DER SPIEGEL Jahrgang 1999 Heft 47

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DER SPIEGEL Jahrgang 1999 Heft 47
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DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN
Hausmitteilung
22. November 1999
Betr.: Tschetschenien, Mannesmann, Titel, Pay-TV
G
DER SPIEGEL
inge es nach den Russen, dürften allenfalls ihre eigenen Kriegsberichterstatter aus Tschetschenien berichten.
SPIEGEL-Redakteur Christian Neef, 47,
schon im letzten Krieg mehrfach vor Ort,
gelangte dennoch in die abgeriegelte
Kriegsprovinz. Er besuchte die tschetschenischen Kommandeure der Südwestfront und sprach mitten in den Ruinen von Grosny mit Vizepräsident Wacha
Neef (r.), tschetschenische Kämpfer
Arsanow. Um Neef nachts einen halbwegs sicheren Rückweg zu ermöglichen, gab ihm Arsanow seinen eigenen Jeep und
einen handgeschriebenen Brief an alle Kommandeure mit: „Erweisen Sie dem
Überbringer dieser Nachricht alle erdenkliche Hilfe.“ Danke. (Seite 196)
I
n das kleine Konferenzzimmer im 21. Stock, wo Mannesmann-Chef Klaus Esser
vergangene Woche die SPIEGEL-Redakteure Frank Dohmen, 36, und Gabor
Steingart, 37, empfing, kommen sonst nur wenige Gäste. Der letzte Besucher vor
den SPIEGEL-Leuten war Vodafone-Chef Chris Gent gewesen, der Esser die gigantische Summe von 242 Milliarden Mark für das Düsseldorfer Traditionsunternehmen offeriert hatte. In dem anderthalbstündigen SPIEGEL-Gespräch erläuterte
Esser, warum er das Angebot ausschlug und wie er plant, eine feindliche Übernahme
abzuwehren. Dabei verriet er auch, dass zehn Investmentbanker an einem geheimen Ort untergebracht sind, die ihn bei seinem Kampf unterstützen. Esser will
keine national aufgeladene Diskussion, sondern sich an die klaren Spielregeln der
internationalen Finanzwelt halten: „Der Markt hat immer Recht.“ (Seite 122)
E
M. WITT
s regt sich was bei Deutschlands Frauen. Sie entwickeln kämpferischen Geist
und Lust an der Macht, verbünden sich zum Aufstieg in männliche Hierarchien – oder machen gleich ihre eigene Show: als Unternehmerinnen, die Beruf und
Familie flexibel verbinden. Die Redakteurinnen Susanne Weingarten, 35, und Marianne Wellershoff, 36
– durch ihr gemeinsam verfasstes Buch „Die widerspenstigen Töchter“ (Kiepenheuer & Witsch, 1999) als
Feminismus-Expertinnen ausgewiesen –, untersuchten, was sich da alles tut in den weiblichen Netzwerken, Interessengruppen, Internet-Zusammenschlüssen
und Mentorinnenprogrammen. Die auch für sie überraschende Erkenntnis: Es gibt eine neue Frauenbewegung in Deutschland (Seite 84). Was sie erreichen kann,
Wellershoff, Weingarten
wohin die Entwicklung führt, ist diese Woche täglich
Diskussionsthema bei SPIEGEL ONLINE. Neben den Autorinnen stehen die Netzwerk-Expertin Helga Richter und Barbara Schaeffer-Hegel, Gründerin der Europäischen Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft, zum Chat bereit.
Ü
ber vier Milliarden Mark kosteten den Filmhändler Leo Kirch bisher seine Visionen vom allmächtigen Pay-TV. Sein vielleicht letzter Versuch, der Kanal Premiere World, sucht nun mit Millionen-Aufwand neue Kunden zu gewinnen. Einer
war SPIEGEL-Redakteur Thomas Tuma, 35, der einen Selbstversuch startete – vom
Decoder-Kauf über verzweifelte Anrufe beim ständig überlasteten Call-Center bis
zu schlaflosen Nächten mit 30 neuen Programmen. Tumas Fazit nach einer Woche:
„Pay-TV kostet viel Geld – und auch eine Menge Nerven.“ (Seite 144)
Im Internet: www.spiegel.de
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In diesem Heft
Die CDU trickste weiter
Kommentar
Rudolf Augstein: Kohls „Schwarze Löcher“...... 24
Gesellschaft
Szene: Halstücher als Brustschmuck /
Der Erfolg der Handy-Kurzpost ........................ 83
Justiz: Richter Gnadenlos urteilt
jetzt im Fernsehen ........................................... 111
Idole: Wem darf der Sportfan noch glauben,
wenn nicht Dieter Baumann?........................... 112
Wirtschaft
Trends: Sinkende Gewinne bei VW / Die
Dresdner Bank baut um / Aus für Avanza? ...... 115
Geld: Die Kunst des Stock-Picking /
Ölaktien folgen dem Ölpreis ............................ 117
Konzerne: Die Schlacht um Mannesmann....... 118
Das Ende der Deutschland AG ........................ 120
SPIEGEL-Gespräch mit Mannesmann-Chef
Klaus Esser über seine Abwehrstrategie .......... 122
Steuern: Wie viel darf der Staat
dem Bürger nehmen? ...................................... 128
Bauindustrie: Die Deutsche Bank und
das Milliardenloch bei Holzmann .................... 132
Rente: Koalition und Opposition bewegen
sich aufeinander zu.......................................... 136
Glücksspiel: Das dubiose Geschäft
mit Pferdewetten ............................................. 138
REUTERS
Deutschland
Panorama: Haushaltstricks beim Umzugsfest /
30 Milliarden für Arbeitslose?............................ 17
Affären: Die Spendenmaschine der Union........ 22
Wie sich Karlheinz Schreiber in Toronto
auf seinen Prozess vorbereitet .......................... 26
NRW: Aus für die Braunkohle? ........................... 30
Geheimdienste: US-Spione wollen
Frieden mit Deutschland ................................... 32
Zwangsarbeiter: Entscheiden Clinton
und Schröder? ................................................... 34
Europa: Interview mit EU-Kommissar
Antonio Vitorino über das neue Asylsystem ..... 36
Atomkraft: Rot-Grün drückt auf die Industrie ... 38
CDU: Volker Rühes Karriere-Umwege............... 42
Diplomaten: Der rüde Ton des
US-Botschafters John Kornblum ....................... 44
Pressefreiheit: Angriff auf
das Redaktionsgeheimnis .................................. 50
Hauptstadt: Der Niedergang des
Kurfürstendamms.............................................. 56
Bundestag: Streit um Stühle ............................ 62
Strafjustiz: Gisela Friedrichsen über den
Fall des krebskranken Mukarim Emil................ 64
Bundeswehr: Kaum Haftung für Fehler
der Soldaten-Ärzte ........................................... 68
Justiz: Stasi-Mordpläne sollen
ungesühnt bleiben ............................................. 72
Kriminalität: Sachsen-Polizei bestraft
Ladendiebe selber ............................................. 80
Kiep
Seite 22
Die CDU will das alte System der Geldbeschaffung unter Kanzler Helmut Kohl nicht
geißeln, aber auch die neue Spitze unter
Nachfolger Wolfgang Schäuble so wenig
wie möglich beschädigen. Doch die Strategie ist kaum durchzuhalten. Aktenfunde
belegen, dass die Partei ihren dubiosen Umgang mit Spendengeldern fortsetzte – selbst
nach Ausscheiden des wegen Steuerhinterziehung beschuldigten Schatzmeisters Leisler Kiep. Auch seine Nachfolgerin Brigitte
Baumeister, so legen Unterlagen nahe, hat
sich womöglich mit dem zweifelhaften Waffenhändler Karlheinz Schreiber getroffen.
Clement in Nöten
Seite 30
Bergarbeiter-Demos, Arbeitsplatz-Abbau, Kapriolen um die
Ökosteuer – Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Wolfgang
Clement (SPD) geht angeschlagen in den Landtagswahlkampf.
Jetzt könnten interne Sparszenarien des RWE-Konzerns
auch die Braunkohle bedrohen.
Clements Prestigeprojekt, der Tagebau Garzweiler II, wird allen
Durchhalteparolen zum Trotz immer unwahrscheinlicher.
Tagebau Garzweiler I
Der Vizekönig von Berlin
Seite 44
Der US-Botschafter John Kornblum macht sich in Berlin durch rüde Auftritte und
lautes Schimpfen über deutsches „Großmachtgehabe“ unbeliebt. Der Mann mit den
ostpreußischen Ahnen benimmt sich, so ein Kritiker, wie der „Vizekönig von Indien“.
„Der Spirit geht nach Osten“
Seite 56
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C. SCHROTH
Medien
Trends: Pro Sieben kauft bei Kinowelt /
Katarina Witt klagt in Karlsruhe ...................... 141
Fernsehen: Zarah Leanders Leben wird
verfilmt / Quoten-Hit Dinosaurier ................... 142
Vorschau.......................................................... 143
Pay-TV: Die schöne neue Fernsehwelt
von Premiere World......................................... 144
Interview mit Premiere-Chef Tellenbach
über die Probleme des Senders ....................... 147
Internet: Die Werbung im Netz boomt........... 148
TV-Filme: Der Spielberg des Fernsehens.......... 154
D. HOPPE / NETZHAUT
Titel
In Deutschland tritt eine neue
Frauenbewegung an – und kämpft um
Macht am Arbeitsplatz ...................................... 84
Wie Frauen das Internet zur
Kooperation nutzen.............................................. 90
SPIEGEL-Gespräch mit Alice Schwarzer
über Feminismus und Karriere ....................... 105
Kurfürstendamm
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Der Aufstieg des jungen Berliner
Ostens bewirkt einen Niedergang des alten West-Berlin. Die
ehemals saturierte Prominenz
vom Kurfürstendamm, der traditionellen Edelmeile, sieht sich als
Verlierer der Wende. „Der Spirit
geht nach Osten“, klagt ein
Mode-Kaufmann, der soeben
sein Designer-Geschäft geschlossen hat. Der legendäre Kurfürstendamm, von jeher Spiegel der
bürgerlichen Gesellschaft, wird
zum Spekulationsobjekt für das
schnelle Geld.
100 Tage im Herbst
Wende und Ende des SED-Staates (9):
„Wir sind ein Volk“ –
Die Massen rufen nach Wiedervereinigung .. 159
Porträt: Machtmensch Honecker................. 178
Analyse: Korruption und Amtsmissbrauch –
die Privilegien der DDR-Nomenklatura....... 180
FOTOS: AP
Ausland
Wahlkämpfer Bush, McCain, Bradley (o.)
Charakter erwünscht
Seite 188
Der erste US-Präsident des neuen Jahrtausends soll das zeigen, was Amerikaner am
derzeitigen Amtsinhaber Bill Clinton vermissen: Charakter. Das hilft dem republikanischen Präsidentensohn George Bush und Vizepräsident Al Gore – aber mehr noch
ihren Mitbewerbern John McCain und Bill Bradley. Die gelten als Nationalhelden.
Panorama: OSZE : Deal in Istanbul /
Mahatirs demokratisches Feigenblatt............... 185
USA: Sehnsucht nach dem Saubermann .......... 188
Türkei: Istanbuls Angst vor Killer-Beben ......... 192
Tschetschenien: Reportage aus dem
Zentrum des Krieges ....................................... 196
Labour: London und der Rote Ken.................. 201
Australien: Abschreckung der Boat-People ..... 204
Österreich: Jörg Haider als reuiger Sünder ..... 206
Luftfahrt: Drama im EgyptAir-Cockpit ........... 212
Interview mit der Witwe von Kopilot Batuti .... 214
Italien: Die Mafia in Nadelstreifen.................. 216
Kaliningrad: Als die russischen Siedler
nach Ostpreußen kamen.................................. 224
Großbritannien: Prinz Charles ärgert
Tony Blair........................................................ 230
Sport
Fußball: Warum Trainer Werner Lorant den
TSV 1860 München niemals verlassen darf...... 238
Tennis: Der Sponsoren-Schwund.................... 242
Wissenschaft • Technik
Prinz Charles’ Privatfehde
AP
Seite 230
Charles (als Hochzeitsgast in London)
Während Premier Blair den
feudalistischen „Blutsport“ abschaffen möchte, nimmt Prinz
Charles seine Söhne mit auf die
Fuchsjagd. Er demonstriert seine
Abneigung gegen die ChinaPolitik, die staatlich geförderte
Genlandwirtschaft und Bauvorhaben von New Labour. Der
Thronfolger verstößt damit gegen
Englands ungeschriebenes Gesetz,
dass Königshaus und Regierung
niemals Kritik aneinander üben.
Der Streit der Physiker
Seite 252
„Flaggschiff der Grundlagenforschung“ oder „ein Schaden für die Physik“? Im
SPIEGEL-Gespräch streiten die Teilchenphysiker Hans Graßmann und Harald Fritzsch
über den Sinn der größten Forschungsmaschine Deutschlands am Desy in Hamburg.
PREMIERE
Überdruss am Überfluss
Seite 144
Mit einer 100 Millionen Mark teuren Werbeschlacht
versucht der neue Pay-TV-Kanal Premiere World,
die Deutschen von den Segnungen des Bezahl-Fernsehens zu überzeugen. Doch was bieten 30 Zusatzkanäle wirklich – außer Überdruss am Überfluss?
Premiere-World-Kanal
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Prisma: Walkman im Füllerformat /
War Ötzi ein Feuersteinhändler?..................... 249
Physik: SPIEGEL-Streitgespräch zwischen
den Teilchenforschern Harald Fritzsch
und Hans Graßmann über die
Zukunft ihrer Wissenschaft.............................. 252
Zahnmedizin: Das neue Geschäft mit
dem schöneren Gebiss..................................... 260
Raumfahrt: Psychologe ließ sich monatelang
in Raumstations-Nachbau einschließen ........... 264
Umwelt: Streit um Erdgasbohrung
im niederländischen Wattenmeer .................... 268
Herzinfarkt: Eine US-Kleinstadt zeigt,
wie man sich schützen kann ............................ 274
Automobile: Ist der neue Alu-Audi
ein Ökomobil?................................................. 280
Kultur
Szene: Roland Emmerich über Gewalt im Film /
Der Schelmenroman von Radek Knapp .......... 283
Musik: Der US-Opernfreak Alberto Vilar will
Bayreuth und Baden-Baden unterstützen........ 286
Kino: Schauerfabel „Blair Witch Project“ ....... 290
Regisseure: SPIEGEL-Gespräch mit
David Lynch über seinen neuen Film
„The Straight Story“ ...................................... 292
Autoren: Der anrührende Briefwechsel des
Verlegers Siegfried Unseld mit Uwe Johnson .. 298
Bestseller....................................................... 300
Stars: Das Sendungsbewusstsein des
Mannheimer Sängers Xavier Naidoo............... 302
Theater: Neues vom Dramatiker
Thomas Brasch in Basel................................... 304
Mäzene: Wie Manager Heinz Dürr einmal
einen Theaterpreis stiftete ............................... 306
Buchmarkt: Etablierte Verlage als
Neu-Einsteiger auf dem Hörbuch-Markt ......... 310
Pop: Die Pet Shop Boys auf Tour ..................... 314
Briefe.................................................................. 8
Impressum ................................................ 14, 316
Leserservice................................................... 316
Chronik ........................................................... 317
Register .......................................................... 318
Personalien .................................................... 320
Hohlspiegel/Rückspiegel.............................. 322
7
Briefe
„Wenn mich jemand fragt, was
typisch deutsch ist, dann
würde ich sagen: dieser hohe
idealistische Maßstab im
Hinterkopf bei der Lösung
profanster Probleme.“
Jenny Radeck, Leipzig, zum Titel „10 Jahre nach dem Fall der Mauer –
Großmacht Deutschland?“ Arnulf Baring über die deutsche Apathie
angesichts der osteuropäischen Herausforderung
SPIEGEL-Titel 45/1999
Die Titelwahl „Großmacht Deutschland“
zeugt von wenig Sensibilität. Auch bei einem Nachkriegsgeborenen wird damit ein
Antideutschlandreflex wach, dem ich mich
schon in meiner Kindheit nie entziehen
konnte. Nicht nur meine Eltern, viele ihrer
Generation haben sich durch den Krieg von
Deutschland völlig abgewandt und uns so
den Zugang zum kulturellen Reichtum ihres Landes vorenthalten. Erst später realisierte ich, was mir verborgen blieb. Mich hat
oft beeindruckt, wie viele meiner gleichaltrigen deutschen Kollegen die „Großmacht
Deutschland“ besser verarbeitet haben als
mancher unter uns Nachbarn. Umso unnötiger sind solche Titelzeilen, die „alte Gefühle“ wecken. Alte Großmachtgefühle auf
beiden Seiten, wohlverstanden.
Horgen (Schweiz)
Heier Lämmler
Als ich „Großmacht Deutschland“ las,
dachte ich, das sei spöttisch gemeint. Aber
das war doch tatsächlich ernst gemeint. Sie
nennen es „Westorientierung“. Ich nenne
es Kolonie. Und eine Kolonie kann nun
einmal keine Großmacht sein, und wenn
sie noch so groß ist. Wenn die USA anordnen, das habt ihr zu tun, und das habt ihr
zu zahlen, dann machen wir das. Das äußere Zeichen der Unterwerfung ist, dass wir
mehr und mehr die Sprache und Kultur
unserer Kolonialherren annehmen.
Köln
8
Jürgen Burneleit
Wie soll denn die mentale Mauer zwischen
Ost und West eingerissen werden, wenn
aus den alten Bundesländern 40 Prozent
der Leute immer noch nicht in den neuen
Bundesländern waren, während es umgekehrt 12 Prozent sind. Die richtige Sicht
der Dinge gewinnt man eben nur dann,
wenn man nach Sachsen oder Thüringen
fährt, Mallorca Mallorca sein lässt, das
Nutzbringende seines Urlaubs einmal ganz
anders erfährt und damit auch noch zum
deutsch-deutschen Verstehen beiträgt.
Lingen (Nieders.)
Erich Rückleben
Als ein Koreaner, der sich vollständig integriert fühlt, ist es mir aufgefallen, wie
sehr sich „die Deutschen“ von anderen
Illerbeuren (Bayern)
Martin Rothmann
Wie lange wollen Sie diese
Selbstgeißelungsmentalität eigentlich noch beibehalten? Als
erwachsener Mensch, dessen Eltern bei Kriegsende selbst noch
Kinder waren, kann ich es nicht
mehr hören, dass die Deutschen
die bösen Schweine sind, denen Reichstagsgebäude in Berlin
nicht über den Weg getraut wer- Neues Selbstwertgefühl?
den dürfe. Solange wir Deutschen dies gebetsmühlenartig wiederho- Nationen unterscheiden. So scheint es nur
len, dürfen wir von unseren Nachbarn mir als Ausländer, der aus Trägheit noch
nicht erwarten, dass diese von uns ein bes- keinen deutschen Pass beantragt hat, hier
seres Bild haben als wir selbst. Mein Vor- möglich zu sein, auf Deutschland stolz zu
schlag: erinnern ja, verdammen nein.
sein, ohne den Verdacht auf mich zu lenSchriesheim (Bad.-Württ.) Thomas Lehmann
ken, ein „Nazi“ zu sein. Vielleicht ist es
aber genau diese Tatsache, die diese GeEs kann doch nicht sein, dass zehn Jahre sellschaft zu einer der lebenswerteren
nach dem Fall der Mauer die Aktivisten macht. Herr Baring schreibt von der Wurder ersten Stunde immer noch jammernd zellosigkeit und Orientierungslosigkeit der
und jaulend ihren verpassten Chancen hin- Deutschen auf Grund der selbst auferlegterhertrauern und um ihre verdiente Aner- ten Vergangenheitslosigkeit. Mir scheint,
kennung ringen. Die Wendefüchse aus der dass aber gerade darin eine Chance liegt,
zweiten Reihe des SED-Regimes waren eine „bessere“ Gesellschaft zu bilden, die
Veit Hennemann
Wenn die Deutschen auch dazu neigten,
von einem Extrem ins andere zu fallen, zwischen Großmäuligkeit und Servilität nicht
die richtige Mitte fanden, so ist Ihr Titel umso unangebrachter und verantwortungsloser, als vieles darauf hindeutet, dass die jüngeren Deutschen nicht mehr unter einem
gestörten Selbstwertgefühl leiden. Das Auftreten und Gebaren von Fischer und Schröder im Ausland vermitteln das wohltuend.
Bielefeld
Berlin
Vor 50 Jahren der spiegel vom 24. November 1949
Hinweise auf Wahlfälschungen zur NS-Zeit Hitler-Volksabstimmungen
manipuliert? Der ostdeutsche Industrieminister Fritz Selbmann entwirft
eine Fata Morgana des Zweijahresplans Zweckgebundener Optimismus.
14 Millionen Tonnen Erdölvorräte im Emsland 1953 soll Westdeutschlands
Raffineriekapazität den eigenen Bedarf abdecken. Westdeutschlands
Schifffahrt kann hoffen Hohe Kommissare gestatten den Bau von Schiffen
mit beliebiger Antriebsart. Bertrand Russells Geschichtswerk erscheint
nach 15 Jahren auf Deutsch Immer noch erregend modern.
Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de
Titel: Emsland-Bauer Klasinck vor Ölfördertürmen
Gisela Thomsen
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CH. BACH / BACH & PARTNER
Auf dass wir gute Europäer werden
Nr. 45/1999, Titel: 10 Jahre nach dem Fall der Mauer –
Großmacht Deutschland?
Arnulf Baring über die deutsche Apathie angesichts
der osteuropäischen Herausforderung
Deutschland, ein europäischer Staat. Allmählich scheint es, dass diese Contradictio
in adjecto überwunden ist. Im einstigen
Land der „Dichter und Denker“ sieht es so
aus, als ob wir Deutschen langsam akzeptieren, was wir sind: ein Volk in Europa, eines unter vielen. Vielleicht sind wir endlich
nicht mehr von vorgestern, sondern haben doch noch unser
Heute gefunden. Auf dass wir
nun werden, was wir eigentlich
sein sollten – gute Europäer!
eben schlauer und listiger. Sie haben blitzschnell erkannt, dass mit der patriarchalisch-konservativen Regierung in Westdeutschland kein „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ verwirklicht werden wird.
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Briefe
nicht die gemeinsame Vergangenheit, sondern die gemeinsame Zukunft als Basis für
ein Zusammenleben besitzt.
Aachen
Yoon Soo Hwang
Bravo, Arnulf Baring! Jedoch eine Frage:
Könnte die von Ihnen angesprochene
Schläfrigkeit nicht eher Dummheit sein?
Expertisen über Osteuropa gibt es in
Deutschland mehr als im europäischen
Ausland – von Baring bisher auch immer
wieder anerkannt –, und zwar im Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, in der Stiftung Wissenschaft und Politik und an verschiedenen
Universitäten. Dass diese Forschung finanziell langsam austrocknet, dass sie andererseits auch mehr genutzt werden könnte, steht auf einem anderen Blatt. Die Einsichten der US-Experten in die Labilität
der osteuropäischen Krisenregion werden
international vielleicht häufiger zitiert, in
der politischen Praxis aber genauso selektiv genutzt wie die aus Deutschland. Es ist
nicht nur deutsche Schläfrigkeit, sondern
eine westliche Mischung aus Wunschdenken und Desinteresse, die zur Unterschätzung des Krisenpotenzials in unserer osteuropäischen Nachbarschaft führt.
Köln
Prof. Dr. Heinrich Vogel
Bundesinst. f. ostwiss. u. intern. Studien
Eine historische Wahrheit
Nr. 44/1999, Panorama Ausland: China –
„Wir werden siegen“
DPA
Sundern (Nordrh.-Westf.) Erich Kalinowsky
Tatort in Bad Reichenhall
Zeichen für eine starke Demokratie?
Diese Zahl spricht für sich
Nr. 45/1999, Kriminalität: Amoklauf von
Bad Reichenhall lässt Experten und Polizei ratlos
Es wird leider immer wieder Amokläufer
geben, ein verschärftes Waffenrecht wird
dies nicht verhindern. Sind keine Schusswaffen zur Hand, nimmt man eben das Auto oder, wie auch erst kürzlich geschehen,
eine Axt! Abgesehen davon hat Deutschland bereits eines der restriktivsten Waffengesetze der Welt. Es mag vielleicht komisch klingen, aber es ist eine Tatsache,
dass ein moderates Waffengesetz ein Zeichen für eine starke Demokratie ist. Es
zeigt, dass ein Staat seinen Bürgern vertraut! Nur totalitäre Systeme verbieten den
privaten Waffenbesitz, um eine Auflehnung
der Bevölkerung gegen die Diktatoren von
Anfang an zu unterbinden.
Ramstein (Rhld.-Pfalz)
Das Interview mit Oberst Wang Baoqing
zeigt deutlich, dass Festlandchina Invasionsabsichten gegenüber Taiwan hegt. Taiwan tut dies gegenüber China nicht. Die
ganze Welt weiß, dass Taiwan ein unabhängiges Land ist. Warum muss Taiwan also
erst auf seine Identität verzichten, um mit
Festlandchina wieder vereinigt zu werden?
China sollte seine Bereitschaft zu einer
friedlichen Wiedervereinigung ankündigen,
um gemeinsam mit Taiwan einen harmonischen, bilateralen Prozess zu entwickeln.
Krieg kann für das Fernziel der Wiedervereinigung kein geeignetes Mittel sein.
Die Aussagen Präsident Lee Teng-huis über
die speziellen zwischenstaatlichen Beziehungen von Taiwan und Festlandchina sind
eine historische Wahrheit. Die Aufforderung der Rücknahme dieser Äußerung von
Seiten Pekings ist unrealistisch. 75 Prozent
der taiwanischen Bevölkerung sind gegen
das festland-chinesische Modell „ein Land,
zwei Systeme“, lediglich 8,5 Prozent dafür.
Wenn die VR China tatsächlich eine friedliche Lösung mit Taiwan anstrebt, sollte sie
sich eher mit der Meinungsvielfalt in Taiwan auseinander setzen und nicht mit Gewalt drohen.
Hamburg
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Cheng Ming-shih
Taipeh-Vertretung in der BRD
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Volker Hellein
Es zeugt von wenig Sachkundigkeit, wenn
ein schärferes Waffenrecht gefordert wird.
Das Waffengesetz verlangt von legalen Waffenbesitzern ausdrücklich eine sichere Aufbewahrung ihrer Schusswaffen. Ein einfacher Holzschrank mit Frontverglasung wie
im Fall von Bad Reichenhall genügt diesem
Anspruch sicher nicht. Zudem muss jeder
legale Waffenbesitzer auf seine Zuverlässigkeit überprüft werden. Falls der Vater
und Waffenbesitzer wirklich ein Alkoholproblem hat, erfüllt er auch dieses Kriterium nicht. Bedenkt man, dass bundesweit
nur circa 0,003 Prozent aller waffenbezogenen Straftaten mit legalen Waffen verübt
werden, dann spricht diese Zahl für sich.
Weisenheim (Rhld.-Pfalz) Dieter H. Marschall
Einfach den Namen ändern?
Nr. 45/1999, Zeitgeschichte:
Reemtsmas Rückzug
Den Vorwurf, ich rechnete die von der
Wehrmacht ermordeten unschuldigen Zivilisten zu den klassischen Opfern eines
Partisanenkrieges, weise ich zurück. Ich
habe lediglich geschrieben, dass es nicht
dasselbe ist, wenn Zivilisten als Unschul-
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dige ermordet oder wenn „echte“ Partisanen standrechtlich exekutiert werden. Die
letzte Maßnahme war nach dem damals
gültigen Kriegsrecht legitim: Nach der Haager Landkriegsordnung hatten Partisanen
keinen Anspruch auf Pardon. Die Verbrechen von russischen und ukrainischen
Hilfswilligen wurden zwar auf Befehl der
Wehrmacht begangen. Dies ist aber ein
Führungsverbrechen der Wehrmacht und
ein Verbrechen der Hilfswilligen. Die Ausstellung hatte aber das Ziel, die Verstrickung der „kleinen“ Landser zu zeigen.
Aus der Intention der Ausstellung können
also diese Verbrechen nicht als Verbrechen
der Soldaten mitgezählt werden.
Budapest (Ungarn)
Dr. Krisztián Ungváry
Es macht keinen Sinn, einige Exponate herauszunehmen. Einfacher wäre es, die Ausstellung zu erweitern und den Namen zu
ändern: Kriegsverbrechen.
Gargnano (Italien)
Günter Mangold
J. MÜLLER
Sie schreiben „Musial hatte allerdings Kontakte in die rechte Szene“. Diese Formulierung könnte missverstanden werden. Ich
lehne Rechtsradikalismus schärfstens ab.
Allerdings sehe ich mich als Wissenschaftler verpflichtet, alle
Argumente zu überprüfen, unabhängig
von ihrer Herkunft.
Gegen Beifall von der
falschen Seite kann
man sich dabei nicht
schützen.
Musial
Warschau (Polen)
Dr. Bogdan Musial
Deutsch. Hist. Institut
Bei allem Hin-und-her-Argumentieren je
nach Überzeugungs- und Interessenlage:
Reemtsma und Heer haben das Recht verloren, in der Auseinandersetzung über ein
Kapitel deutscher Geschichte eine zentrale Rolle zu spielen. Die Fehler ihrer Ausstellung offenbaren, was ihnen unentschuldbar dafür fehlt: Gewissenhaftigkeit
und Sorgfalt, Redlichkeit im Umgang mit
Kritikern, Abwesenheit jeglicher, vor allem moralischer Überheblichkeit. Man hätte sich für dieses ungeheure Thema Bessere und weit Glaubwürdigere gewünscht
und keine von (Selbst-)Hass getriebenen
Unterstützer.
Putzbrunn-Solalinden (Bayern)
Gottfried Müller
Sicherlich ist es notwendig, die Richtigkeit
dieser Ausstellung zu überprüfen. Aber ist
es wirklich wichtig, ob nun 90, 92 oder 99
Prozent der ausgestellten Dokumente der
Wehrmacht zuzuordnen sind? Ist nicht die
eigentliche Frage: Was bringt Menschen,
unabhängig von Nationalität und Berufsstand, dazu, derartige Gewalttaten zu vollbringen?
Ratzeburg (Schlesw.-Holst.) Stefanie Döring
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Briefe
Nr. 45/1999, Liechtenstein: Wie der Zwergstaat das
Geld von Mafia, Drogenkonzernen
und russischen Großkriminellen wäscht
Es stellt sich die Frage, wie lange Europa
sich das Verhalten von Liechtenstein, diesem geografischen Treppenwitz der Weltgeschichte, gefallen lassen kann. Als Österreicher findet man es auch unerträglich,
dass österreichische Justizfunktionäre
(Richter, Staatsanwälte) in diesem Zwergfürstentum als „Gastarbeiter“ tätig sind
und sich dann ihre Pensionen von der Republik Österreich auszahlen lassen.
Wohlstand gebaut ist. Wir Liechtensteiner
müssen uns wohl langsam darüber klar
werden, dass unser Land als eigenständiger
Staat zu klein ist und wir uns wohl oder
übel einer großräumigeren Region innerhalb eines Vereinigten Europa anschließen
müssen. Die antiquierte Staatsform der
Monarchie gehört ohnehin ins Museum.
Triesen (Liechtenstein)
Roman Schädler
F. BLICKLE / BILDERBERG
Ich habe von dem von Ihnen beschriebenen „Geflecht aus Beziehungen zwischen
hohen Beamten, Richtern, Politikern,
Bankdirektoren und Anlageberatern“
nichts wahrgenommen. Im Gegenteil:
Gerade um ein solches Geflecht zu verhindern, werden in Liechtenstein seit JahrGraz (Österreich) Dr. Josef Paul Schinnerl
zehnten die höchsten
Justizfunktionäre, namentlich der jeweilige
Präsident des Obersten
Gerichtshofs, aus entsprechend qualifizierten
Richtern des Auslands,
insbesondere aus Österreich, gewählt. Von diesen ausländischen Richtern wird eine entsprechende Distanz nach
allen Richtungen des zugegebenermaßen kleinen liechtensteinischen
Raums erwartet. Und in
der Tat: In den insgesamt
24 Jahren meiner richterlichen Tätigkeit im
Fürstentum wurde bei
mir kein einziges Mal (!)
Liechtensteiner Fürstenschloss: Geografischer Treppenwitz
in Richtung einer beSie haben völlig Recht, dass in Liechten- stimmten Sacherledigung interveniert. Völstein viele Saubermänner mit schmutzigen lig unzutreffend ist auch die von Ihnen verGeldern Geschäfte machen. Was Sie aber tretene Meinung, Liechtenstein verweigeverschweigen, ist die Tatsache, dass neben re grundlos die Rechtshilfe. Es gewährt sie
„lateinamerikanischen Drogenclans, italie- vielmehr gemäß dem durch das Europäinischen Mafiagruppierungen und russi- sche Übereinkommen über die Rechtshilschen OK-Gruppen“ auch eine Menge fe in Strafsachen vom 20. April 1959 vordeutscher Politiker, Sportstars, Banker und gegebenen Standard, der allerdings Rechtsanderer Steuerflüchtiger ihre Gelder nach hilfeverweigerungen bei politischen und
Liechtenstein schicken. Sie gehören zu den fiskalischen Straftaten vorsieht.
Lieblingskunden unserer Treuhänder.
Innsbruck
Prof. Dr. Karl Kohlegger
Vaduz (Liechtenstein) Christoph Rheinberger
Man traut seinen Augen kaum: Da wird
ein ganzes Land verleumderisch als Handlanger von Kriminellen bezeichnet, und
der wahre Skandal bleibt unkommentiert:
Der Bundesnachrichtendienst zapft den
Datentransfer der liechtensteinischen Finanzinstitute an! Sind wir eigentlich im
Krieg? Man glaubt sich in die dunkelste
Zeit des KGB zurückgeworfen.
Schaffhausen (Schweiz)
Dr. N. Bernhard
Die von Ihnen aufgezeigten Fälle sind wohl
eher die Spitze des Eisbergs als Übertreibung. Da ein großer Teil der Bevölkerung
wirtschaftlich vom FinanzdienstleistungsSektor abhängig ist, sollte uns bewusst
werden, auf welch tönernen Füßen unser
14
Vizepräsid. (1973–1981), Präsident (1981–1997)
d. Fürstl. Liechtenst. Obersten Gerichtshofs
VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama,
Affären, NRW, Geheimdienste, Hauptstadt, Justiz (S. 72), Kriminalität: Clemens Höges; für Affären (S. 26), Justiz (S. 111), Trends,
Geld, Konzerne, Steuern, Bauindustrie, Rente, Glücksspiel, Pay-TV,
Internet, TV-Filme: Armin Mahler; für Zwangsarbeiter, Europa,
Atomkraft, CDU, Diplomaten, Pressefreiheit, Bundestag, Bundeswehr: Michael Schmidt-Klingenberg; für Szene, Titel, Fernsehen,
Musik, Kino, Regisseure, Autoren, Bestseller, Stars, Theater,
Buchmarkt, Pop, Chronik: Wolfgang Höbel; für Idole, Fußball,
Tennis: Alfred Weinzierl; für 100 Tage im Herbst: Jochen Bölsche;
für Panorama Ausland, USA, Türkei, Tschetschenien, Labour, Australien, Österreich, Luftfahrt, Italien, Kaliningrad: Dr. Olaf Ihlau;
für Prisma, Physik, Zahnmedizin, Raumfahrt, Umwelt, Herzinfarkt, Automobile: Johann Grolle; für die übrigen Beiträge: die
Verfasser; für Briefe, Register, Personalien, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. Manfred Weber; für Titelbild: Stefan Kiefer; für Layout: Rainer Sennewald; für Hausmitteilung: Heinz P. Lohfeldt;
Chef vom Dienst: Thomas Schäfer (sämtlich Brandstwiete 19,
20457 Hamburg)
TITELBILD: Illustration Rafal Olbinsky
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AP
Auf tönernen Füßen
Mit Graffiti beschmierter Findling
Durchaus ernst zu nehmendes Gesamtwerk
Ein großer Unterschied
Nr. 45/1999, Schönheit: Interview mit KunstTheoretiker Bazon Brock über die
Graffiti-Attacke auf den Hamburger Findling
Endlich wissen wir’s: Beschmieren verhindert das Unsichtbarwerden, der beschmierte Findling spricht zu uns, und die Sprayer
benutzen ihre Zeichen als Abwehrzauber.
Ach, klingt das schön. Und die Sprayerlogos sind ein Tarnnetz für die latente Selbstzerstörung, die sich so als Schmuck ausgibt … alles klar? Falls ihm irgendwann einige „Subkulturler“ seine Hauswände voll
sprayen, würde Professor Brock bestimmt
nicht mehr von Menetekeln schwärmen.
Kiel
Helga Meyer-Stumm
Zwischen Werbung und Graffiti besteht ein
von Brock scheinbar nicht wahrgenommener Unterschied: Werbung wird nicht an
Kunstwerken und Denkmälern angebracht.
Graffiti verdecken die Unterlage nicht nur,
sondern verletzen deren Substanz.
Berlin
Oliver Reiser
Legale Graffiti lassen sich künstlerisch als
dilettantische Pop-Art-Variante abtun, illegale hingegen sind ein durchaus ernst zu
nehmendes Gesamtwerk, eine künstlerische und kriminelle Selbstinszenierung.
Zum Handwerk der Sprüher gehört das
Lesen von Fachliteratur (von Eisenbahnerzeitschriften bis Kriminologie) und die
körperliche Fitness genauso wie das technische Beherrschen ihres Mediums (Sprühdose, Marker, Kratzstein). Um Graffiti gerecht zu werden, muss man sie als eine Art
Performance-Kunst einordnen. Die Unterstützung der Soziologen ist Sprühern dabei
genauso Wurscht wie das Jammern der
Normalbürger.
Berlin
Sean Floyd
ehemaliger Sprüher
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen.
Einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe ist eine Postkarte der Firma Toshiba, Neuss, und eine Postkarte der
Deutschen Telekom, Bonn, beigeklebt. Einer Teilauflage
dieser SPIEGEL-Ausgabe liegen Beilagen der Firmen
Giordano, D’Alba, Handelsblatt Wi/Wo, Düsseldorf, Universal Music, Hamburg, und Hoffmann & Campe/SPIEGEL Almanach, Hamburg, bei.
Werbeseite
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Deutschland
CH. BACH / BACH & PARTNER
Panorama
Hauptstadt-Party der Bundesregierung vor dem Brandenburger Tor in Berlin
UMZUGSFEST
Gravierende Verstöße
U
nsauberen Umgang mit öffentlichen Geldern wirft der Bundesrechnungshof der Bundesregierung vor. Bei einer Überprüfung der Auftragsvergabe für das Bürgerfest der Regierung
Schröder am 11. und 12. September vor dem Brandenburger Tor
in Berlin stellten die Prüfer „erhebliche Mängel“ fest.
So hätten Bundespresseamt und Bundesbauministerium Aufträge zur Planung und Organisation des 1,6 Millionen Mark teuren Festes an die zwei Berliner Agenturen Compact Team und
Runze & Casper vergeben, ohne Konkurrenzangebote einzuholen. Auch seien 120 000 Mark aus Haushaltsposten verwendet worden, die eigentlich für Europa-Werbung und die Expo
2000 bestimmt waren.
Zurückhaltung am Golf
M
it demonstrativen Gesten versucht
Verteidigungsminister Rudolf
Scharping, den Koalitionskrach um Rüstungsexporte zu entschärfen. Erst einmal blies er nach dem Streit
um „Leopard“-Panzer für
die Türkei einen Besuch in
Ankara ab. Vergangene Woche ließ er kurz vor dem
Abflug in die Vereinigten
Arabischen Emirate, die 32
Alpha-Jets und U-Boote erhalten sollen, den Chef seiner Rüstungsabteilung Jörg
Kaempf von der Passagierliste streichen. Entgegen
dem von der Deutschen
Botschaft verteilten Programm blieb Scharping bei
der Luftfahrt- und Rüstungsmesse „Dubai Air
Scharping
Show“ schließlich der Unterzeichnung
eines Abkommens der Firma DaimlerChrysler Aerospace (Dasa) mit dem
Verteidigungsminister der Emirate fern.
Die Vereinbarung gilt der Zusammenarbeit bei der Entwicklung eines neuen
Kampf- und Trainingsflugzeugs
(„Mako“). Auch den Dasa-Wunsch, ins
Cockpit eines Holzmodells
des „Mako“-Jets zu klettern, erfüllte der Minister
nicht. Scharping: „Exportförderung im Rüstungsbereich ist nicht meine Aufgabe.“ Die Dasa war mit
dem Messe-Besucher dennoch hoch zufrieden: Für
das Auslandsgeschäft, so
der für Militärflugzeuge
zuständige Dasa-Manager
Aloysius Rauen, sei jeder
Ministerauftritt eine „hervorragende Unterstützung“ und „äußerst hilfreich“.
K. MEHNER
RÜSTUNGSEXPORT
Ein weiterer „gravierender Verstoß“ gegen das geltende Vergabe- und Haushaltsrecht laut Rechnungshof: Bei der Auftragsvergabe standen weder die Art der eingekauften Leistungen noch deren Kosten konkret fest. Nicht nachvollziehbar
fand die Behörde ebenso, dass Mindereinnahmen bei den Sponsorengeldern in Höhe von 319 010 Mark – gerechnet hatten die
Veranstalter mit 800 000 – nun zu Lasten des Bundes gehen sollen, während ein eventueller Überschuss einer der beauftragten Agenturen zugeflossen wäre. Hinweise auf „praktizierte
Korruption“ konnte der Rechnungshof aber nicht entdecken.
Das Bauministerium habe jedoch die Vorschriften zur Korruptionsprävention nicht eingehalten.
Nicht überzeugt hat den Rechnungshof die Erklärung von Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye, der Verzicht auf eine vorherige Ausschreibung sowie die Mängel im Verfahren seien auf
hohen Zeitdruck und Verzögerungen durch den Kosovokrieg
zurückzuführen.
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S O Z I A LV E R S I C H E R U N G
Milliardenloch droht
A
uf die Bundesanstalt für Arbeit
könnten Mehrkosten von jährlich
mehr als 30 Milliarden Mark zukommen. Das befürchten Experten der Bundesregierung für den Fall, dass das Verfassungsgericht im Frühjahr 2000 den
Gesetzgeber dazu verpflichten sollte,
Sozialversicherungsbeiträge auf Weihnachts- oder Urlaubsgeld bei der Bemessung von Lohnersatzleistungen zu
berücksichtigen. Bislang müssen Arbeitnehmer, deren Einkommen unter den
Beitragsbemessungsgrenzen liegen, vom
13. Monatsgehalt zwar Beiträge an die
Sozialversicherungen abführen. Ansprüche auf Leistungen aber leiten sich
daraus nur sehr begrenzt ab. Während
die zusätzlichen Beiträge zur Rentenversicherung in die Berechnung der
Rentenansprüche einfließen, bleiben sie
beim Arbeitslosengeld unberücksichtigt.
17
Panorama
STROMPREISE
Aus für Wasserkraft
S
KWR RHEINFELDEN
tillstand bei Deutschlands größtem Ökostrom-Projekt: Der geplante Ausbau des 102 Jahre alten Wasserkraftwerks Rheinfelden am Oberrhein von jetzt
25,7 Megawatt auf 119 Megawatt Leistung lässt sich angesichts drastisch gesunkener Strompreise nicht mehr
finanzieren. Kalkulierte Erzeugungskosten von rund
16 Pfennig je Kilowattstunde in der 30-jährigen Abschreibungsphase machen den Wasserstrom unverkäuflich. Strom aus Kohle, Gas oder Uran ist auf dem
liberalisierten Markt inzwischen für drei bis vier Pfen- Kraftwerk Rheinfelden
nig zu haben. Der Weimarer Professor Hans-Peter
Hack hat die Unwirtschaftlichkeit neuer großer Wasserkraft- nicht zu verlieren. So lange gehen alljährlich rund 340 Millioanlagen belegt. Wenn keine Hilfen gezahlt würden, „droht uns nen Kilowattstunden zusätzlichen Wasserstroms verloren. Midieses Potenzial wegzubrechen“, folgert Hack. Die Betreiber chael Müller, stellvertretender SPD-Fraktionsvorsitzender im
Rheinfeldens verhandeln inzwischen mit den Behörden über ei- Bundestag, nennt den Baustillstand in Rheinfelden „energienen mehrjährigen Bauaufschub, um die Betriebskonzession politischen Blödsinn“.
BÜRGERRECHTLER
U M W E LT
Bundesstiftung unter
Beschuss
Grüner Müll in Pakistan
D
Ü
bler Praktiken wird die vor gut einem Jahr vom Deutschen Bundestag gegründete „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ von Ex-Bürgerrechtlern bezichtigt. Der renommierte
Historiker und Stiftungsreferent Stefan
Wolle wirft der Stiftungsführung unter
dem SPD-Politiker Markus Meckel in
einem Brand-Brief vor, sie gefährde die
Aufarbeitungsprojekte, die sie fördern
sollte.
Die mit mehreren Millionen Mark aus
Steuermitteln ausgestattete Stiftung will
ein eigenes Archiv und eine eigene
Bibliothek aufbauen – obwohl es beides
längst gibt. Mit dem „Finanzhebel“, so
Wolle, versuche die Stiftung nun, bestehende unabhängige Archive „zur Übergabe ihrer Archivbestände“ zu zwingen, obwohl diese bereits seit Jahren
Material sammelten.
Stiftungsgeschäftsführer Wolfgang Kusior, so Wolle, setze die Hauptsammelstelle von Dokumenten der einstigen
DDR-Opposition, das Berliner RobertHavemann-Archiv, unter Druck, indem
er mit dem Entzug der Fördermittel
drohe. Das wäre das Aus für diese Einrichtung.
„Die Stiftung verrät uns“, sagt Jörg
Drieselmann, ehemaliger SED-Gegner
und Geschäftsführer der Gedenkstätte
in der einstigen Zentrale des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit in der
Berliner Normannenstraße.
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Grüner-Punkt-Müll in Pakistan
ie dem Dualen System Deutschland gehörende Deutsche Gesellschaft für Kunststoff-Recycling (DKR) bekommt Ärger wegen ihrer Müllexporte nach Pakistan. Insgesamt 14 000
Tonnen „gemischte Kunststoffabfälle“ aus deutschen Haushalten wurden seit 1993 an eine East
South Trading im pakistanischen Lahore geliefert. Ein Zwischenhändler im hessischen Bad Soden, die Firma Z. Rana, kassierte dafür „Verwertungszuschüsse“ von mehreren Millionen Mark.
Ein Teil der Plaste aus dem gelben Sack wurde
tatsächlich in Pakistan zu Recyclingprodukten
aufgearbeitet. Mehrere tausend Tonnen GrünerPunkt-Müll liegen jedoch weiterhin in offenen
Lagern herum. Die Staatsanwaltschaft in Lahore
ermittelt wegen illegaler Mülllagerung. Der
DKR-Partner East South Trading begründet die
Müllhalden mit der „schlechten Qualität“ der
angelieferten „Wertstoffe“ und fordert einen „finanziellen Zuschuss“ für die Verwertung. Die
DKR-Manager wollen dagegen hart bleiben.
S C H E I N S E L B S TÄ N D I G K E I T
Gnade für reuige Sünder
U
m eine Welle von Firmenpleiten zu
verhindern, hat die rot-grüne
Mehrheit im Bundestag eine befristete
Amnestie für Arbeitgeber beschlossen,
die in der Vergangenheit versicherungspflichtige Arbeitnehmer als so genannte
Scheinselbständige beschäftigt haben.
Ursprünglich sollten Unternehmer die
gesparten Sozialversicherungsbeiträge
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für mehrere Jahre nachzahlen müssen.
Weil dies aber mittelständische Unternehmen in den Ruin treiben könnte,
wurde in das „Gesetz zur Förderung
der Selbständigkeit“ ein Amnestiepassus eingefügt: Danach müssen Firmenchefs, die von sich aus bis zum 30. Juni
2000 bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte eine Prüfung beantragen, ob in ihrem Unternehmen
fälschlich als Selbständige eingestufte
Mitarbeiter beschäftigt sind, nicht mit
Rückforderungen rechnen.
Deutschland
mission betrieben wurde – ihre Tochter
Christine als Assistentin angestellt und
aus dem Etat des Parlaments bezahlen
lassen. Die 31-Jährige, eine promovierte
Juristin, bezog als Zeitkraft ein Monatsgehalt von umgerechnet über 6000 Mark.
Einen wesentlichen Teil ihrer Assistentinnentätigkeit, gab Mutter Fontaine zu,
habe Tochter Christine als Wahlkampfhelferin geleistet; das Tochter-Unternehmen sei jedoch „legal nach den Regeln
des Europäischen Parlaments“. Abgeordneten des Bundestags ist die Beschäftigung von Familienangehörigen
nicht gestattet, auch die deutschen
Abgeordneten des Europäischen Parlaments halten sich daran. Im Entwurf
eines Statuts für die EPAssistenten, den der deutsche CDU-Europaabgeordnete Klaus-Heiner
Lehne vorgelegt hatte,
war die Verwandtenbeschäftigung ausdrücklich
als illegal untersagt. Die
Mehrheit des Parlaments
aber wollte nicht von der
Möglichkeit lassen, Oma,
Ehefrau oder Kinder als
Assistenten entlohnen zu
lassen, und kippte im
April dieses Jahres die
Verbotspassage. Man habe
es eben, so Vize-Präsidentin Fontaine, „mit unterschiedlichen politischen
Kulturen“ zu tun.
E U R O PA
Job für die Tochter
I
J.-B. VERNIER / CORBIS SYGMA
n der Europäischen Union nimmt die
Günstlingswirtschaft kein Ende. Ausgerechnet das Europäische Parlament
(EP), das im März die EU-Kommission
in den Rücktritt getrieben hatte, ist nun
selbst ins Zwielicht geraten. Im Zentrum der Affäre steht die neu gewählte
französische Parlamentspräsidentin Nicole Fontaine. Die konservative Politikerin hatte in ihrer Funktion als EPVize-Präsidentin von Januar bis Ende
Juni 1999 – noch während die Amtsenthebung gegen die damalige EU-Kom-
Nicole Fontaine, Tochter Christine
N I E D E R S AC H S E N
Freunde in Not
N
DPA
iedersachsens Ministerpräsident
Gerhard Glogowski (SPD) jongliert
ungewöhnlich locker mit Firmengeldern. Glogowski, ehedem Oberbürgermeister von Braunschweig, befand sich
Anfang November auf einer Dienstreise
in Kasachstan, als in der Heimat alte
Freunde im Vorstand der Braunschweiger Stadtwerke in Schwierigkeiten ge-
Ehepaar Glogowski auf Hochzeitsreise
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rieten. Deren Verabschiedung eines Geschäftsführers war mit 80 000 Mark
Rechnungsprüfern zufolge zu luxuriös
ausgefallen.
Glogowski ließ einen mitreisenden Manager der halbstaatlichen Nord/LB von
Kasachstan aus bei der Familie des Party-Ausrichters „Löwenkrone“ anklingeln: Die Firma solle ihren Anteil an
den Kosten um 20 000 Mark kürzen, den
Rest würden Ministerpräsident und
Nord/LB schon richten. Heikel ist Glogowskis Mauschelei, da er selbst Aufsichtsratschef der Stadtwerke ist. Zudem hatte „Löwenkrone“ auch Glogowskis Hochzeitsparty im Mai dieses Jahres ausgerichtet. Das Fest war mit allerhand Sonderkonditionen für Glogowski
preiswert abgelaufen. Die Getränke
spendierten Coca-Cola und eine Brauerei, Manager von Nord/LB und PreussenElektra sponserten das Musikprogramm. Die Hochzeitsreise führte
die Glogowskis mit der TUI werbewirksam nach Ägypten. Das Reiseunternehmen ließ sich für seine Dienste allerdings trotzdem bezahlen.
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Panorama
Deutschland
Am Rande
Es gibt Leute, die
glauben, dass sich
die Bundesregierung aus moralischen Gründen
schwer tut mit
der Lieferung von
1000 Panzern an
die Türkei. Das ist
falsch. Richtig ist,
dass der Beschluss über jene Aufkleber noch nicht gefallen ist,
welche die Europäische Union
(EU) bald für jedes Kanonenrohr
vorschreiben dürfte: „Die EUKriegsminister: Waffen töten.
Jede Kugel aus diesem Rohr enthält eine Menge Blei.“ Das wird
die Kurden beruhigen.
Für Zigaretten ist das Gesetz
beschlossen. „Rauchen tötet“
steht bald auf jeder Packung,
obwohl die EU den Tabakanbau
pro Jahr mit einer Milliarde
Euro unterstützt. Das ist nicht
sehr konsequent, und wer heuchelt, muss es energisch tun,
sonst fällt es auf. Darum kämpft
die EU gegen den Tod, generell
und überall, und weil der Tod
ein zäher Gegner ist, rauchen
jetzt die Druckmaschinen.
Sie drucken Aufkleber für Autokonzerne wie Toyota („Nichts
ist untödlich“), für das britische Landwirtschaftsministerium („Beef kills“), für Alkoholmarken wie Holsten („Murkst
am dollsten“). 80 Millionen
Briefe will das Familienministerium verschicken: „Liebe/r MitbürgerIn, das ganze Leben kann
Sie niederstrecken.“
Mörderische Zeiten, aber es gibt
Hoffnung, denn zumindest das
Leben der Mäuse lässt sich neuerdings um ein Drittel verlängern. Das liegt angeblich daran,
dass Forscher ein Gen ausschalten konnten, das gesunde Zellen
sterben lässt. Das ist falsch.
Richtig ist, dass die europäische
Maus bei Verlassen ihres Lochs
bald ein EU-Warnschild erblicken
wird: „Gefährlich ist der Katze
Tatze.“
20
REUTERS
Tödliches Leben
Bundesbedienstete auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld
aum drei Monate nach dem Regierungsumzug hat sich die Zahl der
Wochenendpendler zwischen Bonn und
Berlin um rund die Hälfte verringert.
Statt der 3700 reservierten Plätze in
Fliegern und Zügen werden nach der
neuesten Umfrage in Ministerien und
Bundestagsverwaltung weit unter 2000
Plätze benötigt. Verkehrsminister Reinhard Klimmt (SPD) rechnet mit rund
neun Millionen Mark Storno-Kosten.
Zugleich aber registrieren die Ressorts
dienstags und donnerstags erheblich
mehr Dienstreisen. Über die Gründe
rätselten die Umzugsbeauftragten bei
ihrem Treffen Anfang November. „Montags und freitags fällt nun mal viel Arbeit in Wohnortnähe an“, spottete ein
Teilnehmer über jene „Di-Mi-DoBeamten“, die es höchstens drei Tage
im Berliner Büro hält.
Nur im Innenministerium herrschen
strenge Sitten. Bereits am Sonntagabend müssen die Pendler nach Berlin
reisen, um pünktlich montags zum
Dienstbeginn zu erscheinen. Und am
Freitagnachmittag streift Ressortchef
Otto Schily schon mal durch die Flure,
um die Anwesenheit seiner Untergebenen höchstpersönlich zu kontrollieren.
DV U
Nachgefragt
BUNDESBEAMTE
Di-Mi-Do in Berlin
K
Frey-Partei pleite?
N
ach den aufwendigen Wahlkämpfen
der letzten Monate, bei denen die
DVU in Brandenburg den Einzug in den
Landtag schaffte, ist die rechtsextreme
Partei offenbar finanziell am Ende. Wie
aus internen Unterlagen hervorgeht, erwartet DVU-Chef Gerhard Frey rund 15
Millionen Mark „Unterdeckung der
DVU“ am Ende dieses Jahres. Frey hatte drei Millionen Mark in den brandenburgischen Wahlkampf gepumpt und
damit rund 58 000 Wähler geködert. Für
die erhält er in der fünfjährigen Legislatur nur rund 300 000 Mark Wahlkampfkostenrückerstattung.
Wegen der prekären Finanzlage verhinderte der DVU-Bundesvorstand, dass
die Partei bei der kommenden Landtagswahl in Schleswig-Holstein am
27. Februar kommenden Jahres antritt.
Der Vormann des schleswig-holsteinischen Landesverbands, Rechtsanwalt
Klaus Sojka, verlangt jetzt vom Verleger
Frey Auskunft darüber, wer die „ungeheuerliche Schuldenlast“ zu vertreten
habe.
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Milder Osten
Egon Krenz und andere DDRGrößen sind wegen der Todesschüsse an der deutsch-deutschen Grenze zu Haftstrafen
verurteilt worden. Jetzt fordern Politiker mehrerer Parteien, sie zu amnestieren.
Was meinen Sie?
34
Ich finde eine Amnestie
richtig. Zehn Jahre nach West/Ost
Ende der DDR sollte ein 29/50
Schlussstrich gezogen
werden.
53
Ich lehne eine Amnestie
ab. Die Strafen sollten
verbüßt werden. West/Ost
57/40
Ich weiß nicht/
ist mir egal.
13
West/Ost
14/10
Emnid-Umfrage für den
SPIEGEL vom 16. und 17.
November; rund 1000
Befragte; Angaben in Prozent
Werbeseite
Werbeseite
Deutschland
A F FÄ R E N
„Schweigende
Duldung“
Der mutmaßlich kriminelle Umgang mit einer Millionenspende
lenkt das Augenmerk auf weitere dubiose Usancen bei
der Geldbeschaffung der CDU. Auch nach der Ära des Schatzmeisters Leisler Kiep wurden Zahlungen verschleiert.
I
n seinem Bonner Büro im KonradAdenauer-Haus traf sich der CDU-Vorsitzende vergangenen Dienstagmittag
mit einem älteren, sichtlich kränkelnden
Herrn zu einem Vier-Augen-Gespräch, von
dem nicht einmal enge Mitarbeiter Wolfgang Schäubles, 57, vorher gewusst hatten.
Mit seinem Gast Uwe Lüthje, 67, mehr
als 20 Jahre lang Generalbevollmächtigter
des CDU-Schatzmeisters und noch immer
einer der intimsten Kenner des Geldbeschaffungssystems des früheren Kanzlers
und Parteivorsitzenden Helmut Kohl, sagt
Schäuble, habe er nur Menschliches besprochen.
Die bange Frage, die derzeit die Union
tagtäglich quält, will der Parteichef mit
dem CDU-Finanzfachmann überhaupt
nicht erörtert haben: Was, um Himmels
willen, die Christdemokraten denn noch
an Enthüllungen über schwarze Konten
und problematische Geldtransaktionen aus
der Kohl-Ära zu erwarten haben.
Alles nur Schauspielerei?
In Berlin rang die Generalsekretärin Angela Merkel, 45, sichtlich um Fassung. Jede
Emotionalisierung sei „fehl am Platze“.
Mal verschränkte sie dabei die Arme abwehrbereit vor der Brust, dann schien es,
als würde die gelernte Physikerin den
zähen Parteispendenbrei immer wieder
neu zurechtkneten, auf dass er ihrer CDU
so wenig wie möglich schaden möge.
Jedes ihrer Worte las Merkel von einem
Zettel ab, den CDU-Anwalt Hans Dahs
vorbereitet hatte. Selbst bei Nachfragen
suchten ihre Augen immer wieder die juristisch abgeklopften Formulierungen: Die
jetzige Führungsspitze habe von den Vorgängen nichts gewusst, wisse auch heute
noch nichts.
Sind alle wirklich noch immer so argund ahnungslos?
Alte Weggenossen erinnern sich heute,
wie Kohl ihnen einst seine Führungskunst
an einem Alltagsbeispiel verdeutlicht habe.
Nie, nicht einmal die kleinste Strecke, fahre er selbst Auto. Denn sogar bei der ge-
Beschuldigter Kiep nach seiner Aussage in
ringsten Schramme laute sonst die Schlagzeile: „Unfall – Kanzler beteiligt“.
Doch Kohl hat immer nur die eine Hälfte der Anekdote erzählt. Die andere geht
so: Der Altkanzler hat immer genau gewusst, wer ihn gefahren hat.
Alles nur Biedermänner? Oder doch
Brandstifter?
Das System Kohl, in dem heikle politische und finanzielle Entscheidungen in
kleinsten Geheimzirkeln getroffen wurden,
holt die Partei nun ein. „Dass uns die Sa-
Quelle-Pakete für Bonn
Von der Quelle-Versandhausgruppe erhält die CDU-Bundespartei
am 12. Oktober 1993 100 000 Mark. Der Spendenbetrag wird
dabei in fünf Einzelspenden von jeweils
20 000 Mark aufgeteilt.
Als Spender fungieren die
VP-Schickedanz AG, Nürnberg
Foto-Quelle Schickedanz & Co., Nürnberg
Quelle-Versandzentrale in Nürnberg
22
Gustav Schickedanz KG, Nürnberg
Quelle Schickedanz AG & CO., Fürth
Da die Parteien laut Gesetz nur verpflichtet sind, Spendenbeträge
von mehr als 20 000 Mark zu veröffentlichen, wird keiner der fünf
Einzelspender im Rechenschaftsbericht 1993 der CDU namentlich
erfasst: Der Quelle-Konzern taucht als Spender für die Unionspartei
somit offiziell überhaupt nicht auf.
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V. L a n n e r t
P. R O G G E N T H I N
Gustav und Grete Schickedanz Holding KG, Fürth
Konrad-Adenauer-Haus in Bonn
M. HANGEN
Ob tatsächlich einzelne Entscheidungen
„gekauft“ worden sind – wie die Ankläger
vor allem im Falle Pfahls vermuten – oder
ob der Thyssen-Lobbyist Karlheinz Schreiber, 65, einfach – wie einst Flick – die politische Landschaft pflegte, ist ungeklärt.
Noch immer hat die CDU nichts zur Beantwortung der Frage beigetragen, warum
Schreiber dem damaligen CDU-Schatzmeister Kiep sowie dem Kohl-Vertrauten
Horst Weyrauch am 26. August 1991 im
schweizerischen St. Margrethen in Ganovenmanier eine Million Mark in bar in einem Koffer zukommen ließ – sechs Monate nachdem die Regierung die Operation
„Fuchs“ mit den Saudis abgesegnet hatte.
Fassungslos beobachtet der Kölner Soziologe Erwin Scheuch, 71, einst selbst Mitglied der CDU, was in seiner früheren Partei alles möglich war. Für „mindestens so
schlimm wie den Flick-Skandal“ hält er
die Sache mit der Panzermillion. Vermutlich sei bei der Schreiber-Zuwendung „die
kriminelle Energie sogar größer“ gewesen.
Die zunächst auf einem CDU-Anderkonto geparkte und durch Zinsen auf 1,1 Millionen Mark angewachsene Spende ließ Kiep,
wie er vergangenen Mittwoch bei einer fast
zehnstündigen Vernehmung durch drei Augsburger Staatsanwälte und einen Steuerfahnder abermals bestätigte, im Oktober 1992
die Wahrheit wird euch frei machen“
ganz offiziell auf drei seiner Ansicht nach verdiente CDU-Männer verteilen: Lüthje erhielt zum
Abschied 370 000 Mark, Weyrauch für seine Steuerberatungsund Wirtschaftsprüferkanzlei
421800 Mark und er selbst, Kiep,
rund 300000 Mark. Die habe er
seinem Anwalt Günter Kohlmann, einem der renommiertesten Steuerstrafrechtler der
Republik, als Honorar für seine
Verteidigung im Flick-Parteispendenverfahren überwiesen.
Versteuert hat Kiep die Zahlung
offenbar nicht.
Weyrauch will ihn entlasten
und den Ermittlern bei seiner
anstehenden Vernehmung erklären, bei der Bezahlung der
Anwaltskosten habe es sich
letztlich um eine „BetriebsausSpendenquittung für Quelle: In fünf Teile gestückelt
gabe der CDU-BundesschatzPfahls, 56, und Anfang November auch ge- meisterei“ gehandelt. Somit seien die 300000
gen Kiep einen Haftbefehl erwirkten, gilt Mark nicht Kiep selbst zugeflossen und auch
in Berlin fast nichts mehr als ausgeschlos- nicht von ihm zu versteuern gewesen.
sen. Pfahls soll 3,8 Millionen Mark, Kiep
„Jeder weiß, dass in der CDU in Fieine Million Mark dafür erhalten haben, nanzdingen das Wissen der einzelnen Bedass sie sich bei der Regierung Kohl teiligten sehr abgestuft war“, sagt Schäuble
1990/1991 für die Genehmigung des damals auf die Frage, ob die Führungsriege denn
umstrittenen Exports von 36 „Fuchs“-Pan- wirklich nicht in solche Vorgänge eingezern des Thyssen-Konzerns nach Saudi- weiht war. Lüthje jedenfalls zahlte seine
Arabien stark machten (SPIEGEL 46/1999). Prozess- und Anwaltskosten nicht selbst.
Beide bestreiten dies. In den geheimen Ak- Ob das Geld von der CDU kam, konnte
ten des Bundessicherheitsrats, der den Pan- oder wollte die Parteiführung vergangene
zerdeal im Februar 1991 genehmigte, steht Woche nicht sagen.
als Fazit der Debatte: „Der Bundeskanzler
Stattdessen sah sich Schäuble genötigt
stellt Einvernehmen her“ (siehe Seite 25). zu betonen, er habe Weyrauch noch nie
Augsburg: „Schon der Apostel Paulus sagte,
che schadet, bezweifle ich nicht“, sagt
Schäuble. Er versuche, „den Schaden begrenzt zu halten, ohne etwas zu vertuschen“.
Eilfertig sprang ihm Norbert Blüm, 64,
zur Seite und forderte Ex-Schatzmeister
Walther Leisler Kiep, 73, auf, sein folgenschweres Wirken offen zu legen. „Schon
der Apostel Paulus sagte, die Wahrheit wird
euch frei machen.“
Das ist angesichts immer neuer Wendungen der Affäre um den Panzerdeal mit
Saudi-Arabien eine heikle Aufgabe. Die
Grünen haben die CDU „eine Partei der
Wiederholungstäter“ genannt. Das ist, so
weisen Akten aus, die dem SPIEGEL vorliegen, eher untertrieben: Es handelt sich
um Seriensünder. Bis in die jüngere Vergangenheit, weit in die Nach-Kiep-Ära hinein, wurde die Herkunft großer Spenden
aus der Industrie gezielt verschleiert.
Viel Arbeit also für den Untersuchungsausschuss, den die Regierungskoalition in
der vergangenen Woche zu beantragen beschloss. Der soll klären, so Grünen-Vorstandssprecherin Gunda Röstel, „ob politische Entscheidungen zur Zeit der alten
Regierung käuflich gewesen sind“.
Mehr als vier Jahre nach seinem Beginn
landet das Ermittlungsverfahren 502 Js
127135/95 der Staatsanwaltschaft Augsburg
damit dort, wo es politisch auch hingehört:
im höchsten parlamentarischen Gremium
der Republik, dem Deutschen Bundestag.
Seit die Augsburger Ermittler erst gegen
den früheren Rüstungs-Staatssekretär im
Verteidigungsministerium Ludwig-Holger
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23
Kommentar
getroffen. Und auch mit Kiep habe er seit
langem keinen Kontakt. Doch die Strategie
der Union, so zu tun, als habe es nur
während des Regiments von Kiep, Lüthje
und Weyrauch im Finanzreich der CDU
dubiose Aktionen gegeben, trägt nicht.
So ließ beispielsweise der Quelle-Konzern der CDU im Oktober 1993 eine Spende über 100 000 Mark zukommen. Damit
diese nicht im Rechenschaftsbericht veröffentlicht werden musste, wurde die Summe
in fünf Beträge gestückelt. Je 20 000 Mark
wendeten demnach am 12. Oktober 1993
die VP-Schickedanz AG, Nürnberg, die
Foto-Quelle Schickedanz & Co., Nürnberg,
die Gustav und Grete Schickedanz Holding
KG, Fürth, die Gustav Schickedanz KG,
Nürnberg, sowie die Quelle Schickedanz
AG & Co, Fürth, der Kanzlerpartei zu.
Mit Schreiben vom 13. Oktober 1993 bedankte sich Schatzmeisterin Brigitte Baumeister, eine enge Vertraute Schäubles, bei
allen fünf Unternehmen und stellte ihnen
die Spendenbescheinigungen Nr. 60/52135
bis 60/52139 aus. Intern betrachtete die
CDU, das belegt der dazu gehörende
Schriftwechsel, die fünf Teilspenden als
eine einzige. In einem Schreiben vom 13.
Dezember 1993 von Baumeisters Büroleiter Jürgen Schornack an den Münchner
Kaufmann Hannes Müller, den Chef der
Drückerkolonne, welche die Spende einwarb, heißt es unter dem Stichwort „Quelle, Nürnberg“: „Die Spende über 100 000
Mark wird geteilt, so dass Sie hier für
Kohls „Schwarze Löcher“
L
aut Artikel 21 des Grundgesetzes
wirken die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes
mit. Ihre innere Ordnung muss demokratischen Grundsätzen entsprechen.
Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr
Vermögen öffentlich Rechenschaft geben.
Real müsste es heißen: Die Parteien
und ihre Schatzmeister wirken an
der politischen Willensbildung des
Volkes mit.
So ist der Fall des dubiosen, aber angesehenen, von 1971 bis 1992 tätigen
Bundesschatzmeisters Walther Leisler
Kiep kein einmaliger Fehltritt, für den
er nun wird büßen müssen oder auch
nicht. Er entlarvt die praktischen und
erfolgreichen Bemühungen der CDU,
das Grundgesetz zu hintergehen.
Von innerer Ordnung und demokratischen Grundsätzen kann keine Rede
sein, wenn ein Außenstehender, der
aber ein Intimus des Kanzlers Helmut
Kohl ist, als „graue Eminenz“ für die
CDU bestimmte Gelder hin- und herschieben durfte. Gemeint ist hier der
Frankfurter Wirtschaftsprüfer Horst
Weyrauch, eine noch wichtigere Figur
als Kiep selbst.
Es konnte Kohl nicht verborgen geblieben sein, dass dieser ihm vertraute
Freund für die CDU gesammelte Gelder auf so genannten Treuhandkonten
hin- und herschob, auch wenn die zuständigen Stellen seiner Partei nun behaupten, davon nichts gewusst und darauf keinen Zugriff gehabt zu haben.
Ursprünglich begnügte man sich bei
der CDU damit, die Führungsspitze
und besonders den Parteivorsitzenden
Helmut Kohl so abzuschirmen, dass er
stets Nichtwissen vortäuschen konnte.
Der aber brachte das System 1985
durch einen legendären Auftritt ungewollt ins Wanken.
Vor einem Mainzer Untersuchungsausschuss konnte er sich nicht, obwohl ehedem Ministerpräsident von
Rheinland-Pfalz, an eine Geldwaschanlage erinnern, die unter dem Namen
„Staatsbürgerliche Vereinigung“ (SV)
allgemein bekannt war. Der CDU-Generalsekretär Heiner Geißler diagnostizierte später einen „Blackout“ des
Kanzlers.
Die „Staatsbürgerliche Vereinigung“
hatte sich zum Ziel gesetzt, die Christ-
24
demokraten und die FDP auf immer
zusammenzuschmieden, damit der altböse Feind SPD nicht ans Regieren gelangen konnte. Mehr als 200 Millionen
Mark hatte die SV an der Steuer vorbei
diesem hehren Ziel schon zugeführt,
als Kohls Gedächtnis aussetzte. Nur der
Kanzlerbonus bewahrte ihn vor einer
Anklage wegen uneidlicher Falschaussage.
Wann immer eine neuerliche
Schweinerei ans Licht kam, gelobten
die Betroffenen Besserung. Transparenz
und gläserne Kassen sollten das Bild
der großen Parteien aufpolieren. Tatsächlich ließ Kohl seinen Schatzmeister Kiep fallen.
Aber durchweg organisierte man die
Parteienfinanzierung „wie hinter Milchglas. Es wurde getrickst, getarnt und
getäuscht“ („Süddeutsche Zeitung“).
Allerdings verfeinerte man die Methode und verfiel auf den in der internationalen Politik gebräuchlichen Begriff
„deniability“, zu Deutsch etwa: die
Fähigkeit, eine Sache zu verleugnen.
Die „Süddeutsche Zeitung“ erklärt es
genauer: „Eine kunstgerechte politische
Äußerung muss später anders gedeutet
werden können, als sie ursprünglich
verstanden wurde. Deniable: Wenn etwas schief geht, muss der politisch Verantwortliche später behaupten können,
von nichts gewusst zu haben.“
Parteien, die so handeln, ruinieren
auf Dauer sich selbst. Sie mindern die
Steuerehrlichkeit der Bürger und verlieren jeden Maßstab für erarbeitetes
Geld.
Man mag aufgedeckter Korruption
noch so heilsame Wirkungen zuschreiben, wie das etwa Klaus Kreimeier in
der „Tageszeitung“ tut; es gab und gibt
sie überall „mit Maßen“. Aber sie neigt
dazu, immer größere Bissen an sich zu
reißen, wie man beim Export von Rüstungsgütern in Krisengebiete leicht verfolgen kann. Bald wird es so sein, dass
die Schmiergelder, als Marketing getarnt, den Preis der gelieferten Waren
überschreiten.
Alle Bundeskanzler haben geahnt
und gewusst, dass in ihren Parteien mit
Geld gemauschelt wurde. Alle haben
weggesehen. Nur Helmut Kohl hat aktiv mitgemauschelt, hat Gelder gelenkt
und umgelenkt. Nur bei ihm finden
sich, was es sonst nur im Weltall gibt:
die berühmten „Schwarzen Löcher“.
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M. URBAN
RUDOLF AUGSTEIN
CDU-Führungsduo Schäuble, Merkel
„Schaden begrenzt halten“
50 000 Mark eine Provision erhalten.“ Diese Provisionen betrugen, ohne dass die
Spender es wussten, bis zu 45 Prozent.
Quelle ist kein Einzelfall, hinter dem
Vorgehen steckte System.
Auch der Pharma-Multi Merck bedachte die Partei des Kanzlers 1993 mit 100 000
Mark. Diesmal wurde die Spende in sechs
Beträge aufgeteilt. Je 20 000 Mark gaben
die E. Merck Beteiligungen oHG, die Eme-
FOTOS: J. GIPP
Druck von Kohl?
Tags darauf erhält
Genscher die AAVorlage: An den Rand
ie, erklärt Hans-Dietrich Genscher, habe er
schreibt er „Ja“ zur
sich im geheimen Regierungsgremium, das
Ausfuhr von zehn
über Waffenexporte entscheidet, dem BundessiSpürpanzern
und
cherheitsrat, überstimmen lassen. „Weder Helmut
acht AmbulanzwaSchmidt noch Helmut Kohl“, so der frühere
gen, „Nein“ zu 14
Außenminister, „hätte das gewagt.“
MannschaftstransporAber wie sich aus Akten des Auswärtigen Amts er- Für Riad bereitgestellte Panzer (im Hamburger Hafen)
tern und vier Komgibt, wurden 36 „Fuchs“-Fahrzeuge 1991 nach Sau- „Wir bleiben bei unserer Haltung“
mandowagen.
di-Arabien geliefert – gegen das Votum des Hauses Genscher. Nur lückenhaft erinnert sich auch der damalige Nach einer Notiz Lautenschlagers teilt der Kollege aus dem
Wirtschaftsminister Jürgen Möllemann. Aus seinem früheren Hause Möllemann mit, sein Minister habe entschieden, streitig
Ressort ließ er sich bestätigen, dass er „in diesen Vorgang nicht in den Bundessicherheitsrat zu gehen. Man schließe sich dem
involviert“ gewesen sei. Die Akten zeigen dagegen, dass sich der Ja des Verteidigungsministeriums an. Er habe seinen Minister
unterrichtet, so Lautenschlager. Aber: „Wir bleiben bei unserer
Liberale auch selbst einschaltete.
Ursprünglich, so geht aus der Vorlage der zuständigen Beam- Haltung.“ Am 27. Februar trägt Genscher im Sicherheitsrat die
ten hervor, hatte das AA keine Bedenken gegen die Gesamt- Position des AA vor. Seltsam: Am Ende stellt Kanzler Kohl laut
lieferung, wohl aber Genschers Staatssekretär Lautenschlager. Protokoll dennoch „Einvernehmen“ fest.
Der hält in einer Notiz für den Minister vom 19. Februar 1991 Wie es dazu kam, kann Genscher nicht erklären: „Ich will erst
fest: Der Kollege aus dem Wirtschaftsressort habe ihm erklärt, die Akten sehen.“ Aber es sei die Zeit des Golfkriegs gewesen,
Genscher und Möllemann hätten sich auf ein Ja geeinigt. Er gibt er zu bedenken. Er vermutet: Kohl habe massiv Druck gehabe dem Kollegen erwidert, schreibt Lautenschlager weiter, er macht. Bleibt die Frage: Hat Genscher zugestimmt, oder wurde er doch überstimmt?
werde erst nach Prüfung der Lage entscheiden.
N
dia Export Company und die Chemitra
GmbH, alle drei in der Frankfurter Straße
250 in Darmstadt. Je 15 000 Mark spendeten Merck-Vorstandschef Hans Joachim
Langmann, zu dessen 75. Geburtstag der
Altkanzler am 5. Oktober dieses Jahres die
Festrede hielt, und seine Ehefrau Marlis.
10 000 Mark steuerte die E. Merck oHG,
ebenfalls Frankfurter Straße 250 in Darmstadt, bei.
Die entsprechenden Spendenbescheinigungen mit den fortlaufenden Nummern
60/52123 bis 60/52129 unterzeichnete abermals Schatzmeisterin Baumeister, seit 26.
Oktober 1992 als Kiep-Nachfolgerin im
Amt. Auch bei der Merck-Gruppe weist
der interne CDU-Schriftwechsel aus, dass
die Partei die sechs Einzelzuwendungen in
Wirklichkeit als eine „Spende über 100 000
Mark“ (Schornack) betrachtete.
Juristisch ist das Vorgehen nicht angreifbar; es entspricht dem Parteiengesetz.
Erst Einzelgaben ab einem Betrag von über
20 000 Mark müssen in den Rechenschaftsberichten veröffentlicht werden.
Doch gegen den Geist des Gesetzes verstößt das Getrickse allemal. Denn dessen
Zweck ist es gerade, größere Zuwendungen
von Unternehmen an Parteien und damit
verbundene mögliche Interessen durch die
Publizitätspflicht transparent zu machen.
Auch ansonsten passierte in der NachKiep-Ära bei der Geldbeschaffung der Union noch manch Dubioses. Spendensammler Müller etwa notierte am 4. Februar
1994, tags zuvor seien ihm an einer Autobahnraststätte „50 000 Mark in bar“ übergeben worden. Diese stammten von einem
Spender, der „nicht genannt werden möchte“ und weder eine Rechnung noch
Quittung wünsche. „Wahrscheinlich“ handele es sich dabei um „Schwarzgeld“. Falls
dieses an die Partei weitergeleitet werden
solle, müsse er „erst mit Frau Baumeister
abklären, wie so ein Fall verbucht wird“.
Müller, dessen lukrative Provisionsverträge mit der Union gegen Zahlung
mehrerer Abfindungen von insgesamt 2,3
Millionen Mark im Mai 1995 endgültig
beendet wurden, drohte vor seinem Ausd e r
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scheiden der Schatzmeisterin noch „persönlich/vertraulich“, er werde die merkwürdigen Wege der Geldbeschaffung der
Partei „offen legen“, die mit Baumeisters
„Kenntnis und schweigender Duldung“ beschritten würden. Im November 1997 wurde Müller vom Landgericht München I wegen Untreue und Betrugs zu dreieinhalb
Jahren Haft verurteilt. Unter anderem hatte er Parteispenden in Höhe von 158 000
Mark in die eigene Tasche gesteckt.
Die Angst der Union vor weiteren Enthüllungen wird auch durch die Tatsache geschürt, dass die Augsburger Ermittler bei
Schreiber und Weyrauch Papiere in die Hand
bekamen, die das Finanzgebaren der Partei
weiter erhellen – und für neue Diskussion
sorgen. So sollen bei Weyrauch Unterlagen
über bislang nicht bekannte CDU-Treuhandkonten beschlagnahmt worden sein.
Sichergestellte Schreiber-Unterlagen legen die Vermutung nahe, der Thyssen-Lobbyist und Waffenhändler könnte sich auch
mit Kieps Nachfolgerin getroffen haben.
Baumeister wollte dem SPIEGEL über Ort
25
Deutschland
„Eddie haut mich raus“
Wie sich Karlheinz Schreiber in Toronto auf seinen Prozess vorbereitet
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Behörden Recht geben, kann das Verfahren dauern – bis zu drei Jahren,
schätzen Experten. Schon bis heute
mussten sich ein gutes dutzend Gerichte mit Schreibers Fall beschäftigen,
darunter der kanadische Supreme
Court und das Schweizer Bundesgericht.
Noch immer ist den Ermittlern der
Zugriff auf wichtige Kontounterlagen in
der Schweiz verwehrt. Schreiber verklagte den kanadischen Fernsehsender
CBC wegen eines Berichtes über die
Affäre auf 35 Millionen Dollar Schadensersatz, von der kanadischen Regierung verlangt er 35 Millionen wegen eines angeblich missbräuchlichen
Rechtshilfeersuchens an die Schweiz,
von den deutschen Behörden eine Million, weil sie verbotenerweise seine
Verhaftung betrieben hätten.
Während seine Anwälte an
den juristischen Finessen feilen, kümmert sich Schreiber
um das, was er am besten
kann: das Geschäftemachen,
wenn auch in kleinerem Stil.
Er will eine Kochmaschine für
Spaghetti vermarkten.
Große Auftritte meidet er,
jenseits des Atlantiks gibt der
Multimillionär sich bescheiden.
Seine Kleidung ist so unauffällig
wie sein Lebensstil, ungewöhnlich ist allenfalls seine Ausdrucksweise: Seine Verfolger
hält er für Idioten, ihre Vorwürfe für einen „Haufen Scheiß“.
Schreiber führt eher das verschwiegene Dasein eines Geheimdienstmannes. Der umtriebige Emissär schätzt dunkle Sonnenbrillen und das stille
Dinner mit seiner Frau in den
edlen Lokalen Torontos.
Ohnehin möchte der Geschäftemacher mit der Welt am liebsten gut
Freund sein. Selbst für die Journalisten, die ihn mit Mikrofon und Kamera verfolgen, hat er immer wieder
ein paar Komplimente parat: „Junge
Frau“, rief er vergangene Woche vor
dem kanadischen Höheren Gericht in
Toronto einer deutschen Fernsehreporterin zu: „Sie sind ja noch charmanter, als ich Sie mir vorgestellt
habe.“
P. JÜLICH / RIRO-PRESS
N
och vor einigen Monaten kann- bayerischen Landesfürsten unverhohten die Bewohner des Hauses len: „Zu viele von denen haben zu viel
102 Bloor Street den älteren vergessen.“
Für seine Sache hat er ein kleines
Herren mit dem schütteren Haar nur
als Mister Hermann. Der Mann aus Bataillon von Anwälten angeheuert,
Suite 511 sprach mit deutschem Akzent, darunter den Kieler Rechtsprofessor
grüßte höflich und hatte stets ein Erich Samson, der einst die Familie
freundliches Wort für den Portier übrig. Barschel vor dem Kieler UntersuAnsonsten war nicht viel von ihm zu chungsausschuss vertrat, und Edward
Greenspan, einen der teuersten und
hören und zu sehen.
Woher er kam, womit er sein Geld besten Advokaten Kanadas. „Eddie“,
verdiente und was er sonst noch so im glaubt Schreiber, „wird mich da rausLande trieb, blieb ihnen verborgen. hauen.“
Im „wichtigsten AuslieferungsverSelbst die Wachmannschaft des feinen
Appartement-Hotels im Zentrum To- fahren in der kanadischen Justizgerontos wusste nur, dass sie über den schichte“, wie Greenspan den bevorneuen Gast schweigen sollte: Niemand stehenden Prozess ankündigt, wird es
durfte, so die Anweisung, von dessen vor allem um eine grundsätzliche
Rechtsfrage gehen: Während in
Anwesenheit erfahren.
Seit einigen Wochen ist es vorbei mit Deutschland Verdächtige oft monateder Geheimtuerei. Seit der unschein- lang in Untersuchungshaft sitzen und
bare Nachbar Ende August
kurzzeitig festgenommen wurde, wissen die Mieter der
Bloor Street, dass sie den Kaufmann Karlheinz Schreiber im
Haus haben, den verschwiegenen Geschäftemacher im Hintergrund einer der größten Affären der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Immer wieder lagern Kamerateams vor dem Eingang und
filmen Schreiber, wie er in einem Mercedes 190 davonbraust
oder wie er sich morgens Zeitungen holt. Vermutlich können sie bald aufregendere Szenen liefern.
„Eine Riesenshow“ will
Schreiber in den nächsten Monaten abziehen, einen Prozess
„ohne Beispiel“. Mit aller
Macht will er sich der Auslie- Geschäftsmann Schreiber*: „Ein Haufen Scheiß“
ferung in seine bayerische Heimat widersetzen. Dort werfen ihm erst nach Abschluss der Ermittlungen
Staatsanwälte in Augsburg schwere Anklage erhoben wird, muss in Kanada
Missetaten vor, darunter Steuerhinter- ein Verhafteter unmittelbar angeklagt
ziehung in Millionenhöhe und die Be- werden. Da Schreiber in Deutschland
stechung von Politikern wie dem eins- kein Verfahren gemäß der kanadischen
tigen Staatssekretär im Verteidigungs- Verfassung erwarten könne, dürfe er
nicht ausgeliefert werden, argumentiert
ministerium Holger Pfahls.
Dafür will der Mann mit den Geld- Greenspan.
Selbst wenn die kanadischen Gekoffern viele Personen in den Zeugenstand zerren – Politiker, Geschäftsleute, richte letztendlich doch den deutschen
Staatsanwälte. Er warnt vor dramatischen Enthüllungen und droht den * Mit Anwalt Edward Greenspan (r.).
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spielsweise indem man sie der CSU statt
der CDU zuordnen konnte –, so gab es aus
Sicht Kieps die Chance, dass das Verfahren
eingestellt würde.
Am 22. März hielt Kiep fest: „Schreiber
hat durch Max Strauß von Rechtsanwalt
Wunderlich ein Flick-Papier entdeckt, in
welchem die Dezember-1978-Spende als
F.J.S.-Spende deklariert wurde!“
Strauß-Sohn Max erinnert sich an den
Vorgang so: Eines Tages habe ihn Schreiber
angerufen und sinngemäß gesagt: „Der
Kiep braucht Hilfe.“ Daraufhin habe er
sich, so Strauß zum SPIEGEL, an Flicks
Anwalt Detlef Wunderlich gewandt und
„dort den Türöffner für Schreiber beziehungsweise Kiep gespielt“. Wunderlich
habe dann auf Bitten Kieps seine FlickSpendenakten durchgesehen.
Das Verfahren gegen den Ex-Schatzmeister wurde 1993 wegen geringer Schuld
eingestellt. Kiep sprach immer von einem
glatten Freispruch. Das ist nicht ganz so: Er
musste eine Geldbuße in Höhe von 100 000
Mark an die Universitäts-Kinderklinik in
Köln zahlen. Auch bei der Panzermillion,
so scheint es, könnte Kiep wieder der ein-
H. HAGEMEYER / TRANSPARENT
M. EBNER / MELDEPRESS
hilft beim nicht Wissen dann
trefflich, dass Kiep der CDU
die Zustimmung zur Einsicht in seine Ermittlungsakten verweigerte.
Ob diese Strategie hält,
hängt auch vom Untersuchungsausschuss ab. Die Grünen wollen den Auftrag möglichst weit fassen – so weit,
dass neben dem System Kohl
auch das des früheren CSUChefs Franz Josef Strauß mit
erörtert werden kann.
Die SPD muss fürchten,
dass bei der Installierung eines Kiep-Ausschusses die
Opposition als Retourkutsche ein Gremium verlangt,
das sich mit Wirken und Privatgeschäften des einstigen
Kanzleramtsministers Bodo
Christdemokraten Kohl, Baumeister: Weiter getrickst
Hombach beschäftigt. Auch
und Zeitpunkt möglicher Begegnungen mit deshalb, so die ungewöhnlichen GedanSchreiber, der derzeit in Kanada gegen sei- kenspiele einiger Sozialdemokraten, sei ein
ne Auslieferung nach Deutschland kämpft weit gefasster Untersuchungsauftrag wün(siehe Kasten) und jegliche Schmiergeld- schenswert. Dann könne der eigene Prozahlung bestreitet, nichts sagen. Auch auf blemfall gleich ohne zusätzliches Aufsehen
die Fragen, ob Schreiber während ihrer mit hineingepackt und erledigt werden.
Verzweifelt bemühen sich SPD und
Amtszeit der Partei abermals Geld gespendet habe und wie sie sich einen No- Grüne inzwischen, hier zu Lande eine
tizbucheintrag Schreibers „Jürgen wg. Bau- Staatsanwaltschaft zu finden, die sich des
meister 264 Mio.“ unter dem Datum 20. Verkaufs des ostdeutschen Minol-TankJuni 1994 erkläre, wollte die ehemalige stellennetzes und der Raffinerie Leuna an
den französischen Mineralölkonzern Elf
Schatzmeisterin keine Antwort geben.
Das Wechselspiel zwischen Schweigen Aquitaine annimmt. Auch hierbei könnund Zugeben, zwischen Aufklären und Ver- ten, nach Feststellungen der Pariser und
schleiern, das wird immer deutlicher, ist Genfer Justiz, Schmiergelder an die CDU
wohl nur die erste Stufe eines Notfallplans. geflossen sein. Wieder tauchen die Namen
Als Kiep in der Flick-Affäre nach seiner Pfahls und Kiep auf. Doch ohne StrafverVerurteilung zu einer Geldstrafe von 67500 fahren in Deutschland gibt es keine AkMark durch das Düsseldorfer Landgericht ten, auf die die Parlamentarier zugreifen
im Mai 1991 in die Revision gehen wollte, dürfen.
suchte er das Gespräch mit Kohl. Doch der
Der Untersuchungsausschuss könnte
Kanzler, erinnert sich Kiep*, riet zur Zu- womöglich auch eine andere Rolle Schreirückhaltung, ein weiterer Prozess schade bers neu beleuchten – er tauchte 1991 mit
doch nur der Partei. Auf die Episode an- der Million im Koffer keinesfalls zum eingesprochen, zürnte Kiep noch vor kurzem, zigen Mal als Freund für Kiep auf.
Kohl habe damals gar nicht begriffen, dass
Am 13. März 1991, zwei Wochen nacheiner wie er um seine Ehre kämpfen müs- dem die Operation „Fuchs“ vom Bundesse. Die Geldstrafe, habe sein Vorsitzender sicherheitsrat unter dem Vorsitz Kohls
lakonisch gesagt, „zahlst du doch aus der abgesegnet war, notierte Kiep in seinem
Westentasche“.
Tagebuch: „Früh nach Düsseldorf. 65.
Die alten Geschichten, das will Angela Gerichtstag! Guter Tag für uns … SchreiMerkel mit jedem Auftritt glauben machen, ber kündigt eine Liste der Flick-Spenden
sollen in eine ferne, längst vergangene Zeit an, in der die Dezember-Spende 1978
gehören. Gleichzeitig wird alles getan, die für FJS war! Alle bei uns sehr optischeinbar neue CDU um Schäuble abzusi- mistisch!“
Damals ging Kieps Prozess wegen der
chern. Der, erklärte sein Sprecher Walter
Bajohr, wisse nicht mal, ob die CDU Ende Flick-Affäre in die Endphase. Es hatte sich
der achtziger Jahre tatsächlich so ver- herausgestellt, dass eine mögliche Verurschuldet gewesen sei, wie jetzt behauptet teilung nur noch wegen einer Flick-Spenwerde. Also könne er schon gar nicht die de vom 11. Dezember 1978 denkbar war.
Frage beantworten, wie die schnelle fi- Diese war die letzte von insgesamt 41
nanzielle Erholung zu erklären sei. Da Spenden, die Kiep laut Anklage für die
CDU angeworben hatte, und die einzige,
* Walther Leisler Kiep: „Was bleibt ist große Zuverwegen der die Vorwürfe gegen ihn noch
sicht. Erfahrungen eines Unabhängigen. Ein politisches
nicht verjährt waren. Bestand Aussicht,
Tagebuch“. Philo Verlagsgesellschaft Berlin; 448 Seiten;
diese Spende „wegzubekommen“ – bei42 Mark.
Geldtransporteur Weyrauch
„Wissen der Beteiligten sehr abgestuft“
zige CDU-Politiker sein, der nicht ungeschoren davonkommt – zu Gunsten der
Partei.
CDU-Chef Schäuble jedenfalls will verhindern, aus dem Kiep-Verfahren, „das sich
nicht gegen die CDU richtet, eine allgemeine Parteifinanzaffäre machen zu lassen“. Er habe auch nicht vor, „Sonderprüfungen über längst geprüfte und entlastete Parteifinanzen der CDU in den letzten
50 Jahren zu machen“.
Martina Hildebrandt, Wolfgang Krach,
Paul Lersch, Georg Mascolo
27
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Deutschland
NRW
Spiel auf Zeit
Ministerpräsident Wolfgang Clement droht bei den Wahlen im Mai ein Desaster.
Unternehmensfusionen kosten tausende von Arbeitsplätzen,
neue Pläne der Energiefirmen gefährden nun auch die Jobs in der Braunkohle.
30
F. ROGNER / NEZTHAUT
D
er Termin am Freitagabend war eigentlich ganz nach dem Geschmack
von Wolfgang Clement. Private Investoren hatten das lange geschlossene Residenz-Kino im krisengeschüttelten Duisburg zu neuem Glanz erweckt, ein Komödientheater feierte die Premiere.
Doch der nordrhein-westfälische Regierungschef konnte die Aufführung „Ein
Traum von Hochzeit“ nicht gänzlich entspannt genießen. Denn die unternehmerischen Hochzeiten, die ihn derzeit beschäftigen, sind für ihn alles andere als ein
Traum. Firmenfusionen, angefangen von
Thyssen/Krupp bis hin zum geplanten Zusammengehen der Energieriesen Rheinisch
Westfälische Elektrizitätswerks-Gesellschaft (RWE) und Vereinigte Elektrizitätswerke Westfalen (VEW), kosten zehntausende von Arbeitsplätzen – die meisten in
Clements Land.
Dabei war der Sozialdemokrat vor gut
einem Jahr als strahlender Modernisierer
angetreten: An den Arbeitsplätzen sollten
ihn die Wähler im Mai 2000 messen, sagte
er. Tun sie das bei den dann anstehenden
Landtagswahlen tatsächlich, sieht es finster
aus für Clement.
Sein Land liegt heute in der Arbeitslosenstatistik auf dem zweitschlechtesten
Platz bei den Flächenländern im Westen,
nur noch das Saarland steht schlimmer da.
Bei den letzten Kommunalwahlen verlor
die SPD elf Oberbürgermeisterposten, darunter die in Hochburgen wie Leverkusen
und Düsseldorf. Und es dürfte noch härter
kommen, wie sich jetzt abzeichnet: Clements Kampf gegen die Ökosteuer wird
die heimische Braunkohle kaum retten
können. Der RWE-Tochter Rheinbraun
könnte nach internen Überlegungen des
Mutterkonzerns schon ab Sommer 2000
ein Kahlschlag drohen.
Die gesamte Holding mit heute 1500 Angestellten soll, so ein hochrangiger RWEManager, wahrscheinlich geschlossen werden und im neuen Stromgiganten
RWE/VEW aufgehen. Die Braunkohlefirma solle zusätzlich einem drastischen Sparprogramm unterzogen werden, bei dem
rund 30 Prozent der Kosten gekappt werden könnten. Die Belegschaft der Rheinbraun ist schon in den letzten sieben Jahren um 3000 auf 1150 Leute geschrumpft.
Übrig bleiben dürften, sollte es so kommen, die Kraftwerke und der Kohlehan-
Parteifreunde Schröder, Clement*: Kampf um die Ökosteuer
del, die beide dann ebenfalls zentral im
neuen Energieriesen gesteuert werden sollen. Nach dem Szenario des RWE-Managers könnte die Radikalkur bereits Ende
Juni 2000 beginnen.
Damit
die
neue
Energiefirma
RWE/VEW bei sinkenden Strompreisen
wettbewerbsfähig bleibe, sollten im Zuge
der Fusion rund 1,3 Milliarden Mark eingespart werden – davon mehrere hundert
Millionen Mark an Personalkosten. Tausende von Stellen wären davon betroffen.
Offiziell mag die RWE solche Pläne weder bestätigen noch dementieren: „Die
Neuordnung der Energiesparte“, so ein
Unternehmenssprecher am Freitag vergangener Woche, „ist Gegenstand der aktuellen Verhandlungen.“ Zu den Fusions* Bei der SPD-Regionalkonferenz am vorvergangenen
Samstag in Köln.
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gesprächen mit VEW und deren Ergebnissen aber könne seine Firma einstweilen
nicht Stellung nehmen.
Doch eine solche Entwicklung deutete
sich schon am Donnerstag vergangener
Woche bei der RWE-Hauptversammlung
in Essen an. RWE-Chef Dietmar Kuhnt
kündigte dabei ein drastisches Kostensenkungsprogramm bei RWE und Rheinbraun an.
Damit rückt auch das Ende des umstrittenen Braunkohletagebaus Garzweiler II
immer näher, um den die SPD einen wahren Glaubenskrieg mit dem grünen Koalitionspartner geführt hat.
Nur öffentlich zugeben mag das niemand, zumindest nicht vor der Wahl:
weder die SPD noch der CDU-Herausforderer Jürgen Rüttgers, der sich derzeit als
Ober-Kumpel und Retter der heimischen
Kohle geriert. Dabei war es die letzte Bun-
DPA
Braunkohle-Abbau (vor dem Kraftwerk Niederaussem): „Virtuelle Unsinnsdiskussion“
Manfred Remmel klar,
dass die verteufelte Ökosteuer in Wahrheit keineswegs die entscheidende
Rolle spielt beim Niedergang der Braunkohle. Die
Vorstände kalkulieren,
dass sich der Betrieb ihrer
bereits abgeschriebenen
Kohlekraftwerke
zwar
weiterhin rechnet – die
scharf gesunkenen Strompreise aber zugesagte NeuInvestitionen unrentabel
machen. Außerdem gebe
es ein weltweites Überangebot an Strom, und zwar
zu Dumpingpreisen.
Die Ökosteuer dient
RWE nach Überzeugung
Demonstrierende Kohle-Kumpel (in Köln): Eier auf Müntefering von Christine Scheel,
Vorsitzende des Bundeskonferenz traf. Wütende Kumpel bewar- finanzausschusses, denn auch nur als „vorfen SPD-Landeschef Franz Müntefering geschobenes Argument“, sich von Garzmit Eiern, weil er die Berliner Ökosteuer weiler II endgültig zu verabschieden. „Was
verteidigte, andere stimmten „Helmut jetzt passiert“, so die Grünen-Politikerin,
Kohl“-Rufe an.
„ist eine lange angedachte UnternehRegierungschef Clement versprach da mensstrategie.“ Ihre grüne Bundestagsforsch, zusammen mit CDU-regierten Län- kollegin Kristin Heyne, Mitglied im Koalidern im Bundesrat Einspruch gegen die tionsausschuss: „Garzweiler muss auf dem
Ökosteuer einzulegen. Dass dabei auch sei- Strommarkt wettbewerbsfähig sein. Die
ne Koalition mit den Grünen in NRW plat- Investition rechnet sich einfach nicht.“
zen könnte, weil der Koalitionsvertrag bei
Als „virtuelle Unsinnsdiskussion“ sieht
Uneinigkeit Enthaltung im Bundesrat vor- auch ein enger Mitarbeiter von Bundessieht, wollte Clement in seiner ersten Wut finanzminister Hans Eichel den Politstreit
über die angeblich unfaire Steuerbefreiriskieren.
Auf die grimmigen Ankündigungen folg- ung für hoch wirksame Gaskraftwerke.
te aber schon bald der vorsichtige Rückzug. Denn noch gibt es kein einziges dieser Art
Ein Koalitionskrach in NRW schien Cle- in Deutschland.
Das soll sich allerdings bald ändern.
ment doch nicht ratsam – zumal der LanSchon im kommenden Frühjahr will das
deshaushalt noch nicht verabschiedet ist.
Außerdem wurde Clement nach einem schwedisch-deutsche Stromunternehmen
Gespräch mit den RWE-Chefs Kuhnt und Vasa Energy in Lubmin (Mecklenburg-VorD. HOPPE / NETZHAUT
desregierung, der Rüttgers als Bildungsminister angehörte, die mit der Liberalisierung der Strommärkte die Grundlagen für
jenen Wettbewerb geschaffen hat, dem nun
die Arbeitsplätze zum Opfer fallen.
Mit einer nur siebenseitigen Energierechtsnovelle öffnete Wirtschaftsminister
Günter Rexrodt (FDP) im April vergangenen Jahres den bis dahin streng geregelten
Energiemarkt. Andere Länder wie Schweden oder Großbritannien hatten sich bei
vergleichbaren Schritten jahrelange Übergangsfristen gegönnt. Auf die Schaffung einer Regulierungsbehörde verzichtete die
Kohl-Regierung.
Die Regierung Gerhard Schröders behielt trotz heftigen Widerstands in den eigenen Reihen den Kohl-Kurs bei. Wirtschaftsminister Werner Müller, Ex-Kraftwerksmanager der Veba, listet in seiner
persönlichen Erfolgsbilanz gern auch die
Freigabe der Strompreise auf.
Gerüchte um ein Ende des geplanten
Braunkohletagebaus Garzweiler II, der
8000 Menschen ihre Heimat nähme und
ein Loch von 48 Quadratkilometern entstehen ließe, gibt es schon seit mehr als
anderthalb Jahren.
Anfang November bekamen sie neue
Nahrung, als ein Brandbrief des RWE-Konzerns die eben beschlossene Ökosteuer der
Bundesregierung geißelte: Die darin enthaltene Steuerbefreiung für hoch effiziente
Gaskraftwerke würde die Kohlekraftwerke
benachteiligen. Unter diesen Bedingungen
müsse RWE das BraunkohletagebauProjekt Garzweiler II und ein geplantes
20-Milliarden-Mark-Investitionsprogramm
zur Kraftwerkserneuerung „auf den Prüfstand stellen“.
Damit begann ein wildes Durcheinander: 8000 Bergleute marschierten in Köln
auf, wo sich die SPD zu einer Regional-
d e r
s p i e g e l
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31
Deutschland
pommern) mit dem Bau eines solchen
Werks beginnen. Vasa-Geschäftsführer
Herbert Aly frohlockt, damit werde „eine
der letzten Bastionen der alten Monopolwirtschaft fallen“.
Mindestens fünf Prozent des deutschen
Strommarkts möchte der Konzern mit weiteren klimaschonenden Gaskraftwerken
erobern. Längst gehe es nicht mehr darum,
ob solche Kraftwerke gebaut würden, so
Aly, sondern nur noch wo – „hier oder jenseits der holländischen und polnischen
Grenze“.
Als Aly am vorvergangenen Mittwoch
im Nordostzipfel der Republik seine Sicht
der Dinge präsentierte, erntete er Zustimmung auch vom eigens aus Berlin eingeschwebten grünen Umweltminister Jürgen
Trittin. Der sagte, für die von Arbeits- und
Perspektivlosigkeit geplagte Region biete
die „ambitionierte Technik ein Stück Zukunftssicherung“.
In NRW geht es jetzt erst mal nur um
eine Lösung, die Clement über die Landtagswahl im nächsten Mai helfen kann –
ein Spiel auf Zeit. Juristen in der Düsseldorfer Staatskanzlei tüfteln ein Modell aus,
GEHEIMDIENSTE
Lauscher
abgestellt
Beigelegt scheint der Streit um
die Arbeit amerikanischer Agenten
in der Bundesrepublik. Die
USA garantieren erstmals, keine
deutschen Firmen abzuhören.
D
ie Reise in das Reich der fremden
Macht war nach 65 Kilometern zu
Ende. Am 4. November setzte sich
um die Mittagszeit im Münchner Vorort
Pullach eine Fahrzeugkolonne Richtung
Südosten in Bewegung. An der Abfahrt
Nummer 100 verließen die schweren Limousinen die Salzburger Autobahn.
Minuten später standen der Berliner Geheimdienstkoordinator Ernst Uhrlau, 52,
und der Präsident des Bundesnachrichtendienstes (BND), August Hanning, 53, vor
der Einfahrt zu einer „Restricted Area“.
Nur eine Hand voll Deutsche hatten das
Tor zu dem amerikanischen Geheimobjekt
bisher passieren dürfen.
Hanning und Uhrlau wurden durchgewunken – der Hausherr erwartete sie:
Michael Hayden, Chef des US-Lauschimperiums National Security Agency (NSA).
Mit 40 000 Mann lässt die NSA im Auftrag
ihrer Regierung weltweit die Kommunikation von Feind und Freund überwachen. 27
Milliarden Dollar kostet das Abfangen von
Telefonaten, Faxen, Funksprüchen und
E-Mails jährlich.
Beim Kurort Bad Aibling steht das
„große Ohr“ der NSA, eine der leistungsfähigsten Abhöranlagen des amerikanischen Geheimdienstes. Wie Golfbälle liegen die unter Schutzhüllen verborgenen
Antennen in der Voralpen-Landschaft.
Hayden führte seine Gäste direkt in das
Herz der Anlage. Stundenlang streiften die
Deutschen mit dem NSA-Gewaltigen
durch die Räume, wo ihnen Auswerter
stolz die aus dem Äther gefischte Beute
präsentierten. Vor allem in Sachen Balkan
gilt die Station als perfektes Lauschgerät.
das die Steuerbefreiung für Gaskraftwerke
rechtsverbindlich auf drei Jahre begrenzen
soll, bislang sind im Ökosteuer-Gesetz zehn
Jahre vorgesehen. Clement könnte das als
Etappensieg für die Kohle verkaufen, wichtig für die Wahlkampfpsychologie.
Um diese Verkürzung der Steuerbefreiung soll deshalb jetzt auf Chef-Ebene verhandelt werden. Für diesen Montag ist ein
Gespräch der RWE-Spitze mit Clement
und Bundeskanzler Schröder in Berlin geplant.
Auch RWE setzt auf Zeit. „Die letztliche
Entscheidung, ob die Bagger wirklich anfangen, den Tagebau Garzweiler II zu erschließen“, so ein RWE-Manager, „müssen wir erst im Jahr 2005 fällen. Derzeit
würde es sich nicht rechnen.“
Das Einverständnis für das Polit-Theater
um die Befristung der Steuerbefreiung
muss der Bundeskanzler dem grünen Koalitionspartner abringen, der bislang wenig
Neigung dazu zeigt.
Als Druckmittel gegen die Grünen
könnte die Landtagswahl in NRW wirken,
die als Test auch für das Bündnis im Bund
gilt. Dass sie jetzt sehr leicht verloren gehen kann, weiß Clement. Um die SPD in
Düsseldorf zu retten, warnte er seine
Genossen bei einem Strategietreffen vor
einer Woche in Potsdam schon mal, dürfe
er sich beim Reizthema Kohle keine
Rücksicht auf Berlin leisten – „sonst wird
NRW schwarz“.
Frank Dohmen, Gerd Rosenkranz,
Barbara Schmid, Andrea Stuppe
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F. HELLER / ARGUM
Die Landtagswahl
könnte als Druckmittel gegen
die Grünen wirken
BND-Präsident Hanning
Im eigenen Land am Katzentisch
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NSA-Lauschstation Bad Aibling: Bisher für die
Die neue Offenheit war, anders als
früher, mehr als ein Symbol. In der vergangenen Woche gab der amerikanische
Geheimdienstchef gegenüber Uhrlau und
dem Berliner Kanzleramt die Versicherung
ab, Bad Aibling sei und bleibe „weder gegen deutsche Interessen noch gegen deutsches Recht gerichtet“. Damit soll ein Streit
beendet werden, der in den vergangenen
Jahren zunehmend eskalierte: Die Deutschen hatten es sich energisch verbeten,
von den amerikanischen Freunden mit rüden Methoden ausgespäht zu werden.
Die Garantie aus Washington, von Bad
Aibling aus werde nicht die Telekommunikation deutscher Bürger, schon gar nicht
die der deutschen Konzerne belauscht, ist
ein Novum in der Geheimdienstbranche.
Zwar wird traditionell getrickst und
getäuscht, aber mit der NSA-Erklärung,
die wie bei der Absprache über die Herausgabe von Stasi-Unterlagen einer Zusage der US-Regierung gleichkommt, würde
jeder künftige Fall zum Politikum.
Die Amerikaner, so scheint es, haben
begriffen, dass sie es zu weit getrieben haben. Seit dem Ende des Kalten Krieges hatten die US-Geheimdienstler immer wieder demonstriert, dass sie die deutsche
Souveränität nicht sonderlich scherte. Mal
entführten sie in Berlin einen flüchtigen
Spion, dann mühten sie sich, einen Referatsleiter des Wirtschaftsministeriums zum
Verrat von Regierungsgeheimnissen zu
überreden. Erbost protestierte der Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums Willfried Penner (SPD) in Washington: Der oberste Geheimdienstaufseher
des Bundestags monierte bei seinen amerikanischen Kollegen in Senat und Abgeordnetenhaus Verstöße gegen die „Souveränitätsrechte Deutschlands“.
F. HELLER / ARGUM
Vor allem die Industrie
reagierte beunruhigt. Sie
fürchtete – Vorsicht, Freund
hört mit –, die NSA würde
die amerikanische Konkurrenz gezielt mit Informationen über deutsche Geschäftsinterna und Zukunftsprojekte versorgen. Aus dem
einst nur in Geheimdienstkreisen debattierten Thema
wurde eine schrille öffentliche Debatte, in der den Unschuldsbeteuerungen
der
Amerikaner immer weniger
geglaubt wurde.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz urteilte vergangenes Jahr in einer Expertise
„Wirtschaftsspionage und
Konkurrenzausspähung“: Es
sei „davon auszugehen, dass
der weitaus größte Teil der
Wirtschaftsspionage zwischen
Industriestaaten mit den Mitteln der elektronischen Aufklärung bewältigt wird“.
In den USA hat man jetzt offensichtlich
erkannt, dass es an der Zeit ist, den Flurschaden zu beheben. Ein erstes Friedenssignal war das Versprechen, ab dem nächsten Jahr mit der Rückgabe der in den
Wendezeiten erbeuteten Stasi-Unterlagen
zu beginnen (SPIEGEL 42/1999). Und auch
der neue CIA-Chef George Tenet, 46,
versicherte Uhrlau in Gesprächen, Wirtschaftsspionage gegen die Deutschen gehöre nicht zu den Aufgaben seines Partnerdienstes. Juristisch sei ihm dies nicht
erlaubt. Zudem sei die Weitergabe solcher
Interna an US-Konzerne viel zu gefährlich
– es könnte ja einer der Wirtschaftsbosse
über seine Quellen plaudern.
Offenbar spürten die Amerikaner, dass
das öffentliche Misstrauen gegen ihre Spionagetätigkeit tief sitzt, immer noch. Bloße
Zusagen reichten da nicht mehr – eine demonstrative Erklärung musste her.
Uhrlau sieht durch das NSA-Versprechen „die in der Öffentlichkeit entstandene Geheimniskrämerei um Bad Aibling
angemessen und eindeutig beendet“. So
wird in dem Papier ausdrücklich jedwede
„Weitergabe von Informationen an USKonzerne“ ausgeschlossen. Die Garantie,
so Uhrlau, sei Ausdruck einer neuen „beiderseitigen strategischen Partnerschaft im
Bereich der Nachrichtendienste“.
Um auch letzte Zweifel an ihrer Redlichkeit zu beseitigen, waren die Amerikaner schließlich zu einem bisher undenkbaren Zugeständnis bereit: Es ist beabsichtigt,
auch den Geheimdienstkontrolleuren des
Bundestags die bisher verschlossenen
Türen von Bad Aibling zu öffnen. Die Parlamentarier sollen sich demnächst selbst
einen Einblick in das geheime Treiben im
Big Ear verschaffen können.
Deutschen nur Brosamen
SIPA PRESS
Aber Hortensie I und
Hortensie III, so die BNDSynonyme für CIA und
NSA, waren nicht zu
bremsen. Wie die gleichnamige Blume, ein strauchiges Gewächs, bildeten
sie in Deutschland ein
starkes Wurzelwerk aus.
Besonders fest haben
sich die Amerikaner in
Bad Aibling eingegraben.
Mit Hightech wurden
CIA-Chef Tenet zunächst russische Satelliten angezapft, der Telefonverkehr der Führung der früheren Sowjetarmee mitgeschnitten. Die Deutschen
saßen dabei im eigenen Land am Katzentisch: Nebenan, in der Mangfall-Kaserne,
residiert die so genannte Fernmeldeweitverkehrsstelle, eine Tarneinrichtung des
BND. Die Lauschergebnisse von zwei der
Antennenanlagen, so ist es Tradition, dürfen von den Deutschen ausgewertet werden. Doch da fallen nur Brosamen ab.
Weitere Zugeständnisse lehnte der große
Bruder brüsk ab. Die USA wollten den Verbündeten nicht sagen, was denn das große
Ohr noch alles mithört. Der Forderung
nach einem Verbindungsoffizier mit Zutritt für die ganze Anlage wurde nie entsprochen. Um den wachsenden Ärger zu
dämpfen, wurde Bad Aibling 1995 zumindest formal der US-Luftwaffe unterstellt.
Doch an den Verhältnissen änderte sich
nichts. Als 1994 unter dem damaligen Geheimdienstkoordinator Bernd Schmidbauer eine Gruppe Staatsschützer über das
Treiben der Amerikaner beriet, war das
Urteil klar: Von Bad Aibling aus, so ihre
Überzeugung, werde der ganz große
Lauschangriff gegen Deutschland geführt.
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Wolfgang Krach, Georg Mascolo
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Deutschland
Z WA N G S A R B E I T E R
In Gottes Hand
Langsam nähert sich das unwürdige Pokerspiel um die Entschädigungen von Arbeitssklaven
der Industrie in der Nazi-Zeit seinem Ende. Doch die Forderung der Unternehmen
nach Rechtssicherheit bleibt unerfüllbar. Stattdessen gibt es womöglich neue Ansprüche.
E
DPA
s sollte aussehen wie der Anfang vom sprechen, die eigentlich Aufgabe der deut- Für Unmut am Rande sorgt dabei die PraEnde eines monatelangen Streits. In schen Wirtschaft ist: mit dem unwürdigen xis, dass die Jewish Claims Conference für
trauter Dreisamkeit betraten der Geschacher um die Entschädigung ehema- die Verteilung von Geldern in den USA
üblicherweise 15 Prozent Bearbeitungsgedeutsche Unterhändler Otto Graf Lambs- liger Zwangsarbeiter Schluss zu machen.
Bis zum Ende des Jahrhunderts, so der er- bühr berechnet.
dorff, der stellvertretende US-FinanzminisWas Kanzler Schröder viel mehr aufregt:
ter Stuart Eizenstat und DaimlerChrysler- klärte Wille der beiden, soll eine Einigung
Finanzchef Manfred Gentz als Sprecher her. Zu welchem Preis, scheint bereits aus- Während Lambsdorff für die Bundesder „Stiftungsinitiative der deutschen Wirt- gemacht: Wenn die Deutschen ihr Angebot regierung zäh verhandelt, verweigern die
schaft“ am vergangenen Mittwoch den um eine weitere Milliarde Mark – je die meisten deutschen Unternehmen die
Beteiligung am Fonds – ohne
Konferenzsaal des ehemaligen
Rücksicht auf den Rufschaden,
Bonner Kanzleramts.
den die Exportnation DeutschIm Wechselspiel verkündeland nimmt.
ten sie das Ergebnis ihrer 18
Ungerührt weisen die KonStunden währenden Verhandzernbosse jede Verantwortung
lungen: Das Entschädigungsvon sich. Von über 2000 Firangebot für ehemalige Zwangsmen, die der Washingtoner Oparbeiter werde von sechs auf
feranwalt Michael Hausfeld in
acht Milliarden Mark erhöht.
einer Sklavenhalterliste aufFünf Milliarden davon soll die
führt, haben sich der Stiftung
Wirtschaft zahlen, drei Milliaröffentlich bislang gerade mal
den die Bundesregierung.
17 angeschlossen. Der große
Und weil nun endlich die FraRest spielt auf Zeit – oder will
ge der Rechtssicherheit für die
aus Angst vor Klagen in den
betroffenen Unternehmen geUSA nur dann zahlen, wenn
klärt sei, behauptete Eizenstat,
im Gegenzug Rechtssicherheit
könne die ganze Angelegenheit
garantiert wird. Die Firmen
schon binnen drei Wochen abfordern einen Persilschein, der
schließend geklärt werden.
sie vor allen laufenden und
Kaum waren die Mikrofone
drohenden Verfahren schützt.
abgeschaltet, bestürmte WirtDoch diese Rechtssicherheit
schaftssprecher Gentz stock- Verhandlungspartner Eizenstat, Lambsdorff: Bewegung reinbringen
kann niemand garantieren.
sauer seine Verhandlungspartner: „Wie kommt ihr dazu, von Rechts- Hälfte von Bund und Industrie – erhöhen, Zwar hat Clinton ein „Statement of intersicherheit zu reden?“ US-Unterhändler Ei- ist ein historischer Handschlag zwischen est“ angeboten. Danach verstießen Zwangsarbeiterklagen gegen das Interesse der USA.
zenstat konterte scharf und knapp: „Damit Schröder und Clinton in greifbarer Nähe.
Der war den deutschen Unterhändlern In der Praxis ist diese Erklärung wenig wert.
ihr Bewegung reinbringt.“
Bis zum Schluss wird weiter gepokert allerdings schon vor dieser Runde signali- „Kein amerikanischer Richter“, so Juristen
bei dem Problem, das Bundesregierungen siert worden – für acht Milliarden Mark. im Lambsdorff-Stab, „muss eine Klage abund deutsche Wirtschaft seit dem Welt- Doch Gentz und Lambsdorff warfen sich weisen, nur weil es sein Präsident so
kriegsende zu verdrängen suchten: Wie- gegenseitig vor, die Gespräche taktisch wünscht.“ Auch der an den Verhandlungen
dergutmachung für die vielen Millionen falsch geführt zu haben. Der Liberale habe beteiligte grüne Bundestagsabgeordnete
Menschen, die im Nazi-Regime zur Arbeit nicht grimmig genug auf acht Milliarden Volker Beck sagt: „Vor Gericht und auf hogezwungen wurden – unter teilweise un- beharrt, sagt Gentz. Lambsdorff dagegen her See sind alle in Gottes Hand.“
Schier unerfüllbar scheint zudem das
menschlichen Bedingungen und bei – wenn wirft dem Manager vor, der habe einen
überhaupt – kärglichem Lohn. Mit jeweils Spielraum von sechs bis zehn Milliarden Ansinnen der Wirtschaft, alle deutschen
Firmen mit einem Schlag von jeder NSmindestens 10 000 Mark sollen die Opfer Mark in Aussicht gestellt.
Welche Summe auch am Ende heraus- Schuld freikaufen zu wollen. Die Wunschnun entschädigt werden.
