaterial und der Literaturrecherche ergaben sich zunächst vier große Kategorien bezüglich der Akkulturationsorientierungen (Aufrechterhaltung der Herkunftskultur und Aneignung der Mehrheitskultur im privaten und öffentlichen Lebensbereich). Innerhalb dieser Kategorien wurden thematische Subkategorien gebildet (wie z. B. Zugehörigkeitsgefühl, Sprachgebrauch, religiöse Praktiken, Feiern
kultureller Festlichkeiten), die sich sowohl aus dem Inter103
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Hermann / Schachner / Noack: „Ich bin eigentlich anders.“ Subjektive Konstruktionen ethnischer
Identität im Migrationskontext und neue Wege in der psychologischen Akkulturationsforschung
viewmaterial ergaben als auch theoriegeleitet waren (ArendsTóth / Van de Vijver, 2006a). Die Kategorisierung der Akkulturationsbedingungen erfolgte nach dem gleichen Top-Down
und Bottom-Up geleiteten Prinzip und es ergaben sich Subkategorien wie z. B. wahrgenommene kulturelle Distanz, wahrgenommener sozialer Status der eigenen ethnische Gruppe
oder Interesse seitens Mitschülerinnen und Mitschülern sowie
Lehrerinnen und Lehrern.
3.
Ergebnisse
Zuerst wurde für jeden Schüler einzeln basierend auf dessen
kategorisierten Antworten die Ausprägung der Akkulturationsorientierungen auf beiden Dimensionen im privaten und
öffentlichen Lebensbereich ermittelt. Hierzu wurden relevante
Textstellen zunächst anhand ihrer Intensität im Hinblick auf
den jeweiligen Identitätsbereich durch die drei Ausprägungsstufen niedrig, mittel und hoch bewertet und anschließend
die relativen Häufigkeiten über die jeweiligen Unterkategorien erfasst. Eine Aussage innerhalb der Subkategorie Feiern
kultureller Feste wie „also ich kenn die [iranischen und ungarischen Feste] eigentlich nicht. Neujahr kenn ich, aber das feiern wir auch nicht so richtig“ wurde beispielsweise hinsichtlich der Orientierung an der Herkunftskultur im privaten Bereich als gering gewertet, wohingegen eine Aussage wie
„Wir gehen in die Moschee und da gibt‘s auch oft Feiertage
und die feiern wir auch dann ... z. B. das heißt Kurban und
das bedeutet Schlachtfest“ als hoch eingestuft wurde. Anschließend wurde jedem Kind auf beiden Dimensionen und in
beiden Lebensbereichen eine Ausprägungsstufe zugeordnet.
Die Kategorie mittel wurde zusätzlich für diejenigen eingeführt, die innerhalb der übergeordneten Konzepte sowohl
hohe als auch niedrige Tendenzen zeigten und sich somit
zwischen den beiden anderen Kategorien hoch und niedrig
bewegten.
Hinsichtlich der Subkategorien zeigen die Ergebnisse, dass die
Kinder ihre ethnische Identität im privaten Bereich vor allem
am Feiern von kulturellen Festen wie „[Wir feiern] Divali … Ja,
gleich wie Weihnachten“, Ausüben religiöser Praktiken wie
„an einem Tag beten wir fünfmal“, typische Speisen aus dem
Herkunftsland wie „manchmal machen wir halt so kleine Fische, die sind so groß, ja, und da machen wir ganz viele davon und die tun wir dann halt in so Fladenbrot“ sowie am
Sprachgebrauch wie „also mit meiner Mutter sprech ich Türkisch und mit meinem Vater“ festmachten. Im öffentlichen
Bereich dagegen wurde vor allem über das Zusammensein
mit anderen Kindern der gleichen ethnischen Gruppe „Also
früher war ich mit einer anderen Vietnamesin mit in meiner
Klasse, die ist jetzt auf die Real ... Also wir treffen uns immer
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Identität im Migrationskontext und neue Wege in der psychologischen Akkulturationsforschung
in der großen Pause“, Hilfe bei Schulaufgaben „[Ich gehe zu
den] deutschen [Mitschülern], weil die des mehr verstehen.
Also die türkischen verstehen das auch, aber deutsch find ich
halt viel besser“ oder bei emotionalen Problemen „ [Ich gehe
zu den] türkischen [Mitschülern] [...] weil die halt aus meinem
Land sind. Und mich viel besser verstehen“ sowie über das
subjektive Zugehörigkeitsgefühl auf die Frage nach ihrer Herkunft wie „Äh, dann denk ich immer, die sagen dann, du
kommst bestimmt aus China und so. Dann sag ich nein, ich
komm aus Vietnam und so“ berichtet.
Im Ergebnis zeigt sich, dass die Mehrheit der Schülerinnen
und Schüler (73%) im privaten Lebensbereich ihre ethnische
Herkunftskultur zu einem hohen Ausmaß beibehält. So berichten sie beispielsweise über typisches Essen aus ihrem Herkunftsland, das zu Hause gekocht wird oder über religiöse
Themen. Aus der Gruppe derjenigen, die sich im privaten Lebensbereich stark an ihrer Herkunftskultur orientieren, weist
nur ein Drittel gleichzeitig auch eine starke Tendenz auf, sich
im privaten Bereich die Mehrheitskultur anzueignen, indem
sie beispielsweise Feste aus beiden Ländern feiern „also wir
feiern die deutschen und die marokkanischen Feste“ oder
beide Sprachen sprechen wie z. B. „mit meiner Mutter sprechen wir ganz normal deutsch, und abends kommt mein Vater, der spricht mit uns marokkanisch“. Die restlichen zwei
Drittel orientieren sich dagegen sehr viel mehr an ihrer Herkunfts- als an der Mehrheitskultur „ich les [Koran] oder ich
bete halt zu Hause“. Ein kleinerer Teil der Schülerinnen und
Schüler (ca. 27%) zeigt im privaten Bereich eine starke Orientierung an der Mehrheitskultur und nur eine recht geringe
Orientierung an ihrer Herkunftskultur „also, wir feiern schon
Weihnachten ... also, ich kenn die [iranischen Feste] eigentlich
nicht“.
Im öffentlichen Lebensbereich weist die Mehrheit (60%) dagegen eine starke Orientierung an der Mehrheitskultur auf
und gibt an, „lieber deutsch“ sein zu wollen. Einige dieser
Schülerinnen und Schüler scheinen sich von ihrer Herkunftskultur recht stark zu distanzieren:
„Ich hab halt irgendwie das Gefühl, wenn ich das machen würde [Sachen
aus dem Land mitbringen], würden die anderen denken, die gibt mit ihrem
Land an... Ich wollt‘s halt vermeiden, dass die wirklich sowas denken könnten“
oder „Also z. B. manche hier, also Türken, die tun so, als ob
sie die coolsten überhaupt wären. Das mag ich gar nicht.“
Nur ein kleiner Teil (13%) zeigt eine hohe Orientierung an der
eigenen Herkunftskultur und äußert, dass es „eigentlich ein
schönes Gefühl“ sei, über den eigenen Migrationshintergrund zu sprechen und es etwas „Gutes“ und von „Vorteil“
in der Schule sei, aus einem anderen Land zu kommen. Ein
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Identität im Migrationskontext und neue Wege in der psychologischen Akkulturationsforschung
knappes Drittel (27%) scheint sich zwar an beiden Kulturen
zu orientieren, allerdings nur zu einem mittleren Ausmaß.
Diese Schülerinnen und Schüler zeigen keine klare Tendenz
innerhalb einer Orientierung. So sind sie einerseits stolz,
wenn sie über ihre ethnische Herkunft gefragt werden, fühlen sich aber andererseits auch unwohl, da sie beispielsweise
zu Beginn „ganz anders gekleidet“ gewesen seien und spüren, dass sie „eigentlich anders“ sind.
Es fällt auf, dass sich insgesamt die Zahl der Kinder, denen die
Aneignung der Mehrheitskultur sehr wichtig ist, zwischen
privatem und öffentlichem Bereich kaum verändert (fast zwei
Drittel in beiden Bereichen; siehe Abbildung 3). Was sich allerdings sehr stark unterscheidet ist die Orientierung zur Herkunftskultur: Während dies im privaten Bereich für über zwei
Drittel der Kinder sehr wichtig ist und sie sich auch emotional
damit identifizieren wie z. B. „[D]ann nimmt man einfach des
Koran und liest ein paar Seiten und dann tut man, keine Ahnung, dann fällt ein Stein von Herzen oder so. Das find ich
gut dann immer. Weil immer wenn ich irgendwie bedrückt
bin oder traurig bin, dann tu ich immer ein zwei Seiten lesen“, geben nur 13 Prozent an, diese Orientierung auch im
öffentlichen Bereich zu zeigen und Gefühle wie „Also ähm,
ich hab schon ein bisschen stolz, dass ich auch das andere
Land so gut kenne und sonst ist es eigentlich ganz normal“
zu äußern. Die stärkere Orientierung an der Herkunftskultur
im privaten Lebensbereich dient hinsichtlich der psychologischen Ergebnisse offensichtlich als emotionale Unterstützung.
Viele Kinder wechseln von einer tendenziell separativen Orientierung im privaten Bereich zu einer tendenziell assimilativen Haltung im öffentlichen Bereich. Während es im privaten
Bereich auch Kinder gibt, die eine Tendenz zur Integration
zeigen (also einen ebenso starken Bezug zur Herkunfts- wie
zur Mehrheitskultur haben), gibt es dieses Muster im öffentlichen Bereich überhaupt nicht bzw. wesentlich schwächer.
Einige dieser Kinder assimilieren sich in der Schule stärker wie
z. B. „Ich bin ja, eigentlich auch deutsch, meine Eltern sind ja
nur aus dem Ausland“ oder
„Ja, weil halt, türkisch ist halt wichtiger, aber dass ich halt auf die Realschule komme, hat meine Mutter gesagt, dass ich mich halt auf Diktat und solche Sachen halt konzentrieren soll“.
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Identität im Migrationskontext und neue Wege in der psychologischen Akkulturationsforschung
Letztere Aussage weist auf den funktionellen Aspekt der assimilativen Tendenz hin, der – im Gegensatz zur stärkeren
Orientierung an der Herkunftskultur im privaten Bereich – im
Zusammenhang mit den soziokulturellen Ergebnissen im öffentlichen Lebensbereich steht. Andere identifizieren sich mit
beiden Kulturen weniger „Ich bin nicht stolz, aber auch nicht
egal. Also mir macht‘s nichts aus“ und rutschen so ins Mittelfeld des Schaubilds. Letzteres ist als solches nicht unbedingt
bedenklich, kann es aber werden, wenn sich die Kinder noch
mehr von beiden Kulturen distanzieren und eine Marginalisierungstendenz aufweisen.
Privater Lebensbereich
(zu Hause)
18%
27%
9%
18%
Aneignung der
Mehrheitskultur
13%
Beibehalten der
Herkunftskultur
Beibehalten der
Herkunftskultur
18%
Öffentlicher Lebensbereich
(in der Schule)
29%
29%
29%
Orientierung an
Herkunftskultur im
öffentlichen Bereich
schwächer
Aneignung der
Mehrheitskultur
Abb. 3: Verteilung der Schülerinnen und Schüler bezüglich ihrer Akkulturationsorientierungen im privaten und öffentlichen Lebensbereich.
Quelle: Eigene Darstellung.
Mögliche Ursachen für diese Verschiebung können eine hohe
wahrgenommene kulturelle Distanz, Diskriminierungserfahrungen sowie eine Anpassung an die Erwartungen im jeweiligen Umfeld sein.
Zunächst einmal ist auffällig, dass diese Verschiebung hauptsächlich auf Schülerinnen und Schüler mit einem Migrationshintergrund aus Ländern zutrifft, die eine hohe, objektive kulturelle Distanz aufweisen, wie z. B. Türkei, Marokko, Eritrea
und Vietnam (Schwartz 2004). Aber auch die subjektiv wahrgenommene Distanz scheint eine Rolle zu spielen: Die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler, die eine hohe kulturelle
Distanz bezogen auf die Religion wie „Türken tragen halt ein
Kopftuch“, auf Autorität wie „[Meine Eltern sind] sehr strenger“ und Lebensstil wie „Also, wir sind mehr verbunden an
unsere Familie“ wahrnehmen, zeigt eine mittlere bis hohe
Orientierung an der Herkunftskultur und nur eine geringe bis
mittlere Orientierung an der Mehrheitskultur. Eine Ausnahme
stellt eine Schülerin dar, die eine mittlere Orientierung an der
Herkunftskultur und eine starke Orientierung an der Mehrheitskultur aufweist. Interessant ist, dass sie die wahrgenom-
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Identität im Migrationskontext und neue Wege in der psychologischen Akkulturationsforschung
mene kulturelle Distanz bezogen auf die Autorität und Strenge ihrer Eltern im Vergleich zu den anderen Mitschülerinnen
und Mitschülern als „gemein“ bewertet und somit durchaus
einen Konflikt mit der Herkunftskultur bzw. zwischen den
beiden Kulturen wahrnimmt.
Eine hohe kulturelle Distanz zwischen der Herkunftskultur
bzw. der im Elternhaus gelebten Kultur und der deutschen
Kultur nimmt die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler
wahr, die zugleich im öffentlichen Bereich über negative Erfahrungen sowie einen niedrigen sozialen Status ihrer ethnischen Gruppe berichten. Im Zusammenhang mit den Akkulturationsorientierungen im jeweiligen Bereich fällt auf, dass
diejenigen, die im öffentlichen Lebensbereich eine hohe Tendenz aufweisen, ihre ethnische Kultur aufrechtzuerhalten
(13%), weder über negative Erfahrungen bezüglich ihrer ethnischen Herkunft noch über einen geringen sozialen Status
ihrer eigenen ethnischen Gruppe berichten. Die Mehrheit der
Schülerinnen und Schüler (87%) berichten dagegen darüber,
dass „die mit Migrationshintergründen eigentlich mehr Außenseiter sind“ und dass deutsche Mitschülerinnen und Mitschüler Aussagen wie „Scheiß Ausländer und so“ äußern und
dass sie eher „schlechte Sachen“ über das Herkunftsland wissen.
Bezüglich des sozialen Status der ethnischen Gruppe sind insbesondere die Türken stark stigmatisiert bzw. haben einen
niedrigen wahrgenommenen Status. So äußern sich z. B.
nicht-türkische Migranten aus dem Gymnasium und der
Hauptschule häufig negativ über Türken wie „Naja, die Türken sind nicht immer freundlich“ und distanzieren sich von
ihnen: „Überhaupt ich geb mich nicht so gerne mit Türken
ab, weil die sind meistens so aggressiv und auch ein bisschen
seltsam und so.“ Sowohl das Erleben negativer Erfahrungen
als auch ein als gering wahrgenommener sozialer Status gehen im Vergleich zum privaten Bereich im öffentlichen Bereich mit einer geringeren Orientierung an der Herkunftskultur einher. Gleichzeitig zeigt die Mehrheit dieser Schülerinnen
und Schüler eine stärkere oder mindestens gleichbleibend
hohe Orientierung an der Mehrheitskultur.
Hinzu kommt, dass die meisten Kinder in der Schule starke
Assimilationserwartungen bzw. eine Ignoranz der kulturellen
Hintergründe der Schüler wahrnehmen: 80 Prozent aller
Schülerinnen und Schüler schätzen das Interesse ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler bezüglich ihrer ethnischen Herkunft als gering ein. Im Unterricht sei zudem seitens der Lehrerinnen und Lehrer generell bisher wenig über verschiedene
Kulturen gesprochen worden. So berichtet ein Schüler, dass
„wir bis jetzt nichts gemacht [haben], also über mein Land
und so.“ Dennoch würden sich nahezu alle Schülerinnen und
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Schüler unabhängig von ihren Akkulturationsorientierungen
wünschen, dass kulturelle Vielfalt stärker im Unterricht behandelt wird und Wissen über das eigene und andere Länder
vermittelt wird. Die Äußerungen hierzu sind sehr emotional
wie „Ja, also, des fänd‘ ich toll“ oder „Eh, cool, weil es gibt ja
nicht so oft irgendwas aus dem Iran und das ist dann schon
interessant“ oder auch
„[w]eil irgendwie find‘ ich‘s auch unfair, dass die über manche Länder Bescheid wissen, aber nicht über alle. Weil es gibt ja, zum Beispiel über
Deutschland wissen ja deutsche Lehrer ganz viel, aber über ausländische
Länder wissen sie nicht so viel, über Türkei zum Beispiel. Wenn schon die
Hauptstadt, aber des nützt ja auch keinem“.
Auch hinsichtlich des Schultyps zeigen sich Unterschiede:
Während es im Gymnasium kein Kind gibt, was im privaten
Bereich eine separative Tendenz zeigt, findet sich diese Haltung bei ca. 80 Prozent der Hauptschüler. Im öffentlichen Bereich gibt es dagegen kaum Unterschiede zwischen Gymnasiasten und Hauptschülern – beide zeigen tendenziell eine assimilative bzw. integrative Haltung. Hauptschüler alternieren
also stärker zwischen privatem und öffentlichem Bereich im
Hinblick auf ihre Akkulturationsorientierungen.
4.
Diskussion
Zunächst konnte gezeigt werden, dass die Kinder bereits in
der frühen Adoleszenz ein ethnisches Zugehörigkeitsgefühl
äußern. Im privaten Bereich steht dies hauptsächlich mit dem
Feiern kultureller Feste, dem Ausüben religiöser Praktiken,
typischen Speisen aus dem Herkunftsland oder aus Deutschland sowie dem Sprachgebrauch in Zusammenhang. Im öffentlichen Bereich findet die ethnische Identität dagegen
Ausdruck über das Zusammensein mit deutschen Kindern
oder mit anderen Kindern der gleichen ethnischen Gruppe,
die Suche nach Hilfe bei Schulaufgaben und emotionalen
Problemen bei den deutschen Kindern oder in der eigenen
Gruppe sowie über das subjektive Zugehörigkeitsgefühl auf
die Frage nach ihrer Herkunft. Kulturelle Unterschiede nehmen die Kinder hauptsächlich hinsichtlich religiöser Aspekte,
Autorität (z. B. in der Eltern-Kind-Beziehung) und Lebensstil
wahr.
Die meisten Schülerinnen und Schüler weisen zudem Unterschiede hinsichtlich ihrer Akkulturationsorientierungen zwischen dem öffentlichen und dem privaten Lebensbereich auf.
Die Akkulturationsorientierungen scheinen also bereits in dieser Altersgruppe domänenspezifisch zu sein (Arends-Tóth /
Van de Vijver 2003). Die Mehrheit der Schülerinnen und
Schüler identifiziert sich im privaten Lebensbereich stärker mit
der Herkunftskultur als im öffentlichen Bereich. Selbst bei
Kindern, die im privaten Bereich eine eher integrative Haltung
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Identität im Migrationskontext und neue Wege in der psychologischen Akkulturationsforschung
haben, zeigt sich diese Tendenz. Wie könnte man dies erklären?
Es fällt auf, dass die Schülerinnen und Schüler verstärkt dieses
Muster zeigen, die über Diskriminierungserfahrungen berichten, große kulturelle Unterschiede bezogen auf Lebensstil
und kulturelle bzw. religiöse Werte wahrnehmen und im öffentlichen Lebensbereich Ignoranz bzw. Assimilationserwartungen begegnen.
Der Zusammenhang zwischen wahrgenommener Diskriminierung sowie negativen Erfahrungen im allgemeinen, z. B. indem die Kinder von Klassenkameraden gehänselt werden
oder das Gefühl haben, von den Lehrern aufgrund ihrer Herkunft benachteiligt zu werden, und einer Assimilationstendenz im öffentlichen Bereich bestätigt die Befunden aus
quantitativen Studien mit Erwachsenen (Schalk-Soekar et al.
2004). Andere Studien, die nicht zwischen privatem und öffentlichem Bereich unterscheiden, zeigen jedoch, dass Diskriminierung auch zu Separation führen kann (Schachner /
Van de Vijver / Noack 2011b, Jackson / Van de Vijver / Burckhard 2011). In der Tat ist es möglich, dass Menschen, die im
öffentlichen Bereich mit Diskriminierung konfrontiert werden
und sich daraufhin stärker anpassen, dies durch eine separative Haltung im privaten Bereich ausgleichen bzw. sich in der
ethnischen Gemeinschaft und der Familie emotionale Unterstützung zu holen. Eine solche Kompensationstendenz über
die Bereiche hinweg zeigt sich auch in unserer Studie. Zukünftige quantitative Studien sollten daher Akkulturationsorientierungen bereichsspezifisch messen, um frühere widersprüchliche Befunde zu klären.
Auch der Zusammenhang zwischen einer höheren Orientierung an der ethnischen Kultur und höherer wahrgenommener kultureller Distanz bestätigt die Ergebnisse aus quantitativen Studien (z. B. Redmond / Bunyi 1993, Galchenko / Van de
Vijver 2007), auch wenn die Unterscheidung nach Lebensbereichen in dieser Studie zeigt, dass sich dies vor allem im privaten Bereich auswirkt. Zudem sprechen die Befunde aus dieser qualitativen Studie dafür, dass nicht nur die kulturelle Distanz an sich eine Rolle spielt, sondern auch die subjektive
Bewertung der wahrgenommenen Unterschiede. So kann bei
gleicher wahrgenommener Distanz die Situation offenbar als
unterschiedlich konflikthaft empfunden werden. Jedoch ist
anzumerken, dass in dieser Altersgruppe nicht nur der Kulturkonflikt eine Rolle spielt, sondern auch ein möglicher Generationenkonflikt mit den Eltern, der durch kulturelle Unterschiede noch verstärkt werden kann. Im Sinne eines Feedbackloops im Modell (siehe Abbildung 1) ist es auch möglich,
dass eine starke Orientierung zur Mehrheitskultur dazu führt,
dass mehr Distanz und auch mehr Konflikte zwischen den
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Hermann / Schachner / Noack: „Ich bin eigentlich anders.“ Subjektive Konstruktionen ethnischer
Identität im Migrationskontext und neue Wege in der psychologischen Akkulturationsforschung
Kulturen wahrgenommen werden, was wiederum zu einer
Verstärkung der Mehrheitsorientierung führt, um sich von der
eigenen Herkunft abzugrenzen – und vom Elternhaus zu lösen.
Wahrgenommene Konflikte zwischen der Orientierung an der
Herkunftskultur und der Orientierung an der Kultur der
Mehrheitsgesellschaft hängen zudem stark mit den Erwartungen im jeweiligen Umfeld zusammen. Nahezu alle Schülerinnen und Schüler äußerten im Interview den Wunsch nach
mehr Möglichkeiten, um in der Schule ihre Herkunftskultur
einzubringen bzw. diese zu leben – und zwar unabhängig
von ihren Akkulturationsorientierungen. Die starke Assimilationstendenz im öffentlichen Bereich scheint also zum großen
Teil eine Anpassung an die in der Schule vorherrschenden
Erwartungen zu sein. Auffällig ist außerdem, dass im privaten
Lebensbereich nur Hauptschülerinnen und Hauptschüler Separation zeigen und Gymnasiastinnen und Gymnasiasten
tendenziell eher Integration oder Assimilation. Es liegt nahe,
dass es sich hier um einen Selektionseffekt dahingehend
handelt, dass Kinder, in deren Elternhaus geringer Wert auf
das Aneignen der deutschen Kultur gelegt wird, bereits in der
Vor- und Grundschulzeit soziokulturell weniger angepasst
sind (z. B. indem sie geringere Deutschkenntnisse haben und
weniger Erfahrung im Umgang mit Deutschen) und somit geringere Chancen haben eine Gymnasialempfehlung zu bekommen. Hinsichtlich der Orientierung im öffentlichen Bereich zeigen sich jedoch kaum Unterschiede zwischen Hauptschülern und Gymnasiasten. Insgesamt neigen die Hauptschüler in unserer Studie also im Vergleich zu den Gymnasiasten verstärkt zur Alternation zwischen dem privaten und dem
öffentlichen Bereich. Um im jeweiligen Umfeld nicht anzuecken und die negativen Konsequenzen einer nicht erwartungskonformen Orientierung im jeweiligen Bereich zu vermeiden (Zagefka / Brown 2002), bleibt oft als einzige Möglichkeit, sich kontext- bzw. domänenspezifisch anzupassen
(Arends-Tóth / Van de Vijver 2003) – zu Hause an die dort
gelebte Kultur und die Erwartungen der Eltern und in der
Schule an die deutsche Mehrheitskultur und die Erwartungen
der Lehrer und Mitschüler.
Obwohl sich die Kinder mit beiden Kulturen identifizieren,
sehen sie ihre beiden Identitäten bzw. die Orientierungen zu
den beiden Kulturen nicht als vereinbar an (Benet-Martínez /
Haritatos 2005), sondern variieren sie je nach Situation und
Kontext. Diese qualitative Studie konnte zeigen, dass bereits
Kinder im Alter von 10 Jahren Konflikte zwischen der Herkunftskultur und der deutschen Kultur wahrnehmen, die
nicht unbedingt der wahrgenommenen kulturellen Distanz
entsprechen müssen, sondern auch andere Ursachen wie z. B.
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Hermann / Schachner / Noack: „Ich bin eigentlich anders.“ Subjektive Konstruktionen ethnischer
Identität im Migrationskontext und neue Wege in der psychologischen Akkulturationsforschung
wahrgenommene Diskriminierung im öffentlichen Bereich
und eine Anpassung an die Erwartung der anderen im jeweiligen Kontext haben können. Als Folge neigen bereits Kinder
diesen Alters zur Alternation (Phinney / Devich-Navarro 1997)
oder Kompartimentierung (Roccas / Brewer 2002) ihrer ethnischen Identitäten.
Doch wie wirkt sich eine solche Alternation aus? Es ist möglich, dass der wahrgenommene Konflikt und die damit verbundene Alternation zwischen dem privaten und dem öffentlichem Bereich ihrerseits vorhandene Anpassungsprobleme –
sowohl psychologischer als auch soziokultureller Natur – noch
verstärken, indem sie kognitive Ressourcen verbrauchen und
Stress verursachen. Es kann so leicht ein Teufelskreis entstehen, in dem die Schülerinnen und Schüler stets versuchen,
den wahrgenommen Erwartungen im jeweiligen Kontext gerecht zu werden, was das Gefühl der Unvereinbarkeit der verschiedenen Kulturen und den damit verbundenen inneren
Konflikt noch verstärkt.
Natürlich kann eine stärkere Orientierung zur Herkunfts- und
zur Mehrheitskultur im jeweiligen Kontext auch zielführend
sein: Im Schulkontext stehen primär soziokulturelle Akkulturationsziele oder -ergebnisse im Vordergrund, wobei eine assimilative Strategie einen Vorteil darstellen kann (Baysu / Phalet
/ Brown 2011). Zu Hause dagegen werden primär psychologische Ziele verfolgt. Frühere Studien haben gezeigt, dass hierfür eher die Orientierung an der Herkunftskultur wichtig ist
(Arends-Tóth / Van de Vijver 2006b, Sam et al. 2006). Trotz
allem bleibt jedoch zu bedenken, dass sich eine solche Zerrissenheit auf Dauer negativ auswirken kann. Ein Ausgleich der
Orientierungen zur Herkunftskultur und der Kultur des Aufnahmelandes über verschiedene Lebensbereiche hinweg sollte daher wohl nur eine (temporäre) Notlösung und kein erwünschtes Ergebnis sein.
Im Hinblick auf die Akkulturationsforschung im Allgemeinen
zeigt unsere Studie, dass es wichtig ist, Akkulturationsorientierungen domänenspezifisch zu betrachten, um den Akkulturationsprozess besser zu verstehen. Nur durch eine domänenspezifische Betrachtung von ethnischer Identität bzw. Akkulturationsorientierungen können widersprüchliche Befunde
aus quantitativen Studien geklärt und die Wirkweise von verschiedenen Akkulturationsbedingungen verstanden werden.
In Bezug auf mögliche Gründe für eine Alternation der ethnischen Identität bzw. Akkulturationsorientierung über Lebensbereiche hinweg konnte diese Studie vorherige Studien teils
bestätigen und teils ergänzen, jedoch bleiben weiterhin viele
Fragen offen, die in zukünftigen Studien bearbeitet werden
sollten. Auch mit den Konsequenzen von Alternation im Hinblick auf die Akkulturationsergebnisse sollte sich zukünftige
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Hermann / Schachner / Noack: „Ich bin eigentlich anders.“ Subjektive Konstruktionen ethnischer
Identität im Migrationskontext und neue Wege in der psychologischen Akkulturationsforschung
Forschung verstärkt auseinander setzen. Es sollte insbesondere geprüft werden, inwiefern sich Integration, die durch einen
Wechsel zwischen Assimilation im öffentlichen und Separation im privaten Bereich entsteht, in ihren Auswirkungen von
einer echten Integration über alle Lebensbereiche hinweg unterscheidet.
Weiterhin hat unsere Studie, gezeigt, dass eine domänenspezifische Betrachtung von Akkulturationsorientierungen auch
oder vielleicht besonders für Kinder und Jugendliche wichtig
ist, die noch stark im Elternhaus eingebunden sind und sich
die Kontexte, in denen die Erwartungen zu ihren eigenen
Orientierungen passen würden, noch nicht so frei wählen
können und sich auch weniger von den Erwartungen in ihrem
Umfeld abgrenzen können, wie es vielleicht für Erwachsene
der Fall ist. Aber auch in Studien mit Erwachsenen sowie in
der Praxis sollte darauf geachtet werden, die Orientierungen
in verschiedenen Lebensbereichen und ihr Zusammenwirken
im Blick zu haben. Wann immer der Vorwurf der Separation
in Parallelgesellschaften gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund laut wird, wie es in den Medien in letzter Zeit
gehäuft der Fall ist, sollte man sich gleichzeitig fragen, inwiefern der hohe Anpassungsdruck und die Diskriminierungserfahrungen, denen viele dieser Menschen im öffentlichen Bereich ausgesetzt sind, dazu beigetragen haben. Im Umkehrschluss sollten möglichst früh – bereits im Kindergarten und
in der Grundschule – präventive Maßnahmen und Interventionen in Betracht gezogen werden, die Menschen mit Migrationshintergrund auch im öffentlichen Bereich Raum geben,
ihre Herkunftskultur zu leben, ohne dass dies von der Mehrheitskultur als Ablehnung oder Abgrenzung von der deutschen Kultur verstanden wird.
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1
Die Erhebung dieser Daten wurde durch das ProexzellenzProgramm des Freistaates Thüringen bei der Graduate School
for Human Behaviour in Social and Economic Change an der
Friedrich-Schiller-Universität Jena finanziert.
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Müller / Kempen / Straatmann: Methodische Ansätze und Entwicklungen interkultureller Forschung in der Wirtschaftspsychologie am Beispiel organisationaler Einstellungen
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and
developments
in
tion,
institution)
tion, institution)
intercultural research on
business psychology using
the example of organizational attitudes]
Karsten Müller
Prof. Dr., Professur für Arbeitsund Organisationspsychologie mit
Schwerpunkt Interkulturelle Wirtschaftspsychologie, Universität
Osnabrück.
Regina Kempen
Dipl. Psych., Professur für Arbeitsund Organisationspsychologie mit
Schwerpunkt Interkulturelle Wirtschaftspsychologie,Universität
Osnabrück.
Tammo Straatmann
Dipl. Psych., Professur für Arbeitsund Organisationspsychologie mit
Schwerpunkt Interkulturelle Wirtschaftspsychologie,Universität
Osnabrück.
Abstract [English]
The following article examines methodological challenges in
cross-cultural business psychology using the example of
research on organizational attitudes. In a first step, crosscultural business psychology research is being positioned
between the poles of holistic versus analytic research perspectives. A description and example-based illustration of specific
challenges for research associated with the analytical perspective and possible solutions follow. These challenges apply to
the specification of the research question, a clear reference to
cultural variables, the control of alternative explanations and
the test of measurement equivalence. The article concludes
with an outlook on future developments in cross-cultural research, which aim at merging the two research perspectives
by means of new research approaches.
Keywords: Intercultural business psychology, intercultural
methods, organizational attitudes, measurement equivalence,
control of alternative explanations
Abstract [Deutsch]
Der folgende Beitrag beleuchtet methodische Herausforderungen der interkulturellen Wirtschaftspsychologie am Beispiel der Forschung zu organisationalen Einstellungen.
Zunächst wird dabei die Forschung im Bereich der interkulturellen Wirtschaftspsychologie innerhalb der Extrempole einer
holistischen bzw. einer analytischen Forschungsperspektive
verortet. Im Anschluss daran werden spezifische, mit der analytischen Perspektive assoziierte Herausforderungen der Forschung, sowie mögliche Lösungsansätze dargestellt und
anhand von Beispielen erläutert. Diese Herausforderungen
betreffen insbesondere die Explizierung der Art der Fragestellung, die Spezifizierung des Bezugs zu kulturellen Variablen,
die Kontrolle von potentiellen Alternativerklärungen und die
Überprüfung der Messäquivalenz. Der Beitrag schließt mit
einem Ausblick auf zukünftige Entwicklungen der interkulturellen Forschung, welche die verschiedenen Forschungsperspektiven mit Hilfe neuer Ansätze zu vereinen versucht.
Stichworte: Interkulturelle Wirtschaftspsychologie, interkulturelle Methoden, organisationale Einstellungen, Messäquivalenz, Kontrolle von Alternativerklärungen
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Müller / Kempen / Straatmann: Methodische Ansätze und Entwicklungen interkultureller Forschung in der Wirtschaftspsychologie am Beispiel organisationaler Einstellungen
1.
Bedeutung von Methoden in der interkulturellen
Wirtschaftspsychologie
Im Kontext der interkulturellen arbeits- und organisationspsychologischen Forschung kommt methodischen Problemen
und Herangehensweisen eine besondere Bedeutung zu. So
konstatiert Berry (1997:1): „Die meisten Gebiete der psychologischen Forschung sind über ihren Inhalt definiert; interkulturelle Psychologie hingegen ist primär definiert über ihre Methode“. Diese methodischen Probleme betreffen dabei insbesondere den Vergleich unterschiedlicher kultureller Gruppen.
So sind in der interkulturellen Forschung häufig vielfältige alternative, nicht primär kulturell bedingte Erklärungsmöglichkeiten für identifizierte Unterschiede zwischen Gruppen anzunehmen. Alternative Erklärungsansätze auszuschließen
stellt damit eine zentrale Herausforderung für Forschungsansätze und -designs der interkulturellen Psychologie dar (Brett /
Tinsley / Janssens / Barsness / Lytle 1997). Triandis (1994) fordert diesbezüglich gar, Anstrengungen zur Untersuchung kultureller Unterschiede zu unterlassen, falls nicht ausreichend
Ressourcen zur Kontrolle alternativer Erklärungsansätze zur
Verfügung stehen. Diese Aussage stellt sicherlich eine eher
pessimistische Einschätzung der Forschungsperspektiven im
Bereich der interkulturellen Psychologie dar. Allerdings macht
sie die zentrale Bedeutung methodischer Fragestellungen in
diesem Anwendungsfeld deutlich. Der folgende Beitrag
möchte zunächst die Position der Forschung zur interkulturellen Wirtschaftspsychologie innerhalb unterschiedlicher interkultureller Forschungsstrategien verorten. Im Anschluss daran
werden einzelne Herausforderungen der Forschung im Bereich der interkulturellen Wirtschaftspsychologie beschrieben.
Anhand von Beispielen werden deren Bedeutung, sowie
mögliche Lösungsansätze vorgestellt.
2.
Interkulturelle Forschung – ein multidimensionales
Feld
Fragen der methodischen Herangehensweise im Bereich der
interkulturellen Arbeits- und Organisationspsychologie betreffen in zentraler Weise den zu Grunde gelegten Kulturbegriff.
Im Folgenden soll daher das multidimensionale Feld der interkulturellen Forschung dargestellt und Forschungsansätze der
interkulturellen Arbeits- und Organisationspsychologie darin
verortet werden.
Betrachtet man die gängigen Forschungsparadigmen der psychologischen Kulturforschung, so lässt sich eine Dichotomie
feststellen, deren unterschiedliche Ausprägungen als holistische bzw. analytische Perspektive bezeichnet werden können.
