Forum Tanz 2015 Die Zukunft gehört dem Tanz

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Forum Tanz 2015 Die Zukunft gehört dem Tanz
 Forum Tanz 2015
Die Zukunft gehört dem Tanz
16. Oktober 2015, Fribourg
Honne Dohrmann – Tanzdirektor am Staatstheater Mainz (D): „Aufbruch in die
Tanzgesellschaft“
Meine sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
zunächst möchte ich mich ganz herzlich für die Einladung durch RESO, Danse Suisse und
Pro Helvetia bedanken, besonders bei Wanda Puvogel und Noémie Delfgou. „Auf dem Weg
in die Tanzgesellschaft“ habe ich meinen kleinen Beitrag übertitelt. Nach der Wissens- und
der Informationsgesellschaft nun die Tanzgesellschaft? Das wäre ein hehres Ziel, dürfte
aber noch ein Weilchen dauern. Ernster ist es mir, wenn ich an das für die gemeinsame
Zukunft notwendige Zusammenwirken aller im Tanz arbeitenden Kräfte denke. In meinem
Arbeitsalltag interessiert mich die Schnittstelle zwischen freier Szene und der Institution
Stadt- oder Staatstheater besonders, denn ich habe fast täglich mit ihr zu tun. Und das
bestärkt meinen Wunsch und meine Hoffnung, dass wir in Zukunft noch stärker gemeinsam,
als Tanzgesellschaft, wirken können. Ausgehend von meiner eigenen Berufsbiografie und
dem davon beeinflussten Modell unseres Tanzschaffens in Mainz, möchte ich einige Trends
und Perspektiven im Hinblick auf das Jahr 2030 ableiten.
Ich komme aus einer norddeutschen Handwerkerfamilie in der Fussball wichtiger als die
Kirche war und der zeitgenössische Tanz ebenso weit weg wie ein bemannter Raumflug.
In Göttingen studierte ich Germanistik und Publizistik, schloss mich dort für eine Weile dem
grossen Studententheater an, um dann nach Berlin weiterzuziehen und noch
Theaterwissenschaften zu belegen. Nach meinem Abschluss verdiente ich in meinen ersten
Berufsjahren mein Geld beim Fernsehen – meistens als Sportreporter.
Ich glaube, dass in dieser Zeit auch mein Hang zu Grossveranstaltungen entstand, der
mich in meiner späteren Theaterlaufbahn immer wieder begleitet hat. „Theater muss wie
Fussball sein“ heißt ein schon 1981 erschienenes Buch von Dietmar Roberg über das freie
Theater. Dieser Titel hat mich immer angesprochen und wenn ich das, in Anbetracht meiner
heutigen Lebenswelt in „Tanz muss wie Fussball sein“ übersetze, dann kann ich mich damit
identifizieren – zumindest in einigen Aspekten. Weil es zwei Welten in mir vereint, und weil
ich tatsächlich glaube, dass der Tanz ein hohes emotionales und spielerisches Potential
hat, das wir - auch in seinen experimentellen Facetten - brauchen, um unsere Zukunft
besser zu verstehen und zu bewältigen. Zudem bin ich davon überzeugt, dass der
künstlerische Tanz in Zukunft – auch wenn er nie Stadien füllen wird - ein noch viel größeres
Publikumspotenzial hat als heute. Wenn es uns denn gelingt, unsere Ressourcen zu
bündeln und das was wir tun, zeitgemäß zu vermitteln.
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Meine Laufbahn als Sportreporter hielt übrigens nicht sehr lange an. Gerade als ich vor
einem kleinen Karrieresprung stand, bekam ich das Angebot mich dem Theaterkollektiv der
Kulturetage Oldenburg als Gastspielkoordinator anzuschließen. Mit fliegenden Fahnen
wechselte ich aus der heutigen Hauptstadt in die niedersächsische Provinz. Fortan
arbeitete ich 20 Wochenstunden mehr, meine Gehaltseinbuße betrug 65%. Willkommen in
der freien Szene! Ich war glücklich. Jahr für Jahr jagten wir dem Staatstheater, dem
„Klassenfeind“ auf der anderen Seite der Innenstadt, mehr Besucher ab. Meine Frau,
Lehrerin, hielt die Familienstellung und trug den größeren Teil zum Haushaltseinkommen
bei.
Als ich vor 20 Jahren in Oldenburg mit dem Tanz Tuchfühlung aufgenommen hatte, war es
übrigens bald um mich geschehen. Dem Theater gegenüber war Tanz für mich
internationaler, sinnlicher, innovativer, die Tänzer nicht so anstrengend wie die
Schauspieler, und die Stücke schneller vorbei. Ich war bereit für den Tanz, aber der Tanz
nicht für mich.