Die jüngste Bonner Verhandlungsrunde, kommen mag – die Finanzierung ist nach vorstellung: Abgebügelt werden nicht nur
als Finale gedacht, hat dabei nicht viel ge- wie vor unklar. Von den zugesagten fünf Prozesse ehemaliger Zwangsarbeiter, sonbracht. Ein Durchbruch wurde offenbar ei- Milliarden Mark der Industrie sind erst 2,6 dern auch die Klagen gegen Versicherunnen Tag später und drei Flugstunden ent- Milliarden gesichert. Doch das Gros zahlt gen, die Policen ihrer jüdischen Kunden
fernt vom Bonner Tagungsort erzielt. Am ohnehin der Bund: Da die Fonds-Einlage entweder gar nicht oder aber an die Nazis
Rande des OSZE-Gipfels in Istanbul trafen als Betriebsausgabe von der Steuer abge- ausbezahlt hatten.
Wie diese Versicherungsopfer entschäsich Bundeskanzler Gerhard Schröder und setzt werden kann, kommt die Regierung
US-Präsident Bill Clinton, um auf höchster zusammen mit ihrem direkten Beitrag bis digt werden können, verhandelt derzeit
politischer Ebene eine Angelegenheit zu be- jetzt schon für 5,5 Milliarden Mark auf. unter Leitung des ehemaligen US-Außen34
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AP
Zwangsarbeiter in einer Munitionsfabrik (bei Dachau): Unmenschliche Bedingungen, kärglicher Lohn
Zeit unbegründet“ abgewiesen, solange mangels eines Friedensvertrages die
Reparationsfragen international zurückgestellt waren.
Doch seit der deutschen
Einheit hat sich die Rechtslage grundlegend geändert: Der Zwei-plus-VierVertrag, der die Bundesrepublik vollends zum
souveränen Staat machte,
wirkte für deutsche Gerichte wie ein Friedensvertrag. Erstmals nahmen die
Richter die Klagen ehemaliger Zwangsarbeiter ernst.
Im Sommer 1996 setzte
das Bundesverfassungsge- Zwangsarbeiter-Demonstration*: Die Firmen spielen auf Zeit
richt ein für alle Opfer erlösendes Signal. Danach kann jeder der
Jetzt streiten die Juristen: Ist der Zweietwa 1,2 Millionen Überlebenden indivi- plus-Vier-Vertrag wirklich ein Friedensduelle Ansprüche nach nationalem Recht vertrag? Gibt es eine Verjährung und
geltend machen. Daraufhin sprach das wann? Und: Sind die Verhandlungen um
Landgericht Bonn einer polnischen Kläge- den Stiftungsfonds womöglich gar eine Rerin einen Anspruch gegen die Bundesre- parationskonferenz?
Auch die Politiker stochern im Nebel –
publik in Höhe von 15 000 Mark für 55 Wochen Zwangsarbeit zu. Erstritten hatte die- gerade wegen der ungeklärten Reparases Urteil, das derzeit in höchster Instanz tionsfrage. Denn sollte es sich bei der
überprüft wird, als Rechtsbeistand der Bre- Zwangsarbeiterentschädigung tatsächlich
um eine Reparationsleistung für Nazimer Politologe Klaus von Münchhausen.
Ebenjener Münchhausen steht nun auch Unrecht handeln, könnte die Angelean der Seite des ehemaligen Zwangsarbei- genheit vollends unübersehbare Folgen
ters Kobierski im Prozess gegen Porsche. haben.
Alle erdenklichen Opfergruppen könnDer streitbare Wissenschaftler und die von
ihm beauftragten Rechtsanwälte bezwei- ten sich auf diesen Präzedenzfall berufen
feln, dass sich der Autobauer aus der Ver- und Entschädigungen fordern – in einer
antwortung stehlen kann, indem er auf die Größenordnung von 50 Milliarden bis weit
Verjährung der Ansprüche verweist. Er ar- über 100 Milliarden Mark. Genau mag das
gumentiert, dass das Völkerrecht hier eine niemand in der Bundesregierung abschätzen. Dies, sagt ein Vertrauter des KanzVerjährung verhindere.
lers, „ist eine Frage, die uns alle überfordern würde“.
Christoph Mestmacher,
* Gegen die Aktionärsversammlung der IG Farben in
ACTION PRESS
ministers Lawrence Eagleburger in Washington eine „Internationale Kommission
zur Klärung von Versicherungsforderungen von Holocaust-Opfern“.
Vor der Eagleburger-Kommission muss
sich unter anderem der deutsche Versicherungskonzern Allianz verantworten. Noch
im Oktober hatte das Unternehmen versprochen, eine Liste mit 150 000 Namen
und Geburtsdaten aus seinen Archiven zu
holen. Experten des Holocaust-Memorials
Jad Waschem in Israel wollen diese Namen nun mit den Listen jüdischer NaziOpfer vergleichen. Zahlen will die Allianz
aber nur einmal: entweder für die Stiftungsinitiative oder für die Forderungen
der Eagleburger-Kommission.
Versuche, die beiden Entschädigungsgremien zu verzahnen, sind bislang gescheitert. In dieser Woche reist Lambsdorff
deshalb erneut nach Washington, um gemeinsam mit Eizenstat und Eagleburger
eine Lösung für die Allianz zu finden.
Leichtfertig gehen deutsche Unternehmen mit ihrer zögerlichen Haltung das Risiko ein, dass eine Flut von Prozessen über
die Nachfolger der Sklavenhalter in Staat
und Wirtschaft hereinbricht. Schon in dieser Woche ist der Sportwagenbauer Porsche an der Reihe. Am Mittwoch will das
Landgericht Stuttgart über die Klage des
Polen Czeslaw Kobierski, 74, entscheiden,
der mit einer Versicherungskarte belegen
kann, dass er mehr als drei Jahre in Zuffenhausen schuften musste.
Das Unternehmen hofft auf eine Art
Freispruch zweiter Klasse: Zwar gibt Porsche mittlerweile zu, Rechtsnachfolger der
zur NS-Zeit tätigen Firma Porsche KG zu
sein. Doch die Ansprüche des ehemaligen
Zwangsarbeiters seien inzwischen verjährt.
Da könnte sich das Unternehmen täuschen. Zwar haben deutsche Gerichte alle
Klagen ehemaliger Zwangsarbeiter als „zur
Alexander Neubacher
Abwicklung im März.
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Deutschland
Vitorino: Auf gar keinen Fall wollen wir in
nationale Verfassungen hineinregieren. Die
Vorschläge der Kommission, die sie bis 2001
vorlegen wird, werden neue Rechtsnormen
und Regelungen für Prozeduren enthalten.
Der EU-Rat muss sie dann einstimmig beschließen. In einigen Mitgliedstaaten dauern die Anerkennungsverfahren sechs MoDer EU-Justizkommissar Antonio Vitorino über das
nate, in anderen bis zu drei Jahre. Viele
neue Brüsseler Asylrecht und seine
Asylbewerber suchen sich gezielt die Staaten, wo sie möglichst lange bleiben könAuswirkung auf die deutschen Flüchtlingsregelungen
nen, auch wenn das Verfahren aussichtslos ist. Durch
SPIEGEL: Der deutsche Innenminister Otto Recht im Asyl, nicht auf
europaweit einheitliche VerSchily behauptet, bei Einführung eines Asyl, meint Schily.
fahren wollen wir dieses
gemeinsamen europäischen Asylsystems Vitorino: In der Genfer Kon„Asylshopping“ stoppen.
würde der Grundrechtsanspruch auf poli- vention steht sehr eindeutische Zuflucht in Deutschland nicht zu tig: Wenn ein Leben beSPIEGEL: Dazu brauchen Sie
halten sein. Stimmt das?
droht ist, hat dieser Mensch
aber erst mal einen einheitlichen Katalog von AnerVitorino: Schilys Aussagen kenne ich nicht ein Recht auf Aufnahme in
kennungsgründen. Wie solim Einzelnen, deshalb will ich sie auch einem sicheren Land. Unlen diese Kriterien beschafnicht kommentieren. Aber eines gilt es sere künftigen gemeinsafen sein?
klar festzustellen: Beim Justiz-Gipfel in men EU-Mindeststandards
Tampere haben sich die Regierungschefs erleichtern die Anwendung
Vitorino: Bevor die Mitauf ein gemeinschaftliches, aber nicht auf der Konvention. Sie werden
gliedsländer nicht meine
ein einheitliches Asylrecht geeinigt. Nie- für die gesamte EU verVorschläge erhalten haben,
mand soll deshalb sagen: Dies ist ein Dik- bindlich sein.
will ich nichts sagen. Dies hat
tat. Der Beschluss von Tampere geht ein- SPIEGEL: Wird die deutsche EU-Kommissar Vitorino
in jedem Fall hohe politische
deutig von gemeinsamen Mindestnormen Rechtsweg-Garantie zu den
Priorität für die Union.
aus. Doch darüber hinaus können die EU- Mindeststandards gehören? Wird ein Asyl- SPIEGEL: Getrickst wird doch auch zwiStaaten ihr eigenes Asylrecht entwickeln bewerber den Ablehnungsbescheid einer schen den Mitgliedstaaten. Italien zum
oder behalten.
Behörde dann überall in der EU bei Ge- Beispiel müsste nach den geltenden Bestimmungen die Verfahren für jene AsylSPIEGEL: Es kann also beim deutschen sub- richt anfechten können?
jektiven Recht auf Asyl bleiben?
Vitorino: Dies hängt vom Ausgang der bewerber, die an seinen Küsten landen,
Vitorino: Ja. Die europäischen Staats- und Debatte im Rat und im Europäischen durchführen. Doch Rom leitet die ImmiRegierungschefs haben in Tampere festge- Parlament ab, die die Kommission in granten lieber nach Norden durch –
stellt, dass ein europäisches Asylsystem ge- diesem Jahr angestoßen hat. Wir stel- Deutschland hat dann ein Problem.
meinsame Mindeststandards für ein ge- len uns ein einfaches Asylverfahren vor, Vitorino: Es gibt auch Stimmen in den Nierechtes Asylverfahren sowie gemeinsame das selbstverständlich durch das Justiz- derlanden, die behaupten, dass AsylbeMindestbedingungen für die Aufnahme system und in einigen Fällen durch die werber aus den Nachbarländern, zum BeiVerfassung der Mitgliedstaaten bestimmt spiel aus Deutschland, kommen. Das zeigt
von Asylbewerbern implizieren sollte.
doch, dass die bisherigen Instrumente nicht
SPIEGEL: Die Genfer Flüchtlingskonven- werden wird.
tion, auf die sich der Beschluss von SPIEGEL: Wie sollen die anderen EU-Stan- oder nur sehr schlecht greifen.
Abhilfe erwarten wir jetzt vom neuen EuTampere bezieht, regelt jedoch nur das dards aussehen?
rodac-System, das die Fingerabdrücke von
Asylbewerbern und illegalen Immigranten bei der Einreise oder beim Aufgriff an
der Grenze erfasst und in einem Zentralcomputer bei der EU-Kommission speichert. Die Mitgliedstaaten können damit
Bewerber, die ihre Papiere weggeworfen
haben, identifizieren und die berüchtigten
Mehrfachanträge verhindern. Es wird aber
ebenso klar ersichtlich, welches Mitgliedsland für die Antragsbearbeitung
zuständig ist, und dieses System dient
auch den echten, schutzbedürftigen Asylbewerbern.
SPIEGEL: Die Daten können doch auch für
die Strafverfolgung missbraucht werden.
Wer kontrolliert den Big Brother Brüssel?
Vitorino: Ein solcher Missbrauch ist nach
der Verordnung eindeutig verboten. Gegen Missbrauch in den Mitgliedstaaten gibt
es rechtliche Mechanismen.Außerdem sollte sich das Europäische Parlament Kontrollrechte sichern. Die Brüsseler Kommission wird das Eurodac-System zu überwachen haben, aber niemals als Big Brother.
E U R O PA
A. HERZAU
M.-S. UNGER
„Nicht hineinregieren“
Warteschlange vor der Hamburger Ausländerbehörde: „Asylshopping stoppen“
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Interview: Dirk Koch, Sylvia Schreiber
Werbeseite
Werbeseite
Deutschland
Zum Konsens
verdammt
P. GLASER
B
schlüssen zur Ökosteuerreform eine Eingangssteuer erhoben wird.
Das unzweifelhaft größte Privileg beschert der Atombranche die staatliche
Großzügigkeit beim Umgang mit den so
genannten Entsorgungsrückstellungen.
Weil die verstrahlten Reaktoren eines
Tages mit Milliardenaufwand wieder abgerissen werden müssen, der Atommüll in
einem kostspieligen Endlager vergraben
werden muss, sind die Betreiber gesetzlich verpflichtet, einen Teil ihrer Erlöse
für die später anfallenden Kosten zurückzulegen.
Dieses steuersparend erworbene und frei verfügbare
Kapital – etwa bei Firmenaufkäufen sehr nützlich – beläuft
sich ausweislich der Unternehmensbilanzen auf über 70
Milliarden Mark, die zusätzlichen Zins- und Aktiengewinne
in Höhe von fünf bis zehn Milliarden Mark jährlich noch gar
nicht mitgerechnet.
Angesichts der verschärften
Konkurrenz auf dem liberali- Majewski
AP
ordnete unter Führung des Sonnenenergiestreiters Hermann Scheer schon mal
einen Gesetzentwurf vor, der die Überführung der Entsorgungsmilliarden in einen öffentlich-rechtlichen Fonds vorsieht –
wie es in der Schweiz oder Schweden
schon lange vorgeschrieben ist.
Die Abwicklung der Atommüll-Kriegskasse droht aber vor allem aus Brüssel.
Rot-Grün droht den StromDort meldeten die EU-Wettbewerbshüter
konzernen mit dem
in ihrem jüngsten Bericht zum liberalisierEntzug ihrer wirtschaftlichen
ten Strommarkt bereits dringenden „Harmonisierungsbedarf“ in Sachen EntsorPrivilegien, um sie zum
gungsrückstellungen an. Die Mittel müssten
Atomausstieg zu bewegen.
„ausschließlich für Zwecke der
Stilllegung eingesetzt werden“.
ayernwerk-Chef Otto Majewski gab
Genau das ist aber in
sich hart. Gegen das von Kanzler
Deutschland nicht der Fall.
Gerhard Schröder in Auftrag gegeZehn kommunale Stadtwerke
bene Atomausstiegsgesetz werde sich die
beantragten darum vergangene
Branche vor dem BundesverfassungsgeWoche in Brüssel die Eröffnung
richt „geschlossen zur Wehr setzen“.
eines Verfahrens wegen „verboDoch die Kernkraft-Bosse sind nicht so
tener Subventionierung“ des
stark, wie sie tun. Die Firmen verfügen
Atomstroms. Wollen also die
über ungewöhnliche staatliche Privilegien
Manager der Stromriesen ihre
in Milliardenwert. Die könnten auf dem
Rückstellungsmilliarden retten,
Spiel stehen, wenn sich die Atomwerker
sind sie auf den Beistand der
nicht doch in letzter Minute mit Rot-Grün
Bundesregierung angewiesen.
auf einen friedlichen AusstiegsDie Strombosse sind zum Konkonsens einlassen – ohne Gesens verdammt.
setzeszwang, so Schröders HoffVor diesem Hintergrund
nung. „Die Energiewirtschaft ist
schrumpft der Streit um die
auf die Regierung angewiesen“,
Restlaufzeiten der 19 noch
droht Grünen-Fraktionschef
betriebenen Atommeiler zur
Rezzo Schlauch. Bei den milVerhandlungsmasse. Die Jurisliardenschweren Vorteilen, deuten aus Justiz- und Innenressort
tet er lächelnd an, „muss es ja
hatten bislang Zweifel angemelnicht bleiben“.
det, ob es überhaupt möglich
Die Liste der Privilegien ist
sei, die Betriebsgenehmigungen
lang. So sind die Atomstromer
nachträglich zu befristen, ohne
bisher weitgehend von der VerEntschädigungsforderungen in
sicherungspflicht gegen mögliMilliardenhöhe auszulösen. Inche Unfallschäden befreit. Gezwischen haben sich die zurade mal 500 Millionen Mark
ständigen Staatssekretäre aber
müssen sie absichern. Angemesgrundsätzlich geeinigt.
sen wäre nach Meinung der
Hilfestellung leistet ein GutFachleute des Bundesumweltachten des Frankfurter Verfasministeriums eine Haftungssungsrechtlers Erhard Denningrenze von mindestens fünf
ger. Demnach wäre gemäß der
Milliarden Mark pro Atom„jetzt gefestigten höchstrichtermeiler. Allein dadurch fielen
lichen Rechtsprechung“ eine
für Versicherungsprämien pro
Betriebsbegrenzung auf „25 bis
Kernkraftwerk Mehrkosten von
26 Kalenderjahre“ verfassungsbis zu 30 Millionen Mark jährrechtlich möglich. Im Fall der
lich an.
Meiler, die diese Frist bereits
Praktisch kostenfrei blieb bis- Atomkraftwerk Ohu (Bayern): „Verbotene Subventionierung“
überschritten haben, käme eine
lang auch die Sicherung der
Atommüllfahrten von den Kraftwerks- sierten Strommarkt sei das Rückstellungs- „angemessene Abwicklungsfrist von circa
standorten in die Zwischenlager Ahaus privileg ein entscheidender Wettbewerbs- ein bis drei Jahren“ hinzu. „So geht es“,
oder Gorleben durch Polizei und Bundes- vorteil für die Atomstromfabriken, resü- war sich die Staatssekretärsrunde einig.
Angesichts dieser Lage ist sich ein Spitgrenzschutz – bis zu 111 Millionen Mark miert eine noch unveröffentlichte Studie
pro Transport. Die Kosten wollte der obers- des Wuppertal-Instituts für Klima, Umwelt, zenpolitiker der SPD sicher: „Die AKWte BGS-Chef Otto Schily den Transporteu- Energie. „Die Rückstellungsgewinne sind Betreiber werden einknicken.“ Auch Bayren schon mal in Rechnung stellen.
ein wesentlicher Anreiz, überhaupt noch ernwerk-Chef Majewski, der als Präsident
Auch vor einer Primärenergiesteuer auf länger Atomkraftwerke zu betreiben“, ur- des Deutschen Atomforums als Hardliner
Uran kann sich die Atomwirtschaft nicht si- teilt der Wuppertaler Ökonom Wolfgang gilt, lässt sich neuerdings vorsichtiger ein:
„Keine Gesellschaft sollte in einer so elecher fühlen. Eine solche Abgabe würde Irrek.
Kernbrennstoff mit Erdgas gleichstellen,
Die Fortsetzung der bisherigen Praxis mentaren Frage wie der Energieversorgung
für dessen Einsatz in allen laufenden Gas- ist alles andere als rechtssicher. Vergange- auf Dauer in der Kontroverse leben.“
kraftwerken auch nach den jüngsten Be- ne Woche legten 33 SPD-BundestagsabgeGerd Rosenkranz, Harald Schumann
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Werbeseite
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Werbeseite
M. AUGUST
Deutschland
Wahlkämpfer Rühe an der Nordseeküste*: „Ich mach das hier echt gerne“
CDU
Großer Hebel
Der schleswig-holsteinische CDU-Spitzenkandidat
Volker Rühe bewundert Helmut Schmidt und verfährt nach
der Methode Schröder: An der Partei vorbei zur Spitze.
V
olker Rühe betritt den KommodoreSaal im Hotel Kieler Yachtclub mit
zehnminütiger Verspätung und
spürbarem Unbehagen. Unter imposanten
Marine-Ölschinken haben sich rund hundert grauhaarige Damen versammelt und
mustern den schleswig-holsteinischen
CDU-Spitzenkandidaten mit strengem
Blick. Er sei halt im Hauptberuf noch in
Berlin, sagt Rühe entschuldigend. Wäre ich
doch da geblieben, sagt sein Gesicht.
Doch der Weg zurück zur Macht im
Bund, diese Parole hat CDU-Chef Wolfgang Schäuble ausgegeben, führt über
den Erfolg in den Ländern. Also steht
Rühe, 57, jetzt hier und erklärt dem
Deutschen Frauenring geduldig, warum er
das Frauenministerium auflösen will: „Ich
will lieber starke Frauen im Kabinett als
ein symbolisches Ressort ohne Einfluss.“
Am Ende bekommt er anerkennenden
Beifall.
* Im August bei der Überfahrt zur Hallig Oland.
42
Die Bundespartei in Berlin ist von ihrem
Vize weniger angetan. Rühe bekenne sich
zu wenig zur CDU und kritisiere zu viel,
lautet der Vorwurf. „Manchmal hat man
den Eindruck, der hat mit der CDU gar
nichts zu tun“, stichelt ein Fraktionsvize.
Den Gescholtenen ficht das nicht an. Er
weiß, dass zwischen seinen Ambitionen
und seinem Rückhalt in der Partei eine
Lücke klafft – und das ist Absicht. Rühe
setzt auf die Methode Schröder. Den hat
die Partei auch nie geliebt, trotzdem kam
sie nicht um ihn herum. „Wer gebraucht
wird, wird gerufen“, hat Rühe mal gesagt.
Den Vergleich mit dem Kanzler schätzt
der CDU-Kandidat allerdings gar nicht. Allenfalls bei oberflächlicher Betrachtung
gebe es Ähnlichkeiten im Typus. Intellektuell fühlt Rühe sich dem Niedersachsen
überlegen. Lieber vergleicht er sich mit einem anderen Nordlicht, dem früheren
Kanzler Helmut Schmidt.
In dessen legendärer Freitagsgesellschaft, einem erlesenen Zirkel aus Künstd e r
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lern, Politikern und Wissenschaftlern, ist
Rühe seit 14 Jahren Mitglied. Vergangene
Woche erst stellte er gemeinsam mit
Schmidt gesammelte Vorträge des Kreises
vor („Erkundungen. Beiträge zum Verständnis unserer Welt“).
Wie Schmidt hat Rühe den politischen
Schleudersitz auf der Hardthöhe überstanden, wie Schmidt ist er bekennender
Protestant und wie Schmidt-„Schnauze“
hat sich Volker, Kampfname „Rüpel“, mit
seiner rücksichtslosen Art in seiner Partei
viele Feinde gemacht. Vielleicht wird er
sogar wie Schmidt scheitern – an der Unwilligkeit, vielleicht auch Unfähigkeit,
Truppen zu sammeln.
Natürlich bestreitet Rühe, dass er nach
einem Sieg in Schleswig-Holstein Parteichef oder Kanzlerkandidat werden will.
Das gehört zum Spiel. „Ich mach das hier
echt gerne“, versichert der Kandidat, wenn
er sich auf den Halligen vor der Westküste
über die Probleme der Bauern mit der Magermilchstützung informiert oder beim Tomaten-Abwiegen im weißen Kittel Volksnähe im Spar-Markt demonstriert.
Wieso auf einmal so viel Regionalpatriotismus bei einem, den zeitlebens nur
die großen Themen interessiert haben? Die
Antwort fällt verräterisch aus. Entscheidend, so Rühe, sei für ihn bei allen Themen
das strategische Interesse.
Sorgsam pflegt er sein DraufgängerImage, zuweilen übertrifft er dabei seine eigene Karikatur. Rühe wandert nicht, er
Und in Nordrhein-Westfalen, als mitdespartei. Um sich als liberales Gegengewicht zur mächtigen Südachse um Bayerns gliederstärkstem CDU-Landesverband ein
Regierungschef Edmund Stoiber zu posi- gewichtiger innerparteilicher Machtfaktor,
tionieren, vertritt Rühe seine Meinung un- führt Rüttgers den Vorsitz: Von ihm darf
gehemmt und nicht selten gegen die Partei. Rühe keine Unterstützung erwarten – die
Erst setzte er sich gegen Stoiber für ein beiden können sich nicht ausstehen.
Vorerst allerdings beschäftigen den
großzügigeres Staatsbürgerschaftsrecht
ein, dann wies er den nordrhein-westfäli- Wahlkämpfer ganz andere Sorgen. Die
schen CDU-Chef Jürgen Rüttgers wegen Spendenaffäre um den ehemaligen CDUdessen Forderung nach einem
moderneren Gesellschaftsbild
zurecht. Schließlich forderte
er zum Missfallen Schäubles
eine Große Koalition der Vernunft, zuletzt hielt er seiner
Partei Gestrigkeit im Umgang
mit der PDS vor und watschte den Rote-Socken-Peter
Hintze ab.
Die Mehrheit der Bundesspitze ballt beim Gedanken an
den Vize immer öfter die Faust
in der Tasche: „Er muss aufpassen, dass er nicht überzieht“, sagt ein Mitglied der Altkanzler Schmidt, Kandidat Rühe*: Vorbild mit Niveau
Fraktionsführung.
Denn der unerwartete Aufschwung sei- Schatzmeister Walther Leisler Kiep gibt
ner Partei in den letzten Monaten könnte Grünen und SPD Anlass, nach der Rolle
Rühes Karriereplanung gefährden. Sah es des damaligen Generalsekretärs zu fragen.
Bisher sind keine Belege dafür aufnoch vor einem Jahr so aus, als würde die
Wahl in Schleswig-Holstein die erste er- getaucht, dass Volker Rühe etwas über die
folgreiche nach einem jammervollen Op- unsauberen Geschäfte der CDU-Finanzer
positionsjahr sein, können sich nach den wusste. Doch in Schleswig-Holstein reaCDU-Erfolgen in Hessen, im Saarland, in giert man seit Uwe Barschels gebrocheBerlin und Brandenburg viele mit dem nem Ehrenwort auf Polit-Affären besonders empfindlich. Schon wird in Berlin die
Glanz des Siegers schmücken.
Stoiber ist zwar nach der LWS-Affäre Sorge laut, die „Kiep-Sache“ könnte den
angeschlagen, dafür scheint CDU-Chef sicher geglaubten Sieg in Kiel noch torpeSchäuble unerwartet klar vorn zu liegen. dieren.
Dann hätte Volker Rühe zu hoch geDerzeit, so die Einschätzung in Fraktion
und Partei, laufe in der Frage der Kanzler- pokert. Wenn er in Schleswig-Holstein
kandidatur alles auf den Badener hinaus. verliert, das weiß der erfahrene Politiker
genau, „dann bin ich weg aus der ersten
*Am vergangenen Mittwoch in Hamburg.
Reihe“.
Tina Hildebrandt
K.-B. KARWASZ
macht Powerwalking. Er lacht nicht, er bellt
wie J. R. Ewing. Er schwärmt für Hemingway-Typen und sagt Sätze wie: „Die brauchen mich in Schleswig-Holstein. Ich hab
einen ziemlich großen Hebel.“
Er kann aber auch anders – wenn er will.
Dann redet der ehemalige Gymnasiallehrer für Englisch über William Faulkner, lobt
die niveauvolle Atmosphäre des schmidtschen Debattierclubs und beichtet, dass er
seinem Kater Nudel ein Glöckchen um den
Hals gebunden hat, wegen der Vögel.
So bewusst wie Rühe seinen massigen
Leib zur Einschüchterung nutzt, führt er
auch die „Raue Schale, weicher Kern“Nummer vor. Und er beherrscht, wie Schröder, das Spiel mit der Medienmacht. Die
„Panzerbilder“ aus der Zeit als Verteidigungsminister müssten nun alle weg, ordnete Rühe nach seiner Nominierung für Kiel
an: „Jetzt brauchen wir was anderes.“ Die
neuen Bilder zeigen den Herausforderer in
Kapitäns-Pose mit Fernglas und Weitblick.
Um Ministerpräsidentin Heide Simonis
(SPD) zu besiegen, hat sich Rühe sogar
eine Charmeoffensive verordnet und will
damit Wählerinnen gewinnen. In einer geheimen Sitzung hatten die Frauenbeauftragten Schleswig-Holsteins eine Kampagne gegen Rühe und für Simonis erwogen.
Sogar die passenden Slogans waren schon
entworfen: „Lasst uns in Rühe“ oder
,„Frauen wählen Sie(monis)“. Das traf den
Mann: „Ich finde, so sollten wir nicht miteinander umgehen.“
Das vorübergehend erzartete Raubein
gibt lieber Herzensware zum Besten wie
seine Jugendliebe mit der TV-Ansagerin
Dagmar Berghoff („Ja, wir haben uns mal
geliebt“). In dieser Woche lassen es die
einstigen Turteltauben in der „Johannes B.
Kerner-Show“ menscheln.
Eine Strategie der kalkulierten Zumutung verfolgt Rühe gegenüber der Bun-
Deutschland
D I P L O M AT E N
Imperiale Nostalgie
Mit Starrsinn und rüdem Ton strapaziert US-Botschafter
John Kornblum das deutsch-amerikanische
Verhältnis. Schon wird darüber spekuliert, wann er Berlin verlässt.
AFP / DPA
J
Karnevalist Kornblum*
„Here we go, Mr. President“
seinen GI“, erinnert sich Bölling. Damals
patzte der für seine vornehme Zurückhaltung bekannte Bölling zurück: „Passen Sie
mal auf, dass Sie in Berlin nicht noch unbeliebter werden.“
In München fertigte Kornblum Uwe
Zimmer ab, den Chefredakteur der Boulevardzeitung „AZ“. „Solche Blätter lese ich
nicht“, beschied er Zimmer kühl auf einem Empfang im amerikanischen Konsulat
– und wandte sich kurzerhand ab. „Ich
DPA
ohn Kornblum hat seit gut zwei Jahren
seinen Traumjob. Als amerikanischer
Botschafter „die US-Fahne wieder
nach Berlin zu bringen, das ist doch was
Besonderes“, schwärmte Kornblum, dessen Großeltern aus Ostpreußen nach Amerika ausgewandert waren, noch im August.
Doch das scheint lange her. Seit Monaten wirkt der Karrierediplomat mit der
eindrucksvollen Statur und dem Silberhaar
vergrätzt. Wenn er heute überhaupt noch
über die Deutschen spricht, dann meistens
nicht besonders nett. Und kriegt er mal einen von ihnen direkt zu fassen, endet das
schnell im Streit.
Einer Runde amerikanischer Journalisten, die auf Tour in Berlin waren, teilte er
unlängst düster mit, die undankbaren
Deutschen verfielen „allmählich in Großmachtgehabe“. Genervt beschwerte er sich
Ende Oktober in der „New York Times“
über „diese ständigen Schmähreden in der
Presse über die arroganten Amerikaner“.
Einen der so gescholtenen deutschen
Journalisten knöpfte sich Kornblum persönlich vor: „Sie sind nicht souverän“,
schnauzte der Botschafter den ehemaligen
deutschen Regierungssprecher Klaus Bölling (SPD) lautstark in einem feinen Berliner Lokal an – „wie ein Army-Sergeant
stand da wie geohrfeigt“, erinnert sich
Zimmer. Dabei kennen sich die beiden aus
gemeinsamen Washingtoner Tagen.
Am 9. November drängte Kornblum gar
den deutschen Parlamentspräsidenten ins
Abseits. Kaum hatte Wolfgang Thierse
(SPD) den amerikanischen Ex-Präsidenten
George Bush am Osteingang zum Reichstag begrüßt, schob sich der schwergewichtige Botschafter dazwischen, wandte Thierse den Rücken zu und geleitete Bush zur
Mauerfall-Feierstunde ins Parlament:
„Here we go, Mr. President.“
Der US-Botschafter verliert häufiger
die Contenance, seit er sich in einem Konflikt verheddert hat, den er nicht gewinnen
kann – selbst wenn er sich in der Sache
durchsetzen sollte. Unnachgiebig besteht
Kornblum darauf, dass rund um den geplanten 150-Millionen-Dollar-Neubau der
amerikanischen Botschaft am Pariser Platz
direkt neben dem Brandenburger Tor ein
Sicherheitsabstand von 30 Metern zum
Straßenrand eingehalten werden muss
(SPIEGEL 5/1999).
Dafür müssten eigens zwei wichtige Verkehrsadern Berlins um diverse Meter „verschwenkt“ werden. Niemand spricht den
USA ihr Sicherheitsbedürfnis ab, auch ist
der exklusive Ort, direkt neben dem Symbol der deutschen Einheit, allgemein akzeptiert. Gegen den gewaltigen 30-MeterKordon im Herzen Berlins gibt es allerdings berechtigte Einwände.
Kein Kompromissangebot konnte Kornblum bisher zufrieden stellen. Dabei war
eine Delegation der Berliner Senatsverwaltung von einer Dienstreise nach Washington mit der Nachricht zurückgekommen, im State Department könne man sich
durchaus vorstellen, am Pariser Platz eine
symbolische Repräsentanz zu errichten,
während der eigentliche Botschaftsbetrieb – mit 500 Mitarbeitern – in einem separaten Gebäude im traditionellen Diplomatenviertel am
südlichen Tiergarten anzusiedeln sei.
Offensichtlich hatte Kornblum mit öffentlichem und
gar offiziellem Widerspruch
gegen seinen bombastischen
Plan nicht gerechnet. Außer
sich geriet der Diplomat, als
ihn Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) Anfang Oktober
in einer kleinen Ansprache
zur Eröffnung der 1000. deutschen McDonald’s-Filiale am
Treptower Park etwas flapsig, aber sichtlich um Entspannung bemüht, fragte, ob
Diplomat Kornblum*: Überlebender einer untergegangenen Epoche
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* Oben: bei der Verleihung des Karnevalsordens „Wider den tierischen
Ernst“ am 30. Januar; unten: vor der
vorläufigen US-Botschaft in Berlin
(1998).
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man „denn am Pariser Platz, an dem wir
Genüsslich wurde in Berlin registriert,
die amerikanische Botschaft bauen, auch dass Peter Robinson, Redenschreiber des
noch mit McDonald’s was machen“ könne? Präsidenten Ronald Reagan, enthüllte, er
Kornblum, Träger des Aachener Karne- selbst habe Reagan den Satz „Mr. Gorbavalsordens „Wider den tierischen Ernst“, tschow, reißen Sie diese Mauer nieder“ geverstand diesmal keinen Spaß. „Diesen Ort gen den ausdrücklichen Wunsch Kornblums
haben wir 40 Jahre lang verteidigt“, ent- ins Manuskript geschrieben. Bis dahin hatfuhr es dem beleidigten Diplomaten.
te sich Kornblum stets damit gebrüstet, UrWenig später, bei der Einweihung des heber des berühmten Satzes zu sein.
„Transatlantic Center“, belehrte er seine
Dass aus einer Lokalposse um ein BauZuhörer, das wiedervereinigte Deutsch- projekt längst ein Konflikt von hoher Symland brauche noch einige
Zeit, bis es auf dem internationalen Parkett „den
richtigen Ton“ treffe.
Genau dieses Defizit jedoch bemängeln viele, die
häufig mit Kornblum zu tun
haben oder ihn noch aus der
Zeit kennen, als er – von
1985 bis 1987 – stellvertretender US-Kommandant
von Berlin war. „Der verwechselt sich mit dem Vizekönig von Indien“, meint
Bölling. Kornblum sei prototypisch für die amerikanische „arrogance of power“.
Selbst amerikanischen
Landsleuten fehlt Ver- Botschafter Kornblum*: „Sie sind nicht souverän“
ständnis für die Halsstarrigkeit ihres Repräsentanten. Der ame- bolkraft wurde, hat viel damit zu tun, dass
rikanische Soziologieprofessor Norman Kornblum die Kritik an seinem BotBirnbaum, der Kornblum lange kennt, hält schaftsplan und vor allem an seinem Stil offür „möglich“, dass „John unter einer fenbar als deutsche Undankbarkeit und
Krankheit leidet“, die nur schwer zu hei- Ausdruck des latenten Anti-Amerikanislen sei: „Sie heißt ‚imperiale Nostalgie‘ mus missversteht.
und stammt aus dem letzten Jahrhundert.“
Ob Berlin nicht bereit sei, die amerikaSeinen etwas groben diplomatischen Schliff nische Botschaft ausreichend zu schützen,
bekam der Botschafter im Kalten Krieg. fragte er unlängst in kleiner Runde, ob„In mancher Hinsicht ist Kornblum der wohl die USA Berlin jahrzehntelang geÜberlebende einer untergegangenen Epo- schützt hätten. Berlin müsse erst lernen,
che“, fürchtet Birnbaum.
dass es in seiner neuen Rolle als Hauptstadt
Nachdem Kornblum das deutsch-ame- auch Pflichten übernehmen müsse, berikanische Verhältnis derart hat abkühlen lehrte er deutsche Zuhörer.
lassen, gibt es in Berlin quer durch die
Derartige Maßregelungsversuche emppolitischen Lager immer weniger Hem- finden lokale Politiker zunehmend als Bemungen, Geschichten über John auszu- lastung. Im Abgeordnetenhaus kursierte
graben. In seiner Zeit als stellvertretender vergangene Woche schon das Gerücht,
Stadtkommandant von Berlin etwa habe Kornblum sei wegen seiner Sturheit im
Washingtoner State Department längst
„under dispute“. Im US-Außenministerium
„Kornblum verwechselt
hält man den Botschafter jedenfalls „eher
sich mit dem
für einen Teil des Problems als die LöVizekönig von Indien“
sung“. Auch Kornblums Sprecher Paul Brazell weiß, dass „viele Abgeordnete hoffen,
Kornblum den komplizierten Besatzungs- dass Kornblums Amtszeit mit Clintons
status gelegentlich als Instrument ver- Amtszeit endet“. Das dementiert derzeit
standen, um die Deutschen in Schach zu niemand.
halten, erinnert sich ein ehemaliger SeKornblums Landsmann Birnbaum jenator. Kurz nach dem Fall der Mauer habe doch sieht erheblichen Anteil für den Koner seinem russischen Kollegen bedeutet, flikt auch auf deutscher Seite. Wenn ein
dass die Kontrolle der Deutschen doch amerikanischer Diplomat glaube, sich nicht
bisher gut funktioniert habe, berichtet ein an die klassischen Tugenden der vornehmen Zurückhaltung und des Einfühlungsanderer.
vermögens halten zu müssen, dann sei das
auch „die Konsequenz aus zwei Genera* Mit Außenminister Joschka Fischer und Kanzler Gertionen deutscher Unterwürfigkeit – behard Schröder am 23. November 1998 bei einem Empsonders in West-Berlin“. Jürgen Hogrefe
fang für das diplomatische Korps in Bonn.
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Deutschland
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Deutschland
PRESSEFREIHEIT
Die Laus in der Redaktion
Unter dem Vorwand des Datenschutzes will Bundesinnenminister Otto Schily das
Redaktionsgeheimnis knacken. Politiker wie Bürger sollen fast ungehinderten
Einblick in Material bekommen, das Journalisten über sie sammeln und archivieren.
50
M. DARCHINGER
M
it dem Datenschutz haben Journalisten traditionell viel mehr Erfahrung, als der Obrigkeit lieb sein
kann. Die meisten haben bewährte Verstecke, vertrauliche Dossiers gegen den Zugriff von oben zu schützen.
Die geheimen Akten über das misslungene Nato-Manöver „Fallex“ etwa waren
im Küchenschrank des Redaktionssekretariats abgelegt, getarnt mit einem karierten
Handtuch, so clever nun auch wieder nicht.
Die Polizeikräfte, die das Pressehaus
durchsuchten, fanden den vertraulichen
Datensatz schnell, nahmen sogar das
Küchentuch mit: Das war die SPIEGELAffäre von 1962.
Seitdem sind die Verstecke besser und
die Dateien kleiner geworden. Die Diskette etwa, die 1997 ein Informant mit den
Daten von mehreren hundert Steuerflüchtigen und deren Verbindungen zu liechtensteinischen Treuhändern in der Redaktion ablieferte, wurde Gegenstand eines
SPIEGEL-Titels (51/1997) und ist nun so
einfach nicht mehr aufzufinden.
Doch ausgerechnet unter der freiheitlichen Flagge des Datenschutzes ist jetzt Otto
Schilys Innenministerium dabei, Redaktionsgeheimnisse besser durchschaubar zu
machen. Jeder Politiker und jeder Bürger,
der sich betroffen fühlt, soll künftig erfahren können, was über ihn bei Zeitungen,
Sendern und in Pressearchiven so recherchiert, geschrieben und gesammelt wird.
Nach einem Referenten-Entwurf aus dem
Berliner Innenministerium muss die Presse
künftig Rechenschaft über ihre Informationen geben. Und damit da keine Dossiers im
Küchenschrank verschwinden, soll ein Datenschutzbeauftragter in den Redaktionen
für Sicherheit und Ordnung sorgen.
Der Entwurf soll schon in den nächsten
Wochen vom Kabinett beschlossen werden: Nach der gescheiterten Einführung
des Lauschangriffs auf Redaktionsstuben
Schilys zweiter Versuch, der Presse hinterherspionieren zu lassen.
Doch diesmal stößt der Innenminister
auf Widerstand selbst bei den Datenschützern, auf deren Ziele er sich beruft. „Es
kann nicht angehen“, warnt Joachim Jacob,
der Bundesdatenschutzbeauftragte, seinen
Minister, unter Vorwänden „die Presse an
die Leine zu legen“.
Mit dem Redaktions-Datenschutzbeauftragten, so heißt es inoffiziell in Jacobs
Innenminister Schily, Datensammlung im SPIEGEL-Archiv, Titel zur SPIEGEL-Affäre (45/1962):
Behörde, wolle das SPD-Ministerium offenbar den Redaktionen „eine Laus in den
Pelz“ setzen. Wanze oder Laus: Der Deutsche Presserat sieht im Entwurf den Plan
einer „verfassungswidrigen Zensur“.
Schily kontert solche Vorwürfe mit Verweis auf Brüssel. Die europäische Datenschutzrichtlinie von 1995 begründe „die
Notwendigkeit, den Kreis der auf die Medien anzuwendenden Vorschriften“ des
Datenschutzes „zu erweitern“. Die „bisherige Rechtslage“, nach der die Medien
weitgehend verschont worden waren, lasse sich, leider, nicht aufrechterhalten.
Die alte Bonner christlich-liberale Regierung hatte lange Jahre gezögert, die
EU-Richtlinie mit einer Novelle des Datenschutzgesetzes umzusetzen, weil die Brüsseler Vorgaben etwas weit gehen. Datenschutz dient danach nicht mehr einfach
dem „informationellen Selbstbestimmungsrecht“, das nach dem Volkszählungsurteil
des Verfassungsgerichts den Bürger vor
staatlicher Ausforschung schützen soll.
Die Brüsseler Richtlinie behandelt Datenschutz als ein Problem, das jeder mit jedem hat. Auf den verantwortungsvollen
Umgang mit Personeninformationen sold e r
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len nun auch Privatunternehmen verpflichtet werden – etwa die Banken oder
die Versicherungen.
Für die Presse sieht die Richtlinie aber
Ausnahmen vor. Denn der Umgang der
Journalisten mit Namen, Daten und Fakten
ist nur schwer vergleichbar mit der Datenverarbeitung bei der AOK. Das Sammeln,
Sortieren und Verbreiten von Informationen über Leute ist nicht eine bedenkliche
Begleiterscheinung der Medienarbeit, sondern deren – zwar lästige, aber verfassungsmäßig geschützte – Hauptaufgabe.
Die Grundsätze der Datenerhebung –
journalistisch: Recherche – passen denn
auch nicht so recht zum Berufsbild des braven Redakteurs: möglichst wenig aufzuschreiben (Grundsatz der Datenvermeidung), vorher jedermann um Erlaubnis zu
fragen (Pflicht zur Erhebung beim Betroffenen) und das einmal Notierte möglichst
bald wieder wegzuwerfen (Einhaltung von
Löschungsfristen).
„Nur sehr vorsichtig“, sagt der Frankfurter Datenschutzexperte und Rechtsprofessor Spiros Simitis, der die EU-Kommission bei der Schöpfung der Richtlinie beriet, dürfe die Brüsseler Regelung auf die
nächst droht. Ob Walther Leisler Kiep, ob
Bodo Hombach oder vielleicht eines Tages
Otto Schily: Wer auch immer zum Gegenstand wiederholter Affären-Berichterstattung wird, bekommt Zugriff auf die Schreibtische der verantwortlichen Redakteure.
Die Versuchung, sich mit Hilfe einer
großzügigen Auslegung der neuen Vorschriften über die SPIEGEL-Dokumentation herzumachen, ist groß: Knapp 600 000
Personen-Dossiers lagern im Glas-Pavillon
an der Brandstwiete, und ein paar hundert
R. FROMMANN
Medien angewendet werden. Und geradezu feinfühlig waren denn auch die Entwürfe der Kohl-Koalition. Nur winzige
Retuschen an dem traditionellen bundesdeutschen „Presseprivileg“ im Datenschutzgesetz sah der Entwurf vor, den
Schily vorfand, als er die Macht im Hause
seines CDU-Vorgängers Manfred Kanther
übernahm.
Doch dann entstand – aus der Feder derselben Fachkräfte, die zuvor in Kanthers
Auftrag formuliert hatten – ein Horrortext,
Presse an die Leine
der selbst unter Beratern des
Ministers Kopfschütteln auslöste.
Der Paragraf 41 des Reformentwurfs sieht vor, dass
„jemand“, der durch eine Veröffentlichung betroffen ist,
„Auskunft über die der Berichterstattung zugrunde liegenden, zu seiner Person gespeicherten Daten“ und gegebenenfalls „Berichtigung unrichtiger Daten“ verlangen kann. Journalisten können
der Forderung, ihre Recherche-Unterlagen
herauszurücken, nur entgehen, wenn sie
damit ihren Informanten verraten müssten.
Vorbild für diese Vorschrift sind ähnliche
Regelungen in den Rundfunk-Gesetzen der
Länder, die bislang aber kaum jemand
kannte. Denn die meisten dieser LänderRegelungen enthalten zusätzlich eine sehr
weite Ausnahmeklausel. Danach müssen
Unterlagen nicht vorgelegt werden, wenn
„durch die Mitteilung die journalistische
Aufgabe durch Ausforschung des Informationsbestandes beeinträchtigt würde“.
Ausforschung ist es, was der Journaille
nach dem Schily-Entwurf, der eine solch
weitherzige Ausnahme nicht vorsieht, dem-
davon sind es, die Woche für
Woche der Berichterstattung
„zu Grunde liegen“. Allein für
diesen Bericht sind es mehr als
zehn.
Alle Redaktionen und Archive werden zudem nach
Schilys Entwurf unter die Aufsicht eines Datenschutzbeauftragten gestellt. Den dürfen sich die Medienunternehmen zwar selber aussuchen, er arbeitet
aber völlig unabhängig vom Chefredakteur und untersteht allein der Geschäftsführung.
Ein Problem der inneren Pressefreiheit:
Der Unternehmensvorstand, nicht die
Chefredaktion, bekommt so einen Kommissar, der sich drohend vor jedem Reporter aufbauen kann: „Was machen Sie
da eigentlich? Sind Sie überhaupt befugt,
Daten über den deutschen Innenminister
auf Ihrem Notizblock aufzuzeichnen?“
„Raus!“
Dann wendet sich der RedaktionsBlockwart an die „Aufsichtsbehörde“, eine
Art Landesschrifttumskammer. Wie diese
Behörde gebildet wird und was sie „in
Zweifelsfällen“ (Entwurfstext) mit unbotd e r
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mäßigen Redakteuren anstellen darf, ist
ungeklärt. Den Gesetzesautoren ist (noch)
nichts Geeignetes eingefallen.
Nur einem Beschwerdebrief des Deutschen Presserats, der die wirre Regelung als
Erster monierte, ist es zu verdanken, dass
Schily persönlich und schriftlich versprach,
noch Schlimmeres zurückzunehmen: Die
Befugnis des Datenschutzbeauftragten,
„jedermann“ ohne weiteres auf Anfrage
über die Arbeit der Redaktion Auskunft
zu geben, wurde schnell wieder aus dem
Entwurfstext getilgt.
Doch Presserats-Geschäftsführer Lutz
Tillmanns ist nur wenig besänftigt: „Dem
Pressewesen allgemein und dem Redaktionsalltag in der Presse im Speziellen ist die
Beaufsichtigung durch einen internen Redaktions-Datenschutzbeauftragten fremd.“
Der Frankfurter Datenschützer Simitis
ist da weniger fein: Die Übernahme der
EU-Vorgaben sei „überhaupt nicht durchdacht“. Nichts von alledem, was Schilys
Experten sich da ausgedacht haben, lasse
sich aus der EU-Richtlinie folgern.
Im Eifer, es besonders clever zu machen,
versuchten Schilys Reformer, den vorhersehbaren Ärger mit den Medien auf die Länder abzuwälzen. Die schlimmen Stellen im
Reformentwurf sind als Rahmenregelung
gefasst: ein zwingender Auftrag an die Bundesländer, in ihren Landespressegesetzen
gleich lautende Vorschriften zu erlassen.
Doch der Trick mit dem Bundesrahmen für
den Länder-Ärger bringt weiteres Unheil.
Mit der Rahmenregelung für die Gesetzgebung der Länder ist nämlich zugleich die
Klausel im Datenschutzrecht gestrichen, in
der die Medien weitgehend von bundesrechtlichen Restriktionen verschont wurden. Zumindest ein übereifriger Datenschutzbeauftragter kann, wenn wahr wird,
was Schily plant, das Gesetz beim Wort
nehmen und eine Reihe weiterer Schikanen an den Redakteuren ausprobieren.
Recherchen stehen dann unter Generalvorbehalt datenschutzrechtlicher Genehmigung.
„Bedenken und Anregungen“ zu dem
Gesetz, beschied Schily Kritiker ungerührt,
könnten ja noch im Parlament geltend gemacht werde. Doch nur leise regt sich Widerstand bei den Parlamentariern. Der
SPD-Datenexperte Jörg Tauss verspricht,
„über den Entwurf noch einmal zu reden“.
Vielleicht macht wenigstens der grüne Medien-Mann Cem Özdemir ein paar Schwierigkeiten: „In den Redaktionen“, hat er erklärt, „hat niemand außer den Redakteuren etwas zu suchen.“
Einerseits hat Özdemir nun das Versprechen des deutschen Innenministers,
„selbstverständlich“ werde mit dem neuen
Gesetz die „Pressefreiheit nicht beeinträchtigt“. Andererseits ist da, ungelöscht,
in den Dateien der Zeitungsleute, was Schily bemerkte, als es um den Lauschangriff
ging: „Für Journalisten steht nichts im
Grundgesetz.“
Thomas Darnstädt
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C. SCHROTH
Traditions-Café „Kranzler“ am Kurfürstendamm, Bürozentrum Friedrichstraße: „Die ehemals saturierten Westler befinden sich in der Schockstarre,
H AU P T S TA D T
Zur Spekulation freigegeben
In Berlin drängt, wer auf sich hält, nach Osten. Der Kurfürstendamm hingegen,
jahrzehntelang ein Spiegelbild der Gesellschaft des alten West-Berlin,
verliert seinen Charme. Auf der Edelmeile beginnt der Kampf um das schnelle Geld.
D
er rosafarbene Velours auf den Bänken des Berliner Abendrestaurants
„Kopenhagen“ ist ein wenig blass,
Lampenschirme verströmen mildes Licht.
Hier, im Wohnzimmer der Stars der alten
Bundesrepublik, feiern Diven und Machtmenschen den Herbst ihrer Karrieren.
Ex-Bundespräsident Walter Scheel zählt
zu den Stammgästen und Hans-Dietrich
Genscher, wenn er in der Stadt ist. Die
Kessler-Zwillinge, Inge Meysel und Marianne Hoppe, eine der allerletzten UfaGrößen, schreiten das Lokal am Kurfürstendamm nachts wie eine Bühne ab.
„Es gibt keine Gnade“, sagt Restaurantbesitzer Peter Hilpold, 54. Mitte Dezember
ist Schluss mit dem „Kopenhagen“ – nach
48 Jahren. Hilpold, seit 30 Jahren dabei,
kann die geforderte Miete nicht mehr bezahlen. Ab Januar 2000 wird hier ein Mercedes-Filialist in den umgebauten Räumen
Luxuskarossen präsentieren.
Zwei Ecken weiter den Ku’damm hinauf
wird im März 2000 das weltberühmte Café
„Kranzler“ schließen. Nichts symbolisiert
56
alte Eleganz und neue Morbidität der 53
Meter breiten und 3459 Meter langen Edelmeile mehr als die Geschichte des Lokals
mit der runden, rot-weißen Markise.
Ins „Kranzler“ auf dem ehemals größten
Kaffeehaus-Boulevard Europas zu gehen
war stets ein Ereignis – in den Roaring
Twenties, als es Café „Schilling“ hieß, wie
zu Hitlers Zeiten, als die Serviererinnen
braune Taftkleider mit großen weißen
Schürzen trugen.
Ins „Kranzler“ zog es Intellektuelle und
Stars der Vorkriegszeit ebenso selbstverständlich wie Nazi-Größen oder in den
aufstrebenden Fünfzigern die Wohlstandsbürger. Zuletzt lebte das Kaffeehaus, angestaubt und tantig, mehr von seinem legendären Ruf, der Treffpunkt Berlins zu sein.
Rundherum haben jetzt Coffee-Shops
und eine Yuppie-Suppen-Bar eröffnet, nach
New Yorker Vorbild: kleine Räume, schneller Umsatz. Das Großcafé „Kranzler“,
zweigeschossig, 350 Sitzplätze, 80 Angestellte, rechnet sich dagegen nicht mehr.
Auch an einem Neuanfang im neuen „Vicd e r
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toria-Areal“, einem monströsen Palast aus
Glas, Stahl und Beton am Kranzler-Eck, ist
der Besitzer, eine Schweizer Holding, nicht
interessiert. „Vorbei“, sagt „Kranzler“-Geschäftsführer Dieter Eßling, 50, der nun einen neuen Job sucht, „wir sind ein Fossil.“
Über Jahrzehnte lebte die Berliner Gesellschaft in einer symbiotischen Beziehung mit der alten Prachtstraße. Wer wissen wollte, wie die Stadt von Marlene Dietrich, Bert Brecht, Ernst Reuter oder Willy
Brandt tickte, erfuhr es bei einem Bummel über den Ku’damm.
Und so wie in der Gesellschaft das Altmodische, das Charmante verschwindet,
so verliert nun auch das steinerne Spiegelbild seine Faszination.
Das schnelle Geld wird wie schleichendes Gift in den Boulevard gepumpt, der
damit zur Spekulation freigegeben wird.
Wo einst die Bohème zu Hause war, tummeln sich Glücksritter und Totengräber.
„Die Ära des alten West-Berlin ist zu
Ende“, sagt der Inhaber des Designer-Modegeschäfts am Kurfürstendamm, David
F. OSSENBRINK
Deutschland
sie wissen nicht mehr, wie es geht“
Kramberg, 53. Die Messingrollos seines Ladens hat er schon vor ein paar Wochen
heruntergelassen. „Kramberg“ war Kult.
Als er 1978 eröffnete, eine weiße Halle
mit exklusiven Rundbögen an der Decke,
brachte er den ausgeflippten Schick der
Designerwelt ins eingeschlossene WestBerlin: Gucci, Versace, Yamamoto. Jetzt
sind die großen Labels mit ihren Glitzerläden selbst gekommen – Jil Sander, Prada,
Hermès –, zeigen Flagge in der Hauptstadt.
Seit die neue Welt nach Berlin aufbrach,
stirbt die alte „Insel im Strom“. So sehen
es die eingefleischten Liebhaber der Stadt,
die vielfach auch originale West-Berliner
sind. Dabei vergessen sie, dass die NeuMetropole in den letzten Jahren des Kalten
Kriegs in eine Art Koma gefallen war, aus
dem sie dann die Wende rüde aufweckte.
Die Prachtmeile – Mitte des 16. Jahrhunderts als kurfürstlicher Reitweg zur Jagd in
den Grunewald angelegt und 1873 auf Anordnung des Reichskanzlers Otto von Bismarck zur repräsentativen Flaniermeile ausgebaut – lebte noch gut vom ersten Rausch
nach dem Mauerfall. Erst kamen die Ostdeutschen, dann die reichen Russen, doch
seit Mitte der Neunziger geht es bergab.
Da ist der Pelzhändler Udo Heiler, 59,
der über Knebelverträge und „explodierende Mieten“ seit dem Mauerfall klagt –
bei bestenfalls gleich bleibenden Einnahmen. Am Europa-Center, Berlins erster
Shoppingmall gleich neben der Gedächtniskirche, zieht ein Großmieter nach dem
anderen aus. In den Siebzigern galt das
Gebäude als städtebauliche Sensation
schlechthin, heute ist es von gestern.
Udo Walz, 55, der prominente Kiez-Friseur will nichts Schlechtes sagen über den
Gang der Geschäfte, schon aus Prinzip.
Außer vielleicht, dass die Frauen früher
wöchentlich zum Waschen und Föhnen kamen, heute aber nur noch zum Färben und
Schneiden einmal im Monat.
Früher zählten Kunden der Mode- und
Schmuckläden vom Kurfürstendamm meist
zur besseren Gesellschaft der südwestlichen
Vororte – reiche Männer, darunter jede
Menge Baulöwen, und deren teure, prätentiöse Frauen. Heute, nach den riskanten
Immobiliengeschäften der letzten Jahre,
sind potente Jetsetter vom Bau „deutlich
seltener“ geworden, hat der Schmuckhändler Ronald Sedlatzek, 34, Juwelier in der
dritten Generation, festgestellt.
Und der Klatschkolumnist Michael
Graeter, 57, der seit Sommer vergangenen
Jahres auf dem Ku’damm ein schleppend
laufendes Zeitungs-Bistro („Extrablatt“)
Verblichene Prachtmeile
Spree
betreibt, berichtet von einer ungewöhnlichen Stadtflucht. Der vornehme Berliner
(„Für die Kurfürstendamm-Besucher müsste man ja die Münchner Altkleiderhilfe
um Unterstützung bitten“) sei ohnehin nur
noch in Hamburg beim Einkaufen, in Paris
beim Amusement oder in New York mit
der Freundin anzutreffen – „nur nie in Berlin“. Zumindest nicht in West-Berlin.
Der Westen ist out. „Der Spirit geht nach
Osten“, erkannte Modemann Kramberg,
den es aus geschäftlichen Gründen selbst
Richtung Mitte drängt.
Wer etwas vor hat im Leben, geht in den
jungen Osten. Dienstleister, Rechtsanwälte, Steuerberater, Immobilienhändler mit
tatsächlicher oder nur eingebildeter Zukunft zieht es nach Mitte, die Regierungsmacht und die Medien sind schon da. Auch
die meisten Banken haben für ihre stolzen
Berlin-Dependancen einen Standort östlich des Brandenburger Tors gewählt.
Rational ist der Sog des Ostens kaum zu
erklären: Hier ist es immer noch schmutzig,
schon wieder teuer und durch die Bauarbeiten meist dröhnend laut. Die Friedrichstraße, eine aus dem Boden gestampfte
Büro- und Einkaufsmeile mit ein paar luxuriösen Geschäften wie im „Quartier
206“, verfügt längst nicht über so viele
Cafés und Restaurants mit eigenem Flair
wie der Ku’damm. Und rundherum, in den
Wohngebieten von Mitte, gibt es meist weder Schuster noch Bäcker um die Ecke.
Kaum ein Investorenprojekt macht Gewinn, und fast alles gehört den Banken.Auch
verdient wird nicht auf der Friedrichstraße,
sondern im Westen: Durchschnittlich 13275
Shopper pro Stunde sind samstags auf dem
Tauentzien, der Verlängerung der Edelmeile zum Kaufhaus des Westens (KaDeWe),
unterwegs. Selbst auf dem Kurfürstendamm
sind es noch 7335 – und damit siebenmal
mehr als auf der Friedrichstraße.
Doch hier im Osten sind die Ideen, hier
sind die Trends, hier ist der Swing. Im
Östlicher Kurfürstendamm und Tauentzienstraße
Bahnhof Zoo
Zoofenster
CHARLOT TENBURG
TIERGARTEN
Ausschnitt
MITTE
Gedächtniskirche
Breitscheidplatz
Friedrichstraße
Europa-Center
Kurfürstendamm
WILMERSDORF
Zoologischer Garten
Victoria Areal
KREUZBERG
Tau
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Café Kranzler
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KaDeWe
Wittenbergplatz
Ku’damm-Karree
Adenauerplatz Kurfürstendamm
100 m
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Kartengrundlage:
GrafikBüro Adler & Schmidt
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Deutschland
Unternehmer Walz, Graeter: „Münchner Altkleiderhilfe für Ku’damm-Besucher“
Für den Westteil der Stadt und vor allem
für sein bestes Stück, den Kurfürstendamm, hat längst das eherne Gesetz der
Spekulation Gültigkeit: In der Krise wird
der Markt wieder interessant.
Vor ein paar Jahren noch galt der Kurfürstendamm mit seinen großzügigen Bürgerwohnungen und den kuschligen Nebenstraßen als Inbegriff genussvoller freier Lebensart. Nirgendwo in Berlin gibt es
ein solches Stück Stadt, in dem Wohnen,
Arbeiten, Shopping und Vergnügen so urban miteinander verwachsen sind.
Doch schon im östlichen Teil des Kurfürstendamms, zwischen Halensee und
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und Cafés. Allein Mode-Multi Hennes &
Mauritz siedelte auf der Berliner Shopping-Meile vier Filialen an. Dafür wich ein
so alteingesessener Betrieb wie das Café
„Möhring“ gegenüber der Gedächtniskirche aus einer Jugendstilvilla.
Nach dem Bau von Future-Town am
Potsdamer Platz im Osten holen die Stadtplaner der West-City nun zum Gegenschlag aus: Anstatt den urbanen Charakter
der Kurfürstendamm-Gegend zu stärken,
setzen sie auf aggressiven Gigantismus.
Hinter dem so genannten Victoria-Areal
am Kranzlereck wird bis Herbst 2002 unter anderem ein 37-geschossiges Hotel ged e r
C. SCHROTH
baut, das so genannte Zoofenster.
Und der Architekt Josef Paul Kleihues legte vergangene Woche einen Entwurf für sein „Europolis“
vor: Nur eine Ecke vom Ku’damm
entfernt soll bald das höchste
Wohnhaus Europas stehen und 300
Meter in den Himmel ragen.
„Spreehattan“, jauchzt der Präsident des Bundesbauamts, Florian
Mausbach.
Andere sind da weniger euphorisch. Aus dem Edelboulevard werde eine B-Meile, argwöhnen die
Kritiker, verwechselbar mit den
Einkaufsstraßen etwa von Essen,
Köln oder Stuttgart.Wie dort könnten künftig in Berlin wenige viel
Geld verdienen – und das habe in der Regel Konsequenzen.
Sowohl Victoria-Areal als auch Zoofenster wurden von den Investoren überraschend weiterverkauft, nachdem die Baugenehmigung erteilt war. Über „Grundstücksspekulationen übelster Art“ empört
sich Georg Aunap, Vorsitzender des Berliner Architekten- und Ingenieursvereins,
und beklagt „ein städtebauliches Verbrechen“.
Die Fachleute – sonst keine Gegner hoher Häuser – fürchten einen „DominoEffekt“. In der West-City werde nun „ein
dicker Klopper nach dem anderen“ gebaut
und das einzigartige Viertel zerstört.
„Das Gebiet um die Gedächtniskirche wird
dann seinen Weg in den Slum antreten“,
zeichnet Aunap ein finsteres
Szenario.
„80 Prozent einer Immobilie sind objektiver Wert,
der Rest ist Psychologie“,
sagt der Inhaber der WestBerliner Immobilien-Firma
„City-Report“, Frank-Arthur Orthen, 40, der für seine Kunden das Potenzial von
Immobilien um Ku’damm
und Mitte bewertet. Orthen
weiß, wie man eine Lage
rauf und runter redet. Er verfügt über profunde Daten,
und damit macht er Stimmung: „Wenn die Hochhäuser kommen, die Ketten, die
Hotels, gehen am Kurfürstendamm die
Lichter aus.“
Auch seine Empfehlung, die größten
Shopping-Gebäude, das berühmte Europa-Center („langweilig“) und das
Ku’damm-Karree („enttäuschend“) am
besten gleich abzureißen, erschreckte die
West-Berliner. Die Besitzer der Multimillionen-Objekte, Karl Pepper und Rafael Roth, wird Orthens Verweis auf die
Zwangsläufigkeit der Zeitläufte kaum milde stimmen: „Keine Sorge, in zehn Jahren
sage ich das Gleiche über die heute so
hoch gelobten Arkaden am Potsdamer
Platz.“
Susanne Koelbl
C. SCHROTH
M. TRIPPEL / OSTKREUZ
Osten ist alles frisch. Wer rechtzeitig kam, konnte hier alles werden.
Wer wichtig ist in der Gesellschaft, bestimmen nicht mehr die
alten Platzhirsche des Westens.
„Manche Cocktailpuper müssen
froh sein, wenn sie überhaupt noch
vorkommen“, sagt David Goldberg, 52, Händler exklusiven
Schmucks am Ku’damm.
Im Glauben, dass der Osten die
Zukunft ist, sind sich die Berliner,
die sonst am liebsten in ihren beiden Stadthälften bleiben, einig. Je
jünger die Hauptstädter, so das Ergebnis einer Forsa-Umfrage, desto
stärker sehen sie das prickelnde Neubau in der Friedrichstraße: Irrationaler Sog
künftige Leben in der City Ost.
Heute sind es die West-Berliner Ge- Adenauerplatz, erinnert nur noch wenig
schäftsleute, die über den Osten jammern an die alte Pracht. Dort entwickelt sich zuwie die Ostdeutschen nach der Wende über sehends ein eigenes Milieu, das von NaAngeber-Wessis. „Berlin ist nicht nur der gelstudios, Videotheken und Baumärkten
Osten, auch wir haben viel zu bieten“, är- geprägt ist. Und das Bohème-Viertel Chargert sich Manuela Remus-Woelffling, 38, lottenburg steht inzwischen im Ruf, ein
Geschäftsführerin der Arbeitsgemeinschaft Biotop für satte Selbständige zu sein, die
City, in der sich Ku’damm-Einzelhändler mal „was Kreatives“ machen wollten, dann
zusammengetan haben. „Man schweigt uns doch Wirtschaftsprüfer wurden und deren
tot, das ist doch nicht fair.“
Frau gerade („total spannend“) eine Praxis
Die ehemals saturierten Westler, meist für Kinesiologie, Modetrend im Therapieschon jenseits der 50 und eigentlich im Be- geschäft, eröffnet. Da swingt nichts.
griff, die Ernte ihres Lebens einzufahren,
Unternehmensketten haben sich am
befinden sich in der „Schockstarre“, be- neuen Standort Berlin-Ku’damm eingeobachtet Mode-Kaufmann Kramberg. Sie kauft und bedrohen die Existenz der kleiseien einfach nicht gewillt, schon wieder zu neren Geschäfte – Designer und Bekleikämpfen: „Sie wissen nicht mehr, wie es dungskaufhäuser gegen Boutiquen, Steakgeht. Eine Identitätskrise.“
und Fast-Food-Ketten gegen Restaurants
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Deutschland
mierte der listige Londoner unlängst die
überraschte Baukommission.
Doch die Politiker blieben stur und forderten weiterhin Sitzgelegenheiten in der
westlichen Lobby. Schließlich lenkte Foster
ein. Sein erster Möbel-Entwurf trifft freilich nicht jedermanns Schönheitssinn:
„Diese unverrückbaren, hässlichen Steintröge“, lästert ein hoher Beamter des Bundestags, „haben uns gerade noch gefehlt.“
Dass der Baumeister nachgab, halten
Kenner der Rechtspraxis für zwingend.
Zwar gilt der Reichstag, im Unterschied
zum privaten Wohnhaus, juristisch als
Kunstwerk. Aber gerade deshalb kann der
Architekt dem Bauherrn, also dem Bundestag, nicht einfach vorschreiben, wie die
Räume zu nutzen und zu gestalten sind.
„Foster kann Vorschläge machen“, stellt
ein Experte der Baukommission klar, „im
Konfliktfall aber hätte er keine Chance.“
B U N D E S TAG
Heftiges
Augenflimmern
Politiker und Beamte finden
das Interieur des Reichstags weder
schön noch praktisch. Aber
Architekt Foster will sein Kunstwerk nicht verändern lassen.
V
or der Bundestagsdebatte um den
Kanzleretat an diesem Mittwoch
graust es Karlheinz Lindner. Der
Referatsleiter aus dem Verteidigungsministerium säße während dieser wichtigen Redeschlacht gern in Sichtweite seines Chefs,
ständig einsatzbereit wie die Kollegen aus
13 anderen Ministerien. Womöglich brauchen Scharping, Eichel, Müller und Kollegen während der Diskussion erste Hilfe.
„Aber wir schaffen es kaum bis in den
Plenarsaal“, sagt Lindner gequält. Anders
als in Bonn, wo 30 Stühle für Beamte bereitstanden, fehlt es im Berliner Reichstag
an Sitzplätzen – und an Stehplätzen auch.
Drei der zwölf Stühle hinter den drei
Reihen der Regierungsbank okkupiert
grundsätzlich das Kanzleramt. Um die restlichen neun müssen sich die Vertreter aus
14 Ressorts kabbeln.
Abhilfe ist nicht in Sicht. Der umgebaute Reichstag, gibt der britische Architekt
Lord Norman Foster immer wieder zu verstehen, sei ein Kunstwerk und als solches
gegen alle Änderungen urheberrechtlich
geschützt. Mit diesem Hinweis haben Fosters Leute mehrfach praktische Wünsche
des deutschen Souveräns kühl abgeblockt.
So rührt der Baumeister ans Funktionieren der parlamentarischen Demokratie.
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Aber nun droht dem Star Gegenwehr. Den
täglichen Kleinkrieg um Gebrauchswert
und Geschmack am Arbeitsplatz wollen
Abgeordnete aus allen Fraktionen nicht
länger hinnehmen.
Schleunigst sollen beispielsweise die
Sanitätsräume im Erdgeschoss umgebaut
werden. Die Ärztin hatte sich darüber beschwert, dass Notfall-Patienten nur extrem
umständlich auf einer Trage in einen Krankenwagen befördert werden könnten. „Da
muss sofort etwas passieren“, sagt der Vorsitzende der Baukommission, CDU-Mann
Dietmar Kansy: „Das ist eine Sanitätsstation und kein Kunstwerk.“
Andernorts wird der Ton schon rauer.
Ob die Wandtäfelung im SPD-Fraktionssaal nur mit Zustimmung ihres Schöpfers
dekoriert werden darf oder nicht, ist dem
Parlamentarischen Geschäftsführer Wilhelm Schmidt inzwischen egal: „Wir werden Bilder an die Wand knallen, ob es
Herrn Foster passt oder nicht.“
Bei der aufmüpfigen PDS hängen längst
die Parteiplakate vor den geschlitzten
Paneelen. Eine Attacke gegen Fosters Stilgefühl, aber ein durchaus wirksames Mittel gegen das psychedelische Augenflimmern, das sich in den kleinen, hellen Räumen beim Blick auf die eng geriffelten
Holzwände umgehend einstellt.
Zur illegalen Selbsthilfe gegen britischen
Purismus griffen Abgeordnete auch im Ostflügel. Auf dem Wandelgang gruppierten
sie rote und schwarze Ledersessel zu Inseln
der Gemütlichkeit – bis die Kontrolleure
von der Bauaufsicht hierhin vordringen.
Denn bewegliche Möbel dürfen keine
noch so breiten Fluchtwege versperren.
Das verlangen die Berliner BrandschutzVorschriften für Hochhäuser. Weil erkennbar höher als 22 Meter, ist der Reichstag
gemäß Verordnung ein Hochhaus, infor* Bei der Schlüsselübergabe am 19. April.
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REUTERS
Umstrittene Sitzgruppe im Reichstag: Illegale Selbsthilfe gegen britischen Purismus
Architekt Foster, Hausherr Thierse*
Kampf um das Grünzeug
So weit will es der Souverän nicht kommen lassen, zumal der Zoff zuweilen mit einem erträglichen Patt endet. So teilen einige Parlamentarier durchaus Fosters Abneigung gegen Grünzeug, die im Präsidialtrakt
obsiegte. Hausherr Wolfgang Thierse musste Pflanzen aus dem Blickfeld verschwinden lassen. Vor einem Staatsgeschenk des
niederländischen Parlaments kapitulierte
der Architekt. Zwei Ficus-Bäume aus Den
Haag dürfen im Westflügel weiter wachsen.
Wie die Stuhl-Krise gelöst werden könnte, ist dagegen völlig offen. Und die Eskalation droht auch bei den Plätzen der Ministerpräsidenten. Denn nun hat der Direktor des Bundesrats bei Kansy moniert,
in den vorderen Reihen stünden nur 15
Stühle für 16 Länderchefs.
Sollen Stoiber, Clement, Simonis und
die anderen künftig „Reise nach Jerusalem“ spielen? Dazu müssten allerdings alle
16 Regierungschefs nebst Entourage anreisen – das ist noch nie passiert.
Der Versuch, für die Ministerhelfer auf
die gegenüberliegende Seite des Parlamentspräsidiums einfach vier zusätzliche
Stühle zu stellen, „hielt nur drei Tage, und
weg waren sie“, erinnert sich Referatsleiter
Lindner. Am liebsten, sagt ein Kollege,
hätten die bescheidenen Einflüsterer an
der grauen Stirnwand „Klappsitze wie im
Intercity“ .
Petra Bornhöft
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Deutschland
STRAFJUSTIZ
„Nun ist erst mal Wochenende“
Die Eheleute Maerzke stehen vor Gericht, weil sie ihren Sohn Mukarim Emil in Todesgefahr
gebracht haben sollen. Was wissen wir von deren Not? Von Gisela Friedrichsen
A
das rechte Auge müsse unverzüglich entfernt werden. Eine andere Möglichkeit
gebe es nicht, sonst sterbe das Kind. Schon
am übernächsten Tag, am Donnerstag, dem
28. Januar, solle operiert werden.
Die geschockten Eltern sind mit allem
einverstanden. Sie unterschreiben alles, damit ihr Junge nur am Leben bleibt.
Vor der geplanten Amputation wird das
Kind, bereits unter Narkose, noch einmal
untersucht. Nun ist der Befund noch dramatischer: Auch das linke Auge ist befallen.
Die Ärzte brechen den Eingriff ab. Sie
erklären, in München sei man mit der Behandlung überfordert, die Eltern sollten
sich an die Universitätsklinik Essen wenden. Es wird ihnen eingeschärft, „dass jeder Aufschub der medizinischen Behandlung die Gefahr der Bildung weiterer Tochtergeschwülste berge“. Es geht um Tod
oder Leben – so verstehen es die Eltern. Sie
wollen sofort nach Essen fahren.
Aber nein, wehrt man dort am Telefon
ab, das hat keinen Sinn. Erst mal komme ja
nun das Wochenende. Es reiche, wenn das
Kind am Montag gebracht werde. Im Übrigen gebe es vor dem 5. Februar keine Operation. Die Eltern sind fassungslos.
Ist nicht das Leben ihres Kindes in Gefahr? Ist den Essenern egal, ob das Kind
stirbt? Oder hat man in München übertrieben?
In Mukarim Emils Augen hatten sich
Retinoblastome gebildet, Krebstumore, die
keine Schmerzen verursachen. Unbehandelt endet die Krankheit stets tödlich. Im
Berliner Franklin-Klinikum Steglitz schätzt
man, dass von 25 000 Neugeborenen eines
erkrankt wie Mukarim Emil. Mehr als 90
Prozent der Kinder überleben, wenn sie
rechtzeitig behandelt werden. Die Entfernung des Auges lässt sich oft vermeiden.
Der Kinder-Krebsspezialist Günter Henze von der Charité beschrieb im Berliner
„Tagesspiegel“, welch tiefen Einschnitt die
Krebstherapie für die Betroffenen bedeutet: „Man darf die Familie nicht zwischen
Tür und Angel über die Behandlung informieren.“ Aber für Patientengespräche, für
Begleitung der Eltern habe man wegen
Stellenstreichungen immer weniger Zeit.
Es ist derzeit viel von den Kosten des
Gesundheitswesens die Rede. Darüber ist
das Thema der Beziehung zwischen Arzt
und Patient in den Hintergrund getreten.
Scheich Nazim
Wenn ein kleines Kind schwer erkrankt,
Weltweite Kontakte zu Spezialisten
dann werden meist auch seine
Eltern zu Patienten, zu höchst
irritierbaren und oft verzweifelten dazu. Maerzkes hören, es
gehe um Tage, um Stunden gar
– und dann soll eine volle Woche bis zu der so dringlichen
Operation vergehen dürfen?
In dieser Woche wird in Augsburg vor dem Schöffengericht
gegen die Maerzkes wegen Vernachlässigung der Fürsorgepflicht verhandelt. Fraglos haben sie, nachdem sie die Diagnose erfahren hatten, Dinge
getan, die Menschen, die routinierter mit solchem Schrecken
umgehen, aberwitzig vorkommen. Sie haben in ihrer Angst,
Verwirrung und Ratlosigkeit,
was nun tatsächlich zum Besten
ihres Kindes ist, auf alle möglichen Ratgeber gehört. Sie haben sich in ihrer Panik nicht immer verständig verhalten und
werden daher auch mit einer
Verurteilung zu rechnen haben.
Doch im Medientumult, den
der Fall aufwirbelt, ist immer
Mutter Lamia Maerzke mit Kind auf Zypern: Suche nach alternativen Behandlungsmethoden
FOTOS: M. GÜLBIZ / AGENTUR FOCUS
nfang des Jahres fällt dem Augsburger Ehepaar auf, dass die rechte Pupille ihres vier Monate alten
Sohnes Mukarim Emil eigenartig weiß ist.
Am 26. Januar gehen Lamia und Sven
Maerzke, 22 und 26, mit dem Kind zum
Arzt. Der überweist sie sogleich ans Haunersche Kinderspital in München: Es könnte ein bösartiger Tumor sein. Noch am selben Tag stellen sie den Jungen dort vor.
Die Diagnose ist wie befürchtet. Man
müsse das Kind sofort operieren, heißt es,
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DPA
Deutschland
Krebskranker Mukarim Emil
S. PUCHNER
Der Augapfel seiner Eltern
Eltern Maerzke bei Festnahme
Sie wollten dem Kind eine Pause gönnen
nur die Rede davon, was die Eltern falsch
gemacht haben – und nicht davon, wie es
dazu kommt, dass Eltern falsch handeln.
Mit untätigem Warten an jenem arbeitsfreien Wochenende fanden sich Maerzkes
nicht ab. Sie suchen einen Arzt in Kaufering bei Augsburg auf. Der rät, zunächst
den Verlauf der Krankheit zu beobachten
und nach Methoden zu suchen, die das
Auge erhalten. Er überweist das Kind an
den Schweizer Homöopathen Dario Spinedi in Locarno, von dem es heißt, er habe
Kinder, die von deutschen Ärzten schon
aufgegeben worden waren, noch geheilt.
Maerzkes zögern. Sollen sie nicht besser
nach Essen gehen? Dann fahren sie nach
Locarno. Spinedi ist zurückhaltend. Er bie66
tet eine homöopathische „Begleitung“ an. motherapie nicht. Als der Junge zum zweiDie Eltern sind inzwischen entschlossen, ten Mal mit Laser behandelt wird, überihrem Kind die Amputation des Auges, bringt ein Mitarbeiter Bornfelds eine freuwenn es denn irgendwo auf der Welt eine dige Botschaft: Der Tumor rechts sei stark
Chance gibt, zu ersparen.
zurückgegangen. Neue Hoffnung also.
Sie sind einfache Leute, gebürtige AugsWenige Tage später verhandelt das Vorburger, er hat Landschaftsgärtner gelernt, mundschaftsgericht Augsburg über die Frasie wollte nach dem Fachabitur in Sozial- ge, ob Maerzkes das Sorgerecht entzogen
wesen Umweltschutz studieren, aber das ist werden soll. Dabei erfahren sie, wie Bornmit dem kranken Kind ja nun vorbei. In- feld die Situation einschätzt: Das rechte
zwischen erwartet sie das zweite.
Auge müsse höchstwahrscheinlich entfernt
Sven Maerzke ist mit 18 Jahren zum Is- werden; außerdem seien die Eltern seiner
lam übergetreten und hat sich der Naks- Auffassung nach psychisch nicht fähig, das
bendi-Bruderschaft angeschlossen. Als La- Kind nach einem Eingriff zu begleiten.
mia ihn kennen lernt, folgt sie ihm. Die
Der junge Vater, dem einmal der Kragen
Behauptung, die Maerzkes seien blind auf platzt, ist fortan als „gewalttätig“ abgeeine fundamentalistische Sekte hereinge- stempelt. Die Eltern fühlen sich gekränkt,
fallen, die eine Operation des Kindes ver- verkannt und beiseite geschoben. Das Aufboten habe, ist so nicht richtig. Sven enthaltsbestimmungsrecht hat inzwischen
Maerzke sagt, er habe Scheich Nazim Adl ein Anwalt inne. Niemand macht sich die
al-Haqqani, das geistliche Oberhaupt, um Mühe, um ihr Verständnis zu werben. Man
Rat gefragt – wie ein Christ, der sich in steht auf dem Standpunkt: Diese Leute
seiner Not an den Pfarrer wendet. Denn sind unzugänglich für ärztliche Vernunft.
die Bruderschaft verfügt über weltweite
Fünf Juristen, sagt man, das sind fünf
Kontakte, auch zu Medizinspezialisten.
Meinungen. Doch auch fünf Ärzte können
Operationen werden von der Bruder- fünf Diagnosen und fünf Therapien beschaft nicht durchweg abgelehnt. Doch deuten. Ein angesehener Hamburger Frauihrem Weltbild, in Teilen noch auf orien- enarzt erklärt einer Familie, der 16-jährigen
talischer Mystik beruhend und antiposi- Tochter müsse eine Brust amputiert wertivistisch ausgerichtet, steht die Wissen- den; es sei Krebs. Der Hausarzt hält diese
schaftsgläubigkeit des Westens entgegen. Diagnose für Unsinn. Hat die Familie gegen
So weit, wie manche glauben, ist das Un- das Gesetz gehandelt, als sie das Mädchen
behagen der Menschen im Westen am tech- nicht operieren ließ? Die Tochter, heute
nischen Fortschritt vom Weltbild der Naks- über 30, ist noch immer gesund.
bendis gar nicht entfernt.
Wer hat nicht so etwas schon erlebt, bei
Kranke Augsburger wallfahren zum na- sich oder im Freundeskreis? Oder auch, in
hen Maria Vesperbild. Andere Gläubige ba- umgekehrter Richtung, dass sich eine Diaden im Quellwasser von Lourdes. Manche gnose als zu harmlos angesichts tatsächschwören auf Geistheiler oder den „Krebs- lich todernster Erkrankung erwies. Und
heiler“ Ryke Geerd Hamer. Das ist weitaus dann sind die Medien auch voll mit
bizarrer als die Reaktion der Maerzkes.
Schreckensnachrichten: vom StrahlenScheich Nazim bot dem jungen Vater skandal und Transfusionen mit verseuchHilfe bei der Suche nach alternativen Be- tem Blut bis zur Amputation des gesunhandlungsmethoden an. Auf seinen Rat den Lungenflügels statt des verkrebsten.
bringen die Eltern Mukarim Emil schließEnde April setzen sich die Eltern
lich im März doch nach Essen. Sie werden Maerzke mit ihrem Kind in den Libanon
inzwischen per Haftbefehl geab, aufgerieben von dem Hin
sucht, das Sorgerecht soll ihnen
und Her. Ihrem Kind möchten
„Wer hat
entzogen werden. Nun ist auch
sie eine Pause gönnen. Heute
das Fernsehen dabei. Das Ver- nicht so etwas sieht Sven Maerzke ein, unschon erlebt, überlegt gehandelt zu haben.
halten der Eltern wird zum
Skandal hochgespielt.
Fünf Monate halten sie sich
bei sich
In Essen erfahren Maerzkes,
dort auf. Ein Augenarzt in Beirut
oder im
die Tumoren im linken Auge hätkeine Tumoren mehr. Am
Freundeskreis“ findet
ten sich verdoppelt. Sie sind ent6. Oktober werden sie abgesetzt. Gerade hatte ihnen ein zyschoben. In Augsburg nimmt
priotischer Arzt Hoffnung gemacht: Links man sie fest. Im rechten Auge des Jungen
seien keinerlei Geschwülste mehr vorhan- sitzen nun schon sechs bis sieben Geden. Ein Vater aus Österreich preist die schwülste, die seither behandelt werden.
Methode der Protonenbestrahlung in den Mit dem linken Auge kann der Junge seVereinigten Staaten an. Eine Amerikanerin hen, rechts bleibt das inzwischen blinde
will sich um eine solche Behandlung an Auge möglicherweise erhalten. Geheilt ist
einer renommierten amerikanischen der Junge aber noch nicht.
Augenklinik kümmern. Professor Norbert
Was ist Fürsorge? Hätten Maerzkes nicht
Bornfeld, der Chef in Essen, erklärt eine auch die Fürsorgepflicht vernachlässigt,
Protonentherapie bei einem Kind dieses wenn sie sich nicht um weniger einschneiAlters für ganz unmöglich.
dende Therapien gekümmert hätten? Sie
Mukarim Emil geht es nun sehr schlecht. haben nur das Beste für das Kind gewollt.
Er verträgt die in Essen begonnene Che- Mukarim Emil ist ihr Augapfel.
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BUNDESWEHR
Bitteres Ende
Ein Oberstarzt wurde Opfer
einer Operation durch Kollegen.
Eine umstrittene Gesetzesklausel befreit die Bundeswehr
von normaler Arzt-Haftung.
S
ein Pflichtbewusstsein wurde Oberstarzt Friedrich Wezel zum Verhängnis. Als bei dem Sanitätsoffizier, damals oberster Zahnmediziner der Luftwaffe, ein gutartiger Tumor am Gehörnerv
festgestellt wurde, wollte er sich vom Spezialisten einer Uni-Klinik operieren lassen.
Doch Vorgesetzte appellierten an seine
Vorbildfunktion: Er solle sich doch bei
Bundeswehrärzten unters Messer begeben.
Seit dem Eingriff im Ulmer Bundeswehrkrankenhaus vor gut sieben Jahren ist
Wezel, 62, fast völlig gelähmt und ein schwerer Pflegefall. Seine Frau, selbst Ärztin auf
der Hardthöhe und zuständig für die medizinische Betreuung höchster Staatsgäste,
quittierte damals ihren Dienst und widmete sich fortan nur noch der Sorge für ihren
Mann – und dem Kampf um sein Recht.
Denn die Bundeswehr weigert sich, für
die Folgen der misslungenen Operation in
vollem Umfang einzustehen. Seit 1993 versucht Ingrid Wezel, im Namen ihres Mannes vom Bund angemessenen Schadensersatz und Schmerzensgeld zu erlangen. An
diesem Mittwoch wird vor dem Ulmer
Landgericht zum zweiten Mal darüber verhandelt, was bei der Operation von Oberstarzt Wezel geschah.
An dem tragischen Fall zeigt sich eine
kritische Besonderheit im Soldaten-Recht:
Für Kunstfehler der Bundeswehrärzte gibt
es nur eine eingeschränkte Haftung. Die
Bundeswehrangehörigen können sich im
Regelfall ihren Arzt nicht aussuchen, sondern müssen zum Dienstarzt gehen. Doch
während zivile Krankenhäuser für die Fehler ihrer Ärzte einzustehen haben, beruft
sich die Bundeswehr auf eine Klausel im
Soldatenversorgungsgesetz, die den Soldaten Ansprüche auf Schmerzensgeld und
Schadensersatz abschneidet.
Wie bei anderen „Wehrdienstbeschädigungen“ übernimmt die Bundeswehr bei
Arztfehlern nur eine pauschalierte, schmale Versorgungsrente – und selbst die erst ab
einer Erwerbsminderung von 25 Prozent.
Wird der Soldat als dienstunfähig entlassen, fällt auch die freie Heilfürsorge weg,
es gibt nur noch eine medizinische Minimalbehandlung. Die Vorschrift richtet sich
nach der „Kriegsopferversorgung“, die in
den fünfziger Jahren für die Verwundeten
und Verstümmelten des Zweiten Weltkriegs
geschaffen wurde.
Die Geschädigten erhalten diese Leistungen zwar unabhängig davon, ob andere ein Verschulden trifft. Doch weiter gehende Ansprüche gibt es nicht, selbst wenn
man den Verantwortlichen grober Fahrlässigkeit überführen kann. Nur bei vorsätzlichem Pflichtverstoß muss voll gehaftet
werden – ein selten nachzuweisender Fall.
„Diese Haftungsbegrenzung ist unerträglich“, sagt Oberst Bernhard Gertz, Vorsitzender des Bundeswehr-Verbandes, der
Interessenvertretung der Soldaten, „denn
solche Härtefälle tauchen in unschöner Regelmäßigkeit bei uns auf.“
Jährlich werden in Bundeswehrkrankenhäusern mehr als 70 000 Operationen
durchgeführt – wie viele Kunstfehler dabei
wirklich passieren, ist kaum sicher zu ermitteln. Denn wegen der schlechten Aussichten auf Erfolg melden vermutlich viele Patienten gar nicht erst ihre Schäden an.
Der Bundeswehr-Verband leistete seit 1992
mehreren dutzend Opfern besonders
schwerer Missgriffe juristischen Beistand.
So wurden einem Oberstleutnant aus
Versehen die Stimmbänder durchgeschnitten. Ein anderer Soldat, dessen erste Operation schief ging, wurde so lange nachoperiert, bis er dienst- und berufsunfähig war.
Der Fall Wezel ist einer der schlimmsten
– nicht nur wegen der Folgen, sondern auch
wegen der vielen Fehler. Denn eigentlich
war der Eingriff am Gehirn Routine. Zwar
T. BARTH / ZEITENSPIEGEL
Deutschland
Ulmer Bundeswehrklinik, Geschädigter Wezel,
mussten die Ärzte, um den Tumor zu entfernen, den Schädel des Patienten öffnen –
dabei können am Schädelknochen verlaufende Venen verletzt werden. Luft gelangt
dadurch in den Blutkreislauf, schlimmstenfalls wird die Durchblutung wichtiger Gehirnbezirke unterbrochen.
Eine solche Luftembolie ist jedoch beherrschbar, wenn sie während der Narkose
sofort bemerkt wird – und die dafür zuständigen Anästhesisten des Bundeswehrkrankenhauses Ulm gehören zu den Besten
ihres Fachs. Ulm genießt unter den Bundeswehrkliniken eine Sonderstellung, man
renommiert mit der „ehrenvollen Ermächtigung“ zur Ausbildung von Fachärzten.
Der Kollege Wezel war für die Ulmer
Ärzte ein VIP-Patient. Doch schon die vorgeschriebene Aufklärung ließ Schlimmes
befürchten: Man würde ihren Mann in sitzender Position operieren, erinnert sich Ingrid Wezel an die Aussage eines Arztes,
eine Luftembolie sei damit praktisch ausgeschlossen. Doch das Gegenteil ist der
Fall: Anders als in Seitenlage, ist dieses Risiko gerade im Sitzen enorm.
Damit begann das, was der medizinische Gutachter der Kläger, Professor Jürgen Stoffregen, eine „wahnsinnige Kette
nicht nachvollziehbarer Fehler“ nennt.
T. BARTH / ZEITENSPIEGEL
Hirntumor-Operation*: „Wahnsinnige Kette nicht nachvollziehbarer Fehler“
Schon zu Beginn der Operation fällt ein
wichtiges Ultraschallgerät aus, mit dem sich
der Beginn einer Luftembolie rechtzeitig
hätte erkennen lassen. Kurz zuvor hat der
Narkose-Facharzt den Raum verlassen. Damit ist der auszubildende Assistenzarzt
weitgehend auf sich allein gestellt. Trotz
des erhöhten Risikos wird der Schädel
geöffnet. Es kommt zu einer Embolie, die
der Assistenzarzt zu spät bemerkt. Doch
der Operateur wird nicht gewarnt. Er operiert stundenlang weiter, als wäre nichts
geschehen. Die massive Luftembolie, so
Gutachter Stoffregen, führt „postoperativ
zum Multiorganversagen“.
Durch die Embolie fällt Wezels Blutdruck stärker, als es sein geringer Flüssigkeitsverlust vermuten lässt. Obwohl er nur
einen Liter verloren hat, erhält Wezel
während und nach der Operation insgesamt acht Liter wässriger Lösung ins Blut
– was eine Blutverdünnung um das Eineinhalbfache bedeutet. Zusätzlich geben
die Ärzte ein gerinnungshemmendes Mittel. „Damit“, so Gutachter Stoffregen,
„war es mit der Blutgerinnung endgültig zu
Ende.“ Das wässrige Blut sickert ins Ge* Mitte: kurz vor dem Eingriff im Jahr 1992; rechts: im
Bundeswehrkrankenhaus Ulm im November.
hirn, erzeugt dort starken Überdruck und
einen „internen Wasserkopf“.
Zerknirscht müssen die Ärzte schwerste
Hirnschäden und ein „Locked-in-Syndrom“ diagnostizieren: Friedrich Wezel ist
bei vollem Bewusstsein Gefangener seines
funktionsuntüchtigen Körpers.
Die Beklagten bestreiten dennoch den
Vorwurf eines Fehlverhaltens. Einer der
beteiligten Ärzte versichert: „Nach meinem besten Wissen ist damals sorgfältig
gehandelt worden.“
In der ersten Zeit nach der Operation
hatte sich der Zustand des Patienten Wezel
noch leicht gebessert, wenigstens sprechen
kann er wieder. Doch mittlerweile findet
seine Frau keine Ärzte mehr, die ihn Erfolg
versprechend weiter behandeln können.
„Frau Wezel“, haben sie zu ihr gesagt, „Sie
können Ihren Mann jetzt nur noch begleiten bis zum bitteren Ende.“
Alles, was über eine Minimalversorgung
hinausging, musste Ingrid Wezel selbst
bezahlen: fast den ganzen behindertengerechten Umbau ihrer Wohnung, Krankengymnastik, Sprechtherapie, Fahrt- und
Übernachtungskosten, wenn sie ihren
Mann in andere Kliniken begleitete – insgesamt 50 000 Mark pro Jahr an zusätzlichen Aufwendungen. „Wenn ich das Geld
hätte“, sagt sie, „würde ich meinen Mann
in eine Spezialklinik für Schädel-Hirn-Verletzte in der Schweiz bringen, um ihm wenigstens ein bisschen Linderung zu verschaffen.“ Eine halbe Million Mark Schmerzensgeld fordert deshalb ihr Anwalt Ulrich
Gebhard, und eine Geldrente für den Pflegeaufwand. Insgesamt, so Gebhard, „eine
Summe deutlich über einer Million Mark“.
Um die Haftungsbegrenzung wenigstens
im Fall Wezel zu umgehen, versucht der
Anwalt das Gericht davon zu überzeugen,
dass die umstrittene Klausel des Soldatenversorgungsgesetzes hier nicht gelten könne, weil eine vorsätzliche Pflichtverletzung
vorliege: „Die Ärzte haben die Operation
durchgeführt in dem Wissen, dass ärztliche Standards nicht eingehalten wurden.“
Aus Kollegialität hat die Ex-Oberfeldärztin Wezel darauf verzichtet, gegen
die Beteiligten einen Strafantrag zu stellen.
Doch selbst die Zivilklage werten viele
ehemalige Kollegen als Verstoß gegen die
guten Sitten. Keiner der behandelnden
Ärzte von damals, sagt sie, habe jemals
wieder nach ihrem Mann gefragt.
Der hat sich Besuche von ehemaligen
Kameraden allerdings ohnehin verbeten.
Er will ihnen so in Erinnerung bleiben, wie
er einmal war.
Dietmar Hipp
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Deutschland
Stasi-Akten wäre bei den Ermittlungen offenbar an der Tagesordnung.
JUSTIZ
Schon die Tatsache, dass das Verfahren
erst 1994 eröffnet wurde, ist ein Armutszeugnis für die Ermittler, denn die Mordpläne waren seit Dezember 1990 bekannt.
Damals hatten SPIEGEL TV und der SPIEGEL Auszüge aus einem Bericht der ZenStasi-Offiziere wollten zwei prominente DDR-Bürgerrechtler
tralen Auswertungs- und Informationsumbringen. Die Mordpläne sollen ungesühnt bleiben.
gruppe (ZAIG) des MfS veröffentlicht. Der
Anfang 1989 erstellte Report der Stasi-iner Informant war seriös. Dennoch achtziger Jahren Pfarrer der evangelischen ternen Revisionstruppe befasste sich mit
hielt Ralf Hirsch für ausgeschlos- Samaritergemeinde in Friedrichshain, Unregelmäßigkeiten in der Abteilung XX/4
sen, was ihm im August aus der gehörten zu den führenden Figuren der (Kirche) der Bezirksverwaltung Berlin. Es
Berliner Polizei zugetragen wurde: Das Er- kleinen Dissidentenszene. In Eppelmanns ging um Devisenvergehen, persönliche Bemittlungsverfahren gegen zwei Offiziere regimekritische „Bluesmessen“ kamen reicherung und „Zersetzungsmaßnahmen“
gegen Regimegegner, die selbst den in diedes Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) tausende von Jugendlichen.
Die potenziellen Opfer der Stasi-Pläne ser Hinsicht nicht zimperlichen Vorgesetzder DDR, die in den achtziger Jahren
Mordpläne gegen ihn und den Ost-Berliner wurden über die Einstellung nicht einmal ten zu weit gingen.
Um Eppelmann zu beseitigen, hatten
Pfarrer Rainer Eppelmann geschmiedet informiert. Nicht die einzige Merkwürdigkeit: Schlamperei, mangelhafte Kommuni- zwei XX/4-Mitarbeiter, Major Edgar Hasse
hatten, stehe kurz vor der Einstellung.
Doch der Mann lag richtig: Am 3. Sep- kation zwischen Behörden und eine un- und Hauptmann Peter Kappis, laut ZAIGtember legte die für die Verfolgung von verständliche Lässigkeit im Umgang mit Akten geplant, „einen Unfall herbeizuführen. Verletzungen bzw.
DDR-Unrecht zuständige Staatsanwaltphysische Vernichtung von
schaft II beim Landgericht Berlin das VerEppelmann wurden einkalkufahren mit dem Aktenzeichen 29 Js 114/94
liert. Hierzu wurden mehrere
in aller Stille zu den Akten. „Bei der
Varianten geprüft (Radmutgegebenen Beweislage“, so Oberstaatsantern lockern, in der Kurve
walt Helmut Altenbuchner-Königsdorfer in
Scheibe zerstören, vor der
seinem Schlussvermerk, „ist ein zur AnKurve Spiegel aufstellen)“.
klageerhebung nötiger Nachweis einer
Für Ralf Hirsch war eine anStraftat nicht zu erbringen.“
dere Todesart vorgesehen: Die
Damit sollen nach dem Willen der Justiz
Prüfer der ZAIG notierten
die heimtückischen Vorhaben gegen zwei
„Gedankengänge“, dem Reprominente Bürgerrechtler der DDR ungimekritiker „in einer strengesühnt bleiben. Hirsch, 1986 Mitbegründer
gen Winternacht Alkohol einder Ost-Berliner „Initiative Frieden und
zuflößen, dass er erfriert“.
Menschenrechte“, und Eppelmann, in den Verfolgte Eppelmann, Hirsch: „Was reinmischen“
Auf die Veröffentlichung
der Mordpläne reagierten
weder die Staatsanwaltschaft
noch die Zentrale Ermittlungsstelle für Regierungsund Vereinigungskriminalität
(ZERV). Altenbuchner-Königsdorfer kann sich das nicht
erklären: „Die Pressestelle
stellt eigentlich immer alle für
uns wichtigen Artikel zusammen. Aber ich bin erst seit
1995 hier, und es kann sein,
dass es das 1990 noch nicht
gegeben hat.“
Erst drei Jahre später
schöpfte die Justiz einen
„Anfangsverdacht“. Am 24.
Februar 1994 hatte ein Staatsanwalt eine Diskussionsveranstaltung in der GauckBehörde besucht, auf der
Rainer Eppelmann über die
Anschlagspläne berichtete.
Der Mann tat seine Pflicht
und erstattete Anzeige – von
Amts wegen.
Doch die Ermittler schafften es in den fünf folgenden
Jahren nicht, ihren Verdacht
zu erhärten. Nach Aktenlage
Ost-Berliner „Bluesmesse“ mit Eppelmann (r., 1984): „Physische Vernichtung wurde einkalkuliert“
„Furchtbar schief gelaufen“
A. SCHOELZEL
JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO
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Deutschland
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ganz furchtbar schief gelaufen sein.“ Nach
einer erneuten Durchsicht der Akten räumte er ein, dass der Anhang „von ZERV
wohl eingesehen und bearbeitet“ worden
sei. Schriftvergleiche zur Feststellung der
Urheber der Notizen seien jedoch nicht
durchgeführt worden.
Auch Ralf Hirsch wurde nie befragt. Dabei hat er seine ganz persönlichen Ermittlungen bereits vor acht Jahren erfolgreich
abgeschlossen. Monate nach der Veröffentlichung der Mordpläne hatte er sich
dazu durchgerungen, die verantwortlichen
Stasi-Offiziere aufzusuchen und zur Rede
zu stellen. „Dass die mich im Knast haben
wollten, konnte ich mir ja vorstellen“, so
Hirsch, „aber umbringen, das war schon
eine andere Dimension.“
BILD ZEITUNG
wäre es am nächsten liegend gewesen, die
Autoren des MfS-internen Untersuchungsberichts zu vernehmen. Denn die waren
zu dem Schluss gekommen, dass die Offiziere der Berliner Bezirksverwaltung „in
schwerwiegender Form die Festlegungen
der Richtlinie Nr. 1/76, Ziff. 2.6. (Zersetzungsmaßnahmen) verletzt“ hätten. Es seien sogar Handlungen begangen worden,
„die Straftaten im Sinne des Strafgesetzbuches der DDR“ darstellten.
Grundlage dieser Einschätzung waren
ausführliche Verhöre von Hasse und Kappis, die ihre Mordpläne den Stasi-Vernehmern nicht nur gestanden, sondern auch
detailliert schriftlich beschrieben hatten.
Doch auf die Idee, die Prüfer der ZAIG
offiziell zu vernehmen, kamen die Rechercheure der ZERV und der Staatsanwaltschaft nicht. Lediglich mit einem der
ZAIG-Leute sei, so Altenbuchner-Königsdorfer, unverbindlich „gesprochen“ worden. So liefen alle weiteren Bemühungen
ins Leere:
π Die Beschuldigten nahmen die rechtsstaatliche Segnung des umfassenden
Aussage- und Zeugnisverweigerungsrechts für sich in Anspruch;
π ein Stasi-Offizier aus einer anderen Abteilung, der ebenfalls an der Untersuchung beteiligt war, konnte sich bei seiner Vernehmung angeblich an nichts
mehr erinnern;
π die Akten der Stasi-Disziplinarverfahren gegen Hasse und Kappis waren in
der Gauck-Behörde angeblich nicht zu
finden;
π andere Papiere konnten, mangels Deckblatt, nicht richtig zugeordnet werden
oder waren, weil nicht handschriftlich
unterzeichnet, juristisch nur eingeschränkt verwertbar.
„Weiteres belastendes Material“, so
Oberstaatsanwalt Altenbuchner-Königsdorfer in seiner Einstellungsverfügung,
„konnte trotz intensivster Nachforschung
beim BStU (Bundesbeauftragten für die
Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes
der ehemaligen DDR –Red.) nicht beigebracht werden“.
So ganz im Bilde kann er damals nicht
gewesen sein. Im Matthias-Domaschk-Archiv der Robert-Havemann-Gesellschaft,
einem eingetragenen Verein, der aus der
DDR-Bürgerbewegung hervorgegangen ist,
lagern Kopien des handschriftlichen Anhangs der ZAIG-Akte 13748. Darin befindet
sich ein Zettel, auf dem die Stichworte „besoffen erfrieren, Auto anbohren – Leitung“
und „Paket – was reinmischen in Flaschen“
notiert sind. Die Unterlagen stammen aus
der Gauck-Behörde. Frank Ebert, Mitarbeiter des Domaschk-Archivs, hatte sie
von dort ohne Schwierigkeiten bekommen.
Der Oberstaatsanwalt versicherte auf
Nachfrage des SPIEGEL, weder den Zettel
noch den Rest der handschriftlichen Notizen jemals gesehen zu haben. Altenbuchner-Königsdorfer: „Da muss irgendwas
Ex-Major Hasse (1990)
Beinahe das Privatleben ruiniert
Am 17. April 1991 machte er sich auf den
Weg zur Wohnung von Peter Kappis – in
Begleitung eines Freundes, der vor der Tür
warten sollte, „aus Sicherheitsgründen,
denn die Sache saß mir ganz schön in den
Knochen“. Die Vorsichtsmaßnahme erwies
sich als überflüssig, Kappis war freundlich
und bot ihm sogar ein Bier an.
Als Hirsch ihn auf das Mordkomplott
ansprach, stritt Kappis zunächst alles ab,
lenkte dann aber ein und jammerte,
dass Hirschs oppositionelle Aktivitäten
beinahe sein Leben und das des Kollegen
Hasse ruiniert hätten: „Privatleben konnten wir uns abschminken. Immer wenn
wir frei hatten, sind Sie los, und wir
mussten hinterher.“ Als dann noch seine
Frau gedroht habe, ihn zu verlassen,
hätten er und Hasse sich über „außergewöhnliche Maßnahmen“ Gedanken gemacht.
Kappis: „Das müssen Sie doch verstehen, Sie haben uns tyrannisiert.“
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Gunther Latsch
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Deutschland
Während Bundesjustizministerin Herta
Däubler-Gmelin (SPD) noch darüber nachdenkt, Ladendiebstahl künftig wie Falschparken als Ordnungswidrigkeit mit einem
Knöllchen zu ahnden, um die Justiz von
Bagatellverfahren zu entlasten, wollen die
Sachsen hart und schnell zuschlagen und
damit das gleiche Ziel erreichen. Der diebische Griff ins Regal soll im Freistaat
Straftat bleiben und sofort bestraft werden. Ersttäter bittet die Polizei dort seit
Anfang Oktober gleich nach der Vernehmung zur Kasse – vorausgesetzt, der Verdächtige ist älter als 18 Jahre und hat für
weniger als 100 Mark gestohlen. Die Einstellung des Strafverfahrens wird dann zur
Formsache.
Sachsen wolle ein Zeichen setzen, sagt
Anita Lausecker aus dem Innenministe-
K R I M I N A L I TÄT
Hart und schnell
Ladendiebe werden in Sachsen
gleich von der Polizei
zur Kasse gebeten. Das Modell
soll die Justiz entlasten.
E
A. PETER / ACTION PRESS
in Damenhemdchen, eine Haarschleife und Weihnachtsdeckchen –
was die alte Dame eingesteckt hatte,
machte zusammen 53,90 Mark. Abgerechnet wurde jedoch nicht an der Kasse des
Karstadt-Hauses an der Prager Straße in
Dresden, sondern im Büro der Sicherheitsabteilung dort.
Minister Hardraht, Überwachungsspiegel*
Bald wie in der DDR?
Bundesweit registrierte Straftaten 1998;
insgesamt:
6,5 Millionen
Einfache
und schwere
Diebstähle
sonstige Straftaten inkl. Ladendiebstähle
27,7 %
51,4 %
Sachbeschädigungen
nur
10,0 %
LadenBetrug
diebstähle
10,9 %
10,1 %
Quelle:
BKA
In Sachsen registrierte
Ladendiebstähle
39,1
in Tausend
34,3
40,0
41,1
1997
1998
28,2
1994
1995
1996
Hausdetektiv Rainer Haase brachte die
Frau, deren Tascheninhalt auf dem Tisch
lag, anschließend 100 Meter weiter ins Hertie-Sporthaus. Dort sitzt die Polizei in einem neu eingerichteten Aufnahmebüro
eigens für Ladendiebstahl. Die Beamten,
die in dem karg möblierten Raum die Anzeige tippten, machten der Frau ein unerwartetes Angebot: Gegen Zahlung von 100
Mark sei der Fall erledigt, das Verfahren
werde eingestellt.
* In einem Dresdner Drogeriemarkt.
80
S. DRING / PLUS 49 / VISUM
Volkssport Diebstahl
Christdemokraten einen juristischen Dreh
einfallen lassen. Die Polizei bietet im Auftrag der Staatsanwaltschaft gleich nach Anzeigenaufnahme die vorläufige Einstellung
des Verfahrens gegen Zahlung einer „Geldauflage im Sinne der Strafprozessordnung“, so die Projektbeschreibung, an. Die
Buße ist in der Regel doppelt so hoch wie
der Wert des Diebesgutes, „mindestens
aber 50 Mark“; gezahlt wird sofort oder
per Überweisung. Damit bleibt die Staatsanwaltschaft formal Herrin des Verfahrens,
prüft aber lediglich noch, ob die Voraussetzungen erfüllt sind, und verschickt den
Einstellungsbescheid.
Zwar kann jeder Verdächtige auch in
Sachsen weiterhin auf einem ordentlichen
Strafverfahren bestehen, etwa wenn er sich
zu Unrecht beschuldigt sieht. Doch gerade
beim Ladendiebstahl ist die Wahrscheinlichkeit dafür gering. Die Aufklärungsquote beträgt trotz hoher Dunkelziffer nahezu 100 Prozent, denn nur
wer sich erwischen lässt, wird überhaupt amtlich erfaßt.
Mehr als die Hälfte der Straftaten,
die 1998 in Deutschland registriert
wurden, waren Diebstahlsdelikte, ein
Fünftel davon wiederum machte der
Ladendiebstahl aus. Dresden liegt mit
einer Quote von rund 3000 Ladendiebstählen im Jahr pro 100 000 Einwohner
im Mittel deutscher Großstädte, andere
ostdeutsche Metropolen wie Halle, Rostock oder Magdeburg stehen schlechter da.
„Wir wollen gerade Ersttätern zeigen, dass sich Ladendiebstahl nicht
lohnt“, sagt Wolfram Jena vom sächsischen Justizministerium. Im April, wenn
das Projekt sechs Monate gelaufen ist,
wollen die Ministerialen Bilanz ziehen.
Bayern und Baden-Württemberg, so
Jena, hätten bereits Interesse am sächsischen Verfahren bekundet, und auch
bei der jüngsten Sitzung des Strafrechtsausschusses der Länder sei es auf positive
Resonanz gestoßen.
Tatsächlich kommen die Sachsen damit
einer Forderung namhafter Rechtsexperten entgegen, dass nämlich Strafe möglichst
zeitnah der Tat folgen sollte, um eine erzieherische Wirkung zu haben.
Zudem wird die stets über Verfahrensflut
klagende Staatsanwaltschaft entlastet, den
Großteil ihrer Arbeit übernehmen Polizisten. Das bringt der Landesregierung denn
auch Kritik der Gewerkschaft der Polizei
ein. Deren Sprecher Konrad Freiberg äußert „Bedenken“, die Polizei habe schließlich „genug zu tun“.
Auch auf Seiten der Justiz erklingt nicht
nur Jubel. Kritiker sehen im neuen Verfahren eine Aufweichung der Gewaltenteilung. „Das ist ja bald wie in der DDR“,
so ein sächsischer Richter, „da konnte
die Polizei bestimmte Delikte gegen Zahlung eines Bußgeldes eigenmächtig erledigen.“
Andreas Ulrich
rium. Die Landesregierung glaubt, die
„Einführung eines Verfahrensmodells zur
wirksameren Bekämpfung des Ladendiebstahls“, wie das Projekt offiziell heißt, könne zum Vorbild für den Rest der Republik
werden.
Bislang wurden in Sachsen wie in anderen Bundesländern auch fast 50 Prozent
aller derartigen Verfahren sanktionslos eingestellt. Das aber sei „unter Berücksichtigung kriminalpräventiver Gesichtspunkte“, wie es in einem internen Schreiben
des sächsischen Innenministeriums heißt,
ein „nicht vertretbares Ergebnis“. Gemeinsam traten Innenminister Klaus
Hardraht und Justizkollege Steffen Heitmann auf die Bremse. „Auch Ersttäter von
Ladendiebstählen müssen die Härte des
Gesetzes spüren“, lautet ihr Credo. Sächsischen „Ladis“ (Polizeikürzel für Ladendiebe) geht es jetzt schon ab zehn Mark
Beutewert an den Kragen.
Um das ohne großen Justizaufwand
schaffen zu können, haben sich die beiden
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Gesellschaft
Szene
U N T E R H A LT U N G
„Island ist uns voraus“
CISOTTO / DEIDDA
Tops aus Halstüchern
MODE
Spitze auf dem Nabel
W
as tun mit den Tüchern? In den
USA haben die so genannten California-Beach-Girls in diesem Sommer
einen neuen Modetrend entwickelt.
Geboren aus der Not des vergessenen
Bikini-Oberteils eroberte er sich seinen
Weg auf die Prominentenpartys. Statt
eines Tops trägt die junge Schöne dort
H. SCHNITGER / TIP
KO M M U N I K AT I O N
Plögert
sich aus anderen Gründen aufgegeben
haben. Das Lied hat ihnen Mut gemacht. Darauf kam es mir an.
SPIEGEL: Wird die deutsche Schlagerbranche in absehbarer Zeit mehr homosexuelle Sänger und Sängerinnen präsentieren?
Plögert: Nein. Ich war jetzt im Gespräch
für die deutsche Vorentscheidung zum
Grand Prix Eurovision, aber ich bin denen dann doch ein zu heißes Eisen. Island dagegen hat vor zwei Jahren einen
offen schwulen Sänger ins Rennen geschickt, der sein Lied in Lack und Leder
präsentierte. Er ist zwar einer der Letzten geworden, aber in seinem Land eine
Ikone. Island ist uns um Längen voraus.
Post im Quasselknochen
I
m Pulk einen Zebrastreifen zu überqueren war auch schon mal ungefährlicher: Immer öfter passiert es, dass der
Vordermann plötzlich stehen bleibt,
weil ein Piepton aus seinem Handy
dringt – und schon kommt es zum
Zusammenstoß. Das Piepen ist Erkennungszeichen für den Erhalt einer
Kurzmitteilung – und von denen sausen
täglich mehr durch die deutschen Handy-Netze: 1997 waren es im D2-Netz
noch kümmerliche 75 Millionen, ein
Jahr darauf schon das Viereinhalbfache.
Die Zahl der Handy-Mails verdoppelt
sich alle sechs Monate. Heute senden
nicht nur Handy-Kids, weil man im Mathe-Unterricht so schlecht telefonieren
kann, die Pläne für die Nachmittagsgestaltung von Schulbank zu Schulbank,
sondern auch immer mehr erwachsene
Handy-Nutzer ziehen die Buchstabe
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heute ein fest unter den Achseln auf
dem Rücken geknotetes Halstuch, dessen Spitze den Bauchnabel knapp bedeckt. Wer sich bei solcher Luftigkeit
eine Mandelentzündung holt, kann sich
damit trösten, dass sich das hübsche
Tuch auch bestens eignet, den schmerzenden Rachen vor Frost zu schützen.
für Buchstabe eingetippte Kurzpost
dem (teureren) Telefonat vor. Viele
Handy-Briefschreiber verhalten sich
dabei längst wie Süchtige: Ständig
greifen sie zwangsneurotisch nach
dem Quasselknochen in der Tasche, um
zu prüfen, ob neue Post da ist; beim
Autofahren nutzen sie jede rote Ampel
zum Tippen – und als Fußgänger verfallen sie bei jedem Piep noch im größten Getümmel in die gefürchtete Spontanstarre.
M. WITT
SPIEGEL: Herr Plögert, am vergangenen
Samstag waren Sie als angeblich erster
offen schwuler Sänger in der ZDF-Hitparade eingeladen. Tut sich die Branche
leichter mit dem Outen?
Plögert: Offiziell wird Homosexualität
meist weiterhin gründlich vertuscht.
Aber man erkennt sich natürlich. Und
es gibt eine Menge Schwuler.
SPIEGEL: Der Fall Rex Gildo zeigt, dass
es sehr belastend ist, nach außen den
Frauenschwarm zu geben, aber Männer
zu lieben. Haben Sie es leichter?
Plögert: Einem solchen Doppelleben
entgehe ich. Aber ich muss damit fertig
werden, dass mich die großen Plattenfirmen nicht haben wollen. Sie fürchten,
ich könnte ihre anderen Interpreten in
Misskredit bringen.
SPIEGEL: Der Besungene in Ihrem Lied
ist schwer krank. Jeder begreift, dass es
um Aids geht. Trotzdem wird die Krankheit nicht beim Namen genannt. Warum?
Plögert: Ich wollte keine Ausgrenzungen. Es haben sich viele Menschen bei
mir gemeldet, die krebskrank sind oder
T. B. DAY / CELEBRITY PICTURES
Der Berliner Schlagersänger Donato
Plögert, 32, über Homosexualität in der
deutschen Showbranche
Handy-Kurzpost
83
K. RUGE
Titel
Bankerin Schmitz-Abshagen: „Hier zählen die Ergebnisse“
Schauspieler-
„Fordert, was ihr kriegen könnt“
In Deutschland tritt eine neue Frauenbewegung an: nicht auf den Straßen,
sondern in der Arbeitswelt. Mit Hilfe von Karriere-Netzwerken und Seilschaften machen
sich die Frauen auf den Weg an die Macht – und entwickeln neue Formen,
Beruf und Familie zu verbinden. Von Susanne Weingarten und Marianne Wellershoff
D
er Bund Deutscher Architekten hat
16 Landesverbände. In 15 davon
steht „ein Mann, so um die 50“, an
der Spitze, sagt die Architektin Alexandra
Czerner. Nur in einem nicht, dem Hamburger Landesverband. Denn den leitet sie
selbst – und der heißt seit zwei Wochen
Bund Deutscher Architekten und Architektinnen. Den Vorschlag zur Namenserweiterung hatte Czerner, 36, eingebracht:
„Das ist ein Riesenerfolg“, sagt die Unternehmerin, „90 Prozent der Stimmberechtigten sind Männer.“
Vor acht Jahren hat Czerner ihr eigenes
Büro gegründet. „Die Ideen, die in mir
schlummerten, wollte ich auch verwirklichen“, sagt sie. Dazu sah sie als angestellte Architektin kaum Perspektiven. „Auf
84
die minimale Chance, vielleicht in zehn
Jahren in die Entscheidungsebene zu kommen, wollte ich nicht warten.“ Stattdessen
hat sich Czerner hochgerackert durch die
Teilnahme an Architekturwettbewerben,
von denen sie inzwischen mehr als 15 gewonnen hat.
Nach der Geburt ihres Sohnes Victor vor
sechs Jahren nahm Czerner eine Babypause von wenigen Monaten; dann fing sie
wieder an zu arbeiten – mit dem Säugling
neben dem Schreibtisch. „Das bedeutete:
viel Selbstdisziplin zu haben, nicht durchzudrehen, wenn das Kind eine Erkältung
hatte und quengelte, gleichzeitig ein
drängelnder Investor am Telefon war und
die Zeit bis zu einer Wettbewerbsabgabe
knapp wurde.“
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Wenn der Junge abends eingeschlafen
ist, gegen acht oder neun, schiebt Czerner
heute eine weitere Schicht am Zeichenpult
ein: Wohnung und Arbeitsplatz liegen im
selben Gebäude. „Manche sagen, ich sei
hart geworden“, erklärt Czerner. „Ich sage,
ich bin klar geworden.“
Eine neue Frauengeneration ist im Anmarsch. Ehrgeizig sind die Damen, pragmatisch, stresserprobt, meist hoch qualifiziert und selbstbewusst. Ihr Schicksal nehmen sie selbst in die Hand. Sie wollen
Selbstverwirklichung, sie wollen Erfolg, sie
wollen Einfluss, und sie wollen das alles zu
ihren Bedingungen. Nahm sich die Frauenbewegung vor 30 Jahren vor, das Patriarchat abzuschaffen, so ziehen die Frauen von heute die Unterwanderung des
FOTOS: S. BERGEMANN / OSTKREUZ ( li.); BINDRIM / LAIF ( re.)