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Müller / Kempen / Straatmann: Methodische Ansätze und Entwicklungen interkultureller Forschung in der Wirtschaftspsychologie am Beispiel organisationaler Einstellungen
Diese Einteilung ähnelt frühen konträren Perspektiven der
Persönlichkeitsforschung. Hier wurde Persönlichkeit zum Beispiel von einigen Forschern als idiosynkratrische unique Eigenschaftszusammensetzung einer Person konzeptualisiert.
Andere Forscher hingegen betonten die Notwendigkeit und
Suche von personenübergreifenden Dimensionen der Persönlichkeit (z. B. Big Five, McCrae / Costa 1987) zur generellen
Beschreibung von Personen (Herrmann 1991). Auch in der
interkulturellen Forschung findet sich eine ähnliche Dichotomie von Extrempositionen bei unterschiedlichen Autoren. So
sprechen etwa House, Wright und Aditya (1997) von deskriptiven und explikativen Kulturkonzepten, welche sie normativen und erfahrungsbasierten Konzepten gegenüberstellen.
Triandis (1980:2) beschreibt in ähnlicher Weise eine Dichotomie von „physical and subjective culture“. Ausgehend von
den hier gewählten Bezeichnungen holistisch und analytisch
sollen die verschiedenen Forschungsansätze und ihre Implikationen für die methodische Herangehensweise nun näher beschrieben werden. Dabei sollte jedoch beachtet werden, dass
es sich bei den vorgestellten Ansätzen jeweils um Extrempositionen handelt. Vielfältige Mischformen der beschriebenen
Herangehensweisen sind möglich und werden in unterschiedlicher Form praktiziert. Am Ende dieses Beitrages wird noch
einmal auf die Frage eingegangen, welche Möglichkeiten bestehen, die verschiedenen Perspektiven zu integrieren.
2.1
Holistische Perspektive als Extrempol
Der hier als holistisch bezeichneten Perspektive liegt ein Kulturbegriff zu Grunde, welcher nach der bekannten Kulturdefinition von Herskovits (1948:17) auch als „the man-made
part of the human environment“ bezeichnet werden kann.
Bestandteile von Kultur sind in dieser Perspektive neben Wissen, Werten, Überzeugungen und Bräuchen u. a. auch institutionelle Strukturen, Gesetze, Kunst und materielle Manifestationen. Kultur kann in dieser Auffassung mit Kroeber und
Kluckhohn (1952:85) auch als „comprehensive totality“ begriffen werden. Entsprechend fungiert Kultur als Zeichen-,
Wissens-, Regel- und Symbolsystem, welches das Fundament
des Handlungsraumes von Menschen bildet. Im Kontext der
Psychologie spiegelt sich diese Perspektive in der Kulturpsychologie anthropologischer Prägung wider. Sie versteht den
Kulturbegriff als einen holistischen Zusammenhang kollektiver
Lebenswelten und strebt eine umfassende Beschreibung sowie ein tiefgehendes Verständnis der entsprechenden Lebenswelten in Beziehung zu ihrer sinngebenden Bedeutung
an. Die Betonung liegt dabei auf beobachtbaren, manifesten
Eigenschaften. In der Kulturpsychologie resultieren aus dieser
Perspektive weitreichende Implikationen für die methodische
Herangehensweise innerhalb der Forschung. Im Rahmen der
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Müller / Kempen / Straatmann: Methodische Ansätze und Entwicklungen interkultureller Forschung in der Wirtschaftspsychologie am Beispiel organisationaler Einstellungen
Unterscheidung zwischen einem so genannten EticForschungsansatz und einem so genannten Emic-Forschungsansatz lässt sich die holistische Perspektive klar dem EmicForschungsansatz zuordnen. Da dieser von einer kulturellen
Spezifität beobachteter Phänomene ausgeht, fordert ein solcher Forschungsansatz die Beschreibung einer Kultur aus der
internen Perspektive und in ihren jeweils eigenen Begriffen.
Mit der hier als holistisch bezeichneten Perspektive ist für die
Forschung zudem eine induktive und interpretative Herangehensweise assoziiert, welche sich primär qualitativer Methoden bedient. Ziel der Forschung aus holistischer Perspektive
ist die Identifizierung von Unterschieden zwischen Individuen
und Gruppen.
2.2
Typische Kritik aus analytischer Perspektive
Häufige Kritik an der hier beschriebenen Perspektive und der
mit ihr verbundenen methodischen Herangehensweise betrifft das weite, oft diffus erscheinende Verständnis von Kultur. Ajiferuke und Boddewyn (1970) merken diesbezüglich
an, dass Kultur ein Konzept sei, welches eine Vielzahl unspezifischer Einflüsse repräsentiere. Child (1981) geht noch einen
Schritt weiter und bezeichnet die Verwendung des Konzeptes
Kultur als eine Ausrede für intellektuelle Faulheit, welche Unterschiede lediglich paraphrasiert. Kultur ist allumfassend und
verliert damit deutlich an Erklärungs- und Prognosewert. Kultur werde nicht selten als Umbrellakonzept und nicht näher
spezifizierter Residualfaktor verwendet. Der naive Umgang
mit dem Kulturbegriff resultiert demnach häufig in unzureichenden Forschungsansätzen zur Beschreibung, zur bedeutungsvollen Erklärung und zur Prognose von Unterschieden
zwischen Gruppen.
2.3
Analytische Perspektive als Extrempol
Der holistischen Perspektive als Extrempol diametral entgegengesetzt steht die hier als analytisch bezeichnete Perspektive. Dieser Perspektive liegt ein Kulturbegriff zu Grunde, welcher mit House et al. (1997) auch als das Teilen zentraler
Werte, Normen, Verhaltensweisen und Annahmen bezeichnet werden kann. Der Fokus liegt demnach stärker auf latenten, psychologischen Eigenschaften der zu betrachtenden
Individuen. Zentrales Anliegen der analytischen Perspektive ist
es, den Kulturbegriff im Sinne einer analytischen Betrachtung
zu entpacken. Dies impliziert, kulturelle Einflüsse auf einzelne
kulturelle Wertedimensionen zurückzuführen (z. B. Hofstede
2001, House et al. 1997, Schwartz 1994). So liegt ihr Ziel darin, spezifische kulturelle Einflussgrößen zu identifizieren und
diese zu Vorhersage und Erklärung psychologischer Gemeinsamkeiten oder Unterschiede heranzuziehen. Im Kontext der
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Müller / Kempen / Straatmann: Methodische Ansätze und Entwicklungen interkultureller Forschung in der Wirtschaftspsychologie am Beispiel organisationaler Einstellungen
Psychologie findet diese Perspektive häufig in interkulturellpsychologischen Ansätzen ihre Entsprechung.
Als Implikation für die Forschung ergibt sich damit zunächst
eine stärkere Einordnung in den so genannten Etic-Ansatz.
Dieser stellt die Universalität kultureller Phänomene in den
Vordergrund und zielt darauf ab, Kulturen in Hinblick auf das
interessierende Phänomen zu vergleichen. Eine weitere Implikation betrifft die Einnahme einer positivistischen Perspektive,
welche das durch die Erfahrung Gegebene betont. Die Forschung im Rahmen des analytischen Ansatzes basiert auf deduktiven Prozessen und bedient sich primär quantitativer Methoden. Ziel der Forschung aus analytischer Perspektive ist es,
einen erklärenden und prädiktiven Beitrag zu psychologischen
Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Individuen
und Gruppen zu liefern.
2.4
Verortung der interkulturellen Wirtschaftspsychologie
Wie diese Aufstellung deutlich macht, bestimmt das Verständnis des Kulturbegriffs in entscheidender Weise die Ziele
der Forschung, ihre methodische Herangehensweise und die
Generalisierbarkeit der Ergebnisse. Für die Forschung im Bereich der interkulturellen Arbeits- und Organisationspsychologie gilt somit, zunächst das zu Grunde liegende Verständnis
von Kultur klar zu definieren. In den Begriffen des oben aufgezeigten multidimensionalen Feldes basiert die hier zu beschreibende Forschung weitestgehend auf der analytischen
Perspektive, wenngleich ein Bewusstsein für die Argumente
und die Herangehensweise der holistischen Perspektive gegeben ist. Es sei darauf hingewiesen, dass der Begriff interkulturell hier vor allem in Hinblick auf eine national-kulturelle Perspektive bezogen ist, unter der Konstatierung, dass Kultur auf
verschiedenen Gruppenebenen existiert.
Am Beispiel der Forschung zu organisationalen Einstellungen
sollen nun die mit der analytischen Perspektive verbundenen
methodischen Herausforderungen und mögliche Lösungsansätze dargestellt werden.
3.
Probleme und Lösungsansätze – am Beispiel organisationaler Einstellungen
Zentrale Herausforderungen der interkulturellen Forschung zu
organisationalen Einstellungen, die mit der analytischen Perspektive assoziiert sind, werden im Folgenden in Form eines
Schaubildes vorgestellt (Abbildung 1). Im Anschluss daran
erfolgt die Erläuterung möglicher Lösungen und konkreter
Vorgehensweisen anhand von Beispielen.
121
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Müller / Kempen / Straatmann: Methodische Ansätze und Entwicklungen interkultureller Forschung in der Wirtschaftspsychologie am Beispiel organisationaler Einstellungen
Zur Identifikation von Unterschieden zwischen kulturellen
Gruppen kommt zunächst der Präzisierung der Art der Fragestellung eine besondere Bedeutung zu (1). Zudem sollten kulturelle Einflüsse durch den klaren Bezug zu kulturellen Variablen präzisiert werden (2). Eine weitere Herausforderung stellt
die Kontrolle von alternativen Erklärungen (z. B. durch Einflüsse nationaler Kontextvariablen oder Eigenschaften der
Stichproben) dar (3). Zusätzlich sollten Besonderheiten in
Messung und Analyse, welche sich auf Konstrukte, Methoden
und einzelne Items beziehen können, berücksichtigt werden
(4).
Rahmenmodell methodischer Herausforderungen interkultureller Forschung zu
organisationalen Einstellungen
1
Explizierung der Fragestellung:

Typ I: Ausprägung

Typ II: Struktur

Typ III: Bedeutung
Messbedingte
Verzerrungen
4
Überprüfen der Messäquivalenz,
z.B. auf:
Konstruktebene
Methodenebene
Itemebene
Kulturelle
Einflüsse
Konkrete Spezifizierung in
Bezug zu kulturellen
Variablen: z.B.
Hofstede


Schwartz

Globe
Unterschiede
zwischen
kulturellen
Gruppen
Unterschiede in
Bedingungen
und Merkmalen
Kontrolle von
Alternativerklärungen:
Nationale Kontextvariablen

Ökologie

Bildung

Wirtschaft

Bevölkerung
Präzisierung der Art der Fragestellung interkultureller Forschung
Prinzipiell lässt sich in der interkulturellen Forschung zwischen
ausprägungsorientierten und strukturorientierten Fragestellungen unterscheiden (van de Vijver / Leung 2000). Während
sich ausprägungsorientierte Fragen mit dem kulturellen Einfluss auf die Höhe der Ausprägung bestimmter Konstrukte
befassen, widmen sich strukturorientierte Ansätze der Frage,
inwieweit Kultur die Beziehung zwischen bestimmten Konstrukten bzw. deren interne Struktur moderiert. In ähnlicher
Weise unterscheiden Brett et al. (1997) sowie Lytle, Brett,
Barsness, Tinsley und Janssens (1995) zwischen Typ-I-Frage-
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3
Kontrolle von
Alternativerklärungen:
Nationale Stichproben

Organisationsmerkmale

Arbeitstätigkeit

Soziodemografische
-1Merkmale
Abb. 1: Herausforderungen der interkulturellen Forschung zu organisationalen Einstellungen. Quelle: Eigene Darstellung.
3.1
2
122
Müller / Kempen / Straatmann: Methodische Ansätze und Entwicklungen interkultureller Forschung in der Wirtschaftspsychologie am Beispiel organisationaler Einstellungen
stellungen und Typ-II-Fragestellungen interkultureller Forschung. Zusätzlich ergänzen diese Autoren die Beschreibung
von Fragestellungen des Typs III. Bei diesem Typ der Fragestellung geht es darum, den Einfluss der Kultur auf die Bedeutung oder das Verständnis eines Konzeptes zu identifizieren.
Bezogen auf die Forschung zu organisationalen Einstellungen
leitet sich aus einem ausprägungsorientierten Ansatz (Typ-IHypothesen) die Frage nach interkulturellen Ähnlichkeiten
und Unterschieden in der Höhe der Ausprägung der jeweiligen Konstrukte (z. B. Arbeitszufriedenheit, Commitment etc.)
ab. Ein Beispiel würde die Frage betreffen, ob die Arbeitszufriedenheit in Japan stärker ausgeprägt ist als die Arbeitszufriedenheit in Deutschland.
Die Berücksichtigung strukturorientierter Ansätze (Typ-IIHypothesen) resultiert in Bezug auf die Untersuchung organisationaler Einstellungen in der Frage nach der interkulturellen
Generalisierbarkeit von Modellen und Theorien. Diesbezüglich
könnte man sich fragen, ob der Zusammenhang von Arbeitszufriedenheit und Commitment in Japan ebenso stark ausgeprägt ist wie in Deutschland und ob bzw. welche moderierenden Variablen es in den verschiedenen Kulturen gibt. Fragestellungen des Typs III beinhalten für das Vorgehen in der
Forschung sowohl die Integration von einer am Etic-Ansatz
orientierten Herangehensweise, als auch die Berücksichtigung
einer am Emic-Ansatz orientierten Herangehensweise. Als
Beispiel nennen Brett et al. (1997) die Untersuchung des Einflusses einer Intervention der Führungskraft in einem organisationalen Konflikt und deren Auswirkung auf die Wahrnehmung der Fairness und der Zufriedenheit mit der Konfliktlösung in Mexiko und den USA. Die Bedeutung der konkreten
Intervention wird dabei gesondert betrachtet. Bestimmte
Verhaltensweisen der Führungskraft (z. B. autoritäre oder
fördernde Verhaltensweisen) können als übergreifend im Sinne des Etic-Ansatzes verstanden werden, andere wiederum
sollten im Sinne des Emic-Ansatzes kulturspezifisch betrachtet
werden. So sind bei der Intervention einer Führungskraft in
Mexiko beispielsweise paternalistische Verhaltensweisen relevant und sollten daher in die Untersuchung in Mexiko mit
einbezogen werden.
Im Sinne einer holistischen Untersuchung kultureller Einflüsse
auf organisationale Einstellungen sollte die Forschungsfrage
wünschenswerterweise sowohl Typ-I- als auch Typ-II- und
Typ-III-Fragestellungen umfassen.
Ein Beispiel zur Verbindung von Typ-I- und Typ-II-Fragestellungen findet sich bei Hattrup, Mueller und Aguirre
(2008). In ihrer Untersuchung zur Generalisierbarkeit des
Konzeptes des organisationalen Commitments integrieren die
Autoren Fragestellungen zur Ausprägung von Commitment
123
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Müller / Kempen / Straatmann: Methodische Ansätze und Entwicklungen interkultureller Forschung in der Wirtschaftspsychologie am Beispiel organisationaler Einstellungen
in unterschiedlichen Ländern mit der Überprüfung der Messäquivalenz von Instrumenten zur Erfassung von Commitment
und der Untersuchung des Zusammenhangs von Commitment und Arbeitszufriedenheit.
3.2
Herstellung eines theoretischen Bezugs zu kulturellen Variablen
Eine weitere Herausforderung der interkulturellen Forschung
zu organisationalen Einstellungen stellt die Präzisierung des
theoretischen Bezugs zu kulturellen Variablen dar. Diese Herausforderung ist dementsprechend typisch für die analytische
Perspektive des Entpackens von Kultur. Der Bezug zu kulturellen Variablen ist insofern von besonderer Bedeutung, da er
unmittelbar mit den weiteren Herausforderungen der interkulturellen Forschung verknüpft ist und einen wichtigen Beitrag zur Kontrolle alternativer Erklärungen, zur Generalisierbarkeit der Befunde und dem damit einhergehenden interkulturellen Erkenntnisgewinn liefert. Die Präzisierung kultureller
Variablen beinhaltet aus analytischer Perspektive in der Regel
die Ableitung von Hypothesen mit Bezug zu spezifischen kulturellen Dimensionen oder Variablen. Diese Präzisierung umfasst also sowohl die Formulierung spezifischer kultureller Hypothesen, als auch die Einordnung der untersuchten Kulturen
entlang bestimmter kultureller Charakteristika oder kultureller
Dimensionen. Anschließend sollten diese Charakteristika auf
Grundlage vorangegangener empirischer Untersuchungen
oder Bezug nehmend auf umfassende, etablierte Rahmenmodelle kultureller Forschung (Hofstede 1980, Schwartz
1994, Smith / Dugan / Trompenaars 1996) mit dem zu untersuchenden Phänomen in Beziehung gesetzt werden (Berry
1997, Brett et al. 1997, Lytle et al. 1995). Die Vorhersage von
Ergebnissen der untersuchten Kulturen in Bezug auf die betrachteten organisationalen Konstrukte wird somit erst durch
die Spezifizierung des Einflusses bestimmter kultureller Charakteristika möglich. Folglich steigt die Zuverlässigkeit der Interpretation erhaltener Befunde im Sinne kultureller Unterschiede mit der Anzahl der untersuchten Kulturen entlang der
kulturellen Dimensionen. Verhält sich das zu untersuchende
Phänomen über zahlreiche Kulturen im Sinne des auf der Basis der spezifizierten kulturellen Merkmale a priori postulierten Zusammenhangs, steigert dies das Vertrauen in die kulturelle Determiniertheit der beobachteten Befunde (Brett et al.
1997, Lytle et al. 1995). Dies ist damit zu erklären, dass die
Wahrscheinlichkeit einer zufälligen Kovariation organisationaler Einstellungen mit dem kulturellen Merkmal mit der Anzahl
der Datenpunkte (betrachtete Kulturen) sinkt. Gleichzeitig
verringert sich mit der Anzahl der untersuchten Kulturen
ebenfalls die Wahrscheinlichkeit der zufälligen, unsystemati-
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Müller / Kempen / Straatmann: Methodische Ansätze und Entwicklungen interkultureller Forschung in der Wirtschaftspsychologie am Beispiel organisationaler Einstellungen
schen Kovariation anderer Drittvariablen mit dem kulturellen
Merkmal.
Signifikante Unterschiede zwischen nur zwei kulturellen
Gruppen sind beispielsweise auf Grund der oben beschriebenen möglichen Alternativerklärungen kaum interpretierbar
und an sich deshalb auch wenig interessant (Brett et al.
1997). Ist es jedoch möglich, mehrere Kulturen bezüglich der
Stärke der Ausprägung eines kulturellen Merkmals anzuordnen und zeigt das zu untersuchende Phänomen eine deutliche Kovariation mit diesem kulturellen Merkmal, so ist eine
kulturelle Interpretation der Befunde naheliegend. Dies gilt
insbesondere dann, wenn sich die Anordnung der untersuchten Kulturen bezüglich anderer Merkmale deutlich unterscheidet. Die geringe Wahrscheinlichkeit eines ähnlichen, zufällig gleich-systematischen Einflusses unkontrollierter Drittvariablen minimiert die Wahrscheinlichkeit der kulturellen Fehlinterpretation erhaltener Befunde. Voraussetzung dieses Vorgehens ist, dass sich die untersuchten Kulturen bezüglich der
als relevant erachteten kulturellen Charakteristika deutlich
unterscheiden bzw. in Bezug auf das Merkmal eine ausreichende Streuung aufweisen (Aycan 2000, Aycan / Kanungo
2001, van de Vijver / Leung 1997). Ein Beispiel stellt die Methode des Cultural Sampling dar. Sie strebt eine Maximierung
der Varianz auf der interessierenden Dimension bei gleichzeitiger Minimierung der Varianz auf alternativen Dimensionen
an (Murdock 1966).
Durch den klaren Bezug zu etablierten kulturellen Charakteristika und vorhergehenden empirischen Befunden steigt außerdem die Generalisierbarkeit auf nicht explizit in der Studie
untersuchte Kulturen (van de Vijver / Leung 1997). So könnte
beispielsweise ein gefundener Zusammenhang von Commitment und Arbeitszufriedenheit in einer Kultur mit einer bestimmten Ausprägung auf der Wertedimension „affektive
Autonomie“ (Schwartz 1994) auf eine Kultur mit einer ähnlichen Ausprägung dieser Wertedimension übertragen werden.
3.3
Kontrolle von Alternativerklärungen
Eine weitere Herausforderung der interkulturellen Forschung
zu organisationalen Einstellungen betrifft die Kontrolle von
Alternativerklärungen. Vor dem Hintergrund des hier beschriebenen analytischen Kulturbegriffs stellt sich die Frage
nach der Kontrolle von alternativen Erklärungsansätzen in
besonderem Maße, da nationale Unterschiede in organisationalen Einstellungen durch eine Vielzahl anderer nichtkultureller Faktoren bedingt sein können (Aycan 2000,
Drenth / Groenendijk 1998, Kagitçibasi / Poortinga 2000). Zur
erfolgreichen Identifikation kultureller Bedingungsgrößen sollten also nationale Kontextvariablen kontrolliert und nationale
125
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Müller / Kempen / Straatmann: Methodische Ansätze und Entwicklungen interkultureller Forschung in der Wirtschaftspsychologie am Beispiel organisationaler Einstellungen
Einheiten entlang kultureller Dimensionen im Sinne des hier
vertretenen Kulturverständnisses eingeordnet werden (Child
1981, Neghandi 1983, Ricks / Toyne / Martinez 1990). Die
Kontrolle von Alternativerklärungen betrifft dabei sowohl die
Ebene der nationalen Kontextvariablen, als auch die der nationalen Stichproben. Eine mögliche Konfundierung auf den
genannten Ebenen sowie Strategien der adäquaten Auswahl
kultureller Gruppen und Individuen werden im Folgenden beschrieben.
3.3.1
Kontrolle von Alternativerklärungen auf der
Ebene nationaler Kontextvariablen
Nationale Einheiten stellen eine häufige Form der Operationalisierung kultureller Gruppen dar (Child 1981, Kelley / Whatley / Worthley 1987, Ricks et al. 1990, Schaffer / Riordan
2003, van de Vijver / Leung 1997, 2000). Nationen dienen
somit häufig als Proximalgröße zur Identifikation kultureller
Gruppen (Schaffer / Riordan 2003). Auch in der Erforschung
interkultureller Einflüsse auf organisationale Einstellungen ist
dieses Vorgehen dominant und praktikabel. Nationale Unterschiede sind jedoch nicht identisch mit national-kulturellen
Unterschieden, d. h. nationale Unterschiede ergeben sich aus
kulturellen Unterschieden + X. Hierbei determiniert wiederum
das angelegte Kulturverständnis, welche Aspekte zu Kultur
und welche Aspekte zu X gehören. X beschreibt nichtkulturelle kontextuelle nationale Unterschiede. Somit erfordert dieser Ansatz die Berücksichtigung nichtkultureller, kontextueller
Merkmale. So kann beispielsweise ein gefundener Unterschied im organisationalen Commitment zwischen Mexikanern und Deutschen zum einen auf kulturelle Unterschiede
dieser beiden Länder zurückgeführt werden. Es ist jedoch
nicht auszuschließen, dass zum anderen nationale Kontextvariablen diesen Zusammenhang mit bedingen. Vorstellbar wäre beispielsweise ein entscheidender Einfluss der nationalen
Erwerbslosenrate, des nationalen Einkommens pro Einwohner
oder der spezifischen Arbeitsbedingungen. Ist die nationale
Erwerbslosenrate sehr hoch, so könnte ein ausgeprägtes
Commitment eher darauf zurückzuführen sein, dass unter
den Betroffenen Angst besteht, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Vorstellbar ist ebenfalls, dass das Commitment durch
den Mangel an attraktiven Alternativangeboten gefördert
wird. In beiden Fällen sind Unterschiede wohl kaum als kulturell zu interpretieren.
In der Literatur finden sich zahlreiche Aufzählungen kontextueller Kontrollvariablen, die im Rahmen interkultureller Forschung von Bedeutung sind. Zur Identifikation und Auswahl
untersuchungsrelevanter und hinreichender Kenngrößen be-
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Müller / Kempen / Straatmann: Methodische Ansätze und Entwicklungen interkultureller Forschung in der Wirtschaftspsychologie am Beispiel organisationaler Einstellungen
darf es jedoch einer kategorialen Ordnung oder Taxonomie
nationaler Kontextvariablen.
Von besonderem Nutzen ist in diesem Zusammenhang das
ökologische Rahmenmodell von Georgas und Berry (Georgas
/ Berry 1995, Georgas / van de Vijver / Berry 2004), welches in
Tabelle 1 dargestellt ist. Auf elaborierter theoretischer Basis
(Berry 1976, 2001) und auf Grundlage empirischer Exploration (Georgas / Berry 1995) identifiziert das Modell fünf nationale Kontextdimensionen und die damit verbundenen wichtigsten Indikatoren. Aus einem Pool von mehr als 500 Indizes
untersuchten die Autoren 77 zentrale, makronationale Indizes
von 174 Nationen. Mit Hilfe von Clusteranalysen dieser Indizes identifizierten die Autoren 23 Indizes, welche die fünf
zentralen Kontextdimensionen nationaler Unterschiede repräsentieren (Georgas / Berry 1995). Ergänzt um die Variable Religion stellen diese Dimensionen ein theoretisch fundiertes
und vor allem empirisch untersuchtes Rahmenmodell zur
Identifikation nationaler Kontextfaktoren dar.
127
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Müller / Kempen / Straatmann: Methodische Ansätze und Entwicklungen interkultureller Forschung in der Wirtschaftspsychologie am Beispiel organisationaler Einstellungen
Faktoren
1
2
3
4
5
Ökologie:
Bildung:
Wirtschaft:
Massenkommunikation:
Bevölkerung:
Indizes
-
höchste monatliche Temperatur
-
niedrigste monatliche Temperatur
-
höchste monatliche Niederschlagsdauer
-
Analphabetenrate bei Erwachsenen (ab dem 15. Lebensjahr)
-
Primäre Schulbildung: zahlenmäßiges Schüler-LehrerVerhältnis
-
Anteil der Ausgaben für Forschung und Entwicklung am
Bruttonationaleinkommen (BNE)
-
Teilnahmerate an primärer Bildung
-
Teilnahmerate an sekundärer Bildung
-
Teilnahmerate an tertiärer Bildung
-
Bruttonationaleinkommen pro Einwohner
-
Tägl. Kalorienversorgung pro Einwohner in Prozent des
Bedarfs
-
Konsum von kommerzieller Energie pro Kopf
-
Prozentsatz der Beschäftigten in der Landwirtschaft
-
Prozentsatz der Beschäftigten in der Industrie
-
Prozentsatz der Beschäftigten im Dienstleistungssektor
-
Elektrizitätsverbrauch pro Einwohner in Kilowattstunden
-
Anzahl der Telefone pro Tausend Einwohner
-
Anzahl der Radios pro Tausend Einwohner
-
Anzahl der Fernsehgeräte pro Tausend Einwohner
-
Auflage von Tageszeitungen pro Tausend Einwohner
-
Kindersterblichkeit
-
Lebenserwartung bei der Geburt
-
Sterberate
-
Geburtenrate
-
Rate des Bevölkerungswachstums
Abb. 2: Taxonomie nationaler Kontextvariablen. Quelle: Georgas, van de
Vijver und Berry 2004.
In der Untersuchung interkultureller Unterschiede in organisationalen Einstellungen sollten daher diese nationalen Kontextvariablen mit einbezogen und ihr Einfluss auf den interessierenden Zusammenhang konstant gehalten werden. In der
psychologischen Forschung ist diese Konstanthaltung beispielsweise über die Berechnung hierarchischer Regressionen
oder über die statistische Kontrolle von Variablen möglich.
Dies setzt jedoch das Vorhandensein einer ausreichend hohen
Zahl unterschiedlicher Kulturen in der Analyse voraus.
Neben der Gefahr fehlgeleiteter kultureller Schlussfolgerungen durch den Einfluss konfundierender nationaler Kontextvariablen besteht jedoch zusätzlich die Herausforderung, Individuen innerhalb der Kulturen adäquat auszuwählen. In die-
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128
Müller / Kempen / Straatmann: Methodische Ansätze und Entwicklungen interkultureller Forschung in der Wirtschaftspsychologie am Beispiel organisationaler Einstellungen
sem Zusammenhang sollen im folgenden Abschnitt die verschiedenen Möglichkeiten der Auswahl nationaler Stichproben diskutiert werden.
3.3.2
Kontrolle von Alternativerklärungen auf der
Ebene nationaler Stichproben
Im Gegensatz zur Laborforschung ist in interkulturellen Studien die manipulative Veränderung der unabhängigen Variablen unter randomisierter Zuweisung der Versuchspersonen zu
den Versuchsbedingungen unmöglich. Interkulturelle Studien
müssen sich daher per Definition quasi-experimenteller Untersuchungsdesigns bedienen (van de Vijver / Leung 1997). Im
Hinblick auf die Minimierung alternativer Erklärungen für
beobachtete kulturelle oder nationale Unterschiede kommt
damit der Auswahl der Versuchspersonen eine besondere Bedeutung zu.
Zu berücksichtigen ist in diesem Kontext, dass Vergleiche zwischen Nationen aus praktischen Gründen nicht auf Grundlage
der Gesamtpopulation durchgeführt werden können. Prinzipiell sollten sich jedoch die Stichproben nur in Bezug auf ihre
kulturelle, d. h. in diesem Fall national-kulturelle Herkunft unterscheiden und in Bezug auf andere für das zu untersuchende Phänomen wichtige Variablen gleich sein (Gelfand / Raver
/ Ehrhart 2002). Verfolgt man das Ziel, kulturelle Einflüsse auf
organisationale Einstellungen zu identifizieren, ist es daher
wenig erfolgversprechend, beispielsweise spanische Krankenschwestern mit schwedischen Polizeibeamten (Hofstede
2001) oder japanische Fischer mit französischen Bauern und
deutschen Beamten zu vergleichen.
Zur Auswahl ähnlich strukturierter nationaler Stichproben gibt
es theoretisch zwei sinnvolle Strategien: die Auswahl repräsentativer Stichproben oder die Auswahl von Stichproben, die
bezüglich relevanter Merkmale parallelisiert werden. Die erste
Strategie, die Ziehung repräsentativer Stichproben in einem
weiten Spektrum von Kulturen, ist mit einem erheblichen
ökonomischen und zeitlichen Aufwand verbunden. Selbst im
Rahmen umfangreich angelegter kooperativer Forschungsprojekte ist diese daher kaum realisierbar (siehe dazu House /
Hanges / Javidan / Dorfman / Gupta 2004, MOW International Research Team 1987, Spector / Cooper / Sparks 2001,
Super / Šverko 1995). Repräsentative Stichproben können
sich jedoch auch aus theoretischen Gründen als ungeeignet
für die interkulturelle Forschung erweisen (van de Vijver /
Leung 1997). Repräsentative nationale Stichproben können
sich beispielsweise in einer Vielzahl personenspezifischer
Merkmale unterscheiden, welche die kulturelle Interpretation
der Ergebnisse erschwert. Unterscheiden sich zum Beispiel
zwei Nationen deutlich in ihrer Altersstruktur oder der Er129
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Müller / Kempen / Straatmann: Methodische Ansätze und Entwicklungen interkultureller Forschung in der Wirtschaftspsychologie am Beispiel organisationaler Einstellungen
werbslosenrate, sind auch die repräsentativen Stichproben in
Bezug auf diese Merkmale nicht äquivalent. Eine potentielle
Konfundierung beobachteter Unterschiede in den repräsentativen nationalen Stichproben durch Altersunterschiede bzw.
durch Effekte der Erwerbslosigkeit ist daher nicht auszuschließen.
Die zweite mögliche Strategie zur Auswahl der Stichproben
ist die Parallelisierung der nationalen Stichproben in Bezug
auf Drittvariablen, welche für das zu untersuchende Phänomen als bedeutend erachtet werden (Berry / Poortinga /
Segall / Dasen 2002, Brett et al. 1997, Hofstede 2001, Lytle
et al. 1995, Sekaran 1983, van de Vijver / Leung 1997). Werden Stichproben nicht bezüglich relevanter Merkmale parallelisiert, reflektieren beobachtete Unterschiede zwischen den
Gruppen möglicherweise nicht die Auswirkungen kultureller
Einflüsse, sondern sind potenziell das Ergebnis von Selektionseffekten (Cook / Campbell 1979). Ein Beispiel für einen
zentralen Faktor in Bezug auf die interkulturelle Erforschung
organisationaler Einstellungen ist der Einfluss des organisationalen Umfelds der Mitarbeiter, d. h. ihre Zugehörigkeit zu
einer bestimmten Organisation. Die Gelegenheit zur Untersuchung nationaler Stichproben, die bezüglich wichtiger organisationaler Drittvariablen parallelisiert sind, ist insbesondere
durch die wachsende Zahl an multinationalen Unternehmen
zunehmend vereinfacht (Aycan / Kanungo 2001, Hofstede
2001). Die Unterschiede in bedeutenden Einflussfaktoren, wie
zum Beispiel der Branchenzugehörigkeit, der technologischen
Entwicklung, der Personalpraktiken oder der Unternehmensgröße, -struktur und -kultur, sind durch die Untersuchung
innerhalb eines multinationalen Unternehmens deutlich minimiert. Zusätzlich zu der durch die Untersuchung innerhalb
eines multinationalen Unternehmens schon starken Homogenisierung der nationalen Stichproben kann deren Vergleichbarkeit durch die Kontrolle anderer potenziell bedeutender
personenspezifischer Merkmale gesteigert werden. Im Zusammenhang mit der interkulturellen Erforschung organisationaler Einstellungen ist hier vor allem die Art der Tätigkeit
eine wichtige Variable (siehe dazu Gelfand / Nishii / Ohbuchi /
Fukuno 2001, Haire / Ghiselli / Porter 1966, Hofstede 1980,
2001, Lebo / Harrington 1995, MOW International Research
Team 1987, Sirota / Greenwood 1971, Super / Šverko 1995).
Zur Minimierung der Anzahl potentieller Alternativerklärungen ist somit die Beschränkung auf Mitarbeiter innerhalb einer multinationalen Organisation und die zusätzliche Parallelisierung in Bezug auf kritische persönliche Variablen zu empfehlen. Dieses Vorgehen erhöht zudem die Interpretierbarkeit
beobachteter Befunde (Berry et al. 2002, Hofstede 1980,
1983, 2001, Lytle et al. 1995, van de Vijver / Leung 1997,
2000). Die Steigerung der internen Validität in Bezug auf die
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130
Müller / Kempen / Straatmann: Methodische Ansätze und Entwicklungen interkultureller Forschung in der Wirtschaftspsychologie am Beispiel organisationaler Einstellungen
kulturelle Interpretation der Befunde durch diese Art der Vorselektion der Untersuchungsstichprobe geht jedoch mit einer
deutlichen Einschränkung der externen Validität der erhaltenen Befunde einher. Eine häufige Kritik an Hofstedes (1980,
2001) Untersuchungen zu interkulturellen Wertunterschieden
betrifft daher die Beschränkung auf Befragte aus nur einem
multinational agierenden Unternehmen (z. B. Smith 1992).
Nach Cook und Campbell (1979) liegt ein potentieller Ausweg aus diesem Dilemma in der akkumulativen Replikation
erhaltener Befunde unter variierenden Kontextbedingungen
bei wechselnder Fokussierung auf potenzielle Alternativerklärungen. Die Forschung sollte sich also nicht allein auf die Untersuchung innerhalb eines multinationalen Unternehmens
beschränken. Vielmehr garantiert die Replikation von interkulturellen Studien in verschiedenen multinationalen Kontexten
erst das Vertrauen in die Validität der interkulturell interpretierten Befunde, die Überprüfung der Generalisierbarkeit auf
andere Kontexte und Stichproben und die Identifikation moderierender Bedingungen.
Eine Untersuchung von Hattrup, Mueller und Joens (2007) zu
Einzelaspekten der Arbeitszufriedenheit und generalisierter
Arbeitszufriedenheit liefert ein Beispiel für die zweite der hier
beschriebenen Strategien zur Auswahl adäquater Stichproben. Die gewählte Stichprobe setzt sich dabei aus Versuchspersonen aus drei unterschiedlichen multinationalen Unternehmen verschiedener Branchen in insgesamt 19 Ländern
zusammen. Die Anzahl potentieller Alternativerklärungen
konnte so minimiert werden. Gleichzeitig gingen verschiedene multinationale Unternehmen in die Untersuchung ein, sodass die Untersuchung variierender Kontextbedingungen
möglich wurde.