Es sollte noch einige Jahre dauern, bis ich schliesslich über die Leitung des TANZ Bremen
Festivals den Einstieg fand; ich wurde sogar für kurze Zeit am Theater Bremen Dramaturg
bei ihrem Schweizer Landsmann Urs Dietrich und ging dann als Kurator nach Hamburg in
die Internationale Kulturfabrik Kampnagel, für mich bis heute ein Tempel der freien Szene.
Als der Vertrag von Intendantin Gordana Vnuk auslief, war es auch für mich an der Zeit zu
gehen. Was dann passierte, hätte ich nicht erwartet: Markus Müller, ein ebenso visionärer
wie energiegeladener damals 32-jähriger Staatstheaterintendant lud mich ein, die Position
des Ballettdirektors am Oldenburgischen Staatstheater zu bekleiden, die wir flugs in
Tanzdirektor umbenannten. Jetzt war ich beim ehemaligen „Klassenfeind“ gelandet, auf der
anderen Seite der Innenstadt. Aber die scharfen Grenzen waren dort schon verwischt.
Innovation und Dynamik waren inzwischen auch Dank viel besserer Förderung hier an
diesem besonderen Staatstheater verankert, nicht mehr so sehr in meiner ehemaligen
Wirkungsstätte. Denn die Kulturetage war mittlerweile wie viele freie Initiativen finanziell
ausgeblutet. Meine alten Kollegen dort mussten viele Parties und Konzerte veranstalten, um
sich und das Haus über Wasser zu halten. Ein typisches deutsches freie Szene-Schicksal,
kulturpolitisch leider so gewollt.
Der neue Aufbruch fand also am Oldenburgischen Staatstheater statt: Unser Plan hiess
„kuratorisches Modell“, ein festes Ensemble ohne festen Chefchoreografen, das externe
Künstler einlädt. Zunächst Jan Pusch und später Guy Weizman waren als
Hauschoreografen dicht bei uns und bildeten mit einer Kreation pro Jahr eine Art
künstlerischer Referenz. Schon bald stellte sich in Oldenburg die erhoffte Win-Win-WinSituation ein. Wir konnten - und können es heute in Mainz mehr denn je – dem Publikum
vielfältige Handschriften ausgesuchter Choreografen zeigen. Wir waren in der Lage, dank
der Attraktivität unseres Konzepts auch abseits der grossen Zentren ein
überdurchschnittlich starkes Ensemble zu vereinen, denn gerade für ambitionierte Tänzer
ist dieses Modell spannend: Sie können in einer Spielzeit mit Sharon Eyal oder Ann van den
Broek oder José Navas neue Werke erarbeiten, ohne sich durch Auditions kämpfen zu
müssen und zwischendurch arbeitslos zu sein. Gerade am Anfang war es das hoch
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talentierte Ensemble, das uns auf die Sprünge half und erstklassige Choreografen von einer
Kreation in der Provinz überzeugte. Was wiederum für gute Zuschauerzahlen sorgte...
Nach sieben guten Jahren in Oldenburg sind glücklicherweise 11 der 13
Ensemblemitglieder im vergangenen Jahr dem Intendanten Markus Müller und mir 500
Kilometer gen Süden gefolgt, an das Staatstheater Mainz. Dort haben wir die ehemalige
Ballettstruktur Martin Schläpfers und seines Nachfolgers Pascal Touzeau übernommen, die
wir zahlenmäßig nicht antasten wollten. Deshalb sind wir mit nunmehr 20 Tänzern vielleicht
die größte zeitgenössische Stadt- bzw. Staatstheatercompagnie in Deutschland. Davon gibt
es übrigens 61, von denen ich persönlich aber höchsten acht als zeitgenössisch
bezeichnen würde.
Seit 2007 arbeiten wir jetzt daran, die Qualitäten beider Seiten zu vereinen, von
Staatstheater und freier Szene. Unsere Arbeit ruht dabei auf vier Pfeilern: der Kreation
eigener Uraufführungen, einer derzeit erfreulich zunehmenden internationalen
Gastspieltätigkeit, eines engagierten tanzmainz festivals sowie partizipatorischer Angebote,
darunter ein neuer Jugendclub für zeitgenössischen Tanz und eine – von den Vorgängern
übernommene – Ballettschule.
Für die Vielzahl der Aufgaben müssen die Tänzer enorm vielseitig sein.