Agentin Holter: Erste Adresse für Stars und Sternchen
Systems vor: Still und zäh infiltrieren sie
die Schaltstellen der Macht in Wirtschaft
und Politik.
Fast unbemerkt hat sich so in Deutschland eine neue Frauenbewegung in
Gang gesetzt. Sie demonstriert nicht lautstark auf den Straßen, sondern steigt in
die Führungsetagen der Unternehmen
auf. Sie ist nicht mit feministischen Politfibeln munitioniert, sondern mit Karriereratgebern. Statt lila Latzhosen tragen
die neuen Vorkämpferinnen lieber weiblichen Business-Stil; statt der Selbsterfah-
Vox-Chefin Schäfer-Kordt: Mehr als ansagen, aufsagen und lächeln
rungsgruppe besuchen sie den Stammtisch
eines Berufsnetzwerks oder knüpfen
Frauen-Seilschaften, die in Form und
Zweck den „Old Boys’ Networks“ ihrer
Kollegen und Konkurrenten abgeschaut
sind. Und statt die Schuld immer beim
System zu suchen, übernehmen sie selbst
Verantwortung für ihre Defizite: volle Frau
voraus.
Wer nicht vorwärts kommt, ist kein
bedauernswertes Opfer der Männer, sondern selber schuld. Frauen seien „nicht
schwach“, erklärte kürzlich eine Kom-
M. ZUCHT / DER SPIEGEL
Architektin Czerner, Sohn Victor: „Ich sage, ich bin klar geworden“
mentatorin in der „Wirtschaftswoche“,
„wir sind nur oft dämlich, faul und unaufrichtig“ – dämlich vor allem deshalb, „weil
wir uns die Hälfte des Himmels nicht einfach nehmen“.
Das Auffälligste an den neuen Frauen
ist bislang, wie unauffällig sie den gesellschaftlichen Wandel vorantreiben. Von
Emanzipation reden sie nicht, sondern sie
leben sie. Die wenigsten definieren sich als
Feministinnen – auch wenn sie durchdrungen sind von feministischem Gedankengut. „Die früheren Phasen der Frauenbewegung haben bewirkt, dass es heute
mehr Frauen gibt, die wissen, was Sache
ist“, sagt die Berliner Sozialwissenschaftlerin Barbara Schaeffer-Hegel. „Das sind
Frauen, die scharf darauf sind, etwas zu
verändern. Und diese Frauen stellen sich
nicht mit lautem Gebrüll vor die Tore des
Systems und hoffen, dass die Mauern von
Jericho dadurch einfallen.“
Rund ein Drittel aller neuen Unternehmen werden heute von Frauen gegründet,
oft genug von solchen, die sich vorher den
Kopf an der berüchtigten, weibliche Karrieren hemmenden „gläsernen Decke“ in
männerfixierten Firmen blutig gestoßen
haben. Vor einigen Wochen erst versammelten sich rund 115 Unternehmerinnen
aus dem Raum Franken zur ersten fränkischen Frauen-Messe in Nürnberg, die
„zahlreiche Foren“ für „Vernetzung und
85
AP
Titel
Rot-grüne Bundesministerinnen*: „Politikerinnen erlauben sich heute das Streben nach Macht“
Austausch der Unternehmerinnen und
Gründerinnen“ anbot.
In der Politik weicht die geschlechtsspezifische Ressortverteilung seit Mitte der
achtziger Jahre auf: Frauen rackern nicht
mehr nur in den „typisch weiblichen“ Kuschelecken wie Familie, Jugend, Kultur und
Soziales, sondern wagen sich in die
Kernressorts wie Wirtschaft, Finanzen und
Inneres. In der derzeitigen Bundesregierung sind Ministerinnen zuständig für die
Ressorts Justiz, Bildung, Familie, Gesundheit und Entwicklungshilfe; die ehemalige Berliner Umweltsenatorin Michaele
Schreyer ist EU-Haushaltskommissarin.
Auch in den Medien steigt die Anzahl
qualifizierter Frauen, die mehr als nur ansagen, aufsagen und in die Kamera strahlen: Die wichtigste politische Talkshow des
Landes wird von Sabine Christiansen, 42,
moderiert; Konkurrenz macht ihr seit kurzem Maybrit Illner, 34, mit ihrer Sendung
„Berlin Mitte“. Chefin des Fernsehsenders Vox ist seit Anfang dieses Jahres An* Andrea Fischer (Gesundheit), Christine Bergmann (Familie, Senioren, Frauen und Jugend), Edelgard Bulmahn
(Bildung), Herta Däubler-Gmelin (Justiz), Heidemarie
Wieczorek-Zeul (Entwicklungshilfe).
** Sonja Bischoff: „Männer und Frauen in Führungspositionen der Wirtschaft in Deutschland. Neuer Blick
auf alten Streit“. Wirtschaftsverlag Bachem, Köln; 168
Seiten; 48 Mark.
86
ke Schäfer-Kordt, 36; und Christiane zu
Salm-Salm, 33, lenkt seit April 1998 als Geschäftsführerin die Management-Geschicke
der Musiksender MTV und VH 1 in Mitteleuropa. Innerhalb weniger Jahre hat
Mechthild Holter, 37, Gründerin und Geschäftsführerin der Schauspieler-Agentur
Players, ihre Firma zu einer der ersten
Adressen für Stars und Sternchen im deutschen Film- und Fernsehgeschäft gemacht.
Insgesamt hat der Appetit
der Frauen auf die Macht
Selten in Spitzenpositionen
gewaltig zugenommen. In
Erwerbstätige Frauen
in Führungspositionen einer Interviewstudie unter
in
Prozent
in Prozent der 15- bis 64-Jährigen
Führungskräften, welche die
Hamburger Wirtschafts3,7
74,2
Dänemark
wissenschaftlerin Sonja Bischoff 1990 leite2,8
74,1
Schweden
te, „haben sich die
4,1
69,8
Finnland
Frauen noch durchweg
von der Macht distan3,7
61,8
Deutschland
ziert“. Eine Geschäftsführerin sagte damals
4,8
61,8
Österreich
gar, Macht sei „ein böses
Wort“. Heute dagegen, ein
6,1
61,3
Niederlande
knappes Jahrzehnt später,
5,7
sehe es mit der weiblichen Be61,0
Frankreich
ziehung zur Macht „ganz er5,6
60,3
Portugal
freulich aus“, sagt Bischoff,
die gerade eine Studie über
7,6
Belgien
52,9
Topleute der Wirtschaft publiziert hat**. Auch ihre Stu7,7
Spanien
46,7
dentinnen hätten teilweise
Quelle:
„richtig Lust auf Macht: Sie
6,4
Griechenland
46,0
Eurostat
wollen ihr Leben so gestalten,
0,6
wie sie es haben wollen, und
Italien
43,6
wissen genau, dass das nur mit
d e r
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Eine größere Bereitschaft zum Griff
nach der Kohle lässt sich inzwischen erkennen: Gerade jüngere Frauen hätten
„ein gewandeltes Verhältnis zum Geld“,
sagt die Hamburger Finanzberaterin Susanne Kazemieh, „sie erwarten, dass sie
ein Berufsleben lang über Einnahmen verfügen werden, und halten es nicht für unweiblich, sich über deren Investition Gedanken zu machen“.
Ein anderes Problem ist die unsichtbare
„gläserne Decke“, die in vielen Unternehmen Frauen am Aufstieg hindert: Zwar
setzt die Diskriminierung wesentlich später ein als noch vor einem Vierteljahrhundert – aber in den Dreißigern saust die
große Schranke im Beruf nieder. „Unsere
Firma expandiert, doch Managementstellen werden von außen besetzt, mit Männern“, sagt Christina Groß*, 30, eine Diplom-Kauffrau und Junior-Product-Managerin bei einem Nahrungsmittelkonzern.
Anstatt darüber im Stillen zu jammern,
geht Groß zum Gegenangriff über: „Ich
habe mich mit meinen direkten Kolleginnen zusammengesetzt und festgestellt:
Frauen werden nicht befördert.“ Nun wollen die Jungmanagerinnen den Firmenchef
zu einem klärenden Gespräch bitten.
Die Mittdreißigerin Stefanie Hirsch*, die
im mittleren Management eines Zigarettenkonzerns arbeitet, hat die Erfahrung gemacht, dass „Frauen Jobs unter Bedingungen angeboten
werden, die Männer nie akzeptieren würden, etwa als
kommissarische Leiter oder
mit reduziertem Gehalt“.
So erging es auch der PRManagerin Birca Weidel, 35,
bis vor kurzem Prokuristin
und Mitglied der Geschäftsleitung eines Finanzdienstleisters. Sie hatte als Berufsanfängerin ihren ersten Job
unter anderem deshalb bekommen, weil die Firma bewusst eine Frau einstellen
wollte. „Warum? Weil der
Sekretärinnenposten eingespart wurde und es einem
Mann nicht zuzumuten sei,
sein Sekretariat selber zu
machen“, erzählt Weidel,
„für eine Frau sei das ja kein
Problem.“ Ihr Fazit: „Solche
Dinge muss man hinnehmen
Anja Keil, 32, Marketingleiterin
und was daraus machen.“
Wenn Frauen das Oil-ofIn Brasilien ist sie geboren, in Rumänien, Portugal und
Olaz-Alter zwischen 35 und
China ging sie zur Schule, in Deutschland studierte sie
40 Jahren erreicht haben,
Betriebswirtschaftslehre, und ein Praktikum machte sie in
werde „ihnen bewusst, dass
Japan. Da ist es nur folgerichtig, dass Anja Keil, nach einisie im Beruf nur schwer weigen Jahren im Marketing des Fernsehsenders Premiere,
terkommen“, bestätigt die
heute für das internationale Medium Internet arbeitet: als
Hamburger UnternehmensMarketingleiterin von America Online und Compuserve in
beraterin Helga Richter, 43,
Hamburg. Konferenzen von morgens bis abends, Dienstdie dem Verein „Frauen im
reisen, Strategieplanung, Nachtschichten – viel Zeit für
Management“ (FIM) vorPrivates bleibt nicht. Das wird aufs Wochenende verlegt,
steht, die Erfahrungen dieser
auch deshalb, weil ihr Freund in einer anderen Stadt lebt.
Managerinnen. Viele leiden
Bei den Kolleginnen in den USA hat sie gesehen, dass
darunter, dass sie sich isoliert
eine Führungsposition nicht automatisch Verzicht auf Kinfühlen und sich mit massiver
der bedeutet: „Mit der richtigen Partnerschaft, in der das
Antipathie der Kollegen herKind nicht Frauensache ist, und der richtigen Infrastruktur
umplagen müssen. Doch so
aus Kinderfrau, Kindergarten und Verwandten geht das.“
frustrierend sich der ArbeitsIn Deutschland gebe es dagegen ein „Mentalitätsproalltag gestalten mag: Die
blem“, sagt Keil. „Wenn die Kinder nicht mittags bei MutFrauen begegnen ihren
tern Spaghetti Miracoli essen, ist die Welt nicht in OrdSchwierigkeiten heute mit
nung.“ Unter den amerikanischen Kolleginnen bestehe zudem „eine unausgesprochene Frauensolidarität“, denn
anderen Strategien.
„wenn man das Karrierespiel spielen will, muss man die
Der Boom an Ratgebern
Regeln beherrschen, und zu denen gehören Politik und
für den weiblichen Markt,
Strategieplanung“. Mit Männern arbeitet Keil gut und gern
die Karrieretipps geben oder
zusammen, „aber auf Dauer entwickelt man mit Frauen
eine allgemeine Ego-Stäreine persönlichere Ebene und baut ein Wir-Gefühl auf“.
M. WITT
einem gewissen Quantum an Macht möglich ist“.
Eine ähnliche Erfahrung machte die Berliner Politikwissenschaftlerin Helga Lukoschat, die 1998 bei einer Umfrage unter
deutschen Politikerinnen überrascht feststellte, „dass die Mehrzahl sich selbst ein
positives Verhältnis zur Macht attestiert“.
Die bis vor wenigen Jahren üblichen „Umschreibungen und Distanzierungen“ seien
selten geworden: „Politikerinnen erlauben
sich heute das Streben nach Macht“, erklärt Lukoschat.
Dass Macht das Thema sei, das Frauen
derzeit am meisten beschäftige, hat auch
die Ratgeber-Autorin Barbara Berckhan
bemerkt: „Frauen wissen inzwischen, dass
sie gut kommunizieren und sich einfühlen
können, jetzt wollen sie Power“, erklärt
sie. „Auf der Sachebene wollen sie bitte
mal Ergebnisse sehen.“
Häufig haben die neuen Erfolgsfrauen
schon die ersten Fältchen um die Augen –
und reichlich Erfahrung mit den Tücken
des Patriarchats. Es ist kein Zufall, dass es
nicht die Berufsanfängerinnen sind, die
heute den Status quo zu ihrem Vorteil ummodeln wollen. Junge Frauen spüren lange überhaupt nicht, dass auf sie Nachteile
in dieser Gesellschaft warten. Sie erleben
sich in Schule und Ausbildung als vollkommen gleichberechtigt (SPIEGEL 25/
1999). „Es ist heute für eine Frau kein Problem mehr, eine Stelle zu kriegen“, erklärt
Bischoff, „erst wenn sie die Stelle hat, fangen die Probleme an.“
Eine Schwierigkeit ist die schlechtere
Bezahlung: Bis heute verdienen Frauen
in Westdeutschland nur 76,9 Prozent
vom Bruttostundenlohn der Männer; in
Ostdeutschland, wo die Frauen gegenüber
ihren West-Schwestern einen jahrzehntelangen Vorsprung bei der Erwerbstätigkeit haben, beträgt die Rate immerhin 89,9 Prozent. In Unternehmen, in denen viele weibliche Führungskräfte sitzen,
ist das Einkommensniveau aller Spitzenleute, egal welchen Geschlechts, geringer
als in anderen Unternehmen: Der niedrigere Gehaltslevel der Frauen zieht auch
die Bezahlung der Männer in Mitleidenschaft.
Auch da liegt die Schuld allerdings nicht
nur beim System. „Nach wie vor stellen
sich Frauen bei Gehaltsverhandlungen
blöd an“, ärgert sich die Münchner Unternehmensberaterin Claudia Harss, 40. Dass
Frauen in Geldfragen „zu bescheiden“ seien, registriert auch Martina Borgmann, 36,
Personalberaterin bei dem Düsseldorfer
Unternehmen Kienbaum. „Sie sagen: ,Sprechen wir darüber, wenn ich die Arbeit gut
gemacht habe.‘ Frauen brauchen die innere
Sicherheit, dass sie Qualität bringen, um
Forderungen zu stellen.“ Männer dagegen
hätten „keine Zweifel, dass sie die Arbeit
schaffen“. Darum rät die Wirtschaftswissenschaftlerin Bischoff ihren Studentinnen:
„Fordert, was ihr kriegen könnt!“
* Name von der Redaktion geändert.
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Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Titel
Kürbissuppe aus dem Netz
Stellenangebote, Computertipps und virtuelle Vereine – Frauen
nutzen das Internet zum Informationsaustausch.
D
er Kaffeeklatsch gehört zu den das Magazin „gURL“ bietet jungen
Traditionen weiblichen Sozialle- Mädchen an, sich auf einer Homepage zu
bens, und deshalb hat er seinen präsentieren. Ältere Frauen organisieren
Platz auch in der virtuellen Nebenwelt sich im „Older Women’s Network Eudes Internet gefunden. Unter der Adres- rope“, und der Provider „woman.de“ biese www.hausfrauenseite.de wird im Chat- tet Frauen Zugang zum Internet, NewsRoom genannten Wohnzimmer geklönt, Seiten und Listen von Frauenverbänden.
In Deutschland gibt es seit zwei Jahren
man kann sich Rezepte für Kürbissuppe und Zebrakuchen herunterladen einen Ableger der in Amerika gegründeoder aber auf der „Schwangerschaftssei- ten „Webgrrls“. Es ist ein Zusammente für Dicke“ über den richtigen Umgang schluss von Frauen, die in Multimedia-Bemit dem Übergewicht informieren.
Ein Drittel der Internet-Benutzer sind Frauen, und sie erobern die Welt des Netzes mit
eigenen Service-Seiten, Clubs
und Foren. Bücher wie „Cybergrrl – Der Internet-Guide
für Frauen“ oder „Women’s
Links – Das kommentierte
Internet-Adressbuch 2000“
zählen mehr als 1000 Webadressen für Frauen auf.
Als Pionierinnen in der
Computerwelt gelten die Britin Ada Gräfin von Lovelace,
die 1842 eine der ersten Abhandlungen über programmierbare Rechenmaschinen
schrieb, und die Amerikanerin Frauen-Webseite: Elektronischer Kaffeeklatsch
Betty Holberton, 82, die während des Zweiten Weltkriegs die Software rufen arbeiten – ein „Forum für Wissenszur Flugbahn-Berechnung von Granaten transfer, Erfahrungsaustausch, Jobverschrieb. Sie war, wie die Programmiererin mittlung,Weiterbildung und Networking“
und spätere US-Admiralin Grace Murray nennt Karin Maria Schertler, 31, GründeHopper, an der Erfindung der Compu- rin der deutschen Gruppe, die Organisation. Über E-Mailing-Listen tauschen die
tersprache Cobol beteiligt.
Heute schreiben Frauen nicht nur Soft- Cyber-Mädels Erfahrungen zu den Themen
ware. Wie die Münchnerin Loretta Wür- „Job, Business, Web-Entwicklung“ aus.
Das heißt beispielsweise, dass sie sich
tenberger, 27, die mit ihrer Firma Webmiles die Idee der Rabattmarke aufs Netz gegenseitig über Stellenangebote inforüberträgt, gründen sie Internetfirmen mieren oder einander bei Programmieroder entwerfen Websites. Da sie über das problemen unterstützen. In der realen
Netz mit ihren Auftraggebern kommuni- Welt treffen sie sich in Ortsgruppen zu
zieren können, sind sie nicht auf einen Themenabenden wie „Geldanlage für
Arbeitsplatz im Büro angewiesen, son- Frauen im Zeichen des Euro“.
Weil auch das Bundesbildungsministedern können freiberuflich und flexibel an
fast jedem Ort der Welt arbeiten. Mit ei- rium, die Bundesanstalt für Arbeit, die Tegenen Homepages machen sie im Web lekom und die Zeitschrift „Brigitte“ neue
Berufschancen für Frauen im Internet
Werbung für sich.
Vor allem aber ist die einfache, schnel- sehen, haben sie Ende September die Akle und billige Kommunikation per Inter- tion „Frauen ans Netz“ gestartet. In 1200
net Grundlage für die moderne Form des kostenlosen Seminaren lernen die Frauen
Vereins: das virtuelle Netzwerk. So haben den Umgang mit dem Internet. „Ohne Insich Künstlerinnen aus Deutschland, Aus- formations- und Kommunikationstechnotralien und Russland zum „Old Boys Net- logie“, sagte Bundesbildungsministerin
work“ zusammengeschlossen, um ge- Edelgard Bulmahn, „sind die Berufe der
meinsame Kunstprojekte zu entwickeln; Zukunft nicht mehr denkbar.“
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kung versprechen, zeigt, dass sie entschlossen und pragmatisch nach Hilfe suchen: „Machiavelli für Frauen“ hat bisher
eine Auflage von 108 000 Exemplaren erreicht; ein Bestseller dieses Herbstes ist
Sabine Asgodoms Motivationsbuch „Erfolg
ist sexy! Die weibliche Formel für mehr
Lust im Beruf“*. Selbst die Altfeministin
Alice Schwarzer hält diese Ratgeber,
„wenn sie gut sind“, für die feministische
Literatur der neunziger Jahre (siehe Interview S. 107).
Zuhauf drängen Frauen auch in Seminare und Schulungen, die ihnen zaghaftes
weibliches Sprachverhalten austreiben und
mehr Durchsetzungskraft im Auftreten einbläuen sollen. „Jüngere Frauen könnten
sich einige Ehrenrunden sparen“, glaubt
die Unternehmensberaterin Harss, „wenn
sie besser informiert wären über erfolgversprechendes Verhalten im Job.“
So müssen sie unter anderem
„lernen, ihre Leistung besser zu
verkaufen“, sagt die FIM-Vorsitzende Richter: „Ich richte den
Appell an Frauen, mehr einzufordern, mit Selbstbewusstsein
die eigenen Fähigkeiten auf den
Markt zu bringen.“
Am einfachsten ist dies, wo
Angestellte ausschließlich nach
ihrer Leistung bezahlt werden –
zum Beispiel in Investmentabteilungen von Banken, wo Frauen mit ihren männlichen Kollegen gleichziehen. „In diesem
Bereich gibt es kein hierarchisches Denken, hier zählen
die Ergebnisse“, sagt Susanne
Schmitz-Abshagen, die bei der
Deutschen Bank in Frankfurt ein Team von
zehn Wertpapier-Beratern leitet. Sie selbst
hatte nach ihrem Japanisch- und Volkswirtschaftsstudium in London vor elf Jahren bei einer US-Investmentbank angefangen. Heute weiß sie: „Für Frauen war es
damals im internationalen Geschäft einfacher als in Deutschland.“
Wenn ihre Chancen schlecht stehen, zeigen Frauen den Mut, Firmen zu verlassen.
Sie seien „heute nicht mehr bereit zu sagen: Hier bin ich, und hier bleibe ich, auch
wenn ich diskriminiert werde“, glaubt Bischoff, „sondern sie sagen: Dann gehe ich
eben“. So wie die dynamische PR-Frau
Weidel: Die quittierte ihre erste Stelle, weil
sie „im Unternehmen keine Aufstiegschancen hatte“.
Dass Weidel trotzdem glaubt, „Schutz
und Hilfe von anderen Frauen“ nicht zu
brauchen, sondern sich zur „Einzelkämpferin“ stilisiert, ist eine Haltung, zu der gerade taffe Do-it-yourself-Frauen neigen.
Individualistisch, wie sie sind, wollen sie es
allein schaffen. Aber indem sie sich wei* Sabine Asgodom: „Erfolg ist sexy! Die weibliche Formel für mehr Lust im Beruf“. Kösel Verlag, München; 238
Seiten; 29,90 Mark.
Expertinnen beraten zu Themen wie Steuern, Finanzierung und Marketing.
• „Zonta“, 1919 in den
USA gegründet, ist ein internationaler Wirtschaftsclub
für Frauen, der neue Mitglieder nur auf Empfehlung aufnimmt. 77 Regionalclubs gibt
es in Deutschland, in denen
jeweils nur zwei Frauen aus
demselben Beruf vertreten
sein dürfen. Die Mitglieder
verstehen sich als Netzwerkerinnen, engagieren sich aber
auch national wie internatioDiane Tönsing, 44, Geschäftsfrau
nal für soziale Randgruppen
und beraten unter anderem die
Erst im vergangenen Frühjahr verwirklichte Diane TönVereinten Nationen.
sing den Plan, den sie einige Jahre mit sich herumge• Der „Deutsche Akadetragen hatte: Sie eröffnete gemeinsam mit Manuela
mikerinnenbund“ (rund 1800
Nygaard, 37, in Hamburg ein Geschäft für KinderkleiMitglieder) verfügt über
dung, Kindergeschenke und Partyartikel. Außerdem orbundesweit 30 Gruppen, die
ganisiert sie Geburtstagspartys, von der Einladungskarsich monatlich treffen, und
te bis zu den Preisen fürs Topfschlagen. 13 Jahre lang
veranstaltet Fachtagungen
hatte die ausgebildete Lehrerin zuvor ein Strickwarenund Seminare.
geschäft geführt. Die Betreuung ihrer heute sieben Jah• Die Organisation „Bure alten Tochter teilt sie sich mit ihrem Mann, der eine
siness Professional Women
Dreiviertelstelle als Lehrer hat. Als die Tochter klein
Germany“ (circa 1000 Mitwar, kümmerten sich auch noch Tagesmutter, Großelglieder), Ableger eines welttern und Patentante um sie. „Ich musste nie mit Vorurweiten Frauen-Berufsplateilen kämpfen, weil ich berufstätig bin“, sagt Tönsing,
nungsnetzes, hat bundesweit
„wer Erfolgserlebnisse im Beruf hat, ist privat viel aus28 Clubs, die Stammtische,
geglichener.“ Auch die meisten ihrer Kundinnen haben
Seminare und Vortragsreihen
einen Job, erzählt sie, „nehmen sich aber viel Zeit für
abhalten.
die Kinder“. Allerdings hat Tönsing beobachtet, dass
• „Connecta – Das Frau„die Geburtstagsorganisation manchmal zu übertrieennetzwerk“ (etwa 130 Mitben ist, vielleicht, weil die Eltern glauben, ihr Kind komglieder) fördert Frauen in
me im Alltag zu kurz“. Väter betreten den Laden meist
Führungsverantwortung, bienur, um etwas abzuholen. „Ich glaube, sie wollen sich
tet in zehn Regionalgruppen
nicht mehr engagieren, sonst würden sie das nämlich
Weiterbildung, Erfahrungstun“, sagt Tönsing, „sie können sich doch auch sonst
austausch, Einzelberatung
durchsetzen.“
und einen vereinsinternen
Infodienst an.
ter anderem Veranstaltungen mit Exper• Der Verein „FIT – Frauen in der Techten anbieten.
nik“ dient bundesweit als Koordinations• „FAU – Frauen als Unternehmerin- stelle für Frauennetzwerke mit den
nen“ (40 Mitglieder) hat zum Ziel, Exis- Schwerpunkten Naturwissenschaft und
tenzgründerinnen, Selbständige und Frei- Technik.
beruflerinnen mit Workshops und Infor• Die „Frauenakademie München“
mationsveranstaltungen zu unterstützen. (FAM, rund 170 Mitglieder) fungiert als regionales Akademikerinnen-Netz, das auch
bundesweit die Beratung durch ExpertinNoch lange nicht gleich
Quelle:
nen anbietet.
Eurostat
Bruttostundenlöhne der Frauen in Prozent der Löhne der Männer
In solchen Zirkeln treffen sich Frauen,
ohne Prämien
um Kontakte aufzubauen, Erfahrungen
auszutauschen, Informationen zu sam89,9 88,1 87,0
meln, Rat zu erfragen oder zu verteilen.
83,2 81,6
76,9 76,6 76,5 74,0 73,7 73,6
„Holen Sie sich Unterstützung und Förde71,7 70,6
rung“, lockt das Kölner „ManagerinnenKolleg“, das ein Netzwerk-Seminar anbietet: „Schließen Sie sich mit Frauen zusammen, die auch in Führungspositionen sind
oder dorthin möchten, profitieren Sie von
den Erfahrungen anderer Frauen, gestalten Sie mit an einer neuen weiblichen
Führungskultur.“ Die Teilnehmerinnen sollen sich als „Teil einer machtvollen Bewegung von (potenziellen) Führungsfrauen“
M. ZUCHT / DER SPIEGEL
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ne
Dä
De
ut
sc
hl
an
d
alte Bundesländer
neue Bundesländer
gern, ihre eigenen Schwierigkeiten im Zusammenhang mit denen anderer Frauen zu
sehen, schieben sie Phänomene ins Private ab, die als strukturelles Problem verhandelt werden müssten.
Damit verkehren sie die alte Erkenntnis
der Frauenbewegung, dass das Private politisch sei, in ihr Gegenteil: Heute gilt das
Politische als privat. Jede Frau für sich erlebt die Schwierigkeiten in ihrem Leben –
und zwar als individuelles Versagen und
Scheitern. Hunderttausend Leserinnen
von „Machiavelli für Frauen“ bilden eben
noch kein machtvolles Kartell in der Geschäftswelt, sondern bleiben hunderttausend Einzelkämpferinnen mit knirschenden Backenzähnen und hoher Frust-Akzeptanz.
Von dieser aussichtslosen Solonummer
aber verabschieden sich immer mehr Frauen. „Ich habe angefangen, feministisch zu
denken“, sagt die Nahrungsmittelmanagerin Groß, „eine Frauenbewegung in
Deutschland wäre nötig, um Lobbyarbeit
zu leisten.“ Mit Mitte 30 würden viele
Frauen „frauenorientierter“, sagt auch
Richter: „Sie gehen in Netzwerke, woran
sie vorher nie gedacht haben. In einem
Netzwerk aktiv zu sein ist keine Vereinsmitgliedschaft, sondern eine Lebensphilosophie.“ Mehr als 300 solcher Kontaktbörsen für Frauen gibt es inzwischen in
Deutschland – ein sprunghafter Anstieg
seit Beginn des Jahrzehnts, als die Zahl
noch bei rund 75 Zusammenschlüssen lag.
Die wichtigsten Frauen-Netzwerke bieten
inzwischen ein umfangreiches Angebot:
• Das „European Women’s Management Development International Network“ (EWMD) ist ein internationaler Zusammenschluss von 1200 Führungsfrauen
(Deutschland: 300), darunter Spitzenmanagerinnen, Freiberuflerinnen und Führungsnachwuchs, der auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene unter
anderem Vorträge, Kongresse und Studienreisen organisiert.
• Bei „FIM“, der „Vereinigung für Frauen im Management“ (circa 300 Mitglieder),
engagieren sich Selbständige und Managerinnen in sieben Regionalgruppen, die un-
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Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Titel
A. FUCHS
sehen, die „das Gesicht der Unternehmen
verändern werden“.
Klassisches Mentoring – erfahrene
Führungsfrauen beraten Nachwuchskräfte
– bieten Expertinnen-Beratungsnetze an,
die sich in Hamburg, Berlin, Dresden, Köln
und München etabliert haben. Praktiziert
wird „Brutpflege im Job“ – die Beraterinnen helfen bei Ärger mit Kollegen ebenso
wie beim Wiedereinstieg nach der Babypause. Angeschlossen sind zahlreiche Expertinnen, darunter Juristinnen und Ingenieurinnen. Ein regelrechtes Mentorinnenprogramm hat die Europäische Akademie
für Frauen in Politik und Wirtschaft ins Leben gerufen: Die Berliner Initiative ver-
Wirtschaftsexpertin Bischoff
* Kirsten Wolf: „Karriere durch Networking“. Falken
Verlag, Niedernhausen; 144 Seiten; 24,90 Mark.
94
Personalberaterin Borgmann: „Frauen brauchen die Sicherheit, dass sie Qualität bringen“
A. FUCHS
mittelt ehrgeizigen Nachwuchskräften eine
mehrmonatige Trainee-Zeit an der Seite
einer Spitzenfrau: späteres Jobangebot
nicht ausgeschlossen.
Auch das Internet (siehe Kasten Seite
90) nutzen bildschirmgeschulte Frauen zunehmend zu solchen Zwecken. Über die
„Webgrrls“ etwa haben sich für Maike Ellenberg, tätig in der Markt- und Trendforschung via Internet, „erstaunliche berufliche Kontakte durch den Austausch in den
Mailinglisten“ aufgetan; andere Mitglieder
berichten von Aufträgen, Job-Angeboten
und sogar Vollzeitarbeitsplätzen, die sich
über den virtuellen Vermittlungsservice ergeben hätten. „Ich poste alle meine Jobs
bei den Webgrrls“, teilt eine Internet-Arbeitgeberin mit.
„Netzwerke können Kraftpakete sein
für Frauen, die es satt haben, länger als
Einzelkämpferinnen im Job dazustehen“,
glaubt die Publizistin Kirsten Wolf, die gerade ein einschlägiges Handbuch veröffentlicht hat*.
„Das, was jetzt an Network-Arbeit unter Frauen stattfindet, kann man als eine
neue Form von Frauenbewegung verstehen“, sagt Barbara Schaeffer-Hegel, die
1995 die Europäische Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft ins Leben rief.
„Diese Frauen identifizieren sich nicht mit
M. WITT
Bereitschaft zum Griff nach der Kohle
dem, was die 68er-Frauen auf der Straße
gemacht haben, aber sie haben eine Solidarität untereinander, weil sie wissen,
was sie voneinander wollen.“ Statt „das
Schwesterlichkeitssyndrom“ der klassischen Frauenbewegung aufleben zu lassen,
setzten sie heute auf „professionelle Kooperationsformen“.
Die müssen Frauen häufig erst lernen,
denn in ihrer Erziehung zur Nettigkeit sind
die rein zweckorientierte Zusammenarbeit
und – noch schwieriger – der souveräne
Umgang mit Konkurrentinnen nicht angelegt. Nicht selten erschweren Neid und Intrigen das erfolgreiche Häkeln am Karrierenetz. „Jede, die sich in Sachen Frauenpower hervortut, trifft ganz schnell auf
Frauen, die an ihr herumkritteln“, erklärt
Netzwerk-Aktivistin von der Heiden
Trend zu professioneller Kooperation
Monika Rühl, 43, Beauftragte für Chan- durchsetzen muss, ist es sicher legitim und wäre – zumindest für Westdeutschland –
cengleichheit der Deutschen Lufthansa AG, richtig, dass Frauen die Tricks erfolgreicher undenkbar ohne die klassische Frauenbe„auf diese Art und Weise beschäftigen wir Männer kopieren. Politisch aber ist es ein wegung, die heute so heftig attackiert wird.
Zeichen dafür, dass die neue Frauenbewe- Ende der sechziger Jahre hatte sie begonFrauen uns wunderbar mit uns selbst.“
Dass sich die neue Frauenbewegung aus gung sich von jeder Utopie verabschiedet nen, die gesellschaftliche Aufgabenteilung
berufsorientierten Netzwerken, Mentorin- hat – ein notwendiger Abschied, aber doch der Geschlechter in Frage zu stellen. Sie
brach die Vorherrschaft der „Hausfrauennenprogrammen und Internetgruppen zu- ein Abschied mit Verlusten.
Dass Frauen aller Schichten sich heute ehe“, in der die Gattin morgens den Ernähsammensetzt, zeigt einen radikalen Bewusstseinswandel: Abgehakt sind alle ein Leben ohne berufliche Selbstverwirk- rer an der Haustür mit einem Kuss verabgroßen Träume von der feministischen Re- lichung kaum noch vorstellen können, schiedete und abends wieder in Empfang
nahm.
volution. Darüber, dass Frau„Meine Frau braucht nicht zu arbeiten“:
en als die vermeintlich besseDieser Satz hatte in der bundesrepublikaren Menschen eine bessere,
nischen Nachkriegszeit Wohlstand und gefriedlichere, gerechtere Welt
sellschaftliches Prestige signalisiert; die
schaffen wollten, können die
Frauenbewegung deutete ihn zur Fessel
Newcomerinnen nur leise
des weiblichen Geschlechts um.
lächeln. Das Ziel hat sich verDie wirtschaftliche Unabhängigkeit der
schoben von der gesellschaftFrauen wurde eines der wichtigsten Anlielichen Erneuerung auf die gegen der feministischen Bewegung, auch in
sellschaftliche Teilhabe.
dem stillen Glauben, dass sich die Frauen
Die neuen Frauen sind gescharenweise von ihren patriarchalen Unprägt von der Ideologiemüterdrückern trennen würden, wenn sie erst
digkeit und Politikverdrosihr eigenes Geld in der Tasche hätten. Die
senheit der Gegenwart. Sie
geduckte, geschlagene Ehefrau, die sich
wollen die Werte der Erfolgseine Scheidung wirtschaftlich nicht erlaukultur nicht verändern, sonben kann, war eine der Vorzeigefiguren im
dern streben an, sie auch den
feministischen Polittheater.
Frauen zugänglich zu maUnd tatsächlich: Keine andere Fordechen. Dazu passen sie sich an
rung der Frauenbewegung – außer vielbestehende Strukturen an
leicht die nach dem Recht auf Abtreibung
und handeln pragmatisch,
– hat sich gesellschaftlich so durchgesetzt
taktisch und realistisch statt
wie der Aufruf zur Erwerbstätigkeit. 1960
idealistisch – was sich sichergingen in Westdeutschland 47 Prozent der
lich auch durch ihre EnttäuFrauen im erwerbsfähigen Alter einem Beschung über das Scheitern der
ruf nach; 1998 waren es 56 Prozent. Im
hochfliegenden Vorstellungen
Osten lag die weibliche Erwerbsquote 1989
ihrer Mütter erklärt.
bei 81 Prozent; nach der Wende fiel sie
Dieser Pragmatismus hat
1995 auf Grund der Massenarbeitslosigkeit
zur Folge, dass selbst Fragauf unter 74 Prozent.
würdiges nicht in Frage geAuch als die Frauen an ihren Arbeitsstellt wird: Der Nepotismus
der Männer etwa, in denen Reinigungsmittelwerbung (1964): Mit Kuss verabschiedet plätzen feststellen mussten, dass sie
Angehörige einer Elite einander die Karriere-Steigbügel
halten, wird nicht mehr kritisiert, sondern ganz bewusst
imitiert.
Ebenso wird kaum diskutiert, wie die Zukunft denn
aussehen soll, wenn Frauen es
erst einmal an die Spitze geschafft haben. Werden sie, als
die „besseren Männer“, alles
so lassen, wie es ist? Oder gibt
es tatsächlich so etwas wie
weibliche Führungsqualitäten
– weniger hierarchisch, weniger autoritär und statusfixiert,
dafür sachlicher, flexibler und
teambezogener? Würde die
Wirtschaft zur Weiberwirtschaft, und wäre sie wirklich
das menschlichere System?
Erfahrungswerte gibt es mangels Masse kaum, und die
Wissenschaftler streiten sich.
Als Strategie einer Gruppe, die sich im Wirtschaftsleben gegen Benachteiligungen Zeitungswerbung: Die Werte der Erfolgskultur nicht verändern, sondern daran teilhaben
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Titel
M. ZUCHT / DER SPIEGEL
JAUCH & SCHEIKOWSKI
60-Jährigen sagen lassen, was der richtige
Weg ist“, klagt Zerrahn.
Statt sich zu erneuern, wurde die Frauenbewegung verbiestert und sektiererisch.
„Mythenpflege“ ersetze „die Nachforschung nach all den Frauen, die der Bewegung und dem Feminismus im Lauf der
Jahre verloren gegangen sind“, kritisiert
die Berliner Autorin Katharina Rutschky in
ihrer unlängst publizierten Abrechnung mit
der Frauenbewegung, und Mythenpflege
ersetze auch „das Nachdenken darüber,
warum es zu keiner Traditionsbildung gekommen ist“**.
In den langen, konservativ geprägten
Erfolgsfrauen in Hollywood*: Erste Fältchen und reichlich Erfahrung mit dem Patriarchat „Backlash“-Jahren der Kohl-Ära büßte die
westdeutsche Frauenbewegung praktisch
Schwierigkeiten hatten, akzeptiert zu werMit fundamentalistischem Eifer beharr- ihren gesamten politischen Einfluss ein –
den oder gar aufzusteigen, war die Frau- te sie auf ihren Dogmen, als wären sie die unter anderem deshalb, weil sie es verenbewegung für sie da. Sie lieferte die Ana- Zehn Gebote, weigerte sich, neuere politi- säumt hatte, sich etablierte Foren und Loblyse der patriarchalisch strukturierten Be- sche Entwicklungen oder gar Fortschritte bygruppen zu schaffen, die fest im System
rufswelt, in der Frauen ausgeschlossen und der Frauen zur Kenntnis zu nehmen, und verankert waren. Nur an den Universitäten
von der Macht fern gehalten würden. Sie stellte ihre Werte nicht mehr in Frage. überwinterten die Altfeministinnen – und
untersuchte das unterschiedliche Sozial- „Heute wird von uns jüngeren Frauen er- betrieben zunehmend weltfremde Forund Sprachverhalten am Arbeitsplatz, das wartet, dass wir uns von den mittlerweile schung. Anders in den USA: Die amerikanische Feministin Naomi
Frauen immer wieder auflaufen ließ. Sie
Wolf etwa ist gerade zur
entwickelte die Quote, sie setzte GleichCorinna Steinauer, 36, Managerin
offiziellen Beraterin des
stellungsbeauftragte durch, sie kämpfte gedemokratischen Präsidentgen sexuelle Belästigung.
„Frauen brauchen keinen Sonderstatus“, sagt Corinna
schaftskandidaten Al Gore
Warum hat es die Frauenbewegung dann
Steinauer, „sie können auch so ihren Weg machen.“
ernannt worden.
– all diesen Errungenschaften zum Trotz –
Sie selbst war 27 Jahre alt, als sie Innendienstleiterin
„Wenn eine Bewegung laninnerhalb weniger Jahrzehnte fertig geder bayerischen Bezirkszentrale von Lekkerland, einem
ge politisch und gesellschaftbracht, dass ihr der Nachwuchs in Scharen
Lebensmittelgroßhändler, wurde. Mit 33 Jahren machte
lich erfolglos bleibt, ist sie
fernbleibt? Warum hat sie ein so miserables
sie einen Karrieresprung, wechselte in die Industrie zu
nicht mehr attraktiv“, glaubt
Image?
Philips in Hamburg und wurde Mitglied der GeschäftsSchaeffer-Hegel. „Dann gibt
„Die Frauenbewegung hat kein Rollenleitung für den Bereich Hausgeräte – als erste Frau auf
es zwar immer noch die Unbild entwickelt, das den Frauen gerecht
einem solchen Posten. Auch Männer hatten sich für die
zufriedenen, die andere Unwurde, die mir in meinem realen Leben
Position beworben, aber am Ende, vermutet Steinauer,
zufriedene suchen und zubegegneten“, sagt die Hamburger Publi„haben meine Erfahrung und meine Persönlichkeit den
sammen den Chor anstimzistin Signe Zerrahn, 37, die in einer StreitAusschlag gegeben: Ich habe nie versucht, jemand anmen, wie schrecklich alles ist,
schrift 1995 mit den Fehlern der Altfemiders zu sein, als ich bin“. Außerdem „haben Frauen eiaber das bringt uns ja nicht
nistinnen abgerechnet hat. „Ich kannte
nen höheren Anspruch an sich als Männer“, erklärt die
weiter.“
Frauen, die sich durchbissen, die Beruf
Managerin, „sie erwarten von sich, keinen einzigen
Dazu kommt, dass die
und Familie managten, ohne großartig
Fehler zu machen“. Auch ihr Mann, ein selbständiger
Frauenbewegung aus ideoloüber Emanzipation zu reden.“ Und auch
Unternehmensberater, halte ihr manchmal dieses Begischen Vorbehalten heraus
über einen konstruktiven neuen Umgang
dürfnis nach Perfektion vor. Zehn bis zwölf Stunden arwenig unternommen hat, um
mit den Männern war von der Frauenbebeitet Steinauer pro Tag, in ihrer Freizeit spielt sie TenMüttern das alltägliche Lewegung wenig zu lernen: Denn die Männis und Golf oder geht ins Fitnesscenter. „Wichtig ist“,
ben zu erleichtern. Für die
ner kamen allenfalls als Täter im radikalsagt sie, „die Balance zwischen Arbeit und Freizeit zu
meisten Frauen aber bedeufeministischen Weltbild vor, nicht aber als
schaffen.“
ten Kinder eine BereichePartner oder gar als Väter gemeinsamer
rung ihres Lebens, auf die sie
Kinder.
nur schweren Herzens verDie klassische Frauenbewegung in
zichten. Geprägt von alten
Deutschland sei „zu stark moralingetränkt“
und neuen Weiblichkeitsgewesen, ergänzt die Sozialwissenschaftleidealen – hier Mutterschaft,
rin Schaeffer-Hegel. „Das Bindeglied der
Familie, Haushalt, da ErFrauen war das gemeinsame Leiden.“ Ihr
werbstätigkeit, Erfolg, SelbstHalleluja galt dem Opferstatus der Frauen,
verwirklichung –, wollen sich
die im Patriarchat belästigt, vergewaltigt,
viele nicht zwischen diesen
ausgebeutet und unterdrückt wurden. Als
Lebensinhalten entscheiden.
„gruseliges Selbstmitleid“ kritisiert Zerrahn
Hilfestellung allerdings
diese Fixierung auf Leid und Schrecken.
haben Frauen bei ihrem RolDie Frauenbewegung hatte sich zur Klagelenspagat kaum zu erwarten.
mauer begeben – und war gegen eine Wand
Bei einer aktuellen Forsagerannt.
Umfrage gaben 58 Prozent
* Bette Midler, Diane Keaton, Goldie Hawn in „Der
der befragten berufstätigen
Club der Teufelinnen“ (1996).
Frauen zwischen 25 und 45
**„Emma und ihre Schwestern“. Carl Hanser Verlag,
Jahren an, dass hauptsächMünchen/Wien; 158 Seiten; 29,80 Mark.
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lich sie für Haushalt und Kinder zuständig
seien – bei den Männern trafen diese Aussage nur 10 Prozent. Weiterhin wird
Frauen das Leben zwischen Windeln und
Windows 98 schwer gemacht: Die Arbeitszeiten sind familienfeindlich; die Kindergarten- und Schulzeiten dagegen jobfeindlich. „Es ist fast, als gäbe es drei Kategorien
von Arbeitskräften: Männer, Frauen und
Mütter“, klagt die britische Autorin Suzanne Franks, die eine pessimistische Analyse der weiblichen Arbeitsmarktchancen
verfasst hat*.
Zwar hat seit Januar 1999 jedes Kind ab
drei Jahren in Deutschland einen einklagbaren Anspruch auf einen Kindergartenplatz, aber die Betreuungszeiten sind häuMagitta Godow, 33, Unternehmerin
fig so angelegt, dass sie selbst einen Teilzeitjob unmöglich machen. In Bayern oder
Die kräftezehrende Arbeit auf der Intensivstation war
Rheinland-Pfalz etwa gibt es Regelkinderkeine verlockende Perspektive für die Krankenschwesgärten mit einer geteilten Betreuungszeit.
ter Magitta Godow. Deshalb gründete sie mit ihrem
Sechs Stunden am Tag können Eltern ihren
Mann, einem Krankenpfleger, vor fünf Jahren in Eutin
Nachwuchs dort unterbringen – aber zwieinen ambulanten Kranken- und Altenpflegeservice. Als
schen 12 und 14 Uhr müssen die Kids abdas erste Kind geboren war, wechselten die beiden
geholt und bekocht werden.
sich wochenweise mit Büro- und Elternarbeit ab. Nach
„Man kann heute nicht arbeiten und ein
einer komplizierten zweiten Schwangerschaft war die
Kind haben“, glaubt Zerrahn, Mutter einer
Rückkehr schwer, weil die alten Damen und Herren
dreijährigen Tochter, „wenn man nicht
sich an Herrn Godow als Firmenchef gewöhnt hatten.
mindestens fünf Frauen im Hintergrund
Also arbeitet Magitta Godow derzeit nur aushilfsweise
hat, auf die man sich verlassen kann.“ Im
im Pflegedienst, der insgesamt 13 Mitarbeiter hat, und
Leben jeder berufstätigen Mutter gebe es
bietet einen Versorgungsservice mit Sondennahrung
„private Strukturen, die gesellschaftlich
an. Sobald das jüngste Kind in den Kindergarten geht,
nicht wahrgenommen werden, weil sie
will sie wieder Vollzeit oder 30 Stunden pro Woche arauch gesellschaftlich nicht erwünscht
beiten und eine Ausbildung zur Heilpraktikerin beginsind“. Doch die hohe weibliche Kunst der
nen. Bei der Hausarbeit wird ihr Mann, der jetzt auch
Improvisation nutzt wenig, wenn die Areinkauft, kocht, wäscht und bügelt, dann wieder mehr
beitsbedingungen zu rigide sind, um sie
mithelfen. „Freie Zeiteinteilung und Flexibilität“, sagt
anwenden zu können.
Godow, seien die größten Vorteile der Selbständigkeit:
In den meisten Unternehmen herrscht
„Ich kann nachts um drei Briefe auf Kassette diktieren
eine Anwesenheitspflicht (in den USA
oder meinen Mann bitten, auf die Kinder aufzupassen.“
heißt diese prägnant „face time“), die sich
nicht damit verträgt, den
Nachwuchs vom KindergarImmer später...
ten abzuholen oder ihn zur
Schluckimpfung zu fahren.
Durchschnittsalter der Frauen bei der Geburt des ersten Kindes*
„Die Strukturen der Wirtin Jahren
schaft haben sich herausgebildet unter Männern“, sagt
26,2
WESTDEUTSCHLAND
Schaeffer-Hegel, „die keinerlei Verantwortung für das
25,2
24,9
24,9
24,8
Privatleben und den Alltag
24,3
hatten.“ Chancengleichheit
am Arbeitsplatz ist unvereinbar mit dieser männlichen
Organisation der Arbeitszeit.
Denn die totale Verfüg...und immer weniger
barkeit und das „sektenartiZahl der Kinder je 15- bis 50-jähriger Frau
ge Engagement“ für ein Unternehmen, wie es die Zigarettenmanagerin Hirsch
nennt, sind mit einem Klein2,5
2,5
kind kaum zu schaffen. Dar2,0
um gehen die meisten Frau1,5
1,4
1,3
WESTDEUTSCHLAND
en nach der Geburt eines
* Suzanne Franks: „Das Märchen von
der Gleichheit. Frauen, Männer und
die Zukunft der Arbeit“. Deutsche
Verlags-Anstalt, Stuttgart; 318 Seiten;
39,80 Mark.
98
M. WITT
Titel
Kindes bis zu drei Jahre in
den gesetzlich gewährten Erziehungsurlaub. Viele wollen
sich die Lebensqualität, die
sie aus dem engen Zusammenleben mit dem eigenen
Baby gewinnen, gar nicht
rauben lassen – aber sie
wären froh, wenn ihre Unternehmen flexiblere Arbeitsmöglichkeiten anböten,
die sie nicht zum Totalausstieg in der Babyphase zwingen würden.
Denn Karriere machen in
dieser Zeit die Männer, auch
die Väter, die unbeirrt ihre
„face time“ absitzen. „Wenn
eine Frau solche Prioritäten
setzt, hat das Folgen für die
Karriere“, sagt die Wirtschaftswissenschaftlerin Bischoff achselzuckend, „denn
der vergleichbare Mann
bleibt drin.“ Darum hält sie
den Erziehungsurlaub „für
einen politischen Flop“.
Auch die Architektin
Alexandra Czerner hat „die
Lebensläufe meiner Mitstudentinnen beobachtet und
festgestellt: Entweder haben
sie wegen der Karriere keine
Kinder, oder sie haben die
Karriere wegen des Kindes
abgebrochen“. Für nötig hält
sie „eine Haltungsänderung:
Wer Kind und Karriere will,
muss sich etwas einfallen lassen. Das gilt natürlich genauso für Väter“.
28,2
27,1
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OSTDEUTSCHLAND
1,5
1,3 1,4
0,8 1,0
OSTDEUTSCHLAND
*ehelich lebend geboren; Quelle: Statistisches Bundesamt
1961
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Theaterstück „Sekretärinnen“ (in Hamburg): Frauen neigen dazu, sich ein schlechtes Gewissen einreden zu lassen
M. HORN
M. DANNER
Mit ihrem Drang, sich als „SuperNicht nur Frauen müssen zwischen Be- Gewalttätigkeit neigten und Frauen als Kolruf und Elternschaft wählen, sondern auch leginnen und Vorgesetzte akzeptierten. An woman“ zu betätigen, setzen sich Frauen
Männer: Die entscheiden sich mehrheit- der „üblichen Schieflage zwischen Männer- selbst unter Dauerstress und verwickeln
lich gegen Familienzeit und Familienarbeit, und Frauenengagement im Haus und in der sich in Schuldgefühle. Die alte feministigegen eine Vaterschaft, die sie jeden Tag Kindererziehung“ würde auch das pro- sche Parole, dass Frauen das Recht auf alstundenlang in Anspruch nimmt – und das gressive Fünftel wenig ändern, bedauerten les haben, ist im Superwoman-Modell muohne die Schuldgefühle, mit denen sich die Sozialwissenschaftler Paul Zulehner tiert zu der Überzeugung, dass Frauen das
Recht auf alles gleichzeitig haben – und
Frauen quälen. Weniger als zwei Prozent und Rainer Volz, Verfasser der Studie.
Während die Männer mit ihrem Plan- dieser Glaube ist wiederum umgeschlagen
aller Erziehungsurlauber sind Jungväter.
„Wenn Männer sagen, Familie ist für mich A-Leben vollauf ausgelastet sind, unter- in die mühsame Pflicht, alles gleichzeitig
das Wichtigste, bedeutet das nicht, dass sie werfen sich Frauen dem Anspruch, alle schaffen zu müssen.
„Der häufigste Fehler ist es, sich als Frau
ihre Karrierepläne zurückstecken würden, Aspekte ihres Lebens zu meistern. „Das
wenn ein Kind da ist“, erklärt die Psycho- Problem ist, dass Frauen immer perfekt alles aufzuladen. Irgendwann wacht man
logie-Professorin Andrea Abele-Brehm. sein wollen: perfekte Karriere, perfekte auf und sagt: Wie viel Zeit ist mir für mich
„Frauen hingegen überlegen sich von vorn- Hausfrau, perfekte Ehefrau, perfekte Mut- geblieben?“, erklärt die Unternehmensbeherein, wie sie Familie und Beruf unter ei- ter“, sagt die FIM-Vorsitzende Richter. raterin Harss. „Man muss früh auf seine
nen Hut bringen können. Also: Gleiche Pri- „Das ist nicht förderlich. Frauen neigen Rechte pochen, den Lebenspartner in
oritäten mit unterschiedlichen Konse- dazu, sich ein schlechtes Gewissen einre- Haushalt und Kindererziehung einbeziehen, eine Putzfrau engagieren, eine Tagesden zu lassen.“
quenzen.“
Männer seien „zu 90 Prozent mit Plan A beschäftigt,
ihrem Beruf“, sagt die Perin Schwalbach bei Procter & Gamble in der Marktsonalberaterin Borgmann,
forschung; ihr Mann dagegen studierte noch und
„Plan B, Familie und Hauswurde Hausmann. Für die Zeit des Mutterschutzes
halt, nimmt allenfalls 10 Problieb Guesnet zu Hause, hängte noch den Jahreszent in Anspruch.“ Diese
urlaub dran und stieg dann zunächst mit einer DreiVerteilung ergibt sich durchTage-Woche wieder in den Job ein. So machte sie es
aus nicht immer freiwillig,
auch bei den beiden nächsten Kindern. Inzwischen
sondern wird Nachwuchsist sie mit ihrer Familie in die Nähe von London gekräften auch durch gesellzogen, und nach fünf Beförderungen avancierte sie
schaftlichen Druck abverzur internationalen Marktforschungsmanagerin für
langt: „Wer als Mann Kardie Procter-&-Gamble-Parfums. „Der große Unterriere machen will“, sagt Peschied zu meinen männlichen Kollegen, die Kinder
ter Mayer, Personalentwickhaben, ist, dass ich um 18 Uhr nach Hause gehe“,
ler bei DaimlerChrysler,
sagt sie. Die täglichen 9,5 Stunden im Büro arbeitet
„darf sich heute nicht vorbeGuesnet so effizient wie möglich: „Ich wusste immer
haltlos zur Familie bekengenau, was fünf Minuten bedeuten.“ Im Haushalt,
nen. Niemand kann in einer
sagt sie, engagiere sie sich wahrscheinlich mehr als
Sitzung aufstehen und sagen:
berufstätige Männer, zum Beispiel kochen sie und
Mein Sohn wartet, ich muss
ihr Mann abwechselnd. Er habe jedoch alles in alFlorence Guesnet, 35,
jetzt gehen.“
lem den weniger dankbaren und schillernden Part
Marktforscherin
Nur 19 Prozent „neue“
übernommen, obwohl er andererseits öfter als sie
Männer förderte im vergan„Wir haben auf die Gehaltsabrechnung geschaut,
dazu kommt, Zeitung zu lesen. „Manchmal bin ich
genen Jahr eine sozialwisund dann war die Sache klar“, sagt Florence Guesnach einem Wochenende froh, wenn Montag ist,
senschaftliche Studie in
net: Als 1993 ihre erste Tochter geboren wurde, hatweil kleine Kinder einen dauernd in Anspruch nehDeutschland zu Tage: Mänte sie bereits ihr Studium der Wirtschaftswissenmen“, erzählt Guesnet, „im Büro kann man dagegen
ner, die partnerschaftlicher
schaften in Wuppertal abgeschlossen und arbeitete
auch mal sagen: Jetzt bitte nicht.“
eingestellt seien, weniger zu
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Titel
sierung und Digitalisierung
der Wirtschaft sein, die Frauen wie Männer ganz automatisch in eine fremde neue
Arbeitswelt mit ungewohnten Anforderungen und
Chancen katapultieren. Die
traditionelle Vollbeschäftigungsbiografie wird rarer, an
ihre Stelle tritt eine Normalisierung der „PatchworkKarriere“, die Teilzeitarbeit,
Jobsharing, Zeitverträge,
Freiberuflichkeit, Heimarbeit
und streckenweise ArbeitsloTatjana Pichler, 34,
sigkeit umfassen kann.
Unternehmensberaterin
Für gut ausgebildete, motivierte Frauen kann diese
„Für mich war es immer eine Horrorvorstellung, allein erAuflösung der tradierten
ziehende Mutter zu sein“, sagt Tatjana Pichler, und dann
Strukturen – bei aller soziawurde sie es doch. Als ihre Tochter Lilith vor fünf Jahren
len Unsicherheit – durchaus
geboren wurde, arbeitete die studierte Betriebswirtin als
Vorteile bieten, um Karriere
Junior Product Managerin in der Industrie. „Dorthin konnte
und Privatleben besser zu
ich nicht zurück“, erzählt sie, „weil die von mir verlangten,
vereinbaren. „Es gibt heute
ganztags zu arbeiten.“ Also hielt sie sich ein halbes Jahr
viel mehr Möglichkeiten,
lang als freiberufliche Headhunterin über Wasser, brachte
sich beruflich aus frauenLilith morgens für drei Stunden zur Tagesmutter und telefofeindlichen Strukturen abzunierte abends weiter. Mit viel Mühe fand sie für die Tochter
setzen“, sagt Signe Zerrahn.
einen Platz im Kindertagesheim und arbeitete für eine
Dass man seinen Laptop
Kunstmarketingagentur – von 8.30 Uhr bis 17 Uhr. „Ich
überall einstöpseln kann, zur
hatte ein schlechtes Gewissen, weil Lilith immer die Letzte
Not auch im Hobbyraum, ist
war, die abends abgeholt wurde.“ Als die Tochter einen
eine Freiheit, die ungezählte
fiebrigen Infekt hatte, wollte die Agenturchefin nicht zulasFirmengründerinnen nutzen.
sen, dass Pichler bei ihrem Kind blieb. „Ich hätte nicht geDie pragmatischen Frauen
dacht, dass ausgerechnet Frauen so hart sein können“,
von heute lassen sich etwas
sagt Pichler. Seit anderthalb Jahren hat sie nun eine Dreieinfallen. „Gesellschaftliche
viertelstelle bei der Unternehmensberatung „Deutsche
Veränderung kann man nicht
Perot Systems“ in Hamburg. Ihr damaliger Chef, erzählt
nur im Großen fordern, man
sie, hatte selbst drei Kinder und zeigte beim Vorstellungsmuss sie auch im Kleinen
gespräch daher Verständnis für ihre Situation. Denn das
praktizieren“, glaubt Alegrößte Problem für Alleinerziehende sei „die Unflexibilität
xandra Czerner. Sie will den
der Firmen“. Dabei seien gerade Mütter „sehr gute ArbeitMitarbeiterinnen ihres Archinehmerinnen, weil die gewohnt sind, schnell und effizient
tekturbüros die Möglichkeit
zu organisieren“.
geben, auch mit Kind „ihren
Job so weiterzumachen wie
stalten: „Warum soll es in hundert Jahren bisher“. Mütter bekommen ihr eigenes
nicht denkbar sein, dass die Männer auch Zimmer und dürfen ihr Baby mitbringen.
zwischendurch ein bisschen relaxen und Sobald mehrere Kinder da sind, soll für sie
sich mehr um private Dinge kümmern, was ein Spielzimmer eingerichtet werden, und
ihrer geistigen und sozialen Entwicklung die Mitarbeiterinnen können gemeinsam
mit Sicherheit gut tun würde?“
eine Tagesmutter engagieren. „Die Frauen
Auch die Publizistin Suzanne Franks sollen nicht das Gefühl haben, sie müssten
träumt von einem Modell, „in dem beide pausieren“, sagt Czerner. „Trotzdem erPartner einen großen Anteil der Betreu- warte ich, dass die Leistung stimmt.“
ung ihrer Kinder selbst übernehmen, sich
Die Unternehmensberaterin Harss übergleichzeitig aber auch eine akzeptable Po- lässt den freiberuflichen Trainerinnen, die
sition auf dem Arbeitsmarkt sichern – ohne für sie arbeiten, „die Entscheidung, wie
dabei ihre Kinder nur zum Gutenachtkuss lange sie nach der Geburt ihres Kindes
zu sehen oder unsoziale Arbeitszeiten ein- wegbleiben“. Es habe sich gezeigt: „Die
halten zu müssen“. Ansätze eines solchen meisten sind sehr schnell wieder da.“ ClauStrukturwandels finden sich heute schon in dia Harss selbst hat drei Wochen nach der
manchen Unternehmen, die Kinderbe- Geburt ihres Sohnes einen Vortrag gehaltreuung anbieten und Flexibilisierungsmo- ten. Ihre Kollegin wird sechs Wochen nach
delle von Arbeitszeit und Arbeitsort er- der Niederkunft ein Seminar geben. „Dann
proben, um hoch qualifizierte Frauen – ge- legt man sich nach einem Termin kurz aufs
rade junge Mütter – zu binden.
Sofa“, sagt Harss, „und dann geht es schon
Vor allem aber werden es der Wandel wieder.“
zur Dienstleistungsgesellschaft, der Sprung
Bereits zweimal wurde die Münchner
ins Informationszeitalter und die Globali- Firma Comet Computer für ihre „guten
M. WITT
mutter beschäftigen und nicht versuchen,
die Superfrau zu sein. Dass viele Frauen
das trotzdem tun, hat mit einer Dienstleistungshaltung zu tun. Wenn der Kühlschrank leer ist, meinen sie, dass sie ihn füllen müssten.“
Dass auch ihre eigenen eingeschliffenen
Verhaltensmuster dazu beitragen, den Status quo an Waschmaschine und Gefrierfach aufrechtzuerhalten, haben Frauen in
den letzten Jahren selbstkritisch eingesehen; die alte Frauenbewegung hatte stets
die „Kannst du mir mal ein Bier holen,
Schatz“-Pantoffelpatriarchen für die weibliche Doppelbelastung verantwortlich gemacht. Wer Pflichten in Haushalt und Familie abgibt, gibt auch Macht auf – und
zwar eine traditionell weibliche. Das fällt
vielen Frauen offensichtlich schwer.
Wo die alten Beziehungsstrukturen tatsächlich aufbrechen, kriselt es zwischen
den Geschlechtern: Berufstätige in den kritischen Jahren zwischen Mitte und Ende 30
beobachten oft, dass sich in ihrem Freundeskreis etliche Paare trennen. Dem Anspruch, dass sich beide im Job verwirklichen, halten viele Bindungen nicht stand –
besonders wenn die Kinderfrage geklärt
werden muss. „Ich rate Frauen, frühzeitig
in einer Partnerschaft darüber zu sprechen,
wie man sich die Kindererziehung vorstellt, und dann gemeinsam einen Weg zu
suchen, das zu realisieren“, sagt die deutsche EWMD-Vorsitzende Christa von der
Heiden. Ihr Mann ist Berufsschullehrer –
und hat den größeren Teil von Hausarbeit
und Kindererziehung übernommen, um ihr
die Karriere zu ermöglichen.
Aber mit rein privaten Abmachungen
wird es nicht getan sein. Denn die scheitern
fast zwangsläufig an den starren gesellschaftlichen Strukturen und Erwartungen
in Deutschland. Die Sozialwissenschaftlerin Barbara Schaeffer-Hegel plädiert darum
für einen umfassenden Strukturwandel, um
die Voraussetzungen, „die das Zusammenleben von Männern, Frauen und Kindern in
unserer Gesellschaft regeln“, neu zu geComputer-Unternehmerin Closs
M. FENGEL
Widerstand gegen den ewig gleichen Trott
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Ideen zur Verbesserung der
Chancengleichheit von Frauen und Männern“ von der
Bayerischen Staatsregierung
ausgezeichnet. Vor zwölf
Jahren gründeten Sissi Closs,
45, und ihr Geschäftspartner Michael Kusch den kleinen Betrieb, der ausgerechnet im Online-Dschungel
verständliche Betriebsanleitungen anbieten wollte. Mittlerweile bedienen sich Siemens, AT&T, Nixdorf, IBM
und die Bundesanstalt für Arbeit der technischen Übersetzungshilfen. Das CometTeam verfasst außerdem
Handbücher für Softwareprogramme, entwirft Konzepte für Unternehmen, die
sich im Internet vorstellen
wollen, und hilft Behörden,
von den schwedischen Arbeitsämtern bis zum Bayerischen Landeskriminalamt,
sich zu vernetzen.
Bei Comet kommen und
gehen 40 Mitarbeiter, wann
sie wollen. Ob sie zu Hause
oder im Altbaubüro, nahe
dem Oktoberfest, arbeiten,
entscheiden die Kollegen
selbst. Manche verbringen 12,
andere 35 Stunden pro Woche am Arbeitsplatz. Und wer
nicht weiß, wohin mit den
Kindern, bringt sie einfach
mit.
Der Grund dafür, dass die
Firma in diesem Jahr mit
FOTOS: M. WITT
Titel
Nadine Thoma, 30, Filmproduzentin
Der erste Schritt in ihrer Karriere endete in einer Sackgasse: Die Privatschule für visuelle Kommunikation,
die Nadine Thoma in Paris besuchte, ging Pleite. Also
fing sie an einer deutschen Grafikschule noch mal von
vorne an. Inzwischen ist Thoma Geschäftsführerin von
Markenfilm Berlin, einer Produktionsfirma für Werbefilme. „Es hat Vor- und Nachteile, eine Frau zu sein“,
sagt Thoma, „man hat feinere Sensoren, aber man
muss sich stärker behaupten und steht mehr unter Beobachtung.“ In der Werbefilmbranche gebe es eine
Zweiteilung: Männer setzen sich eher im kreativen Bereich durch, Frauen eher im organisatorischen. Kinder
hat Thoma nicht, das Projekt Familie „steht erst mal
hintenan“. Aber „generell habe ich einen Kinderwunsch“, sagt Thoma, „und ich bin überzeugt, dass
ich dann auch Wege finde, Beruf und Familie zu vereinen“. Für dieses Lebensmodell hat Thoma ein Vorbild:
Ihre Mutter habe immer als Fotografin gearbeitet „und
es trotzdem geschafft, mir ein richtiges Zuhause zu
bieten“.
sechs Millionen Mark Umsatz rechnet,
klingt angesichts dieser Freizügigkeit paradox: „Äußerste Disziplin, Koordination
und Kommunikation“ seien die Voraussetzung ihres Modells, sagt Sissi Closs, die
selbst auch nicht dem Image der Geschäftsfrau entspricht. Die Informatikerin
trägt gelegentlich bauchnabelkurze Tops,
dazu Schlaghosen, und hält wenig von dezentem Make-up.
Hoch qualifizierte EDV-Spezialisten, die
in allen Branchen dringend gesucht werden, ködert Closs, Mutter eines Sohnes,
mit familienfreundlichen Arbeitsbedingungen, wie sie kaum ein anderes Unternehmen in Deutschland bietet. Nur ein
Drittel der 24 Frauen und 16 Männer
arbeitet voll, sei es den Kindern, sei es
anderen Aufgaben zuliebe. 16 Kinder zwischen 1 und 25 wuchsen und wachsen quasi mit dem Unternehmen auf. Als die Krabbelgruppen unter den Computern zu groß
wurden, gründete Closs mit anderen einen
Hort. Heute betreut eine fest angestellte
Kinderfrau den Nachwuchs, bei Bedarf
auch in den Schulferien. Notfalls übernehmen weniger ausgelastete Kollegen schon
mal einen Spielplatz-Dienst.
Ein Leben im immer gleichen Trott
konnte Sissi Closs sich beim Eintritt ins
Berufsleben nicht vorstellen. Während sie
ihr Unternehmen gründete, begann sie,
nebenbei Tanzstunden zu geben. Ihre
Mitarbeiter sucht sie, abgesehen von der
Qualifikation, danach aus, dass sie „mit
ihrer Lebenseinstellung zu uns passen
müssen“.
Einige Übersetzer arbeiten von Teneriffa oder New York aus. Eine Mitarbeiterin zog mit Mann und Kind erst nach
Darmstadt, später nach Bonn und schickt
ihre technischen Dokumentationen nun von dort. Viermal in der Woche steht sie
vormittags, wenn ihre Kinder anderweitig versorgt werden, ihren Kunden telefonisch zur Verfügung, zwei
Abende sind für die Arbeit
reserviert.
Das Netzwerk klappt nur,
weil in der bayerischen Zentrale alle Kollegen, Kunden
und Projekte in einer Hand
zusammenlaufen. Eine Büroleiterin organisiert Rundrufe, verschickt E-Mails und
lädt einmal im Monat zum
Teamgespräch ein. Außerdem
gibt es eine Notfall-Planung.
Als neulich das Zusammenspiel zwischen München und
New York kurz vor Projektschluss auseinander brach,
sprang die Chefin ruck, zuck
selbst ein. „Flexible Teilzeit“,
sagt Closs, „lebt von der
Flexibilität aller.“
Netzwerk-Vorsitzende Richter (M.), Mitglieder: „Lernen, unsere Fähigkeiten besser zu verkaufen“
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Mitarbeit: Bettina Musall
J. WISCHMANN / AGENTUR FOCUS
Feministin Schwarzer: „Frau kann nicht jeden Morgen beim Kaffee darüber nachgrübeln, wie sie heute die ganze Welt verändert“
„Wir brauchen Frauenbündelei“
„Emma“-Herausgeberin Alice Schwarzer über Feminismus und Karriere
SPIEGEL: Frau Schwarzer, Anfang der siebziger Jahre waren in Westdeutschland 47
Prozent der Frauen berufstätig, heute sind
es 56 Prozent. Reicht Ihnen das?
Schwarzer: Dieser Sprung ist relativ gesehen
und für den Westen enorm, vor allem angesichts von Rezession und Arbeitslosigkeit.
Und Frauen wird es nicht einfach gemacht:
Sie haben in der Regel immer noch die Doppelbelastung von Beruf und Familie zu tragen – auch wenn es den einen oder anderen
netten Mann gibt, der im Haushalt „hilft“.
SPIEGEL: Berufstätigkeit ist nicht gleich Karriere. Warum schaffen Frauen bis heute nur
selten den Weg ganz an die Spitze?
Schwarzer: Die Männerbünde sind ganz
schön fest gezurrt, da kommt eine Frau
nicht so leicht dazwischen. Solange Frauen nett und jung sind, harmlos scheinen
und als Konkurrenz nicht so ernst genommen werden, werden sie gefördert. Sobald
sie aber gleichziehen wollen, wird die Luft
sehr dünn. Und dann kommen innere Kon-
flikte hinzu: Von Frauen wird eher Leidenschaft für Männer und Liebe erwartet
als für ihren Beruf.
SPIEGEL: Und was wollen die Frauen selbst?
Schwarzer: Vor 25 Jahren sagte das fortschrittlichste Drittel der jungen Frauen: Ich
will einen Beruf, aber wenn Kinder kommen, setze ich aus, und ich hoffe, dass mein
Mann auch bei Haushalt und Kindern hilft.
Dieses Drittel ist heute das rückschrittlichste. Für fortschrittliche junge Frauen ist
es inzwischen selbstverständlich, einen Beruf zu haben und zu behalten. Wenn sie
sich für Kinder entscheiden, ist es klar, dass
sie sich die Arbeit mit dem Mann teilen –
zumindest ist das die Absicht. In der Realität sieht das noch mal anders aus. Was da
in den Köpfen passiert ist, ist eine richtige
Kulturrevolution.
SPIEGEL: Die Revolution in der Lebenswirklichkeit gestaltet sich schwieriger.
Schwarzer: Das Bewusstsein ist der Realität voraus. Meine Frauengeneration war
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freudig überrascht, wenn sie mit ihren Protesten etwas erreichte. Heute haben junge
Frauen viel mehr Illusionen und sind dann
enttäuscht, wenn ihre Hoffnungen sich
nicht erfüllen. Das Problem ist: Sie halten
die Hindernisse für ihr Einzelschicksal …
SPIEGEL: … statt für das Schicksal ihres Geschlechts?
Schwarzer: Ja. Das in den siebziger Jahren
von uns Feministinnen erreichte kollektive Wissen über die Hindernisse, auf die
alle Frauen treffen, ist heute ersetzt durch
den kollektiven Glauben, alles sei möglich. Alle starren auf das Hera-LindPhänomen, das uns einreden will: Frauen
könnten Geliebte und Mutter sein, schick
und schlank sein und noch Karriere machen. Jüngere Frauen glauben das, und
wenn es ihnen nicht gelingt, halten sie das
für ihr ganz persönliches Versagen – und
sind deshalb zu schnell bereit, Kompromisse zu schließen.
SPIEGEL: Welche?
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Titel
wir in Wahrheit gerade im besten Kanz- SPIEGEL: Wer weiß – vielleicht wären Sie
träume auf. Über 90 Prozent derjenigen, die leralter sind. Wenn diese gesellschaftliche sonst Bundeskanzlerin.
berechtigt sind, Erziehungsurlaub zu neh- Spaltung gelingt, muss jede Frauengenera- Schwarzer: Danke. Ich wollte das tun, was
men, beantragen ihn auch. Darunter sind tion wieder von vorn anfangen und kann meiner Begabung entspricht und was mir
knapp 2 Prozent Männer. Die Frauen räu- nicht auf den Erfahrungen anderer auf- sinnvoll erschien. Und das ist in meinem
men ihren Arbeitsplatz, und je qualifizier- bauen. Das wäre schrecklich.
Fall: als Journalistin zu arbeiten.
ter sie sind, desto schwerer wird die Rück- SPIEGEL: Also machen Frauen auch einan- SPIEGEL: Wenn Sie heute Berufsanfängerin
kehr. Nun sind sie also für Kind und Haus der das Leben schwer?
wären: Würden Sie sich einen der vielen
zuständig, und der Mann, der von der Arbeit Schwarzer: Sicher. Frauen müssen lernen, Karriereratgeber kaufen, die für Frauen
kommt, sagt: Schatz, könntest du mal bitte dass ihre Karriere nicht zwangsweise die auf dem Buchmarkt angeboten werden?
die Windeln wegräumen? Eine solche Frau Karriere anderer Frauen verhindert. Im Schwarzer: Warum nicht? Aber verlassen
zementiert ihre Zuständigkeit als Mutter Gegenteil. Männer sind gewohnt, sich als würde ich mich nicht darauf. Verlassen
und Hausfrau. Sie kann nicht von einem Teil eines „Wir“ zu sehen. Frauen denken kann man sich nur auf sich selbst.
Tag auf den anderen sagen: Jetzt teilen wir oft: sie oder ich. Sie müssen endlich lernen, SPIEGEL: Sind diese Ratgeber die moderne
die Hausarbeit wieder. Die Bereitschaft der sich gegenseitig ernst zu nehmen, ohne feministische Literatur?
Männer dazu ist verständlicherweise auch gering.Wer gibt schon gern
seine Privilegien freiwillig auf?
SPIEGEL: Frauen entscheiden sich
selbst für den Erziehungsurlaub.
Vielleicht wollen sie die Zuständigkeit für ihr Kind auch nicht abgeben, weil sie das als Machtverlust empfänden?
Schwarzer: Da sind Sie zu streng
mit den Frauen. Ich sehe nur selten, dass Frauen nicht in den Beruf zurückkehren wollen. Es wird
ihnen einfach schwer gemacht.
Wir alle müssen die Ärmel hochkrempeln und dafür sorgen, dass
Verhältnisse herrschen, unter denen Frauen es leichter haben.
SPIEGEL: Halten Sie die Einführung des Erziehungsurlaubs
für falsch?
Schwarzer: Er ist hochgefährlich:
Politisch akzeptabel wäre nur ein
Elternurlaub mit der Auflage, dass
Mütter und Väter ihn zu gleichen
Teilen nehmen müssen. Alles andere ist eine Frauenfalle.
SPIEGEL: Frauen haben die Freiheit, acht Wochen nach der Ge- Demonstration gegen Paragraf 218 (1975): „Töchter der Mutterkreuz-Trägerinnen“
burt in den Beruf zurückzugehen.
Schwarzer: Richtig, aber die Versuchung, naiv Kontroversen herunterzuspielen. Und Schwarzer: Wenn sie gut sind, im besten
das nicht zu tun, ist groß, und deshalb hät- sie müssen lernen, Sachkonflikte auszu- Sinne; denn Feminismus ist der Aufbruch
te der Gesetzgeber der Emanzipation hier tragen ohne Angst vor Vernichtung.
in die Welt, in eine fremde Welt, deren Reein bisschen nachhelfen müssen.
SPIEGEL: Berufsanfängerinnen erklären oft, geln Frauen nicht kennen, weil sie ihnen
SPIEGEL: Verlangen Frauen zu viel, die ein sie würden nicht diskriminiert. Ist das naiv? jahrhundertelang verschlossen war. Bis
Kind und eine Top-Karriere wollen?
Schwarzer: Ich verstehe das sehr gut. Dis- Mitte der siebziger Jahre konnte ein EheSchwarzer: Leider ja. Frauen, die glauben, kriminierung ist demütigend. Also ziehen mann seiner Frau noch verbieten, berufsdass es selbstverständlich sei, alles zu krie- manche Frauen es vor, sie nicht wahrzu- tätig zu sein, wenn er fand, dass darunter
gen, machen sich etwas vor. Sie drücken nehmen. Ich freue mich über den Schwung die Hausarbeit leide. Darüber muss heute
sich vor der Realität. Heute wird behaup- junger Frauen, aber sie müssen wissen, dass jede junge Frau lachen.
tet, es sei doch gar kein Problem, beides sie noch Überraschungen erleben werden. SPIEGEL: Diese Ratgeber zielen darauf ab,
hinzukriegen. Das ist eine furchtbare Lüge. SPIEGEL: Wenn man Männer nach ihrer be- innerhalb eines Männersystems erfolgreich
Frauen, die Karriere und Kinder wollen, ruflichen Zukunft fragt, haben sie konkre- zu sein. Kann das nach feministischer
müssen Abstriche machen. Es tut mir leid, te Karriereziele, Frauen dagegen erklären Theorie der richtige Weg sein?
das ist die bittere Wahrheit.
vage, sie wollten eine interessante Aufga- Schwarzer: Natürlich. Frau kann ja nicht
SPIEGEL: Was können Frauen selber tun, be. Verfolgen Frauen die falsche Strategie? jeden Morgen beim Kaffee darüber nachum ihre Lage zu verbessern?
Schwarzer: Nein, ich finde das sehr sym- grübeln, wie sie heute die ganze Welt verSchwarzer: Ganz wichtig wäre der Schul- pathisch. Frauen wie Männer verbringen ändert. Grundsätzlich bin ich der Meinung,
terschluss zwischen Frauen. Doch statt- einen Großteil ihres Lebens mit dem Beruf, dass Frauen dasselbe können wie Männer,
dessen gibt es ständig Versuche, Frauen zu und da kann es nicht nur um Geld und und wenn ihnen ein Karriereratgeber auf
spalten: in Alte und Junge, Begehrte und Stufen auf der Karriereleiter gehen, da sind diesem Weg hilft, ist das wunderbar.
Nichtbegehrte, Tüchtige und Dumme. Die auch Inhalte wichtig. Man muss auch Spaß SPIEGEL: Was halten Sie davon, wenn die
so genannten Girlies wollen angeblich haben an dem, was man tut. Mir selbst ist Vorteile der sozialen Fähigkeiten von Fraunichts mehr von uns Älteren wissen, die das Wort „Karriereplanung“ sehr fremd.
en für die Wirtschaft betont werden?
K. GREISER
Schwarzer: Zuerst geben sie ihre Karriere-
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Schwarzer: Warum nicht? Ich zum Beispiel
habe vor zwei Jahren einen parteiübergreifenden Politikerinnenkreis initiiert,
weil ich mir gedacht habe: Die Jungs gehen
zusammen pinkeln und anschließend
sonstwohin, und die Parteifrauen lassen
sich gegeneinander hetzen. Wir Frauen
müssen Frauenbündelei lernen! Wir leben
zur Zeit in Deutschland in einem Klima
der ungenierten Männerbündelei. So fett
hatte ich damit nicht mehr gerechnet; ich
hätte nicht gedacht, dass die Zigarren sozialdemokratischer Kanzler so dick und so
teuer sein würden. Gegen dieses Klima
muss wieder ein öffentlicher Diskurs ge-
SPIEGEL: So präzise ist der Begriff gar nicht.
Es gab immerhin zwei Frauenbewegungen
in Deutschland, eine um die Jahrhundertwende, eine in den siebziger Jahren, und
die beiden waren sehr unterschiedlich.
Schwarzer: Richtig. Und die waren übrigens
gar nicht so unterschiedlich. Die erste endete mit dem Ersten Weltkrieg und erreichte
das Wahlrecht. Und auch wir haben viel erreicht: nämlich eine wahre Kulturrevolution! Nur: Wir sind kein fassbarer politischer
Faktor mehr. Keine Pressure-Group, die gezielt Druck machen kann. Bei Lesungen
treffe ich häufig auf sehr junge Frauen, die
mich fragen: Wo kann ich hingehen und
mich informieren? Und dann bin
ich sehr unglücklich, weil ich keine Antwort habe. Ich will zwar
nicht das alte Frauenzentrum an
der Ecke mit den lila Frauenzeichen wieder aufmachen, denn die
Zeiten sind einfach vorbei, aber es
muss wieder eine Vernetzung her.
SPIEGEL: Ansätze zu einer Vernetzung existieren schon – nur eben
nicht unter offizieller feministischer Flagge. Viele junge Frauen
haben das Gefühl, dass ihnen die
Frauenbewegung nichts mehr zu
sagen hat.
Schwarzer: Wer sagt das? Die
Männermedien? Neueste Umfragen sagen uns was ganz anderes:
So fand Allensbach heraus, dass
keine Altersgruppe so pro Emanzipation und Feminismus ist wie
die 16- bis 29-Jährigen. 70 Prozent
aller befragten jungen Frauen reagierten „spontan positiv“ auf den
Begriff „Emanzipation“ – und 52
Prozent sogar auf „Feminismus“!
Wenn sie bedenken, wie „gestrig“
angeblich der Feminismus ist, ist
es doch Wahnsinn, dass gegen alles Gerede mehr als jede zweite
junge Frau dafür ist! Auch Emnid meldet,
dass zwei von drei Frauen heute „für eine
starke Frauenbewegung“ sind – und jeder
zweite Mann auch.
SPIEGEL: Heute ist häufig die Rede von
„frauenorientiertem“ statt von „feministischem“ Handeln. Stört sie das?
Schwarzer: Ja, auch wenn ich es gut verstehe, wenn sich Frauen vom Feminismus
distanzieren. Das ist das ABC des Sich-Anschmierens an die Männerwelt. Dieser
Spruch „Ich bin keine Feministin, aber …“
ärgert und quält mich natürlich, und ich
denke oft: „Diese Zicke, kann sie nicht wenigstens die Klappe halten!“ Meiner Lebenserfahrung nach achten Männer diese
Art von Verrat von Frauen an anderen
Frauen übrigens gar nicht – auch wenn sie
ihn zu ihrem Vorteil nutzen. Denn Männer
verstehen etwas von Macht und von Würde. Ich kann Frauen, die weiterkommen
wollen, nur strikt davon abraten, sich durch
Verrat anzubiedern.
Interview: Susanne
M. MEYBORG
Schwarzer: Das hängt vom Ergebnis ab:
Wenn eine Frau die Karte soziale Intelligenz und Kommunikationsfähigkeit zu
ihrem Vorteil ausspielen kann, weil die
Jungs sich gegenseitig bis zur Herzattacke
triezen, sollte sie das tun. Sie darf nur
selber nicht allzu sehr daran glauben.
Frauen kommen mit Nettsein und sozialer Intelligenz nur bis zur oberen Mitte
der Hierarchie. Darüber ist Schluss mit
Nettsein.
SPIEGEL: Von Männern lernen heißt siegen
lernen?
Schwarzer: Und Frauen können viel von
Männern lernen.
Frauen-Aktionstag in Hamburg (1982): „Gefahr des Dogmatismus“
SPIEGEL: Zum Beispiel den Griff nach der
Macht. Warum hat die Frauenbewegung
den jahrzehntelang abgelehnt?
Schwarzer: Wer ist „die“ Frauenbewegung?
Ich habe das nie getan. Im Gegenteil! Aber
in den siebziger Jahren war ein Teil der
Frauenbewegung in Deutschland stark mit
der linken Szene verbandelt. Die propagierte erst mal den Ausstieg – machte aber
straight Karriere, siehe der Ex-Hausbesetzer und Außenminister Fischer. Hinzu
kommt das Erbe der Nazi-Zeit: Wir sind
die Töchter und Enkelinnen der Mutterkreuz-Trägerinnen. In den USA waren die
Feministinnen von Anfang an pragmatischer und haben gleich mehr Geld gefordert.
SPIEGEL: Auch deutsche Feministinnen propagieren heute reine Business-Zweckbündnisse zwischen Frauen: „Networking“
ist das Zauberwort der Stunde. Können
solche gezielt konstruierten Imitate je so
erfolgreich sein wie ihr Vorbild, die natürlichen Seilschaften der Männer?
schaffen werden, der deutlich macht, dass
uns Frauen die Hälfte der Welt zusteht –
und den Männern die Hälfte des Hauses.
SPIEGEL: Ein solcher zeitgemäßer Diskurs
geht von der traditionellen Frauenbewegung aber nicht mehr aus. Hat sie sich im
Laufe der Jahre zu wenig in Frage gestellt?
Schwarzer: Sicherlich gibt es bei einem gesellschaftlichen Aufbruch, wie es die Frauenbewegung einer war, die Tendenz, sich
auf den Außenfeind zu konzentrieren und
nicht sich selbst kritisch zu betrachten. Es
gibt in jeder politischen Bewegung die Gefahr des Dogmatismus.
SPIEGEL: Die moderne Antwort auf Dogmatismus ist Pragmatismus: Es gibt inzwischen Frauennetzwerke, Mentorinnenprogramme, weibliche Jobratgeber und Websites von jungen Frauen: Würden Sie das als
eine neue Frauenbewegung gelten lassen?
Schwarzer: Nein. Die „Frauenbewegung“
ist ein präziser politischer Begriff. Was wir
heute sehen, das sind die Folgen der Frauenbewegung. Und das ist gut so.
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Weingarten, Marianne Wellershoff
109
Werbeseite
Werbeseite
Gesellschaft
JUSTIZ
Gnadenlos
harmlos
Der härteste Strafrichter
Hamburgs urteilt jetzt auch im
TV über laufende Verfahren
seiner Kollegen. Das erste Urteil
fällte der Kameramann.
K. WIEDENHÖFER
S
Richter Schill in seinem Dienstzimmer: Der Jurist kennt die Gesetze des Fernsehens schlecht
„Es ist dies ein Paradebeispiel für das partielle Versagen der Justiz“,
sprach Schill immer wieder in die Kamera, bis die
Szene saß. Ermuntert von
seinem blonden Gegenüber („Das war ein schöner Einstieg“), lief der
Prädikatsjurist zu Hochform auf. Menschliche
Fehler der Richter seien
zu beobachten, überflüssige Gutachten würden
eingeholt, auch vom Versagen des Hamburger Senats war die Rede.
Da klopfte es. „Sind Sie der Fotograf der
‚Bild‘-Zeitung?“, fragte der Richter.
„Kommen Sie rein.“
Schill holte sich Volkes Auge und Ohr ins
Amtszimmer. Und seine Vorgesetzten sind
bislang machtlos. Noch kann ihn keiner
hindern, seine Meinung zu äußern. Der
Richter wird für seinen Beitrag nicht bezahlt, sagt RTL. Nun will das Gericht prüfen, ob das vom Gesetz geforderte Vertrauen in seine Unabhängigkeit durch die
„Schill-Show“ („Hamburger Morgenpost“)
gefährdet ist. Die großen Herren und er –
Schill kennt das schon. „Eine Farce“ nennt
er seine Versetzung ans Zivilgericht. Und
viele Fans stimmen ihm zu. Die Leserbriefe in der Lokalpresse sind fast durchweg
positiv. „Man müsste härter durchgreifen“,
fordern auf RTL empörte Bürger vor den
Graffiti von Oz.
Für die Sendung arrangierten der Kameramann und sein Assistent rote Aktenstapel auf einem kleinen Tisch. Dazwischen
thronte eine kleine Statue der Justitia auf
einer Sammlung „Deutsche Gesetze“.
DPA
eine geschlagenen Schlachten stehen
im Schrank. „Strafurteile 1998“ etwa
heißt einer der Ordner, dessen Inhalt
für Schlagzeilen sorgte. Ein Seneca-Spruch
zur Erbauung ziert das Möbelstück: „Ich
will Dir sagen, was den großen Herren
mangelt“, schrieb der Römer, „was denen
fehlt, die alles besitzen: einer, der die
Wahrheit spricht.“
So sieht sich Ronald Schill, den in Hamburg fast jeder als „Richter Gnadenlos“
kennt.
Die Ordner kann Schill
schon bald einpacken, den
Spruch abhängen. Im Januar wird der Strafrichter
mit den radikalen Ansichten („Hamburgs Justiz hat
ein Herz für Verbrecher“)
ins benachbarte Zivilgericht versetzt, um dort
zum Beispiel über harmlose Mietsachen zu richten – gegen seinen Willen.
Psychisch Kranke, die
Autos zerkratzen (Schills
Urteil: zweieinhalb Jahre Sprayer „Oz“
Knast), können künftig
auf mehr Milde hoffen, und Gerichtszuschauer, die bei der Urteilsverkündung
nicht stramm stehen, werden nicht länger
mit drei Tagen Ordnungshaft belangt.
Nur Hamburgs Justizbehörden müssen
weiter bangen; denn die elegante Entsorgung des unbequemen Kollegen ist einstweilen misslungen. Schill, 40, richtet weiter,
wie es ihm gefällt – statt im Gerichtssaal
nun im Fernsehen. Seit vergangenem Donnerstag urteilt er, in der RTL-Sendung
„Guten Abend“, jetzt regelmäßig über die
Verfahren seiner Kollegen.
Statt Schöffen helfen nun eine RTL-Redakteurin (blond) und ihr Kameramann
(mit Baseballkappe) bei der Urteilsfindung.
Die Praktikantin des Richters und die der
TV-Journalistin assistieren.
Zum Auftakt hatte Schill sich in der vergangenen Woche „Oz“ vorgenommen, den
Sprayer von Hamburg. Weit über 100 000mal soll Oz („Ich bin leider ein Schmierfink“) Graffiti gesprüht haben. Mehrfach
wurde er verurteilt, doch bis heute ist Oz
auf freiem Fuß; derzeit laufen die Berufungsverfahren.
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„Fragen Sie mich doch mal, wie die
Öffentlichkeit auf Oz reagiert“, forderte
Schill die RTL-Journalistin auf – immerhin wurde der Sprayer kürzlich auf der
Straße verprügelt. „Wie reagiert eigentlich“, fragte die Frau, „die Öffentlichkeit?“
Selbstjustiz sei eine natürliche Folge bei
Versagen der Strafjustiz, sagte Richter
Schill, die Kamera fest im Blick.
Doch bei der entscheidenden Frage
„Wie würden Sie entscheiden?“ verweigerte sich „Richter Gnadenlos“. Die in der
ersten Instanz verhängte Bewährungsstrafe für Oz sei angemessen, meinte Schill
und brachte so erstmals jemanden im
Raum aus der Fassung. „Mehr nicht?“, hakte die RTL-Journalistin nach. Hatte Schill
im Vorgespräch nicht eine Höchststrafe von
15 Jahren erwähnt?
Ohne genaue Sachkenntnis, sagte Schill
bei ausgeschalteter Kamera, möge er mehr
nicht verhängen. Wenn das Strafmaß zu
milde klinge, könne man es ja verschweigen: „Warum lassen Sie die Frage nicht einfach weg?“
Offenbar kennt der Jurist die Gesetze
des Fernsehens schlecht, und die sind wirklich gnadenlos. So war es nur folgerichtig,
dass am Ende der Kameramann das Urteil
fällte.
„Langjährige Haftstrafe“ wäre doch eine
schöne Formulierung, meinte bei der Aufzeichnung im Richterzimmer der Mann mit
der Baseballkappe, und so sagte es dann
auch Schill. Doch die Sprechprobe befriedigte noch nicht. Ob er auch „ohne Bewährung“ hinzufügen könne, fragte der
Kameramann. „Natürlich ohne Bewährung“, sagte Richter Schill ins Mikro.
Das Urteil war gesprochen.
Frank Hornig
111
Gesellschaft
Ab ins Labor
Der Langläufer Dieter Baumann,
Kämpfer für sauberen Sport,
muss zwei positive Dopingproben
erklären. Wem kann der Fan
noch glauben, wenn nicht ihm?
A
Dopingverdächtiger Baumann*
„Ich habe nichts verbrochen“
BONGARTS
nfang Oktober war der Leichtathlet
Dieter Baumann, 34, in seinem Element. Auf einer von ihm selbst angeregten Podiumsdiskussion debattierte er
zum Thema: „Wie gehen die Medien mit
dem gedopten Sport um?“ Mit leidenschaftlichem Ernst bedauerte der Olympiasieger, dass die Presse in ihrer Recherche schnell an Grenzen stoße: „Man erfährt wenig, und der Athlet sagt, er habe
nichts genommen.“
Vergangenen Freitag war es wieder so.
Doch der Sportler, der im Stuttgarter
Kunstturnforum seine Unschuld beteuerte,
hieß diesmal Dieter Baumann: „Ich versichere, dass ich zu keiner Zeit meines Lebens Dopingmittel eingenommen habe.“
Die Laborbefunde sagen etwas anderes
aus. In zwei Urinproben, vom 19. Oktober
und 12. November, fanden sich Abbauprodukte, so genannte Metaboliten, des Hor-
de öffentlich anprangert. Nicht mal erlaubte Mittel wie Vitamin-Infusionen
will sich der 5000-Meter-Spezialist gestattet haben.
Die Dopingdebatte hat mit dem Fall
Baumann eine Grenze überschritten. Erstmals hat es in der Leichtathletik jemanden
erwischt, dem das Publikum bereitwillig
abnahm, dass er sauber und lauter sei –
ein Vorbild in einer Branche der falschen
Vorbilder. „Zahlreiche Eltern haben ihre
Kinder wegen dieses Vorzeigeathleten in
die Vereine geschickt“, glaubt Stefan
Volknant, Sprecher des Deutschen Leichtathletik-Verbandes: „Unser Sport stürzt in
eine tiefe Glaubwürdigkeitskrise.“
Das weiß keiner besser als Baumann,
der wie ein Wanderprediger hartes Durch-
Olympiasieger Baumann (1992): Suche nach dem Gegenbeweis
mons Nandrolon – eines Klassikers unter
den Kraftmachern. Baumann, dem zwei
Jahre Sperre drohen, konnte in seiner zuweilen stockenden Verteidigungsrede dafür
keine Erklärung anbieten: „Ich habe nichts
verbrochen.“
Das würde die Sportgemeinde gern glauben. Denn der sonst so charmant parlierende Schwabe gilt als Frontkämpfer gegen
den Betrug im Stadion, der seinen Berufsstand nicht schönredet, sondern Missstän112
einigen Jahren zusammen mit dem Molekularbiologen Werner Franke in der AntiDoping-Bewegung engagiert. Gemeinsam
suchte man Erklärungen dafür, wie der
verbotene Stoff in seinen Körper gelangt
sein könnte.
Anfängliche Vermutungen, dass ein
Baumann-Gegner dem Saubermann der
Leichtathletik die Substanz untergejubelt
haben könnte, wurden schnell verworfen;
ebenso die Spekulation, dass ein isotonisches Getränk kontaminiert gewesen sein
könnte.
Seit langem klagen Biochemiker wie
Wilhelm Schänzer, der Leiter des Kölner
Doping-Kontroll-Labors, darüber, dass
durch das Internet Produkte vertrieben
werden, deren Inhaltsstoffe oftmals unbekannt seien. Doch diese Erklärung
kam bei Baumann nicht in Frage,
sonst wären einige Trainingspartner
ebenfalls positiv aufgefallen.
So bleibt aus Sicht des Langläufers
nur eine ungewöhnliche körperliche
Disposition. Für die, so Baumann,
„suche ich Beweise“.
Hoffnung machen ihm zwei Fälle
von Sportlerinnen. 1991 wurde bei
der französischen Ruderin Elodie
Teyssier ein erhöhter Wert des Hormons Nor-Testosteron ermittelt. Nachforschungen ergaben, dass ein Tumor die übermäßige Produktion der
körpereigenen Substanz verursacht
hatte. Ähnlich erging es der deutschen
Gewichtheberin Stephanie Utesch – ein
Unterleibstumor war für den positiven
Dopingbefund verantwortlich.
Die Frage ist deshalb: Gibt es auch bei
Männern Konstellationen, die einen ähnlichen Stoffwechselprozess in Gang bringen? Das Hormon Nor-Testosteron wurde
erst Ende der achtziger Jahre im menschlichen Körper entdeckt. Fundierte Studien
über die Veränderungen des Nor-Testosteron-Spiegels unter Belastung gibt es
kaum.
Baumann will sich deshalb einem Langzeittest unterziehen, einer Art Laborversuch: die gleiche Ernährung, das gleiche
Trainingsprogramm, die gleichen Getränke
wie in den vergangenen zwei Monaten.
Und dann darauf hoffen, dass sein Körper
ähnlich reagiert wie am 19. Oktober, als
nach einem harten 20-Kilometer-Trainingslauf sein Nor-Testosteron 19fach über
dem Normalwert lag – bei der Kontrolle
am 12. November gar 24fach. Bei der dritten Probe am vorigen Mittwoch war der
Wert wieder auf null gesunken.
Baumann gibt sich kämpferisch. Nicht
spitzfindige Rechtskundler sollen ihn
rausboxen, sondern medizinisch bewanderte Wissenschaftler. An Hilfstruppen
müsste es der Ikone nicht mangeln. Baumann ist Mitglied der Betriebssportgruppe
von Bayer Leverkusen – und dort gehören biochemische Studien zum Alltagsgeschäft.
Udo Ludwig, Alfred Weinzierl
ONLINE SPORT
IDOLE
greifen gegen Dopingsünder forderte und
Artikel verfasste, die um eine Kernfrage
kreisten: „Wohin soll er sich wenden, der
saubere Athlet?“
Baumann nahm, als er vorigen Montag
die unvorstellbare Nachricht erfahren hatte, Kontakt mit dem Heidelberger Rechtsanwalt Michael Lehner auf, der sich seit
* Vergangenen Freitag nach seiner Presseerklärung in
Stuttgart.
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Werbeseite
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Werbeseite
Werbeseite
Wirtschaft
Trends
DRESDNER BANK
Gewinn verdoppeln?
VW-Chef Piëch, Bentley-Studie (beim Genfer Autosalon)
VW
Sinkende
Rendite
V
olkswagen muss seine Absatz- und
Gewinnplanung für die nächsten
fünf Jahre deutlich reduzieren. In der
Planungsrunde 48 (2000 bis 2004), die
am Freitag dieser Woche durch den Aufsichtsrat verabschiedet werden soll, sieht
der Konzern für das Jahr 2000 keine Gewinnsteigerung mehr vor, wie noch in
der letzten Planungsrunde prognostiziert. Der Gewinn vor Steuern wird dem
internen Zahlenwerk zufolge im nächsten Jahr allenfalls den Überschuss von
1999 erreichen. Die Umsatzrendite wird
sogar noch sinken. VW-Vorsitzender
STROM
Aus für Avanza?
R
WE Energie führt ernsthafte Diskussionen, seine erst vor drei Monaten mit großem Aufwand gestartete
Strommarke Avanza wieder einzustellen. Unter diesem Namen wollte der Essener Stromkonzern im liberalisierten
Energiemarkt den Stadtwerken Kunden
abjagen. Offenbar ohne großen Erfolg:
Trotz Millionenausgaben zum Markenaufbau von Avanza lag die Werbeerinnerung für das Produkt nach einer Infratest-Umfrage noch im Oktober bei
nur 7,3 Prozent, spontan konnten sich
nur knapp 2 Prozent der Befragten an
den Namen erinnern. Die gigantische
Werbeschlacht, an der sich neben RWE
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Ferdinand Piëch kann sein Ziel, zur
Jahrtausendwende eine Umsatzrendite
von 6,5 Prozent zu erzielen, nicht mehr
erreichen. Hauptgrund: Die zu optimistischen Absatzprognosen müssen korrigiert werden. Im Management und Aufsichtsrat wird deshalb Kritik an den Plänen des VW-Chefs für teure Prestigeund Luxusprojekte laut, die eine geringe oder gar keine Rendite versprechen.
Kritisiert werden die Investitionen von
einer Milliarde Mark für ein Luxusmodell (D 1) der Marke VW und eine neue
Fabrik dafür in Dresden, von 1,5 Milliarden Mark für die Marke Bentley und
von einer Milliarde Mark für die Autostadt mit gläsernen Verkaufstürmen,
Markenpavillons und einem Erlebnispark in Wolfsburg. Zudem will Piëch
mehrere hundert Millionen Mark für ein
Bugatti-Modell mit 18-Zylinder-Motor
investieren.
unter anderem auch PreussenElektra,
VEW und EnBW („Yello“) beteiligten,
ist offenbar wirkungslos verpufft.
Bis auf Yello konnte kaum ein Stromkonzern, so Insider, seither neue
Privatkunden gewinnen.
P. LANGROCK / ZENIT
B. BOSTELMANN / ARGUM
ie Dresdner Bank will ihre Geschäftsbereiche umstrukturieren.
Das hat der Vorstand auf seiner Herbstklausur Anfang November beschlossen.
„Zielvorstellung ist die Etablierung einer Holdingstruktur mit rechtlich
selbständigen Tochtergesellschaften“,
heißt es in einer Vorstandsunterlage
über die Klausurergebnisse. Zunächst
werde das Investmentbanking in eine
selbständige Tochter umgewandelt. Mit
der rechtlichen Ausgliederung erhofft
sich die Bank, die in diesem Geschäftsbereich international üblichen Gehälter
– oft zweistellige Millionenbeträge für
Spitzenkräfte – bezahlen und so hochkarätige Mitarbeiter anlocken zu können. Das ausländische Firmenkundengeschäft wird der neuen Bank zugeschlagen. „Die derzeit unbefriedigende
Rentabilität“ im Privatkundengeschäft
solle verbessert werden. Dazu will die
Bank neue Kunden gewinnen und zugleich Geschäftsstellen schließen. Die
Vermögensverwaltung will sie auch
durch Zukäufe anderer Gesellschaften
stärken. Insgesamt will sich die Dresdner Bank auf „Europa als neuen
Heimatmarkt“ ausrichten und eigenständig bleiben. Durch die Umstrukturierung wird eine Verdoppelung des Gewinns nach Steuern binnen drei Jahren
angestrebt – und zwar von 1,732 Milliarden Mark Gewinn in
1999 über 2,458 Milliarden (im Jahr 2000)
und 2,999 Milliarden
(2001) auf 3,716 Milliarden Mark im Jahr 2002.
Im gleichen Zeitraum
will die Bank ihr Kernkapital um eine Milliarde auf 22,8 Milliarden
Mark und die Eigenkapitalrendite von 8 auf
16,3 Prozent steigern.
Die ehrgeizigen Ziele
sollen am 30. Juni
nächsten Jahres erstmals überprüft werDresdner Bank den. Lediglich beim
Shareholder-Value
peilt die Bank keine großen Steigerungen an. So will der Vorstand den Marktwert des Unternehmens um 20 Prozent
auf 60 Milliarden Mark im Jahr 2003 erhöhen. Derzeit beträgt der Börsenwert
der Dresdner Bank rund 50 Milliarden
Mark. Der Gesamtwert des Instituts
wird laut dem Papier jedoch auf 63,9
Milliarden Mark beziffert. Die Differenz
ergibt sich aus stillen Reserven von 13,2
Milliarden Mark.
W.SCHMIDT / NOVUM
D
Umspannwerk
115
Trends
UNTERNEHMER
„Es wird sich lohnen“
116
Shanghai
W E LT H A N D E L
Weniger Jobs
in China
D
er Beitritt in die Welthandelsorganisation (WTO) bringt China nicht
nur Vorteile. Da Peking seine Märkte
öffnen und Importzölle, etwa für Getreide, senken muss, werden laut amtli-
INTERNET
Lycos Europe plant
Börsengang
C
hristoph Mohn, Chef des Bertelsmann-Ablegers Lycos Europe, geht mit Dumpingpreisen
in den Wettkampf der Internet-Anbieter: Beim neuen Lycos-Produkt
„Comundo“ zahlen Internet-Surfer
lediglich Telefongebühren von drei
Mohn
Pfennig pro Minute aufwärts – und
sonst nichts. Das sei eines der „preisaggressivsten Angebote“, sagt der Sohn des Bertelsmann-Patrons Reinhard Mohn, der persönlich mit 24,5 Prozent an Lycos Europe
beteiligt ist. Nach Deutschland soll Comundo europaweit angeboten werden. In
Großbritannien konkurriert Lycos mit der Konzernschwester AOL Europe und deren
Internet-Gratisangebot Netscape Online. Für die Offensive hat Mohn, 34, Investitionen von über 30 Millionen Mark eingeplant, um mit einer „Mehr-Marken-Strategie“
die Kundenzahl schnell zu erhöhen. Bis Jahresende soll auch das Stammgeschäft von
Lycos, eine Suchmaschine im Internet, mit dem ähnlichen Angebot Fireball von Gruner + Jahr fusionieren. Damit würde Lycos in Europa den Marktführer Yahoo überholen. Im Februar 2000 will Bertelsmann das Unternehmen an die Börse bringen.
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M. WOLTMANN
T. BARTH / ZEITENSPIEGEL
SPIEGEL: Von der Software zum Bier ist
es ein weiter Weg. Warum engagieren
Sie sich als Hauptaktionär bei der angeschlagenen Brauerei Henninger?
Hopp: Eigentlich wollte ich nicht ins
Biergeschäft. Ich hatte mich vor etwa
anderthalb Jahren privat an einem Immobilienunternehmen meines
Freundes Werner Kindermann
beteiligt. Der
Plan war, Henninger an den
Frankfurter
Stadtrand zu
verlagern und
das alte BraueHopp
reigelände bei
interessanter Rendite für neue Zwecke
zu verwerten. Kindermann hatte so etwas schon bei der Schlossquell-Brauerei
in Heidelberg erfolgreich praktiziert.
SPIEGEL: Aber in Frankfurt wehrte sich
die Stadt dagegen?
Hopp: Ja, und so hatte ich nur die Wahl,
mein Geld von Kindermann zurückzufordern oder eine Vorwärtsstrategie einzuschlagen. Ich habe mich entschieden,
Kindermanns Anteile an den Brauereien Henninger, Schlossquell und Eichbaum weitgehend zu übernehmen.
SPIEGEL: Wie viel haben Sie investiert?
Hopp: Alles in allem war es bis jetzt für
Henninger ein kleiner dreistelliger Millionenbetrag. Der Neubau der Brauerei
erfordert demnächst noch einmal rund
90 Millionen Mark, und dann sind noch
einige Millionen für weitere Investitionen sowie Sozialplan nötig. Aber es
wird sich lohnen.
SPIEGEL: Das Biergeschäft ist nicht gerade eine Wachstumsbranche.
Hopp: Wir wollen deshalb auch keine
neuen Kapazitäten schaffen, sondern
kostengünstiger produzieren. Außerdem
setzen wir auf den Export. Heidelberger Schlossquell zum Beispiel wird
demnächst auch in Amerika verkauft.
SPIEGEL: Werden Sie sich jetzt langfristig im Biergeschäft engagieren?
Hopp: Wenn es gut läuft, kann ich mir
das vorstellen. Aber natürlich strebe ich
keine Managementaufgaben an.
SPIEGEL: Trinken Sie überhaupt Bier?
Hopp: Einen guten Rotwein mag ich lieber. Aber ich habe alle meine Biermarken durchprobiert, das Eichbaum-Premium-Pils schmeckt mir am besten.
B. RICKERBY / SIPA PRESS
SAP-Mitgründer Dietmar Hopp, 59,
über seinen Einstieg ins Brauereigeschäft
chen Schätzungen in den
nächsten sieben Jahren
knapp zehn Millionen
Bauern überflüssig. Durch
die internationale Konkurrenz dürften zudem
rund eine Million Automobil- und Metallarbeiter
ihren Job verlieren. Unklar ist noch, wie viele
Staatsbetriebe in Wirtschaftszentren wie Shanghai völlig aufgeben müssen. Bereits in der ersten
Jahreshälfte wurden in
China drei Millionen
Menschen entlassen, insgesamt sind derzeit rund
15 Millionen arbeitslos.
Peking hatte Anfang vergangener Woche nach 13
Jahren Verhandlungsdauer mit den USA einen
Deal über die Aufnahme
in die WTO geschlossen.
Es verpflichtet sich unter anderem, die
Märkte für zahlreiche US-Produkte sowie für Banken, Versicherungen und Telekommunikationsfirmen zu öffnen und
sich internationalen Handelsregeln zu
beugen. Dafür erleichtern die Amerikaner chinesische Textilimporte und gewähren China den Status einer „meistbegünstigten Nation“. Premierminister
Zhu Rongji will mit dem Beitritt seine
Öffnungspolitik vorantreiben und die
Bürokraten in den maroden Staatsbetrieben zu Reformen zwingen.
Geld
DAX 30
M-DAX
SMAX
20
Veränderung
seit Januar
in Prozent
NEMAX 50
15
50
10
40
8
10
4
30
5
20
0
0
0
10
–4
–5
0
–8
Jan.
Nov.
– 10
Jan.
Die Story zählt
S
eit Anfang November bejubeln Börsianer wieder einmal
Jahreshöchststände beim Dax. Doch der Index täuscht. Die
drei Dax-Schwergewichte Mannesmann, Siemens und Deutsche Telekom haben die Kursrekorde fast allein geschafft. Wer
hingegen Papiere von RWE, VW oder Metro hält, muss seit
Jahresanfang Verluste von rund 20 Prozent verkraften.
Tatsächlich stecken beim Dax etwa ein Drittel, beim M-Dax
Experten vom Investmentbankhaus
Goldman Sachs, werde der Ölpreis mit
mehr als 20 Dollar pro Fass hoch bleiben. Von dem Preisanstieg profitieren
zunächst Explorationsfirmen wie Enterprise Oil oder Lasmo, aber wohl auch
Ölserviceunternehmen wie Halliburton
oder Baker Hughes. Besonders angetan
sind die Bankanalysten derzeit von den
Aktien der großen Konzerne, zumal
weitere Fusionen anstünden. Repsol sei
„deutlich unterbewertet“, meint etwa
die Landesbank Baden-Württemberg,
für die WGZ-Bank ist BP Amoco ein
„Outperformer“. Und beim Weltmarktführer Exxon erwartet die Credit Suisse
First Boston auch im Jahr 2000 „weitere
Gewinnschübe“.
ÖLAKTIEN
Weitere Gewinnschübe
T
rotz kräftiger Kursgewinne im vergangenen Frühjahr sind die Aktien
der Mineralölmultis noch immer unterbewertet, glauben viele Analysten. Den
Grund liefert die Opec. Seit Jahresanfang hat das Kartell den Preis für die
Ölsorte Brent von knapp 10 auf rund
25 Dollar pro Barrel (159 Liter) getrieben. Die Produktion wurde gedrosselt,
die Lagerhaltung abgebaut. Eine anziehende Weltkonjunktur und kalte
Herbsttage in den USA wie in Europa
heizen die Nachfrage zusätzlich an.
Auch im nächsten Jahr, meinen etwa
MineralölAktien
Nov.
55
65
45
55
600
450
350
500
45
35
BP Amoco
in Pence
Enterprise
Oil
250
Jan.
Nov.
Halliburton
Royal Dutch
Shell
in Dollar
in Pence
Quelle: Datastream
400
in Euro
25
Jan.
Nov.
35
Jan.
Nov.
d e r
Jan.
Nov.
mehr als die Hälfte und beim Smax sogar rund drei Viertel aller Titel im Minus. Altbekannte Bewertungsregeln wie hohe
Dividendenrenditen oder niedrige Kurs-Gewinn-Verhältnisse
scheinen vorerst ausgedient zu haben, meint der Münchner
Börsenbeobachter Jens Ehrhardt, lediglich die „Story“ treibe
die Kurse. Die Aktionäre sind entzückt, wenn hohe Wachstumsraten wie bei Internet-Firmen oder große Firmenübernahmen wie bei der Telekommunikation angesagt werden. Die
Kunst des Stock-Pickings bleibt weiter gefragt. Zwar stünden
jetzt „die Börsenampeln auf Grün“, sagt der Experte Ehrhardt, doch am besten sei immer noch die Taktik, nach „unentdeckten Titeln im Wachstumssektor“ zu suchen.
BÖRSE
550
–5
Jan.
Nov.
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Nov.
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GEBÜHREN
Geschröpfte Aktionäre
B
anken und Sparkassen haben eine
weitere Methode entdeckt, die Konten ihrer Kunden zu plündern. Immer
mehr deutsche Aktiengesellschaften
stellen von Inhaberauf Namenspapiere
um, die Geldhäuser
verlangen für die
Umschreibung Gebühren bis zu 40
Mark. Derartige Gebühren seien „nicht
akzeptabel“, meint
Anneliese Hieke
von der Schutzgemeinschaft der
Hieke
Kleinaktionäre
(SdK), zumal die Umschreibungsgebühr
bei der Deutsche Börse Clearing einheitlich nur drei Mark betrage. Die Einführung von Namensaktien liege allein
im Interesse der Firmen, so Hieke, die
Aktionäre sollten sich weigern, solche
Gebühren zu zahlen. Die Methode
könnte sogar rechtswidrig sein, argwöhnt die SdK-Obere, weil im Preisaushang der Banken eine Aktienumstellungsgebühr nicht aufgeführt ist.
ZEITENSPIEGEL
– 10
Quelle:
Datastream
117
Wirtschaft
KONZERNE
Wer ist der Nächste?
Verzweifelt kämpft Mannesmann-Chef Klaus Esser um die Unabhängigkeit seines Konzerns,
doch sein Widersacher von Vodafone scheint auf dem Vormarsch. Die größte Übernahmeschlacht
der Industriegeschichte ist im Gange – sie wird die deutsche Wirtschaft tief greifend verändern.
C
Esser sieht das ganz anders, aber er
konnte den 20-köpfigen Aufsichtsrat der
Mannesmann AG, der am Freitag vergangener Woche in der Zentrale des Düsseldorfer Konzerns zu einer routinemäßigen
Sitzung zusammengekommen war, offenbar nicht vollständig überzeugen. Die Herren, darunter Allianz-Chef Henning Schulte-Noelle und IG-Metall-Chef Klaus Zwickel, halten die Strategie von Gent nicht
von vornherein für unsinnig. „Industriepolitisch würde ein Zusammengehen beider
Konzerne durchaus Sinn machen“, gibt ein
Teilnehmer der Sitzung zu bedenken.
Falls die Aufsichtsräte am Ende den Deal
doch noch ablehnen, haben die Aktionäre
das Wort. Sie müssen entscheiden, ob es
ein lohnendes Geschäft ist, eine Mannesmann-Aktie für 193,10 Euro (Schlusskurs
vom Freitag) gegen 53,7 Vodafone-Papiere
zum aktuellen Kurs von 275,5 Pence zu
tauschen.
Ein hartes Gefecht steht bevor: Für viele ist Mannesmann mehr als nur ein aufstrebendes Unternehmen in der Boombranche Telekommunikation. Zur Disposition steht auch eine der wenigen deutschen
hris Gent wollte keine Zeit verlieren. Stundenlang ließ er deshalb am
vergangenen Freitagmorgen den Piloten seines Lear-Jets startbereit am Flughafen in London warten.
Der Aufwand war vergebens, die erhoffte Einladung aus Düsseldorf blieb aus.
Enttäuscht musste der Chef des britischamerikanischen Mobilfunk-Konzerns Vodafone Airtouch erkennen: „Doktor Esser
hat offensichtlich kein Interesse an einer
konstruktiven Diskussion.“
Dennoch konnte Gent, 51, zufrieden
sein. Kurz zuvor hatte er dem Aufsichtsrat
des Mannesmann-Konzerns das teuerste
Übernahmeangebot in der Wirtschaftsgeschichte vorgelegt – und der hatte es keineswegs rundweg abgelehnt, wie Mannesmann-Chef Klaus Esser, 51, erhofft hatte.
Vielmehr will der Rat die Offerte bis Ende
November in aller Ruhe prüfen.
Für 242,5 Milliarden Mark will Vodafone
im Rahmen eines Aktientausches den deutschen Konzern übernehmen. „Dies ist das
beste Angebot sowohl für die Mannesmann- als auch für die Vodafone-Aktionäre“, versicherte Gent.
Vorzeigefirmen, die sich internationales
Renommee erarbeitet haben und zu den
Lieblingen der Börsianer zählen.
Doch würde der Erfolgskurs durch die
Übernahme beendet? Verfolgt der britischamerikanische Telefonkonzern, der sich
vor allem auf den Mobilfunk beschränkt,
eine schlechtere Strategie als Mannesmann-Chef Esser, der auf die Kombination
von Festnetz und Handy setzt?
Die Fragen können selbst Experten nicht
eindeutig beantworten. Siegt deshalb am
Ende, wie die „Bild“-Zeitung mutmaßt,
„die Geldgier der Aktionäre“?
Begonnen hatte das Duell um Mannesmann am Sonntag vor einer Woche. Nach
wochenlangen Gerüchten über die Pläne
von Vodafone (SPIEGEL 46/1999) war
Firmenchef Gent nach Düsseldorf gereist,
um Esser ein erstes Angebot zu unterbreiten: Für gut 200 Milliarden Mark wollte
Gent den Düsseldorfer Traditionskonzern
kaufen.
Gent ist vor allem an der boomenden
Handy-Sparte (D2) der Düsseldorfer interessiert. Zusammen mit Vodafone, so
rechnete Gent dem Mannesmann-Chef
Vergleich der Giganten
+35
Beteiligungen
Deutschland
Italien
VA R I O - P R E S S
Frankreich
Österreich
Klaus Esser
Umsatz
in Milliarden Mark
davon Telekommunikation
Gewinn
vor Steuern
in Milliarden Mark
Mitarbeiter
insgesamt
Telekommunikation
19,1
5,5
1,3
130 800
27400
in Prozent
Eurokom
Arcor
Mobilfunk D2
Infostrada SpA
Omnitel
Cegetel SA
Telering
Besitzverhältnisse
Aktionäre sind…
jeweils
1. Halbjahr
1999
Quelle: Mannesmann
100,0
74,9
65,2
100,0
55,0
15,0
74,8
+30
+25
Aktienkurse
+20
Veränderungen
seit dem 1. Oktober
in Prozent
+15
… Banken, Investmentgesellschaften u.ä.