3.4
Überprüfung der Messäquivalenz
Eine der wichtigsten Voraussetzungen interkultureller Studien
im Bereich der Arbeits- und Organisationspsychologie betrifft
die Messäquivalenz der eingesetzten Instrumente. Mit Messäquivalenz bezeichnet man die Äquivalenz der psychometrischen Charakteristika von zwei unterschiedlichen Versionen
eines Messinstruments oder eines Messinstruments bei Anwendung in verschiedenen Gruppen. Zwei Versionen eines
Instruments sind somit messäquivalent, wenn sie über die
Gruppen hinweg die gleichen psychometrischen Eigenschaften aufweisen (Byrne / Shavelson / Muthén 1989). Messäquivalenz wird dadurch erreicht, dass die Beziehungen zwischen
den beobachteten Werten und dem latenten Konstrukt über
alle Gruppen hinweg identisch sind (Drasgow 1984, Drasgow
/ Kanfer 1985). Die Untersuchung der Messäquivalenz hat
eine hohe Bedeutung bei empirischen Untersuchungen, die
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Müller / Kempen / Straatmann: Methodische Ansätze und Entwicklungen interkultureller Forschung in der Wirtschaftspsychologie am Beispiel organisationaler Einstellungen
sich mit dem Vergleich von Testwerten über Gruppen oder
Bedingungen hinweg beschäftigen. In vielen Bereichen der
Psychologie lässt sich daher eine steigende Zahl an Studien
zur Überprüfung von Messäquivalenz verzeichnen, so zum
Beispiel in der Skalenentwicklung (Drasgow 1987), bei interkulturellen Vergleichen (z. B. Riordan / Vandenberg 1994), in
der organisationalen Forschung (Bartunek / Franzak 1988),
bei Studien zu Geschlechterunterschieden (z. B. Byrne / Shavelson 1987), in der Personalbeurteilung (Hofer / Horn / Eber
1997) und in der klinischen Forschung (Byrne / Campbell
1999).
Die Äquivalenz von Messinstrumenten ist insbesondere in der
interkulturellen Forschung von hoher Bedeutung. So ist es bei
mangelnder Messäquivalenz der eingesetzten Skalen möglich,
dass beobachtete kulturelle Unterschiede keine tatsächlichen
Unterschiede in Bezug auf das untersuchte Konstrukt widerspiegeln, sondern lediglich die unterschiedliche Angemessenheit der verwendeten Messinstrumente in verschiedenen Kulturen ausdrücken (Cheung / Rensvold 2000, van de Vijver /
Poortinga 1997). In diesem Zusammenhang weisen viele Forscher auf die Frage hin, ob das, was in einer Kultur entwickelt
wurde, automatisch und ohne Modifikation zum effektiven
Gebrauch in einer anderen Kultur transferiert werden kann
(Cheung / Rensvold 2000, Drasgow 1984, Hui / Triandis
1985, Little 1997, Steenkamp / Baumgartner 1998, van de
Vijver / Leung 2000). Die Messinstrumente könnten je nach
Kultur, in der sie eingesetzt werden, unterschiedliche Charakteristika besitzen, oft verbunden mit Vorteilen für die Kultur,
in der das Instrument ursprünglich entwickelt wurde (van de
Vijver / Leung 2000).
Die Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit der Ergebnisse eines
Fragebogens, der in einer Kultur entwickelt wurde, anschließend übersetzt und in anderen Ländern eingesetzt wird, ist
ohne Tests auf Äquivalenz also nicht gewährleistet (Cheung /
Rensvold 2000, van de Vijver / Leung 1997, 2000). Dies liegt
an den vielen verschiedenen Arten der Verzerrung, die bei
einem solchen Transfer auf Konstrukt-, Methoden- und Itemebene entstehen können (van de Vijver / Poortinga 1997).
Von einem Konstruktbias spricht man dann, wenn das gemessene Konstrukt in den verschiedenen kulturellen Gruppen
einen gewissen Grad an Unterschiedlichkeit hinsichtlich seiner
Bedeutung aufweist (Byrne / Watkins 2003). Dies kann an
einer unterschiedlichen Eignung der Items in den Ländern liegen. Ein Beispiel hierfür wäre die Abfrage der Zufriedenheit
mit bestimmten sozialen Zusatzleistungen einer Firma. Dieses
Item ist in Ländern unangebracht, in denen solche Zusatzleistungen nicht üblich sind. Weiterhin könnte die Auswahl der
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Müller / Kempen / Straatmann: Methodische Ansätze und Entwicklungen interkultureller Forschung in der Wirtschaftspsychologie am Beispiel organisationaler Einstellungen
Items für bestimmte Länder nicht umfassend genug sein, da
die Definition des Konzepts dort breiter ist.
Auf Methodenebene sind ebenfalls mehrere Arten der Verzerrung denkbar, etwa eine unzureichende Vergleichbarkeit
der nationalen Stichproben (z. B. bezüglich Geschlechtszusammensetzung, Alter, Bildung), systematisch unterschiedliche Bedingungen in der Befragungssituation in verschiedenen
Kulturen, unterschiedliche Vertrautheit der Testperson mit
dem Fragenformat in verschiedenen Kulturen oder unterschiedliche Antwortstile (z. B. Tendenz zur extremen Antwort,
Tendenz zur sozialen Erwünschtheit, Zustimmungstendenz) in
verschiedenen Kulturen. All diese Faktoren können zu Unterschieden in den Antworten der Gruppen führen, sie stehen
jedoch nicht in Verbindung zu tatsächlichen Unterschieden
bezüglich des interessierenden Konstrukts.
Die dritte Art der Verzerrung findet auf Itemniveau statt. Hier
können Verfälschungen aufgrund schlechter Übersetzungen
und zu komplexer oder unangebrachter Formulierungen der
Fragen entstehen.
Ein Beispiel zur Überprüfung der Messäquivalenz eines Instrumentes zur Erfassung der Arbeitszufriedenheit findet sich
u. a. bei Müller (2006).
4.
Ausblick
Angesichts der vielfältigen Herausforderungen, mit der sich
die interkulturelle Forschung im Bereich der Arbeits- und Organisationspsychologie konfrontiert sieht, stellt sich mit besonderem Nachdruck die Frage nach der Verortung der eigenen Forschungsposition und nach nötigen Ressourcen zur
Umsetzung der mit dem gewählten Paradigma assoziierten
Anforderungen. Diesbezüglich halten Brett et al. (1997:84) in
ihrer Ausführung zu unterschiedlichen interkulturellen Forschungsansätzen im Bereich der Arbeits- und Organisationspsychologie fest: „Unsere Absicht ist es, interkulturelle Forscher zu bestärken, nicht zu entmutigen. Keine einzelne Studie kann alle Aspekte beachten. Wichtig ist es, die Abwägungen zu kennen und gute Entscheidungen zu treffen“.
Das Treffen guter Entscheidungen führt damit zurück an den
Ausgangspunkt dieses Beitrages und an die Beschreibung des
multidimensionalen Raumes der interkulturellen Forschung, in
dem die eigenen Fragestellungen und Herangehensweisen zu
verorten sind. Zu Beginn wurde hier eine analytische Perspektive einer holistischen Perspektive gegenübergestellt und die
jeweiligen Implikationen für die Herangehensweise der Forschung dargelegt. Zukünftige Herausforderungen der interkulturellen Forschung sind jedoch immer auch damit verbun-
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Müller / Kempen / Straatmann: Methodische Ansätze und Entwicklungen interkultureller Forschung in der Wirtschaftspsychologie am Beispiel organisationaler Einstellungen
den, zu einer gegenseitigen Bereicherung und Verknüpfung
der beschriebenen Perspektiven zu gelangen. Neuere Entwicklungen, die zu dieser Verknüpfung beitragen können,
werden daher nun näher beleuchtet.
Eine neue Entwicklung der interkulturellen Forschung im Bereich der Arbeits- und Organisationspsychologie betrifft beispielsweise die Forderung nach einer konsequenten theoretischen Polykontextualisierung der Forschungsfragen. Mit dem
Ziel, zu einem holistischeren Verständnis des betrachteten
Phänomens in seiner spezifischen Kultur zu gelangen, sollten
im Sinne dieser Forderung multiple Kontexte in den gesamten
Forschungsprozess integriert werden (Tsui / Nifadkar / Ou
2007). Dies betrifft zum einen den stärkeren Einbezug nichtkultureller Faktoren, welche Informationen über die ökonomische, politische, geografische und historische Situation der
untersuchten Kulturen bereitstellen. Zum anderen betrifft diese Forderung auch den Einbezug unterschiedlichen Datenmaterials. So sollte polykontextuell angelegte interkulturelle Forschung nicht nur auf das verbale Medium beschränkt sein,
sondern vielfältigere Formen der Sinnkonstruktion mit einbeziehen (Shapiro / von Glinow / Xiao 2007). Die zentrale Idee
der Polykontextualisierung ist es somit, unterschiedliche Kontexte zu integrieren, die neue Quellen der Sinnkonstruktion
öffnen und damit das Erleben und Verhalten der untersuchten Individuen prägen (Tsui et al. 2007). Die Polykontextualisierung stellt für die Forschung im Bereich der interkulturellen
Arbeits- und Organisationspsychologie insofern eine große
Herausforderung dar, als dass sie den Anspruch beinhaltet,
Perspektiven anderer Disziplinen wie der Soziologie, der Wirtschaftswissenschaften, der Anthropologie oder der Politikwissenschaften in alle Phasen des Forschungsprozesses zu integrieren.
Eine weitere Möglichkeit der Verknüpfung unterschiedlicher
Perspektiven stellen Brett et al. (1997) in ihrem n-way research approach vor, welcher die Frage nach Gemeinsamkeiten
unterschiedlicher Kulturen mit dem Wissen über Spezifitäten
einzelner Kulturen zu verknüpfen sucht. Ausgangspunkt dieser Herangehensweise stellt eine gemeinsame Forschungsfrage dar, die in einem multikulturellen Team unterschiedlicher
Forschungsdisziplinen entwickelt wird. Die Ziele des n-way
approach liegen zunächst darin, festzulegen, wie die Forschungsfrage in jeder der zu betrachtenden Kulturen angepasst werden sollte. Weiterhin hat dieser Ansatz zum Ziel,
sowohl interkulturelle Gemeinsamkeiten als auch interkulturelle Unterschiede zwischen den betrachteten Kulturen zu
identifizieren. Ein weiteres entscheidendes Ziel beschreiben
Brett et al. (1999:94) mit „to understand what it is about culture that causes these cross-cultural similarities and differ-
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Müller / Kempen / Straatmann: Methodische Ansätze und Entwicklungen interkultureller Forschung in der Wirtschaftspsychologie am Beispiel organisationaler Einstellungen
ences“. Zur Umsetzung der beschriebenen Ziele wird zunächst in einem induktiven Prozess eine Forschungsfrage
entwickelt und auf den Kontext der einzelnen Kulturen angepasst. In einem weiteren Schritt besteht die Herausforderung
darin, ein übergreifendes Modell der modifizierten Forschungsfragen zu entwickeln und die damit verbundenen etischen und emischen Herangehensweisen zu integrieren. Im
Anschluss daran sollte im Dialog der Forscher ein kulturelles
Erklärungsmodell spezifiziert werden, welches die gewählten
Ansätze theoretisch begründen kann. Schließlich können in
einem deduktiven Prozess spezifische Hypothesen darüber
entwickelt und getestet werden, in welcher Weise kulturelle
Einflüsse auf die Konfiguration der Fragestellung in den einzelnen Zielkulturen einwirken. Der n-way approach bietet
zwar vielfältige Chancen, ist jedoch auch mit zahlreichen
Schwierigkeiten in seiner praktischen Umsetzung verbunden.
So können beispielsweise der Dialog und die Verständigung
über die gemeinsame Forschungsfrage im beteiligten multikulturellen Team zu aufwändigen Abstimmungsprozessen
führen. Darüber hinaus besteht die Herausforderung, die Perspektiven der unterschiedlichen Forscher gleichberechtigt in
die Planung mit einzubeziehen. Die Vergewisserung des eigenen Standpunktes als Forscher im gemeinsamen Prozess stellt
eine weitere Anforderung dar. Können diese Schwierigkeiten
überwunden werden, bietet der n-way approach jedoch die
einzigartige Möglichkeit, spezifisches Wissen über Unterschiede und Wissen über grundlegende Gemeinsamkeiten
von Kulturen zu verbinden.
Eine andere vielversprechende Entwicklung auf dem Weg der
Verknüpfung unterschiedlicher Perspektiven und Kulturbegriffe stellt der Ansatz dar, Kultur konsequent als konfigurales
Konstrukt zu verstehen und auch verstärkt als solches zu erfassen. Diese Forderung ergibt sich zum einen aus der Tatsache, dass eine starke Zunahme unterschiedlicher kultureller
Dimensionen beobachtet werden kann. Eine Konsolidierung
und Einordnung der verschiedenen Wertedimensionen in einem theoretisch fundierten und umfassenden Rahmenmodell
wäre daher wünschenswert. Zum anderen wird die Integration verschiedener Perspektiven in der Interaktion oder einem
Muster unterschiedlicher Wertedimensionen vor dem Hintergrund einer Rückbesinnung auf den Kulturbegriff gefordert.
Definiert man Kultur als das Teilen zentraler Werte, Normen,
Verhaltensweisen und Annahmen (House et al. 1997), so
wird deutlich, dass sich die Vielschichtigkeit dieser Werte
nicht auf eine Liste unabhängiger Dimensionen beschränken
kann, sondern zwangsläufig ein Muster verschiedener Werte,
Normen, Verhaltensweisen und Annahmen umfasst.
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Müller / Kempen / Straatmann: Methodische Ansätze und Entwicklungen interkultureller Forschung in der Wirtschaftspsychologie am Beispiel organisationaler Einstellungen
Die Idee dieses konfiguralen Ansatzes kann an der Unterscheidung zwischen tight cultures und loose cultures verdeutlicht werden. Gelfand, Nishii und Raver (2006) definieren
tightness und looseness als die Stärke sozialer Normen und
den Grad der Sanktionierung bei Nicht-Einhaltung einer sozialen Norm. Als Implikation daraus ergibt sich, dass in einem
Kontext beweglicher Normen mehr Toleranz für individuelle
Unterschiede in Annahmen und Verhalten besteht. Der gleiche kulturelle Wert (z. B. Machtdistanz) kann somit unterschiedliche Qualitäten haben, je nachdem, ob es sich um eine
eher als tight oder eher als loose zu beschreibende Kultur
handelt. In ähnlicher Weise kann die Interaktion verschiedener kultureller Wertedimensionen zu differenzierteren Vorhersagen der betrachteten Phänomene beitragen. Zukünftige
Forschung sollte sich demnach nicht auf den Einbezug einzelner kultureller Wertedimensionen beschränken. Vielmehr
macht eine umfassende Perspektive es notwendig, die Interaktion von kulturellen Dimensionen und Charakteristika zu
berücksichtigen (Tsui et al. 2007). Ein weiterer Schritt in diese
Richtung besteht dahin, über Interaktionen hinaus ganze
Muster von Beziehungen unterschiedlicher Wertedimensionen zu identifizieren und diese konsequent zur Beschreibung
von Kulturen einzusetzen. Erste Erfahrungen zeigen, dass die
Verwendung einer Konfiguration kultureller Werte der Verwendung einzelner Dimensionen zur Vorhersage organisationaler Konstrukte überlegen ist (Tsui / Song / Yan 2007).
Wie diese Aufstellung zeigt, bestehen für die Zukunft der Forschung im Bereich der interkulturellen Arbeits- und Organisationspsychologie vielfältige Herausforderungen, Möglichkeiten und Perspektiven. Die praktische Umsetzung der Polykontextualisierung, des n-way-approaches und des konfiguralen
Kulturverständnisses machen eine Weiterentwicklung der Methoden der interkulturellen Psychologie notwendig und setzen eine zunehmende Integration unterschiedlicher Perspektiven und Disziplinen voraus. Zentraler Faktor in der Entwicklung der interkulturellen Forschung bleibt das Verständnis,
unterschiedliche Forschungsparadigmen und -perspektiven in
ihrer gleichberechtigten Existenz als wertvolle Variationen des
Zugangs zum gleichen Phänomen zu betrachten. Entscheidend ist, dass sich die wissenschaftliche Forschung nicht in
Lager fragmentiert und Erkenntnisse dissoziiert oder gar per
se diskreditiert, sondern in wertschätzendem konstruktiven
Dialog die Kenntnisse der unterschiedlichen methodischen
und konzeptuellen Zugänge systematisch im Sinne der Kumulation von gemeinsamem Wissen und differenziertem Verständnis des Phänomens integriert.
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Müller / Kempen / Straatmann: Methodische Ansätze und Entwicklungen interkultureller Forschung in der Wirtschaftspsychologie am Beispiel organisationaler Einstellungen
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Bosse: Perspektiventriangulation am Beispiel der Kombination von Gesprächs- und Inhaltsanalyse
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Elke Bosse
Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Interkulturelle Kommunikation, Universität
Hildesheim.
Abstract [English]
Perspective triangulation systematically combines different
research approaches in order to broaden the possible insight
into a specific subject of study. Therefore, it promises to generate particularly interesting results in the analysis of intercultural communication, a field in which interdisciplinary research projects still largely lack.
This article demonstrates how perspective triangulation can
be realized within an interdisciplinary evaluation study by
combining conversation analysis and qualitative content analysis to examine the effects of an intercultural training program. Firstly, it illustrates the insights gained by analysing audiovisual records of workshop sessions. Secondly, this article
shows how the assessment of retrospective interviews with
workshop participants can contribute to the analysis of training effects. Finally, this study demonstrates that the combination of these two research strategies thus yields the most
comprehensive results for an integrated understanding of the
various, intricate effects of intercultural training programs.
Keywords: Triangulation of perspectives, evaluation, intercultural training programs, conversation analysis, content analysis
Abstract [Deutsch]
Als Verfahren zur Erweiterung von Erkenntnismöglichkeiten
beruht die Perspektiventriangulation auf einer systematischen
Kombination von Forschungsansätzen mit unterschiedlicher
Aussagekraft. Damit erweist sie sich als interessant für interdisziplinäre Forschungszusammenarbeit, die gerade auf dem
Gebiet der Interkulturellen Kommunikation bislang noch ein
Desiderat darstellt.
Der vorliegende Beitrag legt anhand der Verfahren und Ergebnisse einer interdisziplinären Evaluationsstudie dar, wie
sich das Prinzip der Perspektiventriangulation forschungspraktisch umsetzen lässt. Als Beispiel dient die zur Evaluation eines interkulturellen Trainings eingesetzte Kombination der
linguistischen Gesprächsanalyse und der qualitativen Inhaltsanalyse. So wird zum einen aufgezeigt, welche Erkenntnismöglichkeiten die Untersuchung von Trainingsaufzeichnungen und die Analyse von retrospektiv erhobenen Interviewdaten bieten. Zum anderen wird erläutert, wie sich die Ergebnisse zusammenführen lassen und damit einen besonders umfassenden Einblick in den Wirkungszusammenhang interkultureller Trainings ermöglichen.
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Bosse: Perspektiventriangulation am Beispiel der Kombination von Gesprächs- und Inhaltsanalyse
Stichworte: Perspektiventriangulation, Evaluation, interkulturelles Training, Gesprächsanalyse, Inhaltsanalyse
1.
Einleitung
Die Vielfalt der am Forschungsgebiet der Interkulturellen
Kommunikation und seinen Anwendungsfeldern beteiligten
Disziplinen mag einerseits Verwirrung stiften und den
„Kampf um Anerkennung und Abgrenzung in und zwischen
den beteiligten Disziplinen“ (Otten 2011:23) befördern. Andererseits bedeutet diese Vielfalt ein großes Potential für
interdisziplinäre Forschung. Allerdings gibt es bislang kaum
Forschungsarbeiten, die dieses Potential tatsächlich nutzen
und unterschiedliche Zugangsweisen zu interkultureller
Kommunikation integrieren. Die Forschungslandschaft scheint
vielmehr von einem Nebeneinander fachspezifisch geprägter
Zugänge zu Phänomenen interkultureller Kommunikation geprägt zu sein (Risager 2005:1677).
Vor diesem Hintergrund ist das Prinzip der Perspektiventriangulation von besonderem Interesse, da es darauf beruht,
„dass ein Forschungsgegenstand von (mindestens) zwei
Punkten aus betrachtet – oder konstruktivistisch formuliert:
konstituiert – wird“ (Flick 2004:11). Anfangs noch mit dem
Ziel der Validierung von Forschungsergebnissen verbunden,
gilt die Perspektiventriangulation in der aktuellen Methodendiskussion als „Weg zu erweiterten Erkenntnismöglichkeiten“
(Flick 2004:9). Um die jeweils begrenzte Aussagekraft einzelner Zugänge zu überwinden, werden auf unterschiedlichen
Wegen ermittelte Forschungsergebnisse miteinander in Beziehung gesetzt. Auf diese Weise ergibt sich ein „kaleidoskopartiges Bild“ (Köckeis-Stangl 1982:363), das unterschiedliche Konstruktionen des Untersuchungsgegenstands umfasst.
Geprägt wurde der Begriff der Triangulation vor allem durch
den US-amerikanischen Soziologen Norman Denzin, der zwischen der Triangulation von Daten, Beobachtern bzw. Interviewern, Theorien und Methoden unterscheidet (Denzin
1978). Eine Weiterentwicklung bietet die jüngere deutschsprachige Diskussion um qualitative Sozialforschung mit dem
Ansatz von Uwe Flick, der darauf abhebt,
„von Triangulation zu sprechen, wenn den unterschiedlichen Zugängen in
der Planung der Untersuchung, bei der Erhebung und Analyse der Daten
eine weitgehende Gleichberechtigung in ihrer Behandlung und ihrem Stellenwert eingeräumt wird und sie in sich konsequent angewendet werden“
(Flick 2004:26).
Das zitierte Vorgehen bezeichnet Flick (1992) als „systematische Perspektiventriangulation“, wobei er anknüpfend an
Lüders und Reichertz (1986:92ff) sowie Bergmann (1985) be-
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Bosse: Perspektiventriangulation am Beispiel der Kombination von Gesprächs- und Inhaltsanalyse
stimmte Forschungsperspektiven aufgrund ihres jeweils spezifischen Erkenntnispotentials voneinander abgrenzt (Flick
2004:21ff.). Zu unterscheiden sind demnach insbesondere
solche Forschungsansätze, die ihren Blick auf die kommunikative Wirklichkeitskonstitution richten, von solchen, die subjektive Sichtweisen zu erfassen suchen. Perspektiventriangulation bedeutet dann, beide Zugangsweisen zu nutzen, um unterschiedliche Facetten eines Forschungsgegenstands erfassen
zu können.
Wie sich die Perspektiventriangulation forschungspraktisch
umsetzen lässt, wird im Folgenden anhand der Verfahren und
Ergebnisse einer Studie dargelegt, die sich mit der Konzeption
und Evaluation interkultureller Trainings befasst (Bosse 2011).
Zunächst werden Erkenntnisinteresse und Forschungsfragen
erläutert, um anschließend das Evaluationsdesign mit Blick
auf Datenerhebung und -auswertung vorzustellen. Im nächsten Schritt geht es um die kommunikativen Merkmale des
Trainingsgeschehens, die mit Hilfe der linguistischen Gesprächsanalyse auf der Basis von Trainingsaufzeichnungen
ermittelt wurden. Zum anderen werden subjektive Sichtweisen der Teilnehmenden vorgestellt, die anhand inhaltsanalytisch ausgewerteter Interviews rekonstruiert wurden. Zum
Abschluss wird aufgezeigt, wie sich die genutzten Verfahren
und Ergebnisse im Sinne der Perspektiventriangulation systematisch aufeinander beziehen lassen.
2.
Evaluationsstudie und -design
Für die Evaluation interkultureller Trainings erscheint die Perspektiventriangulation insofern besonders vielversprechend,
als der derzeitige Forschungsstand die Frage aufwirft, „ob
eine an quantitativen Methoden und messbaren Effekten orientierte (resümierende) Evaluationsforschung in diesem Bereich überhaupt richtig am Platz ist“ (Leenen 2001:20). Die
zumeist quantitativ angelegte Evaluationsforschung hat bislang kaum eindeutige Aussagen über die Wirksamkeit interkultureller Trainings hervorgebracht (Mendenhall et al.
2004:138) – allenfalls positive Wirkungen auf der kognitiven
Ebene, wie beispielsweise der Zuwachs an Wissen bezüglich
kultureller Unterschiede, gelten als belegt (Ehnert 2007:444).
Dies legt nahe, nach alternativen Zugängen für die Evaluationsforschung zu suchen, die sich weniger mit dem quantifizierbaren Ausmaß von Trainingswirkungen beschäftigen, als
vielmehr explorieren, wie interkulturelle Trainings wirken
(Kinast 1998:37). Hier bieten sich qualitative Untersuchungsansätze an, wie sie in den Studien von Kinast (1998), Kammhuber (2000) und Nazarkiewicz (2010) bereits ausgearbeitet
und erprobt wurden. Die beiden erstgenannten Studien ge-
145
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Bosse: Perspektiventriangulation am Beispiel der Kombination von Gesprächs- und Inhaltsanalyse
hen Trainingswirkungen anhand der nachträglichen Befragung von Trainingsteilnehmenden nach, wobei sie sich an der
Differenzierung von Evaluationsebenen nach Kirkpatrick
(1979) orientieren und Trainingseffekte im Hinblick auf Teilnahmezufriedenheit, Lernerfolge und Handlungswirksamkeit
ermitteln. Nazarkiewicz (2010) wiederum untersucht auf der
Basis von Trainingsaufzeichnungen, durch welche kommunikativen Regelhaftigkeiten sich interkulturelles Lernen im Trainingsgeschehen auszeichnet.
Die genannten Studien erheben Trainingswirkungen also
entweder retrospektiv in Form subjektiver Sichtweisen oder
mit Blick auf ihren kommunikativen Entstehungszusammenhang, wobei das jeweilige Vorgehen zum einen psychologisch
und zum anderen linguistisch begründet ist. Um einen weitergehenden Einblick in den Wirkungszusammenhang interkultureller Trainings zu gewinnen, bietet es sich nun an, beide
Zugänge im Sinne der Perspektiventriangulation miteinander
zu verschränken. So ist das Untersuchungsinteresse der hier
vorzustellenden Studie sowohl auf die kommunikativen
Merkmale des Trainingsgeschehens gerichtet, als auch auf die
Frage, wie sich die Trainingswirkungen aus Sicht der Teilnehmenden darstellen.
Den Untersuchungsgegenstand bildet ein 2-tägiger, extracurricularer Workshop, der sich an eine Gruppe aus 19 internationalen und deutschen Studierenden unterschiedlicher Fachrichtungen richtet. Die Zielsetzung des Trainings orientiert
sich an einem interdisziplinär begründeten Modell interkultureller Kompetenz (INCA 2004), ergänzt um die nähere Bestimmung affektiver, kognitiver und handlungsbezogener Aspekte interkultureller Kommunikationskompetenz auf Grundlage linguistischer Untersuchungen interkultureller Kommuni1
kation (Bosse / Müller-Jacquier 2004). Grundlegend für den
Trainingsaufbau sind zudem die Gestaltungsprinzipien interkultureller Lernumgebungen nach Kammhuber (2000:107),
wobei die einzelnen Trainingsphasen im Sinne der Intercultural Anchored Inquiry (Kammhuber 2000:111ff.) auf die Erkundung kritischer Interaktionssituationen ausgerichtet sind.
So sieht der Trainingsaufbau die Vermittlung konzeptueller
Werkzeuge zur Bearbeitung verschiedener kritischer Interaktionssituationen vor, sodass sich multiple Interpretations- und
2
Handlungsperspektiven entwickeln und reflektieren lassen.
Für die Untersuchung der Umsetzung des Trainingskonzepts
wurde ein qualitatives Evaluationsdesign entwickelt, das für
die Datenerhebung vorsieht, sowohl Trainingsaufzeichnungen
anzufertigen als auch schriftliche und mündliche Befragungen
durchzuführen. So besteht die Datensammlung zum einen
aus rund 20h Video- und Audiodaten, die während des Trai-
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146
Bosse: Perspektiventriangulation am Beispiel der Kombination von Gesprächs- und Inhaltsanalyse
nings erhoben wurden. Zum anderen wurden verschiedene
Befragungsverfahren genutzt. Dazu gehören
•
ein vor Trainingsbeginn eingesetzter Fragebogen für persönliche Angaben,
•
ein am Trainingsende eingesetzter Fragebogen für Feedback,
•
ein erstes, 1-2 Tage nach dem Workshop durchgeführtes
Leitfadeninterview,
•
ein zweites, 6-8 Wochen nach dem Workshop durchge3
führtes Leitfadeninterview.
Das umfangreiche Datenmaterial wurde schrittweise in Form
von Gesprächsprotokollen und Transkripten aufbereitet, um
materialbasierte Auswahlentscheidungen treffen zu können.
Die Datenauswertung orientierte sich im Fall der Trainingsaufzeichnungen an der linguistischen Gesprächsanalyse nach
Deppermann (2001), während bei den durch Befragung ermittelten Selbstauskünften die qualitative Inhaltsanalyse nach
Mayring (2003) zur Anwendung kam. Dabei war die Gesprächsanalyse darauf ausgerichtet, konstitutive Merkmale
des kommunikativen Lehr-Lerngeschehens zu ermitteln. Bei
der Inhaltsanalyse ging es wiederum darum, die subjektiven
Sichtweisen der Teilnehmenden bezüglich der Trainingswirkungen zu rekonstruieren.
Bereits im Prozess der Datenaufbereitung und -auswahl wurde geprüft, wie die unterschiedlichen Datensorten aufeinander zu beziehen sind, wobei sich eine Strukturierung in verschiedene Evaluationsebenen in Anlehnung an Kirkpatrick
(1979) als hilfreich erwiesen hat. So konnte Kirkpatricks Ansatz um die Ebene der Teilnahmemotivation erweitert werden, die im Rahmen des ersten Interviews erfasst wurde. Die
zweite Ebene bildete die Teilnahmezufriedenheit, die sich
vornehmlich aus Angaben der Teilnehmenden im FeedbackFragebogen ergibt. Die Ebene des Lernfortschritts wurde ausdifferenziert in Lernprozesse und Lernergebnisse: Die Analyse
von Lernprozessen basiert zum einen auf den Trainingsaufzeichnungen und zum anderen auf Angaben zu einzelnen
Workshop-Phasen im ersten Interview. Für die Auswertung
der Lernergebnisse wurden Angaben im FeedbackFragenbogen, dokumentierte Arbeitsergebnisse aus dem
Workshop sowie ausgewählte Interviewdaten berücksichtigt.
Um auch die Ebene des Transfers zumindest annäherungsweise zu erfassen, wurden Auszüge aus dem ersten und
zweiten Interview herangezogen, in denen sich die Teilnehmenden zu einem Trainingsfilm sowie zu selbst erlebten kritischen Interaktionssituationen äußern.
147
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Bosse: Perspektiventriangulation am Beispiel der Kombination von Gesprächs- und Inhaltsanalyse
Wie dieser Überblick zeigt, fließen sowohl Trainingsaufzeichnungen als auch Selbstauskünfte in die Analyse des Wirkungsspektrums ein. Besonders eng verknüpft sind diese beiden Datensorten allerdings im Fall der Ebene der Lernprozesse, die im Folgenden zur näheren Illustration der Perspektiventriangulation genauer betrachtet werden soll.
3.
Kommunikative Merkmale des Trainingsgeschehens
Um dem Prozess der Wirkungsentfaltung gerecht zu werden,
sind zunächst die kommunikativen Merkmale des LehrLerngeschehens darzulegen. Diese beziehen sich auf einzelne
Trainingsphasen, deren Auswahl einerseits die Bewertungen
seitens der Teilnehmenden berücksichtigt, wie sie im Feedback-Fragebogen und in den Interviews zum Ausdruck kommen. Andererseits richtete sich die Auswahl nach der Vergleichbarkeit von Trainingsphasen und Interviewsequenzen,
um die Ergebnisse aufeinander beziehen zu können. So wurden zwei Trainingsphasen ausgewählt, die die Teilnehmenden
als mehr oder weniger bedeutsam für die Entwicklung ihrer
interkulturellen Kompetenz bewerten. Zudem weisen die untersuchten Trainingsphasen die Gemeinsamkeit auf, einen
Einblick in die kommunikative Bearbeitung kritischer Interaktionssituationen zu ermöglichen.
Für die erste der analysierten Trainingssequenzen ist charakteristisch, dass sie die Bearbeitung einer kritischen Interaktionssituation in Form eines Trainingsfilms umfasst, die im Plenum
erfolgt und dem Trainingsbeginn zuzuordnen ist. Die zweite
Trainingseinheit stammt dagegen aus der Abschlussphase des
Trainings, in der die Teilnehmenden kritische Interaktionssituationen, wie sie sie im Alltag selbst erlebt haben, in Kleingruppen behandeln. Die übergeordnete Aufgabenstruktur für
beide Trainingsphasen ist insofern vergleichbar, als die Teilnehmenden aufgefordert sind, Probleme der Interaktionssituation zu analysieren und Lösungsansätze zu entwickeln.
3.1
Unterrichtstypische Verfahren und Monieren
Betrachtet man die kommunikativen Merkmale, die die ausgewählten Trainingseinheiten kennzeichnen, ist bezüglich des
Plenumsgesprächs über den präsentierten Trainingsfilm zunächst festzustellen, dass die Beteiligten auf unterrichtstypische Verfahren (Becker-Mrotzek / Vogt 2001) zurückgreifen:
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148
Bosse: Perspektiventriangulation am Beispiel der Kombination von Gesprächs- und Inhaltsanalyse
1
SL
gu::t (.) wollen wir zuSAMMen WEIterdenken? (--) ja?
2
(.) STIF:te einfach WEG- =und:: ja:- (.) was ist
3
euch gleich aufgeFALlen als: (.) proble::m- was habt
4
ihr da: (-) geSE:Hen (-) noTIERt (-) und so weiter
5
6
(
MI
). min HAI?
ähm ((räuspert sich)) und zwar herr ross wollte
7
die proBLEMe in der zusammen’(
8
zusammenarbeit mit herrn: (.) matingo sofort (.) ähm
9
klären; (-) un::d herr matingo hat dann diesen
10
vorschlag gemacht, dass sie (.) an nem anderen ZEIT
11
(.) punkt dann darüber besprechen (---) (
12
SL
13
14
((schreibt) 2,5 sek) hm=hm, (
) in der
) ja. (.) (
).
)
WEItere probleme? Elena?
EL
äh:m ja herr ross ist sehr SACHlich, (3 sek) und
15
maTINgo seh::r (2 sek) öh schwer zu SAgen (.) also
16
(.) geLASSen und-
17
SL
((schreibt) 5 sek) hm=hm.
Abb. 1: Trainingsfilmbearbeitung Z. 1-17. Quelle: Bosse 2011:172-173.
4
Vor Beginn der hier angeführten Sequenz wurde den Teilnehmenden ein 8-minütiger Trainingsfilm mit der Aufgabenstellung präsentiert, Probleme und mögliche Lösungen für die
gezeigte Interaktionssituation zu notieren. Nachdem die Teilnehmenden Gelegenheit hatten, Notizen anzufertigen, stellt
die Seminarleiterin (SL) die Seminaröffentlichkeit her, woraufhin sich Min Hai (MI) und Elena (EL) zu Wort melden. Unterrichtstypische Verfahren, die zur Gestaltung thematischer und
kommunikativer Ordnung dienen, kommen dabei insofern
zum Einsatz, als „wollen wir“ (Z. 1) eine „Wendung zur Initiierung gemeinsamer Handlungen“ (Redder 1984:209) darstellt. Modalverb und Sprechergruppendeixis dienen dazu, die
Absicht der Seminarleiterin in eine gemeinsame Absicht der
Gesamtgruppe zu verwandeln. Hieran schließt sich in Z. 2-4
die für Unterrichtsgespräche typische Regiefrage (Zifonun et
al. 1997:116f.) an, mit der die Seminarleiterin eine einleitende Strukturierung vornimmt, die zum Aufbau der thematischen Ordnung beiträgt (Becker-Mrotzek / Vogt 2001:153ff.).