Die Mehrheit von ihnen hat zumindest einen Teil ihrer Ausbildung in den Niederlanden
absolviert, denn dort legt man neben einer soliden Grundausbildung viel Wert auf
Improvisationstechniken und selbstbewusste Performer. Das sind genau die Qualitäten, die
tanzmainz benötigt. Von der spielerischen Magie einer Danièle Desnoyers bis zur
Konzeptkunst von Adrienn Hód muss man zu allen Stilen fähig sein und zur Entwicklung der
Arbeit beitragen können und wollen. Zeitweilig haben wir auf zwei ausgeschriebene Stellen
fast 800 Bewerbungen.
Unsere Strukturen sind zweifellos stärker vom Staatstheater geprägt als von der freien
Szene. Die Hierarchie ist sehr flach, aber ein Kollektiv sind wir nicht. Ich könnte mir
durchaus auch andere Ausrichtungen vorstellen, mit noch mehr Mitbestimmung der Tänzer
zum Beispiel oder einer Organisation mit mehreren kleinen Tanzensembles bzw.
Produktionsteams unter einem Dach statt eines grossen. Aber soweit ist es noch nicht.
Natürlich ist noch nicht alles Gold, was da manchmal an unserem Modell schon ein
bisschen glänzt. Die Vielzahl der Aufgaben, die wir uns selbst stellen, überfordert zuweilen
uns und auch das Haus. Wie soll man die Qualität eines wachsenden Repertoires sichern,
wenn man auf Gastspielanfragen flexibel reagieren will und deswegen Probenprozesse
immer wieder unterbrechen muss. Was ist wichtiger, ein Gastspiel oder die Zuverlässigkeit
einer Abonnementsvorstellung? Wie auf Gastspielreise gehen, wenn wegen fehlender
Techniker dann das eigene Theater dann brach liegt? Wir wollen die Dinge weiter
entwickeln, aber die Tücken stecken oft im Detail.
Was wir dem Haus (und manchmal auch dem Publikum) jetzt abverlangen, war dort bislang
nicht vorgesehen. Ein Repertoirehaus soll auf einmal Produktionsstandort mit
Tourneebetrieb und manchmal auch Eventbude sein. Und so passiert es immer wieder mal:
Wir überfordern uns und unsere Kollegen. Versuchen immer Staatstheater und ein bisschen
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freie Company zu sein. Aber alles geht nicht. Wir brauchen noch Zeit, um Prioritäten zu
setzen und unseren eigenständigen Weg weiter auszugestalten.
Die drei größten Herausforderungen für mich als Leiter von tanzmainz sind: Erstens, dem
Ensemble auch ohne festen Choreografen ein Gesicht zu geben. Zweitens, dieser Gruppe
von starken Künstlerpersönlichkeiten genug Raum für individuelle Entfaltung zu verschaffen,
aber gleichzeitig mit Hilfe unserer Probenleiter ein diszipliniertes Ensemble zu formen, das
auch komplexe Unisoni in erstklassiger Qualität tanzen kann. Drittens, für ein
anspruchsvolles zeitgenössisches Stück das nicht „Schwanensee“ heißt, im Opernhaus
10.000 Tickets in einer Stadt von 200.000 Einwohnern verkaufen. Noch schaffen wir das
nicht. Aber wir arbeiten dran.
Wir haben erkannt, dass die starken Strukturen mit festangestelltem Personal und
leistungsstarken Werkstätten unsere Staatstheatercompany zu einer echten Lokomotive
machen können. Aber unsere Gleise sind natürlich auch festgelegt. Wenn das Staatsheater
eine Lokomotive ist, dann sind unsere Kooperations- und Koproduktionspartner aus der
freien Szene Skateboards. Zerbrechlicher, aber schnell, enorm flexibel und leider
manchmal auch cooler. Tanzmainz ist gut vernetzt und pflegt intensive Partnerschaften z.b.
mit Club Guy and Roni in den Niederlanden oder der EnKnap Group von Iztok Kovac in
Slowenien. Wir organisieren gemeinsame Auditions, entwickeln Stücke, bei denen unsere
Tänzer zuweilen zusammen auf der Bühne stehen, die dann einerseits im Staatstheater im
Abonnement laufen und andererseits in den Gastspielorten der freien Szene auf Tournee
sind. Wir tauschen Produktionen aus und gelegentlich auch Trainer. Gerade haben wir
gemeinsam einen EU-Antrag zur Förderung junger Tänzer gestellt.
Vieles von dem, was wir heute tun, war vor zwanzig Jahren kaum denkbar. Zu Beginn
meiner Tätigkeit im Tanz habe ich meine deutschen Kollegen vor allem im Ausland
kennengelernt, weil wir so grottenschlecht vernetzt waren. Inzwischen haben wir in
Deutschland die Tanzmesse, die deutsche Tanzplattform, und neuerdings den grossartigen
Tanzkongress. Die Tanzmedizin und das Transitionszentrum wurden etabliert.