78,8%
… Privatanleger
13,6%
+10
…sonstige
7,6%
–5
+5
0
–10
Quelle:
Datastream
Oktober
INS NEWS GROUP
F. ZANETTINI / LAIF
Nach zweistündiger Diskussion
lehnte Esser kühl ab. „Der Übernahmeversuch“, erklärte er später im SPIEGEL-Gespräch (siehe Seite 122), „erfolgt mit einem
einzigen Ziel: Die wollen uns
stoppen.“
Auch das neue Angebot, mit
dem Vodafone seinen ursprünglichen Vorschlag noch einmal um
40 Milliarden Mark erhöhte, lässt
D2-Zentrale in Düsseldorf: Siegt die Geldgier?
Esser kalt. Der Wert der Vodafone-Aktien, die den Mannesmann-Aktionären angeboten werden, sei künstlich hoch gepusht
worden, meint Esser.
Mit großen Emotionen wird
seither um das Für und Wider des
größten feindlichen Übernahmeversuchs in Deutschland debattiert. Mannesmann-Mitarbeiter
gehen zu Protestmärschen auf die
Straße, Gewerkschafter loben
den Kurs des MannesmannChefs, obwohl der selbst im nächsten Jahr den Traditionskonzern
zerlegen will.
Die Angst geht um in Deutschlands Wirtschaft. Wenn schon ein
Unternehmen wie Mannesmann
Vodafone-Zentrale in Newbury: „Einmalige Chance“
in die Gefahr gerät, geschluckt zu
vor, ergäbe sich der größte Mobilfunkbe- werden, ist kaum ein deutscher Konzern
treiber der Welt „mit 42 Millionen anteili- mehr sicher: Wer ist der Nächste?
Noch Anfang des Jahres gab sich Siegen Kunden“ und dominierenden Positionen in mehreren europäischen Ländern. mens-Chef Heinrich von Pierer gelassen,
„Das ist eine einmalige Chance für Euro- wenn er gefragt wurde, ob sein Konzern
pa, die globale Führungsrolle in einer Opfer einer feindlichen Übernahme werHightech-Branche zu übernehmen“, warb den könne. „Davor habe ich keine Angst“,
Gent. „Beide Unternehmen“, so der Vo- so Pierer. Siemens sei alles andere als ein
dafone-Chef, „ergänzen sich blendend und Schnäppchen, ein Käufer müsse mindestens 100 Milliarden Mark aufbringen.
sind natürliche und ideale Partner.“
Inzwischen ist Siemens 150 Milliarden
Mark wert – und dennoch ein Schnäppchen, gemessen an den 240 Milliarden, die
für Mannesmann geboten werden. „Die
Zeiten haben sich geändert“, musste der
Konzernchef vergangene Woche eingestehen, „und damit auch die Preise, die für
Unternehmen gezahlt werden.“
Es hat sich tatsächlich einiges geändert in
der deutschen Wirtschaft, und nach der
Mannesmann-Schlacht, wie immer sie auch
ausgeht, wird nichts mehr so sein wie vordem. Die Ära der Deutschland AG ist unwiederbringlich zu Ende: Vorbei sind die
Zeiten des kuscheligen Konsenskapitalismus, in dem Banken- und Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat die Geschicke der
deutschen Großkonzerne auskungelten –
und das Eindringen ausländischer Konkurrenten verhinderten (siehe Seite 120).
Über das Wohl und Wehe der Konzerne
wird jetzt am Kapitalmarkt entschieden.
„Der Aktienkurs bekommt gegenüber dem
Gewinn und der Dividende immer stärkere Bedeutung“, sagt Viag-Vorstandschef
Wilhelm Simson. „Deshalb ist die zentrale Frage: Wie bringe ich den Aktionären
bei, dass meine Strategie die richtige ist?“
Im Eiltempo holen die deutschen Firmenchefs nun nach, was ihre US-Kollegen
längst hinter sich haben und Analysten und
Fondsmanager seit Jahren fordern. Sie stutzen ihre Gemischtwarenläden aufs Stammgeschäft zurecht, sie fusionieren, stoßen
Teile ab und kaufen zu.
Nie zuvor in der Nachkriegsgeschichte
wurde die deutsche Unternehmenslandschaft derart umgekrempelt: Siemens stößt
die Chip-Sparte ab,Viag verschmilzt seinen
Mischkonzern mit dem Konkurrenten
Veba, Preussag-Chef Michael Frenzel baut
Geschäftszahlen und Strukturen
Mannesmann
Großbritannien Vodafone
Deutschland
Mannesmann
Mobilfunk
Frankreich
SFR
Italien
Omnitel
Pronto Italia
Niederlande
Libertel
Schweden
Europolitan
USA
Australien
Japan
Südkorea
Vodafone Airtouch
November
in Prozent
100,0
34,8
20,0
21,6
70,0
71,1
AirTouchCellular diverse
Cellular One
50,0
PrimeCo
50,0
Vodafone
91,0
J-Phone
20,2 – 28,8
Companies
Shinsegi 017
11,7
außerdem in Belgien, Griechenland, Malta,
Polen, Portugal, Ungarn, Rumänien und
Spanien; auf den Fidschis, in Indien, Neuseeland; in Ägypten, Südafrika und Uganda
Besitzverhältnisse
Aktionäre
sind…
…sonstige
10,6% …Privataktionäre 3,9%
REUTERS
Beteiligungen
… Banken, Fondsgesellschaften u.ä.
85,5%
Chris Gent
jeweils 1.Halbjahr 1999*
Umsatz *
Gewinn *
in Milliarden Mark
vor Steuern
in Milliarden Mark
Mitarbeiter
insgesamt
Quelle: Vodafone Airtouch; *1.Apr.–30.Sept.
17,7
3,7
24 000
Ende einer Ära
Die deutsche Wirtschaft ist feindliche Übernahmen nicht
gewohnt. Im Ausland gehören sie fast schon zum Alltag.
D
ie Attacke von Vodafone gegen del in den USA. Davon zehrt das Land
Mannesmann wäre, wenn sie noch heute, die amerikanische Volks- Protestaktion der IG Metall*
gelänge, nicht nur die größte wirtschaft floriert.
Eins plus eins gleich drei?
feindliche Übernahme der WirtschaftsDie Megadeals dieser Tage dagegen
geschichte, sie würde auch das Ende ei- haben eher strategischen Charakter, nagement eine Übernahme; es muss
ner Ära markieren: Bislang ist es in ihre Triebfeder ist die Globalisierung. um seine Posten bangen.
Deutschland einem Konzern nie ge- „Auch die deutschen Manager“, sagt
In der Wirkung aber bleibt es beinalungen, einen anderen zu übernehmen, Paul Achleitner, Deutschland-Chef der he gleich, ob die Übernahme feindliohne dass dessen Management zu- Investmentbank Goldman Sachs, „sind cher oder freundlicher Natur ist. Spästimmt.
angesichts des weltweiten Struktur- testens wenn die scheinbar friedliche
Der italienische Reifenhersteller Pi- wandels gezwungen, sich im Wettbe- Fusion unter Dach und Fach ist, beginnt
relli scheiterte Anfang der neunziger werb immer wieder neu aufzustellen.“ oft ein Hauen und Stechen. Vor zwei
Jahre dabei, sich Continental einzuSeit 1992 hat sich das Volumen der Jahren wurde die Verschmelzung von
verleiben. Und vor zwei Jahren wehr- Zusammenschlüsse fast versechsfacht. Daimler und Chrysler als „Hochzeit im
te Thyssen den Angriff von Krupp ab; Allein im dritten Quartal dieses Jahres Himmel“ bejubelt. Heute ist klar, dass
der Zusammenschluss der Stahlriesen erreichten sie einen Wert von 780 Mil- Chrysler der Juniorpartner ist, die Würglückte erst, nachdem man sich auf eine liarden Dollar, 46 Prozent mehr als vor fel fallen in Stuttgart.
„Fusion unter Gleichen“ verständigte, Jahresfrist. Die meisten dieser FirmenZudem sind die Ziele, die mit einer
wie die Sprachregelung lautete.
ehen wurden in Europa geschlossen – Fusion angestrebt werden, immer dieBislang sorgten die Banken mit ihren die Manager vieler übernommenen Fir- selben, ob sie nun auf einvernehmliche
verflochtenen Beteiligungen und Auf- men wurden dabei kalt erwischt.
oder aggressive Weise zustande kommt.
So erlangte der italienische Compu- Das neue Unternehmen soll Synergien
sichtsratsmandaten dafür, dass feindliche Übernahmen tabu blieben. Auch terhersteller Olivetti die Kontrolle über entfalten, die Kosten senken und den
das Aktienrecht, das Kleinaktionären die siebenmal größere Telecom Italia. Gewinn steigern. Alle Bereiche, die
vergleichsweise großen Einfluss ein- Die französisch-belgische Energiefirma nicht den Renditeerwartungen entTotalFina attackierte Elf Aquitaine. sprechen, werden abgestoßen.
räumt, erschwerte solche Deals.
Doch nun ist es mit der Gemütlich- Und die drei großen Banken FrankEins plus eins ergibt drei, lautet die
keit vorbei. Der rheinische Konsens- reichs haben sich unlängst eine beispiel- spezielle Arithmetik der InvestmentKapitalismus trifft auf die rauhen Sitten lose Übernahmeschlacht geliefert.
banker, die solche Fusionen einfädeln.
„Es gibt noch viele Dinosaurier in Dass diese Rechnung nicht immer aufder US-Marktwirtschaft. Und da entscheiden am Ende allein die Aktionäre. der Wirtschaft“, sagt Wilder Fulford geht, lehrt allerdings die Erfahrung.
In den Vereinigten Staaten sind von der Investmentbank Salomon
Einzig für die Aktionäre bedeutet es
feindliche Übernahmen seit den spä- Smith Barney in London. „Da wird es einen Unterschied, welcher Natur die
ten achtziger Jahren gang und gäbe, als noch eine Menge feindlicher Aktivitä- Fusion ist. Um die Offerte für die umso genannte Raider („Plünderer“) ihre ten geben“, erwartet er. Als feindlich worbenen Aktionäre attraktiv zu maBeutezüge quer durch die Unterneh- empfindet freilich zunächst nur das Ma- chen, muss der Angreifer einen weit
höheren Aufschlag auf
menslandschaft veranden Aktienkurs bieten
stalteten. Sie kauften
Jäger und Gejagter Strategien bei feindlichen Übernahmen
als bei einer friedlichen
angeschlagene Firmen,
Lösung.
zerlegten sie und verFirma A will Firma B gegen den
gelegener ist, gibt ein höheres
Auch nach der feindkauften die einzelnen
Willen von Vorstand und eventuell
Angebot ab. Die Firma C wird
lichen Übernahme entTeile meist gewinnbrinBelegschaft übernehmen.
dann als „weißer Ritter“ bewickelt sich der Kurs
gend.
zeichnet. Aus der feindlichen
des fusionierten UnterRaider wie Michael
Voraussetzung
Übernahme ist eine freundliche
nehmens deutlich besMilken schlachteten
Es handelt sich um eine Kapitalgegeworden. Firma B verliert in
sellschaft mit handelbaren Anteilen.
jedem Fall zumindest teilweise
ser, ergab eine Studie
Firmen rücksichtslos
ihre Eigenständigkeit.
der Universität Iowa.
aus, doch die ZerschlaFirma A macht den Aktionären ein
Diese Firmen, so wird
gungswelle hatte auch
Mögliche Abwehrstrategien:
Angebot, dessen Aktie zu kaufen
vermutet,
können
ihr Gutes: Sie sprengte
bzw. gegen eigene zu tauschen.
1 Einführung von Mehr- bzw.
leichter Veränderungen
verkrustete Strukturen
Das Angebot liegt dabei deutlich
Höchststimmrechten (in der
vornehmen, ohne viele
und beschleunigte den
über dem aktuellen Wert der Aktie.
Vergangenheit, diese MöglichRücksichten nehmen
nötigen Strukturwankeit existiert ab Juni 2000
zu müssen. Frechheit
Danach gibt es mindestens drei
nicht mehr).
siegt – zumindest an
Optionen:
2 Ausgabe von Aktien
* Gegen die Krupp-Thyssender Börse.
an die Belegschaft.
Fusion im März 1997 in Frank1 Die Aktionäre akzeptieren
furt am Main.
das Angebot.
2 Die Aktionäre lehnen das
Angebot als unattraktiv ab.
120
3 Eine Firma C, die der Firma B
3 Der „weiße Ritter“
schreitet ein.
4 Überkreuzbeteiligungen
mit verschiedenen Partnern.
Alexander Jung
Wirtschaft
dert werden, forderte etwa Hans Peter
Stihl, Präsident des Deutschen Industrieund Handelstags, dass „kerngesunde, im
Wettbewerb erfolgreiche Unternehmen gefleddert und ihre Betriebsteile meistbietend veräußert werden“.
Selbst Bundeskanzler Gerhard Schröder
vergaß alle diplomatische Vorsicht und
warnte in einem Interview mit der Pariser
FOTOS: J. GIRIBAS ( li.); DPA (re.)
B. BOSTELMANN / ARGUM
den Schiff- und Anlagenbauer
zum Touristikkonzern um. Sicherheit bringt das nicht. „Je
interessanter wir von unserer
Unternehmensstruktur her werden“, ahnt Frenzel, „desto interessanter werden wir auch für
potenzielle Aufkäufer.“
Diese Erfahrung muss Mannesmann-Chef Esser gerade machen. Der Börsenwert von Mannesmann übertrifft inzwischen
selbst den von Industriegiganten wie DaimlerChrysler oder SAP. Das so
genannte Kurs-Gewinn-Verhältnis, mit dem
Analysten die Aktien vergleichen, hat den
Wert 200 überschritten, bei einem durchschnittlichen Großunternehmen, das im
Dax vertreten ist, beträgt der Kurs in etwa
das 20- bis 30fache des Jahresgewinns.
Doch für die Übernahmestrategen
scheint der Mannesmann-Kurs kein Hindernis, denn es geht um Marktmacht in einer der Schlüsselbranchen des 21. Jahrhunderts. Nur wer möglichst viele Kunden
mit einer breiten Palette von Kommunikationsangeboten aus einer Hand bedienen
kann, so das Credo der Telefonbosse diesseits und jenseits des Atlantiks, kann auch
in Zukunft überleben.
Schon warnen Politiker und Verbandsfunktionäre vor einem allzu zügellosen
Wettbewerb. Es müsse per Gesetz verhin-
Mannesmann-Sympathisanten Stihl, Zwickel
Warnung vor zügellosem Wettbewerb
Zeitung „Le Monde“ vor feindlichen Übernahmeversuchen bei deutschen Firmen:
Diejenigen, so der Kanzler, die solche Zusammenschlüsse planen, unterschätzten
die Macht des Mitbestimmungsrechts. Deshalb rate er „allen zu Besonnenheit, die
solche Abenteuer wagen wollten“.
Verwundert stellen Politiker fest, dass
die Freigabe des Telefonmarktes nicht nur
die Tarife purzeln ließ und neue Arbeitsplätze schuf, sondern auch zu Kräfteverschiebungen in der Branche führte, die so
schnell nicht zu erwarten waren und nun
politisch kaum noch zu steuern sind.
So sind zwei Jahre nach dem Beginn der
Liberalisierung schon die meisten großen Newcomer auf dem deutschen Markt
mehr oder weniger fest in ausländischer
Hand. Bei der Handy-Firma E-Plus hat
bald Michel Bon, der Chef der France Télécom, das Sagen, bei Viag-Interkom will
British Telecom seinen Anteil von jetzt
45 Prozent zu einer Mehrheit ausbauen.
Die frühere Daimler-Tochter Debitel, die
vier Millionen Handy-Kunden in Deutschland betreut, wurde von der schweizerischen Swisscom übernommen, und die
norddeutsche Telefongesellschaft Talkline
wird von Dänen und Amerikanern beherrscht.
Wenn jetzt auch noch Mannesmann unter britische Kontrolle gerät, dann sind in
den bedeutenden Firmen nur noch das Enfant terrible Gerhard Schmid mit seiner
Mobilcom und Telekom-Chef Ron Sommer Herr im eigenen Haus.
„Wir brauchen eine umfassende Inventur
unserer Telekommunikationspolitik“, leitete Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Wolfgang Clement (SPD) im Oktober
Dinah Deckstein, Klaus-Peter Kerbusk
122
AP
eine neue Debatte um den Wettbewerb in
der Telekommunikation ein. Noch hielt
sich Clement mit klaren Aussagen zurück,
aber das Ziel ist klar: „Unser Regulierungsmodell muss auf den Prüfstand.“
Doch die Politiker können Mannesmann
nicht helfen – und aus der Industrie ist
auch wenig Beistand zu erwarten. SiemensChef von Pierer will sich jedenfalls nicht,
wie vielfach kolportiert, als so genannter
weißer Ritter an Mannesmann beteiligen.
„Wir gehen nicht ins Betreibergeschäft“,
sagt er, „sonst würden wir unser Geschäft
als Zulieferer für andere Telefonanbieter
beschädigen.“ Und Simson bezeichnet die
Gerüchte, die Viag werde als Retter einspringen, als „absoluten Unfug“.
Auf Dauer wird sich die deutsche Wirtschaft, die bislang jeden feindlichen Übernahmeversuch abgewehrt hat, den international üblichen Umgangsformen nicht
verschließen können. Schließlich sind deutsche Unternehmen wie Daimler, Deutsche
Bank, Allianz oder Telekom selbst als Aufkäufer im Ausland auf Jagd.
„Die Deutschen“, mahnt denn auch
Norbert Walter, Chefvolkswirt der Deutschen Bank, dächten bei Fusionen „zu sehr
im Nationalen“. „Feindliche Übernahmen“, warnt auch ein hochrangiger Mannesmann-Aufsichtsrat, „dürfen in Deutschland kein Tabu sein, das werden wir auf
Dauer nicht durchhalten.“
Auf diesen Sinneswandel setzt Vodafone-Chef Gent. Denn so groß ist der
Sprung nicht, den der Engländer schaffen
muss. „Um die Herrschaft im Aufsichtsrat
übernehmen zu können“, sagt Gent, „reichen uns 50,1 Prozent der Aktien.“
Würde sich Esser dann weiter gegen die
Übernahme sperren, dann arbeitet die
Zeit für Gent. Spätestens im Juni 2000
könnte er den Vorsitz im Düsseldorfer Aufsichtsrat übernehmen und den bockigen
Widersacher Esser feuern. Denn dann fällt
die in der Mannesmann-Satzung festgeschriebene Beschränkungsklausel, die
selbst dem größten Einzelaktionär bislang
nur fünf Prozent der Stimmrechte auf
der Hauptversammlung zubilligt, per Gesetz weg.
Doch die Entscheidung darüber, ob Vodafone-Chef Gent der erste Ausländer sein
wird, der ein deutsches Unternehmen gegen den Widerstand der Manager knacken
kann, fällt möglicherweise gar nicht in
Deutschland.
Schon jetzt werden 60 Prozent der Mannesmann-Aktien von ausländischen Anlegern gehalten, vor allem von Fondsgesellschaften. Nach der Übernahme von
Orange, die Ende November abgeschlossen werden soll, beherrschen sie sogar 70
Prozent des Mannesmann-Kapitals.
Und da wird Gent vermutlich mehr
Gehör finden, falls der Mannesmann-Aufsichtsrat sein Angebot am 28. November
endgültig ablehnt.
Telekommunikations-Manager Esser*: „Uns geht es wie Claudia Schiffer“
S P I E G E L - G E S P R ÄC H
„Die wollen uns stoppen“
Mannesmann-Chef Klaus Esser über die Zukunftschancen im
Handy-Markt, seinen Schlafmangel und die aggressiv
geführte Abwehrschlacht gegen den britisch-amerikanischen
Telefonkonzern Vodafone Airtouch
SPIEGEL: Herr Esser, aus der Führung einer
ganz normalen Firma ist eine mit nationalem Pathos aufgeladene Abwehrschlacht
geworden, aus dem eher unbekannten
Konzernchef laut „Bild“ ein „Superhirn“.
Wie fühlen Sie sich in diesen Tagen?
Esser: Das nationale Pathos können wir im
Moment wirklich nicht brauchen. Das
passt nicht in unsere Zeit, das passt vor
allem nicht zu der Strategie von Mannesmann. Wir bauen ein paneuropäisches
Unternehmen mit dem Fokus auf europäische Kunden und Märkte – und wir kämpfen derzeit um das Vertrauen der internationalen Anleger.
SPIEGEL: Selbst die verstehen kaum, dass
ausgerechnet einer der erfolgreichsten
deutschen Konzerne nun ein Übernahmekandidat sein soll.
Esser: Das ganze ist wirklich schwer zu begreifen, das gebe ich zu. Jeder weiß doch,
die Mannesmänner sind auf der Siegerstraße, weil sie mehr Strukturwandel geschafft haben als die anderen, weil sie mehr
Zukunftschancen ergriffen haben. Deshalb
wäre es jetzt schade, wenn uns jemand
stoppt. Und genau deshalb arbeiten wir
* Auf dem Wege zur Aufsichtsratssitzung am vergangenen Freitag.
d e r
s p i e g e l
4 7 / 1 9 9 9
auch hart daran, die Übernahme durch Vodafone Airtouch abzuwehren.
SPIEGEL: Normalerweise verbringt ein Konzernchef seinen Tag damit, Zahlen zu prüfen, Strategien zu diskutieren und Kontakt
zu Großaktionären zu halten. Wie sieht Ihr
Tagesablauf momentan aus?
Esser: Die Kommunikation mit Beratern,
Banken, Analysten, aber auch mit den
wichtigsten Medien des Landes steht eindeutig im Vordergrund. Die Arbeitsbelastung für die Führung des Konzerns ist
derzeit enorm, das eigentliche Geschäft
spielt fast eine Nebenrolle.
SPIEGEL: Mitarbeiter von Ihnen sagen, Sie
hätten schon in den acht Tagen der Übernahme der britischen Mobilfunkgesellschaft Orange nur zwölf Stunden geschlafen. Stimmt das?
Esser: Ich habe nicht einmal mehr Zeit
gehabt, die Stunden zu zählen, die ich
geschlafen habe. Das gilt jedoch für das
gesamte Team.
SPIEGEL: Wie groß muss man sich solche
Teams vorstellen, die derzeit auch die Abwehrschlacht organisieren?
Esser: Das Team besteht aus rund 20 eigenen Leuten. Außerdem sind rund 10 Externe wie beispielsweise Investmentbanker oder Rechtsanwälte permanent be-
Wirtschaft
Wie Phönix
aus der Asche
Entwicklung des Aktienwertes
von Mannesmann
und Vodafone Airtouch
in Milliarden Euro
Übernahme von Airtouch
Quelle: Datastream
1997
1998
1999
in der vergangenen Woche hier war, um
Ihnen ein Kaufangebot zu unterbreiten?
Esser: Natürlich. Die Zeitungskampagne
in England, mit der Vodafone seinen Kurs
hochgetrieben hat, war der eigentliche
Grund für meine Einladung nach Düsseldorf.
SPIEGEL: Sie haben den Angreifer zu sich
eingeladen? In den Zeitungen stand, er sei
aus eigenem Antrieb vorbeigekommen.
Esser: Herr Gent hat meine Einladung auch
nicht direkt angenommen. Er ist erst gekommen, als er sozusagen „ready for takeover“ war. Dann lief alles nach dem Motto ab: „Und bist du nicht willig, so brauch
ich Gewalt.“
SPIEGEL: Hat der Vodafone-Chef Ihnen ins
Gesicht gesagt: Ich möchte die Firma Mannesmann kaufen und dann zerlegen. Sie,
lieber Klaus Esser, werden Ihren Chefposten dann leider räumen müssen?
Esser: So ähnlich. Herr Gent hat ein klares
Angebot gemacht, mündlich und schriftlich. Sonst hätte sich die Reise von London
P. SCHINZLER
schäftigt. Aber auch die anderen Mitarbeiter des Konzerns werden in dieser Phase
sehr stark in Anspruch genommen, um
Zahlen und Analysen für den Vorstand bereitzustellen.
SPIEGEL: Und die Investmentbanker sitzen
jetzt auf der Chefetage?
Esser: Nein, die sitzen an einem streng geheimen Ort. Wir wollen die Vertraulichkeit
gewährleisten. Wir müssen jetzt auf Nummer Sicher gehen und wollen uns keine
Unregelmäßigkeiten vorwerfen lassen.
SPIEGEL: Was meinen Sie damit genau?
Esser: Nehmen Sie doch all die angeblich
undichten Stellen in London, aus denen
Gerüchte über den angeblichen Stand der
Verhandlungen flossen. In Wahrheit – aber
das wissen die Journalisten ja viel besser
als ich – waren diese Informationen eine
gezielte Beeinflussung des Aktienkurses
von Vodafone.
SPIEGEL: Psychologische Kriegsführung
nannte man das früher.
Esser: Mit einer Kriegsführung gegen uns
wären wir spielend fertig geworden. De
facto hatten wir es aber mit einer gezielten
Beeinflussung der Aktionäre zu tun. Die
Meldungen, die in London lanciert wurden, hießen doch: „Wir sind in konstruktiven Verhandlungen mit dem Mannesmann-Management und werden den Konzern zu einem Spottpreis von 200 Euro pro
Aktie übernehmen können.“ Dadurch sollte erreicht werden, dass die Vodafone-Aktionäre in Jubelschreie ausbrechen und der
Kurs unseres Konkurrenten nach oben
rauscht.
SPIEGEL: Sie sagen also: Die MannesmannAktionäre sollten getäuscht werden?
Esser: Man will sie verführen, ihre wertvollen Mannesmann-Aktien gegen Vodafone-Aktien zu tauschen, deren Wert künstlich hochgepusht werden sollte. Ich sage:
Der Vodafone-Aktienkurs gerät extrem
unter Stress. Im schlimmsten Fall zu einem
Zeitpunkt, zu dem unsere Aktionäre ihre
Papiere schon getauscht haben. Das wollen
wir unseren Eigentümern ersparen.
SPIEGEL: Haben Sie das Vodafone-Chef
Chris Gent auch so deutlich gesagt, als er
Netz-Zentrale der Mannesmann-Tochter Arcor: „Reinrassige Telefonfirma“
d e r
s p i e g e l
4 7 / 1 9 9 9
nach Düsseldorf auch nicht gelohnt.
Im Gegensatz zu den Zeitungs160 attacken der beiden Wochen davor
fand ich das ganz in Ordnung. Herr
140 Gent vertritt die Interessen seiner
Aktionäre und ich die unserer Eigentümer.
120 SPIEGEL: Nun beklagt der VodafoneChef, dass Sie sein Angebot nicht
einmal richtig angesehen hätten.
100 Stimmt das?
Esser: Nein, wir haben ein ausführ80 liches Gespräch geführt. Und Sie
dürfen nicht vergessen: Gent und
ich, wir kennen uns schließlich aus
60 früheren Begegnungen.
SPIEGEL: Sie arbeiten ja bis zum
heutigen Tag als Partner in ver40
schiedenen Ländern zusammen.
War es von Anfang an der Plan des
20 Briten, Mannesmann unter seine
Kontrolle zu bringen?
Esser: Ich weiß nur: Der VodafoneChef hat seinen Aktionären die
Vorherrschaft in Europa in Aussicht
gestellt. Das ist der Ursprung all
der hektischen Aktivitäten. Auf den Charts,
die sie den Analysten präsentieren, zeigen sie immer ihre expansiven Pläne zur
Erlangung der Marktführerschaft in Europa. Spätestens nach unserem Kauf von
Orange, der drittgrößten Handy-Firma in
Großbritannien, sind diese Pläne reine
Illusion. Deshalb ist die Überlegung von
Herrn Gent, wir greifen uns Mannesmann,
aus seiner Sicht logisch. Er und seine Aktionäre wissen: Wenn sie uns nur noch ein
paar Monate weitermachen lassen, gibt es
keine Chance mehr, uns den Vorsprung in
Europa wieder wegzunehmen.
SPIEGEL: Damit geben Sie zu, dass Sie der
Aggressor waren. Herr Gent musste den
Kauf von Orange auf seinem Heimmarkt
als Provokation verstehen – und schlägt
nun zurück.
Esser: In dieser Branche ist es durchaus
üblich, dass man auf dem einen Markt gemeinsam marschiert, auf anderen aber
konkurriert. Für uns war immer klar, dass
wir einen so wichtigen europäischen Markt
wie England nicht auslassen konnten.
SPIEGEL: Trotzdem hätte man unter Partnern erwarten können, dass man sich vorher informiert. Warum haben Sie Gent vor
dem Kauf von Orange nicht angerufen?
Esser: Die Geschichte mit Orange ist für
Herrn Gent keine Überraschung gewesen.
Wir haben ihm zwischen Januar und September sehr konkrete Vorschläge für eine
Zusammenarbeit auf dem englischen
Markt gemacht – er lehnte ab. Lediglich in
den vier Tagen, als der Deal ablief, haben
wir nicht telefoniert. Damit hielten wir uns
ganz strikt an die Börsenspielregeln. Als
die Orange-Übernahme durchsickerte, war
ich mit dem Vodafone-Chef sofort in direktem Kontakt.
SPIEGEL: Kam es am Telefon zu heftigen
Reaktionen?
123
Wirtschaft
frieden, natürlich. Aber so ist
Wettbewerb nun einmal. Ich
sehe das wie in der Leichtathletik. Man kann keinen 400Meter-Lauf beginnen und vorher verabreden: „Sie bleiben
aber bitte immer hinter mir.“
SPIEGEL: Nun hat eine Abwehrschlacht begonnen, die
den Konzern nicht nur Nerven, sondern auch viel Geld
kosten wird. Gibt es noch die
Möglichkeit einer friedlichen
Einigung?
Esser: Es gibt verschiedene
Wege einer Einigung. Man
kann beispielsweise verabreden, wir arbeiten überall
konstruktiv zusammen, wo
wir ohnehin schon zusammen
sind, also in Deutschland und
in Italien und in Frankreich.
In allen übrigen Teilen der
Welt macht jeder, was er für
richtig hält.
SPIEGEL: Herr Esser, das ist der
Status quo und kein wirkliches Einigungsangebot.
Esser: Wir hatten Herrn Gent Mahnwache der Röhrenarbeiter vor dem Werk Remscheid: Abspaltung traditioneller Bereiche
aber auch angeboten, beispielsweise in den neuen Handy-Online- hat Herr Gent bei unserem Gespräch auch samte Wirtschaft auf eine starke KonzenDiensten zusammenzuarbeiten. Die so ge- gar nicht bestritten. Er ist allerdings der ir- tration zu. Heute weiß man, dass solche
nannte Wap-Technologie, die das Internet rigen Auffassung, wir seien nur ein bisschen Monopole träge werden und nach einigen
aufs Handy bringt, wird in den nächsten besser. Und dieses Bisschen könnte er den Jahren wieder zerfallen.
SPIEGEL: Also nochmals die Frage: Was ist
Jahren eine neue gigantische Wachstums- Mannesmann-Aktionären bezahlen.
welle hervorbringen. Da stehen wir alle SPIEGEL: Ist es wirklich so unsinnig, was der falsch an der Vodafone-Strategie, eine Geam Anfang, sowohl bei den Inhalten dieser Brite vorschlägt? Seit Karl Marx wissen sellschaft mit 42 Millionen Kunden entsteDienste als auch bei der Technik. Da wer- wir, dass der Kapitalist nach Oligopolen hen zu lassen?
den wir Volumen brauchen. Aber zu die- oder, besser noch, Monopolen strebt. Und Esser: Die Strategie ist weder falsch noch
sem Vorschlag hat sich unser britisch-ame- eine marktbeherrschende Stellung – mit schlecht für Vodafone-Aktionäre. Für un42 Millionen Handy-Kunden –, das ist das, sere Eigentümer fehlt hingegen die Atrikanischer Partner nicht geäußert.
SPIEGEL: Stattdessen ging am Freitagmor- was Herr Gent den Aktionären durch die traktivität. Während Herr Gent nämlich
gen ein Übernahmeangebot bei Ihren Auf- Zusammenlegung der Konzerne anbietet. viele Kunden in Gesellschaften hat, an
sichtsräten ein. Für rund 242 Milliarden Esser: Schon Karl Marx ist einer Irrlehre denen er nur Minderheitsbeteiligungen
Mark will Vodafone die Mannesmann- aufgesessen. Er hat die Welt, das gestehe hält, haben wir die Kunden zumeist in
Aktien übernehmen. Ist das Tischtuch da- ich zu, zu einem sehr ungünstigen Zeit- Mehrheitsbeteiligungen. Und das ist für
punkt betrachtet und analysiert. Damals die künftigen Wachstumsperspektiven sehr
mit endgültig zerschnitten?
Esser: Das darf im Interesse der Aktionäre sah tatsächlich alles so aus, als liefe die ge- wichtig.
nicht zerschnitten werden. Das ist wie beim
SPIEGEL: Warum? Kunde ist Kunde.
Tennis. Nehmen Sie mal die Spieler in
Esser: Eben nicht. Für die neuen
Sie sind verbunden
Wimbledon. Wenn es einer von beiden
Dienste, wie etwa die DatenübertraDie größten Übernahmen der Telekommunikation gung per Handy, braucht man den
nach drei Sätzen nicht geschafft hat, müssen sie es halt fünf Sätze miteinander ausVerbund von Ressourcen. Sie brauKaufpreis
halten. Meist bleiben sie nach einem solchen den Austausch von Teams und
in Milliarden
Käufer
Übernahmeobjekt
Dollar
chen Match sogar Freunde. Ähnlich provon Forschungsergebnissen, nur so
fessionell sollten wir auch mit diesem
bekommen Sie wirklich Synergien
Angebot
129
Vodafone
Mannesmann
Übernahmeangebot umgehen.
organisiert. Das alles ist aber nur
SPIEGEL: Uns erinnert der Übernahmemöglich, wenn man die Kontrolle
Sprint Corp
MCI Worldcom
127
kampf eher an die rauen Sitten im Boxüber die Gesellschaften hat. Das
sport. Da beißt schon mal einer dem anhaben wir viel früher gesehen als
SBC
Ameritech
72
deren im Eifer des Gefechts ein Ohr ab.
Vodafone und auf den Kauf von
Esser: Genau so weit dürfen wir es nicht
Mehrheitsbeteiligungen gesetzt. Bei
Bell Atlantic
GTE
71
kommen lassen. Die Ohren sollten schon
Minderheitsbeteiligungen entstehen
AT&T
Tele-Comm. Inc
69
dran bleiben. Es geht um eine sachliche
wenig Synergien.
Auseinandersetzung. Und da ist unsere PoSPIEGEL: Dafür bietet Vodafone seit
Vodafone
Airtouch
65
sition klar und ganz eindeutig: Wir haben
der Fusion mit der US-Firma Airdie bessere Position, die bessere Strategie
touch die Möglichkeit, die in Europa
AT&T
MediaOne
63
und die besseren Wachstumschancen. Das
entwickelten Produkte der neuen In124
d e r
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K. H. JARDNER
Esser: Herr Gent war unzu-
Werbeseite
Werbeseite
Wirtschaft
ternet-Handys auch in den USA zu vermarkten. Ist das nicht eine verlockende
Perspektive?
Esser: Ja. Das wäre interessant. Allerdings
müssen Sie sehen, dass Vodafone Airtouch
den Kampf um die Mehrheit in den USA
bereits verloren hat. Im Ringen um die
landesweite Präsenz hat man Anfang
September mit Bell Atlantic einen Vertrag
gemacht und alle Aktivitäten zusammengeworfen. In der neuen, wirklich gut aufgestellten Gesellschaft, hat Vodafone allerdings nur 45 Prozent der Anteile und ist
bereits auf dem Rückzug.
SPIEGEL: Woran erkennen Sie das?
Esser: Der Vertrag enthält eine Ausstiegsklausel für Vodafone. Warum soll ich denn
Mannesmann-Aktionären raten, in einen
Apfel zu beißen, der bereits vergiftet ist?
Vodafone sitzt in der Klemme – nicht wir.
SPIEGEL: Ist das auch der Grund, warum
Sie glauben, keinen weißen Ritter zu brauchen, der in der Übernahmeschlacht hilft?
Esser: Vielleicht wäre es möglich, befreundete Unternehmen anzurufen und zu sagen, wollt ihr euch nicht mit 20 oder 30
Prozent hier in die Türe stellen. Aber es
entspricht nicht unserer Mentalität, uns
hinter einer Wagenburg zu verschanzen.
Das würde die Glaubhaftigkeit eines klar
wertorientierten Kurses zerstören.
SPIEGEL: Machen Sie den Anlegern da nicht
etwas vor? Das Hoch der Mannesmann-
Aktie von zeitweise über 200 Euro ist doch als Finanzvorstand angefangen habe, lag
eindeutig durch die Übernahmephantasie der Börsenwert von Mannesmann bei rund
ausgelöst.
12 Milliarden Mark, heute beträgt er schon
Esser: Da halte ich dagegen: Die Wachs- 200 Milliarden Mark. Das bedeutet, dass
tumsperspektiven für den Konzern sind gi- der Kreis derer, die Mannesmann übergantisch. Das Datengeschäft bei den Han- nehmen können, immer kleiner wird.
dys wird uns einen neuen Schub bringen. SPIEGEL: In Zeiten des Turbo-Kapitalismus
Die beiden Mannesmann-Festnetzgesell- scheint diese Gleichung nicht mehr aufzuschaften Arcor und Otelo, die Konkurren- gehen. Sie sind doch gerade wegen Ihrer
ten wie Mobilcom inzwischen weit abge- Wertsteigerung – die Aktie legte um mehr
schlagen haben, sind noch in der
als 900 Prozent in fünf Jahren zu
Start-up-Phase, genau wie un– ein attraktiver Kaufkandidat
sere italienische Festnetzgesell- „Warum sollen geworden.
schaft Infostrada. Das heißt, wir Mannesmann- Esser: Wir lebten bisher sehr gut
Aktionäre in damit, dass uns die Konkurrenz
stehen nicht am Ende einer
Wachstumsperiode, wie es bei
bewundert. Uns geht es da wie
einen Apfel
Vodafone mit der ausschließClaudia Schiffer, die muss schon
beißen, der
lichen Konzentration auf Moseit zwölf Jahren damit klarbereits
bilfunktelefonie der Fall ist, sonkommen, dass ihr auf der Straße
dern in vielen Bereichen vor vergiftet ist?“ mehr Leute nachgucken als aneinem neuen Aufbruch. Die
deren Frauen.
Schlussfolgerung für den Mannesmann- SPIEGEL: Aber Sie versprechen jetzt, wir
Aktionär kann deshalb nur sein: Lasst dem werden immer hübscher, immer wertvoller.
Konzern noch ein wenig Zeit, und er wird Ist das noch realistisch?
uneinholbar den europäischen Spitzen- Esser: Die Telefonbranche ist nach über
platz belegen.
hundert Jahren Monopol unheimlich in BeSPIEGEL: Selbst wenn diese Abwehrschlacht wegung, da gibt es tausend Chancen. Ungewonnen wird, steht der nächste Angrei- ser Konzept heißt beschleunigtes Wertefer vor der Tür, wahrscheinlich eine ame- wachstum. Im nächsten Jahr zünden wir
rikanische Firma.Wie wollen Sie sich gegen zum Beispiel den kleinen Turbolader der
Konzernteilung, der eine nennenswerte
weitere Attacken schützen?
Esser: Die Gefahr wird von Woche zu Wo- Steigerung in der Bewertung des Unterche geringer. Als ich vor fünfeinhalb Jahren nehmens bringen wird. Wir spalten das tra-
M. DANNENMANN
Manager Esser (r.) beim SPIEGEL-Gespräch*: „Vodafone ist in der Klemme – nicht wir“
ditionelle Geschäft als Maschinenbauer
und Autozulieferer ab und sind dann erstmals eine reinrassige Telefonfirma.
SPIEGEL: Und das soll den Kurs noch mal
nach oben katapultieren?
Esser: Viele Fonds, die nur lupenreine Telefonfirmen kaufen, meiden uns heute
noch. Das wird sich mit der Zweiteilung
schlagartig ändern.
SPIEGEL: Sie haben bei Ihrer Klage gegen
die Investmentbank Goldman Sachs, die
Vodafone im Übernahmepoker berät, eine
* Mit den Redakteuren Frank Dohmen und Gabor Steingart in der Düsseldorfer Konzernzentrale.
Schlappe hinnehmen müssen. Das Gericht hat Ihre Auffassung, die Banker
hätten Geheimnisse verraten, die sie aus
der Mannesmann-Beratung bei Orange
gewonnen hätten, schroff zurückgewiesen. War die Anrufung des Gerichts ein
Fehler?
Esser: Das war kein Fehler. Wir haben
uns bemüht, unsere Interessen zu vertreten.
SPIEGEL: Zumindest in der deutschen Wirtschaft sind Ihnen alle Sympathien sicher.
DIHT-Präsident Hans Peter Stihl hat sogar
ein generelles Verbot von Übernahmen gefordert, wenn das Ziel eine Zerschlagung
des Konzerns ist. Haben Sie sich über die
Schützenhilfe gefreut?
Esser: Ich habe NRW-Ministerpräsident
Wolfgang Clement, der sich freundlicherweise über den Stand der Dinge erkundigt
hat, gesagt: Wir müssen darauf achten, dass
absolut null Prozent nationales Sentiment
in die Diskussion hineinkommt. Das ist
eine Denke von gestern. Die können wir
nicht gebrauchen. Und schon gar nicht in
einem Konzern, der einen Großteil seiner
Mitarbeiter in europäischen Nachbarländern beschäftigt.
SPIEGEL: Ihre gesamte Argumentation zielt
auf den Aktionär, der soll dem heutigen
Management und seiner Strategie vertrauen. Welche Rolle spielen in Ihren Überlegungen die Mitarbeiter, die extrem verunsichert sind, zornig und hilflos zugleich.
Esser: Ich weiss, es ist emotional für die
Mitarbeiter kaum zu verarbeiten, was da
passiert. Sie alle sind in den letzten Jahren
schneller gerannt als die Konkurrenz und
müssen nun erleben, dass ihnen von der
Tribüne Knüppel zwischen die Beine geworfen werden. Das ist hart, denn der
Übernahmeversuch erfolgt mit einem einzigen Ziel: Die wollen uns stoppen. Aber
wir werden das alle miteinander durchstehen, so ist das Leben. Der Markt hat
immer Recht.
SPIEGEL: Herr Esser, wir danken Ihnen für
dieses Gespräch.
AP
obersten Verfassungshüter 1995 in ihrem
Urteil zur Vermögensteuer aufgestellt haben, als unverbindliche Meinungsäußerung
der Karlsruher Kollegen deklassiert hat,
pressiert es in deutschen Finanzgerichten.
Die in München gescheiterten Kläger,
ein Unternehmer-Ehepaar aus dem Rheinland mit einer Steuerbelastung aus Einkommen- und Gewerbeertragsteuer von
rund 60 Prozent, wollen schon nächste Woche in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde gegen den Spruch des Finanzhofs einlegen.
Hat der Fall „Halbteilung“ dort erst einmal ein Aktenzeichen, dann können Finanzgerichte einschlägige Klagen nicht
mehr entscheiden. Sie müssen auf die Verfassungsrichter warten. Und auf die, das
haben Deutschlands Finanzämter in den
vergangenen Jahren mit unzähligen Einsprüchen gegen Steuerveranlagungen leidvoll erfahren, ist kein Verlass.
„Es soll mit allen Mitteln verhindert
werden“, so der Anwalt der Kölner Kläger
Philipp Thouet, „dass allzu viele Fälle offen bleiben.“
Mit ihrer Entscheidung – eine Belastung
aus Einkommen- und Gewerbeertragsteuer von insgesamt rund 60 Prozent des zu
versteuernden Einkommens sei „nicht verfassungswidrig“ (BFH) – hat der Elfte Senat des Bundesfinanzhofs unter dem Vorsitz der gerade zur BFH-Präsidentin beruZweiter Senat des Verfassungsgerichts, Richter Kirchhof (2. v. l.): Erfinder der Hälftigkeit
STEUERN
Darf der Staat dem Bürger mehr als die Hälfte seines
Einkommens abnehmen? Das Bundesverfassungsgericht sagt nein,
der Bundesfinanzhof ja. Das letzte Urteil steht noch aus.
D
as Finanzgericht Köln widerlegte
vorigen Mittwoch eindrucksvoll
Volkes Meinung, wonach die Mühlen der Justiz langsam mahlen. Innerhalb
von zwei Stunden erledigten die Kölner
Finanzrichter 23 Klagen – macht pro Fall
5 Minuten und 13 Sekunden.
Schon tags darauf konnten die Anwälte
per Telefon die Urteile erfahren: alle Klagen abgewiesen. Eine juristische „Massenexekution“, so Peer-Robin Paulus, Justiziar
der Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer, wie sie vor deutschen Finanzgerichten derzeit gar nicht selten ist.
Bei allen Klagen geht es derzeit um dasselbe Thema: Steuerzahler wehren sich unter Berufung auf das Bundesverfassungsgericht, deutlich mehr als die Hälfte ihres
Einkommens beim Fiskus abzuliefern.
Seit Anfang des Monats der Bundesfinanzhof (BFH) in München den so genannten Halbteilungsgrundsatz, den die
128
DPA
Grenzen für den Fiskus
Belastung ohne Ende?
Minister Eichel, BFH-Präsidentin Ebling
Das klagende Ehepaar bezieht sein Einkommen hauptsächlich aus Gewerbebetrieb
fenen Richterin Iris Ebling ein Problem
nach Karlsruhe zurückgeschickt, über
das Deutschlands Topjuristen streiten, solange es das Grundgesetz gibt: Sind dem
Staat qua Verfassung bei der Besteuerung
seiner Bürger Grenzen gesetzt? Und wo
sind diese Grenzen zu ziehen?
Mit ihrer verklausulierten Formel im
Vermögensteuerurteil, wonach die steuerliche Gesamtbelastung des Bürgers höchstens „in der Nähe einer hälftigen Teilung
zwischen privater und öffentlicher Hand“
liegen dürfe, meinten die Verfassungsrichter 1995, einen ersten Schritt hin zu einer
verfassungsmäßig eindeutig festgelegten
Grenze für den steuereintreibenden Staat
getan zu haben.
Umso überraschter waren die Richter
von damals, allen voran der Berichter-
Gesamtbetrag der Einkünfte 648595 Mark
zu versteuerndes Einkommen 622878 Mark
Einkommensteuer
Kirchensteuer
–260262 Mark
–23396 Mark
von der Gemeinde erhobene
Gewerbeertragsteuer
–113170 Mark
Steuerlast
–396828 Mark
Die Belastung des Gesamtbetrags der Einkünfte beträgt
61,2 %
Damit ist nach Meinung der Kläger der Halbteilungsgrundsatz verletzt, wonach die steuerliche Gesamtbelastung nicht mehr als 50%
des Einkommens betragen dürfte.
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Bis zu hundert Prozent Steuern
Werbeseite
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Wirtschaft
statter in Steuersachen, Paul Kirchhof,
als sie dann erfuhren, was die Kollegen
des Finanzhofs aus ihrem Ansatz gemacht
hatten.
Die Verfassungsrichter stoßen sich gleich
an mehreren Punkten der Münchner Entscheidung. Frech behaupten die Finanzrichter, die Passage zur „hälftigen Teilung“
zwischen Bürger und Staat sei kein tragender Bestandteil des damaligen Urteils
des Verfassungsgerichts gewesen und deshalb für andere Gerichte auch nicht verbindlich.
Gerade weil einer vom Zweiten Senat, der Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang
Böckenförde, damals vehement gegen die
Festlegung auf eine verfassungsmäßige Besteuerungsgrenze plädierte, haben die übrigen sieben im Urteilstext ausdrücklich festgelegt, dass die umstrittene Passage zu den
„tragenden Gründen“ des Urteils gehöre
und somit verbindlich sei.
Wenn es Schule machen würde, so werden die Münchner in Karlsruhe gescholten, dass Oberste Gerichte in Deutschland
sich gegenseitig die Verbindlichkeit ihrer
Urteile bestreiten, dann würde sich ein
ernstes Problem für die Autorität der
Rechtsprechung ergeben.
Auf völliges Unverständnis stößt bei Verfassungsrichtern auch die Behauptung der
Finanzkollegen, eine steuerliche Belastungsobergrenze sei dem Grundgesetz
nicht zu entnehmen.
Die Verfassungshüter in Karlsruhe berufen sich bei ihrer Suche nach einer quan-
Bürger, Bauer und Edelmann
mehr als die Hälfte
des Einkommens belassen
titativen Begrenzung des Steuerstaates auf
eine gefestigte Verfassungstradition in
Deutschland, die bis zu Friedrich dem
Großen zurückzuverfolgen sei. Selbst im
Kriegsfalle, hat der in seinem zweiten politischen Testament niedergelegt, solle Bürger, Bauer und Edelmann mehr als die
Hälfte seines Einkommens belassen werden. Die Rechtsidee, mehr als die Hälfte
dürfe es nicht sein, sei als Ausdruck staatspolitischer Klugheit schon in der vorkonstitutionellen Zeit geboren.
Mit solchen historischen Exkursen überzeugte vor allem der damalige Berichterstatter Paul Kirchhof seine Kollegen,
dass auch der moderne Staat gerade dort,
wo er am mächtigsten ist, nämlich als Steuerstaat, durch die Grundrechte gestoppt
werden muss.
Bis zur Erfindung der Hälftigkeit hatte
sich das Verfassungsgericht mit einer
nur vagen Festlegung dieser Grenze
beholfen. Danach setzte die Eigentumsgarantie des Artikels 14 Grundgesetz
gegenüber dem steuereintreibenden Staat
erst dann ein, wenn der Staat seinen
Steuerbürger mit seinen Forderungen zu
130
„erdrosseln“ drohte, ihn in seiner Existenz
gefährden würde.
Ein völlig unzureichender Ansatz, fanden die Verfassungsrichter in ihrer Diskussion heraus. Wenn die Wegnahme von Eigentum eine Enteignung sei, so müsse das
auch beim Steuerrecht gelten. Primäres
Ziel und Ausdruck der Freiheit des Bürgers
sei es, für sich und seine Familie Einkommen zu erwirtschaften. Erst sekundär habe
der Staat, der für den Bürger Leistungen
erbringe, ein Zugriffsrecht.
Die Folgerung der Verfassungsrichter:
Eine Besteuerung oberhalb von 50 Prozent
würde diese grundlegende Reihenfolge des
freiheitlichen Grundgesetzes umkehren.
Ärgerlich nahmen Verfassungsrichter zur
Kenntnis, dass ihre Kollegen in München
mit ihren Argumenten in alte Zeiten
zurückkehrten, wonach Steuerpflicht
nur dann die Eigentumsgarantie des
Artikels 14 verletzen könne, wenn die
Besteuerung zu einer Existenzgefährdung
führen würde. Das Prinzip der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit, so die
Konsequenz aus der Argumentation des
Finanzhofs, ließe eine Besteuerung bis zu
hundert Prozent zu.
Völlig falsch, wird in Karlsruhe kritisiert.
Leistungsfähigkeit ist nach dem Verständnis des Grundgesetzes Ausdruck individueller Freiheit und nicht Bemessungsgrundlage für Umverteilung.
Der Spruch des Bundesfinanzhofs jedenfalls, hätte er Bestand, würde alles beenden, was das Verfassungsgericht in seinem ersten verschwommenen Versuch,
dem Steuerstaat eine grundgesetzliche
Schranke vorzuschieben, angelegt hat. Die
wichtige Botschaft der „Hälftigkeitspassage“ wird in Karlsruhe jedenfalls darin gesehen, dass bei 50-prozentiger Besteuerung
eine Grenze sichtbar wird, die noch zu
präzisieren ist, zuerst vom Gesetzgeber,
und wenn der es nicht tut, vom Verfassungsgericht.
Zu klären wären zum Beispiel noch
die Details, ob und in welcher Höhe bei
der Steuerbelastung indirekte Steuern
berücksichtigt werden müssen, wo oberhalb von 50 die Nähe zur „hälftigen Teilung“ aufhört und die Verfassungswidrigkeit beginnt.
Am Donnerstag vergangener Woche endete die zwölfjährige Amtszeit des glühendsten Verfechters der Begrenzung des
Steuerstaates: Paul Kirchhof packte in
Karlsruhe seine Akten.
Immerhin hat er 1995 außer einem Kollegen alle Mitglieder des Zweiten Senats
von seinen Ideen überzeugt. Über die Verfassungsbeschwerde, die in der nächsten
Woche eingereicht wird, hat erneut der
Zweite Senat zu entscheiden.
Wenn das Verfassungsgericht konsequent bleibt, dann kann es gar nicht
anders, als die Münchner BFH-Entscheidung zu kassieren – auch ohne Paul
Kirchhof.
Heiko Martens
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Wirtschaft
BAU I N D U S T R I E
Über den Löffel balbiert
Die Deutsche Bank wusste anscheinend seit langem von der
drohenden Pleite des Baukonzerns Philipp Holzmann.
Jetzt will sich das Kreditinstitut vor der Verantwortung drücken.
132
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AP
R. ROSICKA / RIRO
J
ürgen Bilstein hatte am vorvergangenen Sonntagmorgen
größte Mühe, die rund 150 in
der Philipp-Holzmann-Zentrale
versammelten Banker von seiner
eigenen Bedeutung zu überzeugen. Doch der Bereichsvorstand
der Deutschen Bank konnte seine misstrauischen Kollegen nicht
beeindrucken. Einige wollten Bilsteins Chef sprechen – und zwar
sofort.
Der Deutsche-Bank-Vorstand
Carl von Boehm-Bezing, zugleich
Aufsichtsratschef bei Holzmann,
sollte sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Die mit 15
Mann bei der Krisensitzung vertretenen Deutschbanker mussten
ihn schließlich zu Hause anrufen.
Doch auch Boehm-Bezing
konnte den aufgebrachten Vertretern der 20 Hauptkreditgeber
des Unternehmens nichts anderes
vermelden als die blanke Katastrophe: Der zweitgrößte deutsche Baukonzern, dessen Vorstand noch im Mai Gewinne versprochen hatte, ist überschuldet.
Ein neues 2,4-Milliarden-MarkLoch droht die seit Jahren kriselnde Firma zu vernichten, wenn
die Gläubigerbanken dem Sanierungskonzept nicht zustimmen.
28 000 Jobs sind in Gefahr, dazu
könnten noch 40 000 Stellen bei Holzmann-Zentrale in Frankfurt: Verluste vertuscht
Zulieferern kommen.
Angeblich, so beteuerte Boehm-Bezing,
Auf Sand gebaut
sei das Milliardenloch aus dem ImmobiHolzmann-Kredite bei
liengeschäft völlig überraschend aufgedeutschen Banken
taucht, ehemalige Vorstände und Mitarbeiter hätten es gezielt vertuscht, der KonHAUPTGLÄUBIGER KREDITE in Millionen Mark
zern werde Strafanzeige stellen. Weder die
Deutsche Bank noch der von ihr vor zweiDeutsche Bank
einhalb Jahren eingesetzte neue VorstandsHypoVereinsbank
783
chef Heinrich Binder hätten die Verluste
auch nur ahnen können.
Bayer. Landesbank
574
Überzeugt hat die Rechtfertigung keiCommerzbank
482
nen der anwesenden Vertreter der GläubiHess. Landesbank
456
gerbanken. Schließlich ist die Deutsche
Bank seit über 82 Jahren an Holzmann be436
Bankges. Berlin
teiligt und hatte jederzeit Einblick in alle
DG Bank
367
Bücher.
356
Tatsächlich hat die Bank zusammen mit
Dresdner Bank
dem Vorstand des Unternehmens offenbar
208
BHF Bank
monatelang die Verluste verschwiegen, an172
WestLB
dere Institute getäuscht und in der Zwi-
schenzeit ihren Ausstieg aus dem desaströsen Konzern in die Wege geleitet. Das
bestätigen interne Dokumente und zahlreiche hochrangige Holzmann-Mitarbeiter.
Obendrein sollen nun andere für die
Deutsche Bank die Zeche zahlen. Denn
der Sanierungsvorschlag für Philipp Holzmann trägt eindeutig die Handschrift der
Deutschbanker: Er bevorzugt allein das eigene Institut.
Mit „erpresserischem Zeitdruck sollten
wir über den Löffel balbiert werden“,
schimpft einer der Banker. „Der Vorschlag
entspricht weder dem guten Brauch noch
den guten Sitten“, ein anderer.
Denn die Deutsche Bank will ihren Anteil an den für Holzmann benötigten rund
drei Milliarden Mark nicht an den tatsächlich ausgereichten Krediten von
1,83 Milliarden Mark festmachen
– dann müsste sie 30 Prozent des
Geldes, also etwa eine Milliarde
Mark, zuschießen. Stattdessen
will sie, bemessen am schlecht besicherten Teil ihrer Kredite, nur
18,5 Prozent übernehmen.
Den anderen Gläubigern zufolge käme die Deutsche Bank selbst
bei einer Quote von 30 Prozent
immer noch viel zu gut weg.
Binder
Denn: Bis Ende vergangenen Jahres hielt sie 25 Prozent an der maroden
Firma, die seit vier Jahren Verluste schreibt
und deshalb juristisch gesehen in Not ist.
Laut einer auf einem BGH-Urteil basierenden Rechtsprechung müsste die Deutsche Bank deshalb alle zwischen 1994 und
Ende 1998 an Holzmann gegebenen Kredite als Eigenkapital ausweisen. Dann aber
würden die Darlehen im Fall eines Konkurses zuletzt bedient.
Die Commerzbank fordert deshalb, die
„Deutsche“ müsse eine Milliarde Mark
ihrer Darlehen als Eigenkapital ausweisen,
die Hessische Landesbank hält 400 Millionen für angemessen.
Die ganze Woche über haderten die
Banken über den Sanierungsbeitrag des
Marktführers, eine zweite, zehnstündige
Krisensitzung am Donnerstag brachte
einstweilen kein Ergebnis. Sollten die
Gespräche endgültig scheitern, drohen
die Gläubigerbanken dem Branchenprimus ganz offen.
Im Fall eines Konkurses werden
die im Gläubigerausschuss
1832
versammelten Institute den Konkursverwalter dazu zwingen, das gesamte
Kredit-Engagement der Deutschen Bank
als Eigenkapital – und somit nachrangig –
zu bedienen. Obendrein wäre ihre Beteiligung von 15 Prozent so gut wie wertlos.
„Wenn es ganz dick kommt“, so ein Manager der Deutschen Bank, „verlieren wir
bei Holzmann drei Milliarden Mark.“
Bis Freitag allerdings weigerte sich der
Geldkonzern, seine Darlehen als Eigenkapital zu betrachten. Denn die Verluste,
behauptet die Bank, stammten zwar aus
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Werbeseite
Wirtschaft
P. GINTER / BILDERBERG
Altlasten des Baukonzerns, seien aber nicht
erkennbar gewesen.
Doch warum stellte
dann Aufsichtsratschef
Boehm-Bezing schon
auf der Holzmann-Aufsichtsratssitzung am 5.
Mai dieses Jahres fest,
die Firma habe „ein zu
kurzes Hemd“? Heute
sagt er, die Äußerung
habe sich auf zusätzliche
Aktivitäten bezogen.
Aus dem Protokoll geht
das nicht hervor.
Warum briefte Volker
Wuppertaler
Butzke, Jurist der DeutSchwebebahn
schen Bank, den Holzmann-Vorstand mit Antworten für kritische
Fragen in der Hauptversammlung am 30.
Juni? Und warum ging der Deutschbanker
Lutz Robra, ein Controller, bei Holzmann
ein und aus? Führende Holzmänner gaben
ihm den Beinamen „Überkontrolleur“.
Zusammen mit dem Leiter des KonzernRechnungswesens, Heinz Rauch, habe
Robra jedes Zahlenwerk durchgekaut –
und Boehm-Bezing umgehend weitergemeldet. „Der kannte jedes Komma“, grummelt ein Holzmann-Manager und empört
sich über „die unglaubliche Show der Ahnungslosigkeit, die jetzt abgezogen wird“.
Mit im Showgeschäft: die HolzmannVorstände. Seit eineinhalb Jahren wissen
Binder und seine Beisitzer Johannes Ohlinger und Rainer Klee offenbar um ein
neues, immenses Loch im Immobiliengeschäft. Die Betroffenen bestreiten dies.
Doch schon im Mai 1998 hatte der damalige Vorstand der Holzmann Bauprojekt AG, Hansjürgen Karrenbauer, seinem
Konzernvorstand schriftlich mitgeteilt, dass
die 1997 vorgenommene Wertberichtigung
von 700 Millionen Mark nicht ausreiche.
Karrenbauer wollte Immobilien losschlagen. Doch das war bei den überzogenen Preisen, zu denen die Ladenhüter in
den Büchern standen, unmöglich. Karrenbauer forderte deshalb vom Konzernvorstand eine weitere Abwertung um rund 500
Millionen. Ende August musste er gehen.
Sein Nachfolger Klaus Heidkamp taxierte den Wertberichtigungsbedarf im
Herbst vergangenen Jahres gar auf eine
Milliarde Mark. Abgang im Sommer 1999
– angeblich wegen Kompetenzanmaßung.
Interne Aufstellungen wie die Projektliste, die der heutige Bauprojekt-Vorstand
Friedhelm Samuel dem Konzern-Finanzchef Klee im März überreichte, hielt das
Unternehmen ebenso unter Verschluss wie
ein Gutachten der Wirtschaftsberatung
McKinsey aus dem Frühjahr 1998, die einen
Wertberichtigungsbedarf von mehr als einer Milliarde Mark aufdeckte.
Holzmanns Hausprüfer von der KPMG
hatten schon im Frühjahr größte Bedenken, die Bilanz 1998 zu testieren. Der Jah134
Halbjahresbericht bei Binder ab – das
Desaster wurde sichtbar. Am 30. flog
Binder nach London, um Analysten Rede
und Antwort zu stehen. Doch BoehmBezing ließ die Veranstaltung platzen. Er
zitierte den Holzmann-Chef sofort zurück
und verbot ihm, öffentlich Daten zu nennen. Boehm-Bezing bestreitet das – er habe
Binder nur gesagt, dass er in Frankfurt
„gebraucht wird“.
Jetzt traten die Manager die Flucht nach
vorn an. Die Schitag-Prüfer pflügten
erneut durch die Bücher und fanden das
2,4-Milliarden-Mark-Loch. Die Misere ist
das Ergebnis eines Geschäftsgebarens, das
Branchenkennern schlichtweg „wahnsinnig“ erscheint.
So hat das Unternehmen am Magdeburger Hauptbahnhof das City-Carré gebaut
und dem Eigentümer eine Miete von rund
26 Mark pro Quadratmeter garantiert – bei
ortsüblichen Spitzenmieten von bestenfalls
18 Mark. Schon im April hatte die Projekttochter deshalb Ohlinger und Klee Rapport
erstattet. Die Rückstellungen von 63 Millionen Mark reichten ihrer Ansicht nach
bei weitem nicht aus. Das wahre
Risiko liege bei 348,5 Millionen.
In feiner Gesellschaft
Weitere Verluste und Risiken: 140
Pannenchronik der Deutschen Bank
Millionen bei der Veranstaltungshalle Kölnarena, über 100 MillioDezember 1992
nen Mark bei der Schwebebahn in
Bei dem Vergleich der Duisburger Klöckner-Werke
Wuppertal und etwa 100 Millionen
AG wird der Deutschen Bank vorgeworfen, ihren
Dollar aus einem Gerichtsverfaheigenen Sanierungsbeitrag auf Kosten anderer Gläuren, das die US-Behörden anstrenbiger unangemessen gering zu halten.
gen. Holzmann soll beim Bau von
Juli 1993
Kläranlagen in Ägypten die ameriDie Dresdner Sachsenmilch und ihr Großaktionär
kanischen Auftraggeber betrogen
Südmilch werden zahlungsunfähig. Die Deutsche
haben. Eine Hundertschaft der
Bank, die zwei Jahre zuvor die Sachsenmilch an die
Polizei durchsuchte deshalb im
Börse gebracht hat, nimmt von den Sachsenmilchvergangenen November die HolzZeichnern die Aktien zum Emissionskurs zurück.
mann-Zentrale, bilanziert wurde
Dezember 1993
das Risiko im Abschluss für 1998
Wegen missratener Termingeschäfte mit Öl droht
trotzdem nicht.
der Frankfurter Metallgesellschaft der Konkurs.
Inzwischen ermittelt die StaatsDer Aufsichtsratsvorsitzende Ronaldo Schmitz, im
anwaltschaft gegen Ex-Chef Lothar
Hauptberuf Vorstandsmitglied der Deutschen Bank,
Mayer und weitere sieben Holzräumt ein, er habe das Ausmaß der milliardenschweren
männer. Den neuen Vorstand und
Öl-Spekulationen nicht erkannt.
Aufsichtsrat treffe dagegen kein
April 1994
Verschulden, behauptet Binder.
Der Frankfurter Baulöwe Jürgen Schneider ist pleite.
Trifft es aber zu, dass alle WarSchneiders Projekte wurden leichtfertig finanziert –
nungen ignoriert wurden, droht ihvor allem von der Deutschen Bank, die mit 1,2 Millinen ein Verfahren wegen Bilanzfälarden Mark größter Geldgeber des Spekulanten war.
schung. Und nicht nur das.
Juni 1994
Die Rechtsabteilung der ComKriminelle Machenschaften des Vorstands treiben die
merzbank prüft eine Strafanzeige
westfälische Balsam AG – Hauptgläubiger war die
gegen die Herren Binder und Co.
Deutsche Bank – in den Ruin. Der Aufsichtsrat hat
Denn die Vorstände ließen sich von
die Luftbuchungen nicht bemerkt.
dem Institut noch am Freitag vor
Mai 1996
einer Woche 50 Millionen Mark auf
Bei der Kölner KHD wird der Hauptaktionär Deutsche
Firmenkonten überweisen. Obwohl
Bank (48 Prozent) von einem 650-Millionen-Marksie wussten, dass der Konzern um
Verlust überrascht.
2,4 Milliarden überschuldet war.
November 1999
Ganz anders übrigens die DeutDer Baukonzern Philipp Holzmann steht vor dem Aus,
sche Bank. Sie hat in den letzten
nachdem sich ein Schuldenloch von 2,4 Milliarden
zwölf Monaten ganz diskret KrediMark aufgetan hatte. Hauptfinanzier und zweitgrößter
te in Höhe von knapp 300 Millionen
Anteilseigner des Baukonzerns ist die Deutsche Bank.
Mark zurückgeführt.
resabschluss sei „an der Grenze des Vertretbaren“, warnten sie den Aufsichtsrat
am 5. Mai. Außerdem wiesen die Prüfer
darauf hin, dass in diesem Jahr erneut „Altlasten auftreten könnten“, die im Protokoll
der Sitzung detailliert aufgezählt sind.
Am 29. April – schon vor der Aufsichtsratssitzung – lag schließlich laut Insidern
das Schitag-Gutachten über Verluste bis
Ende 1997 im Hause vor. Doch Binder behauptet, er habe die Expertise erst Anfang
Juni erhalten. Dort waren 3,318 Milliarden
Mark Altverluste ausgewiesen, darunter
1,7 Milliarden aus dem Immobiliengeschäft. Der Aufsichtsrat, berichtet ein Sitzungsteilnehmer, bekam von dem Gutachten nur das Inhaltsverzeichnis zu sehen.
Bis zuletzt täuschte Binder offenbar seine Anleger. Die Sanierung sei abgeschlossen, behauptete er noch im August und
riet: „Kluge Investoren kaufen die Zukunft.“ Gemeint waren Holzmann-Aktien, die jetzt wegen der drohenden Pleite
vom Börsenhandel ausgesetzt wurden.
Ende August lieferten die Bilanz-Manager dann den schon für Juni erwarteten
Jürgen Dahlkamp, Wolfgang Reuter
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Wirtschaft
Magische
Prozente
Trotz heftiger Attacken bewegen
sich Regierung und Opposition im
Streit um private Altersvorsorge
aufeinander zu – Experten sehen
Chancen für einen Kompromiss.
W
enn Jochen Aymanns, Vorstand
des Versicherungsriesen Gerling,
für die Vorzüge der privaten Altersvorsorge wirbt, muss er viel leiden.
„Die Parteien“, klagte er am Donnerstag
vergangener Woche im Börsensaal der
Industrie- und Handelskammer Köln, „haben da untereinander ein Kommunikationsproblem. Und das macht mich manchmal richtig krank.“
Vor 1100 Zuhörern beim Rentenforum
des „Kölner Stadt-Anzeigers“ erlebte der
Versicherungsmanager wieder einmal, wie
die Regierung, repräsentiert durch Arbeitsminister Walter Riester, SPD, und die Opposition, vertreten durch den CDU-Rentenexperten Andreas Storm, versuchten,
die Argumente des anderen zu „zerfleischen“ (Aymanns), anstatt Gemeinsamkeiten zu suchen. So geht es seit Wochen.
Gleichwohl verdecken die heftigen
Attacken, dass die Rentenpolitiker aller
Couleur sich eigentlich längst aufeinander
zu bewegen. So legte die CSU vergangene
Woche ein Reformkonzept vor, das in
etlichen Punkten den Regierungsplänen
ähnelt. In der CDU sympathisieren immer
mehr Sozialpolitiker mit Riesters ursprünglicher Idee einer obligatorischen Zusatzvorsorge, jenem Modell also, das einst
als „Zwangsrente“ diffamiert wurde.
Schon haben Experten erste Grundlinien für einen parteiübergreifenden Kompromiss ausgemacht. „Da tut sich etwas“,
glaubt der Darmstädter Ökonom Bert
Rürup, einst Berater von Norbert Blüm
und nun von Riester. „Vom Ansatz her“,
urteilt auch Katrin Göring-Eckardt, die
Rentenexpertin der Grünen, „herrscht bei
der privaten Vorsorge Übereinstimmung.“
Denn inzwischen hat sich auch die Union von jener Losung verabschiedet, die zu
Kohl-Zeiten nicht angezweifelt werden
durfte, dass nämlich die Rente sicher sei.
Nun gebe es, bekennt der christlich-soziale Rentenvordenker Horst Seehofer, „eine
breite Bewegung in Richtung privater
Vorsorge“. Und am liebsten würde der
Ex-Bundesgesundheitsminister gleich zum
ganz großen Wurf ansetzen.
Ähnlich wie Riester fordert er, dass ein
monatlicher Beitrag von 2,5 Prozent privat
fürs Alter gespart werden soll (Rürup: „Das
ist offenbar ein magischer Prozentsatz“).
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weitere 30 Prozent vom Fiskus zugeschossen, nur den Rest von rund 50 Prozent
müssten sie aus der eigenen Tasche bezahlen. Spitzenverdiener müssten gar nur rund
40 Prozent selbst bezahlen, sie bekämen
aufgrund ihres höheren Steuersatzes rund
40 Prozent vom Finanzamt erstattet.
Angesichts leerer Kassen mochte die Regierung sich zu solchen Geschenken noch
nicht durchringen; erst Mitte Dezember will Riester
Die Grenzen verwischen
seine Pläne für die große
Geplante zusätzliche Rentenversicherungen
Rentenreform vorlegen. Bislang ist nur geklärt, dass GeROT-GRÜN
CSU
ringverdiener, die von den
Beitragssatz in Prozent des Bruttolohns
Steuervorteilen ohnehin
2,5
2,5
kaum profitieren, direkte
Zuschüsse erhalten – bis zu
Pflicht zur privaten Vorsorge
250 Mark im Monat. „Eine
ja
nein
Mickymaus-Lösung“, höhnt
CSU-Mann Seehofer.
Beteiligung des Arbeitgebers
Riester indes warnt, dass
nein
ja, mit knapp 10 Prozent
der CSU-Vorschlag „nicht
der Anlagesumme
bezahlbar“ sei, führe er
staatliche Zuschüsse zur privaten Vorsorge
doch zu Steuerausfällen von
ja, zwischen 16,6 und 50
nein
rund zehn bis zwölf MilliarProzent der Anlagesumme,
den Mark. Ein Einwand, den
nur für Geringverdiener (maxider Mannheimer Rentenexmal 60 000 Mark Einkommen)
perte Axel Börsch-Supan
nicht gelten lässt: „Wer die
Steuerliche Freistellung
private Vorsorge stärken
noch ungeklärt
ja, zwischen rund 19 und
will, der muss auch richtig
rund 40 Prozent der Anlagesumme; Steuervorteil steigt
Geld in die Hand nehmen.“
mit dem Einkommen
Allerdings entsteht durch
das CSU-Modell noch ein
Besteuerung der Privatvorsorge im Alter
zweites, weitaus problemaja, Kapitallebensversicherunja, Besteuerung mit dem
tischeres Milliardenloch, und
gen mit 25 Prozent, Lebensverindividuellen Einkommenzwar in der Rentenkasse.
sicherungen mit monatlicher
steuersatz
Weil ein Teil der bisherigen
Rente steuerfrei; andere AnlaBeiträge in private Investgeformen: noch ungeklärt
ments umgeleitet wird, fehlen der Versicherung im Extremfall nach CSU-Berechnungen 14 bis 16 Milliarden
Mark jährlich. Dann müssten aber die Rentenbeiträge
um einen halben Prozentpunkt erhöht oder aber, ähnlich wie bei Rot-Grün, die
Leistungen der Rentner
gekürzt werden. BörschSupan: „Leider bleiben diese unangenehmen Dinge
bei der CSU im Nebel.“
Uneins ist die Union auch
noch darüber, ob sie die private Vorsorge zur Pflicht
Rentenreformer Riester: Mehr Geld in die Hand nehmen? machen soll. Während die
CSU auf die Einsicht der
Zudem dürfen die Anleger einen Teil der Menschen setzt (Seehofer: „Das Ganze ist
monatlichen Sparsumme mit den Beiträgen so attraktiv, dem wird sich kaum jemand
zur gesetzlichen Rentenversicherung ver- entziehen“), fürchtet CDU-Experte Storm,
rechnen. Letztlich würden knapp 20 Pro- dass dies womöglich nicht ausreicht. Anzent der privaten Vorsorge aus Mitteln fangs könne man das Prinzip der Freiwilstammen, die früher als Arbeitgeber- und ligkeit testen, „aber wenn nach zwei, drei
Arbeitnehmeranteile in die staatliche Ren- Jahren nicht alle dabei sind, müssen wir das
korrigieren“. Storm: „Langfristig führt an
tenkasse flossen.
Hinzu kommt die Steuerersparnis. Da- einer Vorsorgepflicht für alle wohl kein
durch bekämen Durchschnittsverdiener Weg vorbei.“
Ulrich Schäfer
Ähnlich wie bei Rot-Grün sollen die Anleger
auch zwischen diversen Sparformen wählen
können, von Aktien über Investmentfonds
bis hin zu Lebensversicherungen.
Doch anders als Riester möchte die CSU
private Vorsorge massiv fördern. Seehofer
setzt dabei vor allem auf Steuervorteile:
Die privaten Investments könnten komplett von der Steuer abgesetzt werden.
L. CHAPERON
RENTE
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F. PETERS / BONGARTS
sagt Peter Brauer vom Direktorium für
Vollblutzucht und Rennen, der Dachorganisation der Galopprennbahnen.
Seit Jahren sei der Anteil der Rennbahnen am gesamten Wettumsatz von einst
85 Prozent auf rund die Hälfte geschrumpft,
klagt Brauer. „Die Rennvereine sind finanziell am Ende.“ Für viele Spieler sei der
warme, trockene Platz beim Buchmacher
attraktiver, als ihre Wette direkt auf der
Bahn abzugeben.
Doch die Kollegen der Wettbüros sind
den Rennbahn-Betreibern schon lange ein
unbequemer Geschäftspartner, weil sie neben den Rennbahn-Wetten auch Einsätze
auf eigene Kasse entgegennehmen. „Für
die sind wir lästige Konkurrenz“, klagt
Buchmacher Albers. Da sei der Lotto-Konzern aus Italien, der ausschließlich Wetten
stellvertretend für die Rennbahnen annehmen will, für die Rennvereine „allemal
Deutsches Derby in Hamburg: „Weg von der Rennbahn, hinein in die Städte“
verlockender“.
Den Trend hat auch ein anderer UnterDie Einbußen im Geschäft mit GlücksGLÜCKSSPIEL
rittern und Pferdenarren bekommen nehmer entdeckt: Pit Arndt, 37, ehemaliger
besonders die Buchmacher zu spüren, Automaten-Verkäufer aus Koblenz, bietet
deren Wettbüros private Wetten auf eige- mit seiner Firma Champions seit neuestem
nes Risiko anbieten, aber auch Einsätze Galopp- und Traberwetten in bundesweit
für die Rennveranstalter entgegennehmen rund 50 Spielhallen an.Auf Franchise-Basis
– quasi als verlängerter Arm der Renn- können Spielothek-Betreiber bei Arndts
bahnen. Für die Fernwette vom Wettbüro Firma für 30 000 Mark Satelliten-Anlagen,
bekommen die Buchmacher neun Prozent Computersoftware und Monitore kaufen,
Ein italienischer Lotto-Konzern
um in ihren Daddelhallen zwischen Flipper,
Provision.
will in Deutschland ein Netz
Jetzt droht dem anrüchigen Gewerbe, Geldspielgerät und Billardtisch Wettbüros
von 2500 Wettbüros aufbauen –
das noch immer unter dem zweifelhaften im Miniformat einzurichten.
Dass die Rennbahn-Vereine den neuen
Charme von Halbwelt und Quoten-Mauund das dubiose Geschäft
scheleien leidet, finanzkräftige Konkurrenz Wettveranstaltern Sonderkonditionen einmit Pferdewetten aufmischen.
aus Italien. Die Sisal S.p.A., einer der räumen, ärgert die Buchmacher gewaltig.
ummer sechs ist kaum zu bändi- Marktführer beim Lottospiel in Italien, will Gerade 200 Mark kostet die Spielotheken
gen. Bockig bäumt sich die vier- zusammen mit den Rennbahn-Vereinen ab im Monat das Recht, die Rennbilder aus
jährige Stute Windmarie unter nächstem Jahr ein gigantisches Netz von Mülheim oder München-Riem live auf die
Bildschirme der Spielhallen zu übertragen.
ihrem Jockey auf. Vier Helfer sind 2500 Wettschaltern aufbauen.
Mit einem Kapital von 150 Millionen „Wir zahlen dafür 2700 Mark monatlich“,
nötig, um den sturen Gaul in seine Box
auf der Galopprennbahn Bremen-Vahr Mark sollen in deutschen Kneipen, Res- beschwert sich der Buchmacherverband.
taurants, Bistros und Tabakläden schon Fair sei das nicht.
zu schieben.
Ohnehin fühlen sich die
Auch Anne, 46, ist nervös. 150 KilomeWettbüro-Betreiber seit Jahren
ter weiter, in Hannover-Linden, steht die
schlecht behandelt. Gegen die
Frührentnerin vor einem von 25 Bildschir„Ungleichbehandlung“ der
men bei Buchmacher Albers. Die Augen
Lotto- und Wettbranche gestarr auf den Fernseher gerichtet, die qualgenüber den Buchmachern
mende Lord-Extra im Mundwinkel, knetet
laufen bereits verschiedene
sie ihren Wettschein und verfolgt, in den
Klagen.
Knien wippend, wie Windmarie weit abSo sehen die privaten Wettgeschlagen vom Feld als letztes der edlen
büros keinen Grund dafür, dass
Tiere durchs Ziel läuft.
die Pferdewetten der Buchma„Ich liebe Außenseiter“, sagt Anne.
cher zwar mit 16,67 Prozent
Der Tipp hätte ihr immerhin gut 400 Mark
Steuern belegt werden, die
gebracht – Windmarie hätte nur siegen
Wetten der Rennbahnen dagemüssen.
gen mit unter einem Prozent.
Anne ist eine von zehntausenden, die in
Von dieser europaweit einmaden 110 Wettstuben und auf rund 40 Renn- Wettbüro in Rom: Kneipen und Kioske im Visier
ligen Steuererleichterung würbahnen der Republik versuchen, mit vermeintlich heißen Tipps die schnelle Mark bald viele kleine Filialen entstehen – fern- de auch der italienische Lottogigant Sisal
zusammen mit seinen 2500 Lizenznehmern
am Turf zu machen. 835 Millionen haben ab des alten Buchmacher-Miefs.
Der starke Partner aus Südeuropa, der in in Deutschland profitieren.
die Deutschen allein im vergangenen Jahr
„Ohne die Vorzugsbehandlung durch
auf Traber und Galopper gesetzt. Doch die Italien mit 15 000 Lottoschaltern etwa fünf
Umsätze gehen seit Jahren stetig zurück, Milliarden Mark umsetzt, soll der Traber- den Staat“, glaubt Buchmacher Albers,
Norman Albers vom Deutschen Buchma- und Galopperszene ein neues Hoch be- „würde sich der Einmarsch nach
cherverband beklagt ein Minus von zehn scheren. „Wir wollen mit den Wetten weg Deutschland für die Italiener gar nicht
von der Rennbahn, hinein in die Städte“, rechnen.“
Prozent in den vergangenen fünf Jahren.
Hans-Jörg Vehlewald
Viele kleine
Buchmacher
C. WARDE-JONES
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Medien
Trends
G R U N E R + JA H R
Keine Einigung
I
ACTION PRESS
m Streit mit dem im Juli entlassenen
„Stern“-Chefredakteur Michael Maier
hat der Verlag Gruner + Jahr die vom
Gericht gesetzte Einigungsfrist verstreichen lassen. Nun wird das Arbeitsgericht Hamburg am 30. November über
die Rechtmäßigkeit von Maiers Kündigung entscheiden. Maier hatte gegen
den fristlosen Rauswurf nach einer nur
halbjährigen Amtszeit geklagt – im Fall
einer Auszahlung seines Dreijahresvertrags stünden ihm 2,5 Millionen Mark
zu. Der Verlag, der 500 000 Mark für angemessen hält, wirft Maier vor, „illoyal
Fakten geschaffen“ zu haben, als er dem
damaligen geschäftsführenden Redakteur und heutigen Chefredakteur Thomas Osterkorn mitteilte, für eine weitere
Zusammenarbeit keine Möglichkeit
mehr zu sehen. Sollte Maier vom Gericht Recht bekommen, will G + J in die
Berufung gehen – unter Umständen bis
zum Bundesarbeitsgericht.
Kidman (mit Tom Cruise in „Eyes Wide Shut“)
FILMHANDEL
Wohin mit den Knüllern?
NEUHAUSER
E
in dickes Spielfilmpaket der Kinowelt Medien AG gerät zum Politikum. Der Firma drohen Verkaufsprobleme bei 7o Filmen des US-Riesen Warner Brothers,
darunter Kinoknüller wie „Eyes Wide Shut“ mit Nicole Kidman, nachdem die Pro
Sieben Media AG als Käufer ausscheidet. Nach dem Pro-Sieben-Kauf durch den
Filmhandels-Rivalen Leo Kirch sei der fast perfekte Deal gestoppt worden, sagt ein
Kinowelt-Vertrauter. Der Pro-Sieben-Vorstand sei damit nicht beschäftigt gewesen,
erklärt dagegen ein Sprecher der TV-Firma. Kinowelt hatte beim Kauf der WarnerFilme im August mit 320 Millionen Dollar Kirch um rund 40 Millionen überboten.
Da RTL kaum noch US-Filme sendet und das ZDF Kirch-Großkunde ist, bleibt nun
nur die ARD als Abnehmer.
Ex-„Stern“-Chef Maier
Katarina Witt klagt
in Karlsruhe
N
achdem sie bereits in zwei Instanzen gegen die „FAZ“ verloren hat,
legt die ostdeutsche Eiskunstläuferin
Katarina Witt jetzt vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde ein. Die „Frankfurter
Allgemeine“ hatte im November vergangenen Jahres in ihrer Sonntagsausgabe ein Nacktfoto des Stars aus dem
„Playboy“ (vom Dezember 1998) abgedruckt. In einer kurzen Notiz zu dem
Landgericht und das Oberlandesgericht
Bild hieß es, die „hochgeschätzte Eis(OLG) wollten dieser Argumentation
Prinzessin des ausgerutschten SEDnicht folgen. Zwar zähle der „nackte
Staates“ offenbare hüllenlos eine „weit
Körper“, so das OLG, „zum
ansehnlichere Art von Linienintimsten Bereich eines
treue“. Witt fühlte sich in
Menschen“, doch habe die
ihren Persönlichkeitsrechten
Eiskunstläuferin auf den
verletzt und klagte auf
Schutz dieses Bereichs ihrer
Schmerzensgeld, da sie nur
Intimsphäre durch die
dem „Playboy“ das Exklusiv„Playboy“-Veröffentlichung
recht an ihren Nacktaufnah„freiwillig verzichtet“. Als
men eingeräumt habe – für
„absolute Person der Zeitgeeine Veröffentlichung. Es gebe
schichte“ sei das Recht an
keinen Rechtsgrundsatz, woihrem eigenen Bild zudem
nach „der weibliche nackte
eingeschränkt. Diesen Teil
Körper“ gleichsam „jedem
des Urteils will Witt jetzt in
zugänglicher AllgemeinbeKarlsruhe überprüfen lassen.
sitz“ sei. Das Frankfurter
„Playboy“-Titel
DPA
PRESSE
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Medien
PROJEKTE
Wort zum Bußtag
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E
s tönen die Lieder, die Glamour-Fregatten
kehren wieder. Joseph Vilsmaier hat gerade
das Leben von Marlene Dietrich mit Katja Flint
in der Hauptrolle verfilmt. Nun ist Zarah Leander („Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen“) dran: Das schwedische Fernsehen
produziert einen TV-Dreiteiler über die 1981 im
Alter von 74 Jahren in Stockholm gestorbene
Sängerin, die zur Freude des deutschen Publikums und der Nazi-Herren in brauner Zeit mit
tiefer Stimme und nordischem Akzent für Unterhaltung sorgte. Das Drehbuch für den ZarahDreiteiler, der auch in Deutschland zu sehen
sein dürfte, schreibt Peter Steinbach („Heimat“, Leander
Dietrich
„Klemperer“), Regie führt der Schwede Jan
Troell, 68, der unter anderem das Leben des norwegischen Dichters Knut Hamsun
mit Max von Sydow in der Hauptrolle verfilmt hat. Wer Zarah Leander spielen soll,
steht noch nicht fest, im Gespräch soll laut Steinbach Katharina Thalbach sein.
Soap-Band S Club 7
S OA P S
Pool, Pop, Partys
I
n der Serie „Lindenstraße“ drummte
einst ein Beimer-Bengel, zum Ärger
von Hausmeisterin Else Kling, im Kel-
SIPA PRESS (re.)
er auf der Kanzel steht, hat gut
reden. An allen Predigtstühlen
unserer christlichen Versammlungsstätten herrscht freie Themenwahl:
Gott und die Welt, Brot für die Welt,
die schlechte Welt, die Welt schlechthin. In den Kirchen sitzt ohnehin keiner, der sich das anhört. Die meisten
Seelenhirten sprechen in leere Kirchenschiffe, ihr Wort trifft, wenn’s gut
geht, allenfalls in Gottes Ohr. Letzte
Woche nun ergab sich eine Dreifaltigkeit des Zufalls, der wahrlich als
Zeichen des Himmels gedeutet werden muss. Mit einem Mal kam in einer Hamburger Hauptkirche nämlich
alles zusammen: Es war Buß- und
Bettag, die evangelisch-lutherische
Bischöfin Maria Jepsen ergriff das
Wort, und es galt den Pressejungs.
Nun weiß heute jeder Medienkonsument, dass die Spezies der Journalisten – mit Ausnahme der beim
„Bayernkurier“ tätigen Gotteskinder
– ein Unglücksfall der Schöpfung ist
und längst der Verdammnis
anheim fallen müsste. Nur
mit aller wünschenswerten Klarheit ausgesprochen hat das erst
Maria Jepsen aus Bad
Segeberg. Es sei „leichter,
für ein Kamel durchs Nadelöhr zu kommen“, verkündete die
Anklägerin am vergangenen Mittwoch über der hanseatischen Gemeinde, „als für einen Journalisten
in den Himmel“. Und dann redete
sie all den anwesenden Talkshow-Guckern und Yellow-Kunden ganz tief ins Gewissen: „Kein
Mensch, ob nun gut oder böse, sollte je ein gefundenes Fressen für einen
Reporter, eine Redakteurin, für Kameraleute sein: Das wäre kannibalisch.“ Recht hat die Bischöfin, „das
Reden der Schlangenzungen“ und
das Geschreibsel der Giftfedern ist
nichts anderes als, pfui Teufel, Suhlen
im Sündenpfuhl. Nur, verehrte Frau
Bischöfin: Warum nicht auch ein
bisschen Nächstenliebe für unseren
schweren Berufsstand, der nach Ihrer
Gardinenpredigt immerhin die Bissigkeit von Menschenfressern voraussetzt? Warum kein Wort der Gnade für all die geplagten Zeilenschinder, die in München das „Streiflicht“,
in Frankfurt die Allgemeine Zeitung
und in Hamburg diese elende Spalte
füllen müssen? Wir warten auf einen
Wink von oben.
VIVA
W
Nach Marlene nun Zarah
ler. Im „Marienhof“ war eine Band zu
hören, und Oliver Petszokat aus der
RTL-Soap „Gute Zeiten, schlechte
Zeiten“ ließ sich als Deutsch-Rapper
vernehmen – die Seifenopern sind nah
am Pop gebaut. Nun übernimmt der
Musikkanal Viva eine britische SoapProduktion (Ausstrahlungsbeginn:
7. Januar 2000), die nur noch von einer
Pop-Gruppe handelt. Im Mittelpunkt
steht die auch real existierende Band
S Club 7, die nach windigen Geschäften
ihres Managers in einem heruntergekommenen Hotel in Miami landet und
sich nun zwischen Pool und Party mit
Beach-Volleyball, Intrigen und Liebe
langweilen muss. Spice-Girls-Macher
Simon Fuller hat die Serie konzipiert, er
dürfte wissen, wie nahe die Soap an der
Realität liegt.
QUOTEN
Dinossimo
Tierfilm-Reihen im Fernsehen
Durchschnittlicher Zuschauermarktanteil in Prozent*
D
ie Saurier, so kalauerte einst die
neue deutsche Schlagerwelle, wurden immer trauriger. Aber Pro Sieben
darf sich über die Uralt-Echsen richtig
freuen: Die computeranimierten BBCFilme, in denen das Leben der ausgestorbenen Gattung bildmächtig rekonstruiert worden war, erzielten sensationell hohe Quoten – beinahe ein Drittel
aller jüngeren Zuschauer schalteten
ein. Damit übertrifft die künstliche
Animalienshow Klassiker wie die „Expeditionen ins Tierreich“. Nur Affenopa Bernhard Grzimek erweckte höheres Interesse – aber das war in grauer
TV-Vorzeit.
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Dinosaurier
17,7
Pro Sieben
Wunder der Erde
14,6
ARD
Abenteuer Wildnis
12,9
ARD
Expeditionen
ins Tierreich
12,5
ARD
Naturzeit
ZDF
telezoo
ZDF
10,2
7,6
*Pro
Sieben: 11. und 18.
November, ARD und ZDF:
Januar bis Mai 1999
Fernsehen
Vorschau
Einschalten
Wilsberg und die Tote im See
Montag, 20.15 Uhr, ZDF
Er wirkt wie der entfernte westfälische
Verwandte von Raymond Chandlers
Held Philip Marlowe: Ähnlich raubeinig, ähnlich finanziell dauerabgebrannt
und ähnlich verbissen unter vergammelter Schale ermittelt der Privatdetektiv Georg Wilsberg (Leonard Lansink) im nicht gerade als Lasterhöhle
bekannten Münster. Erfrischend komisch, wie ihn seine Ziehtochter (Marie Zielcke) als eine Art Echo bei seinen Schnüffeleien begleitet, sie probiert sich als Nachwuchsreporterin
aus. Zu seinem Spießerfreund Manni
(Heinrich Schafmeister) unterhält der
Münsterland-Marlowe ein ritualisiertes
Ausbeutungsverhältnis: Dessen Auto ist
sein Auto und dessen Fressalien sind die
seinen. Im Internet (www.zdf.de/escript)
sollen Interessierte neue Drehbücher mit
der Figur des Krimi-Autors Jürgen Kehrer entwickeln. Doch dieses Stück wirkt
so professionell (Regie: Dennis Satin),
dass es eigentlich keiner online geschöpften Interfetzigkeit bedarf, im Gegensatz zu anderen Programmen.
Hörbiger in TV-Serie „Julia“
Julia – eine ungewöhnliche Frau
Dienstag, 20.15 Uhr, ARD
Christiane Hörbiger spielt in dieser aus
Österreich importierten Serie eine Anwältin, die nach schwerem Schicksalsschlag ihren Frieden als Provinzrichte-
rin findet. Souverän zieht sie die Register des Gefühls: professionelle Kälte, herzzerreißende Trauer, milde
Großmütterlichkeit – eben alles, was
eine gestandene Frau ausmacht.
Gefährliche Hochzeit
Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD
Pretty Woman in Frankfurt: Ein Jungbanker (Heikko Deutschmann) heiratet, um dem Firmen-Comment zu
genügen, eine Schlampe vom Hähnchen-Imbiss (Ann-Kathrin Kramer).
Aus der Pro-forma-Ehe wird Liebe,
aus dem TV-Abend (Buch: Thomas
Kirdorf, Regie: Konrad Sabrautzky)
gute „Wilde Herzen“-Unterhaltung.
Der Voyeur
Freitag, 20.15 Uhr, Pro Sieben
Den optischen Verbund von TV-Movie
und Unterbrecherwerbung schafft niemand so perfekt wie Roman Kuhn.
Sein neuer Film, eine Licht- und Farbenorgie im eleganten Seehotel, bestätigt dies. Könnte Kuhn seine famose
Bilderkunst nicht mal für realistischere
Drehbücher verwenden?
Lansink mit Michael Greiling in „Wilsberg und die Tote im See“
Ausschalten
Versprich mir, dass es
den Himmel gibt
Mittwoch, 20.15 Uhr, RTL
Louis (Mehmet Kurtulus) und Cora
(Sandra Speichert) sind ein schönes
junges Paar. Sie hausen in einer leicht
schlamperten Altbauwohnung, der
Fernseher blickt von der Decke aufs
Doppelbett. Doch das Mädchen im
seidenen Nachtgewand hat Leukämie
und verliert allmählich die Orientierung in den Alltagsdingen. Louis’
Gram steigert sich und, als er seine
alte Freundin Stella (Sonsee Ahray)
wieder trifft und sich in sie verliebt,
scheint sich ein tragischer Konflikt
zwischen Pflicht gegenüber einer Mo-
ribunden und neuer Neigung anzubahnen. Leider weicht der Film (Buch:
Andy T. Hoetzel, Ina Siefert; Regie:
Martin Enlen) der Tragödie aus und
flüchtet sich in den Wohllaut des TVMovies. In einer Art Ménage à trois
pflegen Stella und Louis im sonnigen
Mittelmeer-Süden die Kranke bis zu
ihrem Ende. Die Kamera umkreist die
schönen Körper, das Drehbuch unterwirft sich widerstandslos der Schönersterben-Schwelgerei. Sandra Speichert,
mit mutiger Kurzhaarfrisur, wird gezwungen, nicht enden wollende Großaufnahmen lang, Abschiedsschmerz in
ihre Züge zu legen – das muss selbst
eine Hochbemühte wie sie überfordern.
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Tatort: Norbert
Sonntag, 20.15 Uhr, ARD
Das hätte die stille, spannende Tragödie über die männliche Klette Norbert (Jürgen Tarrach) werden können,
einen überanhänglichen, vom Vater
unterdrückten Außenseiter. Doch der
Krimi des BR (Regie: Niki Stein)
misstraut seiner Grundidee und fiedert sich mit Nachtclubflair, Anlageschiebung und Reporterübermut,
wie ihn Dietls Figur des Baby Schimmerlos besser gezeigt hat. Die überreichlichen Zutaten gehen auf
Kosten der Geschichte vom gerupften
Huhn, die einzig wirklich gelohnt
hätte.
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Medien
PAY- T V
Ab in die Kiste
N. MAI
Mit Milliardenaufwand versuchte das digitale Bezahl-Fernsehen bislang vergebens, in Deutschland
Fuß zu fassen. Der vielleicht letzte Versuch: Premiere World. Sieht so die
schöne neue Bilderwelt der Zukunft aus? Ein siebentägiger Selbstversuch. Von Thomas Tuma
SPIEGEL-Redakteur mit d-box: Nächtliche Obsessionen unerotischer Art
D
er Slip. Schuld war dieser weiße
Slip von Iris Berben. Sie saß in einem Schnellimbiss auf einem
Hocker, redete über ihre Pommes hinweg,
und man konnte dabei unter ihren kurzen
grauen Rock schauen. Man? Ich!
Natürlich glotzte ich auf den Slip. Jeder
tat das. „Bild“ kreischte: „Huch, Frau Berben, wie konnte denn das passieren?“
Das mit dem Slip passierte ihr dauernd.
Nach dem dritten Mal hörte ich sogar, wie
sie sagte, „dass ich ziemlich genau weiß,
was ich will“. Sie – nicht ich. Und dass sie
bei Premiere World „genau das kriege, was
ich will“. Sie – nicht ich. Frau Berben wollte Werbung machen. Ich wollte Frau Berben sehen. Das Elend begann mit einem
Missverständnis.
Premiere World ist der jüngste Spross des
Bezahl-Fernsehens (neudeutsch: Pay-TV),
das in Deutschland eine schrecklich teure
und komplizierte Vergangenheit hat, die
dennoch in die nächsten 14 Zeilen passt.
Früher gab es nur Premiere. Dann kam
noch DF-1 dazu. Beide waren derart erfolglos, dass Leo Kirch (Beruf: „Medienmogul“) nun auf Schulden von über vier
Milliarden Mark sitzt – sowie auf zwei Sendern, die seit dem 1. Oktober einen Namen
haben: Premiere World. Kirch braucht also
sehr dringend sehr viel Geld, das er sich
von zwei Seiten holen will. Die eine ist
Rupert Murdoch (Beruf: „Medienzar“), der
bei Kirch einsteigen möchte-soll-könnte.
Die andere Seite bin ich, ein nebenberuflicher „Endverbraucher“, der nie einsteigen wollte. Bis zu Frau Berbens Slip-Clip.
Premiere World ist demnach das tollste,
schönste, beste Fernsehen, das es je gab.
„Maßgeschneidert.“ Digitale Zukunft.
„Your Personal TV.“ Top-Highlights aus
Sport, Kino und Konzertsaal. So oft ich
mag. Für jedes Thema ein Kanal.
Allein im Oktober lockte der neue Kanal
110000 Neugierige an. In zwei Jahren sollen
es 3,5 Millionen Abonnenten sein, hofft Premiere-World-Chef Markus Tellenbach (siehe Seite 147), der gern über „Look & Feel“,
„Join-Faktoren“ und „Trouble-Shooting“
redet.Weniger gern spricht er über sein Heimatland Schweiz, das gerade den PremiereWorld-Decoder verboten hat, weil er freie
Programmwahl und Meinungsvielfalt gefährde. Na ja, Schweiz eben.
Montag
Die Tür zum neuen Fernsehen ist diese
schwarze Kiste namens d-box. Die d-box
gibt es im Fachhandel. Der Fachhandel ist
in meinem Fall ein bleicher Verkäufer bei
Premiere-World-Programme: Wenn alles zum jederzeit abrufbaren Ereignis stilisiert wird, bleibt am Ende ein ereignisloser Bilderbrei
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FOTOS: PREMIERE
Schauspielerin Berben im Werbe-Spot: „Ironie mit reingebracht“
Saturn in Hamburg, der froh ist, dass ich
Kabelempfänger bin. Er hat nämlich keine
d-boxen für Satelliten-Kunden mehr. Die
würden in Taiwan produziert, wo ein Erdbeben Land und Liefertermine durcheinander gebracht habe.
Das ist zwar ziemlicher Quatsch, aber
ich will alles, und zwar sofort. Der Verkäufer will Kopien von Scheckkarte (?) und
Personalausweis (??). Ich habe noch viele
Fragen, er hat die Standardantwort: „Rufen Sie einfach die Hotline an.“
Wenn Tellenbach der Kopf von Premiere World ist und der Saturn-Verkäufer der
lange Arm, dann ist das Call-Center das
Rückgrat des ansonsten körperlosen Unternehmens: Schon nach dem sechsten Versuch grüßt eine sonore Tonbandstimme
und bittet darum, die Taste „Null“ zu tippen. Ich tippe und bin wieder draußen.
Man braucht ein Telefon mit Tonwahl,
kurz: so ein Piep-Dingens eben.
Zwei Stunden und fünf Anläufe später
bin ich drin. Ein Mensch ist dran! Ein richtiger Mensch! Die Dame braucht lediglich
die 7-stellige Händlernummer, die 14-stellige d-box-Nummer, die 11-stellige d-boxKartennummer sowie Bankleitzahl, Kontound Telefonnummer. Als Dank erhalte ich
eine 10-stellige Kundennummer und eine 4stellige Pay-per-view-Ordernummer samt
Zusicherung, dass der Decoder abends freigeschaltet sei. „Ist gar nicht weiter wild“,
beruhigt sie.
Abends Installation. Gebrauchsanweisung I rät: „Stecken Sie die d-box-Karte
mit der goldenen Kontaktfläche nach unten
und vorne zeigend in den dafür vorgesehenen Schlitz.“ Nummer II rät auf Seite 81:
„Stecken Sie die d-box-Karte mit der goldenen Kontaktfläche nach unten und hinten zeigend in den Kartenleser.“ Wenn das
keine Meinungsfreiheit ist.
Imposant, wie viele Kombinationsmöglichkeiten die Anschlüsse an Fernseher, Videorecorder und Decoder zulassen! Wo
sind VCR-Scartbuchse, Koaxial-Kupplung,
Cinch-Audiokabel? Die Technik-Hotline ist
rund um die Uhr besetzt – und besetzt.
Die Nacht vergeht fernsehfrei. Macht nix,
ein Programmheft lag eh nicht bei.
Dienstag
Anruf eins, zwei, drei, vier und fünf bei der
Hotline: „Herzlich willkommen bei Premiere World“ (siehe oben). Am Ende freut
sich der Sprachcomputer, dass ich ja bereits
freigeschaltet worden sei und legt von sich
aus auf.
Sechster, siebter und achter Versuch unter einer anderen Servicenummer: „Das
Programmheft können wir Ihnen leider
nicht zuschicken. Das bekommen Sie bei
Ihrem Händler.“
Der Händler sieht zerknirscht aus (neues Erdbeben in Taiwan?): „Wir erwarten
noch mal Nachschub in den nächsten Tagen. Haben Sie’s mal bei der Hotline versucht?“ Ich klaue das Ansichtsexemplar
vom Pappständer.
Abends ab in die Kiste! Die d-box
schreibt lustige Kommentare auf den meist
schwarzen Schirm: „Diese Anfangszeit ist
nicht freigeschaltet“, „Ihre Sendung geht
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gleich weiter“, „Auf diesem Kanal wird
derzeit nicht gesendet“, „Die Sendung ist
nicht zu entschlüsseln“.
Immerhin: die ARD ist da. Und zwar digital. Die supermoderne Übertragungstechnik erkennt man daran, dass das Bild
mitunter stehen bleibt. Einfach einfriert.
Beim ersten Mal ist das lustig. Vielleicht
hat sich das Koaxial verkuppelt?
Dabei würde auf dem „Seasons“-Kanal
gerade der Action-Reißer „Fliegenfischen
in Slowenien“ laufen. Auf „Classica“ käme
das „Europakonzert der Berliner Philharmoniker 1998“. Und der „Blue Channel“
böte „Intimate Obsession“. Würde, käme,
böte.
Wer schaut sich das eigentlich alles an?
Arbeitslose Hobby-Angler? Reiche Rentner? Nachts Obsessionen unerotischer Art
geträumt. Nimmt die Schweiz asylsuchende TV-Zuschauer auf?
Mittwoch
Die Hotline-Anfrage, weshalb meine vier
Extra-Kanäle gesperrt sind, löst bei einem
unbekannten Call-Boy kein Beben, aber
doch Panik aus: „Um Gottes willen, das
hätte Ihnen der Händler doch sagen müssen, dass die nur in Verbindung mit einem
Zwölf-Monats-Abo freigeschaltet werden.“
ICH: Hat er aber nicht.
ER: Tja.
ICH: Ich zahle also ein Jahr lang für vier
Kanäle, die ich gar nicht empfangen kann.
ER: (abwesend) Wieso machen das nur so
viele falsch?
ICH: (sehr anwesend) Fragen Sie das mich?
Ich könnte ihm zur Strafe einen Anruf
bei seiner Technik-Hotline empfehlen, studiere aber lieber den Mietvertrag (Abteilung „Deutsch für Drückerkolonnen“). Das
Basispaket mit 30 Kanälen kostet pro
Monat 34,90 Mark. Plus Kaution (150),
Freischaltung (29,90), d-box-Miete (14,90).
Die vier Zusatzsender addieren sich auf
bis zu 65 Mark. Im Kleinstgedruckten steht,
dass die Extras tatsächlich eine „Laufzeit
von 12 Monaten“ haben. Mir wird schwarz
vor Augen. Weihnachtseinkäufe streichen?
Donnerstag
Guter Tag: Schon nach dem vierten Hotline-Versuch bin ich drin. Nummer fünf erhält den Hoffnungszuschlag, weil die Dame
verspricht, dass die vier Extra-Kanäle nun
freigeschaltet würden. Sie raunt von „Missverständnissen“. Ich starte ein nicht repräsentatives Call-Center-Meinungs-Lotto:
145
Medien
ICH: Wer zahlt eigentlich die ganzen Tele-
fongebühren, wenn ich bei Ihnen anrufe?
HOTLINE 1: Wir.
HOTLINE 2: Sie.
HOTLINE 3: Da sollten Sie mal die TechnikHotline fragen.
Dafür ist der Abend im Schlafwagen meiner Premiere-World-Sonderklasse
atemberaubend: „Der Bauer vom Brucknerhof“ („Heimatkanal“), „Berlioz, Romeo und Julia, Romeo allein“ („Classica“),
„Hochseefischen vor Niederkalifornien“
(„Seasons“) und „Zwanzig Mädchen und
die Pauker“ (nein, nicht „Blue Channel“,
sondern „Filmpalast“).
Die guten Filme (also etwa die Hälfte)
bleiben aus Jugendschutz-Gründen gesperrt. Der vierstellige Pin-Code funktioniert nicht. Nach dem dritten Versuch
schaltet sich die Kiste ab. Nur das Kinderprogramm („Dr. Pickels Horrorshow“)
lässt mich nicht im Stich. Nachts wieder
Obsessionen gehabt von überzogenen
Konten und rauchenden Call-CenterRuinen.
Freitag
Ich verpasse den Top-Sport-Event: Um elf
Uhr wäre die US(!)-Football(!!)-Collegemeisterschaft (!!!) gelaufen: Tennessee
Volunteers gegen die Notre Dame Fighting
Irish. Es gehört zu den Stärken meines
„Personal TV“, dass man weltweit bei allen Super-Highlights dabei ist – mit bis zu
sechs Kameraperspektiven. So weit die
Theorie. In der Praxis läuft auf vier von
sechs Kanälen gar nichts. Auf dem fünften
gibt’s die österreichische Fußballbundesliga, auf dem sechsten wird Spiel zwei des
Stanley-Cup-Finales (US-Eishockey 1996)
wiederholt.
Ich hänge ohnehin am Telefon: Mir wird
ein neuer Jugendschutz-Pin-Code zugewiesen, der auch nicht funktioniert. Beim
vierten Versuch im dritten Anlauf klappt
es: Ich habe ein Programmheft (260 Seiten).
Ich habe ein Programm (69 Kanäle). Auf
„Castle“ (Nummer 45) werden via Endlosschleife die immer gleichen beiden
Luftbildschnipsel von Neuschwanstein und
Tegernsee wiederholt. 24 Stunden täglich.
Ich darf mir sogar Filme anschauen,
die erst ab 16 freigegeben sind. Im
„Blue Channel“ laufen zum Beispiel Wiederholungen des TV-Magazins „Wa(h)re
Liebe“ (1996) oder Filme wie „Body Language“, in denen meist nur die bebenden
146
Was Premiere World kostet
GRUNDAUSSTATTUNG
Premiere World
Superpaket
49,90 Mark
Sport
Spielfilme
Familienkanal
Vertragslaufzeit
mindestens
ein Jahr
EXTRAS
KANÄLE
Monatsgebühren
d-box-Miete
14,90 Mark
Heimatkanal +
Filmpalast
6 Mark
monatliche
Gebühr
64,80 Mark
einmalig
Freischaltung
29,90 Mark
Kaution
für d-box und
Zubehör
150 Mark
Classica
10 Mark
Seasons
10 Mark
Blue Channel
14 Mark
tfilme,
Heima ielp
S
e
lt
a
filme
cher
klassis anal
k
ik
s
u
M
m
Programr
für Jäge ler
und Ang
Erotik
PAY-PER-VIEW
je Film 6 Mark
Lippen blondierter Laiendarstellerinnen
zu sehen sind.
Weil Premiere World keine primären
Geschlechtsorgane zeigen darf, müssen
solche „Erotik“-Filme mit symbolträchtigen Füllern gestreckt werden: ein tropfender Wasserhahn etwa oder ein auslaufendes Hühnerei. Für Wasserhahn- und
Hühner-Fetischisten gibt es drei zusätzliche
„Blue Movie“-Kanäle, die aber extra bezahlt werden müssen (siehe Sonntag).
Nachts von Top-Events aus der albanischen Taschenhalma-Kreisliga geträumt.
Obsessiv.
Samstag
Man soll nicht ungerecht sein. Den ganzen Tag über habe ich die Wahl zwischen großen bis guten Filmen wie „Jackie
Brown“, „Falling Down – Ein ganz normaler Tag“ oder „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“, „Air Force One“, „Sieben“ oder „Sabrina“. Selbst schmallippige
Deutschlehrer werden mit Werner Herzogs
„Aguirre, der Zorn Gottes“ bedient.
Reicht das etwa nicht? Doch es reicht.
Wer „Casablanca“ einmal auf Video zu
Hause hat, schaut es sich nie mehr an.
Wer Premiere World hat, erlebt die Vielfalt
der Einfalt. Wenn jedes TV-Ereignis jederzeit abrufbar wird, stellt sich Apathie
ein. Überdruss am Überfluss. Wo alle Hei-
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matschinken und Hollywood-Feger, UraltSerien und Cartoon-Konserven dauernd
aufgekocht werden, bleibt am Ende ein
ereignisloser Bilderbrei. Was macht man
also? „Wetten, dass …?“ schauen. Ach, du
gutes altes ZDF! Zum erstenmal wieder
ruhig geschlafen.
Sonntag
Pay-per-view heißt so, weil man es erst sehen kann, wenn man noch mal zahlt. In
den vier „Cinedom“-Kanälen schreit alles:
Ruf mich an! Nimm mich! Kauf mich! Es
wird überhaupt viel geworben bei Premiere World, wenn auch nicht für Tütensuppen oder Slipeinlagen, sondern für
Kanäle wie „Comedy“, wo Wiederholungen der Harald-Schmidt-Show laufen –
von 1998.
Ich will „Godzilla“ und heble damit unbewusst den Krimi „Ein Konsument will’s
wissen“ ins Tagesprogramm. Test-Anrufe
bei der Hotline: „Wie lange vor dem Sendetermin muss ich die Freischaltung beantragen?“ Antwort eins: „Puuh, da bin ich
jetzt überfragt. Sie sollten mal die TechnikHotline anrufen.“ Antwort zwei: „Mindestens eine Stunde.“ Antwort drei: „30 Minuten.“
Um sechs Mark zahlen zu dürfen, muss
man die „Orderline“ anrufen. „Aus technischen Gründen können wir Ihren Anruf derzeit nicht entgegennehmen.Wir würden uns
freuen, wenn Sie sich zu einem späteren
Zeitpunkt …“ Zu einem späteren Zeitpunkt
heißt es: „Dieser Anschluss ist vorübergehend nicht erreichbar.“ Das verwirrt nun
doch. Ist das Call-Center explodiert? Lief
ein Pulk arbeitsloser, niederkalifornischer
Hobby-Fischer Amok? Zu einem viel späteren Zeitpunkt trampelt „Godzilla“ endlich los. Der Videorecorder ignoriert ihn
zunächst. Zum letzten Mal Obsessionen
gehabt – von Koaxial-Kupplungen.
Epilog
Iris Berben ist viel einfacher zu erreichen
als die „Orderline“ von Premiere World.
Sie erzählt, wie lustig die Dreharbeiten zu
ihrem Imbiss-Spot gewesen seien, „weil es
so trashig war und man Ironie mit reinbringen konnte“. Ironie!
Am gleichen Tag kommt Post vom Kundenservice. „Wir freuen uns, dass Sie sich
für unsere Extras entschieden haben.“ Der
Rest ist eine lange Rechnung. Unterschrieben von einer Frau mit dem schönen Vornamen Perdita – die Verlorene. Ironie?
„Ich bin Steher, nicht Sprinter“
Premiere-World-Chef Markus Tellenbach, 39,
über Start-Probleme und Zukunft seiner digitalen TV-Welt
Tellenbach: Nein. Mein Job hier ist der Aufund Ausbau eines bereits jetzt erfolgreichen Unternehmens.
SPIEGEL: Gibt es im Kirch-Imperium derzeit
einen riskanteren Job als Ihren?
Tellenbach: Ich denke, es gibt keinen spannenderen. Wir haben unsere Ziele klar
kommuniziert, und ich bin sicher, dass wir
bis Ende des Jahres 2001 3,5 Millionen Abonnenten erreichen
werden.
SPIEGEL: Sie haben ein Quasi-Monopol erreicht. Wenn es jetzt nicht
klappt, könnte es nie klappen.
Tellenbach: Ein paar Tage Spielraum haben wir noch, und der Erfolg von Premiere World spricht
für sich. Ich bin als Steher eingestellt worden, nicht als Sprinter.
An unserer Grundüberzeugung,
dass der Konsument bereit ist, für
unser Produkt zu zahlen, wird sich
nichts ändern.
SPIEGEL: Deutsche TV-Zuschauer
haben im Gegensatz zu Franzosen oder Briten die Wahl zwischen
30 freien Kanälen.
Tellenbach: Natürlich ist das hier
der schwierigste Markt in Europa. Aber was läuft denn da im
Free-TV? Die gern suggerierte
TV-Manager Tellenbach: „Ein paar Tage Spielraum“
Vielfalt gibt es gar nicht.
SPIEGEL: … und kann im Call-Center alles SPIEGEL: Den großen Bereich Informaerleben – von freundlicher Ahnungslosig- tion bietet selbst Premiere World nur am
keit bis zu nackter Verwirrung angesichts Rand.
von Detailfragen, sofern die Leitung über- Tellenbach: Diese Programmfarbe ist langhaupt steht.
fristig ausbaufähig. Aber wir müssen nicht
Tellenbach: Das mag vor sechs Wochen so die 43. Mauerfall-Dokumentation zeigen.
gewesen sein. Heute stellt sich die Situa- Dann bauen wir im Frühjahr lieber was
tion ganz anders dar. Wir haben auf das Neues auf für eine Klientel, die von den anhohe Call-Volumen sofort reagiert. Ent- deren gern missachtet wird: die älteren Zusprechend wird die Zahl unserer Telefon- schauer.
berater von 1300 auf 2600 wachsen. Schnel- SPIEGEL: Ein Kanal voll Schlager, Bergdokler ist das nicht zu leisten, weil die Leute tor und Musikantenstadl?
umfassend geschult werden.
Tellenbach: Warum nicht? Wir werden uns
SPIEGEL: Sie scheinen vom Erfolg Ihrer ei- auf die konzentrieren, die vom Free-TV
genen Kampagne überrollt worden zu sein. nicht ausreichend bedient werden – in alWie viel geben Sie für Werbung aus?
len Bereichen.
Tellenbach: Bis Ende des Jahres 100 Millio- SPIEGEL: Ihr Schnupper-„Superpaket“ von
nen Mark. Nächstes Jahr haben wir weite- 34,90 Mark pro Monat hat den Vertragsre 200 Millionen zur Verfügung.
charme des Kleingedruckten. Freischaltung
SPIEGEL: Woher soll das Geld kommen? Ihr und Decoder-Miete muss man extra zahChef Leo Kirch sitzt auf über vier Milliar- len. Von der d-box-Kaution und Kosten für
den Mark Altschulden aus seinen früheren Zusatzkanäle oder Pay-per-view ganz zu
schweigen.
Pay-TV-Abenteuern.
Tellenbach: Keine Angst: Unsere Gesell- Tellenbach: Die Freischaltung fällt nur
schafter stellen die Finanzierung sicher.
einmal an. Wer kündigt, bekommt die KauSPIEGEL: Empfinden Sie sich als Krisen- tion zurück. Die Zuschauer erwarten
manager, wie Sie es vorher mit viel Elan heute transparente Preise. Nichts anderes
liefern wir.
bei Vox waren?
Interview: Thomas Tuma
A. PENTOS
SPIEGEL: Rufen Sie als Premiere-WorldKunde bei Problemen Ihre eigene ServiceHotline an?
Tellenbach: Ja, inkognito. Und wie viele
kam ich anfangs aufgrund des enormen
Andrangs nur schwer durch. Einmal
brauchte ich 15 Anläufe. Im Schnitt ist man
heute nach dem dritten Versuch drin …
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Medien
INTERNET
Direkter Draht
Kein Werbemedium wächst
schneller als die Reklame
im Internet. Um die Macht im
Web ringen etablierte
Agenturen und Newcomer.
F
ast alles im Lebensmittelladen von
Rudolf Wasem ist virtuell: Regale,
Produkte und Warenkorb stehen im
Internet, und auch die Werbung für seinen „Shop-Hopper Lebensmittel-Lieferservice“ stellt der Firmengründer am liebsten
in den Cyberspace – in die Online-Seite
der Koblenzer „Rhein-Zeitung“.
Mehr als 10 000 Besucher finden so, sagt
Wasem, jeden Monat auf seine Internetseite, über 500 von ihnen bestellen aus
20 Produktgruppen von „Babykost“ bis
„Zucker/Mehl“ Waren per Mausklick nach
Hause. Die kleine Werbefläche zahlt sich
aus: Schon nächstes Jahr, so Wasem, „liefern wir von Köln bis Frankfurt“; große
Handelskonzerne interessieren sich bereits
für den Cyber-Kommerz aus Koblenz.
Reklame im Internet boomt: So stark
wie die Angebote im elektronischen Handel wachsen auch die Werbeumsätze. Zwar
liegt ihr Anteil am Gesamtwerbevolumen
in deutschen Medien von über 40 Milliarden Mark derzeit noch weit unter einem
Prozent. Aber kein Konkurrenzmedium
legt schneller zu: In diesem Jahr sollen sich
die Werbeausgaben, so eine Prognos-Berechnung, gegenüber 1998 auf 150 Millionen Mark verdreifachen, und bis 2003 erwarten die Prognos-Experten einen Anstieg um über 1000 Prozent auf fast 1,8 Milliarden Mark.