So besteht die Funktion von Regiefragen darin, kollektives
Nachdenken in Gang zu setzen, wobei bereits eine bestimmte
Suchrichtung vorgegeben wird (Ehlich / Rehbein 1986:68ff.).
Darüber hinaus weist auch der Sprechwechsel das Plenumsgespräch als Lehr-Lerndiskurs aus, da hier die unterrichtstypische Fremdwahl zu beobachten ist und das Rederecht immer
wieder an die Seminarleiterin zurückfällt (Zifonun et al.
1997:494ff). Die besondere Pausenlänge zwischen den Redebeiträgen ist wiederum darin begründet, dass die Seminarleiterin die Redebeiträge der Teilnehmenden in Form von Notizen an einer Moderationstafel festhält.
149
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Bosse: Perspektiventriangulation am Beispiel der Kombination von Gesprächs- und Inhaltsanalyse
Die unterrichtstypische Gestaltung des Plenumsgesprächs ist
für die Frage nach der Wirkung des untersuchten Trainings
auf der Lernprozessebene insofern von Bedeutung, als sie die
Auseinandersetzung mit dem Trainingsfilm ermöglicht und
vorantreibt. Dies lässt sich insofern an der sprachlichen Oberfläche nachweisen, als sich im Plenumsgespräch das so genannte Monierungsschema etabliert, das nach Fiehler
(1995:114) für Gespräche über Kommunikationsereignisse
charakteristisch ist. Zu den üblichen Positionen dieses Handlungsschemas gehört, dass die Beteiligten Probleme identifizieren, beschreiben und diagnostizieren, die festgestellten
Monita bewerten und nicht zuletzt Handlungsalternativen
anführen. So liefert Min Hai im obigen Transkriptauszug zunächst eine zusammenfassende Problembeschreibung, die
divergierende Handlungen bzw. Handlungsabsichten hervorhebt (Z. 6-11). Im anschließenden Beitrag von Elena geht es
dagegen weniger um die Intentionen der Filmfiguren, sie
schreibt denselben vielmehr unterschiedliche Eigenschaften
zu (Z. 14-16). Auf dieser Ebene der Interaktionsvoraussetzungen verortet auch Liu (LI) das im Film gezeigte Problem:
18
LI
die ham BEIde unterschiedliche arbeitsEINstellungen.
19
SL
((schreibt) 6 sek)
20
LI
also der ross ist TYPischen DEUTschen manager,
21
SL
hm=hm.
22
LI
u::[nd äh das kommt (eigentlich) gut rüber,
23
TN
24
SL
[((lachen ))
hm=hm.
Abb. 2: Trainingsfilmbearbeitung Z. 18-24. Quelle: Bosse 2011:173-174.
Lius Äußerung erweist sich insofern als interessant, als seine
Problemdiagnose damit einhergeht, die nationale Zugehörigkeit einer der Filmfiguren relevant zu setzen. So typisiert Liu
die als ‚Herr Ross‘ agierende Filmfigur mit Blick auf deren Nationalität und Berufsrolle (Z. 21) und erweitert diese Kategorisierung auf einer Meta-Ebene mit einer Bewertung der filmischen Inszenierung der Figur (Z. 23), was vom Lachen mehrerer Teilnehmender (TN) begleitet wird. Dabei weist diese Sequenz Merkmale von Stereotypisierungen auf, für die nach
Nazarkiewiczs Untersuchungen unter anderem charakteristisch ist, „dass sie mit Bildern verbunden werden, die sich die
an der Stereotypenkommunikation Beteiligten als gemeinsame und geteilte Topoi wechselseitig (z. B. in Form von Einwortsätzen) abrufen“ (Nazarkiewicz 2000:183). Dies zeigt
sich in Abbildung 2 daran, dass Liu die Filmfigur Ross mit einer generischen Referenz dem Topos „deutscher Manager“
(Z. 20) zuordnet. Der für die interaktive Absicherung von Stereotypisierungen charakteristische Authentizitätsnachweis
(Nazarkiewicz 1999:372) erfolgt dann dadurch, dass Liu auf
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150
Bosse: Perspektiventriangulation am Beispiel der Kombination von Gesprächs- und Inhaltsanalyse
die gelungene filmische Darstellung der Figur verweist. Dies
wird vom Lachen mehrerer Teilnehmender quittiert, was einen Wechsel der Interaktionsmodalität anzeigt, sodass die
von Liu initiierte Stereotypenkommunikation als ‚Spaß‘ kennzeichnet und enttabuisiert wird. Die für die Entfaltung von
Stereotypenkommunikation notwendige Bedingung der Kooperativität (Nazarkiewicz 2010:175ff.) scheint also gegeben
zu sein.
Anders als der bisherige Einblick in den Gesprächsbeginn
möglicherweise vermuten lässt, nutzen die Teilnehmenden
den wiederholten Durchlauf durch das Monierungsschema
nicht allein dazu, Interaktionsvoraussetzungen im Sinne der
monierten inkompatiblen Handlungsabsichten und Personeneigenschaften zu problematisieren oder Belege für gängige Stereotype anzuführen. Vielmehr differenzieren sich die
Interpretationsperspektiven schrittweise aus und beleuchten
auch das im Film gezeigte Interaktionsgeschehen:
62
PA
ja mir ist noch AUFgefallen, dass die ähm sich nicht
63
richtig ANTworten, also es ist oft so dass einer
64
ne FRAge stellt, =äh und der andere die gar nicht
65
richtig beANTwortet, =und dass sie viel SCHWEI::gen.
66
also die die wissen gar nicht genau, =was hat der
67
andere jetzt eigentlich wirklich gesagt, =was will
68
der von mir, =was was soll ich MACHen? (.) und äh
69
auch mit den GEsten von herrn matingo, also herr
70
ross versteht die überhaupt nicht ( ), (-) also
71
jetzt (.) bei der limoNAde zum beispiel.
72
SL
((schreibt) 5 sek)
Abb. 3: Trainingsfilmbearbeitung Z. 62-72. Quelle: Bosse 2011:162f.
Vergleicht man die Äußerungen von Paula (PA) in Abbildung
3 mit dem Beginn des Plenumsgesprächs, fällt ins Auge, dass
sie ihren Blick auf die Interaktionsdynamik richtet und das
sprachliche Handeln der Filmfiguren moniert (Z. 62-65). Zudem problematisiert Paula die interaktive Wirkung sprachlicher Handlungsweisen, indem sie mit Hilfe direkter Redewiedergabe in die Rollen der Filmprotagonisten schlüpft und deren Gedankenwelt aus der Binnenperspektive inszeniert (Z.
67-68). Diese Form der Perspektivenübernahme, oft verbunden mit Perspektivenwechsel und -reflexion, erweist sich insgesamt als typisch für die kommunikative Bearbeitung des
Trainingsfilms im Plenum. Neben stereotypisierend angelegten Äußerungen manifestieren sich also auch mehrperspektivische Betrachtungsweisen des Trainingsfilms. Damit finden
sich in den Gesprächsdaten deutliche Hinweise auf Verfahren
des so genannten „transkulturellen Sprechens“, die nach Nazarkiewiczs Untersuchungen von Trainingsgesprächen zu den
konstitutiven Merkmalen kulturreflexiver Deutungsarbeit ge151
© Interculture Journal 2012 | 16
Bosse: Perspektiventriangulation am Beispiel der Kombination von Gesprächs- und Inhaltsanalyse
hören, die interkulturelles Lernen ermöglichen (Nazarkiewicz
2010:121ff.).
Die angeführten Transkriptauszüge veranschaulichen, wie
sich die Identifikation von Handlungsproblematiken interkultureller Kommunikation im untersuchten Plenumsgespräch
tendenziell von einer anfänglichen Bestimmung divergierender Interaktionsvoraussetzungen hin zum Erkennen kommunikativer Besonderheiten der Interaktionsdynamik bewegt.
Dabei bedingen sich die Äußerungen der Beteiligten gegenseitig, d. h. die Ausdifferenzierung der Perspektiven vollzieht
sich interaktiv durch die Umsetzung des Monierungsschemas.
Den weiteren Gesprächsverlauf der Trainingsfilmbearbeitung
zeichnet aus, dass die Teilnehmenden von ihren mehr oder
weniger stereotyp bzw. transkulturell angelegten Sichtweisen
auf die im Trainingsfilm präsentierte Handlungsproblematik
zu Lösungsvorschlägen für die Filmfiguren gelangen. Dabei
gehen stereotypisierende Sequenzen mit einer pauschalen
Übertragung normativer Vorstellungen in Form direktiver
Handlungsanweisungen einher. Transkulturell angelegte
Problemanalysen führen dagegen eher zu situationsspezifi5
schen Lösungsansätzen in hypothetischer Modalität.
Vor diesem Hintergrund lässt sich festhalten, dass in dem für
Lehr-Lerndiskurse charakteristischen Rahmen unterschiedlich
weitreichende Analyseverfahren und Lösungsansätze interaktiv hervorgebracht werden. So führen die identifizierten Gesprächspraktiken zu einer mehrperspektivischen Erkundung
der präsentierten kritischen Interaktionssituation – ganz im
Sinne der Intercultural Anchored Inquiry von Kammhuber
(2000:111ff.). Die wiederholte Realisierung der Positionen des
Monierungsschemas erweist sich somit als funktional für das
übergeordnete didaktische Ziel, multiple Interpretations- und
Handlungsperspektiven zu generieren.
3.2
Narrative und beratungstypische Verfahren
Die Analyse der zweiten Trainingssequenz legt offen, dass
sich die Umsetzung didaktisch-methodischer Prinzipien in
dem untersuchten Trainingsworkshop nicht auf unterrichtstypische Verfahren und Monierungsschema beschränkt. Vielmehr variieren die Gesprächspraktiken je nach Aufgabenstellung und Arrangement der einzelnen Trainingssequenzen. So
erweist sich für die in Kleingruppen vorgenommene Bearbeitung eigener Erlebnisse, die als zweite Trainingseinheit näher
untersucht wurde, die Verknüpfung narrativer und beratungstypischer Verfahren als charakteristisch. Dies kann hier
6
zwar nicht im Einzelnen nachgewiesen werden, als Ergebnis
der Analyse ist aber festzuhalten, dass narrative Verfahren
(Zifonun et al. 1997:123) von den Teilnehmenden so zur Präsentation eigener Erlebnisse genutzt werden, dass andere den
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152
Bosse: Perspektiventriangulation am Beispiel der Kombination von Gesprächs- und Inhaltsanalyse
Ablauf nachvollziehen und vorgenommene Bewertungen teilen können. Die übergeordnete Aufgabenstellung der Kleingruppenarbeit, Erlebnisse zu präsentieren, mit Hilfe der im
Trainingsverlauf vermittelten Analyseansätze näher zu erkunden sowie Handlungsperspektiven zu entwickeln, führt dann
ins Beratungsschema (Nothdurft et al. 1994). Durch die damit
verbundenen Aktivitäten gelangen die Teilnehmenden zu einer mehrperspektivischen Detaillierung der Narration: Die
Perspektive des Erzählers wird zur Disposition gestellt, der
typischerweise mit Erzählungen verbundene Gestaltschließungszwang löst sich auf und die präsentierte Geschichte
wird interaktiv um neue Gesichtspunkte erweitert.
Wie die Gesprächsanalyse der Bearbeitung von Erlebniserzählungen ferner gezeigt hat, hängen Unterschiede bei der Entwicklung von Handlungsperspektiven davon ab, wie die Teilnehmenden die potenzielle Gesichtsbedrohung bearbeiten,
die mit der Preisgabe persönlicher Erlebnisse einhergeht. Sind
die Beiträge kooperativ angelegt, können die Teilnehmenden
zu Handlungsperspektiven gelangen, indem sie alternative
sprachliche Handlungen bis hin zur Inszenierung von Formulierungsvarianten vorschlagen und deren Kultur- und Situationsangemessenheit gemeinsam prüfen. Werden die Beiträge
dagegen eher konfrontativ gestaltet, können sich dissente
Sequenzen ergeben, die eine Reflexion normativer Vorstellungen interkultureller Kommunikation mit sich bringen. Im
ersten Fall zeichnet sich die Interaktionsdynamik durch Formen des transkulturellen Sprechens aus, während der zweite
eine Nähe zur Stereotypenkommunikation aufweist.
Über den bisherigen Forschungsstand führen diese Befunde
insofern hinaus, als bislang keine Untersuchungen vorliegen,
die Trainingssequenzen gezielt zum Zweck der Evaluation gesprächsanalytisch betrachten. So konnte die vorliegende Arbeit mit Nazarkiewicz (2010) zwar auf einschlägige Untersuchungen zu Stereotypenkommunikation und transkulturellem Sprechen als Charakteristika von Trainingsdiskursen bzw.
Strategien der Trainingsmoderation aufbauen. Erweitert wurden diese Untersuchungen aber um Erkenntnisse im Hinblick
auf die trainingsspezifische Realisierung von zentralen Gesprächspraktiken wie Monieren, Erzählen und Beraten mit
Bezug zu ausgewählten Trainingseinheiten. Auf diese Weise
konnte nicht zuletzt das didaktisch-methodische Potenzial
kritischer Interaktionssituationen auf empirischem Wege näher bestimmt werden. Gleichwohl bleibt offen, inwiefern die
verwendeten Verfahren zur Erkundung kritischer Interaktionssituationen den Beteiligten bewusst geworden sind und
ihnen über das Training hinaus zur Verfügung stehen – hierzu
bedarf es einer Untersuchung von subjektiven Sichtweisen
der Teilnehmenden.
153
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Bosse: Perspektiventriangulation am Beispiel der Kombination von Gesprächs- und Inhaltsanalyse
4.
Subjektive Sichtweisen der Teilnehmenden
Die Rekonstruktion subjektiver Sichtweisen der Teilnehmenden orientiert sich an den oben genannten Evaluationsebenen, wobei die hier in Frage stehenden Lernprozesse in erster
Linie auf der Grundlage des ersten Interviews ermittelt wurden. Neben Hinweisen auf die Teilnahmezufriedenheit in
Form von Bewertungen einzelner Trainingssequenzen finden
sich Anhaltspunkte dafür, wie sich der Lernprozess für die
Teilnehmenden im Rückblick darstellt. Mit Hilfe einer deduktiv-induktiven Vorgehensweise wurden die Interviewäußerungen daraufhin untersucht, inwiefern sie Anhaltspunkte für die
Umsetzung der einzelnen Lernschritte liefern, wie sie im Lernzirkel der Intercultural Anchored Inquiry von Kammhuber
(2000:111ff.) vorgesehen sind:
1. Ausgliedern einer subjektiv relevanten Lernproblematik
2. Individuelle Interpretation des Handlungsgeschehens
3. Generieren multipler Interpretationsperspektiven
4. Perspektivenreflexion
5. Generieren multipler Handlungsalternativen
6. Reflexion von Handlungsfolgen
7. Metakontextualisierung
8. Internalisierung der Interkulturellen Anchored Inquiry
Die Orientierung am Lernzirkel ermöglicht, von den subjektiven Sichtweisen der Teilnehmenden auszugehen und für alle
Trainingssequenzen darzustellen, welche Lernschritte in den
Interviewäußerungen zum Ausdruck kommen. Auf diese Weise lässt sich der Lernzirkel auf empirischer Grundlage ausdifferenzieren und für jede der im Training bearbeiteten kritischen Interaktionssituation zeigen, wie sich deren Wirkungsgefüge aus Sicht der Teilnehmenden darstellt.
Betrachtet man die Interviewäußerungen, die sich auf die
Trainingsfilmbearbeitung beziehen, ist festzustellen, dass die
Teilnehmenden in diesem Fall Kommunikationsschwierigkeiten als relevante Lernproblematik identifiziert haben. Den Interviewäußerungen zufolge ist es ihnen im Zuge der Trainingsfilmbearbeitung gelungen, erste einseitige Kategorisierungen der Filmfiguren durch eine Betrachtung der Interaktionsdynamik zu erweitern. Dass zu den Lerneffekten des Plenumsgesprächs auch die Entwicklung multipler Interpretationsperspektiven gehört, illustriert beispielsweise die folgende
Äußerung von Elena (EL):
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Bosse: Perspektiventriangulation am Beispiel der Kombination von Gesprächs- und Inhaltsanalyse
IN
Und dann gab=s das erste Video. Ähm, da ist auch die Frage, hat das was gebracht, das zu
sehen, dass so selbst zu analysieren und in der Gruppe zu besprechen?
EL
Ja, auf jeden Fall, weil jeder sieht was Anderes, jedem fällt was anderes auf. Und, ähm=ja,
ich fand das auf jeden Fall sehr, es hat auf jeden Fall was gebracht, weil, wie gesagt, ich
seh einige Sachen, der andere sieht andere Sachen. Und wenn sie alle zusammen getragen
werden, dann entsteht so ein Bild von dem Ganzen. Sonst weiß ich nicht, sonst, kann sein,
wenn ich mir das wieder angeguckt hätte, alleine (
) Mir wären nur einige Sachen
aufgefallen, wäre ich vielleicht damit auch zufrieden.
Abb. 4: Interview 1 / EL 18-19. Quelle: Bosse 2011:285.
7
Für Elena (EL) beruht der Lerneffekt der Trainingsfilmbearbeitung insbesondere darauf, dass das Zusammentragen unterschiedlicher Sichtweisen im Plenum zu einem „Bild von dem
Ganzen“ geführt hat. Weitergehende Hinweise auf eine Ausdifferenzierung von Interpretationsperspektiven, bei denen
die Teilnehmenden insbesondere zwischen Interaktionsvoraussetzungen und -dynamik unterscheiden, sind im Interview
mit Paula zu finden:
IN
Ja, okay. Und das erste Aha-Erlebnis, kannst du das näher beschreiben? Mit dem Video?
PA
Mit dem Video? Also ich hab mir das ja angeguckt und dann gedacht, „Oh Mann, das ist
so=ne typische Situation.“ Und da hab ich gedacht, „Ne typische Situation, wie geh ich da
ran?“ Also das, manchmal hab ich so das Gefühl, wenn die Sachen zu typisch sind, weiß
ich nicht, wo, wo soll ich anfangen, das Problem aufzurollen? Wo soll ich anfangen, den
Haken zu setzen? Und das war bei der Analyse ganz gut, weil wir das auf mehreren
Ebenen halt aufgebrochen haben. Auf der verbalen Ebene, auf der, vielleicht der personelle
Hintergrund und wirklich der sprachlichen Ebene. Und da hab ich gedacht, „Gut, wenn ich
das versuche so zu trennen, dann komm ich über, vom einen auf das andere.“ Und das
fand ich ganz gut. Jetzt weiß ich, wie man da ran gehen kann und steh nicht so hilflos
davor, „Naja das ist halt typisch deutsch, typisch mh=mh=mh.“
Abb. 5: Interview 1 / PA 12-13. Quelle: Bosse 2011:284f.
Paula (PA) hat bereits zu Beginn des Interviews hervorgehoben, dass die Trainingsfilmbearbeitung in ihrem Fall zu einem
„Aha-Erlebnis“ geführt hat. Auf Nachfrage der Interviewerin
(IN) schildert sie zunächst ihre Hilflosigkeit, die im Film gezeigte Situation differenziert zu betrachten. Vor diesem Hintergrund bewertet sie es im Rückblick als hilfreich, dass die im
Film präsentierte Handlungsproblematik im Plenumsgespräch
in unterschiedliche Ebenen aufgeschlüsselt wurde. Dabei betrachtet Paula die Trennung von Analyseebenen als ein Vorgehen, das sich auch auf andere Situationen übertragen lässt,
wenn sie bilanzierend feststellt, „[j]etzt weiß ich, wie man da
ran gehen kann“.
In einer Vielzahl von weiteren Interviewäußerungen finden
sich Hinweise darauf, dass die Teilnehmenden im Plenumsgespräch zu Einsichten in die wechselseitige Verantwortung für
die Gestaltung des Interaktionsgeschehens gelangt sind. Dies
hat wiederum zu der allgemeinen Handlungsorientierung geführt, dass das Gelingen interkultureller Kommunikation von
155
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Bosse: Perspektiventriangulation am Beispiel der Kombination von Gesprächs- und Inhaltsanalyse
wechselseitigen Anstrengungen der Interagierenden abhängt.
Wie sich bereits in der Äußerung von Paula in Abbildung 5
andeutet, gelangen die Teilnehmenden auch zu Erkenntnissen, die über die Trainingsfilmbearbeitung hinausreichen. Als
allgemeines Prinzip interkultureller Erkundungen scheint einigen bewusst geworden zu sein, dass bei der Analyse interkultureller Kommunikationssituationen neben eingebrachten
Unterschieden auch die hervorgebrachte Interaktionsdynamik
zu berücksichtigen ist. Der im Zusammenhang der Trainingsfilmbearbeitung realisierte Lernzirkel lässt sich vor diesem Hintergrund folgendermaßen zusammenfassen:
1. Kritische
Interaktionssituation
Kommunikationsschwie2. Individuelle Interpretation
rigkeiten
des Handlungsgeschehens:
Kategorisierung der Interagierenden / Beschreibung des
Interaktionsgeschehens
8. Internalisierung der
Interkulturellen Erkundung:
Differenzierung zwischen eingebrachten Unterschieden und
hervorgebrachter Interkultur
3. Generieren multipler
Interpretationsperspektiven:
Wahrnehmungsdifferenzierung
7. Metakontextualisierung
6. Reflexion der Handlungsfolgen
5. Generieren multipler
Handlungsperspektiven:
Einsicht in wechselseitigen
Handlungsbedarf
4. Reflexion der
Interpretationsperspektiven:
Distanzierung von einseitigen
Schuldzuweisungen
Abb. 6: Lernzirkel Trainingsfilmbearbeitung. Quelle: Bosse 2011:289.
Wie die Abbildung zeigt, zeichnet sich das Wirkungsgefüge
der Trainingsfilmbearbeitung aus Sicht der Teilnehmenden
durch einen Schwerpunkt im Bereich der Entwicklung, Differenzierung und Reflexion von Interpretationsperspektiven aus.
Vergleicht man dies mit den nachfolgenden Trainingsphasen,
dann ist zu erkennen, dass sich im Trainingsverlauf eine Verschiebung hin zur Entwicklung von Handlungsperspektiven
vollzieht. So verdeutlicht die Inhaltsanalyse der Interviewäußerungen, wie sich der Schwerpunkt der interkulturellen Erkundung kritischer Interaktionssituationen von analytischen hin
zu handlungsorientierten Lernschritten verlagert. Diese Progression geht einher mit dem Befund, dass das untersuchte
Training die Teilnehmenden nicht nur kognitiv und handlungsbezogen involviert, sondern auch auf emotionaler Ebene. Im Fall der Bearbeitung eigener Erlebniserzählungen
kommt dies beispielsweise darin zum Ausdruck, dass zunächst divergierende Kommunikationskonventionen, wie sie
von einzelnen Teilnehmenden erlebt wurden, als Lernproblematik ausgegliedert werden. Die in den Interviews zum Ausdruck gebrachte Suche nach Interpretationsperspektiven und
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Handlungsalternativen bewegt sich dann zwischen Nachvollzug und Abgrenzung im Hinblick auf emotionale Reaktionen
und individuelle Handlungspräferenzen. Ferner gelingt es einigen Teilnehmenden, multiple Interpretationsperspektiven zu
generieren, die neben kulturellen Unterschieden auch personale und situative Einflussfaktoren berücksichtigen. Zu den
Wirkungen der Bearbeitung von Erlebniserzählungen gehören
darüber hinaus Einsichten im Hinblick auf Erweiterungsmöglichkeiten des eigenen Handlungsrepertoires sowie bezüglich
eventueller Grenzen, die sich bei der Umsetzung von Hand8
lungsvorsätzen ergeben können.
Als Erkenntnisgewinn der Inhaltsanalyse von Interviewäußerungen kann hier festgehalten werden, dass sie einen Einblick
in die rückblickende Darstellung von individuellen Lernprozessen ermöglicht. Auf diese Weise lassen sich empirisch fundierte Aussagen hinsichtlich der Umsetzung didaktisch-methodischer Konzepte gewinnen, die dem Trainingsaufbau zugrunde liegen. So kann für den Lernzirkel von Kammhuber
gezeigt werden, dass seine Umsetzung im Trainingsverlauf
variieren kann: Je nachdem, in welchem Format eine kritische
9
Interaktionssituation präsentiert wird, welche Aufgabenstellung die Bearbeitung leitet und in welche Trainingsphase die
Erkundung eingebettet ist, werden eher analytisch oder
handlungsbezogene Lernschritte realisiert und eine eher kognitive, emotionale oder konative Beteiligung erreicht. Allerdings ist die Inhaltsanalyse auf retrospektive Aussagen zum
Trainingsgeschehen begrenzt, die nicht zuletzt vom Mitteilungs- und Reflexionsvermögen der Befragten sowie von der
Interaktion mit der Interviewerin abhängen. Einen Einblick in
das tatsächliche Trainingsgeschehen, wie ihn die Gesprächsanalyse ermöglicht, kann die Inhaltsanalyse also nicht
ersetzen. Entsprechend bietet es sich an, die inhalts- und gesprächsanalytischen Verfahren im Sinne der Perspektiventriangulation zu kombinieren und ihre jeweiligen Ergebnisse
miteinander in Bezug zu setzen.
5.
Kombination von Gesprächs- und Inhaltsanalyse
Ausgehend von den Ergebnissen der Gesprächs- und Inhaltsanalyse lässt sich die mit der Perspektiventriangulation angestrebte Verbreiterung von Erkenntnismöglichkeiten auf unterschiedlichen Wegen realisieren. Zentral ist dabei die Frage
nach dem tertium comparationis, d. h. nach den Vergleichsmomenten, auf die sich sowohl gesprächs- als auch inhalts10
analytische Ergebnisse beziehen lassen. Wie im Folgenden
näher zu erläutern ist, sind diese Vergleichsmomente sowohl
theoriegeleitet als auch datenbasiert zu gewinnen.
157
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Bosse: Perspektiventriangulation am Beispiel der Kombination von Gesprächs- und Inhaltsanalyse
Theoretisch fundierte Vergleichsmomente spielen in der hier
vorgestellten Studie insofern eine Rolle, als bereits die Entwicklung des Evaluationsdesigns einen spezifischen Trainingsworkshop als gemeinsamen Bezugspunkt für die Datenauswertung vorsieht. So richten sich der Einsatz von Erhebungsinstrumenten und die Datenauswahl danach, Trainingsphasen aufzuzeichnen und auszuwählen, die in den
nachfolgenden Interviews aufgegriffen und näher beleuchtet
werden. Theoretisch begründet ist dieses Vorgehen durch die
Unterscheidung von Evaluationsebenen, denen die erhobenen Befragungs- und Gesprächsdaten je nach Aussagekraft
zugeordnet werden. Wie oben erwähnt, beruht die Rekonstruktion der Teilnahmemotivation beispielsweise allein auf
der Analyse von Interviewdaten, während für die Lernprozessebene beide Datensorten von Bedeutung sind. Hier
besteht die Perspektiventriangulation darin, die gesprächsund inhaltsanalytisch gewonnenen Ergebnisse wechselseitig
aufeinander zu beziehen. Auf der einen Seite sind die kommunikativen Besonderheiten einzelner Trainingseinheiten mit
Hilfe der Befragungsdaten danach zu beurteilen, inwiefern sie
sich für die Teilnehmenden als lernwirksam erwiesen haben.
Andererseits gewinnen wiederum die anhand von Selbstauskünften rekonstruierten Lernprozesse an Gehalt, indem sie
auf ihren kommunikativen Entstehungszusammenhang zurückgeführt werden. Besonders augenfällig ist der auf diesem
Weg erlangte Erkenntnisgewinn beispielsweise im Fall der
Teilnehmerin Paula, die nicht nur im Plenumsgespräch maßgeblich zur Ausdifferenzierung von Interpretationsperspektiven beiträgt (siehe Abbildung 3), sondern hierin auch im
Nachhinein ihr individuelles „Aha-Erlebnis“ sieht (siehe Abbildung 5). Gerade solche Zusammenhänge zwischen dem interaktiven Trainingsgeschehen und den individuellen Lernerlebnissen der Teilnehmenden, die sich nur durch die Kombination von Gesprächs- und Inhaltsanalyse aufdecken lassen,
ermöglichen einen vertieften Einblick in das untersuchte Wir11
kungsgefüge.
Zusammen mit der Unterscheidung von Evaluationsebenen
hat sich auch der Lernzirkel von Kammhuber als geeigneter
Vergleichshorizont für die Perspektiventriangulation erwiesen.
Anders als im Fall der Evaluationsebenen erfolgt die Anwendung des Lernzirkels allerdings nicht rein deduktiv. Vielmehr
wird er im Zuge der Datenauswertung materialbasiert ausdifferenziert, indem seine Umsetzung mit Blick auf einzelne
Trainingsphasen untersucht wird. So führt die Verschränkung
der Forschungsperspektiven hier zu dem Ergebnis, dass die
mit dem Generieren und Reflektieren von Interpretationsund Handlungsperspektiven verbundenen Lernschritte auf
kommunikative Steuerungs- und Rahmungsaktivitäten angewiesen sind. Während diese Aktivitäten im oben illustrierten
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Bosse: Perspektiventriangulation am Beispiel der Kombination von Gesprächs- und Inhaltsanalyse
Plenumsgespräch weitgehend von Seiten der Seminarleitung
übernommen werden, zeigt die Analyse des Kleingruppengesprächs, wie die Teilnehmenden steuernde Verfahren im Zuge
der Erkundung der erzählten Erlebnisse einsetzen. Für die
Evaluation von Lernprozessen bedeutet dies, dass sich nicht
nur punktuelle Parallelen zwischen Trainingsgeschehen und
subjektiven Sichtweisen ziehen lassen. Vielmehr können zudem Aussagen darüber gemacht werden, wie die mehrperspektivische Betrachtung kritischer Interaktionssituationen
interaktiv vorangetrieben wird. Auf diese Weise erhält das
didaktisch-methodische Modell der Intercultural Anchored
Inquiry eine empirische Basis, die Antworten auf die Frage
bietet, welche kommunikativen Verfahren die sukzessive Umsetzung von Lernschritten fördern können (Bosse
2011:362ff.).
Der Erkenntnisgewinn durch die Perspektiventriangulation
beschränkt sich allerdings nicht auf die Evaluation von Lernprozessen. Vielmehr lassen sich die gesprächs- und inhaltsanalytisch ermittelten Ergebnisse auch für die Betrachtung
weiterer Evaluationsebenen nutzen, um das Bild der Trainingswirkungen zu vervollständigen. So beinhaltet die hier
nur in Auszügen vorgestellte Untersuchung auch die Analyse
von Teilnahmemotivation, Teilnahmezufriedenheit und nicht
zuletzt von Transferleistungen der Teilnehmenden (Bosse
2011:265ff.). Letztere basiert auf Vergleichsmomenten, die
erst im Zuge der Datenauswertung aus dem Material heraus
gewonnen wurden. Hier kommt das Prinzip der Perspektiventriangulation insofern zur Anwendung, als aus den gesprächsanalytischen Ergebnissen der Untersuchung des Trainingsgeschehens Kategorien für die Inhaltsanalyse von ausgewählten Interviewpassagen abgeleitet wurden. Zu unterscheiden sind dabei beispielsweise stereotypisierend oder
transkulturell angelegte Äußerungsformen sowie die inhaltliche Reichweite von Äußerungen im Hinblick auf die Berücksichtigung von Interaktionsvoraussetzungen und / oder Interaktionsdynamik (siehe Abschnitt 3). Auf diese Weise ergeben
sich gesprächsanalytisch fundierte Kategorien für die Auswertung von Interviewpassagen, in denen die Teilnehmenden vor
vergleichbaren kommunikativen Aufgaben wie im Training
stehen. Denn auch in den Interviews ist ein Trainingsfilm zu
bearbeiten und die Teilnehmenden sind zudem aufgefordert,
sich zu eigenen interkulturellen Erlebnissen zu äußern. Entsprechend lässt sich mit Hilfe des gesprächsanalytisch fundierten Kategoriensystems untersuchen, inwieweit die Teilnehmenden Analyse- und Lösungsansätze aus dem Training
übertragen und damit in der Lage sind, zentrale Schritte interkultureller Erkundungen eigenständig anzuwenden (Bosse
2011:337ff.). Zur Analyse solcher Transferleistungen dient mit
dem Kategoriensystem also ein Bezugspunkt, der erst in der
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Bosse: Perspektiventriangulation am Beispiel der Kombination von Gesprächs- und Inhaltsanalyse
Auseinandersetzung mit den erhobenen Daten generiert
wurde.
Die bislang erläuterte Umsetzung des Prinzips der Perspektiventriangulation geht vom Einzelfall des Trainingsworkshops
aus, um sein spezifisches Wirkungsspektrum zu erfassen.
Darüber hinaus lassen sich gesprächs- und inhaltsanalytische
Ergebnisse aber auch so kombinieren, dass einzelne Teilnehmende in den Blick genommen werden, um individuelle Prozesse interkultureller Kompetenzentwicklung in Form von
Kompetenzprofilen zu rekonstruieren (Bosse 2011:372ff.).
Hierfür sind die Merkmale der individuellen kommunikativen
Beteiligung am Trainingsgeschehen und die jeweiligen subjektiven Sichtweisen der Trainingswirkung so zusammenzusetzen, dass die Kompetenzentwicklung von der Teilnahmemotivation bis hin zu den Transferleistungen für den Einzelfall
nachgezeichnet wird. Dabei fungiert das dem Training zugrunde liegende Modell interkultureller Kompetenz (siehe
Abschnitt 3) als gemeinsamer Bezugspunkt, an dem sich die
Äußerungen der Teilnehmenden messen lassen. Durch den
Vergleich der individuellen Kompetenzprofile kann die Perspektiventriangulation schließlich dazu beitragen, einen Einblick in die Variationsbreite der Entfaltung von Trainingswirkungen zu gewinnen. Die Umsetzung der Perspektiventriangulation erfolgt dabei ähnlich wie beim Lernzirkel auf deduktiv-induktive Weise: Die im INCA-Modell vorgesehenen Komponenten und Teilaspekte interkultureller Kompetenz werden
zur Ermittlung von Kompetenzprofilen zum einen deduktiv an
das Datenmaterial herangetragen. Zum anderen kann das
Modell am Material überprüft und erweitert werden (Bosse
2011:386f.).
6.
Fazit und Ausblick
Die gesprächsanalytisch ermittelten kommunikativen Merkmale des Trainingsgeschehens und der Einblick in die inhaltsanalytisch erfassten subjektiven Sichtweisen der Trainingswirkungen veranschaulichen, wie sich zwei unterschiedliche Forschungsperspektiven im Sinne der systematischen Perspektiventriangulation gleichberechtigt und in sich konsequent anwenden lassen. Bilanzierend ist zunächst festzuhalten, dass
beide Zugänge das Wirkungsgefüge interkultureller Trainings
in jeweils spezifischer Weise erfassen. Während die Gesprächsanalyse Einblick in den unmittelbaren, kommunikativen Zusammenhang interkultureller Kompetenzentwicklung
gewährt, erlaubt die Inhaltsanalyse eine Rekonstruktion von
Trainingswirkungen aus Sicht der Teilnehmenden.
Die Illustration der unterschiedlichen Kombinationsmöglichkeiten von Gesprächs- und Inhaltsanalyse verdeutlicht, wie
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160
Bosse: Perspektiventriangulation am Beispiel der Kombination von Gesprächs- und Inhaltsanalyse
die Perspektiventriangulation den gesamten Forschungsprozess begleiten und schrittweise zur „Anreicherung und Vervollständigung der Erkenntnis und der Überschreitung der
(immer begrenzten) Erkenntnismöglichkeiten der Einzelmethoden“ (Flick 2007, 520) führen kann. Theoretisch und empirisch fundierte Vergleichsmomente ermöglichen dabei, gesprächs- und inhaltsanalytisch gewonnene Ergebnisse als
komplementäre Perspektiven auf den Untersuchungsgegenstand miteinander zu verschränken. Im Fall des untersuchten
Trainingsworkshops besteht der auf diesem Weg erreichte
Erkenntnisgewinn darin, das Wirkungsgefüge interkultureller
Trainings näher bestimmen zu können. So lässt sich das Zusammenspiel von Training und Kompetenzentwicklung dahingehend zusammenfassen, dass die Teilnehmenden kritische Interaktionssituationen im Trainingsgeschehen mit Hilfe
spezifischer Gesprächspraktiken erkunden und so zu einer
mehrperspektivischen Interpretation sowie zu multiplen
Handlungsperspektiven und deren Reflexion gelangen. Die
mit diesen Lernschritten verbundenen Verfahren stehen ihnen
in unterschiedlichem Maße auch über den unmittelbaren
Trainingskontext hinaus zur Verfügung, um sie auf fremde
und selbsterlebte interkulturelle Interaktionssituationen anzuwenden. Dabei variiert die im Training angeregte Kompetenzentwicklung in Abhängigkeit von den interkulturellen
Vorerfahrungen der Teilnehmenden, der damit verbundenen
Teilnahmemotivation, ihrer kommunikativen Beteiligung am
Trainingsgeschehen sowie den im Training gewonnenen Ein12
sichten.
Mit diesen Ergebnissen bietet die hier vorgestellte Studie
neue Antworten bezüglich der anfangs herausgestellten Fra13
ge, wie interkulturelle Trainings wirken. Auch wenn es zur
Vertiefung der Ergebnisse noch eines erweiterten Korpus an
Trainings- und Interviewdaten bedarf, illustriert die Studie ein
innovatives Verfahren der Trainingsevaluation, indem sie die
jeweils spezifische Aussagekraft von zwei unterschiedlichen
Forschungsperspektiven miteinander vereint. Davon profitiert
insbesondere die Erfassung von Lernprozessen, aber auch
Transferleistungen können annäherungsweise ermittelt werden. Gleichwohl kann auch die Perspektiventriangulation das
prinzipielle Problem der Trainingsevaluation nicht vollständig
lösen, das sich aus der Komplexität und der zeitlichen Verzögerung von Trainingswirkungen ergibt (Ehnert 2007:447,
Arnold / Mayer 2010:556). Denn wie sich auch in der vorgestellten Studie gezeigt hat, hängen Transferleistungen nicht
zuletzt davon ab, inwiefern sich den Teilnehmenden im Anschluss an das Training überhaupt Gelegenheiten bieten, die
im Trainingsgeschehen entwickelten Interpretationsverfahren
und Handlungsansätze anzuwenden. Im Hinblick auf die Untersuchung der Evaluationsebene des Transfers besteht also
161
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Bosse: Perspektiventriangulation am Beispiel der Kombination von Gesprächs- und Inhaltsanalyse
die generelle Schwierigkeit, Transfermomente aufzuspüren
und eindeutig auf das Trainingsgeschehen zurückzuführen.
Überträgt man schließlich die am Beispiel der Trainingsevaluation aufgezeigten Möglichkeiten der Perspektiventriangulation auf interdisziplinäre Forschungsvorhaben im Allgemeinen,
mag zunächst der damit verbundene Mehraufwand ins Auge
fallen. In der Tat setzt die gleichberechtigte und konsequente
Anwendung unterschiedlicher Forschungsperspektiven eine
entsprechende Methodenexpertise voraus und ist mit einem
besonderen Zeitaufwand verbunden. Gleichwohl dürfte dies
durch den zusätzlichen Erkenntnisgewinn aufzuwiegen sein
und sich in einem mehrköpfigen Forschungsteam durchaus
bewältigen lassen. Dabei kann das Prinzip der Perspektiventriangulation den methodologischen Rahmen bieten, um
sich über Erkenntnispotentiale disziplinspezifischer Forschungsansätze zu verständigen, mögliche Berührungspunkte
aufzuspüren und diese für interdisziplinäre Zusammenarbeit
zu nutzen.
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1
Zu den genannten Modellen interkultureller Kompetenz siehe Bosse (2011:61ff.). Für eine weitergehende Begründung
der Trainingsziele siehe Bosse (2011:97ff.).
2
Für nähere Angaben zum didaktisch-methodischen Aufbau
des untersuchten Trainings siehe Bosse (2011:100ff.).
3
Während die Fragebogendaten von allen Teilnehmenden
vorliegen, wurden die Interviews nur mit 13 (Interview 1)
bzw. 11 (Interview 2) Teilnehmenden durchgeführt, da sie auf
Freiwilligkeit beruhten und von der zeitlichen Verfügbarkeit
der Teilnehmenden abhingen.
4
Die Transkriptkonventionen orientieren sich weitegehend
am „Gesprächsanalytischen Transkriptionssystem (GAT)“ von
Selting et al. (1998) und sind aufgeführt in Bosse (2011:466).
5
Entsprechende Belege am Transkript finden sich in Bosse
(2011:171-205).
6
Für die detaillierte Analyse der Kleingruppengespräche mit
Transkriptauszügen siehe Bosse (2011:208-263).
7
Die Transkription der Interviews orientiert sich an einer stark
vereinfachten Version der GAT-Konventionen (Bosse
2011:467).
8
Für eine detaillierte Analyse der Interviewäußerungen zu
dieser Trainingsphase siehe Bosse (2011:296-302).
9
Im untersuchten Training kamen neben dem filmischen und
narrativen Format auch kritische Interaktionssituationen in
Form von Simulationen zum Einsatz. Zu dieser Unterscheidung und dem didaktisch-methodischen Potential der einzelnen Formate siehe Bosse (2011:81-96).
10
Für den Hinweis auf die notwendige Hervorhebung von
Vergleichsmomenten danke ich Prof. Dr. Elias Jammal.
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Bosse: Perspektiventriangulation am Beispiel der Kombination von Gesprächs- und Inhaltsanalyse
11
Neben Parallelen zwischen den beiden Datensorten wie im
Fall von Paula, können natürlich auch gesprächs- und inhaltsanalytische Ergebnisse den Erkenntnisgewinn vergrößern, die
auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen. Siehe hierzu
insbesondere die für einzelne Teilnehmende erstellten Kompetenzprofile (Bosse 2011:372ff.).
12
Für eine detailliertere Zusammenfassung der Ergebnisse, die
auch das spezifische Potential der linguistisch basierten Trainingskonzeption genauer beleuchtet, siehe Bosse (2011,
414ff.).
13
Wie an anderer Stelle genauer ausgeführt, lassen sich daraus weitergehende Perspektiven für die Justierung des untersuchten Trainingskonzepts ableiten (Bosse 2011:386) sowie
allgemeine Qualitätsmerkmale für interkulturelles Training
formulieren (Bosse 2011:422ff.).
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Bosse: Perspektiventriangulation am Beispiel der Kombination von Gesprächs- und Inhaltsanalyse
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da Silva / Drawert: Zur linguistischen Analyse biografisch-narrativer Interviews: Die Innen- und
Außenperspektive internationaler Studierender am Beispiel von zwei aktuellen Forschungsprojekten
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[A
linguistic
analysis of autotion,
institution)
tion, institution)
biographical narrative interviews: The internal and external perspectives of international students using the example of two current research
projects]
Vasco da Silva
Dipl.-Wirtschafts-hispanist (FH),
wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Institut für Interkulturelle Kommunikation der Stiftung Universität Hildesheim.
Helena Drawert
M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Interkulturelle
Kommunikation der Stiftung Universität Hildesheim.
Abstract [English]
Students who study abroad either as a part of the curriculum
or as their main study period, make interesting research subjects not only in the context of the internationalization of
higher education, but also within the broader field of intercultural research. Although this group of students is easily
accessible to different research interests, there are – as we,
Helena Drawert and Vasco da Silva, will show in this article –
only a few qualitative studies on the interior and exterior
forms of academic residence abroad. Based on the thematic
focus of our research projects, the following paper will
demonstrate how the potential of this target group can be
used to analyse different phenomena and diverse questions
and problems within the field of intercultural research.
Keywords: Narrative interview, international students, discourse analysis, hermeneutics
Abstract [Deutsch]
Studierende, die entweder einen Teil oder das gesamte Studium an einer ausländischen Universität absolvieren, stellen
insbesondere im Kontext der Internationalisierung der Hochschulen, aber auch hinsichtlich der Erforschung von Interkulturalität generell, interessante Forschungssubjekte dar. Doch
obwohl diese Gruppe der Studierenden einen relativ einfachen Feldzugang ermöglicht, gibt es – wie wir, Helena Drawert und Vasco da Silva, in diesem Artikel zeigen werden –
nur recht wenige qualitative Studien zur äußeren und inneren
Gestalt von studentischen Auslandsaufenthalten. Anhand der
Themenschwerpunkte unserer derzeit laufenden Dissertationsprojekte soll im Folgenden dargelegt werden, wie die interkulturelle, qualitative Forschung das Potential dieser Zielgruppe nutzen kann, um unterschiedliche Phänomene zu untersuchen und diverse Frage- und Problemstellungen zu erörtern.
Stichworte: Narratives Interview, internationale Studierende,
Gesprächsanalyse, Hermeneutik
1.
Ausgangspunkt
Die zunehmende Internationalisierung deutscher Hochschulen
gewinnt immer mehr an gesellschaftlicher, bildungspolitischer, aber auch wirtschaftlicher Relevanz. Doch obwohl die
Prozesse der innereuropäischen und globalen Vernetzung
zwischen den Bildungseinrichtungen neue Perspektiven eröffnen, ergeben sich auch entsprechende Herausforderungen
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da Silva / Drawert: Zur linguistischen Analyse biografisch-narrativer Interviews: Die Innen- und
Außenperspektive internationaler Studierender am Beispiel von zwei aktuellen Forschungsprojekten
für Wissenschaft und Forschung. Insbesondere für die Hauptakteure, die in diesen Entwicklungsfortgang unmittelbar involviert sind, wird ein entsprechender Handlungsbedarf deutlich: So sind es die deutschen und internationalen Hochschulen auf der einen und die Studierenden selbst auf der anderen Seite, die maßgeblich zum Gelingen von Internationalisierungsprozessen beitragen.
Die Mobilität von Studierenden spielt dabei eine wichtige Rolle, schließlich gilt die Quote internationaler Studierender, zumindest von quantitativen Gesichtspunkten her betrachtet,
als ein zentraler Indikator für den Grad der Internationalität
der Hochschulen. Die wachsende Forderung nach Flexibilität,
Reisebereitschaft und Standortunabhängigkeit von Studierenden (beispielsweise hinsichtlich der allgemein geforderten
Auslandserfahrungen und Fremdsprachenkenntnisse oder
auch bezogen auf neue, international ausgerichtete Studiengänge) macht eine entsprechende Infrastruktur erforderlich.
Insbesondere angesichts der fast kontinuierlich gestiegenen
1
Zahlen internationaler Studierender sind Bildungseinrichtungen und Hochschulen gefragt, die Rahmenbedingung weiter
zu internationalisieren, Studienbedingungen im Sinne eines
gelingenden internationalen Austausches zu gestalten und /
oder geeignete Integrationsmaßnahmen für die so genannten
Incomings und Outgoings zu erarbeiten und nachhaltig umzusetzen. Langfristig wird eine höhere Mobilität und – damit
einhergehende – Internationalität jedoch nur durch eine nähere Betrachtung der sowohl vorübergehenden, als auch
dauerhaften Bedingungen und Folgen von Studierendenmobilität gelingen. Entsprechende Untersuchungen zur soziodemografischen Entwicklung und wirtschaftlichen Situation
von Studierenden im In- und Ausland, zur Studienmotivation
und den -bedingungen von Auslandsaufenthalten sind daher
unerlässlich. Eine Vielzahl an bereits existierenden Untersuchungen, z. B. bezüglich des Status Quo der Internationalisierung der Hochschulen und deren Einflussfaktoren, beruht
hauptsächlich auf quantitativen Daten. Als ein Beispiel seien
hier die Sozialerhebungen und weitere Publikationen des
Deutschen Studentenwerks gemeinsam mit dem HIS Hochschul-Informations-System (u. a. Deutsches Studentenwerk
2010a) und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) genannt, die anhand von Ergebnissen aus
schriftlichen Befragungen, Aufschluss über die soziale und
2
wirtschaftliche Lage internationaler Studierender geben. Die
sozioökonomische Herkunft und materielle Ausstattung von
ERASMUS-Studierenden, einige Gründe für ihren Auslandsaufenthalt sowie die kurz-, mittel- und langfristigen Erfolgschancen durch den Wechsel des Studienortes sind u. a. von
Bracht et al. (2006) untersucht worden. Im Gegensatz dazu
wurde die qualitative Seite der Internationalität und Studie-
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da Silva / Drawert: Zur linguistischen Analyse biografisch-narrativer Interviews: Die Innen- und
Außenperspektive internationaler Studierender am Beispiel von zwei aktuellen Forschungsprojekten
rendenmobilität an Hochschulen bisher jedoch noch nicht
ausreichend berücksichtigt. Im deutschsprachigen Raum sind
hierzu u. a. die Arbeiten von Budke (2003) oder Nothnagel
(2010) zu nennen, die ganz allgemein das Auslandssemester
als Untersuchungsgegenstand heranziehen und „Wahrnehmungs- und Handlungsmuster im Kulturkontakt“ (Budke
2003) von AustauschstudentInnen untersuchen.
Weitere hochschulspezifische Publikationen, die sich den jeweiligen subjektiven Erfahrungswelten von internationalen
Studierenden (und teilweise anderen Statusgruppen) exemplarisch anhand bestimmter Herkunftsgruppen gewidmet haben, sind bspw. die Arbeiten von Weidemann (2004), Hiller
(2007), Griese (2007), Farrokhzad (2007) oder Koller / Kokemohr / Richter (2006). Eine Untersuchung zur persönlichen
Situation lateinamerikanischer Studierender in Deutschland
gibt es von Alvarez (1991), die jedoch bereits über 20 Jahre
zurückliegt und auch methodisch und thematisch andere
Schwerpunkte verfolgt.
Bezug nehmend auf die oben skizzierte Forschungslage besteht unserer Ansicht nach die Notwendigkeit darin, auch die
subjektive Ebene von betroffenen Akteuren – hier: Studierenden – zu erfassen. In Erweiterung der quantitativen Studien
können insbesondere die persönlichen Sichtweisen und tiefer
liegenden Wissensbestände durch qualitative Arbeiten besser
erfasst werden. Gerade die persönlichen Erlebnisse sind für
Europa als politischer und gesellschaftlicher Entität aber auch
auf der Ebene der globalen Zusammenarbeit von größter Bedeutung. Die Erfahrungen der internationalen Studierenden
in den jeweiligen Gastländern stellen die Basis für das Geoder Misslingen und die Bewertung des Auslandsaufenthaltes
dar und können wichtige Erkenntnisse zur Verbesserung von
nachhaltigen Mobilisierungsprozessen liefern. Gleichzeitig
wird durch die subjektiven Erlebnisse der Betroffenen die Basis für die zukünftige Meinung und Einstellung gegenüber
dem Gastland und Europa gelegt. Neben sozioökonomischen
Faktoren sind dabei vor allem soziale Bindungen zum jeweiligen Gast- und Herkunftsland von entscheidender Wichtigkeit:
Neue Freundes- und Bekanntenkreise stellen für internationale Studierende Sicherheit und Vertrauen in der Fremde her
(Federico de la Rúa 2002:24), währenddessen der Kontakt
zum Heimatland Stabilität und Kontinuität bedeutet (vgl.
auch Berkenbusch / Fetscher 2011). Dies wird beispielsweise
auch ganz konkret an dem folgenden Transkriptausschnitt
deutlich (alle Interviewausschnitte wurden in Anlehnung an
das Transkriptionsverfahren GAT 2 nach Selting/ Auer et al.
2009 transkribiert). In dem Interview berichtete ein spanischer
ERASMUS-Student, der seinen Aufenthalt in Deutschland
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da Silva / Drawert: Zur linguistischen Analyse biografisch-narrativer Interviews: Die Innen- und
Außenperspektive internationaler Studierender am Beispiel von zwei aktuellen Forschungsprojekten
verbrachte, von den Freizeitaktivitäten mit seinen damaligen
internationalen Freunden:
y luego los viajes que hicimos pues (--)
und dann die Reisen, die wir machten, nun (--)
también unieron es que un viaje UNE [...]
die verbanden uns auch, es ist halt so, eine Reise VERBINDET [...]
pues te lo pases muy bien y encima:: con
ja, Du verbringst eine sehr gute Zeit und obendrein:: mit
gente con la que ya te lo estás pasando bien
Leuten, mit denen Du Dich schon gut
en ((ciudad de destino))’ (--) pues como el
in ((Zielstadt)) verstehst, (--) halt wie
doble de diversión [...] y el resultado es
doppelter Spaß [...] und das Resultat ist,
que ahora ya tengo a casi toda esta gente
dass ich jetzt immer noch fast alle diese Leute
la tengo en facebook y seguimo::s en contacto
in Facebook habe und wir im Kontakt blei::ben
(2.0) y una relación buena
(2.0) und eine gute Beziehung [haben]
Abb. 1: Auszug aus Interview E 002 (da Silva), Zeilen 498-506.
Der Interviewpartner reflektiert die von ihm erwähnte Gruppenkonstellation während seines Auslandsaufenthaltes und
zeigt, auf welche Weise u. a. eine neue, lokal konstruierte
Gemeinschaft entstehen kann, die – wie im Zitat angeführt –
selbst noch Jahre später aktiv ist.
Ein weiterer Transkriptausschnitt zeigt die sozialen Konstellationen eines Studenten aus einem lateinamerikanischen Herkunftsland während seiner Anfangszeit in Deutschland.
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da Silva / Drawert: Zur linguistischen Analyse biografisch-narrativer Interviews: Die Innen- und
Außenperspektive internationaler Studierender am Beispiel von zwei aktuellen Forschungsprojekten
Befragter 1: i=im in den ERSTEN tagen, (.) vom STUDIENkolleg,
habe ich diese=diese JUNGE kennengelernt, ne? (.) diese MAROKKANER? (-) achso DAS, (.) diese ((lacht)) (-) wir waren mit
diesen SCHWARZEN zusammen, diese von der (studienherberge). (.) achso und ER KENNTE diese marokkaner ne? und er hat
uns so VORGESTELLT (oder so); (---) ((räuspert sich)) na ja; (-)
und=äh? (--) ACHSO ja. und mit dem waren wir so am ANFANG so befreundet, weil IRgendwie s=waren wir in der GLEICHEN LAGE, weißt du?
Interviewerin: [<<zustimmend> hm=hm>]
Befragter 1: [
das i]st immer SO. mit den leuten mit
denen (.) du in der GLEICHEN lage bist, dann (-) findest du immer so (.) schnelle FREUNDschaft, oder so. ((räuspert sich))
Abb. 2: Auszug aus Interview: INT1-PERS1-TXT1-S1-46-Z1-1623 (Drawert),
Zeilen 381-389.
Anhand der Darstellung des Interviewten wird exemplarisch
deutlich, dass der Beginn des Auslandsaufenthaltes als besondere Herausforderung für internationale Studierende
wahrgenommen wird und Freundschaften bspw. auf der Basis einer gleichen Lage eingegangen werden. Diese Bekanntschaften sorgen scheinbar dann für ein sicheres und vertrautes Gefühl, wenn die befreundeten Personen ebenso fremd
sind wie man selbst, sei es aufgrund der Nationalität oder der
Hautfarbe.
Anhand beider Transkriptionsausschnitte wird deutlich, dass
in solchen communities of practice bzw. Schicksalsgemeinschaften von internationalen Studierenden im Ausland, individuelle Erfahrungen in einem geteilten Prozess des Lernens
und der Wissensaneignung konvergieren. Beispielsweise werden Nationalitäts- und Identifikationsprozesse durch die persönlichen Erlebnisse der Studierenden verändert bzw. neu
ausgehandelt (Federico de la Rúa 2002). So wird dem Diskurs
über das Gast- und Heimatland (aber oft auch weiterer Länder) ein neuer Sinn und Bedeutung verliehen.
Aus sozio-linguistischer Forschungsperspektive besteht das
primäre Erkenntnisinteresse nun darin, die Gestalt und Bedeutung der in ein internationales Umfeld eingebetteten sozialen Interaktionen zu ergründen. Auf der Basis eines retrospektiv orientierten Erhebungsinstruments, dem narrativen
Interview, und einer rekonstruktiv-hermeneutischen Analyse
gilt zu untersuchen, was die Studierenden während ihres
Auslandsstudiums erlebten und vor allem, wie sie jene Erfahrungen aus heutiger Sicht wahrnehmen und ihnen Bedeu-
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da Silva / Drawert: Zur linguistischen Analyse biografisch-narrativer Interviews: Die Innen- und
Außenperspektive internationaler Studierender am Beispiel von zwei aktuellen Forschungsprojekten
tung beimessen, um z. B. persönliche Entwicklungsprozesse
nachzeichnen zu können.
2.
2.1
Vorstellung der Dissertationsprojekte
Themenstellung
Die hier vorgestellten, aktuell laufenden Dissertationsprojekte
fassen zwei unterschiedliche Formen des internationalen Studiums ins Auge, wie bereits die oben angeführten Transkriptausschnitte angedeutet haben: Mittels narrativer Interviews
(Schütze 1987) rücken einerseits nichteuropäische Vollzeitstudierende an deutschen Hochschulen und andererseits
ERASMUS-Studierende in den Mittelpunkt der Forschung.
Das Promotionsprojekt von Helena Drawert nimmt die soge3
nannten Bildungsausländer in den Blick und konzentriert sich
dabei auf Vollzeitstudierende aus verschiedenen spanischsprachigen Ländern Lateinamerikas, die seit mindestens einem Jahr in Deutschland studieren und leben. Es soll ergründet werden, was passiert, wenn diese jungen Menschen ihren
Herkunftskontext zu Studienzwecken verlassen und versuchen, sich in ihrer neuen Umgebung zurechtzufinden. Die
Narration der befragten Studierenden und deren Sprechen
über Desorientierung innerhalb des studentischen Umfelds
und weiterer Lebensbereiche, aber auch über positive Erlebnisse des sich Zurechtfindens und Zugehörigkeitserfahrungen
sind dabei von Interesse.
Vasco da Silva beschäftigt sich in seinem Dissertationsprojekt
mit den Erzählverfahren und Erzählstrategien, die Interviewte
anwenden, wenn sie über das Thema Liebe – und damit über
Emotionen generell – sprechen. Er wählte sich dazu das bisher noch als Desiderat geltende Thema der so genannten
ERASMUS-Liebe aus. Deutsche und spanische Studierende,
welche jeweils ein Jahr in Spanien bzw. in Deutschland studierten und vor Ort eine Liebesbeziehung mit einer / m Gastkulturanhörigen eingegangen sind, erzählen aus ihrem
ERASMUS-Jahr.
Beide Projekte analysieren neben den subjektiven Erfahrungen und den in der Narration stattfindenden Sinngebungsprozessen die jeweiligen Erzählverfahren und -strategien der
Interviewten und gehen damit über die bloße Wiedergabe
der inhaltlichen Aspekte hinaus. Entscheidend ist, dass durch
die Konzentration auf die sprachliche Oberfläche in Verbindung mit der kommunikativen Tiefenstruktur herausgearbeitet werden kann, wie die Informantinnen und Informanten
ihren Erlebnissen Sinn verleihen (u. a. Soeffner 2004) – und
dadurch Erfahrungen überhaupt erst generieren. So ist es bei-
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da Silva / Drawert: Zur linguistischen Analyse biografisch-narrativer Interviews: Die Innen- und
Außenperspektive internationaler Studierender am Beispiel von zwei aktuellen Forschungsprojekten
spielsweise auch möglich, Erkenntnisse über die konkret verbalisierten Inhalte hinaus zu gewinnen und so einen Zugang
zu den subjektiven Befindlichkeiten und Erlebnissen der Betroffenen zu erhalten, z. B. in Bezug auf die sprachliche Darstellung und Konstruktion von Fremdheit und Zugehörigkeit
von lateinamerikanischen Vollzeitstudierenden oder die verbalisierten Emotionen beim Sprechen über Liebe zwischen
deutschen und spanischen Partnerinnen und Partnern.
2.2
Methodischer Zugang
Nachdem die Interviews gesprächsanalytisch transkribiert
wurden, werden sie einer rekonstruktiven Analyse unterzogen. Ein wichtiger Aspekt ist dabei, stets auch den „Beziehungsraum“ (Tietel 2000) zwischen den Interviewten und
den Interviewern in die Analyse mit einzubeziehen. Die Interaktionsebene spielt – gerade weil wir es im narrativen Interview mit einer vermeintlichen monologischen Redeweise zu
4
tun haben – eine entscheidende Rolle für die Generierung
der Daten. Vor allem aber die Art und Weise, wie Interviewte
ihre Erfahrungen darstellen und welche syntaktischen und
morphologischen Mittel sie dabei einsetzen, eröffnet die
oben angesprochene erweiterte Analysemöglichkeit, die weit
über die bloße Inhaltszusammenfassung und Faktenwiedergabe hinausgeht. Dieses Analysevorgehen der Verknüpfung
der Ebenen Inhalt, Interaktion und – allgemein gesagt –
sprachliche Gestaltung folgt den Auswertungsschritten von
5
Hausendorf / Quasthoff (2005) und Kruse / Biesel / Schmieder (2011). Durch die Rekonstruktion können latente Sinngebungen, Einflussfaktoren auf damalige Reaktionen und Handlungsweisen und etwaige Veränderungen der Studierenden
dargestellt werden.
Als Ziel der Analyse beider Arbeiten wird daher formuliert,
dass neben den inhaltlichen Aspekten auf der sprachlichen
Oberfläche die subjektiven Erfahrungen und die in der Narration stattfindenden Sinngebungsprozesse der kommunikativen Tiefenstruktur analysiert werden. Durch die Verbindung
beider Ebenen kann die interkulturelle Forschung Erkenntnisse über den Verlauf eines Auslandsaufenthaltes und die die
Studierenden beeinflussenden Kontextfaktoren aus der Sicht
der Betroffenen erlangen. Denn schlussendlich sind Daten,
die einen persönlichen, d. h. biografischen Erfahrungsprozess
beinhalten, ein „Produkt der objektiven und der subjektiven
Seite eines Lebenslaufes“ (Rehbein 1982:51).
2.3
Erste, grundlegende Ergebnisse
Eine erste Grobanalyse der Materialien beider Projekte ergab,
dass sich die Auslandsaufenthalte – erwartungsgemäß – stark
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da Silva / Drawert: Zur linguistischen Analyse biografisch-narrativer Interviews: Die Innen- und
Außenperspektive internationaler Studierender am Beispiel von zwei aktuellen Forschungsprojekten
an der Zeitlichkeit orientieren. Unterschiede ergeben sich in
Abhängigkeit der jeweils unterschiedlichen Formate von
ERASMUS-Aufenthalten und der längerfristigen Aufenthalte
von Vollzeitstudierenden: Nach der Ankunft im Zielland suchen sich die Studierenden ihre Wohnung, kämpfen mit anfänglichen Sprachschwierigkeiten, welche sich zumeist durch
einführende Sprachkurse etwas legen. Der Start in den Studienalltag ist geprägt von organisatorischen oder strukturellen Schwierigkeiten, z. B. der Stundenplangestaltung und
dem allmählichen Einfinden in die Alltagsroutinen und das
fremde Hochschulsystem – stets verbunden mit der Etablierung eines neuen Freundeskreises (siehe dazu auch die Transkriptauszüge in Kapitel 1). Der Winter und die Weihnachtszeit stellen häufig eine emotional intensive Zeit dar; die Prüfungen am Ende des ersten Semesters des Auslandsaufenthaltes sind für viele eine große Herausforderung und markieren zugleich den Eintritt in die zweite Hälfte des ERASMUSJahres bzw. eine weitere Phase des Auslandsstudiums. Diese
ist – vor allem durch den Sommer bedingt – geprägt von Reisen und Freizeitaktivitäten und der Festigung von vorher noch
vagen Bekanntschaften oder neuen Begegnungen, aber auch
der Neuorientierung und -bewertung all dieser Aktivitäten.
Die Erzählung des Abschlusses eines Abschnittes oder des
gesamten Auslandsjahres geht häufig mit einer retrospektiven
Gesamtbewertung und Aktualisierung der vorher dargestellten Sichtweisen einher, bspw. bezogen auf die subjektiv
wahrgenommenen Veränderungen hinsichtlich der eigenen
Person. In dem folgenden Interviewauszug wird der chronologische Ablauf des Auslandsaufenthalts grob von einem lateinamerikanischen Studenten umrissen. Diese Darstellung
wird mit einem persönlichen Situations- und Entwicklungsbericht und einer Bewertung der eigenen Gefühlslage während
der ersten Monate des Aufenthalts fundiert.
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da Silva / Drawert: Zur linguistischen Analyse biografisch-narrativer Interviews: Die Innen- und
Außenperspektive internationaler Studierender am Beispiel von zwei aktuellen Forschungsprojekten
Befragter 3: […] also am anfang war so (3 sekunden) also in
dem ZWEIten MOnat vielleicht, (-) war ich so: (-) es war halt n
bisschen SCHWE:R. (.) so auch. (.) es war anfang des WINters,
(-) u:nd (-) na ja man=man fühlt sich alLEINE. (-) u:nd (.) ist so
kalt ne? meine tante hat die ganze zeit geARbeitet. (.) war sehr
oft alleine zuHAUSE? (-) u::nd Ä:hm (3 sekunden) ja, also ich (.)
ich hab versucht irgendwi::e auf die stra:ße zu ko:mmen, irgendwa:s zu se:hen. (.) ich bin ÜBERall geFAHREN, (-) also ich
so. (.) also ich war glaube ich so bei AUStellungen, (.) und so
was. (.) also ich hab so die zeit halt so geTRIEben, (.) so. (--)
u::nd. (--) auf=eh=das geFÜHL, ist? (.) also es WA:R, (.) also in
diesen DREI monaten, drei erste monate, also (-) war es so geMISCHT ne?
Interviewerin: <<zustimmend> hm=hm>
Befragter 3: ich ha:b (.) also GU:te, gute, (.) gute moMENte
gehabt? (.) aber ich hab so, (.) auch war auch ab und zu mal
TRAUrig, ne?
Interviewerin: <<zustimmend> hm=hm>
Befragter 3: und da.nn als ich ■ (Name einer Freundin) und ■
(Name einer Freundin) kennen gelernt habe wa:r, (.) war so, (.)
also EIN (.) so wie (--) was GANZ anderes, ne? (.) zu erleben.[…]
Abb. 3: Auszug aus Interview: INT3-PERS3-TXT3-S1-28-Z1-955 (Drawert),
Zeilen 496-510.
Die hier beispielhaft dargelegte zeitliche Verlaufsform der Ereignisse, in der die Akteurinnen und Akteure gezwungen waren zu handeln, war eingebettet in sehr komplexe institutionelle wie auch persönliche Prozesse, die größtenteils neu oder
zumindest anders als im Herkunftsland waren. Zu dieser groben zeitlichen Verlaufsstruktur, welche wie erwähnt, in den
meisten Interviewerzählungen Parallelen aufweist, kommt
nun bei Vasco da Silva die Besonderheit der Liebesbeziehung
ins Spiel: Die Interviewten integrieren in diesen Gesamtablauf
ihre Beziehung zu einer / m Gastkulturangehörigen. Neben
der rein inhaltlichen Wiedergabe sind, ähnlich wie im oben
gezeigten Beispiel, die persönlichen Einschätzungen des Befragten von Interesse. So berichtet ein deutscher Student, der
in Spanien seine Freundin kennengelernt hatte:
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da Silva / Drawert: Zur linguistischen Analyse biografisch-narrativer Interviews: Die Innen- und
Außenperspektive internationaler Studierender am Beispiel von zwei aktuellen Forschungsprojekten
aber das weiß ich retrospektiv kann ich das alles einordnen damals war das irgendwie am anfang natürlich irgendwie alles spannend und sie war ne projektionsfläche
ich war in nem anderen land das war die frau aus (.)
weißte aus der kultur? […] eben und irgendwie (--) wenn
man sowieso sich für so kosmopolitisch hält dann findets
man natürlich megatoll wenn da noch ne frau ist mit der
man da irgendwie noch viel (---) n viel eleganteren einstieg in diese kultur da findet […]
Abb. 4: Auszug aus Interview D 002 (da Silva), Zeilen 403-407.
Der Interviewte kündigt seine Ausführungen als retrospektive
Bewertung an. Daran anknüpfend erläutert er den Grund für
die Beziehung zu der spanischen Freundin: Nach der anfänglichen Entpersonalisierung der Freundin, indem er sie als
„Projektionsfläche“ einer anderen Kultur beschreibt, führt ihn
sein kosmopolitisches Selbstbild, wie er es bezeichnet, quasi
direkt zu der Beziehung. Auf diese Weise kulturalisiert er die
sich anbahnende Beziehung und ordnet sein Verhalten retrospektiv monokausal dieser Eigenschaft unter. Gleichzeitig
bewertet er hyperbolisch und beinah selbstverständlich („findets man natürlich megatoll“) die Beziehung positiv, da er
auf diese Weise einen Zugang zur Gastkultur erhielt.
Für die Forschung interessant sind dabei die Kategorisierungsund Bewertungsprozesse, die sprachlich übermittelt werden
und gleichzeitig auf die Handlungsabfolge während des Auslandsaufenthaltes schließen lassen. Durch die Verknüpfung
von sprachlicher Oberfläche und kommunikativer Tiefenstruktur können Einflussfaktoren auf damalige Reaktionen und
Handlungsweisen sowie etwaige, subjektiv wahrgenommene
und sprachlich wiedergegebene Veränderungen und Bewertungen der Studierenden rekonstruiert werden.
3.
Ausblick
Die hier dargestellten ersten Ergebnisse geben Hinweise darauf, welchen Fragen noch vertieft nachgegangen werden
kann. In der Summe tragen beide Projekte zur weiteren Vervollständigung des Bildes von internationalen Studierenden
und Internationalität an Hochschulen bei. Durch die starke
Emphase auf den kommunikativen Vorgang des Erzählens,
erhoffen wir uns – Helena Drawert und Vasco da Silva – soziolinguistische Kenntnisse über authentische Erfahrungen zu
erlangen. Die offene Erhebungsart und die integrative Aus-
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da Silva / Drawert: Zur linguistischen Analyse biografisch-narrativer Interviews: Die Innen- und
Außenperspektive internationaler Studierender am Beispiel von zwei aktuellen Forschungsprojekten
wertung bereichern die interkulturelle Forschung durch eine
Extraktion von vielschichtigen und vor allem subjektiven Informationen über komplexe Prozesse innerhalb eines internationalen Umfelds. Die Durchführung und Auswertung einer
qualitativen Studie zur Erforschung von internationalen Studierenden ist von Bedeutung, um dadurch gezielt auf das
Subjektive eines Auslandsaufenthaltes abzuheben. Darüber
hinaus ist eine sprachwissenschaftliche Akzentsetzung vonnöten, weil nur – wie oben gezeigt – über die kommunikativ
konstruierten Sachverhalte und die darin befindlichen latenten Sinnstrukturen auf die inhaltlichen Aspekte umfassend
zugegriffen werden kann.
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Weidemann, D. (2004): Interkulturelles Lernen. Erfahrungen mit dem chinesischen "Gesicht": Deutsche in Taiwan. Bielefeld: transcript.
1
Die Zahl der deutschen ERASMUS-Outgoings stieg im Jahr
2009 / 10 auf einen neuen Höchststand von 24.029 Studierenden an (DAAD 2011:28). Ebenso stieg im Jahr 2010 die
Zahl der BildungsausländerInnen an deutschen Hochschulen
wieder auf rd. 181.000 an, nachdem sie zwischen 2006 und
2008 etwas gesunken war (Deutsches Studentenwerk
2010b:10f.).
Siehe diverse Online-Publikationen zu Studierendenmobilität
und Internationalisierung auf den Homepages der genannten
Institutionen (u. a. Deutsches Studentenwerk 2010a).
2
Nach Angaben der aktuellen Bildungsberichterstattung
(2010:124) sind Bildungsausländer jene „Personen mit im
Ausland erworbener Studienberechtigung, die zum Studium
nach Deutschland kommen“. Dazu zählen laut der 19. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks (2010a:501) auch
„ausländische Studierende, die ihre Hochschulzugangsberechtigung durch Feststellungsprüfung am Studienkolleg oder
durch Eignungsprüfung an einer hiesigen Hochschule erworben haben“.