„Die Leute stellen sich das Internet immer noch als Nischenmedium vor“, sagt
Kevin Ryan, Präsident des US-Web-Vermarkters Doubleclick, „dabei reicht es heute schon viel weiter als jede noch so beliebte Talkshow.“
Kein Zweifel: Das Internet wird die Werbewirtschaft ähnlich stark verändern wie
die Einführung des Privatfernsehens in den
achtziger Jahren. Noch verdient zwar
kaum einer Geld mit dem neuen Medium.
Doch fast alle rüsten mit großem Aufwand
für die Zukunft.
Verlage und TV-Sender investieren gewaltige Summen, um auch im Internet die
Werbegelder auf ihre Seiten zu lenken.
Agenturen und Markenartikler arbeiten
mit Hochdruck, um ihre langweiligen Werbebanner im Netz endlich über das Niveau
von Bandenwerbung im Fußballstadion zu
heben.
Sie alle lockt eine große Verheißung: der
direkte Draht zum Kunden. Wer Porsche,
Yachten und Telefonsex liebt, wird, dank
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Internet-Werber Wasem, Shop-Hopper-Service: Die kleine Werbefläche zahlt sich aus
Internet, Werbung dafür künftig auf seinem Bildschirm finden, sobald er den
Computer einschaltet – ohne Umweg und
ohne Streuverluste. „Wenn in Chicago ein
Anwalt eine unserer Seiten anklickt“, sagt
Ryan, „können wir schon heute in zehn
Millisekunden erkennen, welche Werbung
zu ihm passt.“ Und die wird ihm, ohne
dass er etwas merkt, auf den Bildschirm
gestellt.
Das Urtrauma aller Werber, wie Henry
Ford es einst formuliert hatte, scheint endlich überwunden. „Die Hälfte meiner Werbemillionen ist verschwendet“, sagte Ford,
„ich weiß nur nicht, welche.“
Akut gibt es für etablierte Medien
noch wenig Grund zur Panik. Ihre Bruttowerbeeinnahmen legten im ersten Halbjahr 1999 bei Zeitungen (plus 7,3 Prozent),
Zeitschriften (4,3 Prozent) und Fernsehen (5,6 Prozent) erneut zu. Vor allem
Reklame per Mausklick
Prognose der Online-Werbung
in Deutschland
4,6
Milliarden
Quelle: ZAW, Prognos
NettoWerbeeinnahmen
in Mark
1,8
Milliarden
Anteil am GesamtWerbemarkt
0,1 %
6,4 %
450
Millionen
50
Millionen
1998 2000
1998
2003
2010
2010
fürs Fernsehen sind die hohen Zuwachsraten der neunziger Jahre jedoch Vergangenheit.
Und auch die Presse, die derzeit von den
Printkampagnen neuer Web-Anbieter wie
Amazon profitiert, kann nicht mehr auf
stetig steigende Anzeigenerlöse setzen.
So fürchten zum Beispiel Lokalzeitungen
um wichtige Einnahmequellen, weil Gebrauchtwagen und Mietwohnungen schneller, transparenter und billiger im Internet
zu finden sind als in den Regionalblättern.
Längst haben sich die großen Verlage
deshalb mit eigenen Vermarktungstöchtern auf dem Online-Markt positioniert. Mit dem Web-Angebot von „Bild“,
„Welt“ und „Allegra“ bietet zum Beispiel
Springer seinen Werbekunden auch im
Internet ein Millionenpublikum. Auch
Gruner + Jahr, RTL, Burda, Bauer und der
SPIEGEL-Verlag vermarkten ihre Angebote im Netz.
Doch da herrschen andere Gesetze als
im klassischen Geschäft. Unternehmen,
die eigentlich brav Werbung schalten sollten, treten auf einmal als Wettbewerber
auf: Online-Banken wie Comdirect und
Consors oder virtuelle Buchhandlungen
wie Amazon bieten ihre stark frequentierten Internet-Seiten längst auch als Werbefläche an.
Hinzu kommt die Konkurrenz durch
junge, aggressive Vermarkter. Die US-Firma Doubleclick etwa, erst 1996 gegründet,
hat inzwischen 1500 Web-Seiten unter Vertrag. Stark frequentierte Internet-Angebote wie die Suchmaschine Altavista, Disney oder, in Deutschland, TUI und das ZDF
gehören zu den Kunden des US-Konzerns
(Umsatz 1998: 80 Millionen Dollar, Börsenwert: über 7 Milliarden Dollar). „Wer in
unserem Netzwerk Werbung schaltet“, sagt
Doubleclick-Manager Ryan, „erreicht weltweit bis zu 100 Millionen Menschen.“
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FOTOS: D. RÖSELER
Noch vor kurzem war die Internet-Gemeinde vielen Werbern zu abgehoben, zu
hip und Technik-verliebt. Das ändert sich.
„Wir müssen den Verbrauchern folgen“,
sagt Ryan, „und die drängen ins Netz.“
Immer weniger Zeit verbringen die Menschen vor dem Fernseher, hat der Vermarkter in den USA beobachtet, während
die Internet-Nutzung dramatisch zunimmt.
Außerdem surfen 80 Prozent der InternetNutzer im Büro. Ryan: „Ein phantastischer
Ort, um das wertvollste Segment im Publikum zu erreichen: Leute, die einen Job
haben.“
Entsprechend orientieren sich die Werbetreibenden: Autokonzerne gehören laut
Ryan weltweit zu den zehn wichtigsten Anzeigenkunden im Internet – ebenso wie
Banken, Software-Anbieter und Reiseveranstalter. In den USA streben derzeit selbst
Möbelhersteller und Vitaminproduzenten
mit Werbebannern ins Web.
Deutschlands größte Werbekunden halten sich freilich vom Netz noch fern. Unter den Top 20 der dort Werbetreibenden
finden sich, angeführt von Amazon, Bertelsmann Online und der Comdirect-Bank,
vor allem Firmen, die ganz überwiegend
auch ihr Geschäft dort betreiben. Nur vier
klassische Marken schalten in größerem
Umfang Werbung im Internet: Deutsche
Telekom, Deutsche Bank 24, die Post und
Siemens.
Auf Siemens sind Web-Werber dennoch
schlecht zu sprechen – unter dem Namen
Webwasher hat der Elektronikkonzern einen Filter entwickelt, der Werbung im Internet vom Bildschirm verbannt. Die Siemens-Entwickler, die sich gerade als webwasher.com AG selbständig gemacht haben, wollen in zwei Jahren schon 40 Millionen Mark Umsatz machen; zwei Millionen Anwender, sagen sie, nutzen schon
heute ihr Produkt.
Frank Hornig
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Werbeseite
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FOTOS: M. TÜREMIS
Medien
Fernsehproduzent Halmi (bei Dreharbeiten in der Türkei): „Mein Leben ist wie ein B-Movie“
T V- F I L M E
„Spielt schneller!“
Mit seinen aufwendigen Filmen („Arche Noah“) gilt
der amerikanische Produzent Robert Halmi als Garant für hohe
Einschaltquoten – auch bei seinem deutschen Partner RTL.
D
iese Geschichte ist garantiert wahr.
So wie alle Geschichten, die Robert
Halmi erzählt. Also: Es war ein kalter, ungemütlicher Abend in Budapest. Der
Krieg zu Ende, Halmis Elternhaus zerstört,
und der junge Mann, den die Rote Armee
wenige Wochen zuvor aus einem deutschen
Straflager in der Ukraine befreit hatte, auf
einer Parkbank eingeschlafen.
Er erwachte, und neben ihm saß eine
wunderschöne, blonde Unbekannte im
nebligen Dunkel. Schon am nächsten Morgen waren sie im zerschossenen Budapest
beim Standesbeamten und heirateten.
Drei, vier Tage später verließ Halmi das
Haus seiner neuen Schwiegereltern und
verschwand. Für immer. Die erste seiner
vier Ehen war gescheitert, bevor sie richtig begonnen hatte.
Eine wahre Geschichte? „Natürlich“,
antwortet Halmi auf so eine Frage, „vollkommen wahr.“ Um dann, nach einer kleinen Pause, hinzufügen: „Zumindest halbwahr.“ Doch dafür drehbuchtauglich – wie
alle seine Geschichten.
Sein Kopf ist voll von ihnen. Von wahren
und unwahren, von erfundenen und geschönten, von alten und neuen. Sie haben
ihn reich gemacht, denn viele seiner Lieblingsgeschichten hat er ins Fernsehen gebracht: die „Arche Noah“, „Merlin“, „Don
Quixote“ oder die „Cleopatra“-Verfilmung
154
mit Jungstar Leonor Varela in der Hauptrolle, die im Januar in Deutschland von
RTL gezeigt wird. Die Kritiker haben die
aufwendigen Schmachtfilme zerrissen, aber
das Publikum war meist begeistert.
Doch was nützt das, wenn ihm jetzt mit
seinen 75 die Zeit davonläuft. „Oh shit“,
sagt er und stochert mit dem Gehstock ungeduldig im Boden. Sein Leben ist zu kurz,
als dass er in Ruhe mit ansehen könnte, wie
hier in einer Bucht an der türkischen Mittelmeerküste quälend langsam sein neuer
30-Millionen-Dollar-Film entsteht.
Ein einziges Mal nur hat er selbst Regie
geführt. Ein grauenhaftes Desaster. Die
Schauspieler wollten von ihm wissen, wie
sie eine bestimmte Szene spielen sollten.
„Das ist mir scheißegal“, hat er ihnen gesagt, „Hauptsache, ihr spielt schneller!“
Der Film floppte – erwartungsgemäß.
„Oh shit!“ Warum nur muss die Einstellung mit Dennis Hopper als griechischem
König Pelias fünfmal gedreht werden? Drei
Durchgänge würden es auch tun. Doch das
ist nicht die einzige Frage, die ihn umtreibt.
Was soll er nur mit der gewaltigen Kulisse
einer antiken Stadt anfangen, die ihm englische Techniker für zwei Millionen Dollar
an den Strand gebaut haben? Seit zwei
Monaten wird hier „Jason und die Argonauten“ als Fernsehzweiteiler verfilmt,
doch dann?
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Halmi bohrt mit seinem Stock Löcher in
den Boden. Der Gedanke macht ihn krank,
die aufwendige Kulisse wieder zerstören
zu müssen. Zwei Millionen Dollar! Bis zum
Abend muss er eine Idee haben. Vielleicht
wird er einen Western drehen. Sieht doch
fast so aus wie eine Indianerstadt, oder?
Vier Stunden noch, dann kann er endlich
sein Büro in New York anrufen. Vier Stunden – eine halbe Ewigkeit! Er hasst es,
untätig herumsitzen zu müssen, weil sie in
New York noch schlafen. Auf 37 unterschiedlichen Telefonnummern ist er weltweit erreichbar. Um den Überblick nicht zu
verlieren, benutzt er für seine vielen Handys und den Safe („Da ist nichts drin“) den
gleichen Nummerncode – 1956, das Jahr
des Ungarnaufstandes.
Da hatte er seine Heimat schon lange
verlassen. Geflohen vor den Sowjets, die
ihn 1947 verhafteten, weil er für den amerikanischen Geheimdienst und CIA-Vorgänger OSS gearbeitet hatte. Am Tag der
Urteilsverkündung („Sie hätten mich zum
Tode verurteilt“) befreiten ihn die Amerikaner bei einem Gefangenentransport und
schmuggelten ihn in einem Kartoffeltransporter nach Österreich.
Es war das zweite Mal, dass Halmi
knapp entkommen war. 1944 wurde er als
Student Mitglied einer Widerstandsgruppe, die gegen die deutschen Besatzer
kämpfte. „Wir haben Brücken in die Luft
gejagt“, sagt er und denkt nach. „Na ja, um
genau zu sein: Es war eine Brücke.“ Später versorgte er im Auftrag des USGeheimdienstes Titos Partisanen in Jugoslawien mit Nachschub. Der frühere
Guerrillaführer zeigte sich als Staatschef
Cleopatra-Darstellerin Varela
Filme von den Kritikern zerrissen
Werbeseite
Werbeseite
RTL
Halmi-Produktion „Arche Noah“: Ebenso aufwendig wie anspruchslos
156
von dem betäubten Kojoten auf der Rückbank seiner Piper. Das Vieh wachte vorzeitig auf und fraß sich während des Fluges
langsam durch seinen Pilotensessel. Vermutlich halbwahr – der Vorfall.
Halmi war Autorennfahrer, Ballonfahrer und Bergsteiger, bevor er Anfang der
sechziger Jahre begann, Dokumentarfilme
zu drehen. Doch erst 1974, mit 50, wurde
er schließlich Produzent. Er verfilmte Hemingway, drehte für den amerikanischen
Sender CBS einen erfolgreichen Western
und kaufte 1994 für damals unerhörte neun
Millionen Dollar die Rechte an „Scarlett“,
der Fortsetzung des Schmachtromans
„Vom Winde verweht“.
Um die 40 Millionen Dollar für den TVFilm aufzutreiben, nahm Halmi unter anderem den Münchner Filmhändler Leo
Kirch und den italienischen Medienmogul
Silvio Berlusconi als Co-Produzenten unter Vertrag. Die internationale Zusammenarbeit bewährte sich.
Im Jahr 1998 kaufte RTL für drei Jahre
die Exklusivrechte für Halmis Monumentalproduktionen. Gleichzeitig beteiligt sich
M. TÜREMIS
dankbar: Halmi wurde mehrfach zur Jagd
auf den Balkan eingeladen.
In der Ukraine schnappten ihn kurz vor
Ende des Krieges die Deutschen. Er wurde von der anrückenden Roten Armee befreit, rückte mit den Sowjets zusammen in
seine Heimatstadt Budapest ein. Doch es
dauerte keine acht Monate, da hatte Halmi genug vom Kommunismus und sprengte wieder Brücken in die Luft. Behauptet
er zumindest. Seine Erlebnisse waren so
spektakulär, dass sie Anfang der fünfziger
Jahre in einer siebenteiligen Serie in der
New Yorker „Saturday Evening Post“ beschrieben und später von einem großen
Hollywood-Studio verfilmt wurden. „Mein
Leben ist wie ein B-Movie“, sagt er.
Der Boden in Österreich wurde ihm zu
heiß, nachdem er Intellektuelle aus seiner
alten Heimat in den Westen geschmuggelt
hatte. 1950 landete der Sohn einer Drehbuchschreiberin und eines kaiserlichen
Hoffotografen auf der amerikanischen
„General Sturgess“ in New York. Angeblich
mit nur fünf Dollar in der Tasche. Und angeblich ließ er sich von Anfang an mit einer Limousine herumfahren („Ich bin ein
Snob“). Das habe gegenüber dem Taxi den
Vorteil gehabt, dass die Rechnung erst nach
30 Tagen gekommen sei.
Halmi machte schnell Karriere als Fotograf. Zunächst für einen Windelservice,
dann als Mitarbeiter des legendären Magazins „Life“. Der ungarische Emigrant
wurde Spezialist für gefährliche Aufträge.
„Es stand immer in der Zeitung, wenn ich
wieder einmal einen Job überlebt hatte.“
Er ließ sich – in einem Sarg liegend – mit
Dynamit in die Luft sprengen, lebte drei
Monate lang bei den Pygmäen in Afrika,
ließ sich mit dem Fallschirm auf einem einsamen Gletscher in Alaska absetzen und
erzählt immer wieder gern die Geschichte
der Kölner Sender als Co-Produzent jedes
Jahr an drei seiner Projekte. Etwa zehn
Prozent der Produktionskosten werden
von RTL getragen. Im Januar wird Halmis
„Cleopatra“ gezeigt, später im Jahr dann
„Jason und die Argonauten“.
Längst hat Halmi sein Unternehmen an
einen Großkonzern verkauft. 1994 kassierte er für seine Firma 365 Millionen
Dollar von dem US-Grußkarten-Hersteller Hallmark. Doch nach wie vor ist er
Chef der Hallmark Entertainment – zusammen mit seinem Sohn „Robie“.
„Wir haben ein komisches Verhältnis“,
sagt Halmi über seinen Sohn, der in New
York gleichzeitig sein Nachbar ist, „er kontrolliert meine Ausgaben und fragt mich,
warum ich immer noch für die Kreditkarte meiner Ex-Frau bezahle.“ Doch „Robie“ duldet still, dass sein Vater Häuser in
Manhattan unterhält, in North Salem im
US-Bundesstaat New York, in London, in
Marbella und in Kenia. Und er hat auch
nichts gesagt, als Halmi Senior seine 20Meter-Yacht gegen ein 27-Meter-Boot austauschte. Oder sich einen neuen Aston
Martin kaufte. Nur die Harley-Davidson
war ein Geschenk – zum 70. Geburtstag.
In den USA wird er manchmal der „Steven Spielberg des Fernsehens“ genannt,
doch Halmi mag den Vergleich nicht. Weil
er Spielberg nicht mag. Er hasst Hollywood. Oft genug steigt er dort im Hotel
Beverly Wilshire ab, das durch „Pretty
Woman“ Filmruhm erlangt hat. Er mag
nicht, wie schon beim Frühstück die Deals
gemacht werden, er hasst es, wenn Taxifahrer versuchen, ihm ihre laienhaften
Drehbücher aufzuschwatzen, und er ist genervt, wenn er im Hotelaufzug von Schauspielern um eine Rolle angebettelt wird.
Doch noch weniger mag er die Männer,
die inzwischen die internationalen Medienkonzerne dirigieren. Leute wie Rupert
Murdoch, die geldgierig und seelenlos an
ihren Imperien basteln. „Das sind dieselben Leute, die in den Buchladen gehen,
um einen Meter Bücher zu kaufen“, sagt
Halmi, „sie können einfach nicht verstehen, warum ich so erfolgreich bin.“
Und: „Es ist der gleiche Aufwand, ob man
Shit produziert oder etwas Vernünftiges
macht. Man muss sich nur
entscheiden.“
Halmi sieht sich als einen
der letzten Moralisten in einer Welt des Kommerzes.
Seine Filme sind ebenso aufwendig wie anspruchslos,
doch er freut sich wie ein
Kind, wenn sein „Wilhelm
Tell“ im kenianischen Fernsehen Traumquoten erreicht.
Aber er ist zu alt, um sich Illusionen hinzugeben. „Mich
wird keiner vermissen“, sagt
er, „und dann werden sie
wieder Scheiße senden.“
Königsdarsteller Hopper: Quälend langsamer Dreh
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Konstantin von Hammerstein
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SPIEGEL-Serie über Wende und Ende des SED-Staates (9)
Die Woche vom 20. 11. 1989 bis zum 26. 11. 1989
»Wir sind ein Volk«
T. HÄRTRICH / TRANSIT
Die Massen rufen nach Wiedervereinigung, in Moskau
und Washington schwinden die Vorbehalte gegen die deutsche
Einheit. Die SED, unter wachsendem Bonner Druck,
zeigt sich bereit, mit der Opposition zusammenzuarbeiten.
Montagsdemonstration am 20. November 1989 in Leipzig
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100 TAGE IM HERBST: »WIR SIND EIN VOLK«
CHRONIK
Montag, 20. November 1989
Leipzig
Leipziger Fotoreporter Naumann (1999)
„Heute sind die Würfel gefallen“
M. NAUMANN
Seit Wochen beobachtet Martin Naumann,
57, Fotoreporter der „Leipziger Volkszeitung“, jede der Montagsdemonstrationen
auf dem sechsspurigen Promenadenring.
„Heute“, schreibt er in sein Tagebuch,
„sind die Würfel gefallen.“ Denn: „Es tauchen erstmalig Staatsflaggen der Bundesrepublik auf, dazu rufen die Leute
,Deutschland einig Vaterland‘, ein Stück
Nationalhymne der DDR, ein Text, den wir
in der DDR so lange entbehren mussten.“
Trotz Smog sind 250 000 Menschen auf
den Beinen, statt „Wir sind das Volk“
skandieren sie nun „Wir sind ein Volk“.
Die Transparente, die Reporter Naumann
heute fotografiert, fordern die staatliche
Einheit („Volksentscheid zur Wiedervereinigung“) und künden vom Zorn der Bürger, die sich „belogen und betrogen“
fühlen von einer raffgierigen Politikerkaste: „Die Bonzen leben wie in Denver und Dallas – gebt den Rentnern nun
alles.“
Die Grenzöffnung hat die Wut ins Grenzenlose wachsen lassen. Acht Millionen
Menschen haben in den letzten zehn Tagen
die Bundesrepublik besucht – rechnerisch
die Hälfte der DDR-Bevölkerung. Jeder hat
bei diesen Ausflügen erfahren, wie groß
der wirtschaftliche Vorsprung des golde-
M. NAUMANN
»Feilschen um die DDR«
Naumann-Foto von der Leipziger Montagsdemonstration am 20. November 1989: „Über die Lautsprecher kommt ziemlicher Unsinn“
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nen Westens, wie wertlos die Aluminiumwährung des Ostens ist.
Das Gefühl, jahrzehntelang um die
Früchte der Arbeit betrogen worden zu
sein, verstärkt nicht nur den Wunsch nach
rascher Wiedervereinigung, sondern beflügelt auch die abenteuerlichsten Gerüchte
über das Wohlleben in Wandlitz, der geheimen Waldsiedlung der Ost-Berliner
Spitzengenossen (siehe Analyse Seite 180).
„Über die Lautsprecher kommt ziemlicher Unsinn“, notiert Reporter Naumann:
Ein Redner behauptet, das ZK hätte in der
Karibik eine Insel gekauft, Honecker hätte sich in der Schweiz operieren lassen und
Egon Krenz für 400 000 Dollar in den USA.
Die Partei hätte Ferienheime auf Mallorca, Margot Honecker würde einmal in der
Woche in die Schweiz zum Kaffeetrinken
fliegen und einmal im Monat nach Paris
zum Friseur. Alles natürlich Unsinn.
Auch an diesem bitterkalten Abend verabreden sich die Teilnehmer wie nach jeder
Leipziger Demonstration für den nächsten
Montag.
Heute heißt es: „Kommt auch nach dem
ersten Schnee, sonst freut sich die SED.“
ner in den Westen fahren durften, konnten
die Reisenden vergleichsweise kommod
mit je 15 West-Mark „Pinkelgeld“ (Volksmund) aus Schalcks Devisenkasse ausgestattet werden, eingetauscht für 15 OstMark. Weil nun aber Millionen auf Achse
sind, ist absehbar, wann die Valuta-Schatulle geplündert sein wird.
Auch Bonn steckt in der Klemme. Die
Bundesrepublik kann an die vielen Millionen DDR-Bürger, die nun die Grenzen passieren, nicht auf Dauer jeweils 100 Mark
„Begrüßungsgeld“ zahlen. Der Willkommensgruß soll mit Jahresbeginn 1990 entfallen.
Als Ersatz ist ein Reisedevisenfonds im
Gespräch, in den beide Seiten einzahlen:
DDR-Bürger sollen bis zu 300 Ost-Mark
pro Jahr im Verhältnis eins zu fünf in WestMark wechseln können.
Die SED-Regierung müsse, pokert Seiters, in den Fonds eine Milliarde Mark
West einschießen und außerdem auf den
Zwangsumtausch (je 25 Mark im Verhältnis eins zu eins) für ostwärts reisende
Bundesbürger verzichten. Doch die OstBerliner sperren sich: Allein der Wegfall der bisher erhobenen Eintrittsgebühr
in die Ost-Republik bedeutet eine Min-
geht euch gar nichts an. Das ist Sache der
DDR‘“. Jedoch: „Unsere politische und
ökonomische Lage lässt mir nur die Wahl,
sachlich die Fragen des Bundeskanzlers zu
beantworten.“
Abends gibt die Redaktion des SED-Zentralorgans „Neues Deutschland“ einen wütenden Kommentar in Satz: Die Bundesregierung wolle die DDR offenbar erst dann
„belohnen, wenn sie sich als souveräner
sozialistischer Staat aufgegeben“ habe.
Dienstag, 21. November 1989
Ost-Berlin
Dem Zweizentnermann, der in die Routinesitzung des Politbüros platzt, kullern
Tränen unter der Sonnenbrille hervor.
Staatssekretär Alexander Schalck-Golodkowski, wichtigster DDR-Devisenbringer,
fürchtet um sein Leben: „Jetzt bringen sie
mich um.“
Überall in der Republik geht der neue
SPIEGEL von Hand zu Hand, der Schalcks
Geldbeschaffungsmethoden enthüllt: Ein
Netz von Tarnfirmen verschiebt Waffen,
vermietet Prostituierte und verscherbelt
Kunstschätze.
Seit der Nacht, in der die Mauer brach, hadern die Hardliner der SED mit dem
Schicksal: Hätte sich der Genosse
Schabowski am Abend des 9. November
klarer ausgedrückt, wäre der Sturm auf die
Mauer unterblieben und die DDR-Regierung in der Lage, sich die Grenzöffnung
von Bonn teuer bezahlen zu lassen.
In kleinem Kreis trauert auch Hans
Modrow der guten alten Mauerzeit nach.
Früher, sinniert der neue Ministerpräsident, habe „jeder Grenzübergang der DDR
-zig oder hundert Millionen gebracht“;
jetzt gebe es 93 Grenzübergänge, also 63
mehr als bisher, „und nun versuchen wir
mühsam nachzuklagen, ob wir daraus noch
irgend etwas Ökonomisches auf die Beine
bringen können“.
An diesem Montag sieht Modrow die
letzte Gelegenheit, aus dem Betriebsunfall, der plötzlich zur Maueröffnung führte, nachträglich Kapital zu schlagen: Helmut Kohl hat seinen Kanzleramtschef Rudolf Seiters zu einem „Sondierungsgespräch“ nach Ost-Berlin geschickt.
Als der Bonner Besucher im Staatsratsgebäude eintrifft, wird er erst einmal umgarnt. Krenz, Modrow und Schalck-Golodkowski erinnern den Gast daran, dass
„Freizügigkeit“ doch „bekanntlich auf der
Forderungsliste der BRD immer ganz oben
gestanden hat“.
Nachdem Ost-Berlin mit der Maueröffnung „eine große Vorleistung gebracht“
habe, drängelt Krenz, solle Bonn sich nun
an den Kosten beteiligen.
Die DDR hat ein Problem, das von Tag
zu Tag wächst: Solange nur ein paar Rent-
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Ost-Berlin
Gesprächspartner Seiters, Krenz, Modrow: Probleme mit dem „Pinkelgeld“
dereinnahme von 500 Millionen harten
Mark.
Die Bonner Emissäre wissen, dass die
neuen SED-Regenten mit dem Rücken zur
Wand stehen. Und sie nutzen deren
Schwäche nach Kräften aus.
Bonn will sich an dem Fonds nur beteiligen, wenn die DDR drei Fragen klar beantwortet: Wann werden freie Wahlen anberaumt? Wann werden neue Parteien zugelassen? Wann wird der Führungsanspruch
der SED aus der Verfassung gestrichen?
Krenz würde am liebsten, wie er später
festhält, „undiplomatisch antworten: ,Das
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Mit den so erwirtschafteten Devisen
kauft Schalck im Westen Abhörwanzen
und Computer für die Stasi oder Delikatessen und Preziosen für SED-Prominente
– als Geburtstagsgeschenk für Margot
Honecker beispielsweise Brillantschmuck
zum Preis von 9405,40 West-Mark.
Nun fürchtet der 1,90 Meter große ExRinger, empörte DDR-Bürger könnten ihre
Wut an ihm und seiner Frau auslassen.
Egon Krenz verspricht Hilfe und Polizeischutz. Und auch der Ministerpräsident
will sich für den bedrängten Genossen einsetzen, der stets zur Stelle war, wenn es
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100 TAGE IM HERBST: »WIR SIND EIN VOLK«
H. HÖRSELJAU
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ser SDP“, weshalb „ihr
euch auch vom Amt her
einen Kopf mit machen
müsst“. Die sozialdemokratische Neugründung
empfindet Kommunist
Modrow als illegitime
Konkurrenz zur SED:
„Das ist ja die Frage der
Spaltung der Arbeiterklasse.“
Der neue Nasi-Chef
Schwanitz, schon seit 1951
SPIEGEL-Bericht vom 20. November 1989, Hauptfigur Schalck-Golodkowski: Tränen unter der Sonnenbrille
im MfS, ringt um ein zugalt, Konsumententräume von Politbüro- „dass wir aufhören, schon den Wahltermin kunftsfähiges Profil seines Amtes. Seine
festzulegen“. Modrow: „Wollen wir doch Antrittsrede basiert auf einem vertrauliFamilien zu erfüllen.
chen Positionspapier, das ihm der 1986 ausModrow zu Schalck: „Wir müssen se- erst mal mit den anderen verhandeln.“
Freie Wahlen will dieser Reformsozialist geschiedene Spionagechef Markus Wolf,
hen, wie wir da rauskommen.“
Nachdem der Premier im Politbüro den seinem Volk nur gewähren, wenn der Klas- der nun als Reformer auftritt, wenige Tage
zuvor übergeben und erläutert hat.
heulenden Geldbeschaffer getröstet hat, senfeind ihn dafür mit Devisen belohnt.
Eifersüchtig beäugt Modrow seine „KoTeilweise vertritt Schwanitz, Wolfs Foreilt er in die Geheimdienstzentrale. Im bisherigen Ministerium für Staatssicherheit – alitionspartner“: Er argwöhnt, dass sich die mulierungen folgend, die Forderung, mit
nun umetikettiert in Amt für Nationale Blockparteien bis zur Wahl („Ich gehe da- der Vergangenheit zu brechen. „Wovon
Sicherheit (Nasi) – will er den zwangsge- von aus, dass das im Herbst 1990 sein müssen wir uns trennen, Genossen?“, fragt
wendeten Stasi-Führern zu neuem Le- kann“) Vorteile auf Kosten der SED zu ver- er in die Runde, um sogleich zu antworten:
schaffen suchen.
„Von der These, wir müssten alles wissen,
bensmut verhelfen.
Sauer ist Modrow vor allem auf die was in diesem Staat geschieht oder nicht
Anlass für Modrows Auftritt ist die Ernennung von Generalleutnant Wolfgang LDPD, die sich heftig der Opposition an- funktioniert, und überall Einfluss nehmen.“ Schwanitz weiter:
Schwanitz, Erich Mielkes bisherigem Stell- biedert.
Modrow: „Wer sich einbildet, dass das
vertreter, zum neuen Amtschef. Gleich zu
Beginn der Dienstbesprechung, beim Aus- Neue Forum Blutspender für eine der Par- Dieses falsche Herangehen führte zu einer
sprechen des ungewohnten Amtsnamens, teien werden will und dass die LDPD viel- Aufblähung unseres Apparates. Um es ganz
verhaspelt sich der Ministerpräsident: „Es leicht meint, dass das Neue Forum sozusa- deutlich zu sagen, Genossen, solch einen
fällt noch schwer, das über die Lippen zu gen in Scharen zur LDPD zieht und daraus riesigen Sicherheitsapparat kann sich kein
kriegen“, entschuldigt er sich bei den Ge- die mächtige Partei erwächst, der hat eine Staat dieser Welt mit dieser BevölkerungsIllusion.“
zahl und dieser Wirtschaft leisten.
nerälen.
„Bislang überhaupt keine Vorstellung“
Modrows Ansprache – festgehalten in
Ebenso müsse der Dienst sich „trennen
einem internen Wortprotokoll – erhellt, hat der Ministerpräsident, wie er der alten
wie der DDR-Spitzenmann gegenüber dem Stasi-Elite gesteht, vom „Umgang mit die- von der operativen Bearbeitung Andersdenkender“ und von der Ansicht, „die PoWesten und seinen Koalilitik habe das Primat in der operativen Artionspartnern zu operieren
beit“. Diese Auffassung habe „faktisch zu
gedenkt.
der Tatsache geführt, dass das MfS immer
Die Blockparteien, plaumehr das Machtorgan des Generalsekretärs
dert Modrow in der vertrauwurde“.
ten Runde, habe er davon
Es gibt, so Schwanitz, „auch unter uns
überzeugt, dass die DDR genoch Genossinnen und Genossen, die meigenüber Bonn nicht voreilig
nen, wir können nach außen die Linie der
Positionen preisgeben dürfe:
Erneuerung deklarieren und ansonsten so
„Wenn sozusagen gar nichts
weitermachen wie bisher“.
mehr da ist, dann sind wir
Das, schärft Schwanitz seinen Leuten
nur am Bettelstab. So kann
ein, gehe „auf keinen Fall“ – einerseits.
die Geschichte ja nicht geAndererseits laviert Schwanitz, um den Lahen.“
den zusammenzuhalten.
Mit den Blockpartei-VorDas Amt müsse Auflösungserscheinunsitzenden sei er sich einig,
gen entgegenwirken: „Nicht dass uns jetzt
alles hier anarchisch auseinanderrennt.“
Vor allem gelte es, dafür Sorge zu tragen,
dass dem Gegner kein belastendes Material
in die Hände fällt.
„Was dieses Vernichten“ von Stasi-Akten angehe, empfiehlt Schwanitz: „Macht
das wirklich sehr klug und sehr unauffällig.“
Denn: „Wir werden stark kontrolliert.“
Die kompromittierenden Papiere, weiß
Schwanitz aus Äußerungen führender Bürgerrechtler, sollen „für ihr ,Gericht‘ aufgehoben werden, das in ihren Vorstellungen
Nasi-Chef Schwanitz, Reißwolf
ja schon existiert“.
„Macht das sehr unauffällig“
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gehörigkeit zu den Militärbündnissen und zur Möglichkeit eines Friedensvertrags aufgeschrieben hat.
„Wie Sie sehen“, sagt der Russe,
„denken wir in der deutschen Frage
alternativ über alles Mögliche, sogar
quasi Undenkbares nach.“ Er könne
sich vorstellen, dass die Sowjetunion
mittelfristig einer wie immer gearteten deutschen Konföderation grünes Licht geben werde.
Teltschik ist „wie elektrisiert“. Offenbar denken die Regierenden
in Moskau schon weiter als die in
Deutschland. Der Berater eilt zu seinem Kanzler. Der hatte noch eine
Woche zuvor durch seinen Unterhändler
Walther Leisler Kiep der DDR-Regierung
bei einem Geheimtreffen im Ost-Berliner
Palasthotel signalisiert, die deutsche Einheit stehe nicht auf der Tagesordnung.
Wenn nun jedoch die sowjetische
Führung die Möglichkeit der Wiedervereinigung erörtere, erkennt Teltschik, dann
sei es „höchste Zeit, dass wir das nicht
mehr länger im stillen Kämmerlein tun,
sondern in die Offensive gehen“.
Fast zur selben Zeit spricht Außenminister Hans-Dietrich Genscher im Weißen
Haus vor.
Präsident George Bush gibt zu erkennen, dass in den USA seit dem Mauerfall
viele Vorbehalte gegen eine Wiedervereinigung Deutschlands geschwunden seien.
Allerdings: „Friedlich“, fordert Bush, müsse der Prozess des Zusammenwachsens
schon vonstatten gegen.
Die deutsche Einheit, verspricht Genscher daraufhin dem US-Präsidenten, werde nicht als „brüllende Löwin“ auferstehen, sondern als „Taube des Friedens“.
Und er zitiert, was seine Landsleute tags
zuvor in Leipzig gerufen haben: „Wir sind
ein Volk.“
ACTION PRESS
Nikolai Portugalow, 61, einer der führenden
sowjetischen Deutschland-Experten, hat
sich bei Kohls außen- und deutschlandpolitischem Berater Horst Teltschik, 49, angemeldet.
Der Kanzlergehilfe kennt Portugalow seit
zehn Jahren als unverkrampften Gesprächspartner, „äußerst schlitzohrig“ und
„fast übertrieben freundlich“. Heute jedoch
wirkt der Russe auf Teltschik „um vieles
ernsthafter“ als sonst, ja „fast feierlich“.
Portugalow übergibt dem Kanzlerberater ein handgeschriebenes Papier. Höflich
entschuldigt er sich für seine Schrift und
für die angeblich schlechte Übersetzung
ins Deutsche.
Der erste Teil, erläutert der Gast, habe
regierungsamtlichen Charakter. Die weiterführenden Überlegungen im zweiten
Teil dagegen seien lediglich mit Walentin
Falin besprochen, dem früheren Bonn-Botschafter und jetzigen Moskauer ZK-Abteilungsleiter für internationale Beziehungen, mit dem Portugalow persönlich befreundet ist.
Gorbatschow, heißt es im amtlichen Teil,
gehe davon aus, dass in Bonn kein Zweifel bestehe, dass die Wende in der DDR
ACTION PRESS
Bonn
Gesprächspartner Teltschik, Portugalow
„Höchste Zeit, in die Offensive zu gehen“
Im zweiten Teil des Portugalow-Papiers
geht es um Fragen der Zusammenarbeit
zwischen den beiden deutschen Staaten.
Und auch diese Passagen lassen Teltschik
„aufhorchen“.
Bereits am Freitag hat er den Wortlaut einer erstaunlichen Rede bekommen, die Gorbatschow am 15. November vor Studenten
in Moskau gehalten hatte. Darin sprach der
Kremlchef ausdrücklich von einer „Wiedervereinigung“ Deutschlands, die zwar
„heute keine Frage der aktuellen Politik“
sei, die er aber, wie die Formulierung nahe
legt, auch nicht erst in ferner Zukunft sieht.
AP
Mittwoch, 22. November 1989
Ost-Berlin
Gesprächspartner Bush, Genscher in Washington*: „Taube des Friedens“
ohne die Sowjetunion und erst recht gegen
sie undenkbar gewesen wäre. In Moskau
habe man schon sehr früh gewusst,
„im Grunde seit Morgendämmerung der
Perestroika“, wohin die DDR steuern
werde.
Das ist für Teltschik „eine kleine Sensation“: Es bedeutet, „dass die Sowjetunion
sich mit der Entwicklung in der DDR identifiziert, ja mit dem Hinweis auf die Perestroika sogar die Verantwortung dafür
übernimmt“.
166
Gorbatschow bezeichnete die Frage der
Einheit ausdrücklich als „innere Angelegenheit“ beider deutscher Staaten, nicht
nur der DDR. Und er fuhr fort: „Wie die
Geschichte weiter verfügen wird? Kommt
Zeit, kommt Rat.“
Die Gorbatschow-Worte im Kopf, liest
Teltschik, was Portugalow über Wiedervereinigung, EG-Beitritt der DDR, Zu* Am 21. November im Weißen Haus, mit einem Stück
Beton aus der Berliner Mauer.
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Ehrhart Neubert vom Demokratischen
Aufbruch ist überrascht: Die Wendehälse
von der SED scheinen plötzlich „die Opposition überholen zu wollen, um die
Initiative wiederzugewinnen“.
Während einer Besichtigung der Energieanlagen-Fabrik VEB Bergmann-Borsig
in Pankow hat Egon Krenz blitzschnell einen tags zuvor präsentierten Vorschlag der
Systemkritiker aufgegriffen: Alte und neue
Parteien sollten gemeinsam an einem
„Runden Tisch“ über die Zukunft des Landes beraten.
Die Idee stammt aus Polen. Dort war
das kommunistische Regime, das sich seit
1981 auf Ausnahmeverordnungen stützte,
im Februar 1989 gezwungen worden, den
Weg friedlicher Verhandlungen mit der Opposition einzuschlagen. Vier Monate später
führten Neuwahlen zu einem gewaltfreien
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ULLSTEIN BILDERDIENST
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Auf der Bühne, inmitten des beifallumÜbergang vom totalitären zum demokra- er gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann protestiert hatte, war tosten Filmteams aus alten DDR-Zeiten,
tischen System.
Die diversen Oppositionsgruppierungen er bei den SED-Kulturpolitikern in Un- zeigt sich Krug überglücklich: Offenbar gebe
es „nun doch noch andere Wege der künstin der DDR träumen davon, dem polni- gnade gefallen.
Nun ist der Star zurückgekehrt: Nach lerischen Auseinandersetzung“ als jene, „deschen Beispiel zu folgen. Doch organisatorische Zersplitterung, diffuse Programma- 23 Jahren des Verbots wird im „Inter- rentwegen ich meine DDR verlassen habe“.
Kaum einer der begeisterten Zuschauer
tik und strategische Defizite haben ein Zu- national“ der legendäre Spielfilm „Spur
der Steine“ (Hauptdarsteller: Manfred bemerkt, dass während der Vorstellung ein
standekommen bisher verhindert.
Das Neue Forum, die breiteste opposi- Krug) wieder aufgeführt – ein zeitkri- Sicherheitsoffizier zu Krenz eilt und ihm
tionelle Bewegung, hat zwar 200 000 Un- tischer Streifen, der wie viele andere zuflüstert, „Genosse Honecker“ wolle ihn
terschriften gesammelt. Aber auch zwei Defa-Produktionen 1966 das Missfallen am Telefon „unbedingt sprechen“: „Er lässt
Monate nach der Gründung gibt es noch der SED erregt hatte und nach inszenier- sich nicht abweisen.“
ten Krawallen in den Giftschrank verVon einem Nebenraum aus telefoniert
keinen legitimierten Sprecherrat.
Krenz mit seinem Vorgänger. Honecker
Nachdem die Bürgerrechtsgruppe De- bannt worden war.
ist außer sich: „Ich habe
mokratie Jetzt! die seit Wochen herumeben in den Nachrichten
geisternde Idee eines Runden Tisches in
gehört, dass ein Parteivereine konkrete Einladung umgesetzt hatte,
fahren gegen mich eingeleisagte als erste der alten Blockparteien
tet wurde.“
die LDPD ihre Mitwirkung zu. Parteichef
Tatsächlich hat die ZenManfred Gerlach, vormals ein besonders
trale Parteikontrollkommiswillfähriger Gehilfe der SED und nun der
sion beschlossen, den Gefixeste Reformer unter den Blockflöten,
nossen mit dem Personalmeint, die drängendsten Probleme müssausweis A 000 000 1 (siehe
ten gemeinsam angepackt werden: „Die
Porträt Seite 178) nach fast
Talsohle der Krise ist noch nicht erreicht.“
60-jähriger Mitgliedschaft
Der Zustand der Opposition ermutigt
aus der SED zu verbannen.
Krenz, den Vorschlag aufzugreifen: Ein
Gegen Honecker – der noch
Runder Tisch gibt der SED die Chance,
am 18. Oktober im ZK und
sich an die Spitze der Bewegung zu setzen.
am 24. Oktober in der VolksSo kann der umstrittene Generalsekretär
kammer mit Dank verabvor dem nächsten Parteitag, auf dem über
schiedet worden ist – läuft
seine politische Zukunft entschieden wird,
nun ein förmliches Ausnoch rasch ein Signal seiner Reformbe- Filmstar Krug, Kinobesucher Krenz*: „Geht auch anders“
schlussverfahren.
reitschaft aussenden.
Krenz bemüht sich, den Anrufer zu beWer am Runden Tisch sitschwichtigen. Wegen Honeckers angezen und was dort verhandelt
schlagenem Gesundheitszustand seien
werden soll, ist ebenso offen
„keinerlei Aussprachen“ zu erwarten:
wie die Frage, welche Ent„Das heißt, die Sache ruht.“
scheidungskompetenz das
Doch der Abgehalfterte will sich nicht
Gremium hat. Der Runde
beruhigen. „Ich habe den Eindruck“, hält
Tisch, so Neuberts wolkige
Krenz in seinem Tagebuch fest, „Honecker
Interpretation, habe „zufürchtet den Ausschluss aus der Partei
nächst einmal keine parlamehr als ein Gerichtsverfahren.“
mentarische Funktion“, sondern „mehr ein politischmoralisches Gewicht“.
Die Vertreter der alten
Freitag, 24. November 1989
Macht können auch aus
Ost-Berlin
einem anderen Grund optimistisch sein: Die BlockparSchon vor 14 Tagen hat der SED-Chef seiteien und die Oppositionsnen Großen Bruder in Moskau dringend
gruppierungen, mit denen sie Krug in „Spur der Steine“ (1966): „Hieb auf die Birne“
um politische Orientierungshilfe gebeten:
sich an einen Tisch setzen
Wie soll es weitergehen mit DDR und
wollen, sind noch immer dicht durchsetzt
„Ich habe damals den ersten Hieb auf BRD?
mit Einflussagenten der Stasi-Nasi.
die Birne gekriegt“, erzählt Krug vor der
Gorbatschow hat seinen Berater WaWiederaufführung einem anderen promi- lentin Falin nach Ost-Berlin in Marsch
nenten Kinobesucher: Egon Krenz, der gesetzt. In der sowjetischen Botschaft
Donnerstag, 23. November 1989 durch seine Präsenz demonstrieren will, soll er die ostdeutschen Genossen vordass es in der Kulturpolitik „auch anders sichtig auf einen Moskauer Kurswechsel
Ost-Berlin
geht“ als einst.
mit weltpolitischen Konsequenzen vorSchon während der Vorstellung gibt es bereiten.
Autogrammstunde im Kino „InternatioAls Krenz nach dem vielstündigen Genal“ in der Karl-Marx-Allee. Menschen- Szenenapplaus für nach wie vor „aktuelle
trauben ballen sich um Manfred Krug, 52, Passagen“ (Krug) des Films.Als der Abspann spräch die Botschaft verlässt, schwirrt ihm
der – Brille auf der Nase und flotte Sprüche läuft, reißt es auch jene aus den Klappses- der Kopf: Falin hat ihn – und Modrow, der
verspätet hinzukam – doch tatsächlich aufauf den Lippen – unermüdlich seinen Na- seln, die 1966 noch in die Krippe gingen.
gefordert, über eine „Neuvereinigung“ der
menszug schreiben muss.
Der einst populärste DDR-Schauspieler, * Bei einer Autogrammstunde im Ost-Berliner Kino „In- beiden deutschen Staaten nachzudenken.
Held in 40 Filmen und 20 Fernsehspielen, ternational“ anlässlich der Wiederaufführung des Films Im Übrigen solle die SED, um nicht weiter
in die Defensive zu geraten, ihre „Theorie
war 1977 nach West-Berlin ausgereist. Weil „Spur der Steine“ in der DDR.
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U. v. d. HEIDT / PLUS 49 / VISUM
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Lebensmittel und „Untertrikotage“, wie Dessous
auf DDR-Deutsch heißen,
sind nur noch gegen Vorlage
des blauen DDR-Ausweises
erhältlich. Polnische Autofahrer dürfen die Transitstrecken durch die DDR
nicht mehr verlassen.
„Endlich mal, dass unsere
Regierung was Ordentliches
unternimmt“, freuen sich
die Werktätigen. Schon lange schwelt der Unmut über
Durchreisende, die über die
offenen Grenzen kommen
und in Riesenmengen ostdeutsche Produkte wegschleppen. Denn mehr als
vier Fünftel der tatsächliSowjetbotschaft in Ost-Berlin: „Eigenartiges Gefühl“
chen Kosten für die Herstelvon den zwei deutschen Nationen“ revi- lung oder den Import von Lebensmitteln
werden in der DDR vom Staat und damit
dieren.
Die Kursänderung ist schwer zu ver- von der Bevölkerung getragen – allein
kraften für Krenz. Im „Wiedervereini- 1989 schießt die Regierung 33,1 Milliarden
gungsgerede“ hat er immer nur eine Spiel- Mark zu.
Schnittfeste Salami beispielsweise, die
art des Rechtsradikalismus gesehen. Und
stets hat er betont, seine Heimat sei nicht für 10,80 Ost-Mark das Kilogramm über
die Ladentheke geht, müsste eigentlich
Deutschland, sondern die DDR.
Den treuen Vasallen Moskaus be- 24,80 Mark kosten – die Differenz zahlt
schleicht „in diesem Herbst zum ersten der Staat drauf.
In der DDR-Presse werden die SchmugMal das eigenartige Gefühl, um die DDR
wird gefeilscht“ zwischen der maroden gelaktionen immer häufiger angeprangert.
So ist zu lesen, dass am Grenzzollamt GörUdSSR und den kraftstrotzenden USA.
„Nabelt sich die Sowjetunion ab?“, no- litz bei einem Polen zwei Zentner Hatiert Krenz über das Gespräch mit Falin. selnüsse sowie 16 Angelruten, 26 AngelUnd tief verunsichert fügt er hinzu: „Ich netze und 60 Rollen Angelschnur beschlagwill es nicht glauben, schließe es aber auch nahmt worden seien.
Das ist die eine Seite des freien Reisenicht mehr aus.“
verkehrs. Die andere erleben DDR-BürOst-Berlin
ger, wenn sie in den Westen fahren.
Weil die Ost-Mark als reine DDR-BinSie tragen zwar keine Uniformen, aber die
in beige-braune Kittel gekleideten Kassie- nenwährung nicht konvertierbar ist, entrerinnen im „Centrum“-Warenhaus am wickeln sich Willkürkurse nach dem PrinAlexanderplatz erfüllen hoheitliche Auf- zip von Angebot und Nachfrage, und der
gaben: Sie wollen die Personalausweise ihrer Kunden sehen.
Wenn die irritiert mit den Schultern
zucken, fragt das Personal nach „Dokumenta“ – das verstehen die zumeist polnischen und rumänischen Käufer, die sich in
der DDR massenhaft und billig mit staatlich hoch subventionierten Waren eindecken.
Körbeweise kaufen Kundinnen Wurst,
Backpulver und Gewürze ein. Ihre Männer
deponieren die Ware bis zur Heimreise in
Schließfächern am nahe gelegenen S-Bahnhof, während sie selbst erneut auf Einkaufstour gehen.
Damit soll nun Schluss sein. Die Regierung Modrow hat „unpopuläre Maßnahmen“ verkündet, mit denen der befürchtete Ausverkauf subventionierter Waren
ins westliche wie ins östliche Ausland verhindert werden soll.
Ostdeutsche in West-Berlin
„Beteiligt euch nicht am Ausverkauf“
170
Reisestrom der letzten Wochen drückt den
Schwarzmarktpreis. Für eine Ost-Mark erhält der DDR-Bürger gerade noch fünf
Pfennig West. Für denselben Betrag kann
ein West-Berliner im Ostteil der Stadt zwei
Pfund subventioniertes Brot kaufen.
Modrow beschwört seine Landsleute, ihr
hart erarbeitetes Geld „im Westen nicht
wegzuwerfen“. Doch die opfern ihr Erspartes – verächtlich „Ostlappen“ oder
„Kosakendollar“ genannt – gern für Waren, die sie daheim nicht kaufen können.
Seit der Öffnung der Grenze am 9. November sind nach offiziellen Angaben fast
drei Milliarden Mark Ost illegal nach WestBerlin und in die Bundesrepublik geschafft
worden. Das Neue Forum appelliert daher
an die DDR-Bürger:
Beteiligt euch nicht am Ausverkauf unseres
Landes ... Nehmt keine Schwarzarbeit auf,
verkauft keine Kunstwerke und subventionierte Waren, tauscht keine DDR-Mark
zum Schwindelkurs – die gleiche DDRMark kauft uns später die Regale leer.
Doch der Aufruf verpufft – allzu begrenzt sind die Möglichkeiten, legal an die
ersehnten Devisen zu kommen.
Die SED, um Selbstreinigung bemüht,
straft die Verursacher der Misere ab: Als
Hauptschuldiger wird der ehemalige Wirtschaftslenker Günter Mittag ausgemacht.
Gerhard Schürer, 24 Jahre lang Leiter der
Staatlichen Plankommission der DDR,
nennt Mittag nun den „Mephisto im Politbüro“.
An Mittags verhängnisvollem Kurs, die
Wirtschaft auf Verschleiß zu fahren, ökologischen Raubbau zu betreiben und soziale Wohltaten auf Pump zu finanzieren,
hatte Parteichef Erich Honecker niemals
Kritik zugelassen – mit eiserner Konsequenz führten der Generalsekretär und
sein Vertrauter die DDR in den Ruin.
Sonnabend, 25. November 1989
Ost-Berlin
Staunend sieht das Volk, wie seine Führer
wohnten. Das schrille TV-Jugendmagazin
„Elf99“, erst seit September auf Sendung,
zeigt das süße Leben der früheren Politprominenz im Bonzenghetto Wandlitz.
Egon Krenz, die Nase immer im Wind
des Wandels, hat den Privilegienpfuhl am
vergangenen Wochenende fluchtartig verlassen. Er ist in ein früheres Gästehaus für
westdeutsche Politiker in Pankow gezogen.
Das „Elf99“-Team ist Anfang der Woche
unangemeldet, aber mit laufender Kamera
zu der geheimen Waldsiedlung am Nordrand Berlins gefahren, die hinter grauen
Mauern versteckt ist. Am Eingang wurden
die Reporter von den Wachposten abgewiesen.
Ein Offizier des „Wohnobjekts Waldsiedlung“ erklärte, die Anlage sei ein „militärisch gesichertes Objekt“. Eine Drehgenehmigung müsse bei der Abteilung Agitation des SED-Zentralkomitees beantragt
werden.
Also fuhr das Team zum ZK-Gebäude.
Dort bequemte sich ein Funktionär schließlich vor die Kamera und erklärte, die Agitationsabteilung sei aufgelöst – was zu diesem Zeitpunkt nicht stimmte. Er werde den
Wunsch der „Elf99“-Redaktion aber an die
SED-Spitze weiterleiten.
Tags darauf rief Günter Schabowski, der
PR-Mann des gewendeten Politbüros, in
der Redaktion an. Nach einigen nörgelnden Sätzen darüber, warum das Fernsehen
denn in dieser Wunde wühlen müsse, versprach er freien Eintritt für ein Kamerateam – von der „Aktuellen Kamera“. Nach
langem Hin und Her durfte dann auch
„Elf99“ mit.
Den wahren Luxus bekamen die TV-Reporter nicht zu sehen: Um das Wohl der
zwei Dutzend Politbüro-Familien hatten
sich mehr als 600 Domestiken gekümmert.
Der Hofstaat der Greisenriege erledigte
alles: vom Hausputz bis zum Einkauf, von
der Reparatur des Wasserhahns bis zur
Gartenpflege. Sämtliche Chauffeure, Gärtner, Pförtner und Verkäuferinnen waren
Stasi-Leute.
Beliefert wurden die Wandlitzer von der
Abteilung Kommerzielle Koordinierung
des unentbehrlichen Schalck-Golodkowski,
auch er ein Offizier im besonderen Einsatz der Staatssicherheit. Schalck verscherbelte die für teure Devisen gekauften
Artikel zu Sonderkonditionen: westlicher
Großhandels-, also Einkaufspreis plus die
Hälfte der im Westen üblichen Handelsspanne – und dies dann in Ost-Mark zum
Kurs eins zu eins.
Ein Farbfernseher etwa, der im
Großhandel für 1500 Mark zu haben ist
und für 1900 bis 2000 Mark über westliche
Ladentische geht, kostete die Wandlitzer
nur 1700 bis 1750 Ost-Mark. Ein normaler
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bezirk Pankow. Eine Kasernierung, argumentierte das MfS, sei aus Sicherheitsgründen unumgänglich. Jedes Politbüromitglied musste fortan nach Wandlitz.
Es war ein „absurder Sicherheitskult“,
urteilt Schabowski im Nachhinein. Zur Tarnung standen rund um das Gelände irreführende Schilder, die immerhin hintersinnig die Jagdleidenschaft der alten Herren spiegelten: „Wildforschungsgebiet“.
Sonntag, 26. November 1989
Ost-Berlin
In vielen Zeitungen des Landes erscheint
ein Aufruf „Für unser Land“. Initiiert haben den Appell für die Rettung der DDR
die Intellektuellen Stefan Heym, Konrad
Weiß, Volker Braun und Christa Wolf:
Entweder: können wir auf der Eigenständigkeit der DDR bestehen ... Oder: wir
müssen dulden, dass, veranlasst durch
starke ökonomische Zwänge und durch
unzumutbare Bedingungen, an die einflussreiche Kreise aus Wirtschaft und Politik in der Bundesrepublik ihre Hilfe für die
DDR knüpfen, ein Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte beginnt
und über kurz oder lang die Deutsche
Demokratische Republik durch die Bundesrepublik vereinnahmt wird.
Noch, meinen die intellektuellen Wortführer, gebe es die „Chance, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten
Europas eine sozialistische Alternative zur
Bundesrepublik zu entwickeln“.
Zum Entsetzen der gutgläubigen Initiatoren unterzeichnen – und entwerten – den
Aufruf auch zwei prominente Trittbrettfahrer: Hans Modrow und Egon Krenz.
J OCH E N B ÖLSCH E ; N ORBE RT F. P ÖTZL ,
I RI NA R E PKE , C ORDT S CH N I BBE N
JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO
JÜRGENS OST + EUROPA PHOTO
DDR-Bürger musste für ein
vergleichbares Gerät 6500 OstMark hinblättern – sechsmal so
viel, wie ein Facharbeiter im
Monat verdient. Von dem Angebot wurde reichlich Gebrauch
gemacht. Wirtschaftslenker Mittag etwa legte sich jedes Jahr
durchschnittlich zehn TV-Geräte zu.
Als das „Elf99“-Team am 23.
November anrückte, waren die
anstößigen West-Waren aus
Wandlitz entfernt worden. StasiGeneralleutnant Günter Wolf, TV-Reporter Carpentier (r.)*: Inszenierte Enthüllung
weder verwandt noch verschwägert mit Ex-Spionagechef Markus Häuser waren durchnummeriert, denn die
Wolf, aber im Tarnen und Täuschen nicht Straßen der Siedlung hatten keine Namen.
minder begabt, hatte die Enthüllung inNeben der Waldsiedlung standen der
szeniert.
Nomenklatura riesige Jagdreviere samt
Der Leiter der Hauptabteilung Perso- Jagdhäusern und -personal zur Verfügung.
nenschutz und Betreuung sorgte dafür, Mielke, wie Honecker leidenschaftlicher
dass das Fernsehteam filmen durfte. Zuvor Weidmann, ließ das Halali von Stasi-Mänaber hatte die Stasi Kühlschränke, Fernse- nern in Jägeruniform bewachen.
her und Radios, Delikatessen und TextiWenn die Strecke zu knapp ausfiel, wurlien beiseite geschafft – ins Palasthotel ge- de sie schon mal angereichert. So mussgenüber dem Palast der Republik. Als die ten Arbeiter aus dem VEB Fleischkombinat
Luft wieder rein war, ließ der Stasi-Gene- Erfurt vorsorglich tiefgefrorene Hasen aufral die Ware nach Bohnsdorf in der Nähe tauen, die fürs repräsentative Foto zudes Flughafens Schönefeld karren. Auch rechtgelegt wurden.
davon bekam das „Elf99“-Team Wind.
Kurt Hager, ehemaliger Chefideologe
Als die Fernsehleute am Lager eintrafen, der SED, kann der Vorzugsbehandlung
waren jedoch gerade zwei Staatsanwälte neuerdings nichts mehr abgewinnen.
dabei, die Tore zu versiegeln. Wieder gab
Er wird nebst Gattin von dem TV-Team
es keine Bilder von der Schieberware des auf der Straße angetroffen und wünscht sich
Politbüros, aber Reporter Jan Carpentier „angesichts der Hetze, die überall getriekonnte die Staatsgewalt in ein hübsch an- ben wird, dass man das als Internierungslazuschauendes Interview verwickeln.
ger erklärt“. Er habe sich nur „den BeWandlitz war der erste Versuch, Kom- schlüssen gebeugt“, als er hergezogen sei.
munismus auf deutschem Boden zu verVom 31. Mai 1960 stammt der Beschluss,
wirklichen: Hier zählte nicht die Leistung, dem die Prominentensiedlung ihr Entstehier bestimmten allein die Bedürfnisse der hen verdankt. Bis dahin wohnte die SEDBewohner. Die SED-Elite verfügte über ei- Führung überwiegend im Berliner Stadtnen eigenen Supermarkt, ein Gästehaus,
ein Clubhaus und ein Schwimmbad. Die * In Bohnsdorf, mit Staatsanwälten.
A. PACZENSKY / IMAGES.DE
100 TAGE IM HERBST: »WIR SIND EIN VOLK«
Fernsehreporter, Swimmingpool in der Waldsiedlung Wandlitz: Halali mit aufgetauten Hasen aus dem Tiefkühlhaus
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100 TAGE IM HERBST: »WIR SIND EIN VOLK«
Allen Ernstes erklärte er im Dezember
1988 vor dem ZK, „das Volk der Deutschen
Demokratischen Republik“ habe „einen
PORTRÄT
Lebensstandard erreicht wie noch nie in
seiner Geschichte“ – „im Grunde genommen“ sei er sogar „höher als in der Bundesrepublik“.
Den Bezug zu Land und Leuten hatte
Honecker, als er gestürzt wurde, längst verloren. Da regierte der Mann, dessen Personalausweis die Seriennummer A0000001
trug, seine DDR schon jahrelang wie ein
feudalistischer Despot.
Das Politbüro war ein Marionettentheaelten ging es im SED-Zentralkomitee ging, desto kräftiger malten Honeckers ter. Rat nahm Honecker nur von drei Geso lustig zu wie in der Sitzung vom Hintersassen das Trugbild von der schöns- nossen an: vom Wirtschaftspapst Günter
Mittag, vom Stasi-Chef Erich Mielke und
22./23. Juni 1989. Niemand ahnte, dass ten und größten DDR der Welt.
Überall errichteten seine Vasallen Po- von dem Agitationsjournalisten Joachim
es die letzte von Generalsekretär Erich
temkinsche Dörfer. Als Honecker 1983 Ei- Herrmann.
Honecker geleitete Tagung sein würde.
Vorlagen waren so aufbereitet, dass
Mitten in der gewohnt langatmigen Aus- senach besuchte, ließen sie entlang der
sprache las der Parteichef vor, wie der West- Sightseeing-Strecke die Fassaden auch je- Honecker bloß sein „Einverstanden“ oder
Berliner „Feindsender Rias“ die Bewer- ner baufälligen Häuser tünchen, die zum „Nicht einverstanden“ drauf malen mussbung Leipzigs um die Olympischen Spiele Abbruch vorgesehen waren, und hängten te. Die Paraphe „EH“ – großes E, großes H,
ohne Punkt und Zwischenraum – war bis2004 kommentierte: „Also geht doch zu- Gardinen hinter die toten Fenster.
Von Jahr zu Jahr jonglierte der Wirt- weilen wichtiger als Paragrafen.
mindestens Erich Honecker davon aus, dass
In dem DDR-spezifischen Eingabewedie DDR auch noch im Jahr 2004 existiert.“ schaftsplan mit höheren Erfolgszahlen, die
Die Funktionäre fanden das so ulkig, dass auf dem Dienstweg von unten nach oben sen, das sich mangels Rechtsweg entwickelt
sie in schallendes Gelächter ausbrachen. immer schöner wurden. Das bestärkte hatte, wurde der Staatschef auch zur BeHonecker und sein Kronprinz Egon Krenz Honecker in der Überzeugung, die DDR rufungsinstanz, die in keinem Gesetz vorlachten lauthals mit über das – wie sie gehöre zu den zehn führenden Wirt- gesehen war. Wer sich von irgendeiner
Behörde ungerecht behandelt fühlte,
meinten – Wunschdenken des Klassen- schaftsnationen der Welt.
schrieb einfach an Honecker
feinds, in 15 Jahren werde es
oder drohte zumindest dakeine DDR mehr geben.
mit, was oft auch schon half.
Die führenden Parteikader
Ein „EH“ an der Eingabe
lebten in einem Wolkenbewirkte Wunder, denn nun
kuckucksheim. Vor allem war
wurde nach unten „durchgeder erste Mann im Staat, der
stellt“: Die niederen Organe
von anderen stets die „Anerwurden angewiesen, an Gekennung der Realitäten“ einsetzen und Vorschriften vorforderte, selbst längst reabei den Willen des Herrlitätsblind geworden.
schers zu erfüllen. Willkür
Honecker, urteilte Michail
und Privilegienwirtschaft
Gorbatschow am 1. Novemgriffen um sich.
ber 1989 im Gespräch mit
Katastrophal wirkte sich
Egon Krenz, habe „sich ofder barocke Regierungsstil
fensichtlich für die Nummer
auf die DDR-Ökonomie aus.
eins im Sozialismus, wenn
Statt Beschlüsse des Politnicht sogar in der Welt“ gebüros herbeizuführen, schrieb
halten. Der Mann habe
Mittag oft Briefe an
„nicht mehr real gesehen,
Honecker. Wenn der sie mit
was wirklich vorgeht“.
seinen Initialen versah, hatDabei hatte der Dachten sie quasi Gesetzeskraft.
decker aus dem saarländiWelches die hervorsteschen Neunkirchen seinen
chenden Eigenschaften des
Vorgänger, den Altstalinisten
Generalsekretärs waren, hatWalter Ulbricht, 1971 mit
te Werner Krolikowski,
ebendieser Begründung geHoneckers Wohnungsnachstürzt: Ulbricht halte sich für
bar im Bonzenghetto Wand„unwiederholbar“ und prolitz und in der SED-Spitze
jiziere eine „übertriebene
zuletzt zuständig für LandEinschätzung seiner Person“
wirtschaft, schon 1980 seinem
auf die DDR.
privaten Tagebuch anverTatsächlich gab es in den
traut: Die Nummer eins habe
ersten Jahren der Honecker„schlechten Ehrgeiz“, „EitelRegentschaft eine Tendenz
keit“ und „Größenwahn“.
zu mehr Pragmatismus und
Der Eitelkeit des PotentaLebensnähe. Je weiter es alten schmeichelten die in den
lerdings mit dem ArbeiterAmtsstuben allgegenwärtiund-Bauern-Staat abwärts Ehepaar Honecker in Chile (1993): Wasserstrahl gegen Reporter
DDR-Bürger
A 000 000 1
Erich Honecker: Wie ein eitler, realitätsblinder
Machtmensch die DDR zu Grunde richtete
ACTION PRESS
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ADN / BUNDESARCHIV
mir etwas vor und ließ mir oft
etwas vortäuschen“.
Kurz zuvor, beim 40. Jahrestag
der DDR-Gründung, hatte Gorbatschow dem SED-Chef unter
vier Augen vergebens einen ehrenvollen Rücktritt nahe gelegt,
wie der Präsidentenberater Anatoli Tschernjajew berichtet. Als
Honecker sich weigerte, unter
Hinweis auf sein Alter und vier
Operationen den Dienst zu quittieren, habe Gorbatschow ihn ein
„Arschloch“ (mudak) genannt.
Schwere Krankheiten, die im
Sommer 1989 einsetzten, schützten den gestürzten Staatschef
letztlich vor Strafe – wegen UnSED-Chef Ulbricht, Nachfolger Honecker (1968)*
treue verfolgte ihn die Ost„Übertriebene Einschätzung seiner Person“
Justiz, wegen der Todesschüsse
gen stark retuschierten Porträtfotos, auf an der innerdeutschen Grenze wollten ihn
denen er in den letzten 20 Jahre nicht ge- West-Juristen hinter Gitter bringen.
Honecker hatte sich von einer Nierenaltert war.
Besuchte der DDR-Fürst die Leipziger operation gerade halbwegs erholt, da griff,
Messe, musste ihn das „Neue Deutsch- am 29. Januar 1990, die Staatsgewalt zu.
land“ mit jedem Gesprächspartner abbil- Eine Nacht verbrachte Honecker im Rumden – der Rekord waren 43 Honecker- melsburger Gefängnis, doch der Haftrichter entließ ihn wegen seines schlechten
Fotos in einer einzigen Ausgabe.
Und wenn er, weil er den Hubschrauber Gesundheitszustands.
Da ihm das Domizil in Wandlitz zum
ungern benutzte, mit seiner Wagenkolonne durchs Land reiste, dann wurden Auto- Monatsende gekündigt worden war, hatte
Honecker faktisch kein Obdach mehr. Ein
Pastor in Lobetal nördlich von Berlin erBinnen drei Jahren orderte
barmte sich des Entmachteten und nahm
ihn privat bei sich auf.
die DDR für Honecker
Im April 1990 vermittelte der Ost-Berliner Sowjetbotschafter Wjatscheslaw Kound Mittag 4864 Softpornos
tschemassow dem Ehepaar Honecker Unund andere Videofilme
terschlupf im Militärhospital Beelitz bei
Potsdam. Als ihm dort Verhaftung drohte,
für 1,3 Millionen West-Mark.
wurde Honecker im März 1991 per Militärjet nach Moskau ausgeflogen.
Doch Gorbatschow mochte ihm im Debahnen und Straßen stundenlang gesperrt.
Eskortiert von seiner Leibgarde, ließ er sich zember 1991 nicht länger Asyl gewähren.
in einem silbergrauen Citroën kutschieren, Nun ahmte Honecker nach, was ihm im
von dem, um potenzielle Attentäter zu ir- Sommer 1989 zehntausende seiner Unterritieren, immer ein völlig identisches Zweit- tanen vorexerziert hatten: Er kramte ein
paar Habseligkeiten zusammen und flüchexemplar mitfuhr.
Seine Jagdleidenschaft ließ Honecker tete in eine Botschaft – in die chilenische.
Im Juli 1992 musste der Botschaftsden Staat was kosten. Drei Jagdhäuser
wurden für ihn herausgeputzt, mit flüchtling aufgeben und sich den deutschen
Schwimmbädern, Tennishallen, Schieß- Strafverfolgern stellen. Doch die Diagnose
ständen und Bootshäusern. Sein privater Leberkrebs beendete rasch seinen im NoFuhrpark bestand zeitweilig aus 14 Autos. vember eröffneten Prozess: Das Berliner
Und binnen drei Jahren orderte die Verfassungsgericht ließ den Todkranken
DDR im Westen 4864 Videofilme, vor allem am 13. Januar 1993 ins chilenische Exil zieSoftpornos wie „Die schwarze Nympho- hen, wo er Reporter schon mal mit einem
manin“, für 1,3 Millionen West-Mark – je Gartenschlauch abzuwehren versuchte und
zur Hälfte gingen sie an die Busenfreunde wo er, 81-jährig, im Mai 1994 starb.
Als dem Häftling Honecker im Sommer
Honecker und Mittag.
Fehler gestand Honecker zögerlich erst 1992 eröffnet wurde, dass seine Krankheit
ein, als es zu spät war. Am 1. Dezember unheilbar sei und er längstens noch zwei
1989 bekannte der Gestürzte, „dass ich das Jahre zu leben habe, reagierte der so, wie
reale Leben im Lande in der letzten Zeit sich der Politiker Honecker zeitlebens vor
nicht unmittelbar wahrnahm. Ich täuschte unangenehmen Einsichten geschützt hatte.
Von seinen Anwälten befragt, wie er
* Auf einem Staatsratsempfang anlässlich der Rückkehr
mit
dem tödlichen Befund umgehe,
der Olympiamannschaft aus Mexiko, mit DDR-NOKantwortete er: „Ich versuche, das zu verChef Heinz Schöbel und seinem Stellvertreter Rudolf
drängen.“
Norbert F. Pötzl
Hellmann.
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100 TAGE IM HERBST: »WIR SIND EIN VOLK«
ANALYSE
»Ick fühl mir wie im Krankenhaus«
Korruption und Amtsmissbrauch: Die geheime Waldsiedlung Wandlitz
und die Privilegien der DDR-Nomenklatura
I
DPA
n seinem langen Leben war
Willi Stoph (1914 bis 1999)
Maurer, Stabsgefreiter der
großdeutschen Wehrmacht,
Armeegeneral der Nationalen
Volksarmee, Vorsitzender des
Ministerrats und des Staatsrates der DDR und – so lange
er sich zurückerinnern konnte – Kommunist. Als solcher
kämpfte er seit seinem 14. Lebensjahr unverdrossen für die
Gleichheit aller Menschen.
Ebenso wie Frau Dr. iuris
publici et rerum cameralium
Rosa Luxemburg war Stoph,
der die KP-Gründerin gern zitierte, für die „Abschaffung aller Standesunterschiede, Orden und Titel“, jedenfalls prinzipiell und als Kommunist. Als
„führender Repräsentant“ der
Deutschen Demokratischen
Republik, als jahrzehntelanges
Mitglied ihrer „Partei- und
Staatsführung“ sowie als General sah er die Dinge naturgemäß anders.
Sein Wohnhaus in der geheimen Waldsiedlung Wand- Leer stehendes Honecker-Ferienhaus bei Waren (1991): Je höher der Rang, desto westlicher das Leben
litz, wo 20 der 26 Mitglieder
des Politbüros der SED und ihre Familien sam eingezäunte Bonzensiedlung enterte, Citroën und Volvo), ernährte sich und die
lebten, war das größte und schönste, je- präsentierte die Kamera minutenlang Seinen aus „Sonderläden“, importierte
denfalls vergleichsweise. Es hatte einen se- Küchen und Bäder, die chromglänzenden auch die Medikamente vom Klassenfeind.
paraten Swimmingpool, einen Anbau für Nirostaspülen und funktionierenden Du- Je höher der Rang, desto westlicher das
die Haushälterin, und draußen im gepfleg- schen. „Macht euch selbst ein Bild“, riet Leben.
In Wandlitz stammte nicht mal das
ten Garten kultivierte ein fleißiger Akade- der Reporter.
Die funktionierende Sanitär- und Knäckebrot aus der DDR. Der alte Erich
miker Grünzeug und Gemüse. Willi Stoph
Küchentechnik made in West Germany Honecker bezog seine taillierten Anzüge
mochte das.
Mit seinen Nachbarn, den anderen und das großzügige Ambiente der Häuser aus dem West-Berliner KaDeWe, die Softführenden Repräsentanten wie Honecker, – rund 250 Quadratmeter Wohnfläche, pornos von Beate Uhse und die Jagdwagen
Mielke, Krenz und Schabowski hatte der Holzvertäfelung, Blick ins Grüne – mach- von Daimler-Benz und Range Rover;
griesgrämige Genosse wenig im Sinn. Am ten die DDR-Bürger wütend und empört. Honecker hatte vier. Der schönste war für
liebsten weilte er in seinem Jagdhaus mit Wandlitz war für die Zweiraumbewohner 290 000 West-Mark aufgehübscht worden.
Luxus und Komfort galten in den NoGärtnerei bei Speck an der Müritz. Das aus Plattenbauten der lang gesuchte Bemecklenburgische Domizil hatte 8,35 Mil- weis: Die da oben predigen Wasser, saufen menklatura-Kreisen als völlig selbstverständlich. Westliche Waren – wie etwa
lionen Mark gekostet, nicht gerechnet den aber Wein, Moselwein.
Dass die „führenden Kader“ der kleinen Aspirin von Bayer – wurden selbst dann
zwei Kilometer langen, eigens gegrabenen
Wasserweg von der Müritz zum Specker DDR sich nach dem Vorbild der großen
See. Er erleichterte dem Weidmann die An- Sowjetunion ein komfortables Parallel-Universum aufgebaut hatten, kam nach und
fahrt in sein Jagdrevier.
Wer in den geheimen Orden
Stophs Wochenend-Datsche im Grünen nach ans Licht.
aufgenommen war, von
Wer zur „Nomenklatura“ gehörte – so
hatte neun Garagen und bot jeglichen
Komfort, der für West-Mark zu haben war. nannte man die hauptberuflichen höheren
dem die Bevölkerung nichts
Auch die anderen Politbürokraten mussten Partei- und Regierungsfunktionäre, alles in
sich nicht mit Plaste und Elaste aus allem mehr als 3000 Menschen –, der
wusste, mit dem ging
wohnte vergleichsweise herrschaftlich, hatSchkopau herumärgern.
Als im Herbst 1989 ein kesses Team des te zusätzlich ein Wochenendhaus am See,
es immer weiter nach oben.
DDR-Staatsfernsehens die getarnte, sorg- fuhr zuverlässige West-Autos (Mazda,
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E. GRAMES / BILDERBERG
geordert, wenn es haargenau das gleiche
Präparat unter Ostnamen gab.
Die glitzernde Warenwelt des Westens,
nicht die Lehre von der Freiheit des Menschengeschlechtes, hat die kommunistischen Ideale der Arbeiterführer ruiniert.
Am Ende wurde die DDR, wie deren Dissident Wolf Biermann sang, nur noch von
„verdorbenen Greisen“ regiert.
Das Nomenklatura-System gewährte
Schutz und Fürsorge im Austausch für Parteitreue. Wer einmal in den geheimen Orden, von dem die Bevölkerung nichts wusste und dessen Existenz selbst den gewöhnlichen SED-Genossen verborgen
bleiben sollte, aufgenommen war, mit dem
ging es immer weiter nach oben.
Die alten Ideale der Arbeiterbewegung
– ihre Funktionäre sollten „wählbar, abwählbar und rechenschaftspflichtig“ sein
– waren außer Kraft gesetzt. Eine Fluktuation, heute Funktionär, morgen wieder
in der „materiellen Produktion“, fand nicht
statt. Vor der Arbeit als Dachdecker
(Honecker), Maurer (Stoph) oder Expedient (Mielke), als Kuchenbäcker (SchalckGolodkowski), Rinderzüchter (Gysi) und
Schlosser (Modrow) fürchteten sich die
führenden Persönlichkeiten. Ihr Ideal war
ein Leben im Büro.
Deshalb nannten sie ihr höchstes Gremium Politbüro und den Chef Generalsekretär. Seine Arbeit erledigte das Büro des
Politbüros. Dort verdiente man rund fünfmal so viel wie ein Arbeiter.
Der wahre Luxus einer gehobenen Nomenklatura-Existenz bestand jedoch nicht
im Moselwein und den Bananen satt, auch
nicht im Volvo fahren. Er bestand im Service.
J. KOEHLER
Verfallenes Gebäude in Görlitz: Beim Anblick der DDR-Wirklichkeit blankes Entsetzen
DDR-Staatsjacht „Ostseeland“
Der wahre Luxus bestand im Service
Jedem führenden Kader stand gut gedrilltes Personal in Hülle und Fülle zur
Verfügung. Die Politbüro-Siedlung Wandlitz wurde von 641 Mitarbeitern umsorgt; für diese Privilegierten gab es
Bademeister, Chauffeure, Köche und Diener ohne Zahl, sogar eine Gardinennäherin.
Alle parierten ohne Widerworte. Der
Leibwächter, auf dessen Schulter der alte
Staatsmann Honecker sein Jagdgewehr
beim Schießen abstützte, ist jetzt auf dem
rechten Ohr taub.
Die neofeudalistischen Lebensgewohnheiten – man ging zur Jagd, wohnte auswärts im Schloss (Mielkes war das schönste), ließ sich Orden umhängen (Mielke hatte die meisten, 274), brauchte nirgendwo
Geld für Speis und Trank – wurden vor
dem Volk sorgsam geheim gehalten. Nur
die Inflation der Titel fiel auf.
So hielt sich das Ministerium für Staatssicherheit eine eigene, geheime Hochschule, von der so viele zum „Doktor der
Tschekistik“ promoviert wurden (485),
dass dem Proleten Mielke die Geduld ausging: Er verbot das Führen der Doktortitel
in seinem Ministerium, denn „ick fühl mir
ja sonst wie im Krankenhaus“.
Je länger die DDR bestand und je
schlechter ihre ökonomische Situation
wurde, desto üppiger wucherte der Warenhunger der Nomenklatura und desto
großzügiger fielen die Geschenke aus. Dem
Zentralkomitee der SED, einer Art Ständeparlament, in das jede Lobby ihre Vertreter entsandte – vom Generaloberst bis
zum LPG-Vorsitzenden, vom Staats- bis
zum Heilkünstler – , wollte das Politbüro,
als die kleine Republik schon im Sterben
lag, noch schnell 213 goldene Uhren dedizieren, jedem Nomenklaturisten eine. Deren Durchschnittsalter betrug 1989 bereits
64 Jahre.
Die alten Herren hatten sich synchron
zum DDR-Aufbau viele beneidenswerte
Privilegien gesichert. Besonders begehrt
war der „A-Schein“, er entband von den
Verkehrsregeln, in Sonderheit von der dem
Volk verordneten Höchstgeschwindigkeit
von 100 Stundenkilometern.
Im Falle eines Falles wurden Nomenklatura-Mitglieder nur sehr vorsichtig und
dann von ihresgleichen zur Rechenschaft
gezogen. „Sind Sie bei uns eine führende
Persönlichkeit?“, hieß die tastende Frage
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der Volkspolizisten. Wurde sie bejaht, trat
der Respekt in sein Recht.
Verständlicherweise suchte die Nomenklatura ihren leiblichen Kindern den lieb
gewordenen Lebensstil zu sichern. Abitur
und Studium, das war kein Problem.
Als die Berliner Humboldt-Universität
Anfang der achtziger Jahre feststellen
musste, dass weniger als zehn Prozent
ihrer Studenten der Arbeiterklasse entstammten, zog sie sofort die Konsequenz:
Sie stellte die Statistik ein.
Die Selektion des Nachwuchses aus den
Kaderfamilien – sie galten als „werktätige
Intelligenz“ – war so erfolgreich, dass die
Humboldt-Studenten 1989/90 ganz brav
blieben. Kein Graffito verunzierte die Universität. Nur ein einziger Spruch – „Unseren Heiner nimmt uns keiner“ – ist überliefert. Er sollte den Rektor, einen StasiSpitzel, retten.
Beim Volk hielt sich die Trauer um die
Nomenklatura in engen Grenzen. Das Verhalten der Arbeiterführer hat die Idee des
Sozialismus dauerhaft ruiniert, vor allem
bei den Arbeitern.
Auch Erich Honecker soll sich enttäuscht
gezeigt haben. Als er aus dem Ghetto
Wandlitz vertrieben worden war, so berichtet es der DDR-Volkswitz, machte er
mit seiner lieben Ehefrau Margot einen
ersten kleinen Spaziergang. Den führenden Repräsentanten der Partei und des
Staates überfiel beim Anblick der DDRWirklichkeit blankes Entsetzen: „Drei Tage
ist der Egon Krenz jetzt an der Macht, und
schon hat er das ganze Land zu Grunde gerichtet!“
Hans Halter
Im nächsten Heft
„Volksauge, sei wachsam“ – Kohl irritiert die
Verbündeten – Schalcks geheimnisvolle Flucht
– Das Doppelspiel des Agentenchefs
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Ausland
Panorama
TÜRKEI-GIPFEL
Deal am
Bosporus
BALKAN
Vorwürfe gegen
Montenegro
D
as Uno-Kriegsverbrechertribunal in
Den Haag erhebt schwere Vorwürfe gegen die Regierung Montenegros.
Sie soll mutmaßlichen Massenmördern
Zuflucht gewährt und die Zusammenarbeit mit dem Tribunal verweigert haben. Die Ermittlungsrichter weisen darauf hin, dass sich der angeklagte Oberst
Veselin ljivan‡anin zumindest zeitweise in Montenegro aufhält. ljivan‡anin
führte 1991 im Krieg gegen Kroatien die
serbisch-montenegrinischen Truppen in
Ostslawonien an, die unter seinem
Kommando bei Vukovar ein Blutbad an
Bundeskanzler Schröder, Präsidenten Chirac und Jelzin in Istanbul
Krieg beendet sei. Das Dreier-Treffen
begann mit einer polternden Zurechtweisung Jelzins, der sich jede westliche
Einmischung in die „inneren Angelegenheiten Russlands“ verbat – dann offerierte er, sich auf den 21. Dezember in
Paris zu vertagen.
Schröder und Chirac akzeptierten, forderten jedoch eine Gegenleistung: Wenigstens in der Schlusserklärung des Gipfels sollte festgezurrt werden, dass die
OSZE sich alsbald um den Konflikt im
Kaukasus kümmern könne. Überraschend stimmte Jelzin zu und reiste ab,
das Treffen war gerettet. Außenminister
Iwanow freilich nahm Freitagabend das
in Artikel 23 enthaltene Versprechen wieder zurück: „Wir haben keine Vermittlungsbemühungen akzeptiert und beabsichtigen auch nicht, dies zu tun.“ Die
Moskauer Presse, die durch das „antirussische“ Klima von Istanbul bereits
die „Zukunft Russlands“ gefährdet sah,
feierte Gipfelstürmer Jelzin als „Retter
des Vaterlandes“ („Nowyje Iswestija“):
„Angriff ist die beste Verteidigung, die
Attacke des Gegners ist abgewehrt, der
Feind zerstreut.“
negros, Milo Djukanoviƒ, im Obersten
261 Zivilisten verübt haben sollen. Auch
Verteidigungsrat Jugoslawiens und segder in Den Haag angeklagte Generalnete die Kriegsabenteuer seines politistabschef der jugoslawischen Armee,
schen Mentors Milo∆eviƒ mit ab.
Dragoljub Ojdaniƒ, konnte sich unbehelligt zu Gesprächen mit der
Regierung Montenegros in der
Hauptstadt Podgorica aufhalten. Ojdaniƒ befehligte im vergangenen Jahr die Truppen im
Kosovo und gilt neben Präsident Slobodan Milo∆eviƒ als
Hauptverantwortlicher für
Massaker an albanischen Zivilisten. Zudem weigert sich die
Regierung, Dokumente über
die Beteiligung Montenegros
am Bruderkrieg mit Kroatien
und Bosnien dem Uno-Tribunal
auszuhändigen. Damals saß
der heutige Präsident MonteGesuchter Kriegsverbrecher ljivan‡anin (1998)
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AP
in zähes politisches Tauschgeschäft
rettete Ende voriger Woche in letzter
Minute den Gipfel der 54 Staats- und Regierungschefs in Istanbul. „Sie haben
kein Recht, Russland wegen Tschetschenien zu kritisieren“, hatte der gesundheitlich sichtbar angeschlagene
Kreml-Hausherr Boris Jelzin gleich zu
Beginn der Tagung seine Kollegen angefahren – deutliches Zeichen dafür, dass
die Russen die Veranstaltung eher platzen lassen würden, als eine Verurteilung
ihrer Militäroperation im Kaukasus hinzunehmen. Ohne ein klares Wort zum
Kaukasus aber wäre die Veranstaltung
am Bosporus für den Westen eine Farce
gewesen.
Tatsächlich fuhr sich die Konferenz
schnell in unversöhnlichen Statements
fest. Auch das für Donnerstagnachmittag angesetzte Treffen mit Bundeskanzler Gerhard Schröder („Krieg ist kein
Mittel zur Beseitigung des Terrorismus“)
und mit Frankreichs Präsident Jacques
Chirac geriet in Gefahr: Die Russen signalisierten, Jelzins Aufnahmekapazität
sei erschöpft. Hintergrund: Der Präsident
fürchtete, das deutsch-französische Duo
werde ihn ebenso hart herannehmen wie
zuvor US-Präsident Clinton. Als Ersatz
bot die Moskauer Delegation an, ein
Treffen für den 21. Dezember in Paris
oder Berlin zu verabreden – in der Hoffnung, dass bis dahin der Tschetschenien-
REUTERS
E
Panorama
M A L AY S I A
Demokratisches Feigenblatt
Wan Azizah, 46, Ehefrau des gestürzten
malaysischen Vizepremiers Anwar Ibrahim, 52, über dessen Haft, die Opposition gegen Regierungschef Mahathir
und die Neuwahlen am 29. November
Parlament aufgelöst. Am 29. November
wird gewählt, der Wahlkampf dauert nur
elf Tage. Was treibt ihn so zur Eile?
Azizah: Nächstes Jahr wären rund 680 000
Jungwähler erstmals stimmberechtigt, die
meisten sind Gegner der Regierung. Mahathir regiert Malaysia seit 18 Jahren –
mit Vetternwirtschaft und Korruption.
SPIEGEL: Anwar möchte sich aus der Zelle um einen Sitz im Parlament bewerben.
Wie kann das funktionieren?
Azizah: Er ist nicht rechtskräftig verurteilt,
weil wir in die Berufung gegangen sind.
Und jeder Angeklagte, dessen Verfahren
noch läuft, darf laut Verfassung kandidie-
FOTOS: AP
SPIEGEL: Frau Azizah, wie ist der Gesundheitszustand Ihres Mannes?
Azizah: Er klagt immer noch über starke
Kopfschmerzen. Ärzte meinen, das komme von den Faustschlägen, die ihm nach
seiner Inhaftierung im September 1998
der Polizeichef zugefügt hatte.
SPIEGEL: Sie behaupten auch, man habe
Ihren Ehemann Anwar vergiften wollen.
Die Regierung bestreitet das.
Azizah: In seinen
Haaren sind Spuren
von Arsen festgestellt worden. Experten sagen, dies sei
ein deutliches Indiz.
SPIEGEL:
Premier
Mahathir hat Anfang dieses Monats
überraschend das Ex-Vizepremier Ibrahim, Ehefrau Azizah, Premier Mahathir
RUSSLAND
Die Scharfmacher
werden mächtiger
I
P. KASSIN
n Moskau wächst der Einfluss von
Staatsschützern und ehemaligen
Agenten des früheren Sowjetgeheimdienstes KGB. Auf Vorschlag des Tschetschenien-Feldherrn und Premierministers Wladimir Putin („der Scharfmacher“, so „Die Zeit“), der bis August
Chef des jetzigen Inlandsgeheimdienstes
FSB war, hat Präsident Jelzin den stellvertretenden FSB-Direktor Sergej Iwanow noch einflussreicher als bisher gemacht und zum Sekretär des nationalen
Sicherheitsrats berufen. Iwanow leitete
in der FSB-Zentrale Lubjanka, dem
einst berüchtigten Hauptquartier der sowjetischen Geheimpolizei, die Abteilung
für Analyse, Prognose und strategische
Planung. Zum ständigen Mitglied des Sicherheitsrats avancierte auf Jelzins Befehl auch FSB-Chef Nikolai Patruschew,
48, der 1974 zum KGB gestoßen war.
Die Wiederkehr der Staatsschützer an
der Moskwa gehört zur
Strategie von Putin, mit
Hilfe des alten Kaderstamms im Militär- und
Sicherheitsapparat unter der Parole „Konsolidierung der Nation“ mit
Notstandsmaßnahmen
eine innere Abkehr vom
Westen zu erreichen.
Sein Nachfolger Patruschew, so Putin, tue jedenfalls „alles, damit
der Sicherheitsdienst
immer mächtiger wird“.
Geheimdienstzentrale Lubjanka
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ren. Ich befürchte nur, dass die Regierung
irgendeinen Trick anwendet, um das in
letzter Minute zu verhindern.
SPIEGEL: Als Vorsitzende Ihrer im April
gegründeten Nationalen Gerechtigkeitspartei (Keadilan) treten Sie in der Provinz
Penang an, dem ehemaligen Wahlkreis Ihres Mannes. Was sind die Themen?
Azizah: Mehr Transparenz in dieser Gesellschaft, Schluss mit der Geldverschwendung. Mahathir hat sicherlich wirtschaftlichen Fortschritt gebracht, aber er ließ auch
teure Prestigeobjekte bauen, die nur eine
kleine Elite um ihn und den Finanzminister
bereicherten. Er sollte die Armut bekämpfen, anstatt Denkmäler zu errichten.
SPIEGEL: Sie haben in Ihr Oppositionsbündnis Alternative Front auch die fundamentalistische PAS aufgenommen, die
für die Einführung der Scharia eintritt.
Azizah: Die PAS bestand nicht darauf, dass
unser Bündnis die Forderung nach einem
islamischen Staat politisch vertritt.
SPIEGEL: Mahathir sagt, wenn sein Parteienbündnis Barisan Nasional weniger als
zwei Drittel der Stimmen bekomme, sei
das eine Niederlage. Warum?
Azizah: Mit einer klaren Mehrheit kann
er die Verfassung nach Belieben ändern.
Die Opposition ist für ihn lediglich ein
demokratisches Feigenblatt.
SPIEGEL: Wie würden Sie das System in
Malaysia beschreiben?
Indische Geschützstellung
KASCHMIR
Teurer Krieg
um Berge und Gletscher
W
ir schneiden uns nur in den Finger, Pakistan aber wird ausbluten.“ So ironisch wertete im Sommer Indiens Finanzminister Yashwant Sinha den Höhenkrieg im
Norden von Kaschmir, bei dem sich pakistanische und indische Truppen monatelang
Ausland
Vorstadt Huntingdon erwiesen sich als
Bestseller. Der Grund: Ganz ungewöhnlich für seine Zunft beschreibt Major
ohne diplomatische Schmeicheleien die
Tragödie eines Pragmatikers, dem seine
Parteifreunde zu wenig ideologisches
Feuer vorwerfen. Ohne Schnörkel auch
die Kurzporträts seiner Kollegen aus aller Welt: Clinton, ein Opportunist, der
ausschließlich nach dem Stand der Umfragen entscheidet; Gorbatschow, der
allem Aufbruch zum Trotz sich nicht aus
seinen kommunistischen Fesseln befreien kann; Mitterrand,
der von Wirtschaft ebenso wenig versteht wie Gorbatschow,
dafür aber seine Kollegen mit
großem historischem Atem
anödet. Was das Buch auch für
Nicht-Briten lesenswert macht:
Wie kaum jemand vor ihm
beschreibt Major, auf welch
masochistische Art sich Großbritannien aus dem Kreis der
europäischen Vormächte verabschiedet hat. Ungerührt schildert er
Thatchers zunehmend hysterische antieuropäische Ausfälle. Ohne jedes
Selbstmitleid beschreibt er seinen immer peinlicheren Spagat zwischen den
europäischen Partnern und den verfeindeten Lagern der eigenen Partei. Selten
wurde der Marsch des Vereinigten
Königreichs in den Schmollwinkel Europas präziser nachgezeichnet.
BÜCHER
Guter Mensch von
Huntingdon
„Petronas“-Doppeltürme in Kuala Lumpur
Azizah: Nach der Verfassung ist es eine
konstitutionelle Monarchie. Aber in einer
Kabarettvorstellung hieß es neulich, die
würde bei uns gerade umgekehrt funktionieren wie in Großbritannien. In Malaysia bleibt der Premier ein Leben lang im
Amt, und der König wechselt hin und
wieder.
BALDEV / CORBIS SYGMA
Artillerieduelle um die Serpentinenstraße National Highway 1-A lieferten. In Wirklichkeit aber kamen die Scharmützel und die Rückeroberung
strategisch wichtiger Gipfel im
Grenzgebirge des Himalaja Indien teuer zu stehen: Sie belasten das Budget Neu-Delhis
mit 1,2 Milliarden Dollar und
liegen damit weit über der
ursprünglichen Schätzung
Sinhas, der von nur 250 bis
350 Millionen Dollar ausgegangen war. Weil Indien auch
im Winter die Höhenzüge an
der Waffenstillstandslinie zu Pakistan besetzt halten will, muss Sinha sogar noch
weitere 600 Millionen Dollar bereit stellen.
Pakistan hat damit ein selbst erklärtes
Kriegsziel erreicht und Indiens Kosten für
die Versorgung des Siachen-Gletschers im
äußersten Norden Kaschmirs vervielfacht,
den indische Truppen seit 1984 kontrollieren. „Das war immer unsere Absicht“, erklärt Rashid Qureshi, Sprecher der Streitkräfte Pakistans im Armeehauptquartier
von Rawalpindi, „die Inder sollen für den
Gletscher teuer bezahlen.“
r galt als das graue Nichts zwischen
der konservativen Revolution seiner
Vorgängerin Margaret Thatcher und
dem Cool Britannia seines Nachfolgers
Tony Blair. Zuweilen empfand er
selbst die sechseinhalb Amtsjahre in
10 Downing Street als derart unglücklich („zu wenig wagemutig, zu defensiv, nur noch reagierend“), dass der glücklose John
Major die eigene Abwahl als
eine Art Happy End interpretieren konnte: die Befreiung eines
aufrechten, vielleicht etwas
tumben Toren, der es zu früh
zum Außenminister, Schatzkanzler und Premierminister gebracht hatte, aus einem Sumpf
von parteiinterner Tücke und
Verrat. Den unvermeidlichen Memoiren
des abgewählten Premiers*, das galt
schon im Voraus als sicher, war ein ähnliches Schicksal vorherbestimmt – bestenfalls schnell vergessen. Es kam anders: Die Erinnerungen des konservativen Abgeordneten aus der Londoner
* John Major: „The Autobiography“. Harper Collins
Publishers, London 1999; 776 Seiten; 25,00 Pfund.
dort die Einhaltung der Menschenrechte
anmahnen – denn die werden von Iraks
Führung mit Füßen getreten. Der Papst
hat sich in den Kopf gesetzt, im „Heiligen Jahr“ 2000 die zentralen Orte der
christlichen Geschichte zu besuchen:
angefangen bei Ur, wo Abraham seinen
Weg nach Palästina begonnen haben
soll, bis zu den Jesus-Orten Nazaret,
Betlehem und Jerusalem. Wenn man
„durch so viele Länder vagabundiert“
sei, davon ist der Reiselustige überzeugt, müsse man „am Ende an diesen
heiligen Orten ankommen“.
VA T I K A N
Papst besucht Saddam
N
och vor seiner Tour durchs Heilige
Land will Papst Johannes Paul II. in
den Irak reisen. Geplant ist der Besuch
für Ende Januar kommenden Jahres.
Die Reise des Katholikenoberhaupts in
die Heimat des biblischen Urvaters
Abraham, die historische Stätte Ur, ist
heftig umstritten. Die Amerikaner und
Engländer, die einstigen Anführer im
Golfkrieg gegen den Irak, haben Sorge,
dass der Papst den „Teufel von Bagdad“, wie sie Präsident Saddam Hussein
nennen, aufwerten und mit neuer Legitimation versehen könnte. In der Tat hat
die staatliche irakische Nachrichtenagentur Ina vorige Woche päpstliche
Höflichkeitsfloskeln in einem Schreiben
an Saddam Hussein sofort propagandistisch umgesetzt: Der Papst habe dem
Präsidenten seine „Freundschaft“ versichert und hinzugefügt, er „bete für Sie
und Ihr Volk“. Dabei ist auch dem Diktator in Bagdad keineswegs nur wohl
bei dem Gedanken an den hohen Besuch des eigenwilligen Polen. Der will
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AP
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Johannes Paul II.
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Ausland
USA
Supermacht sucht Saubermann
AP
M. PETERSON / SABA
Zehn Wochen vor den ersten parteiinternen Vorwahlen liegen die Präsidentschaftsbewerber
im Wettstreit um Werte und Würde: Peinlich berührt von den Affären der Clinton-Ära,
sehnen sich die Amerikaner nach einem integren Kandidaten für den Job im Weißen Haus.
Konkurrenten Bush, Gore im Wahlkampf: Präsidentensohn und Vizepräsident genießen einen Bonus, doch ihr Vorsprung schrumpft
D
er heilige Gral aller aufrechten USKonservativen hat 40 Kilometer
nordwestlich von Los Angeles seinen Schrein: Der ockerfarbene Flachbau
der „Ronald Reagan Presidential Library“,
ein weitläufiges Anwesen im Stil spanischer
Landgüter, dokumentiert mit 75 000 Exponaten die unglaubliche Karriere des Kaliforniers – vom Bademeister zum mächtigsten Mann der Welt.
Diese Weihestätte für den Ex-Präsidenten, der nach der Parteilegende mit seinem
Feldzug gegen das „Reich des Bösen“ den
Kommunismus im Alleingang besiegte,
hatte sich George W. Bush, 53, ausersehen,
um vorigen Freitag seinen außenpolitischen Kurs „für eine Welt auf dem Weg
zum Frieden“ abzustecken.
Vor der grandiosen Kulisse der ausgedörrten, staubbraunen Santa Susana Berge, zu Reagans Schauspielerzeiten noch
Drehort für Wildwestfilme, stellte sich der
texanische Gouverneur als Sachwalter sei188
nes Vaters vor, der Ronald Reagan 1989 ins
höchste Amt Amerikas nachgefolgt war –
und als politischer Enkel des noch immer
beliebten Populisten.
Mit dem symbolträchtigen Auftritt wollte Bush Junior nicht nur das Anrecht auf
die republikanische Erbfolge für sich reklamieren, seine außenpolitische Grundsatzrede und die Forderung nach einem
„deutlich amerikanischen Internationalismus“ machten klar, dass das Vorgeplänkel
für die Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr vorüber ist und der Aufgalopp der
Kandidaten begonnen hat.
Auch die Rivalen preschten vor. Schon
Anfang vergangener Woche hatte Vizepräsident Al Gore, 51, ebenfalls die Westküste
besucht; sein demokratischer Konkurrent,
Ex-Basketballer Bill Bradley, sammelte bei
einer Galavorstellung mit Sport- und Filmstars im New Yorker Madison Square Garden Stimmen, Sympathien und Spendendollars.
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Zwölf Monate vor dem Wahltag am
7. November 2000 ist bei Demokraten wie
Republikanern das Bewerberfeld dichter
zusammengerückt. Alle Aspiranten drücken jetzt aufs Tempo: Der Reigen der
„Primaries“ – der wichtigen parteiinternen Vorwahlen – beginnt Ende Januar mit
Entscheidungen in Iowa und wenig später
in New Hampshire.
Auch Bushs aussichtsreichste republikanische Mitbewerber, Vietnam-Veteran und
Senator John McCain sowie Milliardär
Steve Forbes, stiegen mit großen Fernsehkampagnen in das Nominierungsrennen
ein. Sogar die beiden Außenseiter-Bewerber um die Kandidatur der Reformpartei –
der rechtsextreme Ideologe Pat Buchanan
und der Baulöwe Donald Trump – bestritten vorige Woche Wahlkampftermine.
Zwar analysiert der ebenfalls anschwellende Medientross jede Geste der Rivalen
und wägt jede Nuance ihrer Reden ab,
doch in den politischen Entwürfen der
FOTOS: SIPA PRESS (li.); AP ( re.)
Ex-Basketballer Bradley, Veteran McCain im Wahlkampf: Jagd auf den Spitzenreiter der eigenen Partei
C. BORNIGER / AGENTUR FOCUS
Auch bei den Rivalen menschelt es: SeMöchtegern-Präsidenten fanden sie bislang würdigen Nachfolger alle Themen überlawenig Substanz: Die Pläne, mit denen sie gert, an denen sich die rivalisierenden Kan- nator McCain aus Arizona stellt mehr Hilfe für „arbeitende Familien“ in Aussicht,
Amerikas Defizite ausgleichen wollen, ad- didaten messen lassen könnten.“
Clintons Charakterdefizite sind aller- Milliardär Steve Forbes fordert „größere
dieren sich nicht zu neuen Perspektiven.
„Nur Töne“, rüffelte der „New Yorker“, dings nicht der einzige Grund, warum die Freiheit daheim wie im Ausland“. Der steiPolitiker sich auf stimmungsvolle Allge- fe, stets distanziert wirkende Gore gibt sich
„aber keine Musik.“
Ausgerechnet am Vorabend des neuen meinplätze verlegen. Trotz aller rhetori- als Kumpel und verspricht „Ich kämpfe für
Millenniums, das in allen Wahlkampfreden schen Auseinandersetzung haben sich die euch“, Bradley verheißt gar die Neuauflage
als „Herausforderung“ beschworen wird, Bewerber beider großen Parteien in vielen des „Amerikanischen Traums“.
In Abwesenheit inhaltlicher Kontroverbieten die Kandidaten nur politische Pla- Fragen einander verblüffend angenähert.
Selbst bei kontroversen Themen wie Ab- sen blieben auch die zum Medienereignis
titüden. Fehlen die Visionen?
Sicher ist, dass der erste Urnengang im treibung, Schusswaffenkontrolle oder Steu- hochgeredeten TV-Debatten der Bewerber
neuen Jahrtausend, bei dem es um die erreform sind fast alle Wahlkämpfer auf blutarm. Beim ersten Auftritt vor handverlesenen Demokraten tauschten Gore
Wahl des Präsidenten und die Mehrheit im Ausgleich und Kompromiss bedacht.
Denn in der „moderaten Mitte“, so je- und Bradley nur höfliche Floskeln aus. Bei
US-Kongress geht, weniger von politischen
Kontroversen beherrscht wird als von De- denfalls sieht es der Politologe James Thur- den Republikanern geriet der Talkshowbatten um Anstand und Moral, Vertrauen ber von der Amerikanischen Universität Auftakt erst recht zum Flop – Spitzenmann
und Ehrlichkeit. Bei unverändert starkem in Washington, ballt sich das Wechsel- Bush glänzte durch Abwesenheit.
Statt inhaltlicher Auseinandersetzung
Wirtschaftswachstum und verbreiteter Pro- wähler-Potenzial unter den 200 Millionen
sperität stehen wolkige Werte, nicht knall- stimmberechtigten Amerikanern. Und ge- dominieren schöne Bilder: Die Werbung
nau deswegen „vermeiden die Kandidaten der Wahlkämpfer, unterlegt von fetzigem
harte Konzepte zur Wahl.
Pop oder öliger Klassik, erzählt von LandDenn am Ende der achtjährigen af- politische Extreme“.
So rügt Bush Jr. schon mal den radika- schaften, Menschen und Momenten, welfärenreichen Amtszeit von Bill Clinton
wünschen sich die Amerikaner wieder ei- len Sozialabbau seiner erzkonservativen che die Kandidaten prägten, und beschert
nen Präsidenten, zu dem sie aufblicken Parteifreunde als „herzlos“ und geht auf sentimentale Erinnerungen an Familie und
können, eine charakterfeste Vaterfigur, die Distanz zu ultrareligiösen Rechten. „Seine Jugend – die private Vergangenheit scheint
Intelligenz und Integrität ausstrahlen soll. Parole vom mitfühlenden Konservativis- wichtiger zu sein als die politische Zukunft.
In dieser Kür der Charakterdarsteller
Die Supermacht sucht einen Saubermann. mus“, so ein demokratischer WahlkampfNicht länger soll das Weiße Haus in stratege neiderfüllt, „gehört patentiert – holen die derzeit Zweitplatzierten – Deden Ruch einer Absteige geraten, in der sie verbindet Nächstenliebe mit dem mokrat Bradley und Republikaner McCain
– auf. Beide, der eine als ehemaliger SportÜbernachtungen in historischen Schlaf- Appell zur Selbsthilfe.“
star, der andere als Kriegsheld,
zimmern an dollarschwere Parteispender vermittelt werden. Das Weißes Haus in Washington: Debatte um Anstand und Moral sind Teil des Mythos Amerika. Das
Duo punktet, so „Newsweek“, mit
Amtszimmer des Präsidenten,
einer „Aura der Authentizität“.
durch Clintons Quickie-Sex zum
Basketball-Star Bradley, 56, der
„Oral Office“ degradiert, soll wie1964 als Kapitän der Olympiader die Würde einer Weltmacht
mannschaft in Tokio die Russen
ausstrahlen.
besiegte, war stets erfolgreich:
„Bill Clinton hat die AtmosphäNoch während seiner Sportkarriere dermaßen mit Zweifeln an seire studierte der Rhodes-Stipendiat
nem Charakter durchsetzt“,
in Cambridge und Princeton. Als
schrieb die „Washington Post“,
er nach 18 Jahren im US-Senat
„dass die Suche nach einem glaub189
Ausland
FOTOS: AP
1996 der Politik den Rücken kehrte, gelang anderen Bewerber. Denn ihm wird nicht
ihm ein schneller Aufstieg zum erfolgrei- nur Anteil an den unbestrittenen Erfolgen
chen Wirtschaftsberater.
der vergangenen acht Jahre gutgeschrieDer Ex-Senator, verheiratet mit einer ben. Bleischwer trägt Gore am Ballast
deutschstämmigen Literaturwissenschaft- des affärengeplagten Weißen Hauses:
lerin, pflegt ein professorales Image – bis „Clinton-Müdigkeit“ nennen die Wahlhin zum schlecht sitzenden Konfektions- kampfforscher dies politische Handicap.
anzug – und setzt auf seinen guten Ruf. „Er
Alle Anstrengungen, sich von Clinton
ist ein Hit“, rühmt ihn ein früherer Team- zu distanzieren und das Image eines unkollege von den New York Knicks, „und verbesserlichen Langweilers abzustreifen,
H-I-T steht für Ehrlichkeit (Honesty), An- gerieten zum Fiasko. Seit obendrein beständigkeit (Integrity) und Glaubwürdig- kannt wurde, dass Gore die feministische
keit (Trust).“ Im Heimatstaat New York Autorin Naomi Wolf für ein Monatsgehalt
liegt er in Umfragen bereits deutlich vor von 15 000 Dollar angeworben hatte, um
dem Konkurrenten Gore.
ihm – dem ewigen Zweiten – das Verhalten
Ähnlich positive Charaktereigenschaf- eines aggressiven „Alpha-Männchens“ anten wie Bradley kann auch der republika- zutrainieren, spottet die Nation über die
nische Senator McCain,
Versuche des Vize, sich
63, für sich reklamieren.
„neu zu erfinden“.
Der Sohn und Enkel
In diesem Punkt zuberühmter US-Admiramindest hat Gouverneur
le wurde 1967 bei seiBush es leichter. Zwar ist
nem 23. Einsatz als Maseine vergangene Woche
rineflieger über Vietnam
publizierte Lebensgeabgeschossen. Er verschichte nicht gerade
brachte über fünf Jahre
eine fesselnde Heldenlein Gefangenschaft, wurgende. Doch der fliede gefoltert und musste Sohn, Vater Bush (1968)
ßend Spanisch spreein „Geständnis“ unterchende Texaner kann
schreiben.
zumindest auf eine bürgerliche Karriere als GeHeute kann der Polischäftsmann in der Erdtiker aus Arizona, der
ölbranche zurückblicken
1982 als Seiteneinsteiger
und reüssierte als Manain die Politik wechselte,
ger und Mitbesitzer eiseine Vergangenheit als
nes erfolgreichen SportWahlempfehlung nutclubs.
zen. Das Haft-Epos
Dass der Gouverneur
„Glaube meiner Väter“,
in seiner Jugend als
im September als Buch
Trinker und Frauenheld
erschienen, erklomm
bekannt war und dabei
rasch die Bestsellerliswomöglich auch Drogen
ten; den ursprünglich geausprobiert hat, dürfwaltigen Rückstand zum
te ihm eher als PlusRivalen Bush konnte er
punkt angerechnet werschnell verringern.
den: Bush Junior unterNeben solch romanscheidet sich dadurch
reifen Biographien wirkaum vom Durchken die geordneten Le- Präsident Nixon, McCain (1973)
schnittsamerikaner.
bensläufe von George
Das gilt allerdings ebenso für die außenW. Bush und Al Gore banal: Der Gouverneur von Texas verdankt vor allem seinem politische Kompetenz des Kandidaten: Ein
Namen den Aufstieg zum republikanischen Fernsehinterview mit Testfragen zur aktuSpitzenbewerber. Nicht zuletzt mit der ellen Weltpolitik entlarvte unlängst klafHilfe seines Vaters konnte er eine Wahl- fende Lücken. „Ich habe mich nie für ein
kampfkasse von 60 Millionen Dollar zu- großes Genie ausgegeben“, gestand der
sammenbetteln – eine auch für US-Ver- Gouverneur nach dem blamablen Quiz,
„trotzdem bin ich ganz schön aufgeweckt.“
hältnisse astronomische Summe.
Auch damit outete sich George W. Bush
Nach acht Jahren an der Seite Bill Clintons ist Vizepräsident Gore zwar der logi- als wahrer Erbe Ronald Reagans: Der nämsche Spitzenkandidat seiner Partei. Aber lich brachte schon vor seiner Alzheimer-Erder Sohn einer Politikerdynastie aus Ten- krankung die Namen fremder Länder
nessee, in der Penthouse-Etage eines durcheinander und vergaß auch mal die
Washingtoner Nobelhotels aufgewachsen, seiner Kabinettsmitglieder.
„Ich habe gesunden Menschenverstand
wirkt wie das genaue Gegenteil eines
Volkstribuns, seine pfeilgerade Polit-Kar- und guten Instinkt“, rühmt der derzeit
aussichtsreichste Präsidentschaftsbewerriere bietet keinen Stoff für Legenden.
Da nützt es wenig, dass Gore sich durch ber die eigenen Qualitäten: „Das ist es,
Fleiß, Intelligenz und Erfahrung besser für was das Volk von seinem Führer erwardas Präsidentenamt qualifiziert hat als alle tet.“
Stefan Simons
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Werbeseite
Werbeseite
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Ausland
Erdbebenschäden in Düzce: Der geologische Zufall traf eine dünn besiedelte Region
TÜRKEI
Warten auf das Killer-Beben
Nach dem zweiten schweren Erdstoß in drei
Monaten versetzen einander widersprechende Warnungen von
Seismologen die Bewohner von Istanbul in Panik.
K
urz nach Mittag kam Boris Jelzin
aus Moskau, ein paar Stunden später Jacques Chirac aus Paris, vor
Einbruch der Dämmerung kehrte US-Präsident Bill Clinton von einem Tagesausflug
an der türkischen Ägäis zurück. Hochrangige Abgesandte aus 54 Staaten trafen am
vergangenen Mittwoch zum OSZE-Gipfel
in Istanbul ein. Die NationalhymnenKapelle war gar nicht erst ausgerückt, denn
die Maschinen landeten zeitweise im
Minutentakt.
Die Gastgeber am Bosporus sahen den
diplomatischen Empfangsreigen mit Wohlwollen, doch wirklich interessiert hat sie
das größte außenpolitische Defilee in der
türkischen Geschichte nicht. Die ängstlichen Blicke der Istanbuler gehen seit
Tagen am Atatürk-Flughafen vorbei Richtung Süden, ein paar dutzend Kilometer
hinaus aufs Marmarameer, wo in mehr als
15 000 Metern Tiefe eine geologische Sollbruchstelle verläuft – die so genannte Marmara-Sektion der Nordanatolischen Ver-
Bewegtes Anatolien
Die kleinere Anatolische Platte liegt im Schnittpunkt der eurasischen, arabischen und afrikanischen Kontinentalplatten.
Durch die Verschiebung der Kontinentalplatten entstehen
Spannungen, die sich in Erdbeben entladen.
Bewegungsrichtung
tektonischer
Platten
Ränder
tektonischer Platten
werfung, an der die Eurasische und die
Anatolische Kontinentalplatte aufeinander stoßen.
Von dort unten, darin sind sich Seismologen einig, wird irgendwann im Verlauf
der kommenden Jahrzehnte ein schwerer
Erdstoß die Region erschüttern. Noch arbeiten Forscher weltweit an zitierbaren
Wahrscheinlichkeitswerten, doch das Risiko eines weiteren „Killer-Bebens“, so die
„Turkish Daily News“, am Bosporus ist
vermutlich ebenso hoch wie in der Bucht
von San Francisco: Dort liegt die Wahrscheinlichkeit eines „big one“, also eines
Bebens von mehr als 6,7 Punkten auf der
Richterskala, für die nächsten 30 Jahre bei
70 Prozent.
Dass Istanbul in einer extrem gefährdeten Zone liegt, weiß man seit Beginn
der modernen Seismographie. Geophysiker beschreiben die tektonische Grundlage, auf der die Ägäis und Teile der westlichen Türkei ruhen, als „breiigen, zersplitterten Mischmasch“, dessen Bruchlinien sich permanent öffnen, wieder
„zuheilen“ und die dabei entstehenden
Spannungen von Verwerfung zu Verwerfung weitergeben.
Nach dem schweren Beben vom August,
bei dem mehr als 17 000 Menschen ums Leben kamen, war aus dieser akademischen
Gewissheit eine alltägliche Angst geworden: Tagelang übernachteten Bewohner der südlichen Stadtteile Istanbuls im
Freien; wer es sich leisten konnte, ließ sich
Statiker ins Haus kommen, um die Stabilität seiner Wohnung zu prüfen. Die Immobilienpreise im vermeintlich sicheren
Norden der Stadt zogen an.
Drei Monate nach der Katastrophe legte sich die Angst allmählich. Auch im japanischen Kobe und im kalifornischen San
Fernando Valley, trösteten sich viele, waren
den verheerenden Erdstößen zahlreiche
Nachbeben gefolgt, ohne größeren Scha-
jüngste
Erdbebenherde
Schwarzes Meer
Eurasische Platte
Düzce 12. Nov.
Istanbul
Eurasische Platte
Izmit 17. Aug.
Anatolische Platte
Athen
7. Sept.
Afrikanische Platte
Arabische Platte
Arabische
Platte
Mittelmeer
Afrikanische Platte
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Werbeseite
Werbeseite
Ausland
„Der Staat tut
alles ihm Mögliche, der Rest
liegt bei Gott“
chem der zahlreichen Seitenarme der Verwerfung im Marmarameer man dabei beginnen sollte, blieb ebenso unklar wie die
technische Machbarkeit eines solchen Verfahrens. Am Dienstag schließlich mahnte
Ministerpräsident Bülent Ecevit die Seismologengemeinde zur Ruhe: Der Staat tue
alles, was er zur Verhinderung einer Katastrophe tun könne, der Rest liege bei Gott.
Die geologische Deutungshoheit am
Bosporus konzentriert sich seither wieder
194
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auf Ahmet Mete Isikara, 59, den Leiter der
Istanbuler Erdbebenwarte. Isikara, ein
grauhaariger Gelehrter mit Hosenträgern
und Einstein-Gesicht, war nach dem Erdbeben vom August schlagartig berühmt geworden. Zeitungen kürten den Forscher,
an dessen Lippen die Nation hängt, zum
„erotischsten Mann der Türkei“; seine Prognosen werden verschlungen wie Sprüche
des Orakels von Delphi.
Dass Isikara im August die Bewohner der
Millionenstadt Bursa –
wie sich später herausstellte grundlos – mit
der Warnung vor einem
schweren Nachbeben in
Panik versetzte, hat
man ihm inzwischen
verziehen. Seit dem Beben von Düzce folgt der
Doyen der türkischen
Geophysik nun dem Tagesbefehl seines Premiers, dessen besonderes Vertrauen er genießt: Beruhigung und
nochmals Beruhigung.
„Die Bevölkerung“,
sagt Isikara, „soll sich
nicht mit Spekulationen
über Ort und Zeitpunkt
eines großen Bebens
verrückt machen, sondern Vorkehrungen treffen.“ Der Ballungsraum
Istanbul sei auf eine
Erdbebenkatastrophe denkbar schlecht vorbereitet: 15 Millionen Menschen leben in einer Stadt, deren Häuser zum größten Teil
an allen Bauvorschriften vorbei errichtet
wurden. Da liege die Verantwortung bei jedem Einzelnen.
Mit einer überraschenden Frohbotschaft,
die diesem Appell freilich glatt zuwiderläuft, ging der Geophysiker am vergangenen Mittwoch an die Öffentlichkeit: Messungen einer Ölgesellschaft hätten ergeben, dass die Hauptlinie der Nordanatolischen Verwerfung etwa 50 bis 60 Kilometer südlich von Istanbul verlaufe, also 30
Kilometer weiter entfernt als bisher angenommen. Die Schäden bei einem möglichen Erdbeben dürften also geringer ausfallen als befürchtet.
Isikaras Kollegen und viele Istanbuler,
die das Beben vom August in den Süddistrikten der Stadt erlebt haben, mögen
dem Forscher dabei allerdings nicht folgen. Den gesunden Menschenverstand,
in Situationen persönlicher Bedrohung
ein besonders treuer Verbündeter, haben
sie auf ihrer Seite: Am 17. August lag
das Epizentrum des Bebens sogar 80 Kilometer südöstlich von Istanbul, und
dennoch stürzten im Stadtteil Avcilar
ganze Straßenzüge von Häusern ein.
Mehr als 1000 Istanbuler kamen ums
Leben.
Bernhard Zand
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M. GÜLBIZ / AGENTUR FOCUS
den anzurichten. Nach dem Beben von
Izmit, so die Hoffnung, werde nun erst einmal Ruhe sein – wenigstens für die Spanne eines Menschenlebens.
Der erneute Erdstoß im nordwesttürkischen Düzce am 12. November hat diese
Hoffnung als trügerisch entlarvt. Zwar lag
die Opferzahl mit mehr als 600 Toten diesmal weit niedriger als im August, und die
Rettungsmaßnahmen liefen schneller an.