3
Der scheinbare Monolog wird durch zahlreiche interaktive
Elemente zu Gunsten eines reduzierten Dialogs aufgehoben.
Verbale und nonverbale Rückmeldesignale sowie metakommunikative Einheiten wirken auf die Erzählgestaltung der Interviewten (siehe u. a. König 2010). Aus diesem Grund sprechen wir hier von einer quasimonologischen Erzählweise.
4
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da Silva / Drawert: Zur linguistischen Analyse biografisch-narrativer Interviews: Die Innen- und
Außenperspektive internationaler Studierender am Beispiel von zwei aktuellen Forschungsprojekten
Hausendorf / Quasthoff entwickelten dieses Modell bereits
in den 80er Jahren für Erzählungen, die in Gespräche eingebettet sind, dem sog. konversationellen Erzählen (aktualisiert
Quasthoff 2001). In den hier vorgestellten Projekten wird das
Modell grundlegend auf Narrative Interviews angewandt.
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Hofinger / Jungnickel / Zinke / Künzer: Interprofessionelle Zusammenarbeit in Integrierten Leitstellen
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Hofinger,
tion,
institution)
tion, institution)
Künzer und Robert Zinke
Dr. Gesine Hofinger, Dipl.-Psych.
Laura Künzer und Robert Zinke,
MA, sind wissenschaftliche Mitarbeiter im Rahmen des Drittmittelprojektes OrGaMIRPLUS an der
Friedrich-Schiller-Universität Jena,
Fachgebiet Interkulturelle Wirtschaftskommunikation / Professur
für Interkulturelle Kommunikation.
Abstract [English]
Fusions of different organisations in order to form new teams
require a number of changes and adaptation processes. This
study deals with relevant factors that foster or obstruct effective teamwork in integrated control centres. The type of interprofessional teamwork needed among members of different
organisational origins is understood as intercultural teamwork.
For this study two integrated control centres in southern
Germany were investigated. Establishing good teamwork
among fire-fighters and medical and rescue-services is essential for a successful incident management. For the empirical
analysis a triangulation of qualitative and quantitative data
was chosen.
Keywords: Culture and profession, teamwork, integrated
control centres
Verena Jungnickel
Abstract [Deutsch]
Dipl.-Psych. Verena Jungnickel ist
derzeit bei der Lufthansa beschäftigt.
Die Fusion von Mitgliedern verschiedener Organisationen zu
einem Team erfordert zahlreiche Veränderungs- und Anpassungsprozesse. Die vorliegende Studie untersucht, welche
Faktoren die interprofessionelle, als interkulturell betrachtete,
Teamarbeit von Mitgliedern unterschiedlicher Ursprungsorganisationen in Integrierten Leitstellen fördern oder hemmen
können. Betrachtet wurden zwei süddeutsche Integrierte Leitstellen, die unterschiedlich lange bestanden. Die Entwicklung
eines kooperierenden Teams aus Feuerwehr- und Rettungsdienstmitarbeitern ist dabei eine wichtige Erfolgsgröße. Die
empirischen Analysen nutzten die Methodentriangulation aus
qualitativen und quantitativen Verfahren.
Stichwörter: Professionskultur, Teamarbeit, Integrierte Leitstellen
1.
Interprofessionelle Zusammenarbeit in Integrierten
Leitstellen
Im vorliegenden Beitrag wird exemplarisch dargestellt, wie
sich die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen HerkunftsOrganisationen auf die Zusammenarbeit auf Ebene der Mitglieder einer neuen, gemeinsamen Organisation auswirkt.
Dabei werden Individuen als Teile von Gruppen betrachtet,
die eingebettet in den Rahmen der Organisation unterschiedliche Professionskulturen vertreten. Dem liegt die Annahme
zu Grunde, dass die tertiäre Sozialisation im Rahmen einer
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Hofinger / Jungnickel / Künzer / Zinke: Interprofessionelle Zusammenarbeit in Integrierten Leitstellen
bestimmten Profession bzw. innerhalb einer Organisation die
Normalität in Abhängigkeit der jeweiligen Zugehörigkeit von
Individuen zu einem Kollektiv einer Organisation bestimmen
(Hansen 2009). Wenn Angehörige unterschiedlicher Organisationen zu einem gemeinsamen neuen Kollektiv zusammenwachsen sollen, wie im untersuchten Fall Integrierter
Leitstellen (ILS), treffen zunächst partiell divergierende individuelle Verständnisse professionellen Handelns aufeinander.
Auch im vorliegenden Fall etablierte sich in dieser interkulturellen Kontaktsituation erst langsam eine geteilte Normalität
(Bolten 2007).
In Leitstellen werden Rettungsmaßnahmen angefordert, initiiert und koordiniert. In Deutschland existieren zahlreiche unterschiedliche Leitstellenformen. ILS haben sich in Deutschland innerhalb der vergangenen Jahre als häufigste Leitstellenform der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr etabliert
(Bandlow-Hoyer 2010). Das Personal von ILS muss über weitreichende Kenntnisse in den Tätigkeitsbereichen Rettungsdienst, Brandschutz, Hilfeleistung und Katastrophenschutz
verfügen. Die Qualifikationsanforderungen für Leitstellendisponenten ergeben sich aus den Rettungsdienst- und Feuerwehrgesetzen der Bundesländer und unterscheiden sich
daher (Hackstein 2010).
Im süddeutschen Raum, in dem Feuerwehr und Rettungsdienst die Koordination der Einsätze oft noch separat durchführten, sind ILS seit 2009 gesetzlich vorgeschrieben. Der
Umsetzungsprozess ist derzeit noch nicht abgeschlossen. Die
Fusion der beiden Organisationen Feuerwehr und Rettungsdienst zu einer ILS-Organisation erfordert zahlreiche Veränderungs- und Anpassungsprozesse. Dabei werden organisationskulturelle Aspekte häufig nur am Rande berücksichtigt.
Die Entwicklung eines nahtlos kooperierenden Teams aus
Feuerwehr- und Rettungsdienstmitarbeitern wird nur selten
explizit adressiert.
Organisationskultur beeinflusst das Handeln der Organisationsmitglieder durch die Vorgabe eines Handlungsrahmens;
interkulturelle Teams aus unterschiedlichen Organisationen
arbeiten demnach auf Basis einer (eigenen) emergenten neuen Organisationskultur zusammen. Untersucht wurde in der
hier vorgestellten Studie, inwiefern sich die Organisationskulturen von Feuerwehr und Rettungsdienst unterscheiden und
wie sich durch Bildung einer ILS eine gemeinsame Organisationskultur für diese entwickeln kann.
Eine Auseinandersetzung mit den Themen ILS in Deutschland
und Organisationskulturen bei Feuerwehr und Rettungsdienst
ist in der Literatur bislang nur sehr vereinzelt zu finden.
Grundlage der theoretischen Überlegungen, welche auch in
den Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben
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Hofinger / Jungnickel / Zinke / Künzer: Interprofessionelle Zusammenarbeit in Integrierten Leitstellen
(u. a. Feuerwehr und Rettungsdienst) geläufig ist, ist das Organisationskulturmodell von Schein (z. B. 1995), das Organisationskultur als Muster gemeinsamer Grundprämissen betrachtet, welches sich bewährt hat und somit als bindend gilt.
Kultur äußert sich nach diesem Modell in beobachtbaren Artefakten, Werten und Einstellungen. Kritische Faktoren interorganisationaler Kooperation wurden von Hofinger (2009)
beschrieben, in ihren Auswirkungen für die Zusammenarbeit
vor Ort und auf Ebene von Stäben konkretisiert (Zinke et al.
2010) und weiter spezifiziert auf Basis eigener Beobachtungen bei gemeinsamen Übungen für die Randbedingungen
besonders großer Schadenslagen (Hofinger et al. 2011). Zudem wurden Ansätze zur Bildung von Hochleistungsteams
herangezogen (z. B. Weick 2002, Pawlowski / Mistele 2008),
um auf Grundlage der Studienergebnisse Interventionsstrategien für die Teambildung in den ILS entwickeln zu können.
Die hier vorgestellte Studie in zwei süddeutschen ILS geht der
Frage nach, welche Faktoren die interprofessionelle – als interkulturell verstandene – Teamarbeit in Integrierten Leitstellen fördern oder hemmen können und wie diese Teamarbeit
zu verbessern ist. Ausgangspunkt war die Wahrnehmung von
Problemen der interprofessionellen Teamarbeit seitens einiger
Führungskräfte. Im Rahmen der Studie wurde untersucht,
inwiefern sich die Herkunftskulturen der beiden Organisationen in der Wahrnehmung der Mitglieder der ILS unterschieden. Die Arbeitshypothese war, dass der unterschiedliche professions- bzw. organisationskulturelle Hintergrund der
Teammitglieder eine Rolle für die Teamarbeit spielen könnte.
Betrachtet wurden zwei süddeutsche ILS, die unterschiedlich
lange bestanden. Die empirischen Analysen nutzten die Methodentriangulation mit qualitativen und quantitativen Verfahren der Beobachtung, der Experteninterviews und der Fragebogenerhebung. Die nicht-teilnehmende, offene Beobachtung erfolgte als Feldstudie an drei Beobachtungstagen. Aus
den gewonnenen Erkenntnissen bezüglich Kommunikation,
Teamarbeit, Führung und Atmosphäre wurde, gemeinsam
mit Erkenntnissen aus einer Literaturrecherche, ein Interviewleitfaden für die Experteninterviews entwickelt. In 35 qualitativ und quantitativ ausgewerteten Experteninterviews wurden
Mitarbeiter der ILS zu den Themen Organisationskultur, Kulturanalyse und Teamarbeit befragt. Zusätzlich wurden in einer Fragebogenerhebung quantitative Daten bezüglich Werteeinschätzung mit 42 Mitarbeitern aus beiden ILS (23 aus
der Feuerwehr und 19 aus dem Rettungsdienst) erhoben.
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Hofinger / Jungnickel / Künzer / Zinke: Interprofessionelle Zusammenarbeit in Integrierten Leitstellen
2.
Datenauswertung und Interpretation der interprofessionellen Zusammenarbeit in der ILS
Es wurden zunächst die Organisationskulturen der Herkunftsorganisationen Feuerwehr und Rettungsdienst aus Sicht der
Mitglieder der ILS betrachtet. Im zweiten Schritt wurde nach
der Herausbildung sowie Elementen einer spezifischen ILSKultur gefragt.
Die Ergebnisse aller Methoden zeigen nur wenige, aber deutliche Unterschiede in den Organisationskulturen von Feuerwehr und Rettungsdienst. Signifikante Unterschiede zeigten
sich z. B. in den Fragebögen auf Ebene der Werte und Einstellungen, bei der Beurteilung der Wichtigkeit von „Kameradschaft“, „Kritikfähigkeit“, „Anerkennen von Hierarchie“ und
„Zufriedenheit der Bürger“. Große Übereinstimmung fand
sich bezüglich der Bewertung von Teamarbeit. Auf Ebenen
der Artefakte lassen sich Unterschiede (z. B. Teilnahme an
gemeinsamen Aktivitäten außerhalb der Dienstzeit) und Gemeinsamkeiten (Bewertungen von gemeinsamen Logos etc.)
finden. Grundannahmen wurden in den Interviews über
spontane Satzergänzungen erhoben; hier zeigen sich in den
qualitativen Auswertungen Unterschiede, z. B. bezüglich der
Akzeptanz von Regelabweichungen, von Hierarchien, oder
der Abhängigkeit von bzw. des Vertrauens in die Unterstützung durch Kollegen in Gefahrensituationen. In Bezug auf die
Ausbildung einer gemeinsamen ILS-Kultur zum Zeitpunkt der
Studie zeigte sich, dass der Aushandlungsprozess über die
neue Wertigkeit dieser Elemente noch nicht abgeschlossen
war.
Für Normalitätserwartungen der gemeinsam arbeitenden Individuen bedeutet dies, in Abhängigkeit von ihrer Professionskultur, Abweichungen zwischen den unterschiedlichen
Kollektiven, die im Team der ILS vertreten sind. Neben diesen
und anderen organisationskulturellen Hintergründen beeinflussen zudem strukturelle Probleme – etwa die Ungleichbehandlung der Mitarbeiter (Urlaub, Entlohnung) je nach Herkunftsorganisation, teils auch Führungsschwächen – den
Teambildungsprozess innerhalb der untersuchten ILS.
Zu allen Bereichen wurden Interventionsvorschläge erarbeitet.
Bereits im Untersuchungszeitraum zeichneten sich individuelle
Strategien des Umgangs mit Unterschieden ab, darunter bewusstes Ignorieren, Egalisieren oder deutliches Ansprechen
von Unterschieden und Problemen. Identifizierte Unterschiede
wurden in ersten gemeinsamen Gesprächen untereinander
diskutiert und Lösungsvorschläge erarbeitet. Von einer ILS
wurde z. B. ein gemeinsames Logo erstellt, das vertraute
Symbolik aus beiden Professionskulturen aufgreift, es wurden
gemeinsame soziale Aktionen durchgeführt und Regularien
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Hofinger / Jungnickel / Zinke / Künzer: Interprofessionelle Zusammenarbeit in Integrierten Leitstellen
überarbeitet. Währenddessen dauert die Etablierung einer
gemeinsamen Normalität (ILS-Kultur) mit entsprechenden
Handlungsroutinen und einem Selbstverständnis als Team
bzw. Kollektiv von ILS-Mitarbeitern noch an.
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Hofinger / Jungnickel / Künzer / Zinke: Interprofessionelle Zusammenarbeit in Integrierten Leitstellen
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Waibel: Interkulturelle Online-Communities im Hochschulbereich: Konzept für ein deutschpolnisches Hochschulnetzwerk
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German-Polish university
network]
Isabella Waibel
Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Interkulturelle
Kommunikation an der Universität München.
Abstract [English]
This paper is based on the ongoing discussion about the inter- and transnationalisation of universities (c. f. Hartmann
2011, Hahn 2004, Kehm 2003) and the demand for mobility
and international exchange in the university sector.
As a result of the profound internationalisation processes taking place, universities now consider “strategic management
of international activities” (Leszczensky / Barthelmes 2011:6)
to be essential. Universities are carefully selecting partner universities for cooperation and exchange projects and for the
“development of networks at various levels” (ibid.). Consequently, the number of virtual communities in the field of tertiary education is constantly on the rise – although largely
focusing on promoting partnerships between western European universities.
This article presents a concept for a German-Polish university
network developed within the scope of a cooperation between the Institute for Intercultural Communication at Munich’s Ludwig-Maximilians-University and the Intercultural
Communication department (Institute for Applied Linguistics)
at the Adam-Mickiewicz-University (AMU) Poznań / Poland,
as well as a joint research project.
Keywords: German-Polish university partnership, Internationalisation, university networks, intercultural communities
Abstract [Deutsch]
Die gegenwärtige Diskussion um Inter- und Transnationalisierung der Hochschulen (vgl. dazu u. a. Hartmann 2011, Hahn
2004, Kehm 2003) sowie die Forderung nach Mobilität und
internationalem Austausch im Hochschulbereich bilden den
Hintergrund des Beitrags.
Infolge der tief greifenden Internationalisierungsprozesse wird
„strategisches Management internationaler Aktivitäten“ (Leszczensky / Barthelmes 2011:6) an den Hochschulen als unentbehrlich erachtet. In diesem Zusammenhang wird u. a.
eine gezielte Auswahl von Partnerhochschulen für Kooperations- und Austauschprojekte sowie der „Auf- und Ausbau von
Netzwerken auf den verschiedenen Ebenen“ (ebd.) seitens
der Hochschulen praktiziert. Im Zuge dieser Entwicklung
steigt stetig die Anzahl der Online-Communities im Hochschulbereich – allerdings größtenteils auf die Förderung der
Partnerschaften zwischen westeuropäischen Hochschulen
ausgerichtet.
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Waibel: Interkulturelle Online-Communities im Hochschulbereich: Konzept für ein deutschpolnisches Hochschulnetzwerk
Im Folgenden soll das im Rahmen einer Hochschulkooperation zwischen dem Institut für Interkulturelle Kommunikation
an der Ludwig-Maximilians-Universität München und dem
Lehrstuhl für Interkulturelle Kommunikation (Institut für Angewandte Linguistik) an der Adam-Mickiewicz-Universität
(AMU) Poznań / Polen entwickelte Konzept für ein deutschpolnisches Hochschulnetzwerk vorgestellt werden.
Stichworte: Deutsch-polnische Hochschulpartnerschaft, Internationalisierung, Hochschulnetzwerke, interkulturelle Communities
1.
Einleitung
Viele Hochschulen haben in den letzten Jahren die Potenziale
und den Nutzen von onlinebasierten Communities und Netzwerken im Sinne einer grenzüberschreitenden Kommunikationsmöglichkeit erkannt – insbesondere für wissenschaftlichen
Austausch und Kooperationen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene. Mit dem Schlagwort des Web 2.0 bzw.
Social Web wird eine neue onlinebasierte Kommunikationskultur benannt, die den Nutzern nicht nur das Rezipieren,
sondern auch die Mitgestaltung von Inhalten innerhalb webbasierter Plattformen ermöglicht, welche wiederum von anderen Nutzern bewertet oder kommentiert werden können. 1
In diesem Zusammenhang wächst auch die Zahl der Scientific-Communities, die größtenteils mittels eigener (Online-)
Netzwerke und Medien – zu denen neuerdings auch die wissenschaftlichen Mailinglisten gehören – am internationalen
Wissenschaftsbetrieb teilnehmen.
Gegenstand des vorliegenden Beitrages ist vor diesem Hintergrund die Frage, welche Möglichkeiten internationale OnlineNetzwerke und Online-Communities für den Wissenschaftsbetrieb bieten.
2.
Theoretischer Hintergrund
Mit dem Begriff der Online-Community wird eine (Netz-)
Gemeinschaft definiert, die mittels Internet sowie der dafür
eingerichteten Plattformen und Tools, wie z. B. Chat, InstantMessenger und Foren, miteinander kommuniziert und vernetzt ist (Dittler et al. 2007:8). Diese Form der Gemeinschaft
wird als soziales Phänomen betrachtet, das sich jedoch – wie
andere Gemeinschaftsformen auch – nicht über die Technologie, sondern über den Inhalt, der die darin verbundenen
Individuen zusammenführt, definiert (ebd.).
Netzwerke sind von Communities dahingehend zu unterscheiden, dass mit diesem Begriff „nicht nur der Aspekt der
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Waibel: Interkulturelle Online-Communities im Hochschulbereich: Konzept für ein deutschpolnisches Hochschulnetzwerk
Verbundenheit thematisiert wird, sondern vor allem das ‘Austauschen‘“ (Graggober et al. 2003:101). In diesem Zusammengang sprechen Graggober et al. auch vom „‘Fließen‘ von
Inhalten durch Kanäle“, wobei es dabei eine entscheidende
Rolle spielt, wie diese „gebaut“ sind und welche Inhalte über
sie transferiert werden (ebd.).
Als Merkmale der Online- wie auch Offline-Gemeinschaften
werden „Kollaboration“ und „wechselseitige Unterstützung
hinsichtlich eines gemeinsamen Interesses sowie Zugehörigkeitsgefühl“ der Mitglieder genannt (Döring 2010:173). Darüber hinaus ist für Online-Communities die Unabhängigkeit
von einem geografischen Ort kennzeichnend (ebd.).
Der Begriff interkulturelle (Online-)Community verheißt – innerhalb des Rahmens von Hochschulkooperationen gebraucht und über den innerhalb der Wissenschaften grundsätzlich vorauszusetzenden übergreifenden Ethos hinaus
– einen hohen Zugewinn an interkultureller Kompetenz innerhalb der jeweiligen Netzgemeinschaft. Schließlich begegnen sich hier Individuen und Gruppen unterschiedlicher kultureller Identität und müssen ein Modell der Zusammenarbeit
finden.
Die Frage, wie effizient und effektiv Online-Communities im
Hochschulbereich hinsichtlich der Entwicklung interkultureller
Kompetenz sein können, wurde jedoch – soweit der Autorin
dieses Artikels bekannt – bisher noch nicht erforscht. Im
Rahmen des vorliegenden Beitrags ist dies schon aufgrund
von dessen begrenztem Umfang nicht möglich. Es bleibt aber
dem Projekt vorbehalten zu erforschen, inwiefern die z. B.
innerhalb der im Rahmen des Projekts gegründeten OnlineCommunity erzeugten Interaktionen sich als interkulturelle
Situationen operationalisieren lassen.
Trotz der zunehmenden Zahl und Vielfalt der wissenschaftlichen Online-Communities und der Online-Hochschulnetzwerke sind Untersuchungen zu diesen Themen rar (Kramer /
Valentin 2007:28). Obwohl es wünschenswert wäre, findet
sich in der Literatur derzeit noch kein Ansatz zur Systematisierung von Online-Communities respektive von Hochschulnetzwerken.
Als aktuelle Studie ist die Publikation von Dittler et al. (2007)
zu nennen. Die Autoren setzen sich primär mit dem Phänomen von Online-Communities als soziale Systeme auseinander und liefern dabei Beispiele für deren effektive Anwendung in Form von virtuellen Autorenkollektiven, studentischen Initiativen u. a.
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Waibel: Interkulturelle Online-Communities im Hochschulbereich: Konzept für ein deutschpolnisches Hochschulnetzwerk
3.
Potenziale von Online-Communities im universitären Kontext
In Anbetracht der Tatsache, dass der erfolgreiche Umgang
mit Diversität nicht nur für Wirtschaftsunternehmen (Gröschke 2010:51), sondern auch für Hochschulen eine Herausforderung darstellt, erscheinen die grenzüberschreitende und
zeitnahe Austauschprozesse bewirkenden Communities und
Netzwerke von gravierender Bedeutung.
Es wird angenommen, dass innerhalb der interkulturellen Online-Foren die individuelle und gemeinschaftliche interkulturelle Handlungskompetenz besonders gefördert wird, da es in
diesen Situationen zu einem „Zusammenspiel individueller
und kollektiver Kompetenzen“ (ebd.:59) innerhalb einer
Gruppe kommt, das für den Handlungserfolg von entscheidender Bedeutung ist (ebd.).2
Verschiedene interkulturelle Communities sind darum bemüht, mittels webbasierter Anwendungen ihren Nutzern die
Möglichkeit zu bieten, den Umgang mit kultureller Diversität
zu erlernen bzw. zu trainieren. Als Best Practice Beispiel für
diese Art von Foren kann das 2004 vom Hochschulverband
für Interkulturelle Studien 3 erstellte Interkulturelle Portal genannt werden, das innerhalb seines Community-Centers ein
Diskussionsforum und Pinnwände zur gemeinschaftlichen Beleuchtung entsprechender Fragestellungen zur Verfügung
stellt.
Neben der Förderung der interkulturellen (Gruppen-) Kompetenz kann ein Vorteil der Online-Communities in der Stärkung
der Team-Arbeit gesehen werden. Hierzu vertreten
Graggober et al. (2003:415) die These, dass in Netzgemeinschaften „ – bewusst oder unbewusst – ‚Social Learning‘ betrieben [werde]“, also ein „Lernen und Ideen-Entwickeln in
Gruppen“ (ebd.).
Aufgrund der ähnlichen Forschungsinteressen und der Möglichkeit des Austausches wissenschaftlicher Ergebnisse kommt
es in Online-Foren zur starken Vernetzung der CommunityNutzer, die wiederum oft die Grundlage für gemeinsame innovative Kooperations- und Forschungsprojekte bildet.
Online-Communities im Hochschulbereich ermöglichen, dass
ihre Mitglieder aktiv in die Wissenschaftskommunikation eingebunden werden und zum Inhalt ihres Forums beitragen
können. Darüber hinaus bieten viele wissenschaftliche Portale
für ihre Community-Mitglieder innovative Formen der Publikation. Auch dieses Potenzial der Online-Communities wurde
von dem vorstehend als Best Practice-Beispiel aufgeführten
Interkulturellen Portal effektiv und effizient in die Praxis umgesetzt – in Form einer digitalen Bibliothek mit freiem Zugang
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Waibel: Interkulturelle Online-Communities im Hochschulbereich: Konzept für ein deutschpolnisches Hochschulnetzwerk
zu wissenschaftlichen Beiträgen aus dem Bereich der interkulturellen Forschung für alle dort registrierte Mitglieder.
Im Mittelpunkt der Überlegungen um die Potenziale der Online-Communities und -Hochschulnetzwerke steht das eigene
in einer deutsch-polnischen Hochschulkooperation entwickelte Projekt, das im Folgenden näher vorgestellt werden soll.
4.
4.1
Projektbeschreibung
Deutsch-polnisches Hochschulnetzwerk
Mit dem Beitritt Polens zur Europäischen Union haben dessen
Beziehungen zu Deutschland hinsichtlich der Zusammenarbeit
in Studium, Lehre und Forschung zugenommen sowie eine
neue Qualität erreicht. Dem Bundesministerium für Bildung
und Forschung gilt die bilaterale Zusammenarbeit als „in vielen Bereichen bereits seit langem etabliert.“ Sie „bietet eine
gute Ausgangslage für die Kooperation im europäischen
Rahmen“ (Bundesministerium für Bildung und Forschung
o.J.). Die Initiatoren dieses dank der Förderung der DeutschPolnischen-Wissenschaftsstiftung im November 2011 gestarteten Projekts, das IKK-Institut an der LMU München sowie
der IKK-Lehrstuhl an der UAM Poznań, haben gemeinsam ein
Konzept zu Fördermöglichkeiten einer deutsch-polnischen
Hochschulkooperation erarbeitet, die grenzüberschreitende
Netzwerkbildung und eine bilaterale Zusammenarbeit in Forschung und Lehre nachhaltig verstärken soll. Diese Ziele sollen zum einen durch Gründung eines gemeinsamen OnlineHochschulnetzwerkes und zum andern mittels einer internationalen Tagung realisiert werden.
Der thematische Schwerpunkt dieses Netzwerkprojekts liegt
im Bereich des aus den grenzüberschreitenden Hochschulnetzwerkaktivitäten und Studienaufenthalten resultierenden
deutsch-polnischen Wissens- und Kulturtransfers. Dabei wird
der Wissens- und Kulturtransfer hier in Anlehnung an
Lipphardt / Ludwig (2011:39) als ein „Austausch“ von Konzepten, Ideen und Praktiken definiert. Hierbei soll u. a. der
Frage nachgegangen werden, wie Hochschulen und Wissenschaftsorganisationen in Deutschland und Polen zur Verbesserung der interkulturellen Kommunikation und nachhaltigen
Vernetzung zwischen den Wissenschaftssystemen beitragen
und Synergieeffekte erzielt werden können.
Im Vordergrund dieses für die beiden Institute erstmaligen
Kooperationsprojekts steht der Wunsch, aus einer zukunftsorientierten Perspektive heraus weitere Universitäten und
Hochschulen über eine gemeinsame Internetplattform miteinander zu vernetzen, mit dem Ziel, einen (interdisziplinären)
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Waibel: Interkulturelle Online-Communities im Hochschulbereich: Konzept für ein deutschpolnisches Hochschulnetzwerk
Austausch anzubieten und gemeinsame Projekte im Rahmen
eines erweiterten Wissens- und Kulturtransfers zu vermitteln.
Die Aktualität dieser Thematik ist insbesondere im Kontext
der einschlägigen Anforderungen an akademische (internationale) Netzwerkarbeit und Mobilität zu sehen.
Das Projekt bildet den Auftakt für eine großangelegte quantitativ-qualitative Untersuchung, innerhalb derer die Vernetzung und die internationale Mobilität von Studierenden, die
akademischen Karrieren sowie die Lage des wissenschaftlichen Nachwuchses mit dem Fokus auf dem Vergleich zwischen Deutschland und Polen beleuchtet werden sollen –
unter einer systematischen Einbeziehung der Sicht von Studierenden und Wissenschaftler(inne)n. In diesem Sinne verstehen sich die Initiatoren des Projekts auch als Impulsgeber
für Studien, die weitere Untersuchungen mit deutschpolnischen Bezügen auf den Weg bringen sollen, mit dem
Ziel, einen Beitrag zur (gemeinsamen) interkulturellen Forschung zu leisten.
Für die Durchführung dieses Projekts wurde in seiner ersten
Realisationsstufe (Nov. 2011 - Jan. 2012) das Konzept für eine zweisprachige (deutsch-polnische) Projektwebpräsenz
samt einer Datenbank und einer Kommunikationsplattform
(Mitglieder-Forum) für deutsch-polnische Themen und gemeinsame Projekte erstellt.
4.2
Interkulturelle Online-Community
Durch die ab Februar 2012 unter der Internetadresse
dp.ikk.lmu.de geplante Onlineschaltung der Projektseite soll
eine Kommunikationsplattform geschaffen werden, die vordergründig zur wissenschaftlichen Netzwerkarbeit von Studierenden, Nachwuchswissenschaftler(inne)n, Vertreter(inne)n
und Ehemaligen des Fachgebiets Interkulturelle Kommunikation und weiterer Disziplinen in deutsch-polnischer Perspektive beitragen.
Im Rahmen des Mitglieder-Forums haben die registrierten
Nutzer die Möglichkeit, Beiträge selbst zu erstellen und zu
kommentieren. Somit will das Netzwerk allen am deutschpolnischen Kulturaustausch Interessierten ein Forum bieten,
um miteinander in Kontakt treten zu können, und die Verständigung beider akademischer Kulturen durch gemeinsame
Aktivitäten fördern.
Die Community soll sich aus dem eigenen Netzwerk zusammensetzen, d. h. aus einem intendierten Publikum, das an
interkulturellen Themen im deutsch-polnischen Kontext interessiert ist. Das in einer Hochschulkooperation zwischen
Deutschland und Polen entwickelte Netzwerk ist jedoch offen
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Waibel: Interkulturelle Online-Communities im Hochschulbereich: Konzept für ein deutschpolnisches Hochschulnetzwerk
für kulturelle und wissenschaftliche Kontakte zu anderen
Hochschulen in Osteuropa.
Bereits zum Projektbeginn hat das Institut für Internationale
Studien an der Karls-Universität in Prag sein Interesse an dem
Projekt bekundet und ist bereits ein Netzwerkpartner in dieser
interkulturellen Community.
5.
Resümee
Im Fokus dieses Beitrages stehen interkulturelle Communities
und Netzwerke im Hochschulbereich, wobei angenommen
wird, dass neben der Stärkung der interkulturellen Kompetenz gemeinschaftliche Wissensproduktion und -austausch zu
deren wesentlichen Nutzenpotenzialen gehören.
Interkulturelle Communities und grenzüberschreitende Innovations- und Forschungsnetzwerke im Hochschulbereich sind
spätestens mit der Einführung des „europäischen Forschungsraums“ nicht mehr wegzudenken. Infolge der seit Ende der
1990er Jahre entwickelten neuen Informations- und Kommunikationstechnologien erfährt das scheinbar festgefahrene
System Wissenschaftskommunikation neue Dynamik und radikale Veränderungen (Hagenhoff et al. 2007:1). In Anbetracht dieser Entwicklung erscheinen die Möglichkeiten für
internationale Kooperationen und Netzwerke nahezu unbegrenzt.
Die Online-Communities und Netzwerke können als Medien
bezeichnet werden, die die Wissenszirkulation befördern. Der
innerhalb der Online-Communities stattfindende Wissenstransfer ermöglicht auch Einblicke in die Eigenarten nationaler akademischer Kulturen und in die interkulturellen Gemeinsamkeiten innerhalb eines entstehenden europäischen Wissenschaftsraumes. Ähnlich wie im Wirtschaftsbereich erlauben Hochschulnetzwerke mit Hilfe von Informations- und
Kommunikationstechnologien Verbindungen von Personen
und Organisationen und darüber hinaus deren Teilhabe am
internationalen Wissenschaftsbetrieb und ein gemeinschaftliches Erstellen, Organisieren, Austauschen, Studieren und Diskutieren wissenschaftlicher Inhalte.
Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass OnlineCommunities ein wesentliches Instrument der Wissenschaftskommunikation sind und Netzwerke als eine „Kulturtechnik
der Moderne“ (Barkhoff et al. 2004) insbesondere für Hochschulkooperationen sowie gemeinsame Projekten zur Unterstützung des Wissens- und Kulturtransfers von tragender Bedeutung sind.
In Anbetracht der Tatsache, dass Kooperationen eine immer
wichtigere Bedeutung zukommt, wäre es für weitere Studien
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Waibel: Interkulturelle Online-Communities im Hochschulbereich: Konzept für ein deutschpolnisches Hochschulnetzwerk
empfehlenswert, die Interaktionen und Problemsymptome
innerhalb der Hochschulnetzwerke einer empirischen Untersuchung zu unterziehen. Die vorliegende Literatur beleuchtet
das Thema Kooperationen vor allem anhand von Beispielen
aus der Wirtschaft. Der innovative Ansatz eines „problemorientierten Modells zur erfolgreichen Gestaltung der Interaktion von Unternehmen“ aus der Studie von Juch / Rathje
(2011) könnte als Grundlage für die Untersuchung möglicher
Interaktionsprobleme innerhalb der Hochschulnetzwerke in
einer Versuchsstudie angewendet werden.
Das im Mittelpunkt dieses Artikels stehende deutschpolnische Netzwerkprojekt befindet sich in der Entwicklungsphase. Künftig soll es im Sinne einer Online-Community innovative Formen der Partizipation an deutsch-polnischen Themen und Vorhaben ermöglichen. Für den Erfolg des Projekts
sind u. a. Kreativität bei der Generierung der Ideen und Inhalte sowie effizientes Informationsmanagement maßgeblich.
Die Gestaltung sowie Ausweitung dieser Kommunikationsplattform stellt somit die Betreiber und die beteiligten Nutzer
als Community vor eine große Herausforderung, die jedoch
angesichts der großen Kooperationsbereitschaft der beteiligten Hochschulen und Wissenschaftler(innen) erfolgreich bewerkstelligt werden kann.
Literatur
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Diese Art von Medieninhalten werden als User Generated
Content (deutsch: nutzergenerierte Inhalte; auch als UGC abgekürzt) bezeichnet, da sie nicht vom Webanbieter, sondern
von dessen Nutzern erstellt werden (Schweiger / Quiring
2007).
1
Allerdings geht Gröschke bei ihrer Definition sowie der Operationalisierung einer interkulturellen Situation über das traditionelle Verständnis in der interkulturellen Forschung hinaus
(siehe dazu Gröschke 2010).
2
3
Ehemalige Akademie für Interkulturelle Studien (AIS).
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Waibel: Interkulturelle Online-Communities im Hochschulbereich: Konzept für ein deutschpolnisches Hochschulnetzwerk
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Hiller / Wolting: Akademische Wissensproduktion als interkulturelles Forschungsfeld
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tion, institution)
Dr., Europa-Universität Viadrina
(Frankfurt/Oder).
Stephan Wolting
Adam-Mickiewicz-Universität,
Poznań.
Abstract [English]
This article focuses on academic knowledge production, especially on academic communication as a field of research in
intercultural studies. Based on a common project of different
European Universities it is intended to point out cultural specifics as well as the reciprocity of the institutional frame work
and academic communication as subjects of research. There
is a perceived necessity that the humanities’ own hermeneutic basic assumptions should be reflected more critically. For
instance the conception of what we call a good way of teaching differs in different cultures (civilizations).
Using the way of phenomenological description and empirical
studies of different phenomena within the academic setting,
the subject offers many possibilities for being interlinked with
other topics.
Actually we try to work out within the project culture specific
features of academic communication, e.g. different ways of
teaching and learning styles, different ways of examining and
grading the students, different types of academic texts (or
different understanding of the types), and culture-specific
academic rituals as consultation hours (the so-called Sprechstunde in German, which is not the same as the office hour in
the US). Another interesting field for empirical research are
styles of academic communications like e-mailing (especially
between professors and students). Our goal is to describe the
considered academic settings as concrete and thick as possible to get an analysis which points out the singularities of the
different cultural and social academic environments and allows comparisons from an intercultural perspective.
Keywords: Learning and teaching styles, attitudes and cultural
habits, teaching style, didactics, academic communication
Abstract [Deutsch]
Der Beitrag beschäftigt sich mit der akademischen Wissensproduktion im kulturellen Vergleich und als interkulturelles
Forschungsfeld. Auf der Grundlage eines gemeinsamen Projekts verschiedener europäischer Universitäten soll die Wechselwirkung von institutionellen Vorgaben und akademischer
Kommunikation zum Thema einer Studie gemacht werden.