Doch daran hatte auch
der geologische Zufall
seinen Anteil: Die Region um Düzce ist wesentlich dünner besiedelt als die Küsten des
Marmarameeres. Genauso gut hätte sich die
Spannung an einem der
weiter westlich gelegenen Äste der Nordanatolischen Verwerfung entladen können –
und dann wäre Istanbul
Schauplatz der Katastrophe gewesen.
In der 15-MillionenMetropole brach nach
dem Beben von Düzce
Panik aus. Gerüchte
von einem unmittelbar
bevorstehenden Beben
an der Marmaraküste
gingen um. Zu hunderten flohen am vergangenen Montag die Be- Seismologe Isikara
wohner des bereits im
August schwer getroffenen Stadtteils Avcilar Richtung Norden. Zeitweise fielen die
Mobilfunknetze im Istanbuler Südwesten
aus; der Autobahnverkehr Richtung Osten,
auch unter normalen Umständen überlastet, kollabierte vollends.
Ein gutes Dutzend – einander zum Teil
widersprechender – Seismologen heizte die
Stimmung zusätzlich an. Auf allen Fernsehkanälen wurden komplexe geophysische Karten gezeigt, vermeintliche Bruchsysteme analysiert und Krisenszenarien
durchgespielt. Selbst die künstliche Sprengung von besonders gefährdeten Störungslinien wurde erwogen – freilich: Mit wel-
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Ausland
Russische Raketenwerfer beim Angriff: Mit dem gesamten Waffenarsenal gegen ein Völkchen von 400 000 Unbequemen
AFP / DPA
TSCHETSCHENIEN
„Die Russen kämpfen feige“
FOTOS: C. NEEF / DER SPIEGEL
Ungeachtet weltweiter Proteste setzt Moskau seine gnadenlose Intervention in der abtrünnigen
Kaukasusrepublik fort. Sie trifft immer härter die Zivilbevölkerung.
Trotz militärischer Rückschläge hoffen die tschetschenischen Kämpfer auf eine baldige Wende.
Zerstörtes Stadtzentrum von Grosny: Alle paar Minuten schwere Einschläge
E
s ist eine schlimme Nacht, mit Eisregen und Sturmböen. Der Bergfluss
Argun brodelt seit Stunden schon.
Er hat das Schrottauto am Ufer über und
über mit Schlamm bespritzt.
Der Wagen Marke „Wolga“ steht mit
der Schnauze Richtung Georgien und trägt
statt des Kennzeichens ein handgemaltes
Schild: Es verkündet, dass dieses Auto zu
„Itschkerija“ gehört, zur abtrünnigen Kaukasusrepublik der tschetschenischen Muslime. Neben einer notdürftig getarnten
196
Bretterhütte markiert das Vehikel den einzigen noch von Tschetschenen verwalteten Grenzübergang.
Nur wenige stolpern diese Nacht den
Pfad hinunter in den Rebellenstaat. Die
meisten nehmen den umgekehrten Weg,
am kümmerlichen Hoheitssymbol vorbei
die Berge hinauf, Richtung Süden – ins rettende Georgien.
Dabei ist auch der kleine Saïd aus Grosnys Vorstadt Prigorod. Dem Siebenjährigen kommt es vor wie ein böser Traum,
d e r
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dass er in stockfinsterer Dunkelheit frierend und zitternd an dieser Stelle steht.
Statt sich in wenigen Stunden auf den morgendlichen Weg zur Schule zu machen, ist
der Erstklässler mit seiner Mutter auf der
Flucht.
Der Krieg war ihnen jede Minute auf
den Fersen. Bei Schatoi hatten die Russen
die einzige Straßenbrücke zerbombt. So
blieb nur das Durchqueren des reißenden
Flusses. Zweimal beschossen Flugzeuge
den Treck, kurz vor der Grenze löschten
Raketen das Leben einer ganzen Flüchtlingsfamilie aus. Und noch immer können
sich Saïd und seine Mutter nicht sicher
wähnen.
Georgiens Grenzer, die am malerischen
Bergdorf Schatili auf Wacht stehen, lassen
zwar Frauen und Kinder durch – aber keine Männer zwischen 16 und 60. Doch um
nach Tiflis zu gelangen, muss noch das 3000
Meter hohe Bärenkreuz bezwungen werden – ein verschneiter und vereister Pass,
über den lediglich ein schmaler Geröllweg
führt. Wer 200 Dollar erübrigen kann, für
den stehen Taxifahrer mit Geländewagen
bereit. Die Fahrt freilich ist ein Horrortrip:
Der kleinste Ausrutscher, und sie endet im
Abgrund.
Die Georgier spüren den russischen
Druck. Moskau hält den Weg entlang des
Argun für jene Trasse, über die der Waffenund Munitionsnachschub für die Freischärler der Rebellenrepublik läuft. Eine absurde Beschuldigung: Kein Lastwagen würde
die Passage schaffen. Trotzdem haben die
Russen vor Schatili jetzt Plastikminen abgeworfen – direkt auf georgisches Gebiet.
Sie drohen, den Nachbarstaat mit in den
Krieg zu reißen.
von Schweizern erbaute Mühle
Selbst die tschetschenischen
gesprengt. Wegen der zerstörten
Kämpfer in ihrer Bretterbude
Brücken kommen indes ohnehin
fühlen sich ungemütlich. Wegen
keine Lebensmittel mehr nach
der Bombenangriffe haben sie
Itum-Kale durch. Der Ort ist abihr Quartier 200 Meter höher in
geschnitten.
die Berge verlegt. Die bärtigen
Madina Machaschewo, 35, bieMänner, die bunte Pullover mit
tet in ihrem Dorfladen nur noch
Aufschriften wie „Chicago
eingelegte Gurken und Tomaten
Bulls“ und „High Performance“
feil, Zigaretten der Sorte „Pritragen und aus Emailleschüsseln
ma“; dazu Senfpflaster, StreichNudeln mit dünnen Fleischhölzer, ein paar Knoblauchzestückchen löffeln, kümmern sich
hen und einen 99er Kalender mit
kaum um die Grenzgänger. Sie
dem Bild der Backstreet Boys.
haben nur einen Auftrag: zu verVon 5000 Einwohnern sind noch
hindern, dass die Russen an die3000 im Dorf, auch Frauen und
ser Stelle Luftlandetrupps abKinder. Den meisten fehlt für die
setzen.
Flucht das Auto oder einfach nur
In der Hütte hängt ein Plakat
Geld. Wer noch Mehl hat, backt
mit dem Bildnis des im ersten Frontchef Islamow, Kämpfer: Verräter unter den Tschetschenen
Brot für die anderen mit.
Krieg vor dreieinhalb Jahren geWenn es nur so wäre. Doch die TscheFreischärler gibt es nicht im Ort. Trotzfallenen Tschetschenen-Führers Dschochar
Dudajew. Das Poster ist eingerissen und tschenen bekommen den Gegner kaum zu dem schlugen jetzt zwei Bomben ein. Eine
verblasst, es wirkt wie ein Symbol dafür, Gesicht. Der ist in seinen Bombern uner- traf den Friedhof, auf dem gerade eine Bedass den Kaukasiern im Kampf gegen die reichbar. „Die Russen kämpfen feige nach erdigung stattfand, zwei Frauen wurden
Russen das hehre Ziel abhanden gekom- der Methode Kosovo“, sagt Rasan Maga- durch Splitter schwer verletzt.
Der eigentliche Krieg findet 50 Kilomemen ist. Längst geht es nicht mehr um den madow, 70, der Lehrer von Itum-Kale, dem
Traum von der eigenen Unabhängigkeit. ersten größeren Dorf auf tschetschenischer ter nördlich statt. Gudermes, TscheNur noch Hass treibt die Männer an – ge- Seite. „Sie haben keine Terroristen im Vi- tscheniens zweitgrößte Stadt, haben die
gen die Eindringlinge aus dem Norden, die sier, sie selbst terrorisieren die Bevölke- Russen genommen. Nun schießen sie die
Dörfer rund um Urus-Martan sturmreif,
diesen zweiten Krieg mit bislang unbe- rung, um uns zur Aufgabe zu zwingen.“
Um die Brotversorgung der Region zu eine stark besiedelte Gegend südwestlich
kannter Grausamkeit betreiben. „Jetzt
kämpfen wir Auge um Auge und Zahn um stören, haben die Russen in Staryje Atagi der Hauptstadt Grosny. In den vergangeganz bewusst die nach dem letzten Krieg nen Stunden haben sie mit einem HubZahn“, sagt Grenzer Naid.
Bombenopfer Kwais in Staryje Atagi
„Sie zielen auf jedes Auto, das noch fährt“
schrauberkommando eine Anhöhe bei
Goiskoje besetzt.
In der Nacht sieht Tschetscheniens Himmel aus, als nehme jemand das Millennium-Feuerwerk vorweg. „Christbäume“
weisen den Bomben das Ziel, Salven von
Raketenwerfern orgeln durch die Luft, mit
rotem Feuerschweif schlägt eine der aus
Russland abgeschossenen Boden-BodenRaketen ein. In Goiskoje klirren die Scheiben, hilflos bellt ab und an ein tschetschenisches Maschinengewehr gegen die
Flugzeuge an. Eine Großmacht hat ihr gesamtes Waffenarsenal mobilisiert, gegen
ein Völkchen von vielleicht noch 400 000
Unbequemen.
General Leitscha Islamow, genannt
„Boroda“ (der Bart), ist am Abend von
Georgien her nach Hause zurückgekehrt.
Der Vize-Befehlshaber der tschetschenischen Südwestfront und Chef der Sonderpolizei „Scheich Mansur“ hatte sich im
Ausland um islamische Hilfe bemüht.
Aber was heißt nach Hause? Sein zweistöckiges Heim in Goiskoje ist nicht mehr
vorhanden – die Bomber haben es in einen
Schutthaufen verwandelt. Bruder Ruslan,
32, der gerade in der Küche stand, ist tot,
die Mutter schwer verletzt.
Der General mit dem krausen schwarzen Bart, der eine kunstvoll verzierte Pistole und einen filigran ziselierten Dolch
am Koppel trägt, gilt eigentlich als hartgesottener Kerl. Jetzt aber drückt ihm hilflo198
in letzter Zeit von Erfolgsmeldungen nicht
gerade verwöhnt. Bei Atschchoi-Martan
hatten die russischen Truppen tiefe Einbrüche erzielt – im Schutz der kilometerlangen Kolonne tschetschenischer Flüchtlinge, die sich an der geschlossenen Grenze zu Inguschien stauten. „Wir waren ohnmächtig, sollten wir unsere eigenen Leute
dem Feuer aussetzen?“, erklärt Islamow
die Niederlage.
Unübersehbar, dass viele Kommandeure auf die geänderte Taktik der Russen
nicht vorbereitet sind, es gibt nicht die von
ihnen erhofften Kämpfe von Mann zu
Mann. „Aber die Russen sind nicht wirklich stark, die haben keinen Glauben, die
können nur Bomben werfen“, tröstet Gelajew. „Wir warten auf den Moment, der
uns gelegen kommt.“
Die Tschetschenen wissen freilich auch,
dass Moskau diesmal genügend „Enten“
unter ihnen hat, Verräter. Käufliche Leute,
Tschetschenischer Vizepräsident Arsanow
die Hand in Hand mit Russlands Geheim„Alles Trennende beiseite geschoben“
dienst FSB arbeiten.
Und die des Nachts
für die Flieger Zielobjekte markieren.
„Ohne deren Hilfe
hätten sie mein Haus
nicht so punktgenau
bombardiert“, glaubt
Boroda.
Da erfreut das Video, das die Männer
vom Geheimdienst
mitgebracht haben:
Es zeigt das Verhör
eines Oberstleutnants
der russischen Armeeabwehr GRU, der
ihnen vor Tagen samt
einer in FreischärlerZerbombtes Haus in Grosny: „Nicht mal Leichenteile gefunden“
Uniformen steckenses Schluchzen den Kopf auf die Tisch- den Diversantengruppe ins Netz ging. Laut
platte – mit Ruslan ist der dritte von ins- Aussage des Offiziers sollte der Trupp
gesamt sieben Islamow-Brüdern tot.
tschetschenische Flüchtlingstrecks durch
Im Haus des Onkels findet das Trauer- Überfälle verunsichern und Attentate auf
zeremoniell statt. Die Frauen weinen, dann Kommandeure verüben. Die Männer hatziehen sie sich an den Herd zurück. Front- ten Waffen mit Schalldämpfern sowie Michef Hamsat Gelajew, einst in Grosny Vi- nen dabei. „Der Russe ist natürlich erzepremier, ist mit mehreren Kommandeu- schossen worden“, sagt Islamow lakonisch.
ren der „tschetschenischen Streitkräfte“
Die Männer nicken zustimmend. Sie
zum Kondolieren erschienen. Die Männer trinken den nächsten Tee und zitieren den
sitzen am Küchentisch, nagen an Ham- Propheten, außerdem Lermontow und Dumelknochen, trinken Tee.
dajew: „Wer nicht mit allen Mitteln danach
„Nur Allah, der Allerhöchste, weiß, wie strebt, der Sklaverei zu entfliehen, der hat
es weitergeht“, tröstet Gelajew. Die Kerzen sie doppelt oder dreifach verdient.“
flackern, über die quäkenden „Motorola“In der Früh geht es wieder in die vordeSprechfunkgeräte der Kommandeure sind ren Gräben. Erstmals ist auch die mit Borodie neuesten Kriegsnachrichten zu ver- da eingetroffene Verstärkung dabei: der Jornehmen.
danier Chalid, der sein vorzügliches Rus„Dschihad an Engel“, bittet jemand, mit sisch im ukrainischen Kiew gelernt hat, und
Engel ist Gelajew gemeint. Die russischen der Tschetschene Ramadan, eben wegen
Posten auf der Fernstraße bei Atschchoi- des Krieges aus Syrien zurückgekehrt. RaMartan seien überrannt, sechs Fahrzeuge madan hat in Pakistan studiert und zuletzt
erbeutet, sagt die Stimme. Es gebe „Gäste“ mit weiteren Landsleuten an der Scharia– das Codewort für Gefangene.
Fakultät der Uni von Damaskus. Natürlich
Solche Nachrichten sind Balsam für die gehörte auch Militärausbildung dazu. KeiKommandeursseele, die Männer wurden ner habe ihn nach Hause gerufen, sagt Rad e r
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Ausland
die Frau direkt ins Herz getroffen, als sie
sich mit ihren vier Kindern und der Kuh
über die Landstraße retten wollte.
Zwei Autos mit vier Schwerverletzten rasen auf den Hof; bevor die Getroffenen den
OP erreicht haben, sind zwei von ihnen tot.
RUSSLAND
50km
Tschetschenien
Tere
k
Grosny
Gudermes
Inguschien
UrusDagestan
Martan
Goiskoje
Arg
un
madan, „mein Herz hat es mir befohlen“.
Zwei seiner Brüder sind bereits tot.
Der Morgenhimmel ist erschreckend wolkenlos und blau: Flugwetter. Entsetzt stehen
die Einwohner von Goiskoje vor ihren Häusern und beobachten, wie zwei Kilometer
vor ihnen die Welt ins Wanken gerät. Zuerst
geht der Mitschurin-Kolchos am Ortsrand
von Urus-Martan in Flammen auf; dann explodiert im Bombenhagel der Russen die
nahe gelegene Tankstelle, schließlich pflügen Raketen die Straße hinter Goiskoje um.
„Sie zielen auf jedes Auto, das dort noch
fährt“, schreit Nachbar Ismail wutentbrannt. Da lobe er sich die Deutschen, „die
1942 hier absprangen: Die waren korrekt
und hilfsbereit, die haben meiner Mutter
aus ihrer roten Fallschirmseide sogar noch
Decken gemacht“.
Dass in Urus-Martan viele Wahhabiten
sitzen, Tschetscheniens religiöse Eiferer
saudiarabischer Provenienz, weiß Ismail
sehr wohl. Er sieht in ihnen Agenten, „die
von den Juden gesteuert sind“, so wie er
Extremistenführer Schamil Bassajew für
einen „russischen Judas“ hält – „alles Leute, die in Russlands Auftrag hier den Krieg
schüren“.
Das Ergebnis des russischen Bombardements ist eine Stunde später im Krankenhaus von Goity zu besichtigen. Hilflos steht
Chefarzt Junadi Datschajew neben der Leiche der 32-jährigen Jesita: Ein Splitter hat
Itum-Kale
K a
u k
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GEORGIEN
u
Schatili
s
„Ich habe keine Verbände mehr, kein Narkosemittel, keine Spritzen – nur noch meine Hände“, Datschajew sagt es resigniert. Er
operiert im Keller bei Kerzenschein und hat
weder ein rotes Kreuz aufs Dach gemalt
noch eine weiße Fahne herausgehängt: „Das
würde die Bomber doch nur anziehen.“
Auch im Krankenhaus von Staryje Atagi herrscht das Elend. Dicht an dicht liegen
die Opfer der russischen Terroristenjagd:
der leblose zehnjährige Sulidan, der an der
Bushaltestelle verwundet wurde, als eine
Rakete ein vorbeifahrendes Auto traf:
Schädeltrauma; Tarana, die Flüchtlingsfrau
aus Baku, der die Druckwelle einer Bombe die Brust zerquetschte; Kwais, 47, der
auf eine Mine trat: das linke Bein ist amputiert; der 14-jährige Alik aus Perwomaiskoje, der auf dem Hof Holz hackte, als
zwei Granaten einschlugen: das linke Auge
ist weg, auch die linke Hand und das linke
Bein scheinen unrettbar verloren.
In den Betten nebenan liegen noch immer die Verbrannten und Verstümmelten
vom russischen Raketenangriff auf den
Markt von Grosny – mittendrin hängt ein
bereits Gestorbener am Tropf. „Ein Stein,
der oben liegt, muss nicht immer oben bleiben, lehrt uns der Prophet“, flüstert die
69-jährige Lena Riwilog kraftlos, aber voller Verachtung aus ihrem Bett heraus. Sie
meint Putin, Russlands Kriegspremier, den
sie nur „Rasputin“ nennt.
In der Hauptstadt Grosny arbeitet längst
kein Krankenhaus mehr. Wozu auch? Vor
der Brücke am Minutka-Platz klafft ein
riesiger Trichter. Daneben liegen ein
Schrank, Betten, ein paar Koffer. „Die
Bombe ist direkt auf einen Flüchtlings-Lkw
gefallen“, sagt ein Anwohner, „wir haben
nicht mal Leichenteile gefunden.“
Alle paar Minuten erschüttern schwere
Einschläge die Stadt. Am Sieges-Prospekt
brennt ein getroffenes Wohnhaus, drei
Menschen wurden im Keller verschüttet.
Vor der bombardierten Staatsbank flattern Behördenbriefe und Kontoabrechnungen über die Straße. Das einzig Bunte
in der kaltgrauen Ruinenstadt ist ein
großes Dudajew-Porträt, das die Einöde
an der Stelle des früheren Präsidentenpalastes ziert.
Nur schemenhaft bewegen sich die Zurückgebliebenen durch die Geisterkulisse.
Schukran Armokajewa, 43, macht in den
wackligen Holzständen am Markt letzte
Vorräte zu Geld. Sie verkauft eingelegte
Tomaten, das Glas für 35 Rubel, und gebratene Koteletts zu 7 Rubel das Stück.
Ihre Kundschaft sind Freischärler und die
Bewohner der Keller von Grosny. Vier
Frauen sind sie noch auf dem Hof in der
Es gibt nicht wenige, die
den Krieg weiter
nach Georgien tragen wollen
Rosa-Luxemburg-Straße Nr. 15, allen fehlt
das nötige Geld zur Flucht.
Wacha Arsanow will bleiben. Der Mann
mit der Papacha, der tschetschenischen
Pelzmütze auf dem Kopf, steht mit nur
zwei Leibwächtern auf dem leeren Platz
vor dem gestürzten Lenin-Denkmal: Es ist
Tschetscheniens Vizepräsident.
Dass die Führung angeblich das Land
Richtung Georgien verlassen will, ist „eine
böse Propaganda-Ente der Russen“, sagt
Arsanow, der einst für den Geheimdienst
zuständig und im letzten Krieg Befehlshaber der Nordwestfront war.
Die Einnahme von Gudermes scheint
den Vizepräsidenten nicht zu bedrücken:
„Wir bereiten den Russen dort in den
nächsten Tagen eine große Überraschung
vor“, sagt er schmunzelnd. Auch an Waffen mangele es nicht – sie kämen aus Russland. Schließlich säßen genügend Generäle
in Moskau, die dem Jelzin-Günstling Putin einen Erfolg in Tschetschenien missgönnten. Es gebe aber auch nicht wenige,
die den Krieg weiter nach Georgien tragen
wollten, damit Russland der Zugang zu
den Ölquellen des Kaukasus erhalten
bleibt.
Dass der Sieg über die Russen an mangelnder Einigkeit der Tschetschenen scheitern wird – Arsanow glaubt das nicht. „Wir
haben alles Trennende beiseite geschoben“, behauptet er – „vorerst.“ Er meint
den extremistischen Feldkommandeur Bassajew, der mit seinem Dagestan-Einmarsch
im August den Krieg erst richtig losgetreten hat.
„Wenn wir mit Russland fertig sind, werden wir aufklären, was in Dagestan wirklich geschah – vor einem Scharia-Gericht.
Allah wird uns sagen, was dann zu tun
ist.“ Arsanow stülpt die Papacha auf
und verschwindet in den Ruinen von
Grosny.
Christian Neef
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Ausland
Kontrolle
ist alles
Premierminister Tony Blair
will verhindern, dass der überaus
populäre Labour-Linke
Ken Livingstone Bürgermeister
von London wird.
A
ls Ken Livingstone am Donnerstag
vergangener Woche nach vier Stunden inquisitorischer Befragung das
Hauptquartier der Labour Party verließ,
konnte er einen Etappensieg verbuchen:
Seine Partei bestätigte ihn endlich als einen
von drei Bewerbern für das Amt des Bürgermeisters von London.
Doch nur Stunden später stellte sein Parteichef Tony Blair klar, dass Livingstone
im parteiinternen Vorwahlkampf keinerlei
Gnade zu erwarten habe: Solange er noch
atme, erklärte der Premierminister, werde
er dagegen kämpfen, dass die Partei zum
Extremismus der achtziger Jahre zurückkehre. Es gehe um nichts Geringeres „als
die Zukunft der Labour Party“.
Der Hauskrach bei Labour wird noch
einige Monate anhalten. Denn erst Mitte
Februar wird endgültig entschieden, wer
für die Bürgermeisterwahl am 4. Mai ins
Rennen gehen darf.
Neben Livingstone bemüht sich die einstige Schauspielerin und Oscar-Gewinnerin
Glenda Jackson um die Kandidatur. Über
wesentlich bessere Chancen verfügt allerdings der altgediente Londoner Lokalpolitiker und ehemalige Gesundheitsminister
Frank Dobson, der die rückhaltlose Unterstützung der Parteiführung genießt. „Es
herrscht heilloses Chaos“, freut sich derweil der skandalumwitterte Bestsellerautor
und Multimillionär Jeffrey Archer, der für
die Konservativen antritt.
Dabei hatte Tony Blair den Londonern
eigentlich nur mehr Demokratie versprochen und ihnen die Wahl einer Stadtverordnetenversammlung sowie eines
Bürgermeisters in Aussicht gestellt. Kaum
jedoch waren die Reformpläne verabschiedet, tauchte zum Entsetzen von Blair
ein Wiedergänger aus düsteren Zeiten auf:
Ken Livingstone, der von 1981 bis 1986 dem
Stadtrat Groß-Londons vorgesessen hatte
und seitdem als „Red Ken“ ebenso gefürchtet wie geliebt wird.
Die „Sun“ erklärte ihn damals zum
„hassenswertesten Mann Britanniens“.
Unter Livingstones Führung versuchte
der Rat, die Tarife für den öffentlichen
Nahverkehr zu senken; er unterstützte
Homosexuelle bei ihrem Kampf gegen Diskriminierung und lud den als
Terroristen verschrieenen nordirischen
Londoner Akzent, aber auch seine schrulligen Hobbys wie die Zucht von Salamandern, die ihn so beliebt machen. Der Rote
Ken, so sagen sich die meisten Londoner,
mag ein Egozentriker sein, ein Opportunist
ist er nicht. Und genau davor fürchten sich
Tony Blair und seine Gefolgsleute, denn
Livingstone ist alles andere als ein braver
Parteisoldat.
Ursprünglich sollte der Labour-Kandidat
– wie bei den Tories – mittels einer Urwahl
von den rund 68 000 Londoner Parteimitgliedern bestimmt werden. Doch angesichts
Livingstones Popularität an der Basis werden bis Februar drei Gruppen entscheiden, die von der
Parteispitze leichter beeinflussbar sind: die Londoner
Abgeordneten des Unterhauses und des Europäischen Parlaments, die lokalen Gewerkschaften und die
Wahlkreisgliederungen der
Partei. Es wird in jedem Fall
sehr knapp werden.
Blair und seine Vertrauten versuchen nun mit allen
Mitteln, den befürchteten
Durchmarsch des verpönten
Bewerbers doch noch aufzuhalten. Dabei sind sie
nicht zimperlich in der Wahl
ihrer Mittel. Der Premier
warnte, es sei Livingstone
gemeinsam mit solchen Altlinken wie Arthur Scargill
und Tony Benn gewesen, die
es beinahe geschafft hätten,
„Labour über die Klippe in
den Untergang zu stoßen“.
Überdies fanden sämtliche
Londoner Parteimitglieder
Werbebriefe von Dobson in
ihren Briefkästen.
Da der Bürgermeister relativ wenig Macht haben
wird, ist die Härte der internen Auseinandersetzung
ein Indiz dafür, dass es
Wahlkämpfer Livingstone*: Beliebter Egozentriker
um mehr geht. Blair sieht
Parlament auskommen. Vertreter der City Livingstone als Inbegriff eines Sozialisten
und der 32 Bezirke versuchen in zahllosen alter Schule, der nicht gehorsam auf dem
Kommissionen ihre Planungen mit etlichen dritten Weg mitmarschieren will.
Bislang hat die Parteispitze die noch verMinisterien zu koordinieren, doch den Verfall der städtischen Infrastruktur konnten bliebenen Linken an den Rand drängen
können. Doch das rücksichtslose Vorgehen
sie nicht aufhalten.
Vom Mythos seines Kampfes mit der dabei hat Blair und seinen Vertrauten den
Eisernen Lady zehrt Livingstone bis heu- Vorwurf beschert, „Control Freaks“, Konte. Obwohl der schwer berechenbare Indi- trollfanatiker zu sein.
Parteiintern trägt Blair die Spitznavidualist als Unterhaus-Abgeordneter weitgehend isoliert blieb, liegt er in sämtlichen men „Bambi“ (nach seinem Aussehen)
Meinungsumfragen kaum einholbar vor al- und „Stalin“ (nach seinem zuweilen rülen anderen Bewerbern. Auch wenn er als den Umgang mit Genossen). Sein Kampf
unabhängiger Kandidat anträte, wäre ihm gegen Livingstone erinnert zumindest
an eine Parole, die Walter Ulbricht im
der Sieg so gut wie sicher.
Es sind seine schonungslose Offenheit, Mai 1945 ausgab: „Es muss demokratisch
sein Charme und Witz, sein nasaler Süd- aussehen“, verlangte der Kommunist,
„aber wir müssen alles in der Hand
haben.“
* Mit Londoner Stadtführern in historischer Kleidung.
Michael Sontheimer
Sinn-Fein-Politiker Gerry Adams ins Rathaus ein.
Zwar erscheint Livingstones Politik (bis
auf den großzügigen Umgang mit den
Stadtfinanzen) heute kaum mehr skandalös. Doch in den Amtsjahren der konservativen Margaret Thatcher war sie ihrer
Zeit weit voraus. Die skrupellose Regierungschefin ließ, um Livingstone und seine Genossen zum Schweigen zu bringen,
am 1. April 1986 die Stadtverordnetenversammlung per Gesetz abschaffen.
Seither musste die Sieben-Millionen-Metropole London ohne Bürgermeister und
ALPHA
LABOUR
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Ausland
Verdächtige Schiffe sollen schon in in- Nahost auf dem Sprung – „ganze Dörfer“,
ternationalen Gewässern gestoppt werden. so Ruddock.
Michael O’Connor, Direktor der AustraSchleusern drohen künftig bis zu 20 Jahren
Haft nebst 250 000 Mark Geldstrafe. Aner- lian Defence Association, forderte prompt
kannte Asylanten bekommen keine unbe- ein hochmodernes Waffen- und Technikgrenzte Aufenthaltsgenehmigung mehr, arsenal, etwa mit Sensoren bestückte Hubsondern nur noch ein Drei-Jahres-Visum, schrauber, sowie eine 4000-köpfige Grenzund die Familienzusammenführung wird schutztruppe. Die USA, argumentierte der
Landesverteidiger, sichern ihre Küsten mit
erschwert.
Auf abenteuerlichen Wegen
Expertisen bescheinigen den 19 Millio- 42 000 Mann, 175 Suchbooten und 211 Fliekommen immer
nen Australiern, ihre Überflussgesellschaft gern, Gesamtbudget pro Jahr: 7,3 Milliarmehr Boatpeople ins Land. Die
böte auch für 30 Millionen eine ordentli- den Mark.
che Existenzgrundlage. Nur
Regierung in Canberra
sind das reine Zahlenspieverschärft die Abschreckung.
le. Angst vor Überfremdung
ine Küste von rund 37 000 Kilometer bestimmt die Debatte; selbst
Länge hat nicht nur einen hohen die Grünen möchten „die
Freizeitwert. Sie ist auch ein schier Ära des Einwanderungslandes“ beendet wissen. Sie
endloses Sicherheitsrisiko.
So landet nachts an Australiens einsa- sprechen von einer „Bedromen Gestaden jede Menge Schmuggelwa- hung“ durch „unkontrolre, beispielsweise Heroin aus dem Golde- lierte Zuwanderung“.
Die war lange Zeit eher
nen Dreieck für die Junkies in Sydney oder
Melbourne. Vor allem aber ist in der ersten marginal. In den siebziger
Jahreshälfte die Zahl asiatischer Boat- Jahren nahm Australien
people, eingeschleust von indonesischen zwar bereitwillig zehntau- Aufgebrachtes Flüchtlingsboot: „Nationaler Notstand“
Schlepperbanden und chinesischen Tria- sende Vietnamesen auf,
Die meisten Boatpeople sind Chinesen,
den, im Vergleich zu 1998 um 240 Prozent doch zwischen 1990 und 1998 wurden nicht
gestiegen. Die Regierung in Canberra will einmal 4000 Boatpeople registriert und die mit blumigen Versprechen auf Arbeit in
nun ihre ohnehin restriktiven Einwande- meist gleich wieder nach Hause geflogen. Sydney, der Olympia-Baustelle, geködert
Nur ein Bruchteil erhielt den Status politi- werden. Ihre Schlepper kassieren laut Rudrungsgesetze weiter verschärfen.
dock knapp 75 000 Mark für die BereitGrenzschützer monieren ihre eher be- scher Flüchtlinge.
Erst seit Anfang dieses Jahres boomt das stellung eines Schiffs und nochmals 4500
scheidenen Aufklärungsmittel – 14 Flugzeuge der Küstenwache und 15 veraltete Geschäft der Menschenhändler. Die Behör- pro Passagier. Immigranten ohne ErsparPatrouillenboote – und fordern Nachbes- den zählten 67 Boote mit 2453 Personen an nisse müssen ihren Kredit oft jahrelang in
serung. Einwanderungsminister Philip Rud- Bord; die Dunkelziffer ist unbekannt. An- China-Restaurants oder als Drogenhändler
dock spricht von „nationalem Notstand“ fang November wurden sechs Seelenver- abdienen.
Die anderen Flüchtlinge stammen aus
und verlangt wirkungsvollere Maßnahmen käufer mit 513 Irakern und 147 Afghanen
gegen die Fremdenflut. Diesen Mon- aufgebracht. Geheimdienstler verbreite- Vietnam, Indonesien und, immer häufiger,
tag berät das Parlament über eine harte ten vorige Woche die Schreckensmeldung, aus den Konfliktgebieten Afghanistan und
weitere 10 000 Habenichtse stünden in Irak. Letztere gelangen mit gefälschten PäsGangart.
sen über eine „Nahost-Pipeline“, wie es
der australische Geheimdienst nennt, in
die Boote: Als Gastarbeiter warten sie
hauptsächlich in Jordanien und Kuweit,
dann geht es über das Sultanat Oman oder
den Hafen Bandar-e Abbas (Iran) nach Pakistan und von dort zum Brückenkopf Indonesien. Üblicher Tarif für diese Route:
10 000 Dollar.
Vom Land ihrer Träume haben sie nur
vage Vorstellungen. Manche Pechvögel lernen es gar nicht erst kennen, weil sie umgehend verhaftet und bis zur Abschiebung
auf unbewohnten Inseln arrestiert werden.
Die westaustralischen Auffanglager in Port
Hedland und Derby sind derzeit überfüllt,
weitere Camps werden eilig errichtet.
Besonderes Pech hatte eine Gruppe von
60 Chinesen, die in Macksville, einem Nest
500 Kilometer nördlich von Sydney,
gelandet war und auf raffinierte Weise
jedes Aufsehen vermeiden wollte. Von
schnieken Nadelstreifen-Anzügen versprachen sich die Asiaten im reichen, geschäftstüchtigen Australien optimale Tarnung – ein Fehler, wie sich zeigte. Ortsübliche Tracht in Macksville sind Shorts und
T-Shirt.
Asiatische Boatpeople (in Westaustralien): Vage Vorstellungen vom Land der Träume
Rüdiger Falksohn
AU S T R A L I E N
Landgang in
Nadelstreifen
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ROPI
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Ausland
ÖSTERREICH
Verführer aus dem Bärental
AP
Unter Jörg Haider wurde die FPÖ im Oktober zur zweitstärksten Partei. Der heftigen Kritik
im In- und Ausland begegnet der Rechtspopulist seither mit einer
Charme-Offensive: Er distanziert sich halbherzig von früheren verbalen Entgleisungen.
Politiker Haider nach seinem Wahlerfolg*: Sät Zorn und erntet Beifallsstürme
A
m Ecktisch im Klagenfurter Restaurant „Oscar“ sitzt er gelassen
über Rucola mit geraspeltem Grana-Käse. Am Nachmittag war Jörg Haider
zu „Sondierungen“ beim Kanzler in Wien.
Jetzt ist Feierabend. Bei der Regierungsbildung sei noch alles drin, sagt er. Und
erzählt dann zwischen zwei Happen Salat
eine Geschichte aus seinem früheren
Leben.
Sie liegt nur ein paar Jahre zurück und
handelt davon, wie er, der Chef der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), in Los
Angeles das Simon-Wiesenthal-Zentrum
besucht hat. Ganz am Ende der Besichtigung, direkt vor dem Raum, wo die Gaskammern nachgebildet waren, sei er da auf
eine Wand mit Fotos unappetitlicher Zeit-
genossen gestoßen. „Da hing dann der Idi
Amin und daneben so ein Burenführer“,
sagt Haider: „Und daneben – ich.“
„Ich sag zu dem jungen Burschen, der
mich rumgeführt hat: Sie, wer is’n der da? –
Sagt der: Ein ganz gefürchteter Rechtsradikaler aus Österreich.“ Er habe nichts erwidert, sagt Haider, sich aber selbst die Frage
gestellt: „Wie komm eigentlich ich dahin?“
Ja, wie eigentlich? Durch anerkennende
Worte für die Beschäftigungspolitik der
Nazis vielleicht? Haider weiß es nicht, verbale Ausrutscher seien wohl vorgekommen
in seiner „Phase des Sturm und Drangs“,
aber das war einmal. Über das Erlebnis im
Wiesenthal-Zentrum kann er inzwischen
schmunzeln. Seit einigen Tagen ist jeder
Verdacht, er könnte ein rechter Hetzer
sein, von ihm genommen. Findet Haider.
Wie über einen Modellbaukasten gebeugt, analysiert er kühl die zurückliegenden Schritte seiner Karrierestrategie: Zum
Chef einer regierungsfähigen Partei der
Mitte habe ihm zuletzt „noch ein Element
gefehlt – Klarheit zum Dritten Reich, zu
den ganzen Vergangenheitsfragen“. Um
der FPÖ den Weg zur Macht zu ebnen,
habe er Farbe bekennen müssen: „Ich
selbst bin letztendlich der Punkt gewesen,
wo manches unklar war.“
Antworten gab es dann am vorvergangenen Freitag in den Redoutensälen der
Wiener Hofburg. Eskortiert von einer
Hand voll Männern, Typ Pitbull mit aufrechtem Gang, betritt Haider dort am Jahrestag der Ersten Republik die Szene, steigt
aufs Podium, verliert einige Worte über die
Demokratie im Allgemeinen und kommt
schließlich zur Sache.
Er spricht von seiner Sicht der NS-Zeit,
von den „bitteren Erfahrungen mit der
braunen Diktatur“, der „Einmaligkeit und
Unvergleichlichkeit des Holocaust“, und
er redet davon, dass er keinen Schatten
von Nazi-Verdacht auf sich zu dulden bereit sei. Das inszenierte Stück Trauerarbeit
lässt Haider in einem grammatikalisch so
unsinnigen wie bezeichnenden Schuldeingeständnis gipfeln: Frühere „Äußerungen,
die mir zugeordnet werden, waren unsensibel und missverständlich“.
Zugeordnet werden? In den Siebzigern
wird er gefilmt, wie er mit dem NDP-Führer Norbert Burger gemeinsam die SS-Hymne singt: „Wenn alle untreu werden, so bleiben wir doch treu.“ 1985 bescheinigt er den
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AP
Anti-Haider-Demonstration in Wien
„Äußerungen waren missverständlich“
* Am 3. Oktober in Wien.
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M. MAGNANI / GAMMA / STUDIO X
Kriegsveteranen am Ulrichsberg: „Sie alle
„Wenn du eine Familie ernähren musst,
ragen heute heraus wie ein Fels im Meer.“ deklarierst dich ned so leicht als FPÖ“,
Jahre später äußert er am gleichen Ort: „Am sagt Haider. Er selbst habe es da leichter –
als Sohn eines Fabrikarbeiters geboren, ist
Kärntner Wesen soll Österreich genesen.“
1991 kostet ihn die im Kärntner Landtag er durch die 1565 Hektar Land im Bärenprotokollierte Feststellung, im Dritten tal nahe der slowenischen Grenze, die ihm
Reich habe es immerhin eine „ordentliche ein Onkel vererbt hat, zum Millionär geBeschäftigungspolitik“ gegeben, zwar das worden. Ein „Laschierer“, wie das bei ihm
Amt des Landeshauptmanns, nicht aber heißt, ein Faulenzer, ist er dadurch nicht
geworden. Und seine Sendie politische Zukunft. Als
soren hat er auch noch in
er 1995, von einem HobBodennähe.
byfilmer festgehalten, VeEr studiert die Nöte der
teranen der Waffen-SS-Kaeinfachen Menschen, hört
meradschaft IV in Krumzu, speichert ab und verpendorf als „anständige
stärkt auch Ängste, wo sie
Menschen, die einen Chaihm nützen. Schon optisch
rakter haben“ würdigt,
in Opposition zur Politisteht die FPÖ gerade vor
kerkaste, mit juvenilen
dem Sprung in die BunTommy-Hilfiger-Leiberln
desregierung. Auch diesen
oder Kärntneranzug, köRückschlag überwindet
dert er das Volk mit dem
Haider und erobert im
Gestus des Kerls, „der sich
Frühjahr 1999 zum zweiwas traut“. Vor allem aber:
ten Mal das Amt des
Haider ist ein brillanter
Kärntner Landesvaters.
Redner, ein demagogisches
Die Wurzeln für den
Naturereignis. Unerreicht
Aufstieg ab 1986, schreibt
in der Kunst, Wahres mit
Christa Zöchling in ihrem
nur Gehörtem zu verBuch „Haider – Licht und
quicken und Einzelfälle
Schatten einer Karriere“,
von Willkür umzudeuten
lägen in der parallel einin Unterdrückungsmuster
setzenden Isolation Österder „herrschenden Klasreichs unter dem Präsise“, positioniert er seine
denten Kurt Waldheim:
Partei als unerschrockene
„Während Waldheim, der
Bewegung gegen das satte
alte Mann, hilflos von
Establishment.
,Pflichterfüllung‘ sprach,
Die rhetorischen Figuals es um seine NS-verren sind dabei wiederstrickten Kriegsjahre ging,
kehrend: Haider zitiert
hob Haider forsch den
scheinbar das Volk und
Teppich, unter den das al- Marathonläufer Haider*
spricht doch selbst – von
les jahrzehntelang gekehrt
worden war. Er behauptete, dass sich nie- einer „mutigen Mitarbeiterin“ einer Wiener Behörde, selbstverständlich namenlos,
mand dafür genieren müsse.“
„Sie haben in diesem Land ja keinen die sich der „Gesinnungsapartheid“ vergehabt, der enttabuisieren konnte“, sagt weigert und nicht zur verordneten
Haider und meint – außer mir. Seit den Na- Demonstration gegen Haider geht; von der
tionalratswahlen am 3. Oktober ist seine Jugend, die der „ideologischen Hetze der
Partei mit mehr als 27 Prozent der Stim- Herrschenden“ trotzt; von der Arbeitermen die Nummer zwei in Österreich. Bevor schaft, die das linke, „pseudointellektueler sie übernahm, waren es um die 5 Prozent. le Geschwafel von der AusländerfeindHaider will nun mitregieren. Auch Bun- lichkeit“ durchschaut; vom jüdischen
deskanzler Viktor Klima (SPÖ) will regie- Bundesrat, der gegen die Haider-Ausgrenren, aber nicht mit Haider, sagt er. Die kon- zung protestiert.
Haider sät Zorn und erntet Beifallsstürservative ÖVP wiederum stößt sich weniger an Haider als an ihrem vor der Wahl me bei seinen Anhängern. Er lässt feindgegebenen Versprechen, als drittstärkste liche „Gedankenpolizisten“ vor ihrem geistigen Auge aufmarschieren, „GlaubensPartei in die Opposition zu gehen.
Haider wartet auf Angebote und singt krieger“ und „Kreuzritter“, „fanatische
derweil weiter das garstige Lied vom klei- Gutmenschen“ eben, die seine Politik der
nen Mann, der im großkoalitionär regier- Vernunft als Rassismus missdeuteten. Auf
ten Proporzstaat der Dumme ist. Er singt der Straße, sagt Haider, drohe von Gutes seit einem Vierteljahrhundert, mit zu- menschen-Seite der „Radau der Demonnehmendem Erfolg: Österreich, pro Kopf stration“ – „der wird unseren erbitterten
gerechnet das siebtreichste Land der Welt, Widerstand ernten müssen“.
Körperlicher Widerstand allerdings war
erlahmt nicht nur in seinen Augen nach
13 Jahren SPÖ/ÖVP-Regierung unter dem bisher nicht nötig. Haiders Gegner randaDiktat von Parteibuchwirtschaft und Funk* Beim New-York-Marathon am 7. November.
tionärsmacht.
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Haider, Bundeskanzler Klima: „Sehr persönliches Gespräch“
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zählt später, wie es wirklich war: Der Kanzler, politisch vereinsamt seit seiner Wahlniederlage, habe das Treffen spürbar genossen. So viele Gesprächspartner seien
dem ja nicht mehr geblieben.
Will Haider selbst auf den Sessel? Er,
den Freunde, aber auch Gegner, nach
Kreisky für „das größte politische Talent“
der Zweiten Republik halten, er, der für
sich keine andere Richtung kennt als nach oben,
gibt plötzlich den Zauderer und spricht von
lohnenden Aufgaben im
Land Kärnten. Vielleicht,
weil er weiß, dass es diesmal noch nicht reichen
wird.
Andererseits, er hat die
Partei natürlich nicht so
hochgebracht, um im Fall
des Falles die Früchte
anderen zu überlassen:
„Wenn, dann hat’s bloß an Sinn, wenn’st
selber Kanzler wirst“, räumt Haider ein:
„Da musst scho wos derheb’n.“
Hinter ihm in der FPÖ ist nicht mehr
viel. Das weiß er am besten, denn er hat
durch Vertreibung der besseren Köpfe
selbst dafür gesorgt. Da glänzen neben
dem neuen Zweiten Nationalratspräsidenten Thomas Prinzhorn – „Die FPÖ ist
einen weiten Weg gegangen. Bei uns sehen Sie jetzt sogar Neger und Ausländer in
unseren Wahlbroschüren“ – vor allem die
Mitglieder der so genannten Buberl-Partie
mit Stellungnahmen zur Tagespolitik.
Der dynamisch frisierten Männerschar
in mittleren Jahren dient als Sprachrohr
und Einpeitscher der Generalsekretär Peter Westenthaler, vulgo Hojac. Der hat zuerst seinen slawischen Familiennamen teutonisieren lassen und sorgt seither dafür,
dass der politische Diskurs in heiklen Fragen wie der Ausländerpolitik FPÖ-seitig
ohne Schamschwellen verläuft.
Nicht die „Überfremdungs“-Plakate aus
dem Wahlkampf seiner Partei seien am
derzeit vergifteten Klima schuld, sagt
Westenthaler und fügt, ohne zu zucken,
hinzu: „Brandstifter ist die linke Jagdgesellschaft unter Muzicant.“ Ariel Muzicant,
Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, hatte sich erlaubt, auf eine deutliche Zunahme antisemitischer Vorfälle seit
dem Wahlerfolg der FPÖ zu verweisen.
Wird’s klingen wie bei Westenthaler,
wenn die FPÖ eines Tages die Musik
macht? Jörg Haider ist ganz Vorsicht und
Geduld. „In diesem Land dauert alles
wahnsinnig lang“, sagt er: „Österreich ist
ned für eine Revolution geeignet.“
Dass aber ein kleineres Beben in der
Republik schon am Wahltag zu registrieren war, das räumt auch er, der Verursacher, ein: „Der Krug geht bekanntlich so lange zum Brunnen, bis er bricht“,
sagt Haider: „Am 3. Oktober ist er gebrochen.“
Walter Mayr
AP
ehemalige Vorzeigeschüler nun auch in
Sachen Patriotismus schwer das Wasser
reichen.
Und die Sache mit dem braunen Sumpf
im Land? Wäre die FPÖ wirklich eine
Nachfolgeorganisation der NSDAP, dann
hätte sie die absolute Mehrheit, hat Haider
1985 dekretiert. Auch da ist er inzwischen
weiter. Es sei bodenlos, Österreich als Hort
Ewiggestriger zu verunglimpfen, sagt er heute.
Positionen kommen
und gehen, das Rezept
bleibt. Haider setzt auf
das Kurzzeitgedächtnis
der Wähler und auf die
Konzeptlosigkeit des politischen Gegners. Der ÖVP
gehen Christen und Bauern verloren, der SPÖ Arbeiter. Und je mehr die
beiden großen Volkspar- Ehepaar Haider
teien deshalb von ihren
ideologischen Grundfesten abrücken, desto
leichter tut sich Haider. Er ist ein Meister
blitzschneller Landnahme in frei werdenden Wählersegmenten.
Mit kaum verhohlener Wonne verfolgt
er nun, wie Bundeskanzler Viktor Klima –
die beiden duzen sich – um eine neue
Mehrheit ringt. Wie der hinter der gravitätischen Maske des standfesten Demokraten, der sich mit Rechtslastigen nicht
einlässt, Gefahr läuft, auch die Mitte zu
verlieren.
Als die beiden nach dem ersten Sondierungsgespräch gemeinsam vor die Presse
treten, schaut Klima so stumm und abweisend drein, als habe ihm ein räudiger Hirtenhund drinnen im Kanzlerzimmer gerade die Sitzgarnitur eingeschmuddelt.
Haider hingegen spricht fröhlich von einem „sehr persönlichen Gespräch“ und er-
DPA
lieren nicht. Sie kämpfen anhaltend auf
den Debattenseiten der Zeitungen (nicht
selten gegeneinander) oder schieben sich
zu zehntausenden durchs abendliche
Wien, bewaffnet mit Blinklichtern als
Warnsignalen. Die Welle, von der Haider
getragen wird, haben sie noch nicht gebrochen.
Denn der große Verführer aus dem
Bärental besticht nicht mit sachlichen Argumenten oder ideologischen Leitlinien.
In Ausländerfragen rigoros, in der Sozialpolitik zwischen marktliberal und staatssozialistisch schwankend, segelt er seit Jahren hart an jenem Wind, der den Regierenden aus den kleinbürgerlichen Milieus
entgegenbläst.
„Wir sagen euch ganz klar – wir wollen
keine Osterweiterung“, ruft er noch im
September dem Publikum im Festzelt der
steirischen SPÖ-Hochburg Kapfenberg zu.
Um jetzt, nach erfolgreich geschlagener
Wahlschlacht, die Waffen zu strecken.
Natürlich sei er für die EU-Osterweiterung,
verkündet Haider vergangenen Mittwoch
in Brüssel, vorausgesetzt, das Lohnniveau
der Kandidaten gleiche sich an.
„Wir brauchen keine Ausländer, wir
brauchen eine vernünftige Familienpolitik“, sagt er im Wahlkampf. Und wundert
sich, wieso er als Rassist gescholten wird
wie unter anderem von Demonstranten
beim jüngsten New-York-Marathon.
Von weiter zurückliegenden Überzeugungen ist noch weniger geblieben. Als
„ideologische Missgeburt“ hat der
deutschnational erzogene Haider die
österreichische Nation 1988 in orthodoxer
Nazi-Diktion bezeichnet. Heute sagt er,
diese „Krampfhypothese“ habe halt erst
mit Leben erfüllt werden müssen. Inzwischen sei eine eigene österreichische Identität entstanden. Folgerichtig lässt sich der
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Cockpit einer Boeing 767
Knopf
Autopilot
Knopf
Autopilot
Schubhebel
TreibstoffSperrhahn
TreibstoffSperrhahn
Kopilot
D PA
Pilot
L U F T FA H R T
Amok über dem Meer?
FOTOS: AP
Drama im Cockpit der Unglücksmaschine von EgyptAir:
War der Absturz eine Wahnsinnstat
des Kopiloten, in selbstmörderischer Absicht?
Piloten an Bord der Boeing 767*: „Was ist denn hier los?“
D
as Freitagsgebet in Kairos Moscheen ist beendet und mit ihm das
Knurren und Scheppern der Lautsprecher an den Minaretten. Am TahrirPlatz macht sich der Schuhmacher Hamid
Wagdi auf den Weg. Er zürnt wie die Prediger und die Männer an den Marmortischen der Kaffeehäuser den Amerikanern: „Wir Ägypter sind nicht so naiv,
ihnen zu glauben. Unser tapferer Pilot hat
nie und nimmer Selbstmord begangen.“
Genau das aber hielten letzte Woche Experten in Washington für die wahrscheinlichste Erklärung des Todesfluges jener
EgyptAir-Maschine vom Typ Boeing 767,
die am 31. Oktober vor der Ostküste der
USA in den Atlantik stürzte. 217 Menschen
* Kopiloten al-Batuti, Nur al-Din, Anwar, Flugkapitän
al-Habaschi.
212
starben, darunter 106 US-Bürger und 62
Passagiere aus Ägypten. Von den Ägyptern
an Bord waren 33 Angehörige des Militärs
und insgesamt 6 Piloten von EgyptAir.
Zwei von ihnen saßen angeblich seit dem
Start in New York im Cockpit: Flugkapitän
Ahmed al-Habaschi, 57, ein Veteran mit
35 Dienstjahren, und der Kopilot Adel
Anwar, 36.
Auch eine Reservecrew war für den
Langstreckenflug von elf Stunden mit an
Bord: Pilot Rauf Nur al-Din, 52, und der
Erste Offizier Gamil al-Batuti, 59. Die beiden weiteren Flugzeugführer waren „deadheads“, wie sie im Slang der Luftlinien genannt werden: Piloten, die den Einsatzort
wechseln und mitfliegen.
Den Part des Selbstmörders, der beispiellos viele Menschen mit in den Tod gerissen hat, nimmt nach Ansicht amerikanid e r
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scher Experten der Erste Offizier Gamil
al-Batuti ein. Er habe die Boeing im Verlauf
eines bizarren Kampfes um die Kontrolle
der Maschine in einen todbringenden
Sturzflug überführt, meinten sie nach
einem synchronen Vergleich des Flugdatenschreibers und des Cockpit-Voicerecorders der Unglücksmaschine.
Die Ägypter dagegen wähnten den Verdächtigen vorige Woche als Helden und als
Opfer einer amerikanischen Verschwörung.
Der Flugdatenschreiber sei manipuliert
worden, um den Luftfahrtgiganten Boeing
zu decken, lautete in Kairo eine Spekulation. Eine noch wildere ging von einem
Anschlag des israelischen Geheimdiensts
aus, der den 33 Offizieren, darunter 2 Brigadegeneräle, gegolten habe.
Weil die amerikanische Verkehrssicherheitsbehörde ihre Erkenntnisse nur zögerlich bekannt gab, eskalierte die Auseinandersetzung rasch in politische Höhen.
US-Außenministerin Madeleine Albright
versuchte, ihren ägyptischen Kollegen
telefonisch zu beschwichtigen. Kairos Botschafter in Washington hörte das Stimmenaufzeichnungsgerät persönlich ab.
Doch die amerikanischen Unfall-Analytiker sind sich ihrer Sache sicher. Jedenfalls
so gut wie. Batuti sei nach dem Start ins
Cockpit gekommen mit der Bitte, den Kopiloten Anwar ablösen zu dürfen. Dann
habe der diensttuende Kapitän Habaschi
einmal das Cockpit verlassen. Um 1.49 Uhr,
so viel steht fest, begann das Drama.
Batuti habe folgende Sätze gemurmelt:
„Ich vertraue ganz auf Gott. Ich habe meine Entscheidung getroffen.“ Er habe den
Autopiloten ausgeschaltet und acht Sekunden später die Steuersäule nach vorn
geschoben. Der Sturzflug aus der Reiseflughöhe von 10 000 Metern begann.
Kapitän Habaschi sei mit der Bemerkung „Was ist denn hier los“ ins Cockpit
zurückgeeilt. Er habe versucht, die Steuersäule anzuziehen, um wieder Höhe zu
gewinnen, und dem Ersatz-Kopiloten Batuti zugerufen: „Zieh mit, zieh mit!“ Der
aber tat offenbar das Gegenteil: Er drückte die Steuersäule weiter nach vorn. Das
Ergebnis war, dass die Höhenruder am
Heck der Maschine praktisch funktionsunfähig wurden.
Batuti fand auch noch genug Zeit, die
Abdeckung eines Griffs vor der Steuersäule zu entfernen. Dann betätigte er diesen Hebel, der die Versorgung der Triebwerke mit Kerosin lahm legt, die Maschine
war verloren.
Warum sie dennoch aus dem Sturzflug
kurz herauskam und auf 7300 Meter Höhe
stieg, blieb den US-Fachleuten ein Rätsel.
Das Flugzeug erlitt am Scheitelpunkt der
Kurve einen Strömungsabriss, den gefürchteten „stall“, und fiel wie ein riesenhafter Ziegelstein zum Meer hinab.
Was könnte den Ägypter, dem im März
die Pensionierung winkte, zu einem solch
mysteriösen Amokflug veranlasst haben?
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Wohl schien Batuti ein aufrechter Muslim
zu sein, der zweimal nach Mekka gepilgert war. Seine Familie verteidigt ihn aufs
Äußerste (siehe Interview). Auch die Kollegen von EgyptAir sind voll des Lobes
über ihn.
Und überhaupt beweise die Gebetsformel „tawakkaltu ala Allah“ („Ich vertraue
ganz auf Gott“) eher das Gegenteil von
böser Absicht. Religionsgelehrte wurden
bemüht, die den Satz als alltägliche Formel
braver Gläubiger auslegten. Auch Ägyptens Soldaten, die 1973 im Krieg gegen
Israel den Suezkanal überschritten, hätten
diesen Satz skandiert.
Irren die Amerikaner, selbst Arabischkundige von FBI und CIA, die den Cockpit-Voicerecorder abhörten? Das New Yorker „Wall Street Journal“ behauptete am
Freitag, sie hätten einen Teil der Tonbandaufzeichnungen falsch interpretiert. Der
Satz „Ich habe meine Entscheidung getroffen“ sei gar nicht gefallen.
US-Untersucher schildern den frommen
Batuti jedenfalls als problembeladen. Zeugen bekunden, er habe in letzter Zeit „etwas depressiv“ gewirkt; er habe darunter
gelitten, nie zum Flugkapitän befördert
worden zu sein, obwohl er auch Ausbilder
bei der ägyptischen Luftwaffe war.
Finanzielle Schwierigkeiten seien ihm
womöglich entstanden, weil eine Tochter
in den USA wegen einer Erkrankung des
Immunsystems behandelt werden muss.
Vor dem Todesflug habe Batuti ausrichten lassen, „alles Geld“ nach Kairo zu
schicken.
Während ägyptische Experten nunmehr die Tonbänder inspizieren, treten die
ersten US-Anwälte nach vorn. Sie wollen
EgyptAir und Boeing auf Schadensersatz
verklagen.
Joachim Hoelzgen
„Uns ging es gut“
Umeima al-Dahi, 58, Witwe von Kopilot Gamil al-Batuti, über die
Vorwürfe, ihr Mann habe den EgyptAir-Absturz herbeigeführt
SPIEGEL: Frau Dahi, Ihr Ehemann hat
AP
nach Meinung von US-Experten die
EgyptAir-Maschine abstürzen lassen,
um Selbstmord zu begehen …
Dahi: … eine haltlose und beleidigende Behauptung.
SPIEGEL: Es wäre nicht das erste Mal,
dass sich ein Pilot auf so spektakuläre Weise das Leben nimmt.
Dahi: Gamil war ein gläubiger Muslim, so wie viele amerikanische Piloten sicher auch gläubige Christen sind.
Menschen, die an Gott glauben, verabscheuen die Sünde des Selbstmords. Kopilot al-Batuti mit Familie
Sie sind zu solch einer Tat nicht fähig. „Keine Schuldsprüche“
SPIEGEL: Eine plötzliche Depression
wäre denkbar oder dass Ihr Mann an felsfrei, wann dieser Ausspruch getan
einer unheilbaren Krankheit litt.
wird: wenn man eine kritische SituaDahi: Ausgeschlossen. Gamil war kern- tion rasch mit Gottes Hilfe meistern
gesund, sonst hätte EgyptAir ihn doch will. Wer sich von der Welt verüberhaupt nicht fliegen lassen.
abschiedet unter Missachtung des
SPIEGEL: Vielleicht hatte er Schulden islamischen Selbstmordverbots, würund Ihnen das verschwiegen.
de dieses Zitat niemals benutzen. GaDahi: Uns ging es gut, Allah hatte es mil al-Batuti wäre der Letzte gewesehr gut mit uns gemeint.Warum wird sen, der sich in Todesnot vom Islam
jetzt mit allen Mitteln versucht, mei- entfernt.
nen Mann, mit dem ich in wenigen Wo- SPIEGEL: Und wie erklären Sie sich die
chen unser 35-jähriges Ehejubiläum Selbstmord-These?
feiern wollte, als gewissenlosen Selbst- Dahi: Ich wundere mich, dass sie aufmörder und Mörder abzustempeln?
rechterhalten wird, aber ich verteile
SPIEGEL: Warum hat er denn, kurz vor keine Schuldsprüche. Was ich über
dem Absturz, den Koran zitiert: „ta- meinen geliebten Ehemann, den Vater
wakkaltu ala Allah“ – „Ich vertraue der jetzt zu Waisen gewordenen Kinder, gesagt habe, ist doch ganz leicht
ganz auf Gott“?
Dahi: Jeder, der unsere Redewendun- zu überprüfen.
Interview: Volkhard Windfuhr
gen und Gebräuche kennt, weiß zwei-
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M. HORACEK / BILDERBERG
Mafia-Hochburg Corleone: „Mit neuem Gesicht, aber dem gleichen harten Herzen“
I TA L I E N
„Aus Killern werden Banker“
Ein Verdacht geht um in Sizilien: Sind die gefeierten Erfolge des Staates
im Kampf gegen die Mafia nur schöner Schein? Die Paten der Unterwelt ließen lächelnd
ihre alte Organisation zerstören und schufen längst neue Machtstrukturen.
216
im vorigen Jahr umgebracht, aber
„keiner von der Mafia“.
In der Stadt begann neues Leben. Das Teatro Massimo wurde
1997 wieder eröffnet. 23 Jahre
stand es leer, mit 1400 Plätzen eines
der größten Opernhäuser Europas,
einst Mahnmal für den Verfall Siziliens. Nun zieht es wieder feinstgekleidete Menschen ins Zentrum.
Bars, Restaurants, Boutiquen haben sich rundherum angesiedelt.
1985 begann Orlando seinen
Kampf. Dann, 1990, stellte der
Christdemokrat seine Mafia-verfilzte Partei vor die Wahl: „Entweder Andreotti oder ich.“ Er verlor und verließ die Partei. Doch
bald darauf war die Democrazia
Cristiana (DC) nach immer neuen
Korruptions- und Parteispendenskandalen
am Ende. Und der siebenmalige Ministerpräsident Giulio Andreotti verschwand von
der politischen Bühne.
Orlando trat 1993 mit einer Koalition um
seine neu gegründete Partei La Rete (das
REUTERS
W
ir haben die Mafia aus den Köpfen der Menschen verbannt.“
Leoluca Orlando, 52, Bürgermeister der sizilianischen Hauptstadt Palermo
und Italiens bekanntester Anti-Mafioso,
bilanziert stolz, was er erreicht hat: „Die
kulturelle Hegemonie der Mafia in Palermo ist gebrochen.“
Tag und Nacht stehen Polizeiwagen vor
Orlandos Haus in der stillen Via Dante.
Neun Leibwächter sollen sein Leben schützen. Zwei Vorgänger liegen auf dem Friedhof. Erschossen. Einer sitzt im Knast, er
wurde als Mafia-Mitglied enttarnt.
Orlando, schwarze Haare, gebräuntes
Gesicht, rundlich, aber ständig auf vollen
Touren, sitzt im Wohnzimmer seiner prächtigen Villa, die er mitsamt den wertvollen
alten Möbeln von einem Onkel aus Corleone geerbt hat – alles Jugendstil – und erzählt und erzählt: wie seine Freunde und
er Licht in die zuvor düstere Stadt gebracht, Schutt weggeräumt, Ruinen gesäubert haben. Und wie sie seither versuchen,
Meter für Meter Palermo aus den Klauen
der Unterwelt zurückzuerobern.
Palermos Bürgermeister Orlando
Die mächtigen „Familien“ wurden unruhig
Als Leoluca Orlando Mitte der achtziger
Jahre Bürgermeister wurde, „wagte sich niemand am Abend zu Fuß in die Altstadt“. 200
bis 240 Morde gab es damals in Palermo jedes Jahr. Heute kann man nachts um drei
herumspazieren. Sieben Menschen wurden
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Zerbombtes Auto von Richter Falcone (1992): Tausend Kilogramm Sprengstoff
R. KOCH / CONTRASTO / AGENTUR FOCUS
Netz) wieder an und holte über 75 Prozent der Stimmen.
Das machte ihn zum König Palermos:
Er verjagte die Angst, vertrieb die Mafia.
Cosa Nostra (Unsere Sache), wie sie sich in
Sizilien nennt, verlor den Nimbus der Unbesiegbarkeit. Bald, jubelten die Menschen, wird die bleierne Zeit unter der
Knute der Mafia Geschichte sein.
Wirklich?
Orlandos Stimme wird leiser. Gewiss,
hunderte von Killern und Helfern, Bosse
und Paten sitzen im Knast, oft verraten
von ihren Ex-Kumpels. Aber er werde
einen schrecklichen Gedanken nicht los:
Was Italien schon als Sieg über die Mafia
feiere, sei womöglich ein Trick, „eine gezielte Aktion“ der Mafia selbst.
Die Cosa Nostra mache sich „fit für das
nächste Jahrtausend“: Sie verbrenne ihre
alten Strukturen, opfere Stützpunkte und
Kommunikationsnetze, weil sie längst
„eine neue, noch geheimere Formation“
aufgebaut habe.
Ist das denkbar? Die Verhaftungen und
die Geständnisse, die beschlagnahmten
Millionen – Häuser, Autos, Goldbarren,
Schmuck –, alles ein Werk der Paten selbst?
Alles ausgeklügelt vom Superhirn des
Bösen?
Nicht nur Orlando hat diesen Verdacht.
Auch Staatsanwälte und Fahnder der
Anti-Mafia-Sondereinheiten treibt dieser
Alptraum um. Chefankläger Piero Luigi
Vigna beschreibt die „neue Strategie“ der
organisierten Unterwelt so: „Den Eindruck erwecken, dass die Mafia nicht
mehr existiert, dass sie keine Gefahr mehr
darstellt.“
Nicht weil sie plötzlich gute Menschen
geworden seien, „ermorden sie plötzlich niemanden mehr“, warnt Tommaso
Buscetta, sondern weil sie in neue, größere geschäftliche Dimensionen vorstoßen
wollen. Der einstige Mafia-Statthalter in
Brasilien war der erste prominente Insider, der auspackte. Hunderte seiner Kumpel kamen durch ihn in den achtziger Jahren in den Knast.
Auch Giuseppe Cipriani, Bürgermeister
der berüchtigten Mafia-Hochburg Corleone, sieht „eine neue, intelligente Führung“
am Werk. Sie haben andere Strukturen geschaffen und eine „Mafia mit neuem Gesicht, aber dem gleichen harten Herzen“.
Die Maschinenpistolen kommen in
den Schrank, die Salzsäurebecken werden
geleert. Primitiv-Kriminalität, etwa die
Schutzgelderpressung, bleibt den kleineren Lichtern der Dunkelwelt überlassen –
die neue Mafia formiert sich zu einer
global verflochtenen, effizienten Organisation.
Neben den klassischen Geschäftsbereichen wie Frauen-, Waffen- und Drogenhandel und ihren Interessen in der Bauwirtschaft, im Gesundheitswesen, in der
Abfallbeseitigung und im Energiesektor
liegt der Kern künftiger Aktivitäten, so
Anti-Mafia-Demonstration in Palermo (1989): „Fit für das nächste Jahrtausend“
denken die Fahnder, im Geldhandel. Orlando: „Aus den Killern werden Banker.“
Wer wie Orlando mit dem Vornamen
Leoluca heißt, stammt fast immer aus Corleone. Denn der Heilige Leoluca ist Schutzpatron des Städtchens im sizilianischen
Bergland, dem Zentrum der Mafia.
Die Orlandos sind uralter CorleoneAdel. Ihnen gehörte einst der Palast im
Herzen der Stadt, in dem heute Gericht
und Rathaus logieren. Reich und in engster
Nachbarschaft zu Paten und Killern, so
wuchs der kleine Leoluca auf.
In den fünfziger und sechziger Jahren
war es beinahe noch idyllisch: Die „uomini d’onore“ (Ehrenmänner), wie sich
Mafiosi selbst gern nennen, träumten davon, dass ihre Söhne einmal Richter oder
Politiker würden. Sie beneideten das Establishment – schossen es aber nicht nieder
wie ihresgleichen.
Das ändert sich in den siebziger Jahren.
Die „Corleonesi“ übernahmen die Macht
in der Verbrecherorganisation, Clans, die
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mit äußerster Brutalität und mit neuen
Wertvorstellungen zu Werke gingen: Ihre
Söhne sollten große Bosse werden, nicht
Richter oder Politiker. Die kaufte man oder
ließ sie abknallen.
Rückendeckung bekamen die MafiaSchwadronen aus der Politik: Alles, was
im Kalten Krieg gegen die – in Italien
durchaus populären – Kommunisten half,
war im konservativ-bürgerlichen und sozialistischen Lager willkommen. Besonders
die Spenden.
Auch die radikal antikommunistische
Kirche ließ die, meist streng katholischen,
Paten unbehelligt wirken. „Die Mafia gibt
es gar nicht“, so schrieb 1963 etwa der Erzbischof von Palermo, Ernesto Ruffini, an
den Papst. Das ganze Theater darum sei
„eine Erfindung der Kommunisten, um
einer christlich inspirierten Partei zu
schaden“.
Aber die „Corleonesi“ unter der
Führung Totò Riinas übertrieben. Sie ermordeten den KP-Chef der Region, Pio La
217
Ausland
„Pentiti“ (Reuige) hießen die
Gangster in Italien, die sich auf einen Deal mit der Justiz einließen:
Strafrabatt und Sicherheit gegen
den Verrat der Kollegen. Über
1200 Mafiosi kollaborierten bis
heute mit den Juristen. Aber
„nicht einer, auch unter den hochrangigen Pentiti, kannte Bankverbindungen und Kontonummern“,
wunderte sich Palermos Bürgermeister anfangs.
Heute ist Orlando „ziemlich sicher“: „Das Ganze ist gesteuert.“
Die „cupola“ (Kuppel), das Führungsgremium selbst, habe die Order gegeben, uraltes Mafia-Recht
zu brechen: „Redet Leute, erzählt
alles!“
Auch Sonderstaatsanwalt Vigna glaubt
an solch einen Befehl. „Kollaboriert nur“,
habe die Devise gelautet, „aber vergesst
nicht die Interessen der Organisation
dabei.“
Ockertöne dominieren im Herbst das sizilianische Hochland. Die Berge sind
schroff, die Wege schlecht. „Straße zwischen Kilometer 1 + 2 und Kilometer 11 +
12,500 weggebrochen“, steht auf einem
Schild.
Corleone, 13 000 Einwohner, ist ein lebhaftes, hübsches Städtchen. In der verwinkelten Altstadt hocken alte Männer auf
CORBIS SYGMA
Torre, und den Präfekten von Palermo,
Carlo Alberto dalla Chiesa samt Ehefrau.
Sie richteten Blutbäder an in Rom, Mailand
und Florenz.
Tausend Kilogramm Sprengstoff zerfetzten im Mai 1992 den Richter Giovanni
Falcone und seine Frau sowie Auto und
Leibwächter. Es gab acht Tote. Am 19. Juli
exekutierten sie seinen Kollegen Paolo
Borsellino und sieben Beschützer. Der
elfjährige Giuseppe Di Matteo wurde entführt und nach 18-monatiger Gefangenschaft erwürgt, sein Körper in Säure aufgelöst, weil sein Vater mit der Justiz kollaborierte.
Die Empörung in Italien wuchs. Wie nie
zuvor mussten Polizei und Militär – unter
dem Druck eines aufgebrachten Bürgertums – gegen die Mafia vorgehen. Klammheimliche Partnerschaft zwischen den Paten und Politikern wurde über Jahrzehnte
hingenommen, nun lösten sie Presseskandale und Proteste in den Straßen aus.
Auch international wurde es für die
Cosa Nostra ungemütlich. Die mächtigen
„Familien“ in den USA wurden unruhig.
Verändert hatte sich zudem auch die
politische Großwetterlage: Mit dem Fall
der Berliner Mauer endete der Kalte Krieg.
Der Antikommunismus gab als Legitimation und Schutzschirm nicht mehr viel her.
Mutige Staatsanwälte und Richter begannen an vielen Orten zu recherchieren. Das
Angeklagter Riina (1993)
Kleine und große „Pentiti“ packten aus
Leben für die Mafiosi wurde härter, die
Profite der Organisation gingen zurück.
Der Weltkonzern Mafia wankte.
In dieser Lage, davon ist Orlando überzeugt, beschlossen die Aufsichtsräte des
Mafia-Imperiums, dessen Firmen und
Geschäfte sich zu dreistelligen Milliardensummen in Dollar addierten, dass etwas passieren musste. Und etwas Seltsames geschah: Kleine und große Mafiosi
packten aus. Die „omertà“, das Gesetz
des Schweigens, heiliges Gut der sizilianischen Unterwelt, galt auf einmal nicht
mehr.
AGENZIA CABRUZZO
Mit Hilfe eines Compuweißen Plastikstühlen am
ters haben die Fahnder ein
Straßenrand. Die Jungen
Jugendbild künstlich gealknattern auf Mopeds vortert. Aber die wenigen, die
bei.
ihn je zu Gesicht bekamen
Giuseppe Cipriani, 37,
und darüber aussagten, beseit sechs Jahren Bürgerhaupten stets, er sehe völlig
meister, wohnt im dritten
anders aus.
Stock eines Neubaus, ohne
Blond, untersetzt, der
Bewachung. „Ich bin keine
Blick etwas einfältig – so
Zielscheibe wie Orlando“,
war er damals, als er unsagt er lächelnd, „ich bin
tertauchte. „Ungehobelt,
nicht so prominent.“
ein Analphabet“, erinnert
Er hat im Bett gelegen,
sich Buscetta an den junfühlt sich schlapp und
gen Mann. Den „Traktor“
elend, seit Wochen: „Der
nannten sie ihn, weil er unÄrger“. Kein Wunder, ein
beirrbar, kraftvoll und bruerklärter Anti-Mafioso als Provenzano (Phantombild)
tal seinen Weg nahm – über
Bürgermeister in Corleone
– brutaler kann ein Gegensatz kaum sein. alles hinweg. Heute, hat Cipriani gehört,
Denn hier ist die Mafia heute so stark wie spreche Provenzano vier, fünf Sprachen. Er
eh und je – das Zentrum des Cosa-Nostra- habe „enorme Management-Fähigkeiten“,
steht in einem Polizei-Dossier. Aber viel
Reiches.
Von hier verschwand, in einer Voll- mehr weiß man nicht über den vermutlimondnacht im Herbst 1963, ein damals ge- chen „Boss der Bosse“. Eine Task-Force
rade 30-jähriger Nachwuchs-Mafioso: Ber- mit 300 Leuten jagt ihn seit vielen Jahren.
nardo Provenzano. Fast drei Jahrzehnte Immer wieder waren die Ermittler ihm,
später wird er „Schöpfer, Urheber, Füh- wie sie glaubten, ganz nahe gekommen –
er entwischte ihnen jedes Mal.
rer“, so Cipriani, einer neuen Mafia.
Bunte Geschichten über ihn kursieren
Provenzano, 1933 in Corleone geboren,
ist ein Phantom. Ganz oben auf den Fahn- in Sizilien, aber niemand weiß, ob sie stimdungslisten der Polizei in aller Welt steht men. Dass er, wenn er reisen will, seinen
er, aber als Einziger ohne echtes Foto. Seit Fahrer erst im letzten Moment einbestellt
und der nie das Ziel der Tour kennt, wenn
36 Jahren gibt es kein Bild von ihm.
er abfährt. Oder dass er Anfang dieses Jahres schwer krank gewesen sei und sich in
einer Kinderklinik in der Toskana habe behandeln lassen.
Oft wurde der Schattenmann im Laufe
der Jahrzehnte totgesagt. Etwa im April
1992, als seine Frau, Saveria Benedetta
Palazzolo, mit ihren Kindern plötzlich wieder in Corleone auftauchte. 20 Jahre zuvor
war sie ihrem Mann in den Untergrund gefolgt. Nun schloss sie das alte, leer stehende Haus Provenzanos wieder auf – und
lebte fortan wie eine Witwe.
„Er ist tot“, flüsterten die Leute. Dabei
rüstete er gerade auf, um die Spitze der Organisation zu übernehmen.
Am 30. Juni 1992 wurde Totò Riina verpfiffen. Luciano Liggio – im Knast, aber
damals „unbestrittenes Oberhaupt von
Corleones Mafia-Society“ (Buscetta) –
habe den Daumen gesenkt, und mit ihm
alle Clan-Chefs, hieß es. Riina ging ins Gefängnis, Provenzano übernahm den Laden
und krempelte ihn um.
Er ist der Modernisierer im erstarrten
Traditionsverein der sizilianischen Unterwelt: Effizienter, lukrativer denn je soll das
Verbrechen werden. Und er weiß, wo neue
hoch profitable Geschäftsfelder liegen.
Schon zu Beginn seiner Karriere, als seine Kollegen sich auf Heroin-Geschäfte
konzentrierten, zog es ihn in den kommunalen Dienstleistungssektor, vorzugsweise
T. GENTILE / SINTESI
Hafen von Palermo: Die Ehrenmänner kämpfen mit äußerster Brutalität
220
selbst wundern, haben der Polizei gesteckt:
So will es „Zu Binnu“, im sizilianischen
Unterwelt-Dialekt „Onkel Bernard“.
Provenzano hat heute offenbar mehr
Macht als jeder seiner Vorgänger. Nach einer Aufstellung der italienischen Sicherheitsbehörden, von der römischen Zeitung
„la Repubblica“ veröffentlicht, zählt seine
Gesellschaft aktuell 4791 „Ehrenmänner“,
organisiert in 177 „Familien“.
Bei Bedarf können die hauptberuflichen
Gangster auf 414 nebenberufliche Spezialisten zurückgreifen: „Ingenieure, Kaufleute,
Unternehmer, Mediziner, Politiker, große
Händler, Funktionäre der Verwaltung,
AFP / DPA
zum Umweltschutz: In der westsizilianischen Hafenstadt Trapani übernahm er,
über einen Strohmann, die komplette Müllabfuhr. Jedenfalls die Einnahmen. Für die
tatsächliche Müllbeseitigung musste viele
Jahre lang ein einziger kleiner Lieferwagen
für die ganze Stadt reichen. Und in Palermo spülte auf ganz ähnliche Weise der
Bau einer großen Kläranlage viel Geld in
seine Kassen.
Provenzano macht alles anders als seine
Vorgänger. Seine Frau, mutmaßen die
Fahnder, wird zur engen Vertrauten mit
weit reichenden Kompetenzen bei der Leitung diverser Bau- und Dienstleistungsfirmen aus dem Imperium ihres Mannes –
ein Novum im sizilianisch-katholischen
Mafia-Patriarchat.
Auch die zwei Kinder leben gar nicht so,
wie es früher unter Mafiosi üblich war:
Der ältere Sohn leitet eine Versicherungsagentur in Palermo, der jüngere studiert.
Selbst vor heiligen Traditionen schreckt
Provenzano nicht zurück. Für antiquiert
erklärt er das blutige Ritual bei der Aufnahme eines Neulings. „Man sticht ihm in
den Finger und lässt das Blut auf ein Heiligenbildchen tropfen. Das Bild wird dann
in seine Hand gelegt und angezündet“,
schildert Tommaso Buscetta die Mafia-Taufe. Mit dem brennenden Papier in den Händen bekennt sich der Adept alsdann auf
ewig zur Cosa Nostra: „Mein Fleisch möge
verbrennen wie dieses Heiligenbildchen,
wenn ich nicht in Treue fest zu meinem
Schwur stehe.“
Nach innen fügt Provenzano die Organisation noch fester – wenn nötig, wie eh
und je, mit blutiger Gewalt, nach außen
verschwindet Cosa Nostra nach und nach.
Keine Bomben gegen Staatsanwälte
mehr, keine Kugeln für Journalisten. Zwei
Jahre Body-Count null in Palermo, seit November 1997: Das hat es dort seit 100 Jahren nicht gegeben. Kleine Mafiosi, die sich
Andreotti nach Freispruch (im Oktober)
Die Mafia hat gewonnen
Rechtsanwälte, Notare“. Dazu kommen
„mindestens 20 000 Helfer“ im Ausland,
schätzt die Anti-Mafia-Sondereinheit DIA.
Entsprechend sind die Umsätze und Einnahmen. Die kriminellen Organisationen
seien heute so vermögend, heißt es in einer
Untersuchung des italienischen Handelsverbandes, „dass die ,Gelben Seiten‘ (der
Branchen-Telefonbücher) nicht reichen
würden, deren Reichtümer aufzulisten“.
Allenfalls vier bis fünf Prozent des MafiaBesitzes werden von den Behörden aufged e r
s p i e g e l
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spürt und beschlagnahmt. Immerhin summierte sich dieser kleine Anteil auf weit
über 500 Millionen Mark allein im vergangenen Jahr.
Die Mafia baut Straßen und Brücken,
leitet Krankenhäuser, verwaltet Universitäten – immer mit dem Ziel, versteht sich,
ein Maximum an öffentlichen Geldern in
die eigenen Kassen zu lenken.
Bauträger, Handels- und Dienstleistungsgeschäfte sind für die Mafia aber nicht
nur wegen der Profite wichtig. Die illegalen Einnahmen aus dem Drogen- und Waffenhandel, aus Prostitution und Zigarettenschmuggel können in den „sauberen“
Branchen „gewaschen“, also legalisiert
werden. Täglich wird auf diese Weise weltweit eine Milliarde US-Dollar gewechselt.
Den relativ größten Anteil daran hat, schätzen die Fahnder, Provenzanos neue Cosa
Nostra.
Die vermutlich besten Möglichkeiten,
schmutziges Geld zu waschen, Milliarden
dubioser Herkunft sauber zu investieren,
bieten dabei Banken- und Investmentgesellschaften. „Als Banker“ stellt sich Leoluca Orlando denn auch „die heutigen Paten“ vor. „Die sitzen womöglich in Frankfurt oder London“, glaubt er, und niemand
käme bei ihnen auf die Idee, Mafia-Bosse
vor sich zu haben.
Nur eines weiß Sonderstaatsanwalt
Piero Luigi Vigna wirklich über Provenzanos neue Cosa Nostra: Sie ist „reicher, internationaler, technisch besser als je zuvor“.
Dagegen ist das Interesse, mit allen Mitteln gegen den kriminellen Kraken vorzugehen, dramatisch geschwunden. Vor allem das Ende der Andreotti-Prozesse hat
die Stimmung in Italien gekippt. Der DCPolitiker wurde nach dreieinhalbjährigen
Verhandlungen von der Anklage der MordAnstiftung und der Mafia-Beihilfe freigesprochen. Nun sind die Italiener der unendlichen Prozesse um bestechliche Politiker und verschobene Millionen müde, da
sie am Ende, wie man sieht, doch zu nichts
führen.
Resigniert stellt auch Buscetta, der einst
gefeierte Kronzeuge gegen die Mafia, fest,
„dass man in Italien um jeden Preis das Kapitel Mafia schließen“ und den „Kampf
gegen die Mafia beenden“ wolle. Seine Memoiren, die soeben veröffentlicht wurden,
tragen den bezeichnenden Titel: „Die Mafia hat gewonnen“.
Mit überwältigender Mehrheit änderte jetzt das römische Parlament einen
Verfassungsartikel, der die Rechte und
Pflichten für Staatsanwälte und Richter
regelt. Unter der Überschrift „Der gerechte Prozess“ engt das neue Gesetz den
Spielraum der Fahnder und Ankläger so
ein, dass der Mailänder Generalstaatsanwalt Gerardo D’Ambrosio lakonisch feststellt: „Das ist das Ende der Ermittlungen
gegen die Korruption und gegen die
Mafia.“
Hans-Jürgen Schlamp
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Ausland
KALININGRAD
„Es war die reine Hölle“
Als die Deutschen bei Kriegsende vertrieben
waren, kamen russische Siedler nach Ostpreußen.
Jetzt berichten sie, wie es damals war.
A
Die Sowjetregierung ließ das Beuteland
neu besiedeln. Am 27. August 1946 gelangte der erste organisierte Zug aus Brjansk
mit russischen Zuwanderern in das verwaiste Gebiet. 12 024 Familien kamen in
jenem Jahr in die fremde Provinz, 52 906
Personen. Bis 1948 hatten 130 000 Sowjetbürger im nördlichen Ostpreußen eine
neue Heimat gefunden – tausende Deutsche, die nicht geflüchtet oder deportiert
waren, starben an Terror, Unterernährung
und Seuchen. Die restliche Bevölkerung
wurde ab Oktober 1947 in die sowjetische
Zone Deutschlands abgeschoben.
SÜDD. BILDERDIENST
lles war zerstört, die Häuser beschädigt, auf den Schienen standen
total verbogene Waggons, überall
waren Draht-Igel zur Panzerabwehr und
Stahlbetonbefestigungen“, erinnert sich
der ehemalige Frontkämpfer Jurij Tregub,
der mit seinen Eltern aus dem kasachischen Alma-Ata zuzog. „Als wir in das ehemalige Ostpreußen einreisten, begann die
reine Hölle.“ Das Land war leer: Die meisten der 1,2 Millionen Einwohner Nord-Ostpreußens hatten die Flucht ergriffen, zumal
die Kunde vom Massaker der Roten Armee
in Nemmersdorf Horror verhieß.
Aus Ostpreußen flüchtende Deutsche 1944, nachrückende Russen 1945 (u.)
„Es war niemand zum Arbeiten da“
Schweden
Lettland
Russland
Litauen
Belorussland
Polen
Den meisten neuen russischen Einwohnern fiel es schwer, sich in den ostpreußischen Städten mit der gotischen Architektur und zwischen den Backsteinhäusern
mit den roten Ziegeldächern einzuleben.
Das Land war „der russischen Seele fremd
und der russischen Wahrnehmung ungewohnt“, protokollieren die Autoren eines
Buches, in dem jetzt erstmals russische
Zeitzeugen zu Wort kommen*. Es sind
Menschen, schreibt der Herausgeber Eckhard Matthes, „die sich so über Jahrzehnte nicht äußern durften“ und nie zuvor
„Gegenstand individuell-biografischer,
historischer oder zeitgeschichtlicher Reflexion und Darstellung“ waren.
Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen
sind in Deutschland amtlich dokumentiert,
literarisch verarbeitet und bis heute wach
gehalten. Doch das entvölkerte Land entschwand hinter dem Eisernen Vorhang. Nur
spärlich sickerten Nachrichten über die
Herkunft der Neusiedler und deren Lebensbedingungen aus dem militärischen
Sperrgebiet in den Westen. Erst jetzt, über
ein halbes Jahrhundert später, werden die
Schicksale jener bekannt, die damals die
verlassene Region einnahmen.
Autoren des Buchs sind junge russische
Wissenschaftler unter Leitung des Historikers Jurij Kostjaschow von der Universität
Kaliningrad. Sie führten in den Jahren
1990/91 in 51 Orten des Kaliningrader Gebiets 320 Interviews mit Neusiedlern und
zeichneten sie auf 2500 Seiten auf.
In ihrem nun in Deutschland erschienenen Werk fassen die Forscher die authentischen biografischen Aussagen zusammen.
Sie beschreiben den Verlauf der Neubesiedlung, vom Anwerben der Bevölkerung bis zum Umzug, Einleben und Wiederaufbau. Ein umfangreiches Kapitel ist
der Beziehung der neuen russischen Einwohner zu den in ihrer Heimat verbliebe* Eckhard Matthes (Hrsg.): „Als Russe in Ostpreußen –
Sowjetische Umsiedler über ihren Neubeginn in Königsberg / Kaliningrad nach 1945“. Edition Tertium, Ostfildern 1999; 504 Seiten; 59,80 Mark.
Neu angesiedelte
Sowjetbürger
von 1945 bis 1953
210 000
Ostsee
Kaliningrad
(Königsberg)
Baltijsk
(Pillau)
Memel
Slawsk
(Heinrichswalde)
Pregel
Nemmersdorf
Gebiet Kaliningrad
Gestorbene
130 000* und deportierte
Deutsche
*geschätzt
224
von April 1945 bis
Oktober 1948
EDITION TERTIUM
russische Exklave
50 km
d e r
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Werbeseite
Werbeseite
Zerstörtes Königsberg 1944
„Wie schön vor dem Krieg“
nen Deutschen gewidmet. Zusätzlich dokumentieren alte Fotos, Zeitungsnotizen
und Befehle der Gebietsverwaltung die
Nachkriegsepisode.
Aus den Berichten der allmählich aussterbenden Augenzeugen wird deutlich,
dass sie bei ihrer Ankunft trotz der gewaltigen Zerstörungen von Königsberg
beeindruckt waren. Anna Ryschowa, die Wieder aufgebauter Dom in Kaliningrad 1999
1947 als 17-Jährige in die einstige preu- „Konfliktverdächtige Thematik“
ßische Krönungsstadt kam, faszinierte
die „Mächtigkeit der Gebäude, ihre Fes- Prozent gesenkt und für nicht arbeitende
tigkeit und Unbezwingbarkeit“. Doch bei Familienmitglieder ganz gestrichen. Noch
Regenwetter, erinnert sie sich, schlug ihr fehlte das Wohnungsamt, das generell in
„die Enge der Straßen auf das Gemüt“. der Sowjetunion ein Obdach zuwies. AnaBei ihr wuchs „eine Empfindung für die tolij Jarzew berichtet, wie er zwischen fünf
zeitliche Begrenzung unserer Anwesen- Wohnungen in fünf verschiedenen Ortheit, und wir fühlten, dass wir hier Frem- schaften wählen konnte. „In der Ortschaft
de sind“.
Dobrino (Nautzken) hat man uns sofort
Anna Kopylowa befand: „Noch an den ein Haus gegeben“, erzählt er. „Wenn du in
Gebäuderesten konnte man sehen, wie diesem Haus nicht wohnen willst“, hörte
schön die Stadt vor dem Krieg gewesen er, „such dir in der nächsten Ortschaft ein
war … Dass hier einst Menschen gelebt anderes.“
haben, die die Natur, die Schönheit und
Nicht überall standen Wohnungen leer.
behagliche Wohnlichkeit schätzten.“
In einigen Gebäuden hausten Deutsche.
Der Neubeginn in dem hinzugewonne- Weil die Lehrerin Manefa Schewtschenko
nen westlichsten Territorium der So- einen langen Arbeitsweg hatte, erhielt sie
wjetunion erschien wie eine Verheißung eine „Einzugsberechtigung für jedes bedes gelobten Landes: Staatliche Werber liebige Haus im Stadtteil der Schule“. Nach
reisten kreuz und quer durch Zentral- langer Suche fand sie ein „Haus nach unrussland, die Ukraine, Belorussland und serem Geschmack“. Die Verwaltung forLitauen, sie versuchten Menschen mit al- derte die vier deutschen Bewohner auf, inlerlei Versprechungen zur Umsiedlung zu nerhalb von 24 Stunden auszuziehen.
bewegen.
Das Leben auf dem Lande war gefährMit den in Aussicht gestellten Privilegien lich, der Boden mit Bunkern, Schützenhofften Verzweifelte, der Nachkriegsarmut gräben, Blindgängern und Minen durchzu entrinnen. Familienväter empfingen als setzt. „Wenn wir mähten, dann gingen wir
Begrüßungsgeld 1000 Rubel – etwa zwei erst mit dem Rechen durch das Gras, ob
Jahreslöhne – sowie 300 Rubel für jedes Fa- nicht irgendwo noch Munition lag“, bemilienmitglied und ein Darlehen von 3000 richtet Jekaterina Morgunowa. „Die Erde
Rubel oder eine Kuh. Als weitere Starthil- war fruchtbar“, lautet die angenehme Refe erhielt die Sippe kostenlosen Transfer miniszenz der Larissa Amelina, die aus
und ein Haus auf dem Land.
dem Gebiet Orjol kam. „Ich habe Halme in
Das Leben war äußerst hart. Im Sep- Erinnerung, die waren fingerdick, Tomatember 1946 wurde die Brotration um 30 ten reiften direkt auf den Stauden, die
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A. SAREMBO
ULLSTEIN BILDERDIENST
Kohlköpfe waren riesig, es
gab sehr viele Gurken.“
Beim Pflügen entdeckten
die Neusiedler tönerne Rohre, zogen sie heraus und warfen sie in Brunnen. So zerstörten sie das Drainage-System, das Ostpreußen seinen
Wohlstand beschert hatte.
Dämme, Kanäle, Pumpstationen verrotteten, die einst so
ertragreichen Felder der
„Kornkammer des Reichs“
versumpften – bis heute.
Gleichzeitig mit dem Zuzug der Russen in das nun
nach dem Altbolschewiken
Kalinin benannte Gebiet
begann die Aussiedlung
der deutschen Bevölkerung.
„Sie wollten nicht wegfahren.
Sie standen mit ihren Bündeln an der Haltestelle, warteten auf die Wagen, einige weinten“, beschreibt Galina Roman, damals acht Jahre alt, den Bevölkerungsaustausch. Der zurückgelassene Besitz – Schränke, Stühle, Tische
– musste in Schuppen gebracht werden, so Alexander Puschkarjow aus
Slawsk (Heinrichswalde): „Wenn die
Neusiedler kamen, sollten die Möbel
für sie bereitstehen. Alles Quatsch,
alles ist kaputtgegangen. Die
Straßen waren zerstört, und bis die
Möbel ins Lager kamen, waren nur noch
Bretter übrig.“
Tatjana Mulinkowa arbeitete in einer
Schneiderei in Baltijsk (Pillau) mit deutschen Frauen zusammen. Sie erzählt aus
dem Jahre 1948: „Als wir eines Tages zur
Arbeit kamen, waren die Deutschen weg,
es war niemand zum Arbeiten da. Innerhalb einer Nacht hatte man sie abtransportiert – wie weggeblasen.“
Die Beziehung der Neusiedler zu den
Letzten der angestammten Bevölkerung
bleibt eine „konfliktverdächtige Thematik“. Damit mussten die Autoren, so der
Lüneburger Osteuropa-Historiker Matthes,
„unweigerlich Tabugrenzen berühren“, die
in der Sowjetunion jahrzehntelang nicht
angetastet werden durften.
Entsprechend kritisch reagierten russische Verlage und Behörden bei der Vorlage des Buch-Manuskripts. Noch immer
können Kaliningrader über ihre eigenen
Wurzeln in der Landschaft nichts lesen.
Aber sie interessieren sich längst für die
historischen Ursprünge – sie suchen in den
Trümmern nach der deutschen Vergangenheit. Der Königsberger Dom mit dem KantGrab wurde mit deutschen Spendengeldern wieder aufgebaut, und die ostpreußische Dichterin Agnes Miegel erlebt eine
Renaissance: Sie beschreibt, so meint Sem
Simkin, der russische Herausgeber ihrer
Werke, die Heimat auch der Russen, die
dort geboren sind.
Carsten Voigt
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PA / DPA
Premierminister Blair, Thronfolger Charles: Streit wie auf dem Billardtisch ausgetragen
G R O S S B R I TA N N I E N
Warten auf William den Letzten
Die Briten lieben die Monarchie, haben aber den Glauben an ihren Bestand verloren: Diana
vergessen, Camilla im Kommen, Charles im Konflikt mit Tony Blair. Der Prince of Wales
rebelliert gegen Cool Britannia – und das Volk setzt auf seinen Sohn. Von Carlos Widmann
W
enn dem Gehör zu trauen ist,
wird His Royal Highness von den
5000 Menschen im Saal zur Begrüßung ausgepfiffen. Hierauf ertönt recht
unfeierlich „God Save the Queen“: in
schrägem Rhythmus und mit schrillen
Trompetenstößen, als würden die Musiker
sich über die Landeshymne lustig machen.
Und auch die nächste Nummer klingt
nicht gerade wie eine Verneigung vor Britanniens künftigem Monarchen – zumal in
der Woche, da dieser seinen 51. Geburtstag
feiert. Auftrumpfendes Blech und dumpfe
Beckenschläge verkünden das amerikanische Gleichheitsideal: in der etwas bejahrten „Fanfare für den gemeinen Mann“
(Frauen gab es 1942 noch nicht) des Komponisten Aaron Copland.
Charles, Fürst von Wales, hat mit diesem
Gaudium keine Probleme. Er interpretiert
das Pfeifkonzert und das Gejohle korrekt
als jugendliche Beifallsbekundung. Und
über die musikalischen Frotzeleien hört er,
selber Cellospieler, amüsiert hinweg.
Die Leuchtkraft seiner sichtlich gut
durchbluteten Wangen strahlt herzwärmend von der königlichen Loge auf die
Menschenmasse in Londons gigantischer
Albert Hall aus. Doch des Prinzen vertraute Gesten der Volksermunterung wir230
ken stets distanziert, wie durchpulst von
Selbstironie. Charles Windsor Mountbatten lächelt in Anführungszeichen.
Gerade jetzt, da „HRH“ eine Aufsehen
erregende Privatfehde mit dem populären
Labour-Premier Tony Blair austrägt, registriert sein Gefolge genau, welche Resonanz
der ewige Thronanwärter in der Bevölkerung noch findet. So auch während der
„Schools Prom“ in der Royal Albert Hall:
Auf dem Höhepunkt des alljährlichen Musikwettbewerbs, bei dem junge Menschen
alle Strömungen der britischen Multikultur
lautstark zu Gehör bringen, wird der Herr
im grauen Zweireiher wie ein Pop-Star umjubelt.
Das ist für ihn besonders darum angenehm, weil die Zeitungen wieder vom „getrübten Verhältnis zwischen Prinz und Regierung“ berichten, gar von einem „wütenden Tony Blair“ – wie es im „Guardian“
heißt –, der Charles zum „Showdown“ an
seinen Amtssitz Downing Street bestellt
habe: und dies, so weiß die linksliberale
Zeitung, weil der Thronfolger „die Autorität der Regierung unverblümt herausgefordert“ habe. Aus der Sicht Tony Blairs
unternehme Charles wieder einmal einen
„wohlberechneten Versuch, die öffentliche
Meinung zu manipulieren“.
d e r
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Freilich würde kein offizielles Mundstück in der Downing Street oder dem
St. James’s Palace (wo der 21. Prince of
Wales der letzten 698 Jahre derzeit in London residiert) je solche Verstimmungen zugeben. Es gehört zu Englands ungeschriebenen Gesetzen und Überlebensregeln,
dass Königshaus und Regierung niemals
Kritik aneinander üben.
Darum wird der Streit zwischen Prinz
und Premier wie auf dem Billardtisch über
die Bande ausgetragen – durch Gesten und
durch anonym bleibende Formulierer, die
giftige Bemerkungen fallen (oder auch
gleich drucken) lassen. Die Streitgegenstände wirken läppisch, der ganze Disput
scheint sich um fast nichts zu drehen – um
die Teilnahme an einer Fuchsjagd, die Verweigerung einer chinesischen Mahlzeit, das
Eintreten gegen genmanipulierte „Frankenstein-Nahrung“ sowie die offen ausgedrückte Geringschätzung des Prinzen für
gewisse Hervorbringungen der modernen
Architektur.
Die Fuchsjagd scheint der explosivste Konfliktstoff zu sein. Dieser berittene
Zeitvertreib der alten bodenständigen
Oberschicht wurde schon vor hundert
Jahren von Londoner Intellektuellen mit
Sarkasmus überschüttet: „Die Unsäglichen
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Werbeseite
Ausland
REX FEATURES
REUTERS
Liebhaber einer restaurativen,
sind wieder hinter den Unhistorisierenden Bauweise hat
genießbaren her“, lästerte
Charles seit jeher die „MonOscar Wilde. Heute sind es die
strositäten“ und den „NeoMitleids- und Neidinstinkte
Brutalismus“ gegeißelt, die
der breiten städtischen MehrBritanniens Großstädten wähheiten, die sich gegen den teurend der letzten 50 Jahre von
ren und schönen, für Ross,
modernen Architekten zugeReiter und Fuchs überaus gefügt wurden.
fährlichen Sport wenden.
Hat ein Thronfolger denn
Tony Blair und New Labour
keinen Anspruch auf eine
sind für alles Populäre und sopersönliche Meinung, wenn er
mit auch gegen den „Blutdamit nicht gerade in die Tasport“, bei dem bisweilen ein
gespolitik eingreift? Charles’
Fuchs von der Hundemeute
ureigenste Mischung aus ökozerrissen wird. (In der Regel
logisch-sozialem Engagement
jedoch wird das Raubtier vom
und ausgeprägtem Wertekonblitzartigen Nackenbiss des
servatismus hat den Prinzen
Leithundes erledigt – wenn es
schon zu Margaret Thatchers
der hechelnden Meute nicht
Zeiten in Konflikt mit den Resogar entkommt.) Gegen die
gierenden gebracht. Damals
Bemühungen Tony Blairs und
höhnte Maggies liebster Toryseiner Parteifreunde, dieses
Häuptling Norman Tebbitt
Weidwerk per Gesetz zur Streüber den Einsatz des Prinzen
cke zu bringen, sagte der
für die Armen und ObdachloPrince of Wales kein einziges
sen: „Er zeigt so viel SympaWort: Dafür nahm er seine
thie für Leute, die keinen Job
beiden Söhne William und
haben, weil er selber gewisserHarry – die Lieblinge der Bou- Königin Elizabeth II., Sohn Charles: „Schatten des Zweifels“
maßen ein Arbeitsloser ist.“
levardpresse und der Nation –
Dafür haben nun die Konservativen
vor einigen Wochen demonstrativ auf die dringlich vor den Gefahren genmanipuFuchsjagd mit. Der Aufschrei aller Gut- lierter Nahrungsmittel warnte – ganz gegen ihren Spaß daran, dass die führenden Köpfe von Blairs Labour Party – die in dem
menschen war markerschütternd, und Blair den Kurs von New Labour.
Und richtig gefreut hat es den Briten- Prinzen einst einen natürlichen Verbündesoll einen Wutanfall bekommen haben.
Stummen und doch beredten Wider- Premier wohl auch nicht, als Charles seine ten gesehen hatten – jetzt unter seinen
stand leistete Charles auch, als im Oktober private Meinung über das Lieblingsprojekt schnoddrigen Seitenhieben und provozieder chinesische Machthaber Jiang Zemin in des Bauherrn Tony Blair durchsickern ließ renden Gesten zu leiden haben. Auf diese
London empfangen und umworben wurde: – über den protzig-gewaltigen „Millennium wiederum reagieren die Linken betont unAuf dem Staatsbankett, zu dem Jiang die Dome“, der zur Jahrhundertwende in Lon- zimperlich: Im „Observer“ wird hervorgebritische Prominenz in die chinesische Bot- don eröffnet werden soll: Nicht einmal wil- hoben, dass Charles durch seine Freude
schaft geladen hatte, erschien der Thron- de Pferde, hat der Kronprinz wissen lassen, am Weidwerk indirekt in Berührung mit
folger nicht – er konnte andere gesell- könnten ihn in diese Scheußlichkeit hin- ultrarechten Kreisen gekommen sei – als
einzerren. Überraschend war das nicht: Als ob Fuchsjagd und Faschismus irgendwie
schaftliche Verpflichtungen nachweisen.
zusammenhingen.
Aber das war gleichwohl ein Statement.
Was Charles so aufgekratzt und kämpDenn Charles ist mit dem Dalai Lama beferisch stimmt, ist auf Anhieb nicht ausfreundet, dessen Tibeter in China unterzumachen. Er lehne sich innerlich gegen
drückt werden. Und angeblich wollte der
Tony Blairs Schaumschlägerei, gegen Cool
Prinz damit auch auf einen kleinen, amtBritannia auf, meinen Beobachter der
liche Scheinheiligkeit verratenden WiderRoyals. Außerdem kämpfe der Prince of
spruch hinweisen:
Wales schlicht um die Würde und den BeDieselbe britische Regierung, die den
stand der Monarchie – die er selbst noch
greisen Ex-Diktator Augusto Pinochet seit
vor wenigen Jahren durch frivoles Fehleinem Jahr im Hausarrest hält, umschmeiverhalten aufs Spiel gesetzt hatte. „Schatchelte nun den „Schlächter vom Tiananten des Zweifels“ orakelt eine Schlagzeile
men“ – den alten Apparatschik, der 1989
des Massenblatts „Daily Mail“: Dem 933
die Demonstranten in Peking von Panzern
Jahre alten Königshaus drohe am Beginn
niederwalzen ließ und heute noch Disdes 21. Jahrhunderts schwere Gefahr.
sidenten und Demokraten in den KerDer dicke und lebenslustige Exil-König
ker wirft.
Faruk aus Ägypten, der 1952 von nationalCharles redet mit den Pflanzen, berevolutionären Offizieren abgesetzt wurde,
haupten Spötter seit Jahren, weil der Prinz
wagte später an der Côte d’Azur eine unsich um den Umweltschutz bemüht und
kollegiale Prophezeiung: In 50 Jahren werdemonstrativ für den organischen Ackerde es auf der Welt nur noch fünf gekrönte
bau eintritt. Gemeint ist aber auch, er sei
Häupter geben – die vier Monarchen des
ein weltfremder Sonderling mit zu viel poKartenspiels und die Königin von England.
litischem Engagement, somit für die ThronEin präziser Prophet war Faruk sicher
folge nicht geeignet. Von Tony Blair wienicht: Die westeuropäischen Königshäuser
derum heißt es, er sei bleich vor Zorn über
haben das vergangene Halbjahrhundert so
Prinz Charles geworden, als der im letzten Single Charles, Lebensgefährtin Camilla
weit gut überstanden. Eines, in Spanien,
Sommer in einem Zeitungsartikel ein- Das Prestige der Royals beschädigt
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PA / DPA
Jagdfreund William: Blond, schlank, unverkrampft
kam sogar noch dazu. Aber ob ausgerechnet die britische Monarchie am längsten
überdauern werde, ist nun doch sehr zur
Frage geworden:
Wie die „Daily Mail“ mit großem demoskopischem Aufwand ermitteln ließ und
am Vorabend von Charles’ Geburtstag bekannt gab, haben die Royals – trotz mancher Scheinsiege der jüngsten Zeit – partout keinen Grund zum Optimismus.
Zwar ist richtig, dass die Queen unlängst
in Australien den ersten Wahlsieg ihres Lebens errungen hat, und das auch noch
kampflos: Die dortigen Republikaner, die
Charles’ Mutter als nominelles Staatsoberhaupt loswerden und durch einen einheimischen Präsidenten ersetzen lassen
wollten, erlitten bei der Volksabstimmung
eine bittere Niederlage; Elizabeth II. kann
ihre Untertanen auf der anderen Seite der
Welt zunächst einmal behalten.
Nur, die meisten Australier hätten der
Queen durchaus einen eigenen Präsidenten
vorgezogen – wenn sie ihn denn selber hätten wählen dürfen. Stattdessen war vorgesehen, den Queen-Ersatz vom Parlament
küren zu lassen. Das machte das Referendum unattraktiv. Nächstes Mal siegen in
Canberra garantiert die Republikaner –
und die Nabelschnur zum Mutterland wird
gekappt.
Auch die Demoskopie hielt für das Geburtstagskind Charles nur eine mäßig frohe Botschaft parat. Gewiss, nahezu drei
Viertel der Briten wünschen den Fortbestand des Hauses Windsor (bis 1917 Sachsen-Coburg und Gotha) und der Monarchie, 69 Prozent würden in einer Volksabstimmung für das Königreich optieren, und
nur ein Drittel wäre überhaupt für ein Re234
ferendum zu haben – die breite Mehrheit
findet die Frage überflüssig.
Kann ein Royal mehr verlangen? Doch
so fest, wie es scheint, ist der britische
Volkswille nicht. Den Untertanen Ihrer
Majestät fehlt neuerdings der Glaube an
das Überleben jener Institution, zu deren
Verteidigung sie noch patriotisch zusammenstehen. Weniger als ein Drittel der
Erwachsenen meint, dass Britanniens
Monarchie die nächsten 50 Jahre überstehen werde. Nahezu die Hälfte hat diese
Hoffnung schon nicht mehr.
In der überfüllten Royal Albert Hall
liefert eine junge schwarze Ansagerin unbewusst Aufschluss über den Vertrauensschwund. Eine Ghetto-Kindergruppe aus
Sheffield tritt auf, alle möglichen lärmerzeugenden Gegenstände in den Händen, um damit Musik zu machen. Als „Instrumente“ kündigt die Ansagerin flott
„Anything that vibrates!“ an, um sich sogleich mit einem lustig-verschämten
„Ooops!“ auf den Mund zu schlagen. Zögernd bricht im Publikum prustendes
Gelächter aus: Man versteht die Anspielung auf „Vibrator“. In Gegenwart der Königin wäre niemand auf einen Sexualscherz verfallen.
Vor dem Kronprinzen aber dürfen die
Untertanen sich schon einiges herausnehmen. Die Auftraggeber der Meinungsumfrage, die den Pessimismus der britischen
Royalisten feststellten, datieren die Entzauberung der Königsfamilie auf das Jahr
1992: Auf die Zeit, da Prinz Charles und
Prinzessin Diana ihre Ehekrise vor aller
Welt bloßlegten.
Nur hätten Dianas Seitensprünge im
Reitermilieu das Vertrauen in die Monard e r
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chie kaum erschüttern können. Eher schon
hat Charles’ Verhältnis zur Gesellschaftsdame Camilla Parker Bowles, der Ehefrau
eines geduldigen Freundes – vor allem aber
die Art, wie diese Beziehung in den Medien breitgetreten wurde –, das Prestige
der Royals beschädigt:
Ein Handy-Zwiegespräch des Thronfolgers mit seiner Maitresse war abgehört und
aufgezeichnet worden, wodurch alle Welt
eine der originellsten Liebeserklärungen
des ausgehenden 20. Jahrhunderts vernehmen durfte – den Wunsch des Prince of
Wales, sich in Camilla Parker Bowles’ Tampon zu verwandeln.
Diana, die „Prinzessin des Volkes“ (Tony
Blair), ist schon 27 Monate nach ihrem
Tod in Vergessenheit geraten. Die Trauerexzesse von damals hinterließen nichts
als Schaum, der rasch im Sand versickerte.
Dafür gewinnt Camilla – der einst von
Diana verabscheute „Rottweiler“ – immer
mehr Sympathien. Geradezu volksnah
muten denn auch die Pläne für die Millenniums-Neujahrsparty des Kronprinzen an:
Charles und Camilla wollen zu Hause auf
dem Landsitz Highgrove bleiben und die
Nachbarschaft einladen. „The Sun“ jubelt
schon jetzt: „Jeder bringt eine Flasche mit
– und Camilla kocht!“
Immerhin spricht die Hälfte der Bevölkerung sich bereits dafür aus, dass Charles
die fast gleichaltrige Geliebte heiraten soll.
Dass er zum König tauge, hält eine Mehrheit der Briten zwar für wahrscheinlich –
aber die Frage, ob dann Camilla mit ihm
Königin sein solle, beantworten vier Fünftel mit schroffem Nein. Es ist, als hätten es
die Briten irgendwie im Gefühl, dass aus
dem 21. Prince of Wales, möge er nun mit
den Pflanzen reden oder nicht, niemals König Charles III. werden könne.
Dass bei der Thronfolge eine Generation übersprungen wird, wäre so ungewöhnlich nicht – besonders in einem Herrscherhaus mit langlebigen Frauen. Die
höchst professionelle Queen ist 73 und
zeigt nicht die geringste Amtsmüdigkeit;
ihre Mutter, die Queen Mum, wird demnächst 100.
Blond, schlank, unverkrampft – und mit
den vorteilhaften Gesichtszügen seiner
verunglückten Mutter Diana – betritt der
17-jährige Prinz William die Szene. Auf ihn
vor allem sind die Hoffnungen gerichtet,
wenn von einer Zukunft der Monarchie
die Rede ist. Tony Blair hat schon wissen
lassen, dass er sich für den jungen Mann,
sobald er das vornehme Eton hinter sich
hat, ein Studium auf einer Business School
wünscht. Soll Cool Britannia einen König
erhalten, der geschäftstüchtig ist?
Wenn aus dem schönen Prinzen der
König William V. wird, bekäme die
Monarchie – so sehen es viele Briten –
noch eine Bewährungschance. Sollte das
Haus Windsor sie nicht zu nutzen wissen,
mag aus dem Hoffnungsträger durchaus
William der Letzte werden.
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Sport
Münchner Trainer Lorant: Mit jedem Kraftspruch einen Krümel Wahrheit durchs Land verschickt
FUSSBALL
Die Stimme des Stammtischs
Die angebliche Beleidigung eines Schiedsrichters hat Werner Lorant in die Schlagzeilen gebracht.
Die Bundesliga braucht den lärmenden Trainer von 1860 München als Antityp zu
den Krawattenträgern. Diese Woche tritt seine Elf wieder beim Klassenfeind an, dem FC Bayern.
N
FIRO
Dann fragte ein Journalist,
eulich, als in Münder auch des Mittags auf der
chen der erste Schnee
Eckbank sitzen darf, wie das
fiel, saß Werner Lomit dem Job denn nun eirant mittags um zwölf im
gentlich sei. Werner Lorant
„Löwenstüberl“ auf seiner
zog wieder Luft durch die
Eckbank und blickte nach
Schneidezähne und antwordraußen. „So ’n Pisswetter“,
tete: „Alles gesagt, is kein
bellte der Mann, über den so
Thema, kein Thema jetzt, gar
viel in der Zeitung steht,
kein Thema.“
durch das Vereinslokal des
Ein paar Tage später
Fußballclubs TSV 1860 Münmusste der Platzhirsch vom
chen, und dann wühlte sich
„Löwenstüberl“ nach Frankseine Zunge durchs Gebiss
furt am Main reisen, wo es
auf der Suche nach den Resdarum ging, sich etwas geten von Rahmschnitzel und
nauer zur Sache einzulassen.
Gurkensalat.
Lorant war beim Sportge„Christel, bring noch ’n
richt des Deutschen FußballEspresso“, sagte er, was imBundes wegen Schiedsrichmer ein Signal dafür ist, dass
terbeleidigung angeklagt.
er jetzt seine Ruhe haben
„Ihr seid alles Würste, ihr
will. Aber dann ging die Tür
auf, und ein Mann mit Münchner Stadtderby 1860 gegen Bayern: „Flüchtlinge arbeiten eh nix“ habt uns mal wieder beschissen“, soll er während
dickem Bauch trat ein. Er
Werner Lorant zog dreimal Luft durch eines Spiels seiner Mannschaft in Leverstellte sich als Vertreter des Fanclubs „Donaulöwen 79“ vor, hatte einen Blumen- die Schneidezähne, wobei er mit der Zun- kusen gesagt haben.
Damit stand er schon groß in der Zeistrauß mitgebracht und war in schwe- ge fletschende Laute produzierte, und sagrer Sorge. In der Zeitung stand, dass Lo- te: „Kein Thema, is kein Thema, schöner tung. Aber als Lorant später sagte, er werrant, 51, angedroht hatte, seinen Job zu Strauß, kannst dir da hinten einen Platz su- de als Bundesligatrainer zurücktreten, falls
schmeißen, und deswegen überreichte der chen und Kaffee trinken, is kein Thema.“ ihn das Gericht deswegen zu einer befrisMann mit dem dicken Bauch nun sein Ge- Der Mann mit dem dicken Bauch entfern- teten Arbeitssperre im Stadion verurteilen
binde und hielt einen knappen Vortrag: te sich, und Werner Lorant zog Silbergeld sollte, stand er noch viel größer in der Zei„Bittschön, sein S’ so liab, bleiben S’ unsa aus der Tasche. „Christel, ’ne Schachtel tung. Und im Gerichtssaal war es vorigen
Marlboro.“
Dienstag dann so, als ging es nicht um WerTrainer.“
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FOTOS: BONGARTS
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einmal – nicht mehr richtig in den Arsch treten, leider Gottes. „Diese Generation ist so
versaut, die können sich nicht mal alleine
eine Wohnung suchen. Korrekt? Korrekt.“
Aber Ansprüche stellen, ja? Stellen Ansprüche „und spielen wie die Bratwürste,
diese Wahnsinnigen. Korrekt oder nicht
korrekt?“ Also bitte, „das nervt mich jetzt
langsam, das nervt mich wirklich, das nervt
mich jetzt richtig langsam“. Der Redner
legt eine rhetorische Pause ein. Er wischt
sich mit der flachen Hand durchs Gesicht,
und als er damit fertig ist, wirkt es so, als
habe er soeben den letzten Gedanken gekillt. Was soll der Scheiß? „Kein Thema. Christel, noch ’n Espresso.“
Nun ist es ja nicht so, als sei das alles nur dummes Zeug. Lorant hält
sich bei 1860 München jetzt schon
sieben Jahre im Amt; seine Mannschaft sprüht zwar selten Funken,
trifft aber in aller Regel ordentlich
durchgetrimmt auf dem Spielfeld ein.
Laufen, treten, Schnauze halten – in
diesem Dreieck hat er sich selbst als
Fußballspieler bewegt und ist damit
immerhin auf 325 Bundesligaspiele
gekommen. Für die Ewigkeit blieb
dabei allerdings nur jener Moment,
in dem er seinem Gegenspieler Jupp
Kapellmann derart ins Gemächte
langte, dass der zur Behandlung in
die Ambulanz musste.
Lorant war das älteste von sieben Kindern, sein Vater ging als Maurer auf den
Bau, und als das eigene Haus gebaut wurde, musste Lorant Steine schleppen, „bei
sengender Hitze und strömendem Regen“.
Die Koordinaten passen noch immer. Ob
er vor dem Spiel eine Rede vor der Mannschaft hält? „Gar nichts mach’ ich. Aufstellung an die Wand, fertig.Wäre ja noch schöner. Bin ich ein Pfarrer oder was?“
Je verzweifelter die Kollegenschaft im
Kampf gegen Machtfülle des spielenden
Personals um Hilfe winselt, desto mehr
festigt sich die Marktposition des Münchner Schreihalses. Einen Pressespiegel, den
H. RAUCHENSTEINER
ner Lorant und die Würste, sondern um ausgewachsener Juristen der Begriff „WürsEgon Krenz und die Menschenrechte. Acht te“ ventiliert. „Hinsichtlich der Würste“,
Kamerateams jagten den Angeklagten nach will beispielsweise der Chefankläger Horst
dem Urteilsspruch durch die Gänge der Hilpert im Plädoyer festgehalten wissen,
Fußballzentrale. Mit dem Ergebnis, dass sei zweifelsfrei, „dass der Begriff Würste
despektierlich ist.“ Als Werner Lorant zur
ein Blumentopf vom Sockel kippte.
Dass Werner Lorant, das Schmuddelkind Urteilsverkündung erscheint, pfeift er eine
der deutschen Fußball-Lehrer aus Welver Melodie in den Saal, richtet das Silberin Westfalen, nun schon über Wochen re- kettchen am Hals und plumpst breitbeinig
publikweit Qualm verbreiten darf, deutet in seinen Stuhl.
„Sperre für zwei Spiele und 25 000 Mark
auf einen anschwellenden Notstand des
Gewerbes hin. Deutschlands Fußball macht Geldstrafe.“ Schuldig. Der Verurteilte zieht
Umsatz, Deutschlands Trainer tragen Kra- Luft zwischen die Schneidezähne und geht
watte, aber wo ist die Story? Seit kurzem eine rauchen.
ist beim Fußball durchgehend
geöffnet, montags bis sonntags, gespielt wird immer, und die Männer, die hinterher was dazu sagen
müssen, sagen es wie kleine
Unternehmenssprecher. Deshalb
muss der Antitypus her. Zackig,
knackig, prollig – Lorant.
Lorant redet, als hätte er nach
der Pubertät die Kurve nicht mehr
gekriegt. Lorant wirbt nicht für
Boss-Anzüge und Energiegetränke,
sondern für Kaugummis, mit denen
man sich das Rauchen abgewöhnen
soll; und wenn keine Kamera in der
Nähe ist, saugt er an einer Marlboro. Lorant trägt eine Frisur, die
aussieht wie ein Sturzhelm. Und Präsidenten Beckenbauer, Wildmoser: „Es passt ois“
hätten sich die Dinge nicht so geDer Vereinspräsident Karl-Heinz Wildfügt, dass er jeden Morgen im Mercedes mit
dem Kennzeichen M – WL 3333 auf seinen moser hat den Trainer erst mal für eine
reservierten Parkplatz vor dem Vereins- ganze Woche nach Spanien geschickt, weil
gelände vorfahren würde, um das Training er findet, dass der jetzt Ruhe braucht. Dass
zu leiten, dann käme er wahrscheinlich mit Lorant so nun ausgerechnet am kommendem Moped, um beim Training zuzugucken. den Samstag im Stadtduell mit dem FC
Bayern fehlt, ist schon ein Jammer. Bei solEtwas zu meckern fände sich immer.