Exemplarisch werden funktionale Lehr- und Lernstile zum Untersuchungsgegenstand gemacht. Methodisch soll sowohl
phänomenologisch beschreibend als auch empirischanalytisch vorgegangen werden. Innerhalb des Projekts sollen
universitäre Gesprächstypen und Textsorten betrachtet werden. Dabei sollen die einzelnen akademischen Milieus so
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kleinschrittig, dicht und genau beschrieben werden, um zu
einer Analyse zu gelangen, die den Eigenheiten des spezifischen kulturellen akademischen Milieus Rechnung trägt.
Stichworte: Akademische Wissensproduktion, Lehrstil, Lernstil, Habitus, Hochschulkommunikation
1.
Einleitung
Innerhalb dieses Beitrags soll es um die Vorstellung des theoretischen Konzepts eines internationalen Projekts zur akademischen „Wissensproduktion” (Münch 2007) gehen, das sich
als Pilotprojekt mit vielen Anschlussmöglichkeiten zu unterschiedlichen akademischen Kulturen versteht. Das Forschungsprojekt entstand aus einer Kooperation zwischen der
Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder und dem Insti1
tut für Angewandte Linguistik an der Adam-Mickiewicz Uni2
versität Poznań . Es geht dabei um die Erfassung der akademischen Wissensproduktion (darunter verstehen wir die
Kommunikations- und Diskurskonventionen, die der Wissensvermittlung dienen, also die Textsorten, Unterrichtsformate
oder auch Gesprächstypen, die die Lehr- und Lernstile prägen) an unterschiedlichen kulturellen wissenschaftlichen
Standorten. Dabei soll die Identifizierung unterschiedlicher
Lehr-Lernstile als eine zentrale Fragestellung exponiert werden.
Trotz zunehmender Mobilität und Internationalisierung im
wissenschaftlichen Bereich in Europa gibt es bislang wenig
Forschung in diesem Bereich. Durch die Bologna-Reform entstanden und entstehen eine große Anzahl an Förderprogrammen, die Austausch und Mobilität unter Studierendenund Lehrenden fördern, und durch die immer mehr bi- und
trinationale Studiengänge sowie ähnliche Forschungsprojekte
unterstützt werden. Wie die alltägliche Praxis zeigt, gibt es
dennoch viele Hürden und Missverständnisse, die durch die
Kollision verschiedener akademischer Systeme, Diskursformen
und Praktiken entstehen. Innerhalb des geplanten Forschungsprojekts sollen einige spezifische kulturelle Erscheinungsformen der akademischen Milieus der Beteiligten identifiziert, näher beschrieben und erklärt werden. Wie oben erwähnt, gibt es bislang kaum Untersuchungen, die aus kulturwissenschaftlicher oder auch aus kulturvergleichender Perspektive Besonderheiten einzelner Hochschulkulturen in ihrem Bedingungsgefüge analysieren. Vermutlich lässt sich dies
auf die Mühen zurückführen, die die damit verbundene
Selbstreflexion des eigenen Handelns und Habitus für die ihr
eigenes Alltagsfeld Erforschenden zwangsläufig mit sich
brächte. Neben theoretischen Überlegungen enthält dieser
Beitrag einen kurzen Abriss über vorhandene Erkenntnisse
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aus dem Feld und eine Vorausschau, wie diese zusammen mit
dem hier beschriebenen Forschungsprojekt einen Beitrag zur
Entwicklung und Vertiefung einer interkulturellen Hochschuldidaktik leisten können.
2.
Theoretische Vorüberlegungen
Es wird von der Prämisse ausgegangen, dass es von zentraler
epistemologischer Bedeutung ist, so kleinschrittig, konkret
und so dicht beschreibend wie möglich zu verfahren, d. h.
selbst wenn dies selbstverständlich klingen mag, dass innerhalb des empirischen Teils zunächst nur Aussagen über die
erfassten Ergebnisse in den vorgesehenen Forschungsfeldern
gemacht werden können. Dies impliziert u. a. auch, dass es
sich um bestimmte akademische Milieus handelt wie beispielsweise Sprechstunde oder Qualifizierungsarbeit. Soweit
es mit den empirischen Erkenntnissen bzw. dem Erkenntnisinteresse vereinbar scheint, sollen durchaus auch verallgemeinernde Aussagen über akademische Kulturen und Polen,
Deutschland, Frankreich o. ä. gemacht werden. Dabei werden
kulturelle Systeme auch in ihrer semiotischen Struktur erfasst.
Insbesondere könnte nach unseren Vorstudien vor allem dem
Begriff des Stils besondere Bedeutung zukommen. Es stellt
sich dabei die methodische Schwierigkeit, die wir festgestellt
und zu lösen haben, inwieweit Aussagen über unterschiedliche Stile auch verschiedene andere Identitäten (nationale
Identität, berufliche Identität, Geschlecht, Alter etc. implizieren, also im Hinblick auf das, wie Klaus P. Hansen Primär- von
Sekundärkollektiven unterscheidet, Hansen 2009) enthält.
Nicht von ungefähr ist in jüngster Zeit auf die mangelnde
Selbstreflexivität der Geisteswissenschaften, aber auch der
eigenen Zunft, der Vertreter der Interkulturellen Kommunikation hingewiesen worden (Haas 2009, aber auch Bolten
2007). Dem soll hier Rechnung getragen werden. Während
einer Reflexionsphase entstand ein Bündel von das Projekt
leitenden Forschungsfragen:
•
Gibt es eine kulturspezifische akademische Wissensproduktion?
•
Lässt sich von (national-) kulturellen akademischen Milieus
und Stilen sprechen?
•
Besteht eine Wechselwirkung zwischen organisatorischen
Einheiten und institutionellen Vorgaben und Lehr- und
Lernstilen?
•
Inwiefern sind Begriffe akademischen Kommunizierens
nicht einfach Übersetzungsprobleme, sondern verweisen
auf unterschiedliche kulturelle Ausgangslagen (Beispiel:
ein Begriff wie Begehung, Berufungsverfahren etc.)?
199
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•
Ist es möglich, genaue Beschreibungen vorzunehmen, die
verschiedene akademische „Kollektive“ (nach Hansen
2009) und Milieus (akademisches Milieu, Studentenmilieu, Dozenten etc.) berücksichtigen (verbunden mit der
Frage nach dem Wissenschaftsdesign)?
•
Lässt sich von einer Komplementarität von verschiedenen
Forschungsansätzen sprechen, wie der von Mikro- und
Makroanalysen (Bolten 2007), qualitativer und quantitativer Forschung (schwerpunktmäßig in diesem Projekt), etischer und emischer Herangehensweise?
•
Inwiefern drückt sich die oben angenommene Komplementarität in mündlicher Kommunikation oder in schriftlicher Textproduktion aus (hierzu sollen u. a. Qualifizierungsarbeiten, institutionelle Rituale wie Sprechstunde
etc. sowie mediale Kommunikation, etwa E-MailKontakte untersucht werden)?
Unter Zugrundelegung der Feldtheorie von Pierre Bourdieu
stellt sich die Frage, inwieweit symbolisches und ökonomisches Kapital in den unterschiedlichen akademischen Lebenswelten (hier bestehen beträchtliche kulturelle Unterschiede!) divergieren.
Es wird dabei mit Max Weber von der Kultur als ein „vom
Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus einer sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens“ (Weber 1904:180) ausgegangen,
dem der kulturfähige Mensch der ihn umgebenden Lebenswelt (Schütz / Luckmann 1979) erst Bedeutung vermittelt und
so, unbewusst wie intentional, erst Kultur schafft. Dass sich
Kultur in diesem Sinne verstanden (es gibt inzwischen rund
400 Kulturbegriffe) nicht auf Nationalkulturen reduzieren, ja
nicht einmal ableiten lässt, darauf haben unter anderem Hansen (2009) und Haas (2009) aufmerksam gemacht. Insofern
lässt sich mit Hansen auch vom Sekundärkollektiv der akademischen Kultur sprechen. Genau dieser Bereich der akademischen Kultur im Kontrast zwischen Polen, Frankreich, Italien
und Deutschland (aber auch darüber hinaus, insofern ist dieses Projekt sehr anschlussoperativ) soll an dieser Stelle besonders interessieren. Methodologisch kommt für die theoretische Analyse Bourdieus Feldtheorie (Soziales Kapital) insofern
eine besondere Rolle zu, als sie uns zu dem Begriff des Lebensstils bzw. der Habitusform führt, die Bourdieu ja auf der
soziologischen Ebene benutzte. Dabei spricht Bourdieu selbst
auch vom Begriff des Stils, den er im Zusammenhang mit
dem Erwerbsstil sieht (Bourdieu 1982:129). Interessanter
Weise verweisen sowohl Ammon (1989:143) als auch Barmeyer (2010:13f.) auf den Stilbegriff des deutschen Nationalökonomen Alfred Müller-Armack, der 1940 eine „Genealogie
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der Wirtschaftsstile“ entwickelt hat. Er definiert den Stilbegriff als „die in den verschiedenen Lebensgebieten einer Zeit
sichtbare Einheit des Ausdrucks und der Haltung“ (MüllerArmack 1981:57). Auch hier wird der Konnex hergestellt zwischen Lebens- und Wirtschaftsstil und auch der schon von
Bourdieu herausgestellte Zusammenhang zum Erwerbsstil
betont. Mit Bourdieus Feldtheorie lässt sich allerdings der
Stilbegriff weiter differenzieren im Hinblick auf das je spezifische soziale oder ökonomische Feld (bzw. Kapital). Deshalb
spielt Bourdieu für unsere theoretische Konzeption auch eine
herausragende Rolle.
Es kann nicht oft genug betont werden, dass Bourdieu, der
relativ entspannt mit der Begriffsdefinition von Stil umgeht,
hier auf die Gesellschaft, nicht auf die Kultur rekurriert. Der
Begriff von Habitus findet sich auch schon bei dem in Breslau
geborenen Soziologen Norbert Elias, auf dessen Untersuchungen Bourdieu sich auch bezieht (vgl. Elias 1969). Elias
spricht später in diesem Zusammenhang von einer gesellschaftlichen Figuration (1983:215), was bedeuten soll, „ein
System von Menschen“, die durch spezifische Arten von Abhängigkeiten oder Interdependenzen miteinander in Beziehung stehen. (Elias 1983:156).
Auch Bourdieu, der sich ganz explizit allerdings auf den frühen Elias bezieht, geht von dieser Vorstellung von Stil aus und
setzt ihn in Verbindung zum Begriff des sozialen Systems.
Dabei ist sich Bourdieu der Kulturabhängigkeit seiner Methode bzw. Herangehensweise bewusst, weil er expliziert, dass
hauptsächlich französische Beispiele zum Beleg seiner Thesen
herangezogen werden, etwa dort, wo er im Vorwort an den
deutschen Leser im Hinblick auf eines seiner zentralen Werke,
Die feinen Unterschiede, Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (1982), betont. Zudem empfiehlt er an der gleichen Stelle die komparatistische Methode, weil sie einen “singulären
Fall des Möglichen“ behandelt und auf diese Weise vorbeugt,
„den Einzelfall in unzulässiger Weise zu verallgemeinern“
(Bourdieu 1982:9).
An dieser Stelle sollen Bourdieus Überlegungen verlassen
werden, weil innerhalb des Projekts weniger auf die ökonomischen Produktions- bzw. sozialen Rezeptionsbedingungen
eingegangen werden soll. Über einen so verstandenen Begriff
des Stils soll versucht werden, spezifische Verhaltensweisen in
Bezug auf das akademische Milieu in komparatistischer Weise
zu ermitteln. Dabei sind wir uns der von Jürgen Bolten herausgestellten Problematik bewusst, wo er in Bezug auf Mikround Makrountersuchungen im Hinblick auf Kulturen diese als
„offene, heterogene und dynamische Systeme” herausstellt
3
(Bolten 2002:103) .
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Damit sind einige methodische Ansätze angedeutet, Bourdieu
spricht selbst oben von komparatistischer Methode, Bolten
von der Komplementarität von Mikro- und Makroanalysen. In
diesem Sinne greift die vorliegende Konzeption auf die kulturvergleichende Methode (nicht der interkulturellen, vgl.
Barmeyers Versuch der Definition) zurück, ist zum einen eher
empirisch-qualitativ ausgerichtet, zum anderen werden die
Ergebnisse dann aber auch interkulturell-hermeneutisch ausgewertet und es wird zudem sowohl diskursanalytisch (also
mikroanalytisch) als auch kulturkontrastiv (makroanalytisch)
vorgegangen.
Mit dem Blick auf die unterschiedlichen Lehr- und Lerntraditionen, die einen unserer Untersuchungsschwerpunkte darstellen, wird dabei, auch wie schon oben erwähnt, der Frage
nach der Kulturbedingtheit von Stilen nachgegangen. Es wird
dabei Bezug genommen auf grundlegende Forschungen zu
kulturellen Stilen, wie sie etwa von Johann Galtung (1985) zu
„intellektuellen Stilen“, Richard Münch (1990) zu „Wissenschaftsstilen“, Jürgen Bolten u. a. (1996) zu „wirtschaftskommunikativen Stilen“, Christoph Barmeyer (2000) zu
„Lernstilen in wirtschaftsbezogenen Kontexten“ oder Günter
Ammon (1994) zum „französischen Wirtschaftsstil“ vorliegen. Unsere Position zu Lehr- und Lernstilen in geisteswissenschaftlich bezogenen akademischen Kontexten knüpft an diese grundlegenden Untersuchungen an. Im Laufe der Untersuchung wird es sich noch erweisen müssen, inwieweit der Begriff Stil angemessen und operationabel ist.
Aus der Fülle von Definitionen zum Begriff des Stils lassen
sich jedoch einige wesentliche Elemente herausfiltern. Ganz
allgemein hat Stil etwas mit Verhalten zu tun in einer ihm
sehr charakteristischen Ausführungsweise. Ursprünglich aus
der Kunstgeschichte stammend hatte Stil im Lateinischen die
Bedeutung von Griffel (griech. stilos, lateinisch stylus), an
dem auf einem Schriftstück die Technik des Schreibens oder
Schönschreibens zu ersehen war. Außerhalb der Bildenden
Künste hat sich der Begriff im Zusammenhang mit Verhaltens- oder Lebensstilen erhalten. In jüngster Zeit hält immer
stärker der englische Begriff des life-style Einzug in die deutsche Sprache bzw. Kommunikationsgemeinschaft (vgl. Kamm
2010). Für unseren Zusammenhang wichtig ist der Konnex
mit dem Verhalten, das im Folgenden in Bezug auf Lerninstitutionen untersucht werden soll. An dieser Stelle kommt
dann den Begriffen des Lehr- und Lernstils besondere Bedeutung zu. Stammt letzterer ursprünglich aus der Lernpsychologie, so wird der Begriff Lehrstil eher weniger oder kaum benutzt und durch didaktische Begriffe ersetzt. Innerhalb unserer Untersuchung soll es in erster Linie um „funktionale Stile“
(Bolten 2002:105) gehen.
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Für Bolten ist die kulturelle Stilforschung der Versuch einer
Antwort auf die grundsätzlichen Schwierigkeiten kulturvergleichender Forschung, „kulturelle Komplexität so zu reduzieren, dass sie einerseits noch sichtbar bleibt, aber andererseits
noch operationalisierbar ist“ (Bolten 2002:107). Dabei sind
mikro- und makroanalytische Perspektiven zu integrieren, die
jede für sich einzeln und separat als problematisch erscheinen:
„[...] entweder sie [die cultural studies, SW] verlieren in einzelfallorientierten Mikroanalysen das Gemeinsame, Kulturdefinierende aus dem Blick,
oder sie beschränken sich auf generalisierende Makroanalysen, womit sie
nicht nur die Dynamik und Heterogenität einer Kultur unterschlagen, sondern überdies die Gefahr unterliegen Stereotypenbildungen zu fördern“
(Bolten 2002:105).
Dieser Gefahr ist nur dadurch zu entraten, dass man Kulturen
nicht im Sinne eines „Containers“ begreift (Bolten 2002:103),
in sich abgeschlossen und kohärent, sondern als ein prinzipiell
nach außen offenes und auf Kommunikation und Interaktion
ausgelegtes System betrachtet (Bolten 2002:109).
Barmeyer nimmt in diesem Zusammenhang das oben genannte Konzept von Elias auf, als Analyse eines „kulturspezifischen Verhaltens einer Figuration“ (Barmeyer 2000:139f.).
Für ihn bezeichnet der zugrunde liegende Stilbegriff, „konkrete menschliche Ausdrucks-, Darstellungs- und Handlungsweisen, die von charakteristischen Merkmalen geprägt sind“
(ebd.). Auf diese Weise nähert man sich einer Typologie, die
sich vorwiegend in Zeichen und damit verbundenen Kommunikations- und Interaktionsformen äußert, weshalb Barmeyer
zu dem Schluss kommt, dass sich „Stil in kulturellen Präferenzen“ als ein bestimmtes Verhalten, das von einer (kulturellen)
Gruppe vollzogen wird, manifestiert (Barmeyer 2001:157).
In diesem Sinne soll der Stilbegriff auch innerhalb des Projekts
verstanden werden, wohl wissend, dass es starke linguistische
Einwände gegen einen simplifizierenden und zu vorschnellen
Gebrauch des Begriffs Stil gibt. Natürlich ist der Begriff Stil
nur ein, wenngleich ein gewichtiges Mosaiksteinchen innerhalb der akademischen Wissensproduktion, dennoch erscheint er als operationabel, weil er sich auf mündliche wie
auf schriftliche Kommunikation bezieht. Zugleich verweist er
auf unterschiedliche Lehr- und Lerntraditionen, auf die im
Folgenden eingegangen wird.
3.
Lehr-Lernstil als Untersuchungsfeld
Anknüpfend an die bisherigen Ausführungen stellt sich die
Frage, inwiefern Stilforschung auf die akademische Wissensproduktion angewendet werden kann, d. h. auf welche Bereiche sie als Erklärungs- oder auch Beschreibungsressource
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applizierbar ist und wie sie empirisch als Methode operationalisiert werden kann? Dies soll im folgenden Teil erörtert werden. Der deskriptive Teil des Forschungsprojekts wird um auf
Feldforschung basierende valide Daten ergänzt. Da die Anzahl der qualitativen empirischen Studien im Bereich der akademischen Wissensproduktion sehr begrenzt ist, halten wir
qualitative Untersuchungen für eine wichtige Säule dieses
Vorhabens. Geplant sind mehrere, sich ergänzende Einzelstudien, die verschiedene Teilaspekte unserer Forschungsfrage
näher beleuchten. Erkenntnisinteresse ist dabei, einerseits etwaige kulturelle Charakteristika der Wissensproduktion in
den beiden akademischen Kontexten durch den Vergleich
deskriptiv zu erfassen und andererseits in ihren Unterschiedlichkeiten darzustellen.
Die empirische Erforschung von Lehr-Lernstilen aus einer kulturvergleichenden Perspektive wird sowohl von Praktikern als
auch von Forschern bislang vermisst bzw. immer wieder auch
als Desiderat formuliert (vgl. z. B. Schumann 2008). Die Relevanz dieses Themas begründet sich auf mehreren Feststellungen:
Dass internationale Studierende in Deutschland mit unterschiedlichsten Schwierigkeiten konfrontiert sind, wird immer
wieder in quantitativen Erhebungen, z. B. durch den Hochschulinformationsdienst (HIS) bestätigt (z. B. Isserstedt / Kandulla 2011). Bislang liegen jedoch nur vereinzelte Studien vor,
die die Schwierigkeiten qualitativ erforschen bzw. die auftretenden Probleme genauer benennen. Es scheint, dass neben
finanziellen und administrativen Problemen insbesondere
Lehr-Lernstile für internationale Studierende in Deutschland
einen der größten „Irritations- und Konfliktbereich“ darstellen (Leenen / Groß 2007) darstellen. In der Fachliteratur wurde inzwischen auch schon vielfach darauf hingewiesen, dass
die Sozialisation in bestimmten Lernkulturen das Lernverhalten nachhaltig prägt (z. B. Barmeyer 2000, Koptelzewa
2009). Unsere Literaturrecherche ergab, dass sich vereinzelte
Arbeiten aus dem deutschsprachigen Raum mit Lehr- und
Lernstilen beschäftigt haben. Einblicke in Unterschiede zeigen
etwa Rösch und Strewe (2011) durch eine Befragung russischer Studierender an der FH Wildau auf, die besagen, dass
die Anpassung der russischen Studierenden an das deutsche
„Hochschulsystem, zu Prüfungsgegebenheiten, Arbeitsweise,
Lernstil etc.“ viel Zeit und Kraft gekostet habe (Rösch / Strewe
2011:6),4 oder Koptelzewa (2009), die unterschiedliches Lehrund Lernverhalten bei russischen und deutschen Studierenden auf Gruppenorientierung und unterschiedlichen Umgang
mit Hierarchie zwischen Lernenden und Lehrenden zurückführt.
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Barmeyer (2000) identifizierte unterschiedliche Lernstile bei
Studierenden aus Deutschland, Frankreich und dem Quebec;
während von Queis (2009) auf Basis von Literaturrecherchen
verschiedene Charakteristika von Lehr-und Lernkulturen großer Kulturräume (etwa chinesische, osteuropäische, islamische Bildungskulturen) zusammenstellte. Luo (2011) befragte
deutsche und chinesische Studierende nach ihrem Lernverhalten und identifiziert in seiner Studie unterschiedliche Lernstile.
Eine wichtige Kategorie stellen „universitäre Lehr- und Lernstile“ auch in der MuMis-Studie zu Critical Incidents an der
Hochschule dar. Diese Teilstudie innerhalb des groß angelegten empirischen Forschungsprojekts zu Mehrsprachigkeit und
Multikulturalität im Studium (MuMiS 2011) nahm sich vor,
vielfältige Problemfelder internationaler Studierender in
Deutschland zu identifizieren, zu beschreiben und zu analysieren.5 Anhand von 164 Critical Incidents wird gezeigt, wo
Unterschiede zwischen der deutschen und 48 weiteren Hochschulkulturen bestehen. Die umfangreiche Sammlung führt
mit zahlreichen konkreten authentisch erlebten Situationsbeschreibungen vor Augen, wie internationale Studierende mit
deutschen Lehr- und Lernstilen häufig überfordert sind. Die
Erklärungen basieren vornehmlich aus dem Alltags- und Erfahrungswissen der Autorinnen, die sich seit vielen Jahren in
der deutschen Hochschulkultur bewegen (dort lernten und
lehren) und dadurch auch Expertinnen sind. 6
An den Ergebnissen dieser Studien setzt das vorliegende Projekt an. So wird nun angestrebt, solche Erklärungen noch
weiter empirisch zu untermauern (etwa durch Interviews,
Gruppendiskussionen, Unterrichtsbeobachtung und Analyse),
die didaktischen Ansätze an deutschen Hochschulen zu beschreiben, die akademischen Traditionen, aus denen diese
didaktischen Ansätze stammen, darzustellen, und zu fragen,
ob es kulturspezifische Lehr- und Lernstile, oder, anders gefragt, signifikante Unterschiede in den Lehr-Lernstilen in den
einzelnen akademischen Kulturen (z. B. Deutschland, Polen,
Italien, Frankreich) gibt? Eine zentrale Frage des Projekts ist
dabei die nach den Besonderheiten des Lernens und Lehrens
innerhalb der deutschen akademischen Kultur aus Sicht internationaler Studierender und Lehrender (ähnlich wie bei Rösch
/ Strewe 2011, Luo 2011, Mumis 2011). Auf einer kulturvergleichenden Ebene wäre beispielsweise Begleitforschung zu
einem bi- oder trinationalen Studiengang spannend, etwa
berichten Studierende des trinationalen Masters Medien,
Kommunikation, Kultur zwischen Frankfurt/Oder, Sofia und
Nizza regelmäßig von großen kulturellen Unterschieden in der
Lehre (bis hin zu dadurch verursachten Kulturschocks), ohne
dass bislang maßgeschneiderte Instrumentarien entwickelt
werden konnten, die operativ eingesetzt werden könnten,
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zur Vorbereitung bzw. Begleitung der Studierenden, aber
auch von Lehrenden.
Gleichzeitig stellen Lehr- und Lernstile, die unterschiedlichen
akademischen Traditionen entstammen, auch für Lehrende
eine große Herausforderung dar. Dies zeigt zum einen die
Auswertung einer Befragung, die von einem/r der beiden VerfasserInnen dieses Beitrags 2011 an einer deutschen Hochschule unter Lehrenden durchgeführt wurde. Auf die Frage,
welche der genannten Bereiche als größte Herausforderung
in der Lehre gesehen wurde, antworteten mehr als zwei Drittel aller Befragten, dass dies die häufig als sehr unterschiedlich wahrgenommenen Lehr- und Lernstile der internationalen
Studierenden seien.7
Nicht nur für deutsche Lehrende im internationalisierten
deutschen Hochschulalltag, sondern auch für internationale
Lehrende in Deutschland stellt die Konfrontation mit unerwarteten Lehr- und Lernstilen auch eine Schwierigkeit dar,
wie folgendes Fallbeispiel8 zeigt:
Eine chinesische Fremdsprachendozentin unterrichtet erstmals
an einer deutschen Hochschule. In ihrem Heimatland war sie
als Dozentin bei ihren Studierenden sehr beliebt. Die deutschen Studierenden sind jedoch irritiert von ihrem Unterrichtsstil und wünschen sich mehr aktive Partizipation. Sie
entschließen sich, die Programmverantwortlichen der Hochschule darauf anzusprechen. Als diese das Gespräch mit der
Dozentin suchen, ist diese zutiefst erschüttert. In ihrem Heimatland wurde sie doch wiederholt zur beliebtesten Dozentin
gewählt.
Ausgehend von diesem Fall, wäre es von Bedeutung, genauer
zu erkunden, was die deutschen Studierenden am Lehrstil der
Chinesin irritiert. Dies könnte durch Unterrichtsbeobachtung
in Kombination mit Interviews geschehen. Gleichzeitig wäre
die Klärung der Frage, was deutsche Studierende in Bezug
auf gute, also Lerner-fördernde Lehre erwarten, von Interesse.
4.
Weitere Untersuchungsfelder und Ausblick
Neben Lehr-Lernstilen eignet sich auch der weite Bereich der
Wissenschaftssprache zu genaueren Betrachtungen im Rahmen unseres Forschungsvorhabens (vgl. z. B. Ehlich 1993,
Thielmann 2009) und Textsorten (z. B. deutsch-venezolanisch
Kaiser 2000, deutsch-amerikanisch Clyne 1984). Einzelne Aspekte hierzu sollen im Rahmen des Projekts in verschiedenen
Teiluntersuchungen (z. B. in Dissertationen oder auch Masterarbeiten) behandelt werden. Ein weiteres interessantes
Feld für stilistische Untersuchungen stellen auch, insbesonde-
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re unter linguistischen Fragestellungen, Kommunikationsstile
in bestimmten Situationen des akademischen Kontexts dar.
So soll ein weiterer Fokus innerhalb des Projekts auf Sprechstundenkommunikation (dazu z. B. Boettcher / Meer 2000)
und E-Mail-Kommunikation (Bachmann-Stein 2011) gerichtet
werden. Alle Untersuchungsgegenstände stellen kulturspezifische Phänomene der akademischen Institutionen dar. Methodisch können hier je nach empirischem Material textlinguistische Analysen (z. B. bei Forschungsarbeiten) oder Gesprächsanalyse (Sprechstundengespräche, Unterrichtskommunikation) eingesetzt werden.
Innerhalb des Projekts ist eine Perspektivenvielfalt auf den
Forschungsgegenstand ausdrücklich vorgesehen. So wird ein
Historiker die institutionellen Rahmenbedingungen des deutschen und französischen Hochschulsystems in ihren historischen Entwicklungslinien näher untersuchen. Hierbei sollen
die konkreten Lehr- und Lernpraktiken, ihre institutionelle
Einbettung und ihre Evolutionen seit den großen Hochschulreformen in Deutschland und Frankreich um 1800 in den
Blick genommen werden, gleichwie die in den Kulturen verankerten und historischen Verständnisse von akademischer
Ausbildung bzw. auch Wissenschaftlichkeit. Auch hier können sich weitere Perspektiven anschließen.
Wie oben bereits geschildert wurde, besteht das Forschungsfeld vornehmlich aus den beteiligten Institutionen mit ihren
internationalen Austauschprogrammen. Aus den Erkenntnissen sollen etwaige verallgemeinerbare Erwartungshorizonte
in der Alltagspraxis der untersuchten akademischen Kulturen
nachvollzogen werden, an denen sich Lehrende und Lernende künftiger Austausch- und Kooperationsprojekte orientieren können. Geplant ist es, die generierten Erkenntnisse als
Grundlage für hochschuldidaktische Materialien aufzubereiten bzw. diese auch im Rahmen entsprechender Orientierungs- und Trainingskursen weiter zugeben.9
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1
Zentrum für Interkulturelles Lernen der Europa-Universität
Viadrina und dem Lehrstuhl für Interkulturelle Kommunikation der Adam-Mickiewicz-Universität, Poznań.
2
Inzwischen haben sich neben der Universität Hildesheim
(Institut für Interkulturelle Kommunikation) auch Hochschulen
in Frankreich (Paris / Lyon) und Italien (Urbino) angeschlossen,
weitere Netzwerkpartner sind vorgesehen.
209
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Hiller / Wolting: Akademische Wissensproduktion als interkulturelles Forschungsfeld
3
In seinen Überlegungen zu einem fuzzy Kulturverständnis
räumt Bolten unter Bezugnahme auf Triandis (1972) ein, dass
Kultur primär als ein subjektiver Begriff zu sehen ist, je nach
dem aus welchen Erfordernissen heraus sie konstruiert wird.
Letztlich kann es nur eine “optimal Angemessenheit” in Bezug auf den jeweiligen Blickwinkel geben (Bolten 2011).
4
Bei der Sichtung der vorliegenden Forschung fällt auf, dass
im deutschsprachigen Raum eine Konzentration auf kulturkontrastive Untersuchungen im deutsch-russischen LehrLernkontext vorherrscht (vgl. z. B. Bürgel / Umland 2009,
Teichmann 2007, Rösch / Strewe 2011).
5
Die Sammlung steht online zur Verfügung unter www.mu
mis.uni-siegen.de, Zugriff am 6.12.11.
6
Da sich jedoch das gesamte System in einem Übergangsstadium befindet. Durch Internationalisierung, Ressourcenknappheit, Massenuniversitäten etc., wird es immer schwieriger, die aktuelle akademische Kultur an den deutschen Hochschulen zu beschreiben. So sind Humboldts Ideale (Bildung
um der Bildung willen) oder einige Errungenschaften der 68er
Revolution in Zeiten von Bachelor und Master nicht mehr realisierbar.
7
Die Befragung fand an der WHU Otto Beisheim School of
Management in Vallendar statt. Die Ergebnisse sollen 2012
veröffentlicht werden.
8
Quelle: Die Fallgeschichte entstammt einer Qualifikationsarbeit, die im Rahmen der Ausbildung zum interkulturellen
Hochschultrainer der Internationalen DAAD-Akademie entstanden ist.
9
Nachfrage hierfür herrscht z. B. bei Studierenden und Mitarbeitern des deutschen und polnischen Kooperationspartners, wie die Vergangenheit zeigte. So wurden in einem Pilotprojekt bereits gemischte interkulturelle Trainings für Master-Studierende angeboten sowie Mitarbeiterfortbildungen im
hochschuldidaktischen Bereich.
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Marschelke: Interdisziplinäre Best Practice – Das Projekt „Globale Systeme und interkulturelle
Kompetenz“ (GSiK) der Universität Würzburg
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and
Intercultural
Competence“ (GSIC) run
by the
University of
Wuerzburg]
Jan-Christoph Marschelke
Dr. Jan-Christoph Marschelke ist
Geschäftsführer des Projekts
„Globale Systeme und interkulturelle Kompetenz“ (GSiK) an der
Universität Würzburg.
Abstract [English]
This article reflects upon challenges of working together
across scientific disciplines. With regard to this the study program Global Systems and Intercultural Competence (GSIC)
run by the University of Wuerzburg serves as example of best
practice. Established in 2008 it features an interdisciplinary
group of teachers (ten disciplines / institutions) as well as an
interdisciplinary target group (students from all subjects of
study). The article defines interdisciplinarity as different from
multidisciplinarity: the former being active collobaration the
latter solely friendly co-existence. Moreover it sketches the
idea that interdisciplinarity faces similar (if not equal) communicative challenges as interculturality. Accordingly an increased struggle is required in order to enhance successful
collaboration. This struggle partly relies on interdisciplinary
collaboration not being entirely compatible with traditional
university structures.
Keywords: Interdisciplinarity, interculturality, best practice,
GSIC (University of Wuerzburg)
Abstract [Deutsch]
Der Beitrag reflektiert die Herausforderungen interdisziplinären Zusammenarbeitens. Als Grundlage und Beispiel für Best
Practice in diesem Bereich dient das Lehrprojekt Globale Systeme und interkulturelle Kompetenz (GSiK) der Universität
Würzburg. Das 2008 gegründete Projekt zeichnet sich durch
eine interdisziplinäre Anbieter- (zehn Fachbereiche bzw. Institutionen) und Zielgruppe (Studierende aller Fachbereiche)
aus. Der Beitrag grenzt Interdisziplinarität von Multidisziplinarität ab. Demnach wäre erstere mehr als ein bloßes disziplinäres Nebeneinander: Sie besteht in aktivem Austausch und gegenseitigem Voneinander-Lernen. Darüber hinaus wird die
These skizziert, dass interdisziplinäre Zusammenarbeit sich
ähnlichen (wenn nicht gleichen) kommunikativen Herausforderungen gegenüber sieht wie interkulturelle. Demnach bedarf es bestimmter Formen und Intensität von Kommunikation, die im Universitätsalltag fachübergreifend nicht ohne zusätzlichen Aufwand herstellbar sind.
Stichworte: Interdisziplinarität, Interkulturalität, Best-Practice,
GSiK (Universität Würzburg)
211
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Marschelke: Interdisziplinäre Best Practice – Das Projekt „Globale Systeme und interkulturelle
Kompetenz“ (GSiK) der Universität Würzburg
1.
Einleitung
Dieser Beitrag gehört zum Bereich Best Practices in interkultureller Lehre und Forschung. Konkret geht es nicht nur um interkulturelle sondern um interdisziplinäre Best Practice. Bezugspunkt ist das Projekt Globale Systeme und interkulturelle
Kompetenz (GSiK; im Internet unter www.gsik.de) der Universität Würzburg. An diesem Beispiel möchte ich den möglichen Umgang mit den Herausforderungen interdisziplinären
Arbeitens im Bereich interkultureller Kompetenz erläutern –
und zwar in folgenden Schritten:
Zunächst werde ich kurz besagtes Projekt vorstellen und dabei insbesondere die Rahmenbedingungen beschreiben, die
einen Bezug zur Interdisziplinarität aufweisen (2.). Dann skizziere ich, welche Herausforderungen die Interdisziplinarität
stellt, wobei ich auf abstrakter Ebene bleibe (3.). Anschließend werde ich unsere Practice darstellen und was an ihr den
Namen Best oder doch wenigstens Good verdient (4.). Ab
und an drittens und viertens anschließend werde ich kurz erläutern, welche konkreten Herausforderungen sich infolge
interdisziplinärer Zusammenarbeit ergeben (5.). Denn Interdisziplinarität hat bisweilen ganz banale Voraussetzungen
(z. B. Ressourcen, Kommunikation), die im universitären Alltag besonderer Aufmerksamkeit bedürfen. Gerade diese faktische Ebene sollte man zwecks besseren Verständnisses von
der sprachlichen Ebene der Interdisziplinaritätsrhetorik unterscheiden (Hilgendorf 2010:914), die sich durch Lobeshymnen
auf die fachübergreifende Zusammenarbeit auszeichnet.
2.
Projektbeschreibung
Das Projekt Globale Systeme und interkulturelle Kompetenz
(im Folgenden: GSiK-Projekt) entstand im Jahr 2008. Die Initiative ging von Prof. Dr. Dr. Eric Hilgendorf aus und damit –
das ist angesichts des Themas interkulturelle Kompetenz
sicherlich ungewöhnlich – von einem Juristen. Das dürfte indes durchaus zum Erfolg beigetragen haben, da in der Ungewöhnlichkeit innovatives Potential liegt. Der Finanzierungsbedarf wird bis jetzt vollständig aus dem Studienbeitragsaufkommen der Universität Würzburg gedeckt.