„Ihr seid alles Würste“. Ja, okay, hat er chen Gelegenheiten war nämlich sonst imgesagt, kein Thema, gar kein Thema. „Al- mer mächtig was los im „Löwenstüberl“,
les Würste auf dem Platz“, wiederholt er weil der Mann auf der Eckbank zu höchster
mit ausgebreiteten Armen im Gerichtssaal. Form fand. Bayern ist gewissermaßen der
Aber „beschissen?“ Lorant winkt mit dem Klassenfeind, wo sie – wie Lorant sagen
Zeigefinger: „Mit beschissen war goa nix.“ würde – die Leute zuscheißen mit ihrem
Achtundzwanzigmal wird am Dienstag Geld. Und wer zu viel Geld verdient, dem
vergangener Woche vor einer Mannschaft kann man – so sieht das Werner Lorant nun
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sein Arbeitgeber täglich erstellen lässt, grammkarte, und heute hat er eine Geschleudert er ungelesen in den Papierkorb heimnummer, damit nicht jeder Hanswurst
– „interessiert mich nicht“. Lorants Sicht bei ihm daheim anrufen kann.
auf die Welt speist sich vorzugsweise aus
Ganz unabhängig davon fühlt sich der
den Sportseiten der „Bild“-Zeitung („steht Vorsteher mit dem leitenden Angestellten
am meisten drin“), und deshalb ist die im Geiste verbunden. Jetzt zum Beispiel
Mehrheit vollkommen einverstanden mit nur mal der Umgang mit den „Einkomdem, was er von sich gibt. Als Stimme des mensmillionären, wissen S’, des ist ganz
Stammtischs hat er sich unverzichtbar ge- schwer“. Also früher, als Wildmoser selbst
macht, und mit jedem Kraftspruch ver- noch zur Schule ging, „da gab’s unter Umschickt er so auch immer einen Krümel ständen scho mal drei Tatzn“. Tatzn? „A
Wahrheit durchs Land.
Tatzn is, wenn der Lehrer mit dem RohrNeulich erst war bei „Bild“ in München stock auf die ausgestreckte Hand mal kurz
wieder der Teufel los, weil Leser aus ganz a bisserl draufklopft.“ Geht ja heute nicht
Deutschland mit Anrufen nervten. Lorant mehr. „Alles lockerer geworden des Ganhatte in einem Interview ein paar grundsätz- ze.“ Aber nicht unbedingt besser. Deshalb
liche Thesen zum Fußball erarbeitet, und braucht er Lorant. Zum einen.
die Leute meinten, das habe
schon lange mal gesagt werden
müssen. Lorants Botschaft im
Kern war die: alles Müll.
Beckenbauer? Große Worte, nix dahinter. Champions
League? „Wenn ich das schon
höre.“ Ausländer: „Wir haben
die deutsche Fußball-Mentalität
verkauft.“ Nachwuchs? Fernsehen? Zum Davonrennen.
Ja und? Die Sprache des
Fußballs, sagt Lorant, ist eine
deutliche Sprache, „war immer
so, wird immer so sein. Kor- Pressegespräch im „Löwenstüberl“: „Gar kein Thema“
rekt? Korrekt“. Viel Gebrüll
und wenig Hintersinn, da macht ihm keiner
Zum anderen, weil der auch ideologisch
was vor. „Ich hab’ immer Recht“, und seine Funktion hat. 1860 hütet seinen Ruf
manchmal tut die Wahrheit eben weh. Dass als Arbeiterverein, weil die Sympathiewerer einmal über die Zeitung dem Schieds- te für Widerständler gegen die Geldsäcke
richter Dardenne ausrichten ließ, der kön- vom FC Bayern von jeher konstant sind.
ne froh sein, dass er ihm keine gelangt
Arbeiterverein? Aber klar, findet Werner
habe, war möglicherweise nicht ganz kor- Lorant.Warum? „Weil wir uns alles hart errekt, aber was ist denn schon passiert? arbeiten müssen.“ Etwas präziser war da
„Hab’ ich meine Strafe gekriegt. Hab’ ich schon einmal Wildmoser, als er gegen den
mich aufgeregt? Nein. Bezahlt, akzeptiert, Plan protestierte, Heimspiele im Olympiafertig. Gar kein Thema.“
stadion auf den Freitagabend zu legen.WarKlar ist, dass so einer bei ernst zu neh- um? Na, weil die Fans von 1860 freitags lanmenden Arbeitgebern keinen Job mehr fin- ge arbeiten müssten, im Gegensatz zu denen
den dürfte. Umgekehrt gilt aber auch: Wer des FC Bayern: „Von denen kommen 70
sonst außer Lorant könnte leisten, was Prozent aus Siebenbürgen. Bei den FlüchtLorant bei 1860 München leistet?
lingen ist es doch eh wurscht, die arbeiten
Käme – beispielsweise – einer dieser an- sowieso nix.“ Jo mei, war halt ein Scherz.
ständig frisierten Krawattenträger daher,
Denn in Wirklichkeit sieht die Sache ja
gäbe es vermutlich schon den ersten Ärger längst anders aus. In Wirklichkeit hat 1860
mit dem Präsidenten. Der Großgastronom eine schnieke Clubzentrale mit Marmor
Karl-Heinz Wildmoser, allein von seiner und Halogenstrahlern und leistet sich SpieErscheinung her der Schrecken jedes Tür- ler wie Thomas Häßler für viele Millionen
stehers, schiebt immer dann, wenn es Är- Mark. In Wirklichkeit ist 1860 das Aldi-Bayger gibt, seinen Bauch vor und sagt: „Es ern. 1860 hat Theo Waigel zum Fan, Bayern
passt ois.“
hat Edmund Stoiber. Der Unterschied sind
Das ist zunächst mal ganz persönlich zu Lorant und das „Löwenstüberl“.
verstehen. Es gab nämlich mal eine Zeit, da
Zwei Spiele Sperre plus 25 000 Mark.
war Wildmoser, der den Beruf des Metz- Und? Schmeißt er jetzt hin? Hat er doch
gers erlernte, in München rein gesell- längst gesagt, auf seiner Eckbank, wo er
schaftlich ein Niemand. Wohin der Weg immer sitzt und Zigaretten in einen
führen könnte, ahnte er, als Franz Josef Aschenbecher drückt, auf dem das Wort
Strauß in eine seiner Gaststätten einkehr- „Stammtisch“ steht. „Is kein Thema.“ Hat
te und mit „Servus, Wirt, wie geht’s?“ er bloß mal so gesagt. War ja auch groß
grüßte. Dann kam Werner Lorant, 1860 in der Zeitung. War aber nie ein Thestieg in die Bundesliga auf,Wildmoser wur- ma. Wo soll er auch sonst hin? Korrekt?
de ein Fußballpräsident mit eigener Auto- Korrekt.
Matthias Geyer
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S. MATZKE / S.A.M.
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DPA
Fernsehware Herrentennis*: Irgendwo zwischen „Tigerenten Club“ und „Fliege“
TENNIS
„Nicht mehr sexy“
Leere Hallen, schwache TV-Quoten, abwandernde Sponsoren:
Die Krise bei den Herren-Turnieren ist größer als die Strahlkraft
des deutsch-amerikanischen Mixed Steffi Graf/Andre Agassi.
D
er Mann besitzt einen goldenen
Arm. 20 Profi-Turniere hat Jewgenij
Kafelnikow schon gewonnen, mehr
als 14 Millionen Dollar Preisgeld vereinnahmt. Er könnte glücklich sein.
Bei der Arbeit vermittelt der Russe indes
den Eindruck, auf dem Tennisplatz zu stehen sei ähnlich lausig wie an einem Hochofen zu schuften. „Spielen fast jede Woche“, quetscht er gequält heraus, „Spiele
verlieren, Spiele gewinnen“ – das ProfiLeben, will er sagen, sei eine Geschichte,
die sich laufend wiederhole.Was gebe es da
schon mitzuteilen?
Auch im Sport gibt es notorische Jasager
und notorische Neinsager. Kafelnikow ist
ein notorischer Nichtssager. Außer er hat
mal wieder eine sechsstellige Prämie kassiert. Dann kommt es vor, dass er noch auf
dem Center Court sein Handy auspackt,
die Nummer seiner Frau wählt und ans ferne Schwarze Meer berichtet: „Wir haben
wieder einen schönen Scheck.“
Der Weltranglisten-Zweite aus Sotschi
wird diese Woche in Deutschland zu begutachten sein: Und dass er von den Veranstaltern der ATP-Weltmeisterschaft in
Hannover als Top Act angepriesen wird,
sagt viel aus über den Zustand des internationalen Herrentennis. Denn vom Amerikaner Andre Agassi abgesehen, umweht
* Marcelo Rios bei den U. S. Open 1998 in New York.
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Kafelnikows Konkurrenten beim Saisonfinale noch weniger Star-Appeal: Nicolas
Lapentti aus Ecuador etwa oder Todd Martin aus den Vereinigten Staaten oder Thomas Enqvist aus Schweden – Gesichter, die
niemand kennt und Namen, mit denen
kaum einer etwas anfangen kann.
Über zwei Jahrzehnte wuchs der Tenniscircuit zu einem florierenden Wirtschaftszweig, weil es Helden gab, die sich Duelle
lieferten: Björn Borg und Jimmy Connors,
John McEnroe und Ivan Lendl, Boris
Becker und Stefan Edberg. Doch je professioneller die Branche wurde, desto
stromlinienförmiger gerieten die Hauptdarsteller.
Das Publikum ist gelangweilt. In
Deutschland, dank Becker mehr als eine
Dekade lang die Wirtschaftswunderzone
des Herrentennis, ist das Desinteresse mittlerweile so greifbar wie nirgendwo anders.
Klaus-Dieter Heldmann, Turnierveranstalter in Stuttgart, verteilte Ende Oktober
Freikarten – viele Plätze blieben trotzdem
leer. Trocken konstatiert er: „Tennis hat
zurzeit den Stellenwert, den es verdient.“
Selbst der jüngste Aufstieg zweier Profis in die Weltklasse stößt hier zu Lande auf
Gleichgültigkeit. Nicolas Kiefer gilt als
schwer vermittelbar, weil er chronisch
schlecht gelaunt ist, und Thomas Haas gilt
als schwer vermittelbar, weil er chronisch
gut gelaunt ist. Was ihre Beliebtheit bed e r
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trifft, rangieren beide, so eine Studie des
Kölner Instituts Sport + Markt, auf dem
Niveau der Schwimmerin Sandra Völker.
Wie groß die Sehnsucht der Zuschauer
nach Stars und nach Show noch immer ist,
wird dieser Tage offenbar: Nichts erregt
die Republik mehr als die Liaison zwischen
der aktuellen Nummer eins der Männer
und der ehemaligen Nummer eins im Frauentennis. Als Steffi Graf neulich beim
Hallenturnier in Stuttgart während eines
Matches von Andre Agassi in der Loge
Platz nahm, geriet das Publikum in Wallung wie bei keinem Ballwechsel.
Tags zuvor war die Blonde gar in Tennisklamotten auf dem verwaisten Center
Court erschienen und hatte mit Agassi ein
paar leichte Bälle gespielt. Die spontane
Übungseinheit, um die der Turnierdirektor
Markus Günthardt die Superpromis inständig gebeten hatte, geriet zum Höhepunkt der gesamten Turnierwoche. Denn
das deutsch-amerikanische Mixed, weiß
Boris Becker, „ist das Heißeste, was es derzeit auf diesem Planeten gibt“.
Doch auch das Zusammenspiel von
Herzbube mit Herzdame ändert nichts daran, dass Herrentennis bei Fernsehsendern
längst als Quotenkiller gilt. Verfolgten 1996
noch 5,27 Millionen Deutsche das Endspiel
in Stuttgart, schauten in diesem Herbst nur
noch 1,4 Millionen hin. Beim WM-Finale
zwischen den Spaniern Carlos Moya und
Alex Corretja guckten voriges Jahr gar nur
500 000 Fans zu. Kurz vor dem Matchball
blendete das ZDF aus. Jan Hendrikx, Geschäftsführer des Sponsors Eurocard,
meint: „Tennis ist nicht mehr sexy.“
Als Handelsware rangiert das Spiel für
die TV-Verantwortlichen folglich irgendwo
zwischen „Tigerenten Club“ und „Fliege“.
Zwar haben sich die Öffentlich-Rechtlichen
erst Ende September den Daviscup für drei
Jahre gesichert. Doch den Zeitpunkt des
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Sport
DPA
AP
traliers Mark Philippoussis.
ersten Aufschlags, das
Er wollte 100 000 Dollar im
schreibt der Kontrakt fest,
voraus – schließlich sei er
bestimmen allein die TV-MaWeltranglisten-Neunter.
cher. „Wir denken da an elf
Jewgenij Kafelnikow korUhr“, erläutert Sportkoorrigierte, nachdem er zu
dinator Peter Jensen emoJahresbeginn die Australian
tionslos. Die Tennismatches
Open gewonnen hatte, seine
sollen nicht mal in die Nähe
Forderung für ein Turnier in
der Prime Time geraten.
Prag um 100 000 auf 175 000
„Wenn das VorabendproDollar nach oben.
gramm beginnt“, sagt der
Die Veranstalter in TscheNDR-Mann, „müssen die
chien, ihren Sponsoren geSpiele durch sein.“
genüber zu einem namhafDie Quoten-Schwindsucht
ten Teilnehmerfeld verschreckt auch die Sponsoren
pflichtet, schlugen ein. Doch
ab. Eurocard, das seit 1991 als
als sich Kafelnikow in der
Patron des Hallenturniers in
ersten Runde widerstandsStuttgart jährlich 5,5 Millionen Mark beisteuert, steht Traumpaar Agassi, Graf (in Stuttgart): „Das Heißeste auf dem Planeten“ los aus dem Wettbewerb verabschiedete, verweigerte der
vor dem Absprung. „Selbst
bei der Übertragung lateinamerikanischer meisten Vorschläge sind so krude wie hilf- Turnierdirektor den Scheck: „Wenn man
Tänze“, nörgelt Geschäftsführer Hendrikx, los: mal sollen die Bälle schwerer gemacht eine Putzfrau anheuert, dann muss sie das
„ist die Quote besser.“
werden, mal der zweite Aufschlag abge- Zimmer säubern – sonst gibt es kein Geld.“
Der lustlose Russe hat seinen Ruf als
Vorvergangene Woche zog Opel Konse- schafft oder die Zählweise vereinfacht.
quenzen. Der Autokonzern, der in den
Beschlossen ist die Reform der Welt- Raffke weg, seitdem er Anfang dieses Jahletzten 15 Jahren wie wenige Firmen in rangliste: Vom 1. Januar 2000 an starten alle res sechsmal in Folge auf wundersame WeiTennis investiert hat, kündigte seinen Aus- Profis mit null Punkten – statt mit einem se im Auftaktspiel scheiterte. Der Basler
stieg an. Sämtliche Verträge, darunter auch Stand, der sich aus den Resultaten der ver- Turnierleiter Roger Brennwald warnt vor
mit dem deutschen Daviscup-Team, wer- gangenen zwölf Monate errechnet. Die Än- Kafelnikow wie die Polizei vor Falschspieden nicht mehr verlängert. „Wir konzen- derung dürfte jedoch nur kosmetische Wir- lern: „Er ist das Musterbeispiel für einen,
trieren uns“, so Opel-Sprecher Dieter kung haben, solange die Veranstalter den dem man kein Antrittsgeld zahlen sollte.“
Dabei passen die Ansprüche der AkteuMeinhold, „noch mehr auf Fußball.“
Spielern die Vorhände küssen – etwa inTurniere, die wegen des Booms kreiert dem sie „appearance money“ zahlen, eine re zum System – bei den Turnieren werden
die Top-Profis wie Staatsgäste umschwirrt.
wurden, finden jetzt ihr natürliches Ende. garantierte Gage fürs bloße Erscheinen.
So steht der 1990 gegründete Grand Slam
„Die Herrschaften“, sagt der St. Pölte- Zum Verwöhnprogramm gehört in Monaco
Cup seit kurzem ohne Sponsoren da – Un- ner Turnierdirektor Hans Holzer, „stecken die Offerte, sich steuergünstig im Fürstenternehmen wie Coca-Cola oder Beck’s ha- in der Regel zwischen 100 000 bis 250 000 tum niederzulassen; in Palma de Mallorca
ben das Interesse verloren. Die Daseins- Dollar ein.“ Der Weltranglisten-Erste darf wurde bei der Spielerparty eine Harley
berechtigung der einwöchigen Veranstal- noch einmal mit einem Zuschlag von 80000 Davidson verlost; und in Halle am Teutotung bestand in dem horrenden Preisgeld, Dollar rechnen. Selbst bei den höher do- burger Wald stehen eine Woche lang Tag
das weltweit unerreicht blieb: 6,7 Millionen tierten Super-9-Turnieren, bei denen der und Nacht 20 Hostessen parat, „hübsche
Dollar. Nächstes Jahr soll das Ereignis mit Weltverband Antrittsgagen verbietet, kas- Mädels, die die Spieler ein bisschen verder Weltmeisterschaft verschmolzen wer- sieren die Spieler kräftig ab. Das Startgeld, wöhnen und“, wie Turniersprecher Frank
den – die findet dann allerdings aus markt- berichtet ein Branchenkenner, wird dann Hofen es formuliert, „für das Wohlfühlwirtschaftlichen Gründen nicht mehr in mit einem „Promotion-Vertrag“ verschlei- klima sorgen“. Spiel, Satz und RoomHannover statt, sondern in Lissabon.
ert: Der Profi stellt sich beispielsweise für Service.
Neidisch schauen die Vermarkter auf das
Fachkundige Köpfe streiten über Wege Fotoaufnahmen zur Verfügung.
aus der Baisse. Während Ion Tiriac Tennis
Zu selten regt sich Widerstand gegen die Damentennis, das bis vor drei Jahren in eiimmer noch für die fernsehtauglichste Abzockerei. So verzichtete Niki Pilic, der ner schweren Rezession steckte. Dann erSportart hält, fordert RTL-Chefredakteur Chef des Sandplatzturniers in München, schien eine neue Spielerinnen-Generation
Hans Mahr „Regeländerungen“. Doch die dieses Jahr auf ein Engagement des Aus- auf der Bühne – und die Manager der Turnierserie erklärten ihnen, es sei gut, dem
17
Publikum etwas von sich preiszugeben.
16,8 % Marktanteil
Seither sind die Rollen geschäftsför15,5 %
dernd verteilt: Die Weltranglisten-Erste
16
Weniger am Netz
Martina Hingis gibt das Biest, die Russin
Herrentennis
Anna Kurnikowa die Kindfrau, die Fran15
bei ARD und ZDF
zösin Mary Pierce die Diva. Und, HöheMarktanteil in Prozent,
punkt der Show, die Williams-Schwestern
14
Zuschauer in Millionen,
Venus und Serena geben die Ghetto-Kids.
Jahresdurchschnitt
Die Top-Akteure im Herrentennis ha13 Zuschauer
ben kein Image; sie haben nicht mal Spitz1,2
0,8
0,7
0,6
1,2
namen, die Respekt bekunden. Borg war
12
„Ice Borg“. McEnroe war „Big Mac“. Und
11,8 %
Becker war „Der Rote Baron“.
10,5
%
11
10,3 %
Kafelnikow dagegen wird zuweilen „Kalaschnikow“ genannt. Er hat sich den unQuelle: ARD, ZDF
bis 31.
10
Okt.
galanten Spitznamen verbeten.
Profi Kafelnikow
1995
1996
1997
d e r
1998
s p i e g e l
1999
4 7 / 1 9 9 9
Maik Grossekathöfer, Michael Wulzinger
245
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Werbeseite
Wissenschaft•Technik
Prisma
ELEKTRONIK
Rock aus dem Füller
E
MPI FÜR ASTRONOMIE
r sieht aus wie ein fetter
Füllhalter, passt in jede
Jackentasche und macht Musik:
Letzte Woche stellte die Firma
Sony den „Vaio Music Clip“
vor. In dem rund 12 Zentimeter
langen und zwei Zentimeter
dicken Stab verbirgt sich ein
komplettes Abspielgerät für Musikdateien aus dem Internet. Gefüttert wird das Gerät per Kabel
am heimischen PC, wobei eine
Sicherheitssoftware darüber
wacht, dass der Benutzer urheberrechtlich geschützte Titel auch
brav bezahlt. Bei vollem Speicher (64 Megabyte) garantiert der
tönende Stift bis zu zwei Stunden
Dauerberieselung. Ein Klangregler mit drei Voreinstellungen für
Rock, Pop und Jazz soll das Hörvergnügen steigern. Der Music
Clip kommt nächstes Jahre zum
Preis von etwa 300 Dollar auf
den amerikanischen Markt.
„Vaio Music Clip“
„Iso“-Aufnahme der Milchstraße (weiß), Sternenstaub (rot)
ASTRONOMIE
Staub der Sterne
H
eidelberger Astronomen haben
im Universum „unerwartet
große Staubmassen“ entdeckt –
winzige Partikel aus Gold, Eisen,
Silizium und anderen schweren
Elementen. Gestützt wird die These vom „dusty universe“ durch
sensationelle Bilder, die der Satellit
„Iso“ lieferte. Im langwelligen Infrarotbereich erscheint der –
ansonsten unsichtbare – Sternenstaub rötlich. Die Dichte der Materiekörnchen, Reste zerborstener
Sonnen, sei „bis zu zehnfach
höher“ als bislang angenommen, so
der Astronom Dietrich Lemke:
„Allein der Staub der Milchstraße
ergäbe zusammengepresst einen
Würfel mit einer Kantenlänge von
einer Milliarde Kilometern.“
ARCHÄOLOGIE
Feuersteinbergwerk
Rhe
Ötzi – Verkäufer
von Flintstein?
Feuersteinhandel vor 5000 Jahren
Göttingen
Iserlohn
Fundstätten mit
Baiersdorfer Plattenfeuerstein
Monti-Lessini-Feuerstein
in
Pilsen
Baiersdorf
E
iner neuen Hypothese zufolge starb der Gletscherläufer Ötzi, den Experten bisher für einen
Jäger oder Hirten hielten, als Außendienstmitarbeiter
eines Flintsteinwerks. „Vor 5200 Jahren existierte in
Europa ein weit verzweigter Handel mit Feuerstein“,
sagt der Geologe Alexander Binsteiner vom Landesamt für Denkmalpflege in Landshut. Neue Funde zeigen, dass der prähistorische Handel von zwei Bergwerken dominiert wurde, die hochwertigen Rohstoff
lieferten – den Flint-Gruben in den Lessinischen Alpen (beim Gardasee) und Baiersdorf (in Bayern). Von
Don
Hornstaad
100 km
au
Augsburg
Landshut
Bodensee
Rosenheim
Tesserriegel
Fundort von Ötzi
A
l
p
e
n
Monti Lessini
Gardasee
CORBIS SYGMA
dort reisten Händler über weite Strecken bis nach Niedersachsen, Böhmen und Österreich, um das begehrte Material zu verkaufen. Binsteiner vermutet, dass auch Ötzi – er hatte mehrere Feuerstein-Utensilien vom Gardasee im Gepäck – als Mitglied
einer Handelskarawane über den Alpenhauptkamm zog. „Was
soll ein Viehtreiber oder ein Jäger in einer 3000 Meter hohen Gesteinswüste?“, fragt der Forscher. „Vieles spricht dafür, dass der
Mann bei einem Verkaufstrip nach Bayern verunglückte.“
Steinzeit-Mumie Ötzi
d e r
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249
Prisma
Wissenschaft•Technik
U M W E LT
POLARFORSCHUNG
Ökoleder dank
Rhabarber
Wesen im Frost
D
er Wostoksee, 4000 Meter unter dem antarktischen Eis liegend, stockdunkel und
minus vier Grad kalt, scheint Leben zu enthalten. Trotz der extrem unwirtlichen
Bedingungen in dem 12 000 Quadratkilometer großen Untergrundgewässer haben
US-Forscher dort jetzt robuste Kleinstlebewesen nachgewiesen. „Bei einer Tiefe von
3590 Metern stießen
wir auf MikroorganisStich durchs Eis
men“, erklärt David
Karl, Ozeanograf an
Die Erforschung des
der Universität von
Wostoksees
Hawaii. Aus Angst vor
einer Verunreinigung
des Sees trieben die
0m
ANTARKTIS
Experten ihren Bohrer nicht bis in das
Wostoksee
Wasser selbst, sonGeplanter Jupitermond-Roboter
„Cryobot“ (Nasa-Zeichnung)
dern nur in eine
Schicht knapp ober1000 km
halb der Flüssigkeitsblase. In diesem Abschnitt, er besteht aus wiedergefrorenem
Seewasser, fanden sich die abgestorbenen
BOHRLOCH
Mikroben. Die spektakuläre Entdeckung
hat auch die Astronomen inspiriert. Unter
EISDECKE
Tiefe
dem Frostpanzer des Jupitermondes Euro3600m
pa wogt ein ähnlich bizarres Gewässer.
GEFRORENES
Derzeit basteln Nasa-Ingenieure an einem
SEEWASSER
Roboter („Cryobot“), der den fernen
3800m
Mondozean untersuchen soll. Voll steriliWOSTOKSEE
siert soll die Stahldrohne, in einem Bohrgestänge sitzend, dereinst in die Tiefe abFELSUNTERGRUND
tauchen. Ziel der geplanten Mission ist die
4300m
Suche nach außerirdischem Leben.
M
S P L /AG . F O C U S
it Rhabarberpflanzen lassen sich
Tierhäute weich gerben. Biochemiker von der Hochschule in Bernburg
(Sachsen-Anhalt) haben aus den Wurzeln des Knöterichgewächses ein Extrakt
gewonnen, das Leder „in hoher Qualität“ färbt und gerbt. Das Öko-Verfahren soll Kürschnern als Alternative zur
Chromsalz-Gerbung dienen. In Deutschland entstehen bei dieser Methode bisher 175 000 Tonnen an umweltschädlichen Abfällen. Auf den Testfeldern des
Instituts wachsen Rhabarbersorten mit
zehn Kilo schweren Wurzeln, aus denen
die hellorange Tinktur gewonnen wird.
Erste Kollektionen von Schuhen und Taschen sind bereits auf dem Markt. Auch
die Firma Audi zeigt Interesse an den
sauren Stielen. Sie prüft derzeit die Eignung von mit Rhabarber behandeltem
Leder für Autositze und Armaturen.
METEOROLOGIE
Spione über den Wolken
D
iese Woche präsentiert die Raumfahrtbehörde Esa eine neue Generation von Wetterspähern. Jeder der insgesamt drei geplanten „MSG-Satelliten“
soll 20-mal mehr Informationen liefern
als sein Vorläufer. Hauptinstrument ist
ein verbessertes Bildaufnahmegerät
(„Radiometer“), das laut Esa „einzigartige Möglichkeiten“ zur Erfassung von
Wolkendecken und Nebelfeldern sowie
der „Messung der Erdoberflächen- und
Wolkengipfeltemperaturen“ biete. Statt
SEUCHEN
Allianz gegen den Aussatz
MSG-Satellit (Fotomontage der Esa)
bisher alle 30 Minuten liefern die Spione
alle 15 Minuten ein Wetterbild. Auch die
„Vorhersage und Warnung vor schweren
Stürmen und anderen Phänomenen mit
hohem Gefahrenpotenzial“ würden entscheidend verbessert. Der Start des ersten MSG-Satelliten soll noch im Jahr
2000 erfolgen.
250
ine Anti-Lepra-Allianz, letzte
Woche in Abidjan (Elfenbeinküste)
gegründet, hat dem Aussatz den
Kampf angesagt. Rund 2,5 Millionen
Menschen weltweit sind von der Seuche befallen, die zu schweren Verstümmelungen führt. Die neue Initiative,
angeführt von der Weltgesundheitsorganisation WHO, will die Geißel mit
Hilfe der „Multidrug Therapy“
zurückdrängen, einer sechs- bis zwölfmonatigen Behandlung mit drei Präparaten, die den Erreger töten. In den
letzten 15 Jahren wurden so bereits
zehn Millionen Kranke geheilt und die
Lepra in 98 Ländern eliminiert. Nun
soll auch der Krankenstand im Rest
der Welt – vor allem in Ländern Zentralafrikas, aber auch in Indien, Indonesien oder Brasilien – drastisch gesenkt werden. Die nötigen Medikamente stellt der Schweizer Pharmakonzern Novartis kostenlos zur Verfügung.
Lepra-Kranke in Ägypten
d e r
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A. TAUBERT
EUMETSAT
E
Werbeseite
Werbeseite
Wissenschaft
Umstrittene Rennbahn
R. JANKE / ARGUS
Das Deutsche Elektronen-Synchrotron
(Desy) wurde 1959 als Großforschungszentrum in Hamburg gegründet. In dem
6,3 Kilometer langen Beschleunigerring
Hera, der durch einen Tunnel unter dem
Volksparkstadion führt, lassen die Wissenschaftler Protonen und Elektronen
aufeinander prallen, um so die Struktur
der Materie zu untersuchen. 3400 Wis- Großforschungszentrum Desy
senschaftler, darunter rund 1200 Teilchenphysiker, forschen an dem Zentrum. Jetzt planen sie eine neue Teilchenrennbahn:
den 33 Kilometer langen Linearbeschleuniger Tesla. In einem Beitrag für den SPIEGEL brachte der Elementarteilchenphysiker Hans Graßmann, 39, der an der Suche
nach dem Top-Quark beteiligt war, scharfe Kritik gegen das Desy vor: Seit Jahren werde dort nur noch irrelevante Physik betrieben. Andere Beschleuniger wie das Cern bei
Genf oder das Fermilab bei Chicago seien dem Desy weit überlegen. „Sperrt das Desy
zu!“, forderte Graßmann, der an der Universität im italienischen Udine lehrt. Harald
Fritzsch, 56, Professor für Theoretische Physik an der Ludwig-Maximilians-Universität
in München, hält Graßmanns Forderung für Unsinn. Er arbeitet seit Anfang der siebziger Jahre daran, die Wechselwirkung der Quarks zu verstehen, und hofft, seine
Theorien mit Hilfe des Desy überprüfen zu können. Graßmann wie Fritzsch haben in
Büchern versucht, ihr Fach einem breiten Publikum zugänglich zu machen.
Teilchendetektor am Desy: „Merkwürdige und
SPIEGEL-STREITGESPRÄCH
Am Ende der Aufklärung?
Die Teilchenforscher Harald Fritzsch und
Hans Graßmann über den Nutzen des Desy und die Zukunft der Physik
252
A. PENTOS
SPIEGEL: 250 Millionen Mark zahlt der Steu-
A. PENTOS
SPIEGEL: Herr Professor Fritzsch, hier sitzt
der Mann, der gefordert hat: „Sperrt das
Desy zu!“ Würden Sie ihn dafür am liebsten auf den Mond schießen?
Fritzsch: Gut formuliert. Es war ein Biologe, der mich auf den Artikel hinwies. „Was
ist das denn für ein Unsinn?“, hat er mich
gefragt. Daraufhin hätte ich Herrn Graßmann in der Tat gern auf den Mond geschossen. Ich habe mich aber auch über
den SPIEGEL geärgert. Wenn so ein Artikel schon erscheint, dann hätte ich mir wenigstens ein relativierendes Wort dazu gewünscht. Und eine andere Überschrift. Die
Parole „Sperrt das Desy zu!“ war doch sicher nicht Herrn Graßmanns Erfindung.
Graßmann: Aber natürlich war sie das.
Fritzsch: Dann dürfen Sie sich über Proteste allerdings nicht wundern.
SPIEGEL: Herr Graßmann, Herr Fritzsch ist
nicht der Einzige, der sich über Ihren Artikel geärgert hat. Wir haben aus vielen
physikalischen Instituten empörte Zuschriften bekommen. Haben Sie auch Zustimmung geerntet?
Graßmann: Durchaus, wenn auch nicht aus
der Teilchenphysik. Bezeichnend bei den
oft extrem heftigen Reaktionen meiner
Kollegen fand ich, dass es ihnen gar nicht
so sehr um den Inhalt zu gehen scheint. Die
Teilchenphysiker Graßmann, Fritzsch
„Forschung ist immer Spekulation“
Empörung galt vor allem der Tabuverletzung: Man wendet sich als Elementarteilchenphysiker nicht an die Öffentlichkeit.
Fritzsch: Für mich ist das Desy immer ein
Vorzeigelabor gewesen. Es ist das Flaggschiff der deutschen Grundlagenforschung.
Ich kann überhaupt nicht nachvollziehen,
warum Sie sich so dagegen wenden.
Graßmann: Nehmen wir einmal an, dass ich
Recht habe und das Desy macht tatsächlich keine interessante Physik, warum
wäre es dann so unerhört, das Desy zu
schließen?
Fritzsch: Es macht aber interessante Physik.
Graßmann: Da bin ich eben anderer Meinung. Das muss doch erlaubt sein.
d e r
s p i e g e l
4 7 / 1 9 9 9
erzahler alljährlich für das Desy.Was rechtfertigt diesen Aufwand?
Fritzsch: Mich hat vor etwa 20 Jahren Björn
Wiik vom Desy davon überzeugt, dass die
damals geplante Hera-Maschine eine gute
Idee ist. Warum? Wiik erklärte: „Um etwas
Neues zu finden, muss man etwas Neues
anfangen.“ Hera war in der Tat etwas Neues: Zum ersten Mal wurden Atomkernteilchen, also Protonen, frontal fast mit Lichtgeschwindigkeit gegen Elektronen geschossen. Das halte ich in der Tat für relevant: Es erlaubt uns herauszufinden, ob
die Quarks wirklich elementar sind oder
ob sie vielleicht aufbrechen, wie viele es
damals vermuteten. Hera ist eine gute Maschine, um diese Vermutung zu testen.
Graßmann: Das geht mit den Maschinen am
Cern oder am Fermilab auch, zum Teil sogar besser. Seit Jahren tut das Desy nichts
anderes, als zu verkünden: „Wir haben
neue Physik entdeckt“ – nur um dann
gleich wieder einzuschränken: „Wir haben
doch keine neue Physik entdeckt.“ Dafür
muss man doch keine 250 Millionen Mark
im Jahr ausgeben.
Fritzsch: Aber ich bitte Sie, was soll denn
das Desy anderes sagen? Die beobachten
dort einige Ereignisse, die sehr merkwür-
Graßmann: Aber natürlich. Ich
P. GINTER / BILDERBERG
habe aus meiner Bibliothek
ein hoch interessantes Buch
mitgebracht, das mich in meiner Jugend sehr beeindruckt
hat. (Er legt „Quarks“ von
Harald Fritzsch auf den
Tisch.) Dieses Buch handelt
davon, wie die Welt aus Teilchen aufgebaut ist. Vermutlich
gibt es davon neuere Ausgaben; mein Exemplar ist 18 Jahre alt.
Fritzsch: In diesem Jahr ist gerade eine neue Auflage erschienen.
Graßmann: Nun, ich habe es so
lieb gewonnen, dass ich es
noch in dieser Fassung in meiner Bibliothek habe. Wenn Sie
sich nun dieses Buch anschauen, finden Sie, dass darin eine
Menge Sachen fehlen, die man
heute unbedingt noch ergänzen müsste. Zum Beispiel ist in
diesem Buch nicht die Rede
von W- und Z-Teilchen – die
hatte man damals noch nicht
entdeckt. Auch das Top-Quark taucht nicht
darin auf.
Fritzsch: In der neuen Auflage ist das alles
drin. Ich habe es jährlich aktualisiert.
Graßmann: Genau. Dass Neutrinos eine
Masse haben, müsste zum Beispiel auch
noch rein. Das alles sind Durchbrüche, die
in den letzten 18 Jahren geschehen sind.
Aber nun zeigen Sie mir auch nur einen
einzigen Satz, den Sie geändert haben aufgrund der Physik, die am Desy passiert ist.
Fritzsch: Mit Hilfe von Hera war es möglich,
bei der Untersuchung der Protonen-Feinstruktur in andere Energiebereiche vorzustoßen. So konnten wir feststellen, ob die
Theorie, die wir schon seit vielen Jahren
hatten, stimmt. Ich ging in meinem Buch
davon aus. Aber es war unklar. Mittlerweile sind die Unklarheiten zum großen Teil beseitigt. Das ist ein Verdienst des Desy.
SPIEGEL: Wie viel Geld ist es denn wert,
beharrlich zu bestätigen, was die Theoreti-
noch unerklärte Ereignisse“
dig und noch unerklärt sind. Bisher aber ist
die Intensität des Teilchenstrahls zu gering,
um diese Phänomene richtig zu verstehen.
Deshalb muss man sie jetzt verstärken und
dann sehen, was herauskommt. Das ist ein
langwieriger Prozess. So ist das in der Forschung, und das sollten Sie auch wissen.
Graßmann: Sie verteidigen eine Position, die
das Desy inzwischen schon klammheimlich
geräumt hat. Diese angeblich so wichtigen
Phänome gibt es doch überhaupt nicht.
Fritzsch: Ich habe die Daten selbst angeschaut. Ich habe sie selbst studiert.
Graßmann: Die sind bedeutungslos, sie sagen überhaupt nichts.
Fritzsch: Sie zeigen in eine gewisse Richtung, die interessant ist.
Graßmann: Unsinn.
Fritzsch: Es könnte sein, dass schon in einem Jahr gerade am Desy die ersten Hinweise für einen Zusammenbruch unserer
heutigen Vorstellung von der Teilchenwelt
gefunden werden.
Graßmann: Das ist reine Spekulation. Aus
den Daten jedenfalls folgt das nicht.
Fritzsch: Forschung ist immer Spekulation.
Wir gehen in unbekannte Regionen. Und
das Desy macht das auch.
Graßmann: Die Physik hat die Aufgabe, zur
Weiterentwicklung unseres Weltbildes beizutragen. Und das Desy tut das nicht.
Fritzsch: Die Maschine existiert, und wir
müssen sie für die Physik nutzen. Es gibt,
wie gesagt, Hinweise darauf, dass da etwas
Merkwürdiges passiert. Und das müssen wir
untersuchen. Mit Hera können wir die Details der Quark-Wechselwirkung studieren.
Ich selbst gehöre zu denen, die diese Theorie Anfang der siebziger Jahre aufgestellt
haben, und habe ein ganz natürliches Interesse, dass diese Physik weitergeführt wird.
Graßmann: Das Desy jedenfalls hat auf mei-
nen Artikel nur mit einem Feuerwerk von
Scheinargumenten reagiert.
Fritzsch: Sie sprechen immer von „dem
Desy“. Aber das Desy ist keine Einheit. Es
besteht aus Physikern, nicht nur deutschen
übrigens. Da arbeiten Italiener, Amerikaner, Holländer, Engländer. Sie sind es, die
sich über Ihren Artikel ärgern, nicht „das
Desy“.
Graßmann: Das heißt: Viele Forscher können nicht irren?
Fritzsch: Schon die Tatsache, dass so viele
Physiker aus dem Ausland zum Desy gehen
und dort experimentieren, zeigt, dass sie
das von Interesse finden.
Graßmann: Ich bestreite ja gar nicht: Die
Elementarteilchenphysik ist eine extrem
wichtige und interessante Sache. Aber das
Desy macht eben leider irrelevante Physik.
SPIEGEL: Machen andere Teilchenbeschleuniger denn relevantere Physik?
Kerne, Teile, Teilchen
Mit bloßem Auge lässt
sich nicht erkennen,
dass sich die Materie
aus Atomen
zusammensetzt.
Die Struktur der Materie
Der Durchmesser eines Atoms beträgt
knapp ein millionstel Millimeter. In seinem Innern befindet sich der Atomkern,
der von Elektronen umschwirrt wird.
Der Atomkern wiederum besteht
aus Protonen und Neutronen, die
ihrerseits aus jeweils drei Quarks
zusammengesetzt sind.
Diese wechselwirken durch den
Austausch von Gluonen.
Proton
Atomkern
Neutron
Elektronen
Gluon
Quarks
10–3m
d e r
s p i e g e l
10–10m
4 7 / 1 9 9 9
10 –15m
253
ker in ihren Büchern ohnehin schon schreiben?
Fritzsch: Eine Theorie aufzustellen und sie experimentell zu testen, sind zwei
verschiedene Dinge. Auch
heute gibt es Phänomene in
der Teilchenwelt, die völlig
unverstanden sind. Die extrem hohe Masse des TopQuarks zum Beispiel hat
mich völlig verblüfft. Und
auch Herr Graßmann wird
kaum wissen, warum das
Ding so schwer ist. Ich hätte gewettet, dass es viel
leichter ist, und ich hatte
auch Theorien dafür. Man
muss seine Theorien eben
immer wieder aufs Neue
testen. Irgendwann brechen
sie zusammen, die Frage ist
nur, wo und wann.
SPIEGEL: Nach welchen Beschleunigerring
Maßstäben wird entschieden, ob ein neuer, teurer Beschleuniger
nun interessante Ergebnisse zu liefern verspricht oder nicht?
Fritzsch: Natürlich hat man das auch bei
Hera im Voraus überlegt. Es galt damals als
durchaus möglich, dass die Quarks genau in
dem Energiebereich aufbrechen, in den
Hera vordringt. Dann hätte man eine völlig
neue Substruktur gefunden, was natürlich
eine sehr wichtige Entdeckung gewesen
wäre. Man findet aber bis heute nichts. Ich
will das einmal vergleichen mit einem Kriminalfall, den der Detektiv Sherlock
Holmes löste: Der entscheidende Hinweis
war die Tatsache, dass ein Hund in der
Nacht nicht bellte. Hier ist es ähnlich: Wenn
man etwas nicht findet, kann das genauso
wichtig sein, wie wenn man etwas findet.
Nullexperimente sind natürlich nicht sehr
beliebt bei den Experimentalphysikern.
Aber sie sind manchmal sogar wichtiger als
die anderen.
Graßmann: Es mag ja richtig sein, dass Hera
nicht von Anfang an sinnlos war. Aber
nachdem man jetzt mehrere Jahre lang Daten genommen hat, ist klar: Es gibt für Hera
keine Zukunft mehr. Ich beklage gar nicht,
dass man da etwas gemacht hat und dann
gescheitert ist. Das konnte man damals
nicht wissen. Schlimm ist, dass die Leute
jetzt sagen: Wir haben diesen Beschleuniger nun mal, und da lassen wir ihn eben
weiterlaufen – einfach deshalb, weil wir
ihn haben. Es gibt am Desy sicher Leute,
die neue, kluge Ideen vorbringen könnten.
Stattdessen geht das Desy immerzu in dieselbe Richtung, wie ein großer Öltanker,
der einmal in Fahrt ist. Ich bin genau deswegen gegen Desy, weil es von Schaden
für die deutsche Teilchenphysik ist.
Fritzsch: Hera jetzt zuzumachen, hielte ich
für glatten Wahnsinn. Das wäre ein Missbrauch von Steuergeldern. Im übrigen können Sie nicht sagen, das Desy habe keine
254
d e r
s p i e g e l
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Wissenschaft
in einem Tunnel am Cern bei Genf: „Wir brauchen mehr Ideen“
Visionen: Wie Sie wissen, ist jetzt der neue
Linearbeschleuniger Tesla geplant.
SPIEGEL: Muss denn der Mensch in immer
feineren Details wissen, wie es im Innern
des Protons aussieht?
Fritzsch: Es könnte sehr wohl sein, dass
die Quarks nicht die letzte Antwort sind,
dass also noch eine weitere Substruktur
existiert. Man kann natürlich die Frage
stellen: Ist das letztlich so wichtig? Damit
stellt man dann aber die Grundlagenforschung überhaupt in Frage. Man sollte
dabei nicht vergessen: Es gibt eine Menge
Spin-offs. Wenn wir gute Grundlagenforschung machen, produzieren wir auch
gute Wissenschaftler und gute Ingenieure.
Das Desy hat nicht umsonst die besten
Elektroingenieure, die wir in Deutschland
haben.
SPIEGEL: Björn Wiik, den Sie vorhin zitierten, hat es als „Fluch der Teilchenphysik“
bezeichnet, dass die Maschinen, mit denen
man etwas anschauen will, umso größer
werden, je kleiner das ist, was man sich
anschaut …
Fritzsch: … eine einfache Konsequenz der
Quantentheorie.
SPIEGEL: Wann kommt dieser Prozess zum
Stillstand?
Fritzsch: Irgendwann wird man keine Be-
schleuniger mehr bauen können. Dann wird
man nach neuen Wegen suchen müssen.
Aber man sollte einen falschen Eindruck
vermeiden: Die Beschleuniger werden immer größer, die Kosten aber nicht zwangsläufig höher. Ihr Anteil am Forschungsbudget ist gleich geblieben oder sogar zurückgegangen. Wir sollten auch den Maßstab
nicht aus dem Auge verlieren: Um das Cern,
das Desy und die anderen Zentren in Europa zu bezahlen, muss jeder Europäer pro
Jahr drei Viertel des Preises einer Maß Bier
bezahlen – wobei ich die bayerischen Bierpreise zu Grunde lege, nicht die Hamburger.
SPIEGEL: Ein neuer Linearbeschleuniger in
Hamburg würde jedenfalls Milliarden kosten. Wird auch er vor allem Nullexperimente liefern?
Graßmann: Das hängt letzten Endes von
den Menschen ab, die das Instrument be-
treiben. Wenn die Physiker es wirklich nutzen, um neue Ideen und Verfahren zu entwickeln, dann wird das sicher hoch interessant. Ein Labor wie das Desy muss viel
mehr Ideen produzieren, Vorstellungen,
Denkweisen. Es muss zum Geistesleben
der Gesellschaft, die es trägt, etwas beitragen.
Fritzsch: Aber das tut es doch. In Hamburg
waren 14 000 Leute beim Tag der offenen
Tür. Desy hat mal einen Vortrag von mir im
Rahmen einer Tagung organisiert: 2500
Zuhörer im Kongresszentrum. Die Hamburger sind stolz auf das Desy. Die Eigenheimbesitzer dort waren stolz, dass die Maschine zwanzig oder dreißig Meter unter
ihrem Grundstück hindurchgeht.
Graßmann: Das belegt nicht die wissenschaftliche Qualität. Da wird die schwarzrot-goldene Flagge missbraucht, um Missstände zu kaschieren.
SPIEGEL: Was dürfen wir uns denn vorstellen unter „neuen Denkweisen“? Wie sollte denn eine der Öffentlichkeit zugewandtere, lebendigere Physik aussehen?
Graßmann: Eine lebendigere Physik hat
man dann, wenn man es schafft, die Physik in unserer Kultur zu verankern. Wir
müssen über Physik sprechen, und zwar
kritisch. Eine Kommunikation, die nur Bewunderung und Lob erlaubt, ist keine. Meine Kritik am Desy ist nur ein Beispiel. Ich
will aufmerksam machen auf den schleichenden Rückzug der Physik aus unserer
Gesellschaft und damit einhergehend den
Rückzug von Verstand und Vernunft. Daran gemessen sind die 250 Millionen, die
man am Desy ausgibt, eigentlich irrelevant.
Wir sind an einem Punkt, wo wir uns fragen müssen, ob wir das Ende der Aufklärung miterleben.
Fritzsch: Mir scheint das, ehrlich gesagt,
sehr verquast – obwohl ich das Anliegen
durchaus teile. Auch mich beunruhigt der
Abstand, der sich mittlerweile zwischen
Naturwissenschaft und allgemeiner Bevölkerung auftut. Aber viele Forscher in
Deutschland widmen sich doch inzwischen
der Popularisierung von Wissenschaft, auch
mit gutem Erfolg. Der Abstand ist nicht
Wissenschaft
A. PENTOS
P. GINTER / BILDERBERG
größer, er ist vielleicht sogar
SPIEGEL: Was ist denn Ihrer
etwas kleiner geworden.
Auffassung nach die Physik?
SPIEGEL: In den letzten neun
Graßmann: Die Physik hat in
Jahren hat sich die Zahl der
der Geschichte überall da
Studienanfänger im Fach
eine entscheidende Rolle
Physik halbiert …
gespielt, wo wichtige Weichenstellungen für unsere
Fritzsch: Gott sei Dank
Identität gemacht worden
nimmt sie inzwischen aber
sind. Die europäische Aufwieder langsam zu. Trotzklärung zum Beispiel ist
dem: Es studieren zu wenig
nicht denkbar ohne Physik.
junge Leute Informatik,
Die Physik muss Fixpunkte
Physik oder Ingenieurwisliefern, damit sich die Phisenschaften. Dagegen muss
losophie, die Politik, die Reman kämpfen. Aber das ist
ligion und die Kunst entschwierig. Für viele ist es
wickeln können. Ohne die
nicht mehr schick, sich mit
Koordinaten, die die Physik
den schwierigen Fragen der
liefert, kommen Sie mit der
Naturwissenschaften zu bePhilosophie oder der Politik
schäftigen. Die Physik war
nicht weiter. Und deshalb ist
die Wissenschaft unseres
es so schlimm, dass die Phyausgehenden Jahrhunderts.
sik auf dem Rückzug ist, in
Sie hat die Gesellschaft
bedrohlichem Ausmaß.
wie keine andere verändert.
Es fing an mit der QuantenFritzsch: Das ist aber eine
theorie, ging weiter zur Detektor-Reparatur am Desy: „Die Vernunft ist auf dem Rückzug“
sehr romantische VorstelKernphysik, zur Atombomlung von Physik. Ich glaube,
be natürlich und den Kernreaktoren, bis sik sei nichts als eine Ansammlung von Sie messen ihr da eine zu große Bedeutung
hin zur Festkörperphysik und den Chips. Formeln, sie bestehe aus Kondensatoren zu. Das nächste Jahrhundert ist in meinen
Ein großer Teil der Bevölkerung interes- und Computern. Das ist absolut nicht das, Augen nicht das Jahrhundert der Physik
siert sich wirklich für diese Dinge. Aber was Physik tatsächlich ist. Die Physik hat oder der Biologie, sondern das Jahrhunes ist halt nur ein Teil. Was uns fehlt, sind eine ganz und gar andere Rolle.
dert der Vernetzung der verschiedenen
sozusagen die anderen 70 oder 80 Pro- Fritzsch: Sind Sie da überrascht, wenn Sie Wissenschaften.
zent.
mal unser Schulsystem anschauen?
Graßmann: Ich bin überzeugt davon, dass
SPIEGEL: Entfremdet sich die Physik nicht Graßmann: Das Schulsystem ist doch ein die Physik die entscheidende Rolle spielen
wird – wenn sie sich nicht ganz aus der
auch von den Menschen, indem sie immer Produkt unserer Gesellschaft.
schwieriger, immer unanschaulicher wird? Fritzsch: Ich finde es auch absurd, dass Gesellschaft zurückzieht.
Fritzsch: Zweifellos. Das fing ja schon mit Physik und Chemie in den Gymnasien erst Fritzsch: Ich will die Gefahr gar nicht beder Quantentheorie an. Sie ist faszinie- so spät gelehrt werden. Wir müssen den streiten, dass im nächsten Jahrhundert der
angelsächsischen Weg einschlagen. Dort Fundamentalismus erstarken könnte. Wir
rend, aber unanschaulich.
Graßmann: Ach was, jedes Kind kann die werden die Kinder bereits sehr früh mit sehen das ja schon in den USA. Da gibt es
einem gemeinsamen Fach Naturkunde eine technische Elite und den großen AnPhysik begreifen.
Fritzsch: Das stimmt nicht ganz. Richard konfrontiert, wo alles vorkommt, auch teil der anderen, die keine Ahnung haben
Feynman, mein früherer Kollege in Pa- möglichst vernetzt. Später sollte man es von Naturwissenschaft und den schlimmssadena, hat mir immer gesagt: „Du aufspalten in Physik, Chemie und Biologie. ten Vorstellungen huldigen. Das führt dann
verstehst erst dann ein Problem, wenn du De facto ist es jedoch so, dass Abiturienten zu Entscheidungen wie im US-Staat Kanes auch deiner Großmutter erklären Medizin studieren wollen und nie richti- sas, wo christliche Fundamentalisten die
kannst.“ So weit hatte er recht. Wenn gen Physikunterricht hatten. Das ist ein biblische Schöpfungsgeschichte gleichwertig neben die Evolutionstheorie gestellt haich Vorträge für die Öffentlichkeit halte, Skandal.
dann merke ich manchmal bei der Vorbe- Graßmann: Der Physikunterricht vermittelt ben – ein Skandal. Ich bin auch erschreckt
reitung, wie ich auch fachlich neue Ideen eben den völlig falschen Eindruck, die Phy- darüber, dass große Teile der russischen
bekomme. Man muss nicht Mathematik sik sei eine Ansammlung von Formeln, die Bevölkerung mittlerweile an alles mögliche
können, um etwas über die Quarks lernen man gar nicht verstehen kann. Und ge- glauben, aber im Gegensatz zu früher imzu können. Wenn ich Kollegen höre, die sa- braucht würden sie nur, um irgendwelche mer weniger für Naturwissenschaft übrig
haben. Wir müssen sicher darauf hinwirgen: „Hier kann ich Ihnen nicht weiter- neuen Geräte zu bauen.
ken, dass die Physik, die bis an die Wurzeln
helfen, da müssen Sie erst die Lagrangeunserer Existenz geht, bis an die UrknallGleichung studieren“, dann kann ich ausexplosion, wirklich Fuß fasst in der Gerasten.
sellschaft.
Graßmann: Ja, aber nichts anderes sage ich
doch.
SPIEGEL: Ein wachsender Teil der Bevölkerung, so scheint es, wendet sich auch in
Fritzsch: Es gibt allerdings VerständnisstuDeutschland der Esoterik zu.
fen, wo es ohne Mathematik schwierig
wird. Die Mathematik ist von zentraler BeFritzsch: In solchen Entwicklungen sehe ich
deutung in der Physik.
in der Tat eine echte Gefahr. Und sie ist
schlimmer als die Gefahren, die durch die
Graßmann: Die Mathematik braucht man,
Nuklearwaffen entstanden sind. Der wachum neue Physik zu entwickeln, nicht um
sende Irrationalismus ist die eigentliche
sie zu erklären. Viele Leute glauben, PhyGefahr der Zukunft.
Graßmann, Fritzsch, SPIEGEL-Redakteur*
SPIEGEL: Herr Fritzsch, Herr Graßmann,
* Johann Grolle (M.), im Arbeitszimmer von Professor
Fritzsch an der Universität München.
wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
„Physik ist nicht mehr schick“
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Wissenschaft
ZAHNMEDIZIN
„Die lachen bis zum Zäpfchen“
Ästhetik-Zahnarzt Berstein: „Am liebsten lattengerade und kalkweiß“
S
chon im Empfang der Düsseldorfer
Gemeinschaftspraxis soll nichts an
bohrenden Schmerz erinnern. Nicht
die klinische Kühle eines zahnärztlichen
Ambulatoriums erwartet den Patienten,
sondern die Wärme eines gutbürgerlichen
Wohnzimmers. Wer hierher kommt, ist
bereit, etwas dazu zu bezahlen – oft sogar
sehr viel.
„Bis zu 25 000 Mark kann die ästhetischkosmetische Zahnbehandlung kosten“,
sagt Alexander Berstein, 38, und fügt sogleich hinzu: „Pro Kiefer natürlich.“ Zusammen mit zwei Kollegen hat er eine Nische im immer härter umkämpften Markt
entdeckt. Nicht Löcher stopfen, Kronen
setzen und Prothesen anpassen ist sein Tagesgeschäft, sondern ästhetische Zahnversorgung. „Dentalästhetica“ heißt das angeschlossene zahnheilkundliche Privatinstitut.
Während in den letzten zehn Jahren die
Zahl der Zahnärzte in Deutschland um 30
Prozent anstieg, nahm unter deutschen
Jugendlichen die Karies rapide ab. Waren
vor einem Jahrzehnt bei Zwölfjährigen in
Westdeutschland im Schnitt noch 4,1 Zähne löchrig, waren es 1997 nur noch 1,4. Den
Rückzug der Karies schreiben die Experten
260
der verbesserten Vorsorge und vor allem
der verstärkten Fluoridierung des Speisesalzes zu. Auf Dauer, so möchte es scheinen, gehen der Zunft die Patienten aus. Da
kommt die neu entdeckte Zahnschönheit
gerade recht.
Im Schnelldurchgang rekapituliert Berstein die Geschichte seines Fachs: „Einst
ging es nur darum, den Schmerz loszuwerden, dann sollten die Zähne möglichst
lange halten, und heute wollen die Menschen eben auch noch ein HollywoodLächeln.“ Blitzende OralKunstwerke gelten als weithin sichtbares Statussymbol,
sie signalisieren Jugend, Erfolg und Biss. Seine Zusatzausbildung für kosmetische
Techniken hat Berstein denn
auch im Land des teuren
Lächelns absolviert – Kalifornien.
In den USA sind makellose Frontzähne, „am liebsten lattengerade und kalkweiß“ (Berstein), selbst für
Ältere inzwischen unverzichtbar. Hatte die „American Academy of Cosmetic „Dazzler“: Ist der Trend out, wird die Folie entfernt
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STOCKMEIER / ARGUM
U. BAATZ / LAIF
Unter deutschen Jugendlichen nimmt die Karies
rapide ab, die Zahl der Zahnärzte aber steigt. Jetzt entdeckt die
Branche das perfekte Lächeln als neue Geldquelle.
Dentistry“ bei ihrer Gründung vor 15 Jahren lediglich 60 Mitglieder, sind es inzwischen 4000. Die „New York Times“
rief bereits das „goldene Zeitalter der
Zähne“ aus.
Einstiegsdroge für die komplette DentalRestauration ist häufig die Chemikalie
Wasserstoffsuperoxid. Mit Hilfe dieses
Bleichmittels – auch zum Blondieren von
Haaren geeignet – entgilben die Ärzte koffein- und rotweingegerbte Zähne. Zieht der
neue Glanz erst den Blick auf
die Mundöffnung, fallen dort
plötzlich weitere Hässlichkeiten
ins Auge: wucherndes Zahnfleisch, Fehlstellungen oder der
schrundige Schneidezahn, der
in der Jugend auf einen Fahrradlenker gekracht ist.
Hauchdünne, aufgeklebte
Keramikverblendungen, so genannte Veneers, verwandeln die
Zahnruinen Stück für Stück
wieder in naturidentische
Gebisse. Oralchirurgen wie
Berstein möbeln auch zurückweichendes Zahnfleisch
auf, modellieren es, setzen bei
Bedarf künstliche Zahnwurzeln
und korrigieren zunehmend
auch bei Erwachsenen mit
Zahnspangen schief gewachsenes Kauwerkzeug.
Auch die KörperschmuckSzene hat nach Piercing und
Tattoos die Zähne entdeckt.
Zahntechniker Bernd Heinemann ist über die Nachfrage
entzückt. Seit Januar bietet
sein Labor im hessischen
Neckargemünd neben dem üblichen
zahntechnischen Sortiment ausgefallenen
Zahnschmuck an: Keramik-Kronen mit
eingebrannten Blümchenornamenten,
aufklebbare Goldfolien („Dazzler“) in
Form von Delfinen, Anarchie- oder Dollarzeichen und abnehmbare Zahnkappen
mit eingefassten Brillanten. „Für Frankfurter Banker, die sich so etwas nur in
der Freizeit erlauben können“, erklärt der
Zahntechniker, der stolz darauf ist, dass
er schon vor 30 Jahren den Tänzer Ru-
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Wissenschaft
Dass das Geschäft mit den Sonderleistungen boomt, bestätigen auch die Bilanzen der Kassen: Während in den gesetzliZahnarztbehandlungen*
Niedergelassene Zahnärzte
chen Krankenkassen die Leistungsausgain den alten Bundesländern
in den alten Bundesländern
ben für die Zahnbehandlung je VersicherVeränderung gegenüber 1970 in Prozent
42071 tem innerhalb von zehn Jahren nur um 4,3
Prozent stiegen, schossen diese bei den pri0%
40025
vaten Kassen, die bis zu 80 Prozent der
Sonderleistungen übernehmen, um 84 ProFÜLLUNGEN
zent in die Höhe.
33018
Ob allerdings der teure Trend zum schö–20 %
nen Gebiss auch für gute Qualität bürgt, ist
29991
zumindest zweifelhaft. Ende letzten Jahres
27651
27 443
sondierte das Wissenschaftliche Institut der
–40%
Allgemeinen Ortskrankenkassen die Güte
ZAHNEXTRAKTIONEN
der Versorgung. 20 Probanden suchten jeweils 10 verschiedene Zahnärzte auf und
–60 %
ließen sich von ihnen einen Heil- und Kos*von den gesetzlichen Krankenkassen abgerechnet
Quelle: Bundeszahnärztekammer
tenplan aufstellen. Das Ergebnis: mangelhafte Befunderhebungen, drastisch unter1970
75
80
85
90
95 97
1970 75
80
85
90
95 98
schiedliche Behandlungskonzepte und Differenzen bei den Kostenvoranschlägen von
dolf Nurejew mit einem Brillanten verBei dem Erhalt der Zähne allein blieb es bis zu 600 Prozent. „Völlig beliebig“ nennt
sorgte.
nicht. „Weil man heute eben schöne Zäh- Klaus Zok, einer der Autoren, die ärztliNoch sind 90 Prozent der Kunden Frau- ne haben muss“, stellt die Illustrierte chen Strategien.
Einer hat mittlerweile den Kampf um
en. Besonders beliebt sind unter ihnen glit- „Schweizer Woche“ fest, leistet man
zernde Edelsteine. Manche Kundinnen las- sich gern auch noch etwas mehr: Über eine bessere Zahnmedizin unter gesetzsen sich die Preziosen gar außen auf die 300 Franken jährlich lässt sich der lichen Rahmenbedingungen aufgegeben.
Backenzähne montieren. „Die haben ei- Durchschnittsschweizer die Zahnkosme- Armin Jäkel, 56, behandelt nur noch privat. „Für eine stramm wissenschaftliche
nen so großen Mund“, sagt Heinemann, tik kosten.
„dass sie bis zum Zäpfchen lachen.“ Ist
In Deutschland hingegen lohnte sich die Behandlung“, sagt der Eckernförder
der Trend wieder out, lässt sich der Zierrat Prophylaxe lange Zeit nicht. „Zu Hoch- Zahnarzt, „brauche ich eben Zeit.“ Für
entfernen: Dazzler rückstandslos, Brillan- Zeiten der Prothetik“, sagt Berstein, „gab 20 Mark Pauschale könne er nur vier Miten hinterlassen ein kleines Loch.
es eine Menge Versäumnisse.“ Die Ärzte nuten lang untersuchen. Eine aufwendige
Diagnose von Kieferfunktion
Doch auch die eher konventionell an- bohrten munter drauf los; die
und Zahnstatus aber dauere
mutende Prophylaxe erweist sich für fin- hörigen Patienten nahmen es
„Wenn der
schon mal eine Stunde. Das Erdige Zahnärzte als lukrativ. Bei mangelnder duldsam hin; die Kassen zahlten
Patient nicht gebnis der anschließenden geMundhygiene droht durch Parodontose der – zu 100 Prozent.
Zahnausfall, und durch das Bakterium
Heute sind auch in Deutsch- krank ist, kann wissenhaften Versorgung wissen
besonders Patienten mit raStreptococcus mutans erneuter Löcherfraß. land die Preise happig und die
das Gebiss
Kaum erlahmt die hartnäckige Dauerpfle- Ansprüche höher. Unter Bun- so schief sein, senden Kopfschmerzen und
schmerzhafter Kaumuskulatur
ge, flackert Karies wieder auf. Ärzte wie desgesundheitsministerin Antje
wie es will“
durch fehlerhafte KieferstellunBerstein fordern deshalb umfangreiche Huber stiegen die Kassen 1977
gen zu schätzen.
Dentalhygiene auch an Stellen, zu denen aus der Vollfinanzierung des
Jäkel ist Dental-Idealist. Die Erhaltung
nur die Fachkraft vorstößt: Politur, Reini- Zahnersatzes aus. Seitdem leisten die Pagung mit Polierstreifen zwischen den Zäh- tienten einen zunehmend größeren Eigen- der eigenen Zähne, weiß er, ist eine lenen und Kürettage unterm Zahnfleisch.
anteil, an Luxus-Versorgungen beteiligten benslange Aufgabe. Den Kosmetik-Exzessen der Amerikaner steht er skeptisch geDoch wer bezahlt diesen aufwendigen sich die gesetzlichen Kassen gar nicht.
Kampf ums Naturgebiss? Wer finanziert
Im letzten Jahr trug das Bundesgesund- genüber. „Wenn der Patient nicht krank
das Streben nach dem makellosen heitsministerium vorübergehend dem neu- ist, kann das Gebiss so schief sein, wie es
Lächeln? Spangen für Erwachsene werden en Schönheitsideal Rechnung. Die Kassen will“, sagt er.
Bis sich die deutschen Zahnmediziner
von den gesetzlichen Krankenkassen nur in vergüteten zumindest die Kosten der Baseltenen Fällen erstattet, Veneers oder gar sisversorgung, was darüber hinausging, durch ästhetische Ansprüche der PatienZahnschmuck nie. Und selbst der Anreiz zahlten die Patienten dazu: Der Eigen- ten und mehr Konkurrenz fachgerechte
zur Vorsorge ist für Patient wie Zahnarzt anteil der üblichen Goldkrone betrug rund Regeln für eine bessere Zahnmedizin vermager. Bezahlt wird zweimal im Jahr eine 300 Mark, die schönere Keramik gab es für ordnen, mag Jäkel nicht warten. Vor einem
Zahnsteinentfernung für je 27 Mark, das 600 Mark Aufpreis. Bundesgesundheitsmi- halben Jahr hat er den Qualitätszirkel
nisterin Andrea Fischer jedoch stoppte den „MacDent“ gegründet. Bis jetzt hat Jäkel
war’s.
Dass sorgfältige Vorsorge fruchtet, zeigt kurzen Ausflug in die teilfinanzierte Ästhe- ein Dutzend Mitstreiter in verschiedenen
das Beispiel der Schweiz. Dort bilanzierten tik für Arme. Seit Anfang dieses Jahres ge- Bundesländern, die sich vor allem einem
die Zahnärzte bei Zwölfjährigen schon vor hen Sonderwünsche wie Vollkeramiken strikten Prophylaxe-Konzept verpflichten.
Vorgesehen sind außerdem jährliche Konzehn Jahren nur 2,0 Löcher pro Gebiss. Als wieder voll zu Lasten des Patienten.
Vieles deutet allerdings darauf hin, dass trollbesuche bei den Kollegen.
Ursache des Eifers beim Zähneputzen gilt,
Die Qualitätswächter sollen in jeder Pradass Plomben und Kronen in der Schweiz die Patienten bereit sind, für ihr Mundteuer sind. Schon seit Jahrzehnten über- werkzeug tief in die Tasche zu greifen. Die xis willkürlich drei Akten ziehen und die
nehmen die Krankenkassen dort nicht Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung Patienten einbestellen. „Stellt sich dabei
mehr die Kosten für Zahnbehandlungen ermittelte in einer Umfrage unter 342 heraus, dass einer Murks gemacht hat“, ervon Erwachsenen. Prophylaxe zahlt sich Zahnärzten, dass die Hälfte aller Patienten klärt Jäkel, „fliegt er aus unserem Verein
eben raus.“
„offen für Zuzahlungen“ seien.
für den Bürger also aus.
Harro Albrecht
Wenig Löcher, viele Bohrer
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Wissenschaft
R AU M FA H R T
„Reden macht wenig Sinn“
Ein Berliner Psychologe und drei russische Ärzte ließen sich
monatelang in eine lange Röhre einsperren.
Sie durchlitten das Psycho-Experiment mit bitterem Ernst.
S
Ärzte am Mittwoch vorletzter Woche aus ihrer Kapsel kletterten, sprach Johannes die
bewegenden Worte: „Back on earth again!“
Schön gesagt, nur leider falsch. Die vier
Helden waren bloß Simulanten. Im Dienst
der Forschung ließen sie sich 110 Tage lang
in eine nachgebaute Raumstation einsperren. Die knapp 50
Meter lange Röhre, „Isolator“
genannt, steht im Moskauer
„Institut für Biomedizinische
Probleme“ und hat sich keinen
Zentimeter vom Fleck bewegt.
Forscher des Instituts hatten
sich das Psycho-Experiment im
Auftrag der russischen Raumfahrtbehörde ausgedacht. Auch
die europäische Raumfahrtagentur Esa und die japanische
Nasda beteiligten sich. Der Test
galt der Frage, wie es Multikulti-Raumfahrer auf engstem
Raum miteinander aushalten –
ein Probelauf für das Zusammenleben auf der künftigen InPsychologe Johannes*: „Back on earth again!“
ternationalen Raumstation ISS.
Johannes hatte schon bei einem früheren
Drei Wochen später endete die entbehrungsreiche Reise durchs All. Als der deut- Isolationsversuch mitgewirkt. Um ihm die
sche Psychologe und die drei russischen erneute Teilnahme schmackhaft zu machen, beförderten ihn die Versuchsleiter
flugs zum Kommandanten und unterstell* Nach Abschluss des Experiments, im Hintergrund der
ten ihm eine Crew aus drei russischen ÄrzEinstieg zur nachgebauten Raumstation.
P. BLAKLEY / SABA
einen 45sten Geburtstag feierte Bernd
Johannes auf dem Rückflug vom
Mars. Das Fest verlief deshalb eher
spartanisch: Dicht gedrängt saßen er und
seine Mannschaft in der Raumschiffkabine
und sangen schwermütige Balladen.
Training auf dem „Fly-Wheel“
Alltag in der nachgebauten Raumstation
Angst vor russischem Schlendrian
ten. Hoch motiviert, mit vier Pfund Kaffee
und einem Päckchen Skatkarten beladen,
bestieg er Ende Juli die Röhre.
Der Deutsche, ein durchtrainierter Mann
mit einer gewissen militärischen Zackigkeit, nahm seinen Job bitter ernst. Als erstes versuchte er, seine Mannen für die Mission zu motivieren. „Alles, was den Dingen
hier drin einen fassbaren Sinn gibt, hilft
uns“, erklärte er, „also stellen wir uns vor,
dass wir zum Planeten Mars fliegen.“
Schon bald musste der Psychologe allerdings seine deutsche Ordnungsliebe zügeln; überall auf der Pseudo-Raumstation
herrschte russische Improvisation: Auf der
Toilette hingen vier Schläuche ins Becken,
durch die das Kondenswasser aus der Atemluft abströmen sollte. Das funktionierte
mehr schlecht als recht. Also tropfte es von
der Decke, es breitete sich Schimmel aus.
Russischen Schlendrian hatte Kommandant Johannes wie nichts anderes gefürchtet. Energisch versuchte er gegenzusteuern, etwa beim regelmäßigen Stubenputz.
Der Berliner Psychologe bestand darauf,
dass der Isolator einmal pro Woche von
oben bis unten desinfiziert werden müsse.
Eine lästige Pflicht. Schon bald schoben
Freizeitgestaltung
Test der Unterdruckhose
die Russen wichtige Arbeiten vor; die Behausung blieb, wie sie war. Schweigend
griff Johannes selbst zum Putzeimer.
Auch sonst gab er es rasch auf, Probleme,
so wie er es an der Uni gelernt hatte, durch
Reden zu lösen. „Das können sich nur Psychologen so ausdenken“, begriff der Psychologe, „aber tatsächlich hat es wenig Sinn
– es dauert zu lange.“ Und Zeit an Bord
war schließlich kostbar, hatten die Wissenschaftler doch wichtige Aufgaben: Sie testeten eine Unterdruckhose, die in der
Schwerelosigkeit den Blutfluss in die untere Körperhälfte erleichtern soll; oder sie
schwitzten auf dem „Fly-Wheel“, einem
Rudergerät für die spätere Raumstation ISS.
Sie durften also all die furchtbar aufregenden Dinge tun, mit denen sich auch echte
Raumfahrer die Zeit vertreiben.
Richtig nervtötend waren die endlosen
Fragebögen, die aus der Außenwelt zu ihnen drangen. Denn die Fragen wiederholten sich. Mal wollten die Japaner, dann
wieder die Deutschen wissen: „Spüren Sie
Rückenschmerzen? Haben Sie Muskelkater? Wo? Und wie haben Sie geschlafen?“
„Nur so können wir herausfinden, wodurch Konflikte zwischen Innen und Außen
entstehen“, erklärt Wiktor Baranow, der
Leiter des Experiments. „Anfangs sind das
vielleicht nur Kleinigkeiten. Aber sie könnten uns helfen, die zunehmende Entfremdung innerhalb eines Teams rechtzeitig zu
erkennen und zu verhindern.“
Bei all der Wissenschaft blieb Johannes
noch genug Zeit, die Russen das Skatspiel
zu lehren. Als Einsatz dienten Schokoriegel, gereizt wurde natürlich auf Deutsch,
und den Satz „Trrumf ist das Chärrz vom
Schpiel“ verwendeten die Russen bald bei
jeder sich bietenden Gelegenheit.
Allmählich verschmolz das Team zu einer verschworenen Gemeinschaft, die laut
Johannes von einem Gedanken beherrscht
war: „Wir machen hier nicht irgendein Experiment – wir sind auf einer Mission.“
Dennoch zeigten sich nach etwa zwei
Monaten erste Ermüdungserscheinungen.
Immer häufiger starrte Johannes nur noch
dumpf auf den Bildschirm mit Wolken und
blauem Himmel darauf. Einmal pro Woche
durfte er 20 Minuten lang mit seiner bulgarischen Ehefrau telefonieren. Sie sprachen über die Fische im heimatlichen Aquarium oder übers aktuelle Fernsehprogramm.
Vorbereitung für den Einsatz am Flugsimulator
Seinen Frust strampelte der Deutsche
auf dem Fahrrad herunter. Am Ende hatte
er sieben Kilo abgenommen – im Gegensatz zu seinen eher gemütlich veranlagten
russischen Mitstreitern, die im Schnitt sogar ein paar Kilo zulegten.
Kurz vor der Landung wurde es endlich
einmal richtig spannend. Per Telefon ereilte die Männer eine Alarmmeldung: Ein Defekt sei aufgetreten, die Raumflieger müssten noch zweimal die Erde umkreisen. Die
Landung verschob sich um drei Stunden –
eine letzte Psycho-Prüfung zum Abschluss.
Als die Eingeschlossenen blass mit angespannten Gesichtern aus der Röhre kletterten, weinte einer von ihnen.
Die Auswertung der medizinischen und
psychologischen Daten wird wie immer
viele Jahre dauern. Vielleicht, so hoffen die
Forscher, wird die Moskauer WeltraumWG sogar bereit sein, über die im Isolator
aufgetretenen Konflikte zu reden.
Kommandant Johannes dämpft allerdings
Hoffnungen auf allzu pikante Enthüllungen: „Eine gute Mannschaft trägt ihre Konflikte nicht nach außen.“ Irina Schedrowa
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Wissenschaft
Türme im Schlick
Gasförderung
Erdgas aus dem Wattenmeer
10km
Probebohrung abgeschlossen;
Förderung geplant
Probebohrung geplant
Borkum
Schiermonnikoog
Ameland
Terschelling
Ems
Blija
Vlieland
Zuidwal
Harlingen
Leeuwarden
Groningen
Landsat-Satellitenaufnahme
VVD setzt sich für das Projekt ein. „Eine
explosive Situation“, meint Umweltminister Jan Pronk (PvdA). Jetzt muss Premier
Wim Kok vermitteln.
Schon Ende der fünfziger Jahre entdeckten die Niederländer in der Provinz
das größte Gasfeld Europas.
Im niederländischen Wattenmeer soll erneut nach Gas gebohrt Groningen
Seither mauserte sich das Land nach Russwerden – für das Land ein Milliardengeschäft. Doch
land und Norwegen zum wichtigsten ErdUmweltschützer fürchten um die einzigartige Naturlandschaft. gasproduzenten Europas. Rund 85 Prozent
der Einnahmen fließen in die Staatskasse –
enn Paul de Cock von der nie- re sieben bis acht Jahre mit Erdgas ver- zusammen 100 Milliarden Mark in den letzderländischen „Waddenvereni- sorgt. Doch die NAM, zu je 50 Prozent im ten 20 Jahren. Sozialsystem und Wohlstand
ging“ aus seinem Küchenfenster Besitz von Esso und Shell, hat die Rech- der Holländer gründen maßgeblich auf
schaut, sieht er den Deich, darauf ein paar nung ohne den Wirt gemacht. Eine Arma- dem Schatz unter ihren Füßen.
Anfang der siebziger Jahre formierte
Schafe und dahinter das graue Meer. „Die da von 22 Naturschutzorganisationen inletzte richtige Wildnis in Holland“, klusive WWF und Greenpeace hat sich sich erster Widerstand. Denn bald nach Erschwärmt der Naturschützer und lässt den mittlerweile gegen den Energieriesen ge- schließung der Gasfelder auf dem Festland
Blick über westfriesisches Vorland und Kie- stellt. Jetzt droht selbst die niederländi- erhielt die NAM 1969 die „ewige“ Konsche Regierungskoalition am Wattkampf zession auch für das Gas im Watt. Seither
bitze im Torkelflug schweifen.
liefern sich Umweltschützer und EnergieAls „prinzipiell horizontal“ beschreibt Schaden zu nehmen.
Auf Antrag der regierenden sozialde- riese regelmäßig juristische Scharmützel.
de Cock die weite Wattlandschaft. Doch in
Mehrfach gelang es der „Waddenvereniletzter Zeit drängt sich vor seinem geistigen mokratischen Arbeiterpartei PvdA votierAuge Vertikales ins Bild. Fördertürme ragen te das Parlament jüngst fast geschlossen ging“ und ihren Mitstreitern, Probebohdann aus dem Schlick, stählerne Gitter- gegen die Gasförderung im Watt. Allein die rungen im Watt zu verzögern. Seit Mitte
masten wachsen in den Himmel, Gasfeuer an der Koalition beteiligte rechtsliberale der Achtziger wird zwar auf Ameland, bei
Blija und in Zuidwal Wattengas gespiegeln sich in den Prielen.
fördert (siehe Grafik). Die groß„Wenn die hier eine Bohranlage
flächige Erschließung des Wattenaufstellen, dann ist das, als ob man
meeres konnten die Umweltschütauf einem Rembrandt einen Bezer jedoch bislang verhindern.
cher Joghurt umwirft“, schimpft
Nun reißt den NAM-Managern
der Umweltschützer.
langsam der Geduldsfaden. Sie
„Die“, das sind die Techniker
pochen auf ihr lizenziertes Recht
der Nederlandse Aardolie Maatzur Gasförderung. „Wir ziehen
schappij, der niederländischen
Schadensersatzforderungen in BeErdgasgesellschaft NAM. Im Wattracht“, droht Vorstandssprecher
tenmeer, direkt vor de Cocks
Frank Duut. An zwölf Stellen im
Haustür, will das Unternehmen
Watt will der Konzern Probenach Erdgas bohren. Bis zu 170
bohrungen durchführen. An drei
Milliarden Kubikmeter Gas verStandorten könnte die Förderung
mutet der Konzern unterm
bereits beginnen. „Es wäre falsch,
holländischen Schlick. Könnten
wenn sich die Regierung bei der
sie gefördert werden, wäre der
Entscheidung nur von Emotionen
Staat um rund neun Milliarden
leiten lässt“, sagt Duut. „Die FakMark reicher, das Volk für weite- Test-Bohrplattform im Watt: Gefahr durch Bodensenkungen?
U M W E LT
Kampf ums Watt
K. ZWANEVELD / HOLLANDSE HOOGTE / LAIF
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Wissenschaft
Niederländisches Wattenmeer: „Prinzipiell horizontale Landschaft“
ten sprechen für uns. Die Gasförderung hat
keinen Einfluss auf die Natur.“
Das sehen die Umweltschützer anders.
Das Vorhaben, so glauben sie, bedeute eine
ernste Gefahr für das Watt. Vor allem warnen sie vor den Folgen von Bodensenkungen, die beim Abpumpen des Gases fast
unvermeidlich sind. „Ein Drittel der Wattflächen könnte buchstäblich wegsacken“,
sagt Greenpeace-Mitarbeiter Martijn Lodewijkx.
Schon wenige Zentimeter Senkung
könnten katastrophale Folgen für das fragile Ökosystem haben, befürchtet er. Die
matschigen Sandflächen vor den Deichen,
zweimal täglich von der Flut überspült,
gelten als Kinderstube für viele Fischarten
und sind einer der wichtigsten Zugvögelrastplätze Europas. Durch den unterirdischen Gasentzug gleichsam tiefergelegt,
drohe dem System der GAU, glaubt Lodewijkx. Schon sieht er Seehundbänke samt
Heulern auf Nimmerwiedersehen in den
Fluten versinken. Höhere Wasserstände
könnten die Salzwiesen vernichten. Watvögeln wie Rotschenkel oder Knutt drohe
Nahrungsknappheit.
Langfristig befürchtet der Umweltschützer den Ausverkauf des Naturraumes:
„Ist die Gasförderung erst erlaubt, können
andere wirtschaftliche Aktivitäten nicht
mehr gestoppt werden.“ Auch vor Unfällen, die das Watt dauerhaft verseuchen
könnten, warnt Lodewijkx. „Kein Mensch
kann die Risiken abschätzen.“
NAM-Sprecher Duut hält das alles für
Panikmache. „Den Umweltschützern fehlt
jedes Verantwortungsgefühl“, sagt er.
„Hier geht es um ein Milliardengeschäft.“
Das Unternehmen beteuert, sich im
Wattenmeer strikten Umweltauflagen zu
unterwerfen. So sollen die Gasfelder horizontal angebohrt werden, damit die Förderanlagen statt im Watt auf dem Festland
stehen können. Probebohrungen verspricht
die NAM nur noch zwischen Oktober und
Februar durchzuführen, wenn weder Jungfische noch Zugvögel im Watt weilen. Ausschließlich per Schiff, nie mehr im lärmenden Helikopter, werde man die Techniker
künftig an ihren Arbeitsplatz bringen.
Zwar muss Duut einräumen, dass der
Wattenboden stellenweise bereits jetzt um
270
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mehr als 20 Zentimeter abgesackt ist. Verändert habe sich das Ökosystem jedoch
nicht. „Die Umweltschützer lügen“, konstatiert der Industrie-Sprecher.
„Wir sehen keine Beeinträchtigung der
Salzmarschen“, assistiert Norbert Dankers,
Biologe am niederländischen Alterra
Greenworld Research Institute. Seit 1986
überwacht er mit staatlich kontrollierten,
indes von der NAM bezahlten Studien die
Erdgasanlage auf der Ostspitze der Frieseninsel Ameland.
„Tellerförmig“ habe sich der Wattboden
rund um die seit 1986 laufende Anlage gesenkt, berichtet Dankers. Weil das Watt
nun jedoch häufiger überflutet werde, lagere sich mehr Sediment ab, der den Verlust fast wieder wettmache. „Die Wattfläche wird sich etwas verkleinern“, räumt
der Biologe ein. „Nach fünf bis zehn Jahren ist aber wieder alles beim Alten.“
Im Vergleich zu den Folgen des klimabedingten Meeresspiegelanstiegs sei der
mögliche Landverlust zu vernachlässigen,
glaubt Dankers. Auch Tourismus, Fischerei
und Militärübungen setzten der Naturlandschaft zu. „Man stelle sich vor, die Regierung würde einen Teil des Geldes aus
der Gasförderung in den Schutz des Wattenmeeres pumpen“, sagt er. „Das würde
dem Naturraum viel mehr helfen als der
derzeitige Protest.“
Wattenmeer-Advokat de Cock ist es leid,
um Zentimeter und Geld zu feilschen.
„Menschen wollen immer alles messen
können“, klagt der Umweltschützer. „Das
Wattengas liegt hier seit Millionen von Jahren. Warum muss ein derart empfindliches
Gebiet überhastet erschlossen werden?“
„Mein Herz hängt am Wattenmeer“,
sagt der Naturschützer und hofft auf ähnliche Einsichten der Politiker. Die nächste
Runde im Kampf ums Wattenmeer steht
in Den Haag am 8. Dezember an. Ob die
Regierung wegen des Gases die Koalition
gefährden werde, sei zwar fraglich, glaubt
de Cock. Die Öffentlichkeit stehe jedoch
klar auf Seiten der Watt-Schützer.
Ein kürzlich erschienener Kommentar
der Zeitung „NRC Handelsblad“ zur BohrLizenz der NAM brachte den Volkszorn
auf den Punkt: „Ewige Genehmigungen
sind total out.“
Philip Bethge
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H E R Z I N FA R K T
Leben unter der Lupe
Eine Stadt lebt für die Forschung: Gesundheitsdaten, seit fünf Jahrzehnten
erhoben an 10 000 Bürgern der US-Kleinstadt Framingham,
brachten viele bis dahin unsichtbare Feinde des menschlichen Herzens ans Licht.
S. JOHNSON
betes und Bewegungsmangel
blieben im Laufe der Jahrzehnte im Schleppnetz der
amerikanischen Gesundheitsfahnder hängen. Der Begriff
des „Risikofaktors“ ist seit
Framingham in den Grundwortschatz der Kardiologen
eingeflossen.
Um ihren Lorbeer in den
Hallen der Medizingeschichte brauchen sich die Einwohner der Stadt deshalb nicht
zu sorgen. Beim 50-jährigen
Jubiläum der Langzeitstudie
im Herbst letzten Jahres prasselten die Komplimente der
Gesundheitspäpste wie reife
Früchte auf die Teilnehmer.
Framingham, erklärte Daniel
Levy, derzeitiger Direktor der
Studie, habe „mehr als jede
andere Stadt in den USA
dazu beigetragen, die Gesundheit unseres Landes zu
fördern“.
Auch der nüchternen „New York Times“
waren die „berühmtesten Versuchskaninchen der Welt“, wie sie der Autor nannte,
eine Eloge wert. Wenn alle Menschen,
die der Herzstudie einen Teil ihres Lebens verdanken, zur Jubiläumsgala angereist wären, hieß es dort, dann hätten
die Veranstalter „Millionen und Abermillionen von Klappstühlen auftreiben“
müssen.
Viel Ehre für ein Unternehmen, das
1948, mitten in der „Fleisch-Butter-undEier-Ära“ („New York Times“), eher lautlos und bescheiden begonnen hatte. Einer
von vier amerikanischen Männern über 55
erkrankte in jenen Jahren am Herzen.
Herz-Kreislauf-Erkrankungen rangierten –
damals wie heute – an der Spitze der Todesursachenstatistik. Doch über die Hintergründe wussten die Mediziner vor 50
Jahren so gut wie nichts.
Als die Studie begann, qualmten noch 70
Prozent der amerikanischen Männer. Nach
den Entbehrungen der wirtschaftlichen Depression und des Weltkriegs stellten die
Hausfrauen der US-Mittelschicht ihren
Ehemännern bevorzugt fettreiche Kost auf
den Tisch. Wer an der Pumpe kränkelte,
dem rieten die Mediziner zu einem möglichst vorsichtigen und bewegungsarmen
Herzstudien-Stadt Framingham: Lorbeer in den Hallen der Medizingeschichte
U
nzählige Schikanen ließen die Bewohner des kleinen Städtchens
über sich ergehen. Seit 1948 haben
die Mediziner sie immer wieder gemessen
und gewogen, geröntgt, in den Computertomografen gesteckt oder zur Blutabnahme gebeten.
Manche der menschlichen Testkandidaten verbrachten die Nächte verkabelt mit
Elektroden. Andere wurden vom Finger
des Urologen traktiert oder auf einen
schier endlosen Parcours von Hör-, Seh-,
Gedächtnis-, Leistungs- und Intelligenztests geschickt. „Es war nicht immer angenehm“, erinnert sich ein Teilnehmer, „aber
ich sagte mir: Für die Wissenschaft tust du
das. Was immer sie von uns verlangten,
wir haben es gemacht.“
50 Jahre lang haben rund 10 000 Bürger
von Framingham, einer unscheinbaren
65 000-Einwohner-Stadt in der Nähe von
Boston, in der Gummiaufkleber und HiFi-Lautsprecher produziert und GeneralMotors-Wagen montiert werden, an einer
Art medizinischer Rasterfahndung teilgenommen.
Sie wurden nach ihren Essensgewohnheiten und Ängsten, nach Alkohol
und Zigaretten, Ausbildung, Kopfschmerzen und Schlafgewohnheiten befragt und
274
in zweijährigen Abständen nach allen Regeln der medizinischen Diagnostik durchleuchtet.
Den Probanden, zu erkennen an den
weißen Herzen auf ihren Bademänteln,
wurde die ärztliche Inquisition niemals zu
viel. Nur knapp fünf Prozent der ersten
Testgeneration von 1948 scherten aus der
Untersuchung aus. 1971 rekrutierten die
Forscher über 5000 Nachkommen der Ursprungskohorte. Jetzt warten bereits die
Kinder dieser zweiten Generation darauf,
in das Forschungsprogramm aufgenommen
zu werden.
Der gigantische Aufwand hat sich gelohnt. Dank der „Framingham-Herzstudie“ gilt der Infarkt in der Medizin nicht
mehr als unerklärlicher Maschinenschaden
des Pumpmuskels.
Zwar wurde die Beteiligung von Bakterien (Chlamydia pneumoniae) an der Entstehung von Herzschäden, derzeit heißestes Thema der Infarktforschung, zuerst in
Schweden aufgedeckt. Doch die Forscher
in Framingham waren es, die mit als erste
den Zusammenhang zwischen erhöhten
Blutfettwerten und Herzinfarkt erkannt
haben.
Auch andere schädliche Einflüsse wie
Nikotin, Bluthochdruck, Übergewicht, Diad e r
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Wissenschaft
276
π Frauen sind gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen besser gefeit als Männer,
weil ihnen das weibliche Sexualhormon
Östrogen einen unsichtbaren Schutzschild verleiht. Nach dem Versiegen der
Hormonquelle jenseits des Klimakteriums steigt auch ihr Herzrisiko – die
Hormonsubstitution beruht auf dieser
Erkenntnis der Framingham-Forscher.
FOTOS: M. PETERSON / SABA / VISUM
Leben. Körperliche Anstrengungen, gar
Training, waren tabu.
Erst die vom Nationalen Herz-, Lungenund Blut-Institut der USA finanzierte
Langzeitstudie brachte Licht ins Dunkel
des Ursachengeflechts.
Dabei hatten es die Emissäre der Studie
anfangs nicht leicht, Teilnehmer für den
aufreibenden Medizinmarathon zu ködern.
„Man musste die Leute förmlich anbetteln“, erinnert sich eine heute 83-Jährige.
„Keiner hatte es gern, dass ihm andere im
Privatleben herumschnüffelten.“ Die Zeiten haben sich geändert: „Jetzt“, sagt die
Frau, „würden sie sich den Arm dafür brechen lassen, dass sie in die Studie aufgenommen werden.“
Gut zehn Jahre vergingen nach 1948, bis
die US-Forscher die Millionen von Gesundheitsdaten gesichtet hatten und in
Fachblättern erste Teilergebnisse veröffentlichten. Seither hat vieles, was die Studie aus der Kleinstadt Framingham über
die unsichtbaren Feinde des Herzens ans
Licht brachte, das medizinische Wissen revolutioniert:
π Bluthochdruck zählt auch im Alter nicht
zu den lässlichen Sünden des Wohlstands. Wer für den systolisch gemessenen Blutdruck einen Wert von 100 plus
Alter akzeptiert, riskiert Schäden für
Herz und Kreislauf. Bei einem 70-Jährigen mit einem systolischen Blutdruck
von 170 ist das Schlaganfall-Risiko vervierfacht. Framingham-Forscher wie William Castelli, Leiter der Studie von 1979
bis 1995, haben den idealen Blutdruck
radikal nach unten korrigiert. Werte von
mehr als 140/90 erschienen ihnen als
zu hoch. Nach neuesten Empfehlungen
der WHO sollten sie nicht über 130/85
liegen.
π Nikotin schadet dem Herzen, mit dieser
Erkenntnis begann für die FraminghamForscher ein jahrzehntelanger Clinch mit
der Tabakindustrie. Er endete erst 1981,
als Framingham-Daten auch die Zweckbehauptungen der Zigarettenhersteller
Lügen straften, Filter könnten die Gesundheitsgefahren bannen.
π Idealgewichtige leben nicht länger als
Mollige. Wer mit Messer und Gabel in
Maßen sündigt und ein paar Pfund zu
viel auf die Waage bringt, muss dafür
nicht eher sterben. Der Jo-Jo-Effekt vieler Diäten, bei denen die Pfunde erst
purzeln und sich anschließend wieder
an die Hüften hängen, zieht den Pumpmuskel stärker in Mitleidenschaft als ein
moderater Speckring. Echte Fettsucht
bleibt dagegen ein ernst zu nehmender
Risikofaktor.
π Körperliche Aktivitäten bringen den
Pumpmuskel wieder auf Vordermann.
Wer nach dem ersten Knacks im Körpermotor ängstlich auf jeden Sport verzichtet, hat bei der Wiedergenesung und
bei der Vorbeugung gegen den Zweitinfarkt die schlechteren Karten.
Tests zur Herzstudie in Framingham
„Weltberühmte Versuchskaninchen“
Schulmediziner haben das mit der Framingham-Studie in die Lehrbücher eingegangene Risikofaktoren-Modell in der Vergangenheit gelegentlich zu mechanistisch
interpretiert. Eine Art Fahndungsmedizin
nach Herzkillern setzte ein.
Ebenso wichtige „weiche“ Faktoren wie
psychosozialer Stress, Angst, depressive
Verstimmungen, soziale Isolation, mangelnde Anerkennung, Hoffnungslosigkeit
oder auch emotionale Überforderung wurden zwar immer wieder als Gefahren für
das Herz genannt, aber nicht weiter verfolgt.
Ein Fehler, den die Mediziner erst seit
kurzem ausbügeln, denn über 50 Prozent
aller Herzerkrankungen sind nach Ansicht
von Psychokardiologen mit den StandardRisikofaktoren von Framingham allein
nicht zu erklären. Auch das riskante Verhalten von Rauchern, Vielessern und
Workaholics sowie die lebensgefährliche
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Trägheit der Couch-Potatoes rühren nach
Ansicht dieser Mediziner in vielen Fällen
von biografischen Konflikten her, für die
die Risikofaktoren allein noch keine Erklärung liefern.
„Welche Lebenskonstruktionen es sind“,
kritisiert Annelie Keil, Gesundheitsforscherin an der Uni Bremen, „die beim Einzelnen im Laufe der Zeit bis auf die Ebene der Zellen durchschlagen, wurde durch
Framingham nicht beantwortet.“
Dennoch haben die US-Mediziner mit
ihrer Langzeitstudie den Vormarsch des
Zivilisationsleidens zumindest verlangsamt. Die Zahl der Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist in den USA in den vergangenen
30 Jahren um über 50 Prozent gesunken.
Die potenziellen Opfer sind vorsichtiger
geworden: Nur noch 28 Prozent der amerikanischen Männer rauchen, der regelmäßige „Work-out“ zählt zum gesellschaftlichen Ritual.
Seit einigen Jahren destillieren die Framingham-Forscher aus ihren Daten auch
Erkenntnisse über andere Zivilisationsleiden wie Krebs, Diabetes, Alzheimer,
Osteoporose, Schlaf-, Hör- und Sehstörungen. Auch genetische Untersuchungen
gehören seit 1987 zum Untersuchungsprogramm.
Doch was auch immer die Mediziner
beispielsweise in den Genen der Studienteilnehmer noch entdecken werden, eine
Botschaft halten sie schon heute für ausgemacht: Den im Erbgut verschlüsselten
Befehlen wird beim Kampf gegen die
Herz-Kreislauf-Geißel keine größere Bedeutung zukommen als dem Verhalten und
dem Lebensstil der Menschen. „Übergewicht etwa“, erklärt Christopher O’Donnell vom Nationalen Herz-, Lungen- und
Blut-Institut, „trägt ebenso viel zum Bluthochdruck bei, wie es die Gene tun.“
Nicht mehr alle Mitstreiter der Jahrhundertstudie können sich in ihrem Ruhm
als Daten spendende Medizinpioniere sonnen. Nur jeder Dritte aus der Testgeneration von 1948 ist noch am Leben. Dass die
Übriggebliebenen ihren Körper nach so
langen Jahren noch immer bereitwillig in
den Dienst des medizinischen Fortschritts
stellen, erfüllt manche mit einer Art kindlichem Stolz: „Sie glauben gar nicht, wie
oft ich den Satz hier schon gehört habe:
,Ich bin nämlich noch einer von den ersten, wissen Sie, Frau Doktor‘“, erzählt
Sue Anderson, klinische Managerin der
Studie.
Seit die Mediziner ihren Versuchspersonen neuerdings auch nahe legen, ihr
Gehirn nach dem Tod dem nicht weit von
Framingham entfernten Harvard Brain
Tissue Resource Center in Belmont zu
vermachen, gesellt sich zur Genugtuung
gelegentlich auch ein Schuss Selbstironie: „Am Ende“, unken die StudienOldies verschmitzt, „haben wir also doch
noch das Hirn gehabt, nach Harvard zu
gehen.“
Günther Stockinger
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Technik
„Deutlich mehr als 80 Prozent der Arbeit“,
so der Neckarsulmer Werksleiter Otto Lindner, „werden nun durch Automaten erledigt.“ Audi will bis zu 60000 A2 pro Jahr
produzieren und sich in Zukunft sogar noch
weiter vorwagen: Ab 2005 soll auch der A6,
von dem jährlich knapp 200 000 Exemplare
gebaut werden, mit Alu-Karosse vorfahren.
Dem A2 ist die Aufgabe zugedacht, an
den Marktanteilen der A-Klasse von Mercedes zu knabbern. Das Basismodell wird
vom 75-PS-Benziner aus dem Baukasten
des VW-Konzerns angetrieben.
Der Clou der Baureihe aber ist die „A2
1.2 TDI“-Version, die im Sommer in den
Handel kommt. Mit dem dreizylindrigen
Turbodieselmotor (61 PS) wird dies, nach
dem VW Lupo, das zweite deutsche Dreiliterauto sein. Noch denken die Audi-Strategen darüber nach, ob sie das Ökomobil
mit einem vergleichsweise bescheidenen
„Kampfaufpreis“ von nur gut 1000 Mark in
den Markt drücken sollen.
Weniger Masse führt zu geringerem Verbrauch – diese simple Formel lässt den A2
Produktion der A2-Karosserie: Aussöhnung mit den Robotern
TDI mit 2,99 Litern Kraftstoff 100 Kilometer weit
AU T O M O B I L E
kommen. Die Alu-Karosserie wiegt 43 Prozent weniger
als vergleichbare Stahlbauten; das Auto, das im Innenraum mehr Platz als der A3
bietet, wiegt als TDI nur 825
Kilogramm.
Von der Leichtbauweise
Das Dreiliterauto A2 von Audi
des A2 werden die Käufer
wird das erste Massenauto sein,
auch bei ihrer Versicherung
dessen Karosserie ganz aus
profitieren. Die AssekuranSpar-Audi A2: Knabbern an der A-Klasse von Mercedes
zen haben signalisiert, dass
Aluminium besteht. Ab 2005 soll
zaghafte Versuche: In Neckarsulm hat- sie den A2 wegen geringerer Reparaturauch der A6 stahlfrei sein.
ten die NSU-Werke, damals „Königlicher kosten bei Bagatellunfällen in die Vollkasie schüchterne Einser-Abiturien- Hoflieferant“, schon 1913 einen Prototyp koklasse 11 einstufen wollen – die zweitten mühten sich die hohen Her- aus Aluminium entwickelt – und wenig niedrigste von 30 möglichen Eingruppieren im Neckarsulmer Audi-Werk, später verworfen. 1948 holperte der erste rungen.
Lob gibt es von allen Seiten, selbst
Land-Rover aus Alu durchs Gelände, 1990
ihren Stolz unter Kontrolle zu halten.
Endlich, nach Monaten kränkender Kri- verarbeitete Honda den Rohstoff Bauxit Greenpeace findet wohlwollende Worte für
tik am Fahrverhalten ihrer TT-Baureihe, in der Alu-Karosse seines Sportwagens Audis Alu-Engagement. Schon nach dem
zweiten Recycling der Leichtbau-Karosse,
konnten Vorstandschef Franz-Josef Paef- NSX.
gen und Technik-Vorstand Werner MischIm Wettstreit der Werkstoffe setzte sich sagt deren Autoexperte Günter Hubmann,
ke auftrumpfen und die Vorzüge ihres fast immer der Stahl durch – auch wenn sei „die Energiebilanz im Vergleich mit der
Hightech-Produkts A2 anpreisen.
der durchschnittliche Alu-Anteil in Perso- Stahlproduktion gleich“.
Wer aber wird bereit sein, für das IngolDer Stolz der Ingenieure ist nicht unbe- nenwagen seit 1955 von 19 auf 85 Kilogründet: Die Entwicklung des kompakten gramm stieg. Die Herstellung von Alu- städter Dreiliterauto mit der Alu-Karosse
A2, der im Frühsommer nächsten Jahres minium ist energieintensiv und teuer, das Geld draufzulegen? Vorstandschef Paefgen
bei den Händlern stehen soll, kommt ei- Material stand zudem lange im Ruch, nicht hält sich mit optimistischen Prognosen
nem Quantensprung in der Automobil- genügend verwindungssteif zu sein. Robo- zurück. Mit 50 000 Käufern rechne er, aber
ter reagierten auf Alu mit Arbeitsverwei- nur jeder Zehnte werde sich für den Turtechnik gleich.
Erstmals verzichtet ein Hersteller in der gerung, der hohe Anteil von Handarbeit bodiesel entscheiden. In den letzten Jahren
Massenfertigung auf den Einsatz von Stahl rechnete sich für die Autokonzerne nicht. sei „der Anspruch an bessere Fahrleistung
Seit 1994 bietet Audi die aus Aluminium und mehr Komfort deutlich schneller gebeim Karosseriebau und setzt ganz auf das
Leichtmetall Aluminium. „Aus optischen hergestellte Limousine A8 an, in der sich wachsen als die Bereitschaft, für geringen
Gründen“ soll der Einstiegspreis knapp auch Kanzler Gerhard Schröder werbe- Verbrauch einen Mehrpreis zu zahlen“.
Ein stiller Helfer könnte die rot-grüne
unter dem des A3 liegen – für rund 32 000 wirksam durch die Republik chauffieren
Mark wird Audi ein Vernunftauto anbieten, lässt. Beim teuren Flaggschiff – Jahrespro- Bundesregierung sein: Der im Zuge der
dessen Karosserie mit geringem Ener- duktion 15 000 Exemplare – kann es sich Steuerreform in den nächsten Jahren drasder Konzern leisten, nur 20 Prozent der tisch steigende Benzinpreis, so ein Audigieaufwand recycelbar ist.
Stratege, werde dem Absatz des DreiliterAnders als im Flugzeugbau fristete der Arbeitsschritte Robotern zu überlassen.
Für die A2-Herstellung gelang es, die Ma- autos „gewiss nicht schaden“.
Leichtbau in der Autobranche bisher ein
Nischendasein. Zwar gab es immer wieder schinen mit dem Leichtmetall auszusöhnen.
Carsten Holm
Wettstreit der
Werkstoffe
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Kultur
Szene
FILM
„Wie beim Gladiatorenkampf“
DPA
SPIEGEL: Herr Emmerich, ähnlich wie an amerikanischen High
Schools laufen jetzt auch in Deutschland Jugendliche Amok
mit tödlichen Folgen. Tragen Filme wie „Tötet Mrs. Tingle!“ daran eine Mitschuld?
Emmerich: Nun ja, im Kino sieht es eben oft sehr cool aus, wie
Leute umgebracht werden. Doch viele Jugendliche können offenbar nicht mehr unterscheiden zwischen Realität und Fiktion. Die erschießen jemanden, und dann lachen sie sich tot, weil
sie gar nicht kapieren, dass der nicht mehr aufsteht.
SPIEGEL: Hat es im Kino nicht schon immer Gewalt gegeben?
Emmerich: Richtig, und doch hat sich in den letzten Jahren etwas verändert. Als Sam Peckinpah 1969 in Zeitlupe zeigte, wie
Geschosse menschliche Körper zerreißen, waren die Zuschauer ungeheuer schockiert. Wenn heute in einem Film am Ende
der Gute den Bösen auf brutalste Art und Weise umbringt, jubeln alle wie verrückt – wie beim Gladiatorenkampf.
SPIEGEL: Klingt wie ein Schuldeingeständnis.
Emmerich: Jeder muss mit sich selbst abmachen, wie weit er
gehen will. 1992 habe ich „Universal Soldier“ gedreht mit JeanClaude Van Damme und Dolph Lundgren. Was sollte ich da
anderes machen, als sie sich die
Köpfe einschlagen zu lassen?
SPIEGEL: Drehen Sie so etwas gern?
Emmerich: Nein, es war eine rein
mechanische Angelegenheit. Bummbumm-bumm – und das war’s.
Nachdem meine Mutter den Film
gesehen hatte, sagte sie: Roland, das
war schon ziemlich extrem. Schon
deswegen habe ich auf so etwas
keine große Lust mehr.
Emmerich
L I T E R AT U R
Waldemars Traum
vom Steinzeitsex
J
unger Mann aus Polen bricht, fast
ohne Geld, zu seiner ersten Reise in
den Westen auf – und landet dabei unter
miesen Ausbeutern, fremdenfeindlichen
alten Damen und pfiffigen Tagedieben
im schönen, schaurigen Wien. Im
schlimmsten Fall hätte aus diesem Buch
eine Art Papalagi-Roman der Neunziger
werden können, voller wohlfeiler Kritik
an der westlichen Dekadenz, gesehen
diesmal nicht mit den Staune-Augen
eines Südsee-, sondern eben eines Ostblock-Insulaners. Im Glücksfall des in
Wien lebenden und aus Polen stammenden Autors Radek Knapp, 35, wurde dard e r
CINETEXT
Roland Emmerich, 44, deutscher Hollywood-Regisseur
(„Independence Day“, „Godzilla“), über Gewalt im Kino und
seinen Zeitreise-Thriller „The 13th Floor“, der jetzt in die
deutschen Kinos kommt
Emmerich-Film „Universal Soldier“ (1992)
SPIEGEL: Auch in dem von Ihnen produzierten neuen Film „The
13th Floor“ gibt es einen Kopfschuss zu sehen.
Emmerich: Ja, aber es ist ein realistischer Kopfschuss. Jemand
stirbt tatsächlich, das zeigt die Grausamkeit des Tötens. So etwas nur anzudeuten hätte bei weitem nicht diese Wirkung.
aus der wunderbar filigrane Schelmenroman „Herrn Kukas Empfehlungen“.
Knapps Held heißt Waldemar und ist
nur vordergründig ein unschuldigtraumäugiger Parzival; in Wahrheit
lernt er, angeleitet von den Tipps des
höchst zwielichtigen Orakel-Onkels
Kuka aus der Warschauer Heimat, sehr
schnell, sich in der westlichen Großstadt durchzuschlagen. Dabei
ist Wien naturgemäß ein mit
allerlei Skurrilitäten gesegneter Schauplatz, der obendrein
von bizarren Typen bevölkert
wird. Ausgerechnet ein Stuttgarter Medizinstudent beispielsweise erweist sich in diesem Buch als skrupelloser
Kleptomane, der so virtuos
Feinkostspezialitäten und
Walkmen zusammenklaut, wie
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es Harald Schmidt und das Stammtischklischee gern den Polen nachsagen.
Waldemar staunt: „Mir wurde klar,
dass ich soeben einen Künstler bei der
Arbeit gesehen hatte.“
In scheinbar kunstlosen, geradlinigen
Sätzen voller hintergründigem Humor
erzählt Knapp von erotischen und kapitalistischen Versuchungen, lässt seinen
Helden von „regelmäßigem
Steinzeitsex“ delirieren und in
böse Fallen tappen – und zimmert aus den Verwirrungen
des Zauberlehrlings Waldemar
eines der unterhaltsamsten
und durchtriebensten Bücher
der Saison.
Radek Knapp: „Herrn Kukas Empfehlungen“. Piper Verlag, München; 252 Seiten; 38 Mark.
283
Szene
AU S S T E L L U N G E N
Kunst der Verfemten
ie hießen „Schreckenskammer“ oder „Entartete Kunst“:
Ausstellungen, in denen die Nazis
von 1933 an moderne Kunst verhöhnten. Sie prangerten Werke
von bekannten Avantgarde-Malern wie Wassily Kandinsky oder
Max Beckmann an – aber auch
von Kollegen, die erst dabei
waren, sich einen Namen zu machen: junge Künstler, um 1900
geboren, die einmal eine zweite
Generation der Moderne bilden
sollten. Malverbote verhinderten
schon den Beginn ihrer Karrieren. Einige konnten emigrieren,
Isenburger-Bild (1926/30)
nicht wenige starben im Krieg
oder in Konzentrationslagern. Die Überlebenden
aber fanden nach 1945 mit ihrer oft figürlich und
expressiv orientierten Kunst schwer Anschluss an
die neue abstrakte Zeit im Westen oder an den
sozialistisch genormten Realismus im Osten
Deutschlands. Viele Bilder aus der Vorkriegszeit
verschwanden auf Speichern. Der Kunstantiquar
Gerhard Schneider stieß in den achtziger Jahren
auf einen der verschollenen Kunstschätze, er begann zu forschen und zu sammeln. Jetzt stellt das
Museum Baden in Solingen-Gräfrath unter dem
Titel „Verfemt, Vergessen, Wiederentdeckt“ 540
Gemälde und Grafiken aus Schneiders Bestand bis 12. März
aus. Sie stammen von meist unbekannten, oft aber hoch
talentierten Künstlern; darunter der Maler Slavi Soucek oder
sein Kollege Valentin Nagel mit seinen kubistisch beeinfluss-
MUSEUM BADEN
S
Nagel-Gemälde (um 1927), Soucek-Zeichnung (1933, o.)
ten Porträts. Nagel, vom NS-Kunstterror zermürbt,
war 1942 nach mehreren Herzinfarkten mit 50 Jahren gestorben. Eric Isenburger, Jahrgang 1902,
flüchtete 1939 nach Frankreich – und landete im
Internierungslager. Ihm gelang eine zweite Flucht
in die USA. Der Mann, der in den späten zwanziger Jahren
das ernste Bildnis eines „Jüdischen Mädchens“ geschaffen
hatte, blieb wie viele seiner namenlosen Künstlergeneration
auch im Exil ein Außenseiter.
Kino in Kürze
„Es beginnt heute“. Weit weg von Paris
(Philippe Torreton) leitet die Vorschule
einer Kleinstadt, in der die Arbeitsplätze rar sind und die Familien an Armut,
Alkohol, Gewalt oder Hoffnungslosigkeit zerbrechen. Wie Sisyphos stemmt
sich Daniel gegen den grassierenden Verfall, versucht, Sozialarbeiter
zu alarmieren, Gelder zu beschaffen und verstörte, misshandelte Schützlinge zu retten. Mit leidenschaftlicher
Wut schildert Regisseur Bertrand Tavernier, wie gerade
die Schwächsten der Gesellschaft von der Politik im Stich
gelassen werden. „Es beginnt
heute“ ist weniger ein klassischer Spielfilm als eine Bestandsaufnahme und ein Appell: das verzweifelte SOS eines Sisyphos, dem allmählich
die Kräfte ausgehen.
ARSENAL
und den Beziehungsspielchen selbstverliebter Metropolen-Yuppies, die der französische Film sonst so liebevoll ausbreitet, ist dieses herbe sozialrealistische
Drama angesiedelt. Sein Held Daniel
Szene aus „Es beginnt heute“
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„Wonderland“. Was er anpackt, ist jedes
Mal frisch und lebhaft: Das macht Michael Winterbottom zum Power-Mann
unter den jüngeren britischen Regisseuren. Diesmal verfolgt er mit 16-mm-Handkamera und ungefiltertem O-Ton ein
Wochenende lang die Mitglieder einer
Londoner Kleinbürgerfamilie: ein vom
Leben zermürbtes Elternpaar, dazu drei
erwachsene Töchter und ein spätgeborener Sohn, die alle längst mit den eigenen
Miseren ihre eigenen Wege gehen. Nichts
Sensationelles geschieht; Frust siegt über
Lust; man trifft sich, ohne sich viel zu sagen zu haben; ein Hund wird vergiftet,
und ein Kind wird geboren, das den Namen Alice bekommt, weil man doch nie
aufhört zu hoffen, diese Welt könnte
sich als „Wonderland“ erweisen. Mit einer Hand voll wunderbarer Schauspieler
lässt Winterbottom aus banalem Lebensrohstoff Lebenswahrheit hervorscheinen.
Kultur
POP
Am Rande
Postumer Krieg
Schwer hystorisch
D
D
AFP / DPA
er Hotelgast in Zimmer 524 des
Ritz Carlton in Sydney war nackt,
als er gefunden wurde; sein Hals hing in
der am Türgriff befestigten Schlinge eines Ledergürtels. Selbstmord? Ein Unfall beim Experimentalsex? Darüber
streitet Paula Yates, die Verlobte des Toten, bis heute, zwei Jahre danach, mit
den australischen Behörden, die den Fall
längst unter der Rubrik „Suizid“ zu den
Akten gelegt haben. Ein Skandal war es
auf jeden Fall – denn der Tote hieß
Michael Hutchence, war erst 37 Jahre alt
und Sänger der australischen Popgruppe
INXS. Zuletzt hatte vor allem sein Zwist
mit Yates’ Ex-Mann, dem „Live Aid“Konzert-Organisator Bob Geldof, für
hässliche Schlagzeilen gesorgt. Nun gibt
es einen postumen Kommentar zur Liebesschlacht: „Alles ist erlaubt in der
Liebe und im Krieg“, singt Hutchence
auf einem zum zweiten Todestag erschienenen Soloalbum (V2 Records).
Hutchence (1997)
Und als hätte er die erbitterten Kämpfe
um sein Erbe vorausgesehen – es geht
um mehrere Millionen Pfund –, tönt
Hutchence in „Slide Away“: „Ich will
einfach nur davonsegeln – und wieder
lebendig werden.“
archäologischer Fundstücke und zahlreiche – erstmals öffentlich zugängliche
– Handschriften Freudscher Schlüsseltexte; dazu Originaldrucke wie die
schmucklose Broschüre „Warum
enau ein Jahrhundert nach dem ErKrieg?“, in welcher der Völkerbund
scheinen der „Traumdeutung“, ei1933 den Briefwechsel zwischen Freud
nem Hauptwerk Sigmund Freuds, erinund Einstein veröffentlichte. Kritisches
nern zwei Ausstellungen in Wien an den
zum Paternalismus der Seelendoktorei
Begründer der Psychoanalyse. „Konflikt
gibt es ebenfalls: „Freud war der Vater
und Kultur“ heißt die umfangreichere
der Psychoanalyse.
Mutter hatte sie keine“,
verkündet im Großformat ein feministisches
Bonmot von Germaine
Greer. Als fortwirkende
Diskussion, nicht als
starres Museumsobjekt
zeigt auch die Parallelausstellung „Psychoanalyse in Bewegung“
ihren Gegenstand – in
der legendären Berggasse 19, wo der Erforscher des Unbewussten
Freud (1938), Notizen für eine BBC-Rundfunkrede (1938)
von 1891 bis 1938 lebte
und praktizierte. Das Kernstück dieser
von beiden, die zunächst in Washington
Schau ist ein 16-mm-Stummfilm von
zu sehen war und nun bis zum 6. Febru1929, in dem der Freud-Analysand und
ar im „Aurum“ der Nationalbibliothek
Kamera-Amateur Philip R. Lehrman den
am Josefsplatz präsentiert wird. Im
Meister im Kreise seiner Schüler zeigt.
Zentrum dieser Schau steht, hinter
Unter ihnen eine von Freud analysierte
Glas, eine Rekonstruktion der berühmUrgroßnichte Napoleons – Marie Bonaten Couch mit dem originalen Teppichparte (1882 bis 1962), die mit ihrem erÜberwurf. Darum herum gruppieren
erbten Vermögen 1938 dem greisen und
sich so verschiedenartige Dokumente
krebskranken Gelehrten zur Flucht vor
wie das (glänzende) Abiturzeugnis und
den Nazis ins Londoner Exil verhalf.
die Steinbeile des besessenen Sammlers
K U LT U R G E S C H I C H T E
Stummfilmheld Freud
SIGMUND FREUD HAUS ARCHIV WIEN
COURTESY MARK PATERSON ASS. / LIBRARY OF CONGRESS
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er wachsende Bauch, das
schwindende Haar, die Verständnislosigkeit in den Gesichtern der Jüngeren, wenn der reifere Fußballfreund sehnsuchtsvoll
den Namen Wolfgang
Overath ausruft – echte Kümmernisse des
Älterwerdens. Dann
aber gibt es Sorgen,
die hätte der Angejahrte gern. Sie stehen
in der „FAZ“, hinter
der offenbar nicht
nur ein kluger, sondern manchmal auch
ein wackelnder Kopf
steckt. „Wie lange wird
es dauern“, fragt der Herausgeber
Frank Schirrmacher, „bis irgendein relevanter Künftiger uns allsamt und das, wofür wir stehen,
zu Geschöpfen des letzten Jahrtausends erklären wird?“
Wie aufregend schrecklich, diese
drohende numerische Entwertung:
Ätsch, ich hab die 20 in meinem
Geburtsjahr und ihr bloß die 19.
Nun müssen die „FAZ“-Leser zusammen mit vielen Edelfedern unter dem Titel „Das Moses-Projekt“ über das hundsgemeine Weiterfließen der Zeit nachdenken
und die hochwichtige Frage, ob die
Gegenwart „elegisch“ oder gar
„vergeudet“ sei – als gäbe es am
Ende der Geschichte den großen
Spaßbewerter und Abrechner.
Schon recht: Rückblicke zum Jahrtausendende sind angebracht, so
viel Zeit für Geschichte muss sein.
Aber die Frage, wie es der in der
Gegenwart ergrauende Mensch
schaffen könnte, mit historischen
Selbstbeschreibungen künftigem
Vergessen oder künftigem Naserümpfen durch später Geborene
zuvorzukommen, hat doch schwer
hystorische Züge. Gegen geschichtliche Blässe hilft geschichtliche Reflexion wenig.
Immerhin, ihr 2000er, ihr habt die
Nullen, wir aber hatten Overath.
285
Kultur
MUSIK
Von der Wall Street nach Walhall
Der amerikanische Multimillionär Alberto Vilar ist der spendabelste Mäzen der internationalen
Musikszene. Jetzt will der Investor und Opernfreak auch in Deutschland einsteigen:
Bayreuth und Baden-Baden können auf reichen Dollarsegen hoffen. Von Klaus Umbach
O
nossen: „Unglaublich, traumhaft, jedes Mal
großartiger.“
So einer wie Vilar steckt nicht nur seine
geschäftlichen Flugrouten, sondern seinen
ganzen privaten Lebensplan nach den
Hochburgen der Gesangskultur ab, Kurs
Salzburg und Wien, London und St. Petersburg, Bayreuth, Glyndebourne, New
York. Vilar jettet nach Noten.
Die 30 Räume seines Appartements in
Manhattan hat er als Schrein der Tonkunst
ausstaffiert, mit Zimmerdecken wie im
Salzburger Mozarteum und Kronleuchtern
wie in der New Yorker Met, mit Statuen
von Mozart und Mozarts Don Giovanni in
den Gemächern und einem gläsernen Esstisch in Form einer Laute.