2.1
Interdisziplinäre Anbieter- und Zielgruppe
Das GSiK-Projekt ist auf Lehre ausgerichtet. Da interkulturelle
Kompetenz längst als Schlüsselqualifikation gilt, die in jedem
Berufsfeld im In- und Ausland entweder von großer Bedeutung oder wenigstens doch sehr hilfreich ist, wendet es sich
an die Studierenden aller Fachbereiche. Beteiligte Anbieter
der Lehrveranstaltungen sind zehn Fachbereiche bzw. Institu© Interculture Journal 2012 | 16
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Marschelke: Interdisziplinäre Best Practice – Das Projekt „Globale Systeme und interkulturelle
Kompetenz“ (GSiK) der Universität Würzburg
tionen der Universität Würzburg. Derart soll das GSiK-Projekt
einerseits der heterogenen Zielgruppe – die Universität Würzburg ist eine Volluniversität mit über 20.000 Studierenden –
wenigstens teilweise gerecht werden. Andererseits wird so
der interdisziplinären Materie interkulturelle Kompetenz
Rechnung getragen.
Die Projektbeteiligten sind: aus dem pädagogischen Bereich
die allgemeinen Erziehungswissenschaften, die Sonderpädagogik (genauer: Pädagogik bei Verhaltensstörungen) und das
Zentrum für Lehrerbildung und Bildungsforschung; aus dem
philologischen bzw. kulturwissenschaftlichen Bereich die Indologie, die Sinologie und die Slawistik; darüber hinaus die
Rechtswissenschaft, die Betriebswirtschaft, die KatholischeTheologie und schließlich als wichtiger Pionier im naturwissenschaftlichen Bereich die Biologie.
Wollte man diese Gruppierung dazu nutzen, eine Kategorisierung der inhaltlichen Beiträge der Fachbereiche zum Thema
interkultureller Kompetenz vorzunehmen, ließe sich folgende,
sehr grobe (!) Skizze zeichnen: Demnach wären die pädagogischen Projektbeteiligten stärker mit den binnengesellschaftlichen Chancen und Herausforderungen der Multikulturalität
befasst, während die Kollegen aus dem philologischen Bereich den Fokus darauf richten, Informationen über die Kulturfelder der Länder zu vermitteln, deren Sprache ihr Fach
untersucht und unterrichtet. Rechtswissenschaftler, Betriebswirte und katholische Theologen beschäftigen sich in etwa
gleich viel mit Sachverhalten aus der eigenen und aus anderen Gesellschaften, befinden sich also in der Mitte der Skala.
Ein eigener fachlicher Beitrag der Biologie lässt sich schwerlich ausmachen, wenngleich zumindest erwähnt werden sollte, dass beispielsweise Diversität und Hybridität gängige biologische Begriffe sind. Die vorrangige Zielrichtung ist aber die,
den Studierenden eines derart internationalisierten Faches ein
entsprechendes Schlüsselqualifikationsangebot zu machen.
Der gemeinsame Bezugspunkt aller Beteiligten ist das Thema
interkulturelle Kompetenz, zu dem sie Lehrveranstaltungen
anbieten: Seminare, Workshops, Vorträge sowie vereinzelte
Tagungen und Exkursionen. Dabei nehmen sie – soweit möglich – jeweils ihren fachlichen Blickwinkel ein. Allerdings sind
alle Veranstaltungen des Projekts offen für Studierende aller
Fachbereiche. Das heißt: Die Veranstaltungen dürfen keine
vertieften Fachkenntnisse voraussetzen und müssen alle relevanten Begriffe erklären. Das ist eine wichtige Grundvoraussetzung von Interdisziplinarität, auf die später noch zurückzukommen ist.
213
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Marschelke: Interdisziplinäre Best Practice – Das Projekt „Globale Systeme und interkulturelle
Kompetenz“ (GSiK) der Universität Würzburg
2.2
Leistungsnachweise
Eine schnöde und dennoch entscheidende Frage lautet: Warum sollten die Studierenden dieses Lehrangebot nutzen? Sie
bekommen die Veranstaltungsbesuche bescheinigt. Diese
Teilnahmebescheinigungen sind teilweise auf Curricula anrechenbar z. B. im Schlüsselqualifikationsbereich. Ein Teil der
Studierenden kann also ECTS erwerben. Wer solche nicht benötigt (z. B. Juristen, Mediziner), hat in den meisten Veranstaltungen die Möglichkeit, auf Wunsch eine andere Leistung
zu erbringen als die in der Modulbeschreibung vorgesehene
(z. B. Kurzreferat statt Klausur und Hausarbeit). Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer können ein Gesamtzertifikat erwerben, wenn sie innerhalb von höchstens vier Semestern,
mindestens vier Seminare und sechs Vorträge besuchen. Dabei müssen sie mindestens fünf für sie fachfremde Lehrveran1
staltungen besuchen.
Die Festsetzung dieser Zertifikatsvoraussetzungen dient folgenden Zielen: Die Dauer und Veranstaltungsanzahl sollen
eine intensive und / oder längere Auseinandersetzung mit
dem Thema gewährleisten. Die Pflicht, die Veranstaltungen
fachfremder Projektbeteiligter zu besuchen, soll für eine interdisziplinäre Perspektive sorgen und zwar aus zwei Gründen: Zum einen um ein besseres Verständnis der interdisziplinären Materie interkulturelle Kompetenz zu gewährleisten,
zum anderen zwecks Vermittlung von Interdisziplinarität als
Wert an sich.
Erfreulich ist insoweit, dass unter den Zertifikatsabsolventinnen und -absolventen – mittlerweile knapp über 100 – das
häufigste positive Feedback ist, dass das GSiK-Projekt ihnen
ermöglicht habe, über den Tellerrand zu schauen, ein Aufwand, den, wie die meisten offenherzig zugeben, sie sonst
gescheut hätten. Ich erlaube mir darüber hinaus zu erwähnen, dass die mehrfache Anrechenbarkeit vieler GSiKVeranstaltungen (teils GSiK-Zertifikat, teils Curriculum) dazu
führt, dass auch Studierende, die nicht beabsichtigen, das
gesamte Zertifikat zu absolvieren, über unser Lehrprogramm
ihre interkulturelle Kompetenz schulen. Die zuletzt erhobenen
Anmeldezahlen (Wintersemester 2011 / 12) weisen knapp
1.300 Anmeldungen für 39 Seminare aus.
Zusammengefasst bestehen die Rahmenbedingungen des
GSiK-Projekts, die Interdisziplinarität fördern sollen, in Folgendem: Einer interdisziplinären Ziel- und Anbietergruppe,
der Pflicht für die ersten, fachfremde Veranstaltungen zu besuchen und korrespondierend der Pflicht für die zweiten, ihre
Veranstaltungen in für fachfremde Studierende geeigneter
Weise anzubieten. Curriculare Integration, das Angebot einer
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Marschelke: Interdisziplinäre Best Practice – Das Projekt „Globale Systeme und interkulturelle
Kompetenz“ (GSiK) der Universität Würzburg
zertifizierten Zusatzqualifikation und flexible Leistungsnachweise sorgen für Motivation.
3.
Abstrakte Herausforderungen der Interdisziplinarität
Es wäre zu schön, würden diese formalen Rahmenbedingungen reibungslos zu inhaltlicher wissenschaftlicher Interdisziplinarität führen. Um zu erklären, warum dies nicht so ist,
muss ich den Begriff Interdisziplinarität, den ich bisher unbedarft und undefiniert verwendet habe, kurz erläutern. Da dies
indes kein Beitrag über Interdisziplinarität sein soll, beschränke ich mich auf ein paar Anmerkungen, die ich für relevant
halte.
Vorab möchte ich zwei Beispiele nennen, die meines Erachtens illustrativ für die Grundbedingungen interdisziplinären
Zusammenarbeitens sind.
Das erste Beispiel bezieht sich auf einen Artikel in der Wochenzeitschrift Die Zeit vom 18.08.2011. Thema waren die
Begegnungen von Philosophen bzw. Soziologen und Naturwissenschaftler im CERN, der Europäischen Organisation für
Kernforschung, einer Großforschungseinrichtung im Kanton
Genf (Schweiz). Dort arbeiten unter anderem Physiker an riesigen Teilchenbeschleunigungsanlagen. Offensichtlich – das
war auch der Gegenstand des Zeitungsartikels – ist es schon
mehrmals vorgekommen, dass Geistes- bzw. Sozialwissenschaftler dorthin gereist sind. Zweck dieser Besuche war aber
nicht so sehr ein Interesse an der dort ablaufenden Forschung. Vielmehr war den Gästen daran gelegen, mit den
dort arbeitenden Physiker über deren Arbeitsweise und Weltanschauung zu kommunizieren. Das Buch „Wissenskulturen“
von Frau Knorr-Cetina (2002) beruht z. B. teilweise auf einem
solchen Besuch.
Das zweite Beispiel ist eines aus meinem näheren Umfeld: Der
Lehrstuhl von Prof. Dr. Dr. Hilgendorf betreibt ein sehr erfolgreiches Projekt zum Thema Robotik und Recht. Es bringt Juristen, Philosophen, Soziologen und Ingenieure zusammen, die
auf Tagungen stets auf die Vermeidung von Missverständnissen zu achten haben. Einen Begriff wie Autonomie z. B. benutzen alle beteiligten Disziplinen in irgendeiner Weise, aber
jeder anders. Die Best practice dieses Projekts für ein geplantes Handbuch besteht darin: Es soll einen Index geben, in
welchem zentrale Begriffe aus allen beteiligten Fachperspektiven heraus erklärt und definiert werden sollen.
Diese Beispiele sollen Folgendes verdeutlichen: Ausgehend
von der These, dass der Begriff der Kultur auf die unterschiedlichsten Arten von menschlichen Kollektiven anwend-
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Marschelke: Interdisziplinäre Best Practice – Das Projekt „Globale Systeme und interkulturelle
Kompetenz“ (GSiK) der Universität Würzburg
bar ist (Hansen 2011:15), lässt sich Interdisziplinarität als ein
besonderer Fall von Interkulturalität verstehen (vgl. auch Laitko 2011:8f.). Die damit einhergehenden, dem Auditorium
bestens bekannten Herausforderungen sind strukturell ähnlich – um nicht zu sagen: gleich. Ich zähle einige beispielhaft
auf: Fachwissenschaftler neigen dazu, die eigene Weltsicht
für normal und richtig zu halten und dabei überzupointieren.
Wenn Sie einem Naturwissenschaftler die Ansicht Rorty´s näherbringen, er – der Naturwissenschaftler – sei eine Art Dichter, der eine besondere Art von Weltbeschreibung zur Geltung bringt (Rorty 1991:22), laufen Sie Gefahr, seinen Stolz
als vermeintlich objektiven Tatsachenbeobachter zu verletzen.
Mit diesem Selbstverständnis geht ein weiteres kommunikatives Problem einher, wie es im zweiten Beispiel zum Ausdruck
kam: Wir teilen Begriffe mit anderen Disziplinen. Wenn jemand solche Begriffe benutzt, besteht die Gefahr, dass wir
unreflektiert davon ausgehen zu verstehen, obwohl unsere
Gegenüber vielleicht etwas Anderes meinen. Anders formuliert: Trotz guten Willens redet man völlig aneinander vorbei
(Hilgendorf 2010:921). Die Unterschiede sind indes nicht nur
inhaltlicher Natur: Auch die Art und Weise zu denken, darzustellen und zu kommunizieren – ja sogar zu fühlen – divergiert (Vollmer 2010:64f.). Es gibt also reichlich Gruppenmerkmale: fachlich bedingte Weltanschauung, eigene Terminologien mit false friends im Hinblick auf die Sprachen anderer Disziplinen, fachspezifische Denk- und Kommunikationsstile.
Diese Merkmale erlauben uns, Stereotype über Fremdfachgruppen und über unsere Eigenfachgruppe auszubilden.
Demnach weiß ich, dass ich als Jurist von manchen als in der
Arbeitsweise bürokratisch, bei der Interessendurchsetzung
be- und verschlagen angesehen werde. Von meinem Umgang
mit Sprache erwartet man eine eigentümliche Mischung aus
verkrampfter Penibilität einerseits und irreführender Kreativität andererseits. Schließlich schreibt man mir eine deutliche
konservative Werthaltung zu. Mit der Stereotypenbildung
verbunden sind die Komponenten von Selbst- und
Fremdwahrnehmung und ihrem Einfluss auf Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl: Wir vermögen in der Regel, uns in
der Eigengruppe leichter zu orientieren, wir fühlen uns angegriffen, wenn wir unsere Gruppe abgewertet sehen, und
manche unter uns fühlen sich aufgewertet, wenn sie gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen eine andere Gruppe abwerten. Diesen Herausforderungen entsprechen die Strategien zu ihrer Überwindung: Ohne Offenheit, Toleranz und
Selbstreflexion geht es nicht.
Man kann insoweit verschiedene Formen der Auseinandersetzung mit anderen Fachdisziplinen unterscheiden. In einem
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Marschelke: Interdisziplinäre Best Practice – Das Projekt „Globale Systeme und interkulturelle
Kompetenz“ (GSiK) der Universität Würzburg
Grobraster lassen sich drei idealtypische Stufen unterscheiden: Monodisziplinarität, Multidisziplinarität und Interdisziplinarität. Keinesfalls will ich verschweigen, dass auch die folgende Dreiteilung verbreitet ist: Multi-, Inter- und Transdisziplinarität (Laitko 2011:10). Da dies jedoch kein vertiefter Beitrag über Interdisziplinarität sein soll, sehe ich an dieser Stelle
davon ab, begriffliche Scharmützel um Sinn und Unsinn der
gewählten Vorsilben (dazu Jungert 2010:1ff.) zu führen; zumal die Intention der beiden Dreiteilungen ähnlich sein dürfte.
Die erste Stufe ist die der Monodisziplinarität: Sie zeichnet
sich dadurch aus, dass die Fachvertreterin oder der Fachvertreter im Wesentlichen darauf verzichtet, Kontakt zu anderen
Disziplinen und Informationen aus ihnen aufzunehmen. Damit einher geht eine Grundeinstellung, die man als sehr rigoros verstandene Professionalität charakterisieren könnte: Die
Annahme, dass es klar abgrenzbare Problemkonstellationen
gibt, zu deren Lösung die Vertreterinnen und Vertreter einer
bestimmten Disziplin am besten taugen. Diese sollten sich
demnach mit dem Problem beschäftigen und nicht Vertreterinnen und Vertreter anderer Fachrichtungen. Schließlich sind
diese dafür nicht vergleichbar kompetent. Man darf spekulieren, dass diese Ansicht sehr selten geäußert, indes nicht ganz
so selten gedacht wird.
Die zweite Stufe ist die der Multidisziplinarität: Sie lässt sich
so beschreiben, dass gegenseitige Akzeptanz besteht, wenn
sich beide Disziplinen mit demselben Thema beschäftigen. Ein
aktiver Austausch besteht jedoch nicht (Jungert 2010:2), bestenfalls kommt es zu einer mehr oder minder interessierten
Betrachtung der jeweils anderen Ergebnisse und Herangehensweisen. Diese Form erinnert an die Variante II von Multikulturalität, wie sie Jürgen Bolten beschrieben hat: Ein gleichberechtigtes und tolerantes Neben- aber kein kommunikatives Miteinander (Bolten 2007:65f.).
Erst auf Stufe drei kann man von Interdisziplinarität sprechen:
In diesem Falle bleibt es nicht bei interessierter Betrachtung,
beim bloßen Konsum. Vielmehr wird versucht, gemeinsam an
einem methodischen, konzeptionellen und terminologischen
Austausch zu arbeiten. Dabei werden neue Informationen in
das eigene Denken integriert, sodass es zu einer Erweiterung
und Veränderung kommen kann. Es muss also die Bereitschaft vorhanden sein, gegenüber Kritik offen zu sein und die
eigene Position gegebenenfalls zu modifizieren (Hilgendorf
2010:921). Im Schema von Jürgen Bolten ließe sich dieser Fall
unter die sogenannte Multikulturalität III (Bolten 2007:67)
fassen.
Festzuhalten ist, dass Interdisziplinarität über das bloße Faktum, dass sich die Arbeitsgebiete von mehreren Disziplinen
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Marschelke: Interdisziplinäre Best Practice – Das Projekt „Globale Systeme und interkulturelle
Kompetenz“ (GSiK) der Universität Würzburg
überschneiden, hinausgeht. Und sie ist auch mehr als die bloße wohlwollende Zur-Kenntnisnahme des Beitrags anderer
Fachrichtungen. Interdisziplinarität liegt – nach dieser Bestimmung – erst bei einem aktiven kommunikativen Austausch vor. Der aber lässt sich als ein Fall interkultureller
Kommunikation beschreiben und wartet mit entsprechenden
Chancen (Innovation, Bereicherung) und Risiken (Missverständnisse, Konflikte) auf.
4.
Best Practice im GSiK-Projekt
Ausgehend von den projektbezogenen Rahmenbedingungen
(2.) und den abstrakten Herausforderungen der Interdisziplinarität (3.) will ich aufzeigen, was das GSiK-Lehrprogramm in
puncto Interdisziplinarität an Best Practices zu bieten hat. Zunächst darf man feststellen, dass diese Art von fachübergreifender Zusammenarbeit in einem Projekt per se ungewöhnlich ist. Das betrifft sowohl das Ausmaß (zehn Beteiligte), die
Dauer (über vier Jahre) als auch den Arbeitsschwerpunkt Lehre. Nur – um auf meine Einteilung von eben zurückzukommen: Mehrere Fachperspektiven führen zwar weg von der
Mono- und hin zu Multi- aber noch nicht zwingend zu Interdisziplinarität.
4.1
Gemeinsam abgehaltene Lehrveranstaltungen
Als wichtigsten Teil der Best Practice möchte ich hervorheben,
dass im Rahmen des GSiK-Projekts Dozentinnen und Dozenten aus unterschiedlichen Fachrichtungen gemeinsame Ver2
anstaltungen anbieten. Zwei Beispiele greife ich heraus : Beim
ersten handelt es sich um ein Seminar von Juristen und allgemeinen Erziehungswissenschaftlern zum Thema Staat –
Bildung – Kultur: Religiöse Symbole in Schulen (Sommersemester 2010). Zu den bleibenden Erkenntnissen gehörte seitens der allgemeinen Erziehungswissenschaftler, dass juristische Urteile eine interessante Textsorte darstellen. Denn diese
Texte können (in diesem Fall ging es um die Urteile zu Kruzifixen an Schulwänden und dem Kopftuchtragen muslimischer
Lehrerinnen) angefüllt sein mit Aussagen und Argumenten,
die sich aus der interkulturellen Perspektive interpretieren und
mittels der interkulturellen Begrifflichkeiten analysieren lassen, die im pädagogischen Diskurs üblich sind. Auch für Kultursemiotiker z. B. müssen die Ausführungen der Verfahrensbeteiligten in Kruzfix- und Kopftuchbeschluss zur Bedeutung
des jeweiligen Symbols herrliche Analysienda darstellen. Solche Diskurselemente anderer Disziplinen können umgekehrt
die Juristen importieren, um die Adäquanz der juristischen
Sachverhaltsbewertung zu reflektieren.
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Marschelke: Interdisziplinäre Best Practice – Das Projekt „Globale Systeme und interkulturelle
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Als zweites Beispiel möchte ich ein Seminar der Slawisten und
Juristen zum Thema Gerechtigkeit: Deutsche und russische
Interpretationen (Sommersemester 2011) anführen. Für die
Rechtsphilosophie erschließen sich hier Quellen und geistesgeschichtliche Entwicklungslinien, die abseits des üblichen
Kanons liegen. Die Slawisten umgekehrt profitieren von den
strukturellen Grundlagenkenntnissen der Rechtsphilosophie
bei der Interpretation solcher und anderer Quellen, die juristische Bezüge aufweisen.
Die wertwolle Erweiterung des eigenen Horizonts betrifft indes nicht nur die Inhalte sondern auch die unterschiedlichen
Lehrmethoden. Für Juristen ist z. B. das methodischdidaktisch geförderte Maß an Interaktivität in den Seminarveranstaltungen der klassischen Geistes- und Sozialwissenschaften tendenziell überdurchschnittlich. Das beruht zum
Teil auf der schlichten Tatsache, dass das Veranstaltungsformat Seminar in der universitären juristischen Ausbildung in
der Regel eine stark untergeordnete Rolle spielt.
Die Studierenden reagieren auf diese Formate positiv, von
einer Eingewöhnungsphase einmal abgesehen, in der sie sich
angesichts mehrerer Dozentinnen und Dozenten orientieren
müssen. Sie schätzen neben den unterschiedlichen inhaltlichen Herangehensweisen auch die sich ergänzenden Erklärungsstile: Hier ein sehr offener und diskursiver Teil, dort die
zügige und frontale Vermittlung von Fakten und analytischen
Zusammenhängen.
Freilich setzt eine derartige didaktische Mischung nicht zwingend voraus, dass interdisziplinär gearbeitet wird. Die Interdisziplinarität begünstigt dies aber. Sie ermöglicht insbesondere, dass Lehrende ihre Kompetenzen zwanglos erweitern:
Die Beteiligung an einem zuvor unbekannten und ungewohnten Lehrformat, das eine andere Dozentin oder ein anderer
Dozent durchführt, ist wesentlich einfacher, als solche Formate selbständig auffinden und ohne vorgängige Erfahrung und
Anleitung durchführen zu müssen. Ähnliches gilt für das Erarbeiten von neuen Inhalten fachfremder Provenienz: Sowohl
das Auffinden von Literatur als auch das Verstehen der Texte
gelingt wesentlich leichter mit Unterstützung einer fachlich
versierten Person.
Kommunikativ problematisch im Sinne von Teil drei dieses
Beitrags waren diese Kooperationen nicht. Allerdings bedeutet es einen gewissen Mehraufwand an Organisation, Beschäftigung und Kommunikation. Das setzt die Bereitschaft,
die andere Fachperspektive kennen zu lernen und dafür auch
etwas zu investieren, voraus. Ein gemeinsamer Projektrahmen
ermöglicht indes, von vornherein die Kooperation mit Kollegen zu suchen, mit denen eine persönliche Sympathie verbindet. Das verringert etwaiges Konfliktrisiko zusätzlich. Wollte
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Marschelke: Interdisziplinäre Best Practice – Das Projekt „Globale Systeme und interkulturelle
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man das Patentrezept insoweit auf einfache Nenner bringen,
würden sie lauten: Interesse, Sympathie und Learning-bydoing.
4.2
Projekttage
Als weiteres, aber anders gelagertes Beispiel möchte ich den
1. GSiK-Tag vom 6. Mai 2011 heranziehen. Zweck dieser
Veranstaltung war, das GSiK-Projekt als Ganzes vorzustellen.
Zu diesem Zweck haben alle zehn Projektbeteiligten parallel
einen Workshop angeboten und daraus ein Diskussionsthema
entwickelt. Diese Diskussionen richteten sich an alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Veranstaltung, das heißt, die
Türen standen offen, und jede und jeder hatte die Möglichkeit, an mehreren Diskussionen teilzunehmen, aktiv oder als
Zuhörerin oder Zuhörer. Abschließend gab es einen Vortrag
des UN-Sonderberichterstatters für Religionsfreiheit Prof. Dr.
Bielefeldt. Dieser GSiK-Tag war ein großer Erfolg und wurde
von gut 300 Studierenden und weiteren Teilnehmerinnen
und Teilnehmern wahrgenommen. Auch Vertreter der Stadt
Würzburg lobten das Engagement von Anbieter- und Zielgruppe.
Abermals ist darauf hinzuweisen, dass bereits die Möglichkeit, den Studierenden eine solche Veranstaltung anzubieten,
eine Best-Practice ist. Herausheben möchte ich jedoch einen
anderen Punkt. Das übergreifende Thema des GSiK-Tags lautete: Die Vielfalt interkultureller Kompetenz. Diese Überschrift
war treffend, vereinzelt fanden sich jedoch Anwesende, die
nicht restlos überzeugt waren: Sie hatten eher Orientierung in
der Vielfalt gesucht. Doch genau die knüpfte an eine andere
Form der Best-Practice an und zwar die, dass man sich in bestimmter Hinsicht gegenseitig akzeptiert und anerkennt. Es
gibt diverse Ansätze zum Umgang mit dem Thema interkulturelle Kompetenz, die theoretisch miteinander konkurrieren.
Im GSiK-Projekt lehren Dozentinnen und Dozenten, die Geert
Hofstedes Ansatz weiterdenken oder mit Alexander Thomas
Methode gewonnene Inhalte vermitteln. Ebenso sind ausgemachte Transkulturalisten beteiligt, die durchaus befürworten
würden, das Inter- im Projektnamen durch Trans- zu ersetzen.
Würden wir als Agenda des Projekts also das Ziel ausgeben,
ein eng abgestimmtes gemeinsames Konzept zu interkultureller Kompetenz zu verfolgen, liefen wir Gefahr, Differenzen zu
erzeugen, die den Projektrahmen destabilisieren könnten.
Woher dieses Risiko kommt, wurde unter drittens skizziert.
Um – in eher lose feuilletonistischer als wissenschaftlich
strenger Weise – an die Unterscheidung von Tönnies (Tönnies
2005) anzuknüpfen: Statt um die Erzwingung von Gemeinschaft geht es eher um die Herstellung einer Gesellschaft. Im
Rahmen des weiten Begriffs interkulturelle Kompetenz und
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Marschelke: Interdisziplinäre Best Practice – Das Projekt „Globale Systeme und interkulturelle
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einigen allgemeinen Bildungszielen besteht Methodenpluralität verbunden mit dem Bewusstsein dafür, dass die diversen
Disziplinen unterschiedliche Probleme lösen möchten: Der
eine möchte anhand von Critical Incidents konkret und anschaulich die möglichst effiziente Leitung eines interkulturell
besetzten Teams lehren. Ein anderer reflektiert den interkulturellen Diskurs im Anschluss an Foucault unter dem Aspekt
der Macht. Das soll nicht besagen, dass es keine strukturellen
Verbindungslinien gäbe und auch nicht, dass voneinander
nichts zu lernen wäre oder man sich nicht fruchtbar kritisieren
könnte. Die Einsicht, dass Einsatzgebiet und Intention unterschiedlich sind, sollte jedoch zu einer gewissen Relativierung
führen, wenn eigene Konzepte kritisch auf andere Gebiete
übertragen werden. Insoweit gilt im Sinne einer adäquat verstandenen Professionalität das Gebot, Respekt und Behutsamkeit walten zu lassen. Das ist ein Grundsatz in der Zusammenarbeit im GSiK-Projekt.
5.
Konkrete Herausforderungen der Interdisziplinarität
Dennoch verläuft an dieser Stelle die Grenzlinie, die Multidisziplinarität von Interdisziplinarität trennt. Die Kommunikation
über inhaltliche und methodische Aspekte unter gleichmäßigem Einbezug aller Projektmitarbeiter ist kein Selbstläufer.
Stets ist im Auge zu behalten, dass die unter 4.2. angesprochene Vielfalt an Inhalt und Methode respektiert bleibt und
insoweit keine Missverständnisse aufkommen. Und doch soll
die Schwelle zur Interdisziplinarität überschritten werden. Um
das zu gewährleisten, muss Kommunikation gezielt, reflektiert und moderiert durchführt werden. Unerlässlich ist eine
gewisse Intensität, wenn ein Mindestmaß an Routine hergestellt werden soll. Sinnvoll sind regelmäßige gemeinsame Arbeitskreise, Workshops oder Tagungen. Lose Treffen und die
Verfügbarkeit geteilter elektronischer Plattformen reichen in
der Regel nicht aus: Erstere bedeuten jedes Mal einen QuasiNeuanfang, letztere liegen schnell brach, wenn keine Nutzungskultur hergestellt wird. Diese Erfahrung gehört auch
zum Repertoire der alltäglichen Arbeit des GSiK-Projekts.
Damit sind jedoch organisatorische Herausforderungen verbunden. Den Begriff organisatorisch bestimme ich sehr weit,
er umfasst demnach alles vom Management der Arbeitsbelastung bis hin zur konkreten Terminfindung. Der Ursprung solcher Schwierigkeiten liegt darin, dass es außerhalb von bestimmten Projekten (wie dem unseren) nicht alltäglich ist, in
dieser Weise interdisziplinär zusammen zu arbeiten. In der
Literatur wird dies bisweilen schlicht als mangelnde Erfahrung
der Universitäten mit interdisziplinären Einrichtungen be-
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zeichnet (Sukopp 2010:16). Interdisziplinarität ist auch nicht
immer günstig und / oder gewollt. Das betrifft insbesondere
die regulären Curricula der Fächer: Da ist Interdisziplinarität in
bestimmten Bereichen hinderlich. Sie würde nicht zulassen,
fachlich stark in die Tiefe zu gehen. Das widerspräche dem
Grundanliegen von Interdisziplinarität, das zunächst darin besteht, Vernetzungspotentiale sichtbar zu machen, ohne sich
mit dem an den Vernetzungspunkten anhängenden fachlichen Ballast aufhalten zu müssen. Es wäre widersinnig, würde ich von jedem Menschen, der auf seinen Erkenntnisgegenstand die Grundgedanken der Hermeneutik anwenden möchte, verlangen, sie oder er müsse ein Philosophiestudium mit
entsprechender Schwerpunktsetzung nachweisen. Doch im
Kernbereich eines jeden Fachs ist genau diese Vertiefung erforderlich. Soweit Studierende und Dozentinnen und Dozenten sich jedoch schwerpunktlich in diesen Bereichen bewegen, werden sie interdisziplinäres Arbeiten und Denken nur in
begrenztem Umfang gewohnt sein.
Die zunächst einmal völlig normale und plausible Aufteilung
in fachliche Funktionseinheiten führt in größeren und über
Jahrhunderte an unterschiedlichen Örtlichkeiten einer Stadt
gewachsenen Universitäten wie etwa der Würzburger dazu,
dass viele der Projektbeteiligten teilweise kilometerweit voneinander entfernt arbeiten. Zudem können ihre Stundenpläne
und Sprechzeiten nur sehr begrenzt aufeinander abgestimmt
sein, weil sie sich am jeweiligen Fach ausrichten müssen. Das
macht gemeinsame Terminfindung schwierig, insbesondere
soweit der Anspruch auf Einbezug aller Beteiligten besteht.
Eine Nachbereitung des 1. GSiK-Tags unter Beteiligung aller
Fachbereiche ließ sich beispielsweise nicht ermöglichen. Wenige Termine bedeuten indes wenig Gruppenkommunikation.
Wenig Kommunikation bedeutet wenig Möglichkeit, die Verständigungsbasis zu pflegen.
Es scheinen Banalitäten zu sein, doch ihre Bedeutung ist
kaum zu überschätzen: In der alltäglichen Arbeit gelebte Interdisziplinarität erfordert bestimmte Strukturen, die der auf
den eigenen Fachbereich zugeschnittenen Praxis bisweilen
widersprechen. Solche Strukturen können teilweise auch gar
nicht geschaffen werden. Es ist finanziell unmöglich, für jedes
interdisziplinäre Projekt ein eigenes Gebäude samt Arbeitsinfrastruktur bereit zu stellen. Das ist allerdings auch nicht zwingend nötig. Vielmehr ist von Bedeutung einzukalkulieren,
dass interdisziplinäres Arbeiten einen gewissen Mehraufwand
nach sich zieht: Einen Mehraufwand an Kommunikation und
Verwaltung, ein Mehr an Terminen und Wegen. Dieses Anforderungsprofil gilt es zu verstehen. Es könnte Teil der vertraglichen Arbeitsdefinition und sollte Teil der Praxis im Arbeitsumfeld sein. Wer an einem Lehrstuhl im Rahmen eines
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interdisziplinären Projekts arbeitet, hat in der Regel weniger
Kapazitäten für die Übernahme weiterer Aufgaben als Mitarbeiter, die nicht interdisziplinär arbeiten. Grundlage für diese
Berücksichtigung des Mehraufwands ist die Wertschätzung
der Ergebnisse interdisziplinärer Arbeit.
Weitere – und weniger ressourcenverschlingende – Voraussetzungen interdisziplinärer Arbeit ist die flexible Gestaltung
und Handhabung vorhandener Strukturen. Elektronische Vorlesungsverzeichnisse, elektronische Prüfungsverwaltung, eine
Praxis gegenseitiger Bereitschaft zur Prüfungsanerkennung,
Online-Plattformen und Homepages sind prinzipiell so ausgestalt- und positionierbar, dass organisatorische Trennlinien,
die an Fakultäten, Institute und Fachbereiche anknüpfen, mit
Leichtigkeit durchschritten werden können. Indes ist solch
flexible Handhabung keineswegs selbstverständlich. Die
denkbaren Gegenbeispiele sind zahlreich: Instituts- oder fakultätsgebundene Eintragskategorien, automatisierte Querverbindungen zwischen den einzelnen Strukturen (z. B. Einrichtung eines Eintrags auf einer virtuellen Plattform nur bei
Referenzeintrag im elektronischen Vorlesungsverzeichnis).
Besonders hinderlich sind allzu ausdifferenzierte Systeme von
Zuständigkeiten und Zugriffsberechtigungen. Soweit die derart eingestellten Instrumente flexibilisierbar sind, erfordert
dies abermals einen Mehraufwand. Der kommt zu dem im
vorherigen Absatz Beschriebenen hinzu.
Diese Ausführungen ließen sich problemlos noch weiter konkretisieren, was ich jedoch tunlichst unterlassen werde. Wenn
es hier nicht zu lesen ist, heißt das indes nicht, dass solche
Arbeit im Kleinen nicht zu tun wäre, und sie ist in etwa so
mühsam, wie sich ihre Beschreibung läse; was der vorhergegangene Absatz bereits angedeutet hat.
6.
Zusammenfassung
Damit möchte ich zusammenfassen und schließen: Mit der
These, dass Interdisziplinarität nicht gleich Multidisziplinarität
ist; dass Interdisziplinarität ähnliche Bemühungen erfordert
wie Interkulturalität; und dass diese Bemühungen besondere
Ressourcen und eine Anpassung sowie fortwährendes Angepasst-Halten von organisatorischen Strukturen erfordern. Für
den Umgang mit diesen Herausforderungen stellt das GSiKProjekt der Universität Würzburg in vielerlei Hinsicht ein BestPractice-Beispiel dar. Doch bedurfte dies im Aufbau einer erheblichen Anstrengung und diese perpetuiert sich in der Pflege: Denn Grundpfeiler der Zusammenarbeit sind stets die an
ihr beteiligten Personen. Es ist selbstverständlich, dass gelungener kommunikativer Umgang miteinander und gegenseitige persönliche Wertschätzung über Fachgrenzen hinweg kei223
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ne einmaligen Projekte sondern dauerhafte Aufgaben sind.
Hiervon ausgehend ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass
Projekte – ob interdisziplinär oder nicht – gerade im universitären Nachwuchsbereich mit einer hohen personellen Fluktuation zu Recht kommen müssen. Der Lohn für die Bemühungen sind neben den unter 2.2. bereits genannten positiven
Feedbacks und Teilnehmerzahlen inspirierende Einsichten in
andere fachliche Denkweisen und quasi im Vorbeigehen erworbene Kenntnisse über das Innenleben der eindrucksvollen
Organisation namens Universität.
Literatur
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Außerdem müssen Studierende die Veranstaltungen mindestens zweier Anbieter besuchen. Das ist jedoch nur eine
Auffangregel, die verhindern soll, dass Studierende alle zehn
Lehrveranstaltungen bei einem (fachfremden) Projektbeteiligten absolvieren.
2
Beide Beispiele beziehen sich auf Erfahrungen des Verfassers, um die Nähe zu den beschriebenen Erfahrungen zu gewährleisten. Es gab eine Reihe weiterer solcher Veranstaltungen, z. B. zwei Kooperationsworkshops der Sinologie und der
Slawistik, in denen einmal die Medienlandschaften (Wintersemester 2010 / 11) und ein anderes Mal die Arbeitsmarktstrukturen (Sommersemester 2011) von Russland und China
verglichen wurden.
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