In diesem Fundus fühlt er sich wohl, dieser Single und, nach eigener Einschätzung,
„gesellschaftlich scheue Mensch“: „Mein
Leben brauche ich mit niemandem zu teilen:
keine Katze, keine Frau, kein Hund.“ Kaum
Kino, kaum Bücher, kaum Fernsehen. Nur
Oper, Oper, Oper – und Dollars zuhauf.
So einen wie diesen Alberto Vilar hat
die Welt noch nicht gesehen, nicht mal die
verrückte Welt der trällernden Primadonnen und der schmachtenden Tenöre. Denn
Vilar ist vielfacher Millionär und schmeißt,
wie es aussieht, den Singtempeln das Geld
nur so zum Fenster rein. Für sein lieb Kind
verschenkt er ein Vermögen.
„Ich kann keine Schecks ausstellen, um
den Hunger in Biafra zu stillen, das ist Sache der Politiker“, kommentiert Vilar seine zielgerichtete Geberlaune, „aber ich
helfe den Menschen, Spaß an der Oper zu
haben. Ich weiß, wie man Money macht,
hoffe, Gutes zu tun und an meiner Legende zu basteln.“ Dabei ist dieser großzügigste Mäzen der heutigen Musikszene
längst Legende – ein Robin Hood aller Toscas und Traviatas.
Allein letztes Jahr hat er der New Yorker Met 25 Millionen Dollar überwiesen,
zusätzlich für vier Neuproduktionen je
2 Millionen zugesagt und für künftige Projekte noch einmal 20 Millionen in Aussicht
gestellt.
2,5 Millionen Dollar stiftete er der New
Yorker Carnegie Hall für die Restaurierung ihrer Fassade an der Seventh Avenue,
wo ein neues Theater eingerichtet werden
S. HARTZ / AGENTUR FOCUS
per ist Opium fürs Volk der Melomanen. Belcanto benebelt herrlich
die Sinne, schon ein einziges hohes C stimmt high, jedes satte Crescendo
sorgt für den Kick zur seligen Dröhnung.
Oper singt die Leute um den Verstand, und
genau deshalb gehen die Leute hin.
Mit „Aida“ im Ohr heben sie ab, Mimis
eiskaltes Händchen treibt ihren Puls, die
chromatischen Räusche von Wagners
„Tristan“ entzücken gar ihre Lenden. Und
hängen sie erst mal am Stoff, dann knien
sie ein Leben lang vor ihrer heiligen
Maria mit dem Nachnamen Callas. Kurzum, der gemeine Opernnarr ist selten ganz
bei Trost.
Doch so einer wie dieser Amerikaner ist
selbst unter all den schöngeistigen Schwärmern und Spinnern ein Radikaler, ein
schrulliger, manischer Extremist, der bei
der ersten Koloratur den klaren Kopf verliert: „Wenn ich eine tolle Stimme höre,
bin ich weg“, diagnostiziert Alberto Vilar,
59, seine Sucht, „ein paar schöne Töne,
und ich raste aus.“ Von Oper kann dieser
Mister den Hals nicht voll kriegen.
Jedes Jahr sitzt er, im Schnitt, rund hundert Abende in Musiktheatern und Konzertsälen. 1998 hat er sechsmal dieselbe Inszenierung von Puccinis „Turandot“ ge-
Metropolitan Opera in New York: „Ich mag nun mal Hülle und Fülle“
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Festspielhaus Baden-Baden: Ein riesiger Tempel
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tall und viel Glas der greisen Königinmutter gewidmet.
Queen Mum, ganz in Grellblau und trotz
Schnupfens guter Dinge, gab ihm denn
auch die Ehre, der Weihe der Halle persönlich beizuwohnen, „und sie hat sich bei
mir sehr herzlich bedankt“, sagt Vilar stolz.
„Dass jemand danke sagt, ist leider keine
Selbstverständlichkeit.“
London jedenfalls dankt ihm. Schon ist
der Name des Gönners unübersehbar in
den Stein der neuen Opernhausfassade gemeißelt: Die Floral Hall heißt fortan Vilar
Floral Hall. Der Samariter steht damit unter Denkmalschutz.
Nun, im neuen Millennium, zieht es den
globalen Gönner auch nach Deutschland.
Hier, in Bachs und Beethovens Germany,
hat er seinerzeit zwei Jahre bei der Army
gedient und den Standort genutzt, um seine klassische Plattensammlung aufzustocken und eine Stereoanlage von Grundig zu erstehen, damals der letzte Schrei
der Technik. Jetzt kommt er als gemachter
Mann zurück, und nun halten auch die
Deutschen die Hände auf: Haste nich’ mal
’ne Million?
Natürlich hat er. Aber so ein ausgebuffter Geldvermehrer investiert – Oper hin,
Oper her – nicht ins Blaue, weder in Bayreuth noch in Baden-Baden, die neuerdings
ganz oben in seiner Gunst stehen. „Das alles“, sagt der Nadelstreifen in Sarastros gedämpftem Tonfall, „will und muss wohl
überlegt sein.“
Auf dem Grünen Hügel hat er schon
vor Jahren Feuer gefangen. „Of course“
mag er Wagners Opern, der Komponistenenkel Wolfgang mache als Festspielchef
„a very good job“, der Bayreuther Chor
sei „the best worldwide“, die Akustik „a
dream“.
Klar, wenn an diesem mythischen Ort
die Kasse nicht mehr stimme, weil sich bei-
auf höchst wackligem Grund
REX FEATURES
T. BARTH / ZEITENSPIEGEL
S. VALESKA
wird auch deren geplanter
Prokofjew-Oper „Krieg
und Frieden“ kräftig unter die Arme greifen.
Für den neuen „Fidelio“
im Sommer 2000 kann
auch das britische NobelFestival Glyndebourne mit
einer Millionen-Spritze
aus Vilars Kasse rechnen,
und eben erst hat dieser
Wohltäter die Starsopranistin Jessye Norman für einen Abend an seine frühere Universität in Pennsylvania engagiert: „Macht
locker 100 000 Dollar“,
sagt er, ein teurer Spaß.
Letzten Dienstag hatte
Vilar sogar einen königlichen Auftritt. Kurz bevor
nächsten Monat Londons
völlig renovierte Covent
Garden Opera wieder eröffnet wird, durfte er in
kleinstem, feinstem Kreise
schon mal jene Floral Hall
betreten, deren viktoriaOpernmäzen Vilar: „Keine Katze, keine Frau, kein Hund“
nische Kuppel sich einst
soll. Gleichzeitig sicherte er dem Institut über einem Blumenmarkt wölbte und
für die nächsten Jahre die sündhaft teuren deren maßstabgetreues Remake nun das
Gastspiele der Wiener Philharmoniker zu. neue Foyer überdacht, wo die Ladys and
Sechs Millionen Dollar will er in den Gentlemen auf ihrem Weg zu Augennächsten fünf Jahren für die Salzburger schmaus und Ohrenweide demnächst lustFestspiele lockermachen. Dem Mariinski- wandeln werden.
Rund 30 Millionen Mark hat Vilar für
Theater im chronisch klammen St. Petersburg finanzierte er einen „Lohengrin“ und Covent Gardens Comeback bereits ausgegeben oder noch in petto.
Der Wiederaufbau der
Floral Hall ist vor allem
durch seine milden Gaben
finanziert worden, und er
hat diesen prachtvollen
Dom aus filigranem Me-
Covent Garden Opera in London mit Vilar Floral Hall: Jetten nach Noten
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spielsweise die öffentliche Hand zurückziehe, dann werde er helfen; Ehrensache.
Diese Woche hat er daheim in New York
zur Wagner-Party geladen. Wolfgang und
Gudrun, das festspielleitende hohe Paar,
sind Ehrengäste, 85 handverlesene Herrschaften der Wagner-Society kommen zum
Gipfel.
Nicht ausgeschlossen, dass der Gastgeber schon bald dem legendären Bayernkönig Ludwig II. nacheifert und sein Füllhorn
auch über dem Festspielhaus öffnet. Seine
Schecks sind bekanntlich nicht von Pappe,
und dem amtierenden Festspielchef, dem
viele gern längst den Thron vor die Tür gesetzt hätten, käme so ein Freak in Spendierhose jetzt gerade recht.
Zögerlicher äußert sich Vilar zu einem
Engagement in Baden-Baden, wo die Geldnot ungleich größer ist: Schon ein paar Mal
stand dort der riesig dimensionierte Festspieltempel vor dem Kollaps und dem Konkurs, und immer noch steht er auf wackligem Grund.
Das Haus sei zu groß, die Stadt zu klein
und zu arm, sagt Vilar. Aber natürlich reizt
ihn, der längst den Durchmarsch von der
Wall Street nach Walhall geschafft hat, der
spekulative Kitzel um eine fragwürdige Investition. Immerhin wird auch am Rand
des Schwarzwalds Oper gespielt, da spitzt
er wie immer die Ohren.
Schon ein paar Mal war Vilar vor Ort der
Helfer aus der Bredouille. Das Baden-Badener Gastspiel des Met-Orchesters unter
James Levine hat er „mit vielen Millionen
Dollar“ ermöglicht, und als eine Tour des
St. Petersburger Mariinski-Theaters an die
Oos auf der Kippe stand, übernahm er einfach die kompletten Kosten, und die Zuschauer durften gratis ins Haus.
Aber auf ein längerfristiges Konzept und
damit eine feste Bindung will er sich noch
nicht festlegen. Kann sein, dass er mit drei,
vier anderen, vermutlich deutschen Investoren gemeinsame Sache macht; über
einen Gesellschaftervertrag ist schon verhandelt worden, auch über Vilars mögliche Rolle als Primus; abwarten.
Helfen, diesen Koloss wieder flottzumachen, will er auf jeden Fall. Aber Peanuts,
das weiß er, reichen da nicht: „Das kostet
viel, viel Geld.“
Wie kommt eigentlich ein amerikanischer Geschäftsmann dazu, Millionen aus
seiner Privatschatulle in Opernbühnen und
Orchestergräben zu stecken, bis weit ins
badische Hinterland? Ist es ein smarter
Spleen? Oder philanthropisches Sendungsbewusstsein, das in den Augen kritischer Beobachter bei Vilar längst zu reaktionärem Kulturgehabe wurde? Eher das
Resultat eines – letztlich segensreichen –
Erziehungsfehlers.
Für Vilar, den Mann aus New Jersey, der
als Sohn eines kubanischen Zuckerbarons
geboren wurde, ist der manische Hang zur
klassisch-europäischen Musik einfach die
skurrile Folge väterlichen Liebesentzugs.
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Der Herr Papa hatte auf
Castros Kuba sein ganzes Vermögen verloren. Aber er war fest
davon überzeugt, dass der linke
Vogel auf der Insel schon bald
umgebracht werde und sich die
Zeitläufte dann wieder zum Besseren, zu vollen Kassen, wenden
würden. Für diesen Fall sollte
Alberto vorbereitet sein und
folglich Banker werden.
Doch der Junge hatte, als er
zehn war, anderes vor und den
Kopf voll Klassik: Geige wollte er
lernen oder Dirigent werden. In
jeder freien Minute hörte er Platten mit Klaviersonaten, Opernarien, Sinfonien. Er sei ein
„Langhaar“, schalt ihn der Vater, dieser Latino-Macho wie aus
dem bösen Bilderbuch, und bestand auf einer Laufbahn Richtung Wall Street. Alberto parierte – Big Business vor Augen,
große Oper im Sinn, viel Wut im
Bauch.
Sein Groll über das väterliche
Diktat sitzt tief, bis heute, und
aus dem Groll wurde eine Ob- Salzburger Busoni-Inszenierung „Doktor Faust“: „Im wahrsten Sinne glücklich“
session: Er, Alberto Vilar, möchVersteht sich, dass so ein steinreicher das viele Geld geblieben?“ Und auch dass
te als heiligster aller Mäzene in die Musikgeschichte eingehen. Könnte hinhauen, Kassenwart auch gern sieht, wenn die Oper die Met ihre Mäzene nicht hinreichend würklotzt: „Ich mag nun mal Hülle und Fülle.“ digt, macht ihn gelegentlich zornig.Wenn er
die Mittel dafür sind da.
Nach High School und College verding- Franco Zeffirelli, Italiens Grossist für Büh- das Programmheft aufschlage, lese er erst
te sich Vilar zunächst bei der Citibank, be- nenpomp und Garderobenplunder, ist bis einmal, wer das Libretto geschrieben habe.
gann 1967 als Portfolio-Manager und Ana- heute sein Lieblingsregisseur, von dem „Und was ist mit dem Kerl, der den Scheck
unterschrieben hat?“
lyst und gründete 1980 die Firma Amerin- kann er nicht genug kriegen.
Im zweiten Akt von Zeffirellis steinalter
Und doch ist Vilar kein Berserker, kein
do Investment Advisors. Mit ihr setzte er in
der Morgenröte der Hightech-Ära auf die „Bohème“ an der Met tummeln sich hun- Vielfraß des Musiktheaters, der Bullshit
Zukunftsmärkte des Internet, kaufte sich derte von Mitwirkenden im Guckkasten, schreit, wenn keiner aast. Bei allem Hang
bei Microsoft, Compaq, Intel, Oracle, Cis- ein Esel ist darunter und auch ein Pferd da- zur großen Kiste sieht er die Oper nicht mit
co und Yahoo ein, gewann einige der größ- bei: „Das ist richtige Oper“, sagt Vilar dann Scheuklappen und hat durchaus auch ein
Ohr für Nuancen, für leise Klänge und Zwiten Pensionsfonds in den USA und England begeistert, „so ist die Met! Great!“
Kein Wunder auch, dass er empfindlich schentöne.
als Kunden und verwaltet heute, als
Die neue Salzburger Busoni-InszenieAmerindo-Präsident mit Zwölf-Stunden- reagiert, wenn sich Widerspruch regt.
Tag, ein Vermögen von über acht Milliar- Nachdem die „New York Times“ Zeffirel- rung von „Doktor Faust“, die der nicht gelis letzte „Traviata“ verrissen hatte, emp- rade traditionshörige Peter Mussbach auf
den Mark. Tendenz: steigend.
fahl er deren Kritiker, „bes- die Bühne gebracht hat, findet er „fantasser angeln zu gehen“, der tisch, einfach großartig“. Die neutönerisch
Typ verstehe „nichts von gestimmte Vortragsreihe des Pianisten
seinem Job.“ Das Publikum Maurizio Pollini lobt er als „eines der auf– „und das ist nicht blöd“ – regendsten Erlebnisse meines Lebens“.
habe getobt und er seine
Und wenn er an einem Sonntagmorgen
zwei Millionen Sponsoren- in Salzburgs Großem Festspielhaus sitzt
Dollar goldrichtig angelegt. und anderthalb Stunden „nonstop“ BruckNein, in Geschmacksfra- ner oder Mahler hört, dann hebt dieser
gen ist Mister Vilar nicht ge- coole Börsenhai regelrecht ab, „dann bin
rade pingelig. Noch immer ich im wahrsten Sinne glücklich“.
rühmt er seine Weitsicht,
Bei Wotan, dieser glückliche Alberto
vor Jahren zu Bob Wilsons Vilar hat sich die Oper verdient und um die
„Lohengrin“ keinen mü- Oper verdient gemacht. Er ist der leibhafden Cent beigesteuert zu tige Beweis dafür, dass Dow Jones und
haben: „Nichts als Kno- „Don Giovanni“ durchaus zum Zweckchen“ habe es auf der Büh- bündnis taugen. Bayreuth und Badenne gegeben: „Wo, ver- Baden könnten daraus schon bald Kapital
dammt noch mal, ist nur schlagen, ganz Deutschland sollte daraus
seine Lehren ziehen: Opernnarren sind
zwar Narren, aber – demnächst wohl in al* Mit Opernsänger Thomas Hamplen Theatern – unverzichtbar.
™
son, Begleiterinnen.
Salzburger Partygast Vilar (r.)*: Räusche in den Lenden
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FOTOS: F. NEUMAYR
Kultur
Kultur
abgefilmter Wirklichkeit ist gar nicht so
leicht nachzuahmen. Das „Blair Witch Project“ aber verrät sich nicht. Es bleibt in jeder Einstellung glaubhaft.
Die im Wald herumirrenden Darsteller
haben die richtigen DurchschnittsgesichDie Schauerfabel „Blair Witch
ter und tragen die richtige Kleidung, sie
Project“ war der Überraschungshit
pflegen den richtigen Sarkasmus und spredes amerikanischen Kinojahres –
chen unverfälschten Jugendslang – einob zu Recht, lässt sich nun auch in
schließlich der rund 150 „fucks“, mit denen
sie ihre Sätze garnieren. Insofern kann
Deutschland überprüfen.
sich jeder jugendliche Zuschauer an ihre Stelle alpträus war eine Schnapsidee,
men. Heather, Joshua und Mike
einer dieser Late-Nightsind Statthalter der amerikaniGedankenblitze, die einem
schen Jugend mit ihrer Sorgeinfallen, wenn man ziemlich
losigkeit, ihrer Selbstgewissheit
jung ist, zu viel Zeit, zu wenig
und dem festen Glauben, dass
Geld und ziemlich was getrunken
nichts wirklich schief gehen
hat. Einer fragte: Was hat uns zukann.
letzt wirklich Angst eingejagt?
Aber es geht natürlich schief.
Und dann haben alle gegrübelt
Die drei merken nach einiger
und irgendwelche halb vergesZeit, dass sie im Kreis laufen;
senen Alien-Filme aus ihrem
sie verlieren ihre Landkarte; sie
Gedächtnis hervorgekramt, derfinden sonderbare Steinkreise
entwegen sie sich als Kinder
um ihr Zelt; in den Bäumen
schlotternd im Schrank verkrobaumeln rätselhafte, aus Zweichen hatten.
gen gebastelte Fetische. Sie
Am Ende sagte einer: Genau
streiten um die Anführerschaft,
so einen Film sollten wir dreschreien sich an, verlieren die
hen. Aus 999 von 1000 solcher
Nerven. Ihre Selbstsicherheit
Ideen wird nie etwas, höchstens Darstellerin Heather Donahue
schwindet so schnell wie ihr
ein schwerer Kater am Morgen
Proviant.
danach. Aber ein paar besesseDie Zivilisation fällt von ihne Jungs von einer Filmhochnen ab; darunter lauern atavisschule in Florida widmeten
tische Angst und Aberglauben.
diesem Gedankenblitz einige
Aus den vernunftgläubigen BilJahre ihres Lebens. Heute ist
derjägern des ausgehenden 20.
die Schnapsidee wohl der proJahrhunderts werden Gejagte
fitabelste Film aller Zeiten:
einer Schimäre.
„Blair Witch Project“. HerstelTaumelnd, widerwillig und
lungskosten 35 000 Dollar, USfassungslos steigen sie in einen
Kassensturz 170 Millionen
Schrecken hinab, der ihr WeltDollar.
bild auseinander reißt. Wer
Hollywood war baff in dieHeather, Joshua und Mike als
sem Sommer, und die Medien
Statthalter seines eigenen Erleerklärten den Leinwand-David,
bens akzeptiert, wer glaubt,
der den arroganten Goliath in
dass es genauso gut ihn hätte
der Gunst der Zuschauer nietreffen können, den liefert das
dergerungen hatte, zum Helden
„Blair Witch Project“ der Frage
einer neuen filmischen Ära Darsteller Joshua Leonard, Michael Williams
nach dem Unerklärlichen in der
(SPIEGEL 33/1999). Die Zau- Szenenfotos aus „Blair Witch Project“: Gejagte einer Schimäre
Welt aus.
berformel des „Blair Witch ProDieses innere Grauen trägt den Film,
ject“, so lautete der Konsens, steckte in
Die Regisseure Daniel Myrick, 35, und
seiner PR-Kampagne.
Eduardo Sanchez, 30, hatten sich für die und darum muss er es nicht abbilden. Ob
Zugegeben: Zwischen Dreh und Film- amateurhaften, irritierend unruhigen Bilder tatsächlich eine Hexe hinter den ketzeristart lag ein cleverer, gut einjähriger Wer- im Anti-Hollywood-Stil eine einleuchtende schen Jungfilmern her ist oder nicht, bleibt
befeldzug via Internet, der den Film so Erklärung ausgedacht: Angeblich sehen wir offen. Es fließt kein Blut, es geschieht nicht
geschickt seiner Zielgruppe – der ameri- einen Zusammenschnitt von authentischen viel Furchterregendes, sekundenlang bleibt
kanischen Jugend zwischen 16 und 24 – als Aufnahmen, die drei Filmstudenten namens die Leinwand gar dunkel, während unGeheimtipp verkaufte, dass es gar nicht Heather, Joshua und Mike während einer heimliche Geräusche durch die Nacht spunach Hype aussah. Und dazwischen lagen mehrtägigen Recherche in den Wäldern von ken. Aber die Erwartung des unabwendauch rund 15 Millionen Dollar, die der Ver- Maryland gedreht haben. Die drei waren baren Schicksals klebt zäh und schwarz
leih letztendlich in den Feinschliff des An- einer alten Hexenlegende auf der Spur und wie Teer an der Geschichte.
Was hat uns zuletzt wirklich Angst einfängerwerks und in die Publicity steckte.
verschwanden – wie vom Erdboden verAber kein Film der Welt schafft so riesi- schluckt. Nur ihre Ausrüstung tauchte ein gejagt? Die Macher des „Blair Witch Project“ haben nicht nur die richtige Frage gege Zuschauerzahlen, wenn er nicht selbst Jahr danach wieder auf.
einen unwiderstehlichen Reiz ausstrahlt.
Die meisten gefälschten Dokumentarfil- stellt. Sie haben auch die richtige Antwort
Irgendetwas muss dran sein an der rätsel- me, „mockumentaries“ genannt, verraten gefunden: Es ist der Gedanke an die eigehaften Hexe.
sich irgendwann, denn die Kunstlosigkeit ne Sterblichkeit.
Susanne Weingarten
KINO
Reine Hexerei
Der Spektakelwert kann es nicht sein,
denn den hat die Schauermär nicht. Keine
Special Effects, keine Stars. Dazu reichte
das Geld nicht, logisch. Das langte nicht
mal für eine Profi-Kamera oder einen Kameramann: „Blair Witch Project“ ist von
seinen Darstellern (die 400 Dollar pro Woche bekamen und im Film ihre eigenen Namen tragen) selbst auf einem High-8-Camcorder und einer 16-Millimeter-Kamera gedreht worden.
FOTOS: ARTHAUS
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Werbeseite
Werbeseite
Kultur
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„Da leben lauter nette Leute“
Filmemacher David Lynch über „The Straight Story“, die idyllische
mittelwestamerikanische Provinz und Überlebenskämpfe in Hollywood
Eine einfache Geschichte, eine gerade
Geschichte, eine wahre Geschichte: Alvin
Straight, 73, ein knorriger Sonderling aus
dem Dorf Laurens in Iowa, will seinen
Bruder im Dorf Mount Zion in Wisconsin
besuchen. Weil Alvin keinen Führerschein
hat, doch seine Unabhängigkeit keinesfalls
preisgeben will, unternimmt er die 400-Kilometer-Reise ostwärts rittlings auf einem
Motor-Rasenmäher mit einer Spitzengeschwindigkeit von knapp zehn Stundenkilometern. Das war 1994. Der Regisseur
David Lynch, 53, hat nun Straights abenteuerliche Fahrt als Spielfilm rekonstruiert: Aus dem kuriosen Road Movie wird
eine bewegende Lebensreise.
SPIEGEL: Mr. Lynch, wahrscheinlich hören
Sie die ganze Zeit: „The Straight Story“,
das ist nicht der David-Lynch-Film, den
man von Ihnen erwartet hätte. Geht es Ihnen vielleicht auch selber so?
Lynch: In der Tat, und ich weiß immer noch
nicht genau, was ich dazu sagen soll. Man
muss sich rückhaltlos in eine Geschichte
verlieben, sonst wird nichts daraus, und
diesmal war es diese kleine Geschichte, die
so große Emotionen auslöst. Es ist wahr, ich
habe noch nie in einem Film so viel daran
gesetzt, alle Zuneigung auf eine Figur zu
bündeln.
SPIEGEL: Was Sie als Filmemacher berühmt
gemacht hat, war ein geradezu visionärer
G. SMITH / FSP
Lynch-Film „The Straight Story“: Reise auf dem
Regisseur Lynch: „Der Himmel lächelte auf uns herab“
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Blick für den unterschwelligen Horror, für
das Abgründige und Zerstörerische unter
der harmlosen Oberfläche des Alltags, besonders in einer ländlichen oder dörflichen
Szenerie. Ein Film wie „Blue Velvet“ oder
eine Fernsehserie wie „Twin Peaks“, die
Sie konzipiert haben: Das waren geradezu
Lektionen in Misstrauen gegenüber dem
Schein der Harmlosigkeit und der scheinheiligen Harmonie.
Lynch: Soll ich widersprechen?
SPIEGEL: Und nun überraschen Sie uns mit
einem Film, der ganz ungebrochenes Vertrauen in diese Harmonie ausstrahlt. Das
ist wie ein Widerruf. Es gibt in dieser
ganzen „Straight Story“ keinen Bösewicht.
Überrascht das nicht auch Sie selbst? Und
ist es eine Wendung von Dauer?
Lynch: Was soll ich sagen? Ich glaube, ich
weiß es nicht. Die wesentlichen Entscheidungen – zum Beispiel, was ich als Nächstes machen werde – geschehen ganz irrational, ganz intuitiv. Ich weiß wirklich
nicht, wovon mein nächster Film handeln
wird, ich kann es im Grunde erst wissen,
wenn ich mich so heftig in eine Geschichte verliebe, dass ich sie einfach machen
muss. Vielleicht wird es ganz finster sein.
SPIEGEL: Sie empfinden die Güte, die Milde von „The Straight Story“ also gar nicht
als etwas Besonderes?
Lynch: Auch im Leben von Alvin Straight
gab es ganz dunkle, ganz schreckliche Zeiten, und der Film verschweigt sie nicht,
seine alptraumhaften Kriegserlebnisse etwa oder das Schicksal seiner Tochter. Aber
Das Gespräch führte Redakteur Urs Jenny.
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SENATOR
was ich erzähle, ist eine Geschichte, die im
Wesentlichen in Wisconsin spielt, und Sie
können sich einfach nicht vorstellen, wie
gutartig man dort ist. Da leben lauter nette Leute. Ich konnte es selber nicht fassen,
vor acht Jahren, als ich mit meiner Freundin Mary Sweeney zum ersten Mal in den
Ort kam, wo sie herstammt; ich war geradezu alarmiert von dieser Nettigkeit und
dachte, man mache sich über mich lustig.
Aber diese Leute sind wirklich so. Niemand will Alvin Straight böse,
und um seiner Geschichte gerecht zu werden, muss man ihr
auch darin treu bleiben. Natürlich geschehen in Wisconsin genauso grauenhafte Dinge wie
überall auf der Welt, aber nicht
in dieser Geschichte. Keine Geschichte fasst die ganze Wahrheit über einen Ort oder eine
Person.
SPIEGEL: Wie sind Sie an diesen
Stoff aus dem wirklichen Leben geraten? Hat Ihre Lebensgefährtin Mary Sweeney Sie
darauf gebracht, die seit langem Ihre Cutterin ist und nun
zum ersten Mal, zusammen mit
Rasenmäher John Roach, auch Ihre Drehbuchautorin?
Lynch: Natürlich war es Mary. Sie stammt
aus Wisconsin, aus der Gegend, die Alvin
Straight durchquerte; sie war von seiner
Geschichte schon fasziniert, als sie vor fünf
Jahren davon hörte; sie sammelte alle Zeitungsartikel über ihn und sah einen Filmstoff darin. Es hat aber gedauert, bis sie
die Filmrechte dafür bekam, und dann hat
sie sich an die Recherchen-Arbeit gemacht,
zusammen mit John Roach, mit dem sie
befreundet ist, seit sie zusammen in die
Vorschule kamen. Ich habe mich herausgehalten, weil ich mir nicht vorstellen
konnte, dass das ein Stoff für mich wäre.
Als ich aber das Drehbuch gelesen hatte,
sah die Sache ganz anders aus. Ich war einfach hingerissen.
SPIEGEL: Entsprechen denn nur die äußeren
Fakten seiner Reise der Realität oder auch,
was man über seinen Lebenslauf und einzelne Episoden der Reise erfährt?
Lynch: Ich würde sagen, halb und halb. Das
sind sicher alles wahre Geschichten, die
man sich in der Gegend erzählt, aber nicht
alle hat Alvin Straight selbst erlebt.
SPIEGEL: Manche Details haben ja doch
einen auffällig absurd-komischen DavidLynch-Touch.
Lynch: Das war keine Absicht. Und wie
zum Beispiel Alvin über einen Hügel auf
einen Ort zugerollt kommt und ein brennendes Haus vor sich sieht, weil dort gerade eine Feuerwehrübung stattfindet – das
ist absolut authentisch. Wir haben uns
wirklich Mühe gegeben, Alvins Reise von
Station zu Station exakt zu rekonstruieren,
von Laurens in Iowa nach Mount Zion in
Wisconsin. Es war logisch und notwendig,
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* Jocelyn Montgomery with David Lynch: „Lux Vivens“.
Mammoth Records, New York.
RÖHNERT / KEYSTONE
der Route und der Chronologie zu folgen,
weil ja Alvin im Lauf der Zeit ein Bart
wächst, und wir haben für die Film-Reise
nicht viel länger als er selbst, vier Jahre
zuvor, gebraucht, gute sechs Wochen, vom
Spätsommer in den Herbst hinein.
SPIEGEL: Ist Ihnen unterwegs, wenn Probleme auftauchten, nicht angst und bange
geworden, mit Ihrem einzigen Hauptdarsteller Richard Farnsworth knapp unter 80
und dem Kameramann Freddie Francis ein
bisschen über 80?
Lynch: Der Himmel lächelte auf uns herab.
SPIEGEL: Hat Ihnen niemand, bevor die Sache konkret wurde, nahe gelegt, für die
Hauptrolle einen Star zu gewinnen?
Lynch: Ich habe einen Star! Oder könnten
Sie sich einen Besseren vorstellen?
SPIEGEL: Niemand, der den Film gesehen
hat, wird sich einen anderen vorstellen
können. Er ist großartig. Aber wäre der
Name einer wirklich berühmten Hollywood-Legende für dieses ausgefallene
Projekt nicht eine Attraktion gewesen?
Lynch: Wir haben viele Namen erwogen,
auch wirklich berühmte, aber am Ende alles Nachdenkens war ich mir so sicher, dass
ich nicht einmal Probeaufnahmen für nötig
hielt. Richard Farnsworth, der mehr als ein
halbes Hollywood-Leben als Stuntman zu
Pferde verbracht hat, sagt noch heute , dass
er gar kein Schauspieler sei. Aber ich finde, ein Schauspieler ist jemand, der eine
Person ganz von innen heraus glaubhaft
machen kann, und diese Gabe hat Richard
in ganz ungewöhnlichem Maß.
SPIEGEL: Sie müssen im letzten Jahr in einer besonders versöhnlichen Stimmung gewesen sein: Sie haben mit der jungen Sängerin Jocelyn Montgomery „Lux Vivens“
produziert, eine CD mit Liedern der heiligen Hildegard von Bingen, die in so himmlischen Harmonien schwelgt, dass man sie
nur als Weihnachtsgeschenk empfehlen
kann*. Wie kam es dazu?
Lynch: Jocelyn ist eine wunderbare Sängerin, und sie hat mich mit ihrem Enthusias-
Isabella Rossellini in „Blue Velvet“ (1986): Blick für den unterschwelligen Horror des Alltags
mus für diese alte Musik einfach überwältigt. Ich habe allerdings nicht wie sie
eine Wallfahrt nach Bingen gemacht.
Jocelyn hatte damals gerade meinen
Freund Monty Montgomery geheiratet,
den Produzenten meines Films „Wild at
Heart“, und ich hatte mir endlich ein eigenes Aufnahmestudio in einem Anbau
hinter meinem Haus eingerichtet, und
dort haben wir als erste Produktion „Lux
Vivens“ gemacht.
SPIEGEL: Von Ihnen sind also die Arrangements, aber Sie spielen doch auch verschiedene Saiten- und Schlaginstrumente
auf der Platte?
Lynch: Das Wort „Arrangement“ klingt zu
wichtig. Was ich entwickelt habe, könnte
man eine „soundscape“ nennen, eine
Klanglandschaft, über die Jocelyns Stimme
sich aufschwingt.
SPIEGEL: Früher, so hört man, sollen Sie ein
guter Trompeter gewesen sein.
Lynch: Nun ja. Als ich Chet Baker zum
ersten Mal hörte, habe ich kapituliert.
SPIEGEL: Sie sagen, Ihre Wahl von Filmstoffen und Ihr künstlerisches Vorgehen
seien ganz intuitiv. Aber Sie gelten doch als
ein höchst methodischer, rationaler, präzis
organisierter Film-Arbeiter.
Lynch: Beides ist notwendig, glaube ich.
Man kann nicht nur wild herumspinnen
und verrückt sein, sonst findet man ja seine Pinsel und Farbtöpfe gar nicht und
bringt nichts zu Stande. Das Methodische
und Organisierte ist die Voraussetzung, das
Fundament, auf dem man sich dann seinen
Kultur
kreativen Impulsen überlassen und so verrückt spielen kann, wie man nur will.
SPIEGEL: Das ist die Antwort eines Malers,
nicht eines Filmemachers.
Lynch: Ich sehe da keinen Unterschied.
SPIEGEL: Aber Sie müssen doch wissen, dass
95 Prozent aller Regisseure in Hollywood
mit Vorliebe darüber klagen, dass sie sich
mit ihren fabelhaften Ideen nicht durchsetzen können und dauernd Kompromisse
eingehen müssen. Sie etwa nicht?
Lynch: Nein. Jedenfalls nicht mehr. Mit dem
Film „Dune“ („Der Wüstenplanet“) bin
ich, weil ich noch jung und ahnungslos war,
bedauerliche Kompromisse eingegangen
und dafür bestraft worden, aber das ist
bald 20 Jahre her.
SPIEGEL: Aber Sie mussten auf manches
Wunschprojekt verzichten, weil es sich
nicht finanzieren ließ?
Lynch: Eigentlich nicht. Ich hatte immer
wieder das Glück, dass eine Sache, wenn
und was man mir anbietet, haben andere
schon abgelehnt. Ich rechne so wenig mit
solchen Offerten, dass ich nicht einmal
mehr einen Agenten habe.
SPIEGEL: Dennoch haben Sie sich Anfang
dieses Jahres nach langem Zögern noch
einmal auf eine höchst kommerzielle Unternehmung eingelassen. Sie haben eine
Fernsehserie konzipiert, mit einer jungen Frau als Hauptfigur, die bei einem
Autounfall ihr Gedächtnis verloren hat,
und Sie haben mit offenbar beträchtlichem Aufwand den Pilotfilm für diese
Serie „Mulholland Drive“ gedreht. Der
Ausgang der Sache soll katastrophal gewesen sein.
Lynch: Der Anfang immerhin war überhaupt nicht katastrophal, und die Dreharbeiten haben großen Spaß gemacht. Ich
war überzeugt, dieser Pilotfilm müsse
zweistündig sein, und habe ihn so angelegt, habe mich dann aber nötigen lassen,
SIPA PRESS
CINETEXT
agenturen, deren Interesse bei solchen Projekten das Entscheidendste ist.
SPIEGEL: Was wird nun daraus?
Lynch: Die Serienidee ist natürlich erledigt.
Aber bei einem so teuren Pilotfilm, dessen
Handlung ja offen bleibt, ist man immer
verpflichtet, als Krisenreserve ein behelfsmäßiges Ende zu drehen. So auch ich. Mit
diesem Ende wird der Sender ABC, der
ihn finanziert hat, „Mulholland Drive“ irgendwann als Fernsehfilm ins Programm
nehmen, und der Disney-Konzern, dem die
Rechte gehören, wird ihn wohl auch im
Ausland zu vermarkten versuchen. So sind
Überlebenskämpfe in Hollywood. Aber
natürlich trauere ich einer verlorenen
Chance nach.
SPIEGEL: Haben Sie eigentlich eine Schublade mit unrealisierten heimlichen Wunschprojekten?
Lynch: Es gibt solche Projekte, aber jedes
muss auf den richtigen Augenblick warten. Wann er gekommen ist, lässt sich oft
schwer sagen. Darum
halte ich auch immer
nach neuem Stoff
Ausschau.
SPIEGEL: In einem Interviewbuch* steht, Sie
würden gern aus Kafkas Erzählung „Die
Verwandlung“ einen
Film machen. Gibt es
ein Drehbuch dazu?
Lynch: Es gibt ein
Drehbuch. Ich liebe
diese Erzählung, die
so wunderbar einfach
Lynch-Film „Wild at Heart“ (1990), TV-Serie „Twin Peaks“ (1990): „Man kann so verrückt spielen, wie man nur will“ und so vieldeutig ist,
komisch, absurd, verich sie mit aller Kraft wollte, auch wirklich ihn auf 88 Minuten zusammenzustutzen, zweifelt. Aber ich weiß nicht, ob dafür jetzt
zu Stande kam. Aber mir ist bewusst, das und das war ein wirkliches Gemetzel. die richtige Stimmung wäre. Man muss das
ist im Film-Business ein sehr seltenes Diese Fassung hat den Geldgebern nicht spüren, und diese Ungewissheit beunrugefallen, dem Testpublikum nicht und am higt mich. Stellen Sie sich vor, Fellini würGlück.
SPIEGEL: Kommt es vor, dass große Studios wenigsten den Leuten von den Werbe- de heute „Achteinhalb“ herausbringen –
vielleicht würde das kein Mensch sehen
Ihnen Projekte anbieten?
Lynch: Es kommt vor. Aber ich glaube, ich * David Lynch: „Lynch über Lynch“. Herausgegeben wollen. Es ist eine andere Welt.
von Chris Rodley. Aus dem Amerikanischen von Mastehe bei denen nicht auf der so genannten rion Kagerer. Verlag der Autoren, Frankfurt am Main; 356 SPIEGEL: Mr. Lynch, wir danken Ihnen für
dieses Gespräch.
A-Liste, das heißt, ich bin nicht erste Wahl, Seiten; 39 Mark.
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H. TAPPE / DER SPIEGEL / XXP
Kultur
Schriftsteller Johnson (1964): „Todesstrafe, abzuleisten durch Ableben“
AU T O R E N
Liebe auf den zweiten Blick
Der Briefwechsel zwischen Siegfried Unseld und Uwe Johnson
erzählt ein wahres Märchen aus alter Zeit – von der Fürsorge und
Leidenschaft eines Verlegers für seinen Herzens-Autor.
298
R. DREXEL / BILDERBERG
E
inen Herrn Holtzbrinck soll es ja geben in Stuttgart, aber wer ist Herr
Bertelsmann? Kennt jemand den
Herrn S. Fischer persönlich, war schon mal
einer mit Frau Rowohlt essen oder mit Frl.
Hanser in der Tanzstunde? Die deutschen
Verlage haben in den letzten Jahren die
Welt erobert bis nach Kolumbien und
Hongkong, aber Verleger gibt es nicht mehr.
Im Konzern weiß die Linke viel zu genau,
was die Rechte tut, ein brummendes ProfitCenter hilft über die schlimmsten Defizite
in der Literatur hinweg.
In diesem Herbst ist ein Buch erschienen, das von einer unendlich fernen, einer
märchenhaften Vergangenheit erzählt. Es
war einmal und wird nie wieder so sein: ein
Verleger, der Bücher liebt und noch mehr
seine Autoren. Der Briefwechsel zwischen
Siegfried Unseld und Uwe Johnson müsste
Verleger Unseld
„Wir müssen über Deine Finanzen reden“
d e r
s p i e g e l
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den heutigen Marktstrategen dorthin gelegt
werden, wo früher einmal das Herz war –
aber können Manager im Print-Bereich
überhaupt lesen*?
Eine winzige, dabei alles entscheidende
Fälschung verband die beiden Männerfreunde: Unseld, Peter Suhrkamps designierter Nachfolger, hatte Johnsons erstes
Manuskript „Ingrid Babendererde“ 1957
abgelehnt. Das zweite, „Mutmassungen
über Jakob“, holte er aus Suhrkamps Sterbezimmer und Johnson in den Verlag, den
jetzt Unseld leitete. Auf Wunsch Johnsons
wird der Vertrag zurückdatiert auf Anfang
März 1959, als Suhrkamp noch am Leben
war. Sie fangen gleichzeitig an: der junge,
knapp 25-jährige Autor, der mit Erscheinen seines ersten Buches aus der DDR
nach West-Berlin umzieht; und Unseld,
zehn Jahre älter, Erbe des legendären Verlegers von Brecht und Benjamin, brennend
vor Ehrgeiz, endlich etwas zu „bewegen“.
Den Tag, an dem Unseld den Verlag
übernimmt, den 1. April, werden sie immer wieder begehen, als wär’s der Hochzeitstag. Es war Liebe erst auf den zweiten
Blick, aber dafür umso inniger: Unseld
selber chauffiert seinen Autor nach Schloss
Elmau zur Tagung der Gruppe 47 und
schiebt ihn in den westdeutschen Literaturbetrieb hinein. Er macht und tut und
werbetrommelt – und setzt den Anfänger
sofort durch. Mit Hans Magnus Enzensberger und Martin Walser gehört Uwe
Johnson zum engsten Beraterkreis des Verlags, wird mit Gutachten betraut, empfiehlt
Bücher zur Übersetzung, soll eine mehrsprachige europäische Literaturzeitschrift
herausgeben.
Damit sein Autor eine bessere Wohnung
bekommt, schickt Unseld ein Leumundszeugnis an das Bezirksamt Berlin-Schöneberg, verschafft ihm ein Stipendium in die
römische Villa Massimo, sorgt für Einladungen nach Paris und nach Harvard und
setzt ihn auf eine monatliche Rente von
anfangs 600 Mark. Der Einsatz lohnt sich
auch finanziell, die „Mutmassungen“ verkaufen sich, obwohl spröde und alles andere als Zuckerwatte. Unseld glaubt an seinen schwierigen Autor, schenkt ihm, mit
vertraglicher „Vereinbarung“, 5000 Mark.
Das vertrauliche „Du“ braucht seine
Zeit, aber man kommt sich rasch nahe.
„Yours, truly“ unterschreibt sich Johnson,
Unseld fragt mit „herzlichen Grüßen“
nach der Arbeit und wie sein Autor vorankomme.
Gelegentlich drängt ihn Unseld, „lesbarer“ zu schreiben. „Das dritte Buch über
Achim“ erscheint im Sommer 1961, als
eben die Mauer errichtet wird. Johnson ist
jetzt „Dichter der beiden Deutschland“
und erfolgreich. Er geht für zwei Jahre nach
New York, betreut Schulbücher und sam* Uwe Johnson / Siegfried Unseld: „Der Briefwechsel“.
Herausgegeben von Eberhard Fahlke und Raimund
Fellinger. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main; 1220
Seiten; 68 Mark.
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Kultur
melt Material für die „Jahrestage“, für das
„Leben der Gesine Cresspahl“ aus Mecklenburg.
Unseld expandiert, entwirft neue Reihen, noch eine Taschenbuch-Edition, ein
Wissenschaftsprogramm. Sein Freund
Johnson zieht sich zurück, wird immer
kleiner, verschneckt. In Berlin findet er sich
nach der Rückkehr aus New York nicht
mehr zurecht; die Kommune 1 hatte in seiner Wohnung das berüchtigte PuddingAttentat auf den amerikanischen Vizepräsidenten vorbereitet.
Max Frisch leiht ihm Geld, und Johnson
kauft sich ein Haus in Sheerness-on-Sea,
verschanzt sich in einem Arbeitsgefängnis
hinter der Flutmauer. Immer mehr verfinstert sich ihm die Laune, immer ungnädiger
reagiert er auf noch die leisesten Irritationen, ist bei jeder Gelegenheit gekränkt
und wird für Unseld schließlich zu einem
Versorgungsfall.
Der Geschäftsmann aber möchte auch
als Schöngeist gelten, und bereitwillig bezeigt ihm der Schriftsteller seine Dankbarkeit. Häuft noch weiteres Lob auf einen
Hut, der Unseld zum Ehrendoktor macht
(„deine Würde ist dir wie der Gelegenheit
angemessen“), gratuliert ihm von Autor zu
Autor, wenn Unselds Vorlesungen „Der
Autor und sein Verleger“ auch auf Französisch herauskommen. Nur bei Unselds
legendärer Selber-Schreibübung „Letzte
Abfahrt“ vermisst der strenge Lektor das
Literarische und empfiehlt eine Zirkulation allenfalls im engsten Kreis. Die Erzählung erscheint erst sieben Jahre nach
dieser freundschaftlichen Ablehnung.
Natürlich lässt auch dieser Briefwechsel
Lücken; zu einer vollständigen ParallelBiografie reicht es nicht. Dafür sieht man
sich zwischendurch zu oft, bespricht manches auch am Telefon. Weil es sich hier
aber um ein Haupt- und Staatsunternehmen handelt, ist diese noble Edition angereichert mit Reisenotizen, die der unermüdliche Beweger Unseld anfertigte, wenn
er seine Autoren aufsuchte.
Die vielfachen Zerwürfnisse mit Enzensberger, Frisch, Walser (und am Ende ist
der eingemauerte Autor eigentlich mit allen zerfallen) lassen sich immerhin ahnen.
Das Personenverzeichnis allerdings entstellt sogar Haus-Autoren; Uwe Johnson,
dieser heilige Pedant, hätte bei seinem
Freund Unseld darauf bestanden, deswegen das ganze Buch einzustampfen.
Dieser Briefwechsel ist ein Dokument
fast unwandelbarer Treue, in der Unseld
erst wankend wird, als Johnson die Chronik seiner „Jahrestage“ auf drei, dann auf
vier Bände aufteilt und den letzten Band
schließlich zehn Jahre lang schuldig bleibt.
Ein Herzinfarkt, eine Ehe-, dann eine formvollendete Schreibkrise verzögern den Abschluss. Nichts mehr von der Fröhlichkeit
des gemeinsamen Aufbruchs 1959, dafür
Stillstand, Depression: „… unvermittelt
sitze ich vor dem Tastenfeld gelähmt, und
300
d e r
so bis zum Abend, ohne dass das Papier bewegt worden wäre.“
Unseld fasst sich in Geduld und versucht
den Geschäfts-Freund zurück an die Arbeit
zu führen, bittet ihn um Beiträge für Suhrkamp-Anthologien, Übersetzungen, organisiert die Frankfurter Poetik-Vorlesungen
s p i e g e l
Bestseller
Belletristik
1 (1) Isabel Allende Fortunas Tochter
Suhrkamp; 49,80 Mark
2 (2) Günter Grass Mein Jahrhundert
Steidl; 48 Mark
3 (4) Noah Gordon Der Medicus
von Saragossa Blessing; 48 Mark
4 (3) Elizabeth George Undank ist der
Väter Lohn Blanvalet; 49,90 Mark
5 (5) Thomas Harris Hannibal
Hoffmann und Campe; 49,90 Mark
6 (7) Ken Follett Die Kinder von Eden
Lübbe; 46 Mark
7 (12) Frank McCourt
Ein rundherum
tolles Land
Luchterhand; 48 Mark
Immer auf der Suche
und nirgendwo
daheim: ein irischer
Geschichtenerzähler
in Amerika
8 (9) Marianne Fredriksson
Maria Magdalena W. Krüger; 39,80 Mark
9 (6) Donna Leon Nobiltà
Diogenes; 39,90 Mark
10 (10) Henning Mankell
Die falsche Fährte Zsolnay; 45 Mark
11 (11) Nicholas Sparks Zeit im Wind
Heyne; 32 Mark
12 (8) John Irving Witwe für ein Jahr
Diogenes; 49,90 Mark
13 (13) Henning Mankell
Die fünfte Frau Zsolnay; 39,80 Mark
14 (14) Siegfried Lenz Arnes Nachlass
Hoffmann und Campe; 29,90 Mark
15 (–) Thomas Brussig Am kürzeren
Ende der Sonnenallee Volk und Welt; 28 Mark
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für ihn. Und es hilft: Aus einem Geburtstagsgruß für Max Frisch entsteht die
„Skizze eines Verunglückten“, in der Johnson sein eigenes Scheitern literarisch bearbeiten kann und durch die er zu den
„Jahrestagen“ zurückfindet. Der Mörder
Joe Hinterhand verhängt seine „eigene ToIm Auftrag des SPIEGEL wöchentlich
ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“
Sachbücher
1 (1) Marcel Reich-Ranicki Mein Leben
DVA; 49,80 Mark
2 (2) Oskar Lafontaine
Das Herz schlägt links
Econ; 39,90 Mark
3 (3) Sigrid Damm Christiane
und Goethe Insel; 49,80 Mark
4 (4) Corinne Hofmann
Die weiße Massai A1; 39,80 Mark
5 (6) Waris Dirie Wüstenblume
Schneekluth; 39,80 Mark
6 (5) Dale Carnegie Sorge dich nicht,
lebe! Scherz; 46 Mark
7 (7) Ulrich Wickert
Vom Glück, Franzose zu sein
Hoffmann und Campe; 36 Mark
8 (10) Hans J. Massaquoi
Neger, Neger, Schornsteinfeger!
Fretz & Wasmuth; 39,90 Mark
9 (9) Bodo Schäfer Der Weg zur
finanziellen Freiheit Campus; 39,80 Mark
10 (8) Tahar Ben Jelloun Papa, was ist
ein Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark
11 (13) Dietrich Schwanitz Bildung
Eichborn; 49,80 Mark
12 (14) Ruth Picardie Es wird mir
fehlen, das Leben Wunderlich; 29,80 Mark
13 (–) Malika Oufkir/
Michèle Fitoussi
Die Gefangene
Marion vom Schröder;
39,90 Mark
Zwanzig Jahre in
Kerkern und WüstenVerliesen: ein Frauenschicksal in Marokko
14 (12) Daniel Goeudevert
Mit Träumen beginnt die Realität
Rowohlt Berlin; 39,80 Mark
15 (11) Klaus Bednarz
Ballade vom Baikalsee
Europa; 39,80 Mark
d e r
desstrafe“ über sich, „abzuleisten durch
Ableben“. Johnson tut es ihm gleich, kehrt
in sein Wortstanzwerk zurück und vernichtet sich durch Arbeit. Kein halbes Jahr,
nachdem der letzte Band der „Jahrestage“ erschienen ist, stirbt Uwe Johnson im
Alter von 49 Jahren. Dieser Briefwechsel
erzählt noch einmal die Geschichte einer
unglücklichen Liebe.
Unseld war Motor des frühen Erfolgs,
wurde dann der Mäzen einer schier unerträglichen Schreibkrise – und der Vertraute, mit dem Johnson sein Ehe-Unglück
besprach. „So bist du für mich der menschliche Ort geworden“, schreibt er seinem
Verleger am 1. April 1979 zum 20-jährigen
Jubiläum, „ohne den das einsamste Leben
unmöglich ist.“ Johnson schreibt diese Liebeserklärung ausnahmsweise mit der Hand
und verspricht zugleich, die „Jahrestage“
noch im selben Jahr abzuschließen.
Er wird diese letzte Lieferung noch öfter versprechen, Unseld wird vorsichtig
und immer drängender nachfragen, bis er
seinem liebsten Autor schließlich den
Scheidebrief schickt. Die Liebesgeschichte
ist zu Ende, das Geschäft geht weiter.
„Lieber Uwe“, schreibt Unseld am 7.
Dezember 1982, „wir müssen über Deine
Finanzen reden. Der Soll-Saldo war am
30.11.1982 DM 230 094,89. Auf dieser Basis
kann ich die monatlichen Zahlungen nicht
mehr ad infinitum leisten.“ 3000 Mark hat
Unseld seinem Freund und Geschäftspartner jeden Monat auszahlen lassen; im kommenden März soll Schluss sein damit.
Zweieinhalb Wochen später antwortet
Johnson, seinerseits ganz geschäftsmäßig.
Falls Unseld ihn und die „Jahrestage“ doch
länger finanziere, kann er ihm nach der
Lebensversicherung die Tantiemen aus seinem Urheberrecht anbieten. Gern sei er
auch bereit, seine Schulden als Lektor im
Hause abzuarbeiten, und schließlich brächten die Typoskripte seiner Bücher noch
mal 18 000 Mark. Einen elenderen Brief
kann man sich kaum vorstellen.
Johnsons Witwe Elisabeth erinnert sich an
Max Frisch, der Unseld einmal als „Rennstallbesitzer“ bezeichnet habe und die Autoren als seine Pferde. „Sie laufen für ihn.“
Uwe Johnson hat manches Rennen für seinen Besitzer gewonnen und am Ende doch
verloren.
Am 12. März 1984 schickt der Verleger ein
Telegramm nach Sheerness: „Erbitte dringlich Deinen Anruf“. Johnson liegt da bereits
seit Wochen tot in seinem Wohnzimmer.
Der Kalender ist für den 21. und 22. Februar 1984 aufgeschlagen. Bereits fünf Monate
vorher beendet Johnson seinen Briefwechsel mit Unseld; auch bei ihm ist ein Telegramm die letzte Äußerung. Es kommt aus
New York, wo sich Uwe Johnson zu Dreharbeiten für einen Fernsehfilm aufhält. Er
möchte dort offenbar nicht angerufen werden: „NO CALLS SORRY. PLAN STANDS
REGRETFULLY UWE“.
Welcher Plan?
Willi Winkler
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301
C. ASHFORD / PICTURE PRESS
Sänger Naidoo, Produzent Hofmann bei MTV-Feier in Dublin: „Kelch mit Tränen“
S TA R S
Jesus der
Hitparaden
MTV kürte Xavier Naidoo zum
besten deutschen Künstler.
Nun verkündet der gottgläubige
Star auf einem LiveAlbum neue Heilsbotschaften.
A
uf diesen Erretter hat die deutsche
Popbranche gewartet. Auf einen,
der sie von sinkenden Umsätzen
erlöst, einen, der die Generationslücke
nach Herbert Grönemeyer und Marius
Müller-Westernhagen füllt und der endlich
ins Ausland, ja, vielleicht sogar nach Amerika exportiert werden kann.
Nun scheint es, als sei der Messias da:
Xavier Naidoo, 28, verkaufte von seinem
1998 erschienenen Debütalbum „Nicht von
dieser Welt“ mehr als eine Million Stück,
er singt wie Grönemeyer, nur besser; vor
elf Tagen hat ihn der Musiksender MTV
Europe in den Popadel aufgenommen und
zum „besten deutschen Künstler“ gekrönt.
Xavier wird ausgesprochen wie „Saviour“, und als Retter versteht er sich auch:
„Meine Augen rot, vom Weinen schwach,
den Kelch mit Tränen aufgefüllt, meine Wunden ins Leintuch eingehüllt“, singt
der Jesus der Hitparaden und kündet
seinen Jüngern die frohe Botschaft: „Ich
hab gute Aussichten durch weise Voraussichten.“
Gerade ist Naidoos erstes Live-Album
auf Platz neun der Charts eingestiegen. Es
ist eine Dokumentation seines Kreuzzugs
für den rechten Glauben und für souligen
Pop, denn Naidoo hatte auch einen Gospelchor dabei. „Gott hat mir mein Talent
gegeben“, sagt er, „damit ich über ihn und
die Bibel singe.“
302
Dafür, dass Naidoo seine Heilsbotschaften so erfolgreich verkündet, sind allerdings auch irdische Plattenproduzenten
verantwortlich: die Frankfurter Moses Pelham, Thomas Hofmann und Martin Haas,
die vor fünf Jahren mit dem „Rödelheim
Hartreim Projekt“ den Siegeszug des
deutschsprachigen HipHop mit in Gang
setzten und später die Rapperin Sabrina
Setlur zum Star machten.
Für die Markteinführung von Naidoo
wiederholten die drei eine Strategie, die sie
bei Setlur schon erprobt hatten: Zuerst war
Naidoo als Background-Sänger bei Produktionen ihrer Firma 3p zu hören. Dann
ging er 1997 mit Setlur auf Tournee, sang ihr
Stück „Freisein“, und die Rapperin trat im
dazugehörigen Video auf. Seine erste eigene Single, „20 000 Meilen“, war ein Achtungserfolg, die zweite, „Nicht von dieser
Welt“, stand 15 Wochen in den Charts. Seinen größten Hit hatte Naidoo mit „Sie sieht
mich nicht“: Er ist die Nummer sechs der
bestverkauften Singles des Jahres.
Trotzdem ist er nicht zufrieden: „In
Deutschland leben 80 Millionen Menschen
– was sind da eine Million verkaufte Alben?“ Jedenfalls nicht genug für einen, der
sich schon vor der ersten Veröffentlichung
vorgenommen hatte, mehr Platten als Grönemeyer zu verkaufen – weil der doch Naidoos Vorbild ist. „Ich bin größenwahnsinnig, weil ich ein Träumer bin“, sagt der
Sänger, „größenwahnsinniger als alle anderen bei 3p.“ Und das ist schwer, wofür
schon spricht, dass im 3p-Konferenzraum
ein Foto der Produzenten hängt: Da sitzen sie mit Anzug und selbstzufriedenem
Gesicht vor einem Berg von Geldbündeln.
Naidoos Mutter ist Südafrikanerin irischer Abstammung, sein Vater wurde in
Südafrika geboren und hatte deutsche und
indische Vorfahren. Die Mutter war Schneiderin, der Vater Industrieschweißer. Die
beiden hatten sich in London kennen gelernt und zogen später nach Mannheim,
wo der Vater eine Stelle als Schichtarbeiter
hatte – weshalb es zu Hause immer leise
d e r
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sein musste. „Sehr autoritär“ sei seine Mutter gewesen und „überangepasst wie alle
Ausländer“: Jedes Behördenschreiben
habe er für seine Eltern „auf der Stelle beantworten“ müssen. Naidoo selbst war,
außerhalb der Wohnung, keineswegs so
ängstlich: Er lernte Kickboxen und verdiente später Geld als Türsteher. Bei Schlägereien war er aber vorsichtig: „Ich hatte
Angst vor Narben, weil ich Popstar werden
wollte.“
In diversen Kirchen- und Gospelchören
hatte Naidoo gesungen, bevor 1992, nach
Mittlerer Reife und abgebrochener Kochlehre, endlich ein Angebot von einer Plattenfirma kam – und das sogar für eine amerikanische Produktion. Naidoo schrieb einige Lieder und flog begeistert zu Studioaufnahmen in die Staaten. Mit der Euphorie war es vorbei, als er das fertige Album
hörte. „Da war nichts mehr von meinen
Ideen übrig geblieben“, sagt er.
Immerhin hatte Naidoo, wie er erzählt,
am letzten Tag des trübseligen Jahres 1992
noch zu seiner Bestimmung gefunden. Am
Silvesterabend habe er, traurig und allein
zu Hause, zufällig die Bibel aus dem Bücherschrank gegriffen, den Petrus-Brief
aufgeschlagen und sich erleuchtet gefühlt.
Nun, da er seine spirituellen Botschaften
zu Geld gemacht hat, verkündet Naidoo, er
werde mit dem Erlös auf Erden Gutes tun:
Arbeitsplätze wolle er schaffen in seiner
verarmten Heimatstadt und hat mit Freunden den Plattenvertrieb „Die Söhne Mannheims“ gegründet. Wie viele Jobs es sind,
will er nicht sagen: „Wir sind noch am Anfang.“ Außerdem möchte er, dass es „in
Mannheim keine Obdachlosen mehr gibt
und kein Kind mehr hungrig zur Schule
gehen muss“ – wenn sonst schon niemand
die Mannheimer Hungersnot bemerkt hat.
Vom Elend der Welt schirmt der Popstar
sich ansonsten meist mit sonnig-gelben
Brillengläsern ab.
Früher stellte Naidoo merkwürdige naturwissenschaftliche Theorien auf und behauptete, die Abgase seiner alten Mercedes-Kollektion würden durch das Ozonloch ins All entweichen. Neuerdings profiliert er sich mit nebulösen Prophezeiungen
als Orakel: Im nächsten Millennium werde
sich Deutschland und überhaupt alles völlig ändern. Vielleicht zum Schlechteren.
Vielleicht aber auch zum Besseren. Als Beweis für die Verlässlichkeit seiner Voraussagen führt er an, dass er schon im Sommer
das Lied „Armageddon“ geschrieben und
Erdbeben angekündigt habe – es folgte die
Katastrophe in der Türkei.
Für alle Fälle schiebt Naidoo einen Moses-Witz hinterher: Der habe nach ein paar
verregneten Tagen so fest an die Sintflut geglaubt, dass Gott die Erde überflutete, um
Moses nicht zu enttäuschen.
Da möchte man lieber gar nicht wissen, an welche kommenden Katastrophen
Naidoo noch so glaubt.
Marianne Wellershoff
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Kultur
T H E AT E R
In Basel präsentiert Katharina Thalbach das jüngste
Stück ihres Ex-Gefährten Thomas Brasch – eine Soap um
den 1819 ermordeten Autor August von Kotzebue.
E
T. HOEPKER / MAGNUM / AG. FOCUS / XXP
Kotzbrocken mit Gänsekiel
S. HOPPE
r war der Goethe fürs gemeine Volk deutschen Euphorie damals angewidert lie– ein rastloser Routinier für Massen- gen ließ. Jetzt hat er das ernste Politstück
ware. Die Bühnen der frühen Bie- wieder herausgekramt und wie ein Windermeier-Zeit belieferte er unablässig mit zer mit einer anderen (Ton-)Lage vereiner Unzahl von Melodramen, Komödien schnitten: mit Teilen von Kotzebues
und Schwänken. Der studierte Jurist war „Kleinstädtern“ von 1802 – leicht bearbei- Brasch, Katharina Thalbach (1976): Mut zur
Theaterdirektor, eine Art Geheimagent für tet, versteht sich. Ein Dichter und sein
„Kleinstädter“-Episoden und Rahmenden russischen Zaren, lebte in Reval, St. Werk – Aug in Aug auf einer Bühne.
In Basel kam dieser dramaturgische handlung sind streng getrennt. Auf der
Petersburg und Weimar, wurde verbannt
und wieder begnadigt, brachte mit einer Wechselbalg am vergangenen Freitag in großen Bühne, die aussieht wie ein WirtsSchmähschrift die gesamte deutsche Ge- der Regie von Braschens ehemaliger Le- haussaal mit gelegentlichem Spielbetrieb,
lehrtenschaft gegen sich auf, er zeugte bensgefährtin Katharina Thalbach, 45, zur ist eine Minibühne installiert. Dort haust
das „Kleinstädter“-Grauen. Und dort brilein Schock Kinder – und erfand, als flugs Uraufführung.
liert – jedenfalls in der Geherniedersausenden Brandneralprobe – Katharina Thalschutz zwischen Bühne und
bachs Tochter Anna, 26, und
Zuschauersaal, den eisernen
spielt sich, zum ersten Mal
Vorhang.
unter Mutterns sanfter FuchPolitisch aber war August
tel, flott nach vorn.
von Kotzebue für die rebelSie quiekt und krächzt,
lierende Jugend seiner Zeit
jauchzt und chargiert im
ein rechter Kotzbrocken. Der
knappen Minirock als eroAnti-Demokrat verteidigte
tisch bedürftiger Twen in eidie deutsche Kleinstaaterei,
nem bunten Wohnzimmer im
stellte sich den aufbegehwilden Rausch groß gemusrenden Studenten entgegen,
terter Tapeten. Hier lässt
die ein einig deutsches Vaterdie Regisseurin die „Kleinland forderten, und wurde –
städter“ mit ihrer KlippHauptperson in einem der
Klapp-Dramaturgie ganz ungroßen deutschen Kriminalverkrampft als vorgeäffte,
fälle – am 23. März 1819 im
archaische Comedy-Soap abAlter von 57 Jahren von dem
rollen. Mit Kalauern von heuBurschenschaftler Karl Ludte und zeitlosen Konstellatiowig Sand erstochen.
nen von gestern.
Dieser Mord und vielleicht
Der krosse Backfisch Sabinoch seine Spießer-Komödie
ne (Anna Thalbach) verab„Die deutschen Kleinstädscheut den ihr zugedachten
ter“, in der es um kleinbürLangweiler von nebenan und
gerliche Wohlanständigkeit
will stattdessen einem fremund ihre Brüchigkeit geht und
den Jüngling an die Wäsche.
die in dem sprichwörtlich
Oma bringt wie immer alles
gewordenen Ort Krähwinkel
durcheinander, und Vattern,
spielt, haben Kotzebue einen
der Bürgermeister, denkt soblassen Schimmer von Unwieso nur an die Karriere.
sterblichkeit beschert. Die anUnd siehe da: Die Klamotderen seiner über 200 Stücke
tendramaturgie klappt immer
sind im Aktenschredder der
noch. Kein Gag zu platt, kein
Theatergeschichte gelandet.
Theatertrick zu alt, als dass
Nun hat sich der Dichter
er nicht noch immer funktioThomas Brasch, 54 („Mernierte.
cedes“), des fast vergessePlötzlich stehen sie in einen Kollegen angenommen.
ner schönen Ahnen-Reihe,
„Stiefel muss sterben“ heißt
Kotzebue und Al Bundy, Mildas Stück, das Brasch wählowitsch und die „Golden
rend des letzten deutschen
Girls“. Und wie im Fernsehen
Vereinigungsrausches 1989 in
werden nun auch auf der
der Mache hatte und über
der allgegenwärtigen deutsch- Anna Thalbach in „Stiefel muss sterben“: Dem Jüngling an die Wäsche Bühne die blödesten Witze
304
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mit Beifall vom Band und eingespielten Lachern bejubelt.
Theater als TV – TV-Theater.
Und irgendwie – Kunststück! –
ist selbst die gnadenlose Parodie noch komisch.
Damit es mit dem aufgedrehten Unsinn nicht zu arg
wird und der Abend nicht gar
zu bunt gerät, agiert zwischen
dem aufgemotzten KotzebueQuatsch der Dichter selbst oder
jedenfalls einer, den Thomas
Brasch dafür hält.
Kotzebue, dieser frühe Theater-Tycoon (Vincent Leittersdorf), wetzt da zwischen den
aufgepeppten Comedy-EinlaKlamotte
gen brav und altväterlich den
Gänsekiel, klagt über das eintönige Mannheim und schwätzt am Stehpult davon, endlich den Roman seines Lebens zu schreiben.
Alles soll dann mal herauskommen, die
politischen Eskapaden in Russland und die
amourösen mit der Magd Berta im Bett
zum Beispiel. Lebenslügen? Endlich weg
damit!
Und als ob das reichlich bewegte, wenig
erforschte und kaum einem Theatergänger
geläufige Leben des historischen Kotzebue
nicht reichte für einen Abend, hat sich
Brasch noch mancherlei Zutat ausgedacht.
Das beginnt schon mit einem Prolog, einer rührenden, aber leider unwahren Geschichte: Ein düsterer Herr weissagt dem
Dichter in dessen Mannheimer Theater
während der Vorstellung melodramatisch –
als sei’s ein Stück von Kotzebue – genau
neun Monate vor der Untat das mörderische Ende. Auch sonst erfindet Brasch den
einen oder anderen Lebens- und Gedankenlooping zur spärlich überlieferten Dichter-Vita keck hinzu.
Für Zuschauer mit geistesgeschichtlichem Assoziationsvermögen bietet er
Herrn Hegel auf („Ich bin Polizist, Madame“), der das angekündigte Attentat auf
Kotzebue verhindern soll und sich stattdessen in klappernden Reimen und hinterlistigen Intrigen ergeht.
Zum Glück setzt Katharina Thalbach
gegen allzu tief gründelndes Dichterbetasten couragiert auf Begradigung – und
bügelt, gewohnt komödiantisch, allzu
verstiegene Momente mit theatralischen
Effekten und rigorosen Kürzungen im ausufernden Text glatt.
Kotzebue wird durch all den Budenzauber nicht weniger rätselhaft: Einmal zeigen Thalbach und Brasch, wie der Dichter
in einem Zinkzuber voll heißem Moorbad
versinkt, um seinen vom vielen Dichten
krummen Rücken gerade zu biegen.
Auf der Basler Bühne ist die braune
Brühe nur eine Plastik-Folie, ein theatralischer Fake – und somit ein höchst einprägsames Bild für einen der erfolgreichsten Bluffer der deutschen Bühnen-Geschichte.
Joachim Kronsbein
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Kultur
G. KLEMENS
ben muss, und Dürrs notorische Sonnigkeit
wärmt sogar ihn. Es ist ein Theaterliebhaber zu feiern, der sich diese Liebe etwas
kosten lässt: Dürr hat einen „Heinz-DürrStückepreis“ gestiftet, mit 40 000 Mark
für den Autor plus 75 000 Mark für das
Theater, das sein Stück uraufführt,
nobel dotiert.
Die Nennung des Sponsornamens darf
man dabei nicht schlicht als Zeichen von
Eitelkeit nehmen, Dürr verspricht sich
eben von seinem Namen eine „Hebelwirkung“ bei seinesgleichen: Es könnten doch
gut noch ein paar reiche Männer (oder
Frauen) mehr darauf kommen, dass es Lust
macht, Geld für Kunst auszugeben.
Dürr gibt sich gern, als sei alles leicht.
Trotz sämtlicher Gelegenheitsposten, die
einer wie er neben seinem Hauptjob naturgemäß innehat (einem guten halben
Dutzend Aufsichtsratssitze, zum Beispiel
bei Stinnes, Preussag, Mannesmann und so
Berliner „Baracken“-Inszenierung „Shoppen und Ficken“: Theater mit Hand und Fuß
weiter), scheint er ungestresst Zeit für Dinge zu haben, die doch Mühe machen, auch
MÄZENE
wenn es nur zum eigenen Vergnügen ist:
Dürr der Jazzfan, Dürr der Kunstsammler,
Dürr der Theaternarr. Die „Wirtschaftswoche“ hat ihn bei Gelegenheit sogar verdächtigt: „Sein Wunschtraum wäre wohl,
selbst Künstler zu sein.“
Heinz Dürr verleiht in Berlin den „Heinz-Dürr-Stückepreis“:
Sicher ist, dass er die Kunst und den Umeinmal und nie wieder.
gang mit Künstlern liebt, woraus er die Lebenserfahrung gewonnen hat, dass es auch
äre er nicht fast zwei Meter groß, de er dann vom Bundeskanzler persönlich denen „ganz schön ums Geld geht, besonso möchte man ihn ein schlaues gekeilt, um Bundesbahn und Reichsbahn ders wenn sie älter geworden sind“. Zu seiKerlchen nennen. Heinz Dürr zu einem privatwirtschaftlichen Konzern nen schwäbischen Freunden gehören Marwirkt trotz seiner Länge jungenhaft und zusammenzuklopfen, wozu er einen Frei- tin Walser und Siegfried Unseld, und der
wiederum hat ihm den Kontakt zu Thoauch mit 66 Jahren flexibel und flink in fahrschein auf allen Strecken bekam.
Am Mittwochvormittag in der vergan- mas Bernhard vermittelt: Dürr und Frau
Rede wie Widerrede. Ein Schwabe. Er genießt es, als einer der Top-Manager im Lan- genen Woche prangt Dürr auf einem Po- sind in die österreichische Einöde gepilde zu gelten, und genießt es noch mehr, dium im pompösen Max-Reinhardt-Salon gert, um dem über alles verehrten Liebsich durch vorlaute Sprüche hervorzutun, des Berliner Deutschen Theaters an der lingsdichter ihre Aufwartung zu machen.
Dürrs Kunst-Vorlieben sind unorthodox
die unter seinesgleichen mit einem grum- Seite des Intendanten Thomas Langhoff,
melnden „Hört, hört!“ zur Kenntnis ge- der immer wie ein runzliges Winteräpfel- und geprägt von einer Abneigung gegen
chen aussieht, das man besonders lieb ha- das Feierlich-Repräsentative. Es darf ruhig
nommen werden.
ordentlich krachen. Als die
Zum Beispiel, dass man ein UnternehCDU den Stuttgarter Schaumen nicht als Profitmaschine betrachten
spieldirektor Claus Peymann
solle, vielmehr als eine „gesellschaftliche
wegen angeblicher RAFVeranstaltung“, auch dass die Deutschen
Sympathie aus dem Ländle
„viel zu materialistisch“ seien. Oder dass
vertrieben hatte, setzte der
man bei einem Spitzenmanager keinen hoCDU-Mann Dürr sich an
hen IQ erwarten dürfe – denn zu viel Bedie Spitze eines schwäbidenklichkeit lähme den Raubtierbiss, ein
schen Peymann-Fanclubs,
aus der klassischen Dramenliteratur als
der demonstrativ zu desHamlet-Syndrom bekanntes Verhängnis.
sen Thomas-Bernhard-PreDürr selbst, versteht sich, darf als die glänmieren nach Bochum fuhr.
zende Ausnahme von der IQ-Regel gelten.
Seit Dürr in der NachSchon vor 20 Jahren hat er den ererbten
Wende-Zeit beschlossen hat,
Familienbetrieb, einen auf Lackiertechnik
Berliner zu werden, versucht
spezialisierten „Mittelstands-Multi“, aner, dem dahindümpelnden
gestellten Managern anvertraut (die inTheaterbetrieb der Metropozwischen einen Jahresumsatz von zwei
le etwas Zunder zu geben.
Milliarden Mark ausweisen), um sich „geDas von ihm „postdramasellschaftlichen Veranstaltungen“ größeren
tisch“ genannte Treiben von
Stils zu widmen: in den achtziger Jahren
Regisseuren allerdings, die
als Sanierer der AEG, wo er sich nach Exsich den Stoff für ihre Theapertenmeinung wacker schlug, bis nichts
terabende selbst zusammenmehr zu sanieren da war. Am Rand der
manschen und -panschen, ist
Vereinigungsfeier am 3. Oktober 1990 wur- Feiernde Langhoff, Buhr, Dürr: „Weizen in der Spreu“
Sponsor mit Hebelwirkung
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Kultur
D. BALTZER / ZENIT
ihm zu diffus, er hat es gern etwas „dra- Punkt bringe“, lobte aber die Betriebsmen- und fabelfixierter“, also mit etwas ratsszenen („da kenn ich mich aus“) als
„absolut treffend“. Dem moralischen Fazit
mehr Hand und Fuß.
Ein von ihm dirigierter Geldgeber-Zirkel des Werks, „Ehrlich ist noch keiner reich
namens „Freunde des Deutschen Thea- geworden“, wollte er aber, mit Verlaub,
ters“ hat mit jährlich 100000 Mark die „Ba- nicht beipflichten: „Irgendwo muss es auch
racke“ des Deutschen Theaters alimentiert, gute Menschen geben.“
Sein Einsatz für das gesamtdeutsche
wo Thomas Ostermeier durch die Aufführung jener jungen britischen Stücke mit Eisenbahnwesen ist Heinz Dürr, wie er
den unaussprechlichen Titeln berühmt meint, schlecht gedankt worden: Als er vor
werden durfte, leider weniger durch neue zwei Jahren vom Vorstands- auf den Aufsichtsratsvorsitz der Bahn AG wechselte,
deutschsprachige Autoren.
So entstand die Idee zum „Heinz-Dürr- tat ihm sein Kanzler den Tort an, sich geStückepreis“ für junge Talente (Alters- gen seinen Wunsch und Rat für einen Mann
grenze 38), erstmals ausgelobt für unge- namens Ludewig als Nachfolger zu entspielte Werke mit Gegenwartsthematik im scheiden, auf den Dürr von sehr hoch oben
herabschaute: Das war
September 1997, doch
kein Macher mit Biss,
dann nicht verliehen,
kein Power-Typ, sonweil die „hochkarätige“
dern ein bürokratischer
Jury (eine bedeutenAbwickler.
de Schauspielerin, drei
Die ungemein dybedeutende Dramaturnamische Art, mit der
gen) unter gut hundert
Dürr alsbald an LudeEinsendungen nichts
wigs Stuhl zu sägen
fand, was sie einem Pubegann, machte im
blikum hätte zumuten
SPIEGEL (9/1999) als
mögen.
„Machtkampf der SonNach diesem Fehlderklasse“ (und also
schuss versuchte, so
vielleicht auch als Stoff
Dürr, „einer der grofür einen Dramatiker,
ßen Meister der Reder über Betriebsratsgiekunst“, dessen Nakabalen hinauswachsen
men jeder kennt, ihm
will) von sich reden:
die Preissumme abzuAls auch die neue SPDschnacken mit der VerRegierung Dürrs Ansinheißung, für so gutes Peymann mit Brecht-Standbild
nen abwies, den CDUGeld könne man sich
ein Peter-Handke-Stück schreiben lassen. Mann Ludewig einen Kopf kürzer zu maDoch Dürr blieb standhaft, lobte den Preis chen, warf Dürr Anfang dieses Jahres seierneut aus, und auch die Jury bewies an- nen Bahnaufsichtsjob Knall auf Fall hin.
gesichts von 235 eingereichten Bühnen- Etwaige dadurch entstandene Leerstellen
werken viel Ausdauer im Bemühen, ein in seinem Terminkalender waren mit Pospaar „Weizenkörner in der Spreu zu fin- ten bei Zeiss und Krone AG rasch gefüllt.
Was aber das deutsche (und insbesonden“ (Dürr).
Der adrette Glückspilz, der sich bei die- dere das Deutsche) Theater angeht, so
ser Mittwochsfeier im Deutschen Theater nutzt Dürr den Anlass im Max-Reinhardtmit dem Spender und einem 40 000-Mark- Salon zur Erklärung, dass der nun verlieScheck fotografieren lassen darf, heißt Hei- hene erste Heinz-Dürr-Stückepreis auch
ko Buhr, ist 35, kommt aus Neumünster, der letzte sei: Für einen umtriebig-unlebt jetzt in Kiel und hat als Qualifikation geduldigen Tatmenschen muss die langeine abgeschlossene Banklehre sowie ein wierige Preis-Prozedur (bis zur Premiere in
Literaturstudium samt Doktorarbeit (über vielleicht einem Jahr) „ineffizient“ sein.
das Selbstmordmotiv im Drama der Auf- Künftig soll eine inzwischen aus dem Faklärung) vorzuweisen. Der Preis für sein milienvermögen neu entstandene HeinzWerk „Ausstand. Ein Schaustück“ (vier und-Heide-Dürr-Stiftung neben wissenweitere liegen in der Schublade) sei, so sagt schaftlichen und sozialen Zwecken auch
er, nach 17 Jahren erfolgloser Schriftstelle- der Theaterkultur dienen, indem sie jeweils
drei oder vier Stipendien vergibt, deren
rei seine erste echte „Entlohnung“.
Buhrs Drama, so ließ die Jury verlauten, Empfänger sich dann ein Jahr lang an einer
handle von Wirtschaftskrise, Arbeitslo- Bühne umtun dürfen.
Das Deutsche Theater allein wäre damit
sigkeit, drohender Werftschließung oder
Übernahme durch einen koreanischen überfordert. Auch der Dürrsche „BaMulti sowie einem Auftragsmord, der alles racken“-Protegé Ostermeier, künftig Berglatt macht, und es verbinde Kroetzschen liner Schaubühnen-Chef, und der GroßKleine-Leute-Realismus mit Dürrenmatt- meister des Thomas-Bernhard-Kults Peyscher Parabelhaftigkeit. Sponsor Dürr er- mann, künftig Berliner-Ensemble-Boss,
laubte sich, ein wenig schulterklopfend, die könnten sich dann also eines Stipendiaten
Meinung, man sollte bis zur Aufführung erfreuen. Wie gesagt, irgendwo muss es
„des eine oder andre noch a bissle auf den auch gute Menschen geben.
Urs Jenny
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Kultur
BUCHMARKT
Doppelte Zeit
Immer mehr etablierte Verlage
drängen mit eigenen Programmen
auf den Markt für Hörbücher.
Der Erfolg der Audio-Literatur
erstaunt die Fachleute.
N
Jahr haben Reclam, Bertelsmann, Eichborn
und Heyne nachgezogen. Allerdings auf
der Sparspur: Auffallend viele Produktionen wurden bei öffentlichen Lesungen mitgeschnitten, das drückt die Kosten.
Der Frankfurter Eichborn Verlag präsentiert die „Essais“ von Montaigne (gelesen von Otto Sander) und die Reihe „Die
Andere Bibliothek im Ohr“. Der Münchner Heyne Verlag startet mit 29 Titeln (darunter Amelie Fried, Horst Tappert und Bill
Gates), die meist auch in Buchform vorliegen. Das Bertelsmann-Programm „BMGWort“ bietet Comedy-Ware – und soll,
wünscht sich Geschäftsführer Karl Heinz
Pütz, „vor allem junge Leute ansprechen“.
Wer bereits im Hörbuch-Geschäft ist,
baut angesichts der vielen neuen Mitbewerber fix das eigene Angebot aus. So hat
der Hamburger Verlag Hoffmann und Campe, seit 1996 dabei, kürzlich
die Merian-Reihe „Die Lust
am Reisen“ mit zehn Titeln
vorgelegt, weitere zehn Titel
erschienen im Oktober. Der
Berliner Aufbau Verlag, seit
drei Jahren im Hör-Geschäft,
hat mit dem Südwestrundfunk, dem Mitteldeutschen
Rundfunk und dem Deutschlandradio rasch den AudioVerlag (DAV) gegründet.
„Wir wollen“, sagt DAVGeschäftsführer René Strien,
„einer der großen Spieler
werden.“ Unter den 33 neuen DAV-Titeln finden sich
etliche, zu denen es keine
Buchvorlage gibt – Hörspiele, Features und historische
Aufnahmen. „Mir ist wichtig“, so Strien, „das Hörbuch
als eigenes künstlerisches
Produkt zu etablieren.“
Trotzdem: Kultur-Konservative bemäkeln nicht nur,
dass die Vorlese-Produkte im
Handel teurer sind als ihre gedruckten Vorlagen, sondern
vor allem, dass die Originale oft willkürlich
gekürzt vorgetragen werden. Für HörbuchFans fällt das kaum ins Gewicht, gibt es
doch einen unschlagbaren Vorzug gegenüber dem Papier: Man kann Hörbücher
beim Autofahren oder Bügeln abspielen –
„Double your time“, heißt die Parole.
Der wachsende Konkurrenzdruck in der
Hör-Branche inspiriert zu ausgefallenen
Werbeideen. So vereinbarte DHV-Chefin
Baumhöver gerade eine Kooperation mit
dem Autoverleiher Europcar: In dessen
Leihwagen sollen demnächst Trailer-Kassetten ausliegen. Im Übrigen, sagt Baumhöver, glaube sie fest an Odysseus. Der
verstopfte einst den Gefährten die Ohren,
nicht die Augen, um den Sirenen zu widerstehen. „Es sind die Dichter, die es verstehen, uns mit Worten zu verführen.“
Hört, hört.
Sven Siedenberg
M. TRIPPEL / OSTKREUZ
och Anfang der neunziger Jahre
waren die Prognosen düster: Das
Hörbuch, ein traditionell vernachlässigtes Medium, galt als MinderheitenVergnügen für Senioren und Sehschwache,
bestenfalls als Einschlafhilfe für Studienräte. Nennenswerte Umsätze, so viel
schien klar, waren von dem akustischen
was mehr als Männer, und die unter 35Jährigen – sieh an – lauschen Büchern lieber als die schon sehschwächeren 55-Jährigen. Wer hören will, verzichtet deshalb
aber nicht aufs Lesen: Mehr als zwei Drittel der Interessierten, auch das wurde ermittelt, sind zugleich Buchkunden.
Vom wachsenden Erfolg der AudioBücher profitiert seit Jahren vor allem Der
Hörverlag (DHV). 1993 wurde er von acht
renommierten Verlagshäusern (darunter
Hanser, Suhrkamp, Klett-Cotta, Kiepenheuer & Witsch, Verlag der Autoren) in
München gegründet und brachte es binnen weniger Monate zum Marktführer. Der
Hör-Ableger vertreibt Schauspieler-Lesungen von anspruchsvollen Goethe- bis zu
horrortriefenden Stephen-King-Texten,
philosophische Reden von Theodor W.
Adorno ebenso wie Original-Lesungen von
Hörbuch-Kundin (in Berlin): Vom Stief- zum Hätschelkind der Branche
Literaturvergnügen nicht mehr zu erwarten.
Vorbeigeschätzt: Das Hörbuch (neudeutsch: Audio Book) hat sich vom Stiefzum Hätschelkind der Verlagsbranche entwickelt. Inzwischen, so weiß das „Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel“, vertreiben in Deutschland 150 Verlage mehr
als 4000 Titel mit einem Gesamtumsatz
von etwa 50 Millionen Mark. Die „FAZ“
spricht von einer „angeblichen Renaissance
des Hörens“. Und das „Handelsblatt“ jubiliert: „Der Markt boomt.“
Der vermeintlich unerwartete Hör-Trend
deutete sich aber bereits – für jeden nachlesbar – vor knapp drei Jahren an: in einer
Umfrage des Börsenvereins des Deutschen
Buchhandels. Das damalige Ergebnis: 40
Prozent der erwachsenen Deutschen interessieren sich für Hörbücher, Frauen et310
Ingeborg Bachmann und Elke Heidenreich.
Der Umsatz ist ein sorgsam gehütetes Betriebsgeheimnis, soll aber in den vergangenen Jahren Wachstumsraten von über 30
Prozent ausgewiesen haben.
Allein Jostein Gaarders „Sofies Welt“
wurde 50 000-mal als CD und Musikkassette verkauft, bei einem Stückpreis von
143 beziehungsweise 98,80 Mark. Zum Vergleich: Die 1997 zum Hörbuch des Jahres
gewählte Lesung von Victor Klemperers
„Tagebüchern 1933 – 1945“ aus dem Aufbau Verlag brachte es bisher nur auf 5000
verkaufte Exemplare. „Es ist uns gelungen,
ein attraktives Programm zu etablieren und
es vom Makel der schnöden Zweitverwertung zu befreien“, erklärt DHV-Chefin
Claudia Baumhöver, 40, den Erfolg.
Auf den hofft aber auch eine zunehmende Zahl von Konkurrenten. In diesem
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Kultur
Rückzug ins Iglu
Berühmt wurden die britischen Pet Shop Boys als
zynisch-coole Pop-Dandys. Auf Deutschlandtour beweisen sie
nun Mut zu bizarren Kostümen und zum großen Gefühl.
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enn der Pop-Monarch Elton John Andeutung und Verrätselung ist schließbesonders gute Freunde in sein lich essenziell in diesem Job. „Uns bereitet
Anwesen bei Windsor lädt, dür- schon das Einkaufen der Garderobe gefen sie mit ihm schon mal in den Stall ge- waltigen Spaß“, sagt Chris Lowe.
Wenn sie wollten, könnten die Pet Shop
hen. Den hat der Star zu einer Mischung
aus Lagerhaus und Museum ausbauen las- Boys den Rest ihrer Tage längst mit Shopsen: „Alles, was wir am Entertainer Elton ping verbringen. Tennant und Lowe gelten
John lieben, ist da: der glitzernde Base- als erfolgreichstes britisches Pop-Duo der
ball-Anzug und die Captain-Fantastic-Uni- vergangenen zwei Jahrzehnte. Einen Numform, die er in den siebziger Jahren trug“, mer-eins-Hit zu haben, so behaupteten sie
schwärmt der regelmäßige Elton-John-Gast mal, sei für sie ungefähr so aufregend, wie
eine Tasse Tee zu trinken – und entspreNeil Tennant, „es ist ein Traum.“
Von Freunden wie Elton John und David chend entspannt gehen sie auch heute noch
Bowie haben die Briten Neil Tennant, 45, zu Werke, obwohl ihre jüngeren Platten
und Chris Lowe, 40, bekannt
unter dem Namen Pet Shop
Boys, die Neigung übernommen, Popmusik als großen
Kostümball zu inszenieren.
Sie finden, wirkliche Stars
seien zu äußerer Attraktivität
verpflichtet. „Wir sind eher
unauffällige Typen und dazu
noch schüchtern“, sagt Tennant, „also verkleiden wir
uns so lange, bis wir einigermaßen aufregend aussehen.“
Verdammt hohe Ansprüche in einer Zeit, in der immer mehr Musiker aussehen
wie ihre Fans und auf der
Konzertbühne in den gleichen Fitness-Klamotten von
Adidas, Nike und Gap herumturnen wie die Menschen
im Publikum – und so haben
sich die Pet Shop Boys anlässlich ihres neuen Albums
„Nightlife“ und einer Welttournee, die sie von dieser
Woche an nach Deutschland
führt, nochmals mit viel Spaß
in Schale geworfen. Fahlweiß
haben sie sich die Gesichter
gepudert; dazu tragen sie
Sonnenbrillen und gelbblonde Struwwelperücken.
In dieser Verkleidung ähneln die beiden Briten dem
irren Killer der „Halloween“Horror-Filmreihen; Tennant
besteht allerdings darauf, das
Ganze sei eher als „Hommage an den kleinen Prinzen“ gedacht. „Aber egal –
soll sich doch jeder denken,
was er will.“ Das Spiel mit Duo Pet Shop Boys: „Wir sind schüchterne Typen“
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K. MAZUR
POP
mehr von Kritikern als von Käufern geschätzt wurden.
Tennant hat ein Landhaus im Norden
Englands erworben, wo er gern mit Gummistiefeln der Marke „Wellington“ und seinem Yorkshire-Terrier Kevin den Gärtnern
bei der Arbeit zuschaut, während Lowe in
den vergangenen Jahren fast nonstop zwischen London, New York und Ibiza auf
Party-Ausflug war. Eines Tages aber nervte
ein Taxifahrer den führerscheinlosen Multimillionär Tennant mit der Frage, wie denn
so das Leben als Frührentner sei – und er
befand, dass es „überfällig war, mal wieder
ein wenig Staub aufzuwirbeln“.
Mit ihrem neuen Album und noch mehr
mit ihrem Tourneespektakel erinnert das
Duo nun zum Jahrtausendende an seine
erstklassige Erfolgsbilanz – und will endlich auch jenen oberschlauen Kritikern den
Mund stopfen, die den beiden Pop-Dandys bis heute die Anerkennung als StilPioniere der jüngeren Musikgeschichte verweigern.
Damit schon die Bühne fabelhaft aussieht, hat der gelernte Architekt Chris Lowe
die Star-Architektin Zaha Hadid engagiert: „Jeder Auftritt
soll wirken wie ein Fest, das
wir alle paar Jahre für unsere
besten Freunde geben“, sagt
Lowe. Deshalb steht da eine
große Treppe, auf der sie als
Gastgeber auf und ab stolzieren können, und darunter ein
Iglu, in das sie sich verkriechen, wenn ihnen der ganze
Trubel unheimlich wird.
Ordentlich geklotzt wird
nicht nur bei den Kostümwechseln, sondern auch bei
der musikalischen Ausstattung. Mit Band, schwarzem
Gospelchor und einer Matrosengarde im Rücken singt
Neil Tennant die Hits von
„West End Girls“ bis „Go
West“ mit einer Wehmut, die
besagt, dass es so schön nicht
bleiben kann und vielleicht
nie wieder wird.
Zwischendurch spielt Tennant ganz lässig den einen
oder anderen der gemeinsamen Disco-Hits allein zur
akustischen Gitarre. Die
größte Leidenschaft aber zeigen die Briten bei der Verneigung vor ihrem großen
Idol, der im März dieses Jahres gestorbenen britischen
Sängerin Dusty Springfield.
Tennant und Lowe hatten
ihr in den späten achtziger
Jahren zu einem so spektakulären wie würdevollen
Comeback verholfen, und bei
der Beerdigung hielt Tennant
die Grabrede.
ALL ACTION / ACTION PRESS
Auch sonst ist die Begeisterung, mit der
die Pet Shop Boys das Spätwerk von unter
Einfallsnot leidenden Pop- und Rocksängerinnen aufpolieren, längst legendär. Tina
Turner haben sie ebenso betreut wie Liza
Minnelli, und selbst das von der britischen
Presse oft verhöhnte ewige Pop-Mädchen
Kylie Minogue ließen sie auf der neuen
Pet-Shop-Boys-Platte mitsingen und leisten
Beistand beim kommenden MinogueWerk.
Tennant, Lowe mit Pop-Diva Turner
Begeisterung für Sängerinnen in Not
Höchst grimmig reagierten Tennant und
Lowe, als der britische Autor Roger Scruton vergangenes Jahr in seinem Buch „An
Intelligent Person’s Guide to Modern Culture“ lästerte, „dass der Beitrag der Pet
Shop Boys zu ihrer eigenen Musik eher
minimal“ sei. Nach eigener Aussage haben
die beiden Stars Scruton wegen Rufschädigung verklagt, das Verfahren laufe noch;
schließlich gelten die Pet Shop Boys anderen Kritikern mittlerweile als Komponisten, deren Werk dem von John Lennon und
Paul McCartney ebenbürtig sei.
Berüchtigt sind Tennant und Lowe allerdings auch ihrerseits wegen ihrer Neigung zu hämischen Kommentaren über
die Pop-Konkurrenz: „Natürlich habe ich
stets behauptet, dass U2 und Police das
Schlimmste sind, was ich mir vorstellen
kann“, sagt Tennant, „aber so böse war
das nie gemeint. Ich gestehe: Einige PoliceHits habe ich mir heimlich sogar gern und
immer wieder angehört.“
Klingt ganz so, als seien die Pet Shop
Boys milde geworden und hätten sich
vom alten, eleganten Zynismus verabschiedet. Was etwa hat es zu bedeuten,
dass im Booklet der neuen CD klein
gedruckt vermerkt ist, der Tonträger sei
„Carbon Neutral“ hergestellt, also nicht
umweltbedenklich? Auf Nachfrage fühlen sich die Künstler ertappt: „Wir wissen
auch nicht, was das bedeutet. Müssten wir
im Lexikon nachschlagen“, sagt Lowe.
„Aber wir möchten uns auf keinen Fall
als Vertreter einer guten Sache oder als
Retter der Regenwälder hervortun. Diesen Teil der Show überlassen wir lieber
anderen.“
Christoph Dallach
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L AYO U T Rainer Sennewald, Wolfgang Busching, Sebastian Raulf;
Christel Basilon-Pooch, Katrin Bollmann, Regine Braun, Volker
Fensky, Ralf Geilhufe, Petra Gronau, Ria Henning, Barbara Rödiger, Doris Wilhelm, Reinhilde Wurst
P R O D U K T I O N Wolfgang Küster, Sabine Bodenhagen, Frank
Schumann, Christiane Stauder, Petra Thormann, Michael Weiland
T I T E L B I L D Thomas Bonnie; Maria Hoffmann, Stefan Kiefer, Oliver
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Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Dr. Claudia
Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr. Wilhelm Tappe, Dr.
Eckart Teichert, Dr. Iris Timpke-Hamel, Heiner Ulrich, Hans-Jürgen
Vogt, Carsten Voigt, Peter Wahle, Ursula Wamser, Peter Wetter,
Andrea Wilkens, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt
B Ü R O D E S H E R A U S G E B E R S Irma Nelles
I N F O R M A T I O N Heinz P. Lohfeldt; Andreas M. Peets, Kirsten
Wiedner, Peter Zobel
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Chronik
BERLINER FESTE „Bambi“-Verleihung und
erster Bundespresseball in der Hauptstadt.
SONNTAG, 14. 11.
mit hat die Industrie ihren Beitrag von
vier auf fünf Milliarden Mark erhöht.
Unternehmenssprecher betonen, dies sei
das letzte Angebot.
Schatzmeister Walther Leisler Kiep wird
zehn Stunden von der Augsburger Staatsanwaltschaft vernommen. Er bestreitet
Detailwissen über Geldtransfers. Der
Haftbefehl gegen ihn bleibt bestehen.
MAUERSCHÜSSE Politiker mehrerer Par-
FLUGZEUGABSTURZ US-Behörden konzen-
teien befürworten eine Begnadigung des
letzten Staats- und Parteichefs der DDR,
Egon Krenz.
trieren sich auf die Annahme, ein Pilot
habe die EgyptAir-Maschine absichtlich
abstürzen lassen. Ägyptische Ermittler
zweifeln an dieser Theorie.
MONTAG, 15. 11.
HANDEL China wird in die Welthandelsor-
ganisation (WTO) aufgenommen, 13 Jahre
war über den Beitritt gesprochen worden.
KONZERNE Der Frankfurter Bauriese Phi-
lipp Holzmann räumt überraschend eine
Milliarden-Überschuldung ein.
DIENSTAG, 16. 11.
DONNERSTAG, 18. 11.
OPERNHÄUSER Generalmusikdirektor
Christian Thielemann gibt bekannt, dass
er aus Verärgerung über den künftigen
Intendanten Udo Zimmermann und den
Berliner Kultursenat seinen Vertrag als
Generalmusikdirektor nicht verlängern
wird.
WIRTSCHAFT Der Sachverständigenrat zur
Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen
Entwicklung stellt seine jüngste Prognose
vor. Die Wirtschaft wird nach Ansicht der
„fünf Weisen“ im kommenden Jahr um
2,7 Prozent wachsen, der Arbeitsmarkt
werde davon aber kaum profitieren. Die
Arbeitslosenquote werde minimal sinken,
von 10,5 auf 9,9 Prozent.
SPORT Die mehrmalige Grand-Slam-Siegerin Steffi Graf nimmt im New Yorker
Madison Square Garden vor 12 000 Zuschauern Abschied vom Profi-Tennis.
MITTWOCH, 17. 11.
ZWANGSARBEITER-STREIT Bundesregierung
und deutsche Industrie bieten NS-Opfern
insgesamt acht Milliarden Mark an. Da-
MONTAG
23.00 – 23.35 UHR SAT 1
SPIEGEL TV
REPORTAGE
Feste Feiern! – Die Partymacher
PARTEISPENDENAFFÄRE Der Ex-CDU-
koalition kündigen an, in Kürze ein
Atom-Ausstiegsgesetz vorlegen zu wollen
– notfalls auch gegen den Willen der
Kraftwerksbetreiber.
ATOMAUSSTIEG Vertreter der Regierungs-
SPIEGEL TV
FREITAG, 19. 11.
SPIEGEL TV
SAMSTAG, 13. 11.
13. bis 19. November
Partygäste
Ihr Kapital sind dicke Adressbücher und
exzellente Kontakte zu den Wichtigen
und Wichtigtuern: Dutzende von so genannten Event-Managern profitieren von
der boomenden Party-Szene. Beobachtungen hinter den Kulissen.
DONNERSTAG
22.05 – 23.00 UHR VOX
SPIEGEL TV
EXTRA
FUSIONEN Die britische Mobilfunkfirma
Der Luxustempel
Vodafone Airtouch hat ihr ursprüngliches
Übernahmeangebot für Mannesmann um
38 Milliarden Mark auf 243 Milliarden erhöht. Mannesmann zeigt sich unbeeindruckt. Sowohl die Aktien von Vodafone
als auch von Mannesmann sinken.
Durchschnittlich 80 000 Kunden stürmen
täglich das KaDeWe am Berliner Wittenbergplatz.
FREITAG
22.10 – 0.15 UHR VOX
TSCHETSCHENIEN-KONFLIKT In der Ab-
SPIEGEL TV
schlusserklärung des Gipfeltreffens der
Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hat Russland erstmals eine Vermittlerrolle der
OSZE für eine politische Lösung der
Tschetschenienkrise anerkannt. Ungeachtet dessen lehnt der russische Außenminister Igor Iwanow eine Vermittlung ab.
Stalingrad –
Anatomie einer Entscheidungsschlacht
THEMENABEND
Im Spätsommer 1942 dringen die Angriffsspitzen der deutschen 6. Armee in
die von der Roten Armee erbittert verteidigte Stadt ein. Im November werden
die Angreifer eingeschlossen.
SAMSTAG
22.15 – 0.20 UHR VOX
In der Nacht zum Donnerstag prasselte ein kosmischer Staubsturm auf die
Erdatmosphäre nieder – er
erzeugte tausende von
Sternschnuppen.
SPIEGEL TV
SPECIAL
Die letzte Fahrt der „Bismarck“
Dokumentation über das einst größte
deutsche Schlachtschiff, den Einsatz im
Nordatlantik, seine Versenkung und die
Suche nach dem Wrack.
SONNTAG
22.50 – 23.40 UHR RTL
SPIEGEL TV
MAGAZIN
REUTERS
Mobiltelefone unter Verdacht – wie gefährlich sind Handys wirklich? Brandstifter im Staatsdienst – ein V-Mann des
Verfassungsschutzes packt aus; Die
Autobahn der Albaner-Mafia – wie gestohlene deutsche Limousinen in Tirana
landen.
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317
Register
Paul Bowles, 88. Bekannt wurde er in
GASTAUD / SIPA PRESS
Deutschland eigentlich nur mit seinem Roman „Der Himmel über der Wüste“ (1949),
und auch das erst sehr verspätet durch die
erfolgreiche Verfilmung von Bernardo Bertolucci aus dem Jahre 1990 – wobei der
alte Schriftsteller als Kommentator der
Geschichte eindrucksvoll ins Bild kam.
Bowles, Sohn eines New Yorker Zahnarztes, begann seine künstlerische Laufbahn
als Komponist, er schrieb vor allem Bühnen- und Filmmusik. Seit 1947 lebte er in
Tanger, das er zuvor auf einer seiner vielen Reisen kennen gelernt hatte. Marokko
und die Wüste spielten fortan eine große
Rolle in den Romanen und Erzählungen,
zu denen ihn vor allem seine Frau Jane angeregt hatte, die 1973 starb. Schreiben verlor danach für ihn an Interesse – da er ihr
nicht mehr vorlesen könne, sagte er. Paul
Bowles starb am vergangenen Donnerstag
in Tanger.
Daniel Nathans, 71. Dem Sohn russischjüdischer Immigranten verdankt die moderne Genforschung ihr wichtigstes Werk318
d e r
Karl Feuerstein, 59. Der Mannheimer, der
1955 als Lehrling bei Daimler-Benz angefangen hatte, bewegte in dem Konzern
mehr als mancher Vorstand. Dass der Abbau von über 30 000 Arbeitsplätzen ohne
Entlassungen vollzogen wurde, dass die
A-Klasse von Mercedes-Benz in Rastatt gebaut wird, sind nur einige der Erfolge
Feuersteins, der die letzten zehn Jahre
als Betriebsratsvorsitzender wirkte. Ein
Klassenkämpfer war Feuerstein nie. Einfluss nahm er im direkten Gespräch mit
den Vorstandsvorsitzenden, mit Edzard
Reuter und Jürgen
Schrempp. Doch dabei scheute er deutliche Worte nicht.
Als Schrempp die
Lohnfortzahlung im
Krankheitsfall kippen wollte, drohte
Feuerstein mit Arbeitskampf („Auf einen groben Klotz
gehört ein grober Keil“) und stoppte den
Vorstoß. Karl Feuerstein starb vergangenen Dienstag.
s p i e g e l
AP
ULLSTEIN BILDERDIENST
Horst P. Horst, 93. Für
mehrere Generationen von Mode- und
Werbefotografen war
sein Stil, die Art, seine
Motive auszuleuchten,
sein „dramatic lighting“ maßgebend. 1930
aus Deutschland nach
Paris gekommen, wollte er eigentlich bei Le
Corbusier Architektur studieren, machte
dann aber als „Vogue“-Fotograf und Meister der Oberfläche Fotogeschichte. Die Berühmten, Schönen und Reichen wie Maria
Callas, Greta Garbo, Marlene Dietrich,
Gertrude Stein, Andy Warhol, den Herzog
von Windsor, er fotografierte sie alle – vom
Studium der antiken Statuen inspiriert – in
der kühlen Strenge des Klassizismus, so
dass sie so unnahbar und doch verführerisch wirkten wie ein Stillleben. Horst P.
Horst starb vergangenen Donnerstag in
Palm Beach Gardens/Florida.
Robert Kramer, 60. Der Geist der amerikanischen Jugendrevolte und der AntiVietnamkriegs-Bewegung haben sein Werk
geprägt: Mit agitatorischen Kurzfilmen und
spröden Bildberichten, die sich auf der
Grenze zwischen Dokumentarischem und
Fiktivem hielten, war
er ein Chronist seiner
Generation. Von 1980
an lebte Kramer in
Frankreich, wo er als
intellektueller Rebell
größere Sympathien
als in seiner Heimat
genoss, zeitweise auch
in Portugal (dort war
er an dem Film „Der
Stand der Dinge“ von Wim Wenders beteiligt), doch über Festivals und die Zirkel
von Gleichgestimmten hinaus hatte sein
Werk kaum Wirkung: auf Distanz respektiert als Verkörperung der heimatlosen USLinken, blieb er doch immer ziemlich allein. Robert Kramer starb am 10. November in Rouen (Frankreich) an Meningitis.
4 7 / 1 9 9 9
AP
zeug. Mit natürlichen Gen-Scheren, so genannten Restriktionsenzymen, gelang es
dem Mediziner und Molekularbiologen
1969 erstmals, Erbgut punktgenau zu zerlegen. Die Schneidetechnik ermöglicht
unter anderem die Entschlüsselung des
menschlichen Erbguts. 1978 erhielt der
Wissenschaftler den Nobelpreis für Medizin. Daniel Nathans, der seit 1981 Chef
der Fakultät für Molekularbiologie und
Genetik an der Johns-Hopkins-Universität
in Baltimore war, starb dort am vergangenen Dienstag an Leukämie.
Gestorben
Werbeseite
Werbeseite
Personalien
Bill Clinton, 53, US-Präsident, und Ehefrau
Hillary, 52, sind in der Gunst der Ameri-
Donald Trump, 53, amerikanischer Immobilien-Mogul und selbst ernannter
Präsidentschaftskandidat, absolvierte am
vergangenen Montag in Miami seine
außenpolitische Jungfernrede. Vor einer
Menge jubelnder Exil-Kubaner verriet
er, was er für den Máximo Líder Castro
übrig habe: „Persönlich nur zwei Worte:
,Adios, Amigo!‘“. Dabei vergaß der Casino- und Wolkenkratzer-Besitzer nicht
hinzuzufügen, das erste Hotel im freien
Kuba sei seins. Die Kubaner schrien:
„Viva Donald Trump!“ Seine Mitbewer320
Branson auf Werbetour
Richard Branson, 49, britischer Konzernherr (Virgin Records, Virgin Airways),
fuhr dieser Tage umgeben von Models auf
einem Pritschenwagen durch London. Der
Wagen war verglast und als gigantisches
Handy gestaltet, die Mädchen waren splitternackt, räkelten sich in roten Kissen und
schienen zu telefonieren. Der Multimilliardär und gescheiterte Ballonfahrer, der sich
zu Werbezwecken auch schon mal selber
bloß zu einem nackten Mann ins Bett
gelegt hat, wollte mit dieser Fahrt auf
ein weiteres Betätigungsfeld aufmerksam
machen, auf seine neue Mobilfunkfirma
Virgin Mobile. Der nicht eben zimperliche
„Mirror“ reagierte britisch. „Du unanständiger Junge“, schimpfte das Massenblatt, „das ist ein bejammernswerter, elender Versuch, mit einem völlig überflüssigen
turbogeilen Foto in die Schlagzeilen zu
kommen, aber mach weiter so.“ Schrieb’s
und druckte ganzseitig ein Foto von Bransons Fuhre.
Jacques Chirac, 66, französischer Staatspräsident, bestätigte auf einer Provinzreise
wieder einmal, dass er ein guter Esser und
Biertrinker ist. Bei einer Begegnung mit
dem Volk von Marseille anlässlich des 2600.
Geburtstags der Hafenstadt beschied der
Gourmand einen über den vermeintlich zu
niedrigen Brotpreis lamentierenden Bäcker
unter tosendem Beifall: „Wenn alle Franzosen so viel Brot essen würden wie ich,
würden Sie ein Vermögen machen.“ Für
die anschließende Visite in dem Marseiller
Experimentierviertel für friedliche Koexistenz von Immigranten hatte die multirassische „Vereinigung der Frauen jeglicher
Herkunft“ (AFDTO) ein von Algerierinnen, Afrikanerinnen und Spanierinnen angerührtes präsidiales Festmahl vorbereitet:
AP
F. OSSENBRINK
Rolf Schwanitz, 40, aus Jößnitz stammender SPD-Staatsminister und Beauftragter für die neuen Bundesländer, misstraut der Sicherheit im Bundeskanzleramt.
Seinen Laptop mit den politisch wichtigen Daten wollte der Ost-Politiker nächtens, Passwort hin
oder her, nicht ungeschützt im Amt
lassen, das provisorisch im Gebäude des ehemaligen
Staatsrats der DDR
untergebracht ist.
Auch der Hausdienst schien ihm
nicht sicher genug.
So ersann der gelernte Diplomjurist
eine mechanische
Verschlussvorrichtung für die Festplatte. Gelegentlich
Schwanitz
braucht Schwanitz
zur Aktivierung des Computers nun die
Hilfe seiner Büroleiterin – wenn er vergessen hat, wo er den Schlüssel für das hochgesicherte Hightech-Gerät versteckt hat.
BULLS PRESS
kaner weiter abgesunken. Bei einer Umfrage des Boulevard-Blatts „New York
Post“, wer die schlimmsten Vertreter des
Menschengeschlechts in den letzten 1000
Jahren waren, erhielten die beiden geradezu bestürzende Ergebnisse. Bill Clinton
sei, so votierten die Leser, nach Adolf Hitler die zweitschlimmste Gestalt des ausgehenden Jahrtausends. Auch Gattin Hillary,
derzeitige Konkurrentin von New Yorks
Bürgermeister Rudolph Giuliani um den
Posten des Senators für die Weltstadt,
kommt kaum besser weg. Sie wurde nach
den Massenmördern Stalin, Pol Pot und
Josef Mengele auf den sechsten Rang verwiesen, noch vor Saddam Hussein und
dem Organisator der Transporte von Juden in die Vernichtungslager, Adolf Eichmann. An dieser „Millennium-Umfrage“
hatten sich 19 184 Leser beteiligt.
Trump, Knauss
d e r
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ber wusste er zu deklassieren: „Machten sie Milliarden Dollar in kurzer Zeit?
Nein. Können sie das überhaupt? No.“
Und selbst seine verflossenen Ehefrauen
(zwei) sowie auch die neueste Freundin
an seiner Seite, Melania Knauss, 26,
mit der er gelegentlich öffentlich Monopoly spielt, wusste Trump für seine Bewerbung um das Präsidentenamt einzusetzen: „Der einzige Unterschied zwischen mir und den anderen Kandidaten
ist, dass ich ehrlicher bin und die schöneren Frauen habe.“
Paella. AFDTO-Präsidentin Marie-Rose Di
Vita informierte die Medien: „Er hat gegessen für drei.“ Nur beim Runterspülen
des spanischen Nationalgerichts führte der
Elysée-Palast dann doch diskret Regie: Die
Damen mussten den bereits georderten
Lieblingstrunk Chiracs, mexikanisches
Corona-Bier, durch elsässisches Kronenbourg 1664 ersetzen. Dass der Bierfreund
mit sichtlichem Behagen schlürfte, überraschte Insider nicht: Aus patriotischen
Rücksichten hebt Chirac seit seinem Einzug
in den Elysée die französische grüne Flasche, lässt sie jedoch vorher von seinen
Leibwächtern heimlich mexikanisch umfüllen.
November zu hören, ist „ein Kollege aus
dem ,heute journal‘“. Übrigens: Der
Glückliche ist Berliner und heißt René.
Marlène Laffond, 26, französische Verkäuferin, siegte in einem republikanischen
Schönheitswettbewerb über das Top-Model
Laetitia Casta, 21. Künftig wird sie statt der
korsischen Schauspielerin als Büste der na-
AFP / DPA
Anja Charlet, 30, Nachrichtensprecherin
beim ZDF-„heute journal“, erhielt vergangenen Donnerstag eine späte Liebeserklärung von der „FAZ“. Da bedauerte
ein Redakteur mit dem Kürzel L. J., dass
„alle Liebesbriefe, die sie von ihren Fans
bekam, als sie noch Anja Wolf hieß“, nun
„umsonst“ gewesen seien. Was der Redakteur nicht mitbekommen hatte: Bereits eineinhalb Wochen vorher, am 6. November,
hatte das „heute journal“ die Heirat der
Sprecherin verkündet. Nun war der „FAZ“Mann in Not: „Ein paar Tage hatte man das
,heute journal‘ geschwänzt, und als man
wieder einschaltete, war alles anders; man
wollte seinen Ohren kaum trauen, als Wolf
von Lojewski zu dem vertrauten Gesicht
mit dem neuen Namen überleitete.“ In Erfüllung geht wohl „der Wunsch“ des enthusiastischen Fans von der „FAZ“, „dass
die rotblonde Frau, die die Nachrichten
mit der brüchigsten, chansonhaftesten
Stimme der Welt verlesen kann, den Sender nicht verlässt“. Warum sollte sich das
Ehepaar, kaum getraut, schon wieder trennen? Anja Charlets Ehemann, so war am 6.
Laffond
A. KIRCHHOF / ACTION PRESS
tionalen „Marianne“ das Rathaus ihres Heimatdorfs Roulans bei Besançon zieren. Den
Sieg verdankt die künftige Roulans-Marianne einem Zornesausbruch des Bürgermeisters ihrer 1005-Seelen-Kommune,
Georges Mailley, 73. Der „maire“ hatte aus
Protest dagegen, dass für die landesweite
Wahl des Revolutionssymbols – frühere
Modelle: Brigitte Bardot, Catherine Deneuve – nur Showstars aufgestellt worden
waren, einen lokalen Marianne-Wettbewerb
ausgeschrieben. „Der Erfolg warf mich um“
– so Monsieur le Maire: 38 Kandidatinnen
zwischen 12 und 61 Jahren stellten sich, die
Wahlbeteiligung erreichte den Lokalrekord
von 63 Prozent. Roulans’ Marlène-Marianne wird nun, im Unterschied zu den in Massenproduktion in der Gipserei des Pariser
Louvre gefertigten Vorgängerinnen, in Granit gehauen. Der lokale Amateur-Skulpteur
Gilbert Moigeon, 70, hat sein Künstler-Urteil bereits fertig: „Nichts gegen die Casta,
aber Marlène ist hinreißender.“
Christine Bergmann, 60, Bundesfamilienministerin (SPD), geriet beim Kokettieren mit dem Alter an die Falsche. Vergangene Woche besuchte die Politikerin eine
Grundschule in Berlin-Mitte und überreichte den ersten so genannten Kinderrechtekoffer stellvertretend für alle Kinder der Republik. Auch eine Geburtstagstorte aus Anlass des 10. Jahrestages der
Uno-Kinderrechtskonvention wurde aufgefahren, bestückt mit zehn brennenden
Kerzen. „Nun helft ’ner alten Frau mal
beim Auspusten“, bat die Ministerin. Doch
auf solche Töne ließ sich die siebenjährige
Miriam gar nicht erst ein: „Von wegen alte
Frau. Du hast doch eine viel größere
Lunge als wir.“
Charlet
321
Hohlspiegel
Rückspiegel
Aus der „Rhein-Neckar-Zeitung“: „Ist Berti Vogts zu anspruchsvoll geworden? Zu
schleckig wie die schönen Frauen unserer
Jugend, die immer nach dem Nächsten und
noch Besseren guckten, und nun ziehen an
ihren einst erotischsten Stellen die Spinnen
Fäden?“
Zitate
Aus der „Süddeutschen Zeitung“: „Der
Vater von Eva-Maria Fitze gilt in der Szene als klassische Eiskunstlaufmutter.“
Aus der „Bild-Zeitung“
Aus den „Badischen Neuesten Nachrichten“
Aus der Tageszeitung „15 Uhr aktuell“: „In
den nächsten zwei Jahren sollen Studien an
menschlichen Versuchstieren die Ergebnisse bestätigen.“
Aus der „Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen“: „Das Bad Wildunger PET
(Positron Emissions Tomograf) ist – nach
Hamburg und Frankfurt – das bisher dritte in Hessen arbeitende Gerät.“
Peter Gauweiler in der „Süddeutschen
Zeitung“ über Franz Josef Strauß
und seinen Kritiker Rudolf Augstein:
Franz Josef Strauß und seine Kritiker. Von
der Parteien Gunst und Hass verzehrt oder
so ähnlich. War es Liebe? Oder Hass? Oder
Hassliebe? Ein Verhältnis „in tödlichem
Clinch“, wie Rudolf Augstein meinte. Umgebracht haben sich diese Gegenkameraden allerdings nie und wenn doch, dann
nur so, dass der gerade Niedergestreckte
sofort wieder aufstand und weiter tat. Wer
in der Nachkriegs-Publizistik darauf aus
war, in der Politik Heuchelei und Gewäsch
zu entlarven, konnte Straußens Maßstäben an sprachlicher Klarheit und seinem
unbedingten Willen, verstanden zu werden, ohnehin den Respekt nie versagen.
Der irritierte Augstein über einen Privatbesuch von Strauß bei ihm zu Hause: „Andererseits war er aber auch derart präsent,
dass man sagte: Der ist es!“
Michael Jürgs in der „Süddeutschen
Zeitung“ in seinem Porträt
des früheren Kohl-Beraters Andreas
Fritzenkötter über einen Brief
Rudolf Augsteins an Helmut Kohl:
Da erinnerte sich der ehemalige SpinDoctor an eine schöne Geschichte. Gedenkfeier Adenauer in Rhöndorf. Kohl studiert die Schleifen an den Kränzen. Bei
der von Rudolf Augstein stutzt er und sagt,
na, von dem werde ich wohl keinen bekommen. Eine Woche später ruft der Kanzler seinen Fritzi und zeigt ihm einen Brief:
„Lieber Kanzler, doch, Sie kriegen Ihren
Kranz. Rudolf Augstein.“ Das hat den Kohl
beeindruckt, sagt Fritzenkötter, das hat ihm
gefallen.
Die „Berliner Zeitung“ zum SPIEGELBericht „Europa – Tatort eines Krimis“
über Schlamperei und Milliardenverschwendung, die der EU-Rechnungshof enthüllte (Nr. 45(/1999):
Aus der „Augsburger Allgemeinen“
Aus einer Beilage der „Allgäuer Zeitung“:
„1968 ein kurzer Hoffnungsschimmer: Gewaltsam beenden Sowjettruppen den ,Prager Frühling‘ und marschieren in der damaligen ∏SSR ein.“
Aus dem Kreta-Reiseführer des Nelles Verlages, München: „Kreta hat alles miterlebt
– den Untergang des Minoer-Reiches, den
Aufstieg Venedigs, die Islamisierung durch
die Türken, die Brutalität der Nazis und
den gegenwärtigen Tourismus – nichts
blieb der Insel erspart.“
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Die Europa-Abgeordneten fühlten sich auf
den Schlips getreten. Seit Jahren schon versuchen sie, die EU-Kommission und die
anderen europäischen Institutionen dazu
zu bekommen, bei wichtigen Ereignissen
zuerst das Parlament zu unterrichten und
dann erst die Presse einzuberufen. Dass
das Magazin SPIEGEL den Bericht des Europäischen Rechnungshofes ganze zehn
Tage vor ihnen in die Hände bekommen
hatte, traf die Straßburger Volksvertreter
denn auch an einer besonders empfindlichen Stelle. Ihre Rache: Sie strichen die
für Dienstag vorgesehene Debatte über
den Rechnungshofbericht von der Tagesordnung und luden den Präsidenten des
Hofes, Jan Karlsson, wieder aus.
d e r
s p i e g e l
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