Förderentscheidungen werden zumeist nicht mehr von einzelnen Beamten in ihren
Amtsstuben getroffen, sondern von Fach-Jurys und Vergabeausschüssen. Es gibt eine
segensreich wirkende Bundeskulturstiftung, die viele neue Mittel und Impulse freisetzt.
Meines Wissens hat sich auch bei ihnen in der Schweiz in dieser Hinsicht ähnlich viel getan,
in den letzten Jahren sogar mit erstaunlicher Dynamik. Sowohl die Schweiz als auch
Deutschland haben eine ständige Konferenz Tanz etabliert. Kurz gesagt: Der Tanz ist
zunehmend erwachsen geworden.
Diese Erkenntnis und die Tatsache, dass hier heute fast 200 Tanzschaffende aus der
ganzen Schweiz und allen Bereichen des Genres zusammen gekommen sind, ist ein gute
Gelegenheit, um eine Augenblick innezuhalten. Auch wenn es in puncto Infrastruktur,
Ausbildung oder Altersvorsorge für Tänzer natürlich noch sehr viel zu tun gibt: Wir haben,
Sie haben, viel erreicht und damit das auch weiterhin so sein wird, sollten wir vielleicht
heute statt über Forderungen zunächst einmal über Herausforderungen sprechen. Bitte
sehen Sie mir nach, wenn ich in meinen Überlegungen zuweilen von denen mir besser
vertrauten Verhältnissen in Deutschland ausgehe.
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Mit über 7,4 % mehr Zuschauern hat der Tanz lt. einer Statistik des Deutschen
Bühnenvereins in der Spielzeit 2013/2014 nach den Musicals die meisten Zuschauer
gewonnen und eine überproportionale Steigerung geschafft. Das ist sehr erfreulich, doch
ändert es wenig daran, dass der Tanz – zumal der zeitgenössische – sich nur sehr langsam
breitere Publikumsschichten erschließt. Es mangelt uns manchmal immer noch am Kontakt
zur Welt da draußen. Folgt man einer jüngsten Erhebung von statista.de, dann gehen rd.
3% der deutschen Bevölkerung regelmäßig ins Theater. In einem Mehrspartenhaus wie in
Mainz, besuchen davon etwa 15% unsere Tanzveranstaltungen. Wenn ich mir etwas
grosszügig erlaube das zu generalisieren, dann heißt das, das nur ungefähr 0,5% der
Bevölkerung regelmäßig zeitgenössischen Tanz sehen, während knapp 50% überhaupt nie
in irgendein Theater gehen. Ich vermute, dass die Zahlen in der Schweiz nicht anders
aussehen. Jede Stadttheaterkarte in Deutschland wird mit durchschnittlich ca. 100 Euro
bezuschusst. Auch von den 50%, die nie ins Theater gehen. Die linke Hälfte des
Auditoriums hier geht also nie, aber die Dame hier vorne rechts gerne und häufig. Das ist
gut und macht mir Hoffnung. Wenn die Dame fünf Mal im Jahr geht, macht das 500 Euro
Förderung. Wären Sie so nett und würden Sie hier auf der linken Seite ihr Portemonnaie in
die Hand nehmen und der Dame die 5 Euro für diese Spielzeit geben?! Schweizer Franken
tun's auch... Ich spüre einen leichten Widerstand. Das ist ganz normal, denn es ist im
Grossen in unserer Gesellschaft genauso. Es ist eine enorme Errungenschaft, dass es Jahr
für Jahr gelingt, den Tanz und viele andere Künste zu subventionieren.
Dass ich das an dieser Stelle so explizit betone, hat mit der Zukunft zu tun. Sie alle haben
es schon gehört oder gelesen: Folgt man den Experten, dann wird sich unsere Gesellschaft
mit zunehmender Dynamik verändern. Wenn der Tanz weiterhin an Relevanz gewinnen will,
dann sollten wir das, was da kommt, schon heute verstehen und vorausschauend handeln.
Das betrifft Tanzinstitutionen wie die freie Szene gleichermaßen. Wir müssen überlegen, wie
wir als Kulturschaffende und -vermittler auch in Zukunft die gesellschaftlichen Prozesse
unterstützen können. Denn wollen wir auch in 2030 von den Steuerzahlern, vor allem den
gar nicht an Tanz interessierten Damen und Herren hier links von mir, alimentiert werden,
dann muss der Tanz seinen Wert für die Gesellschaft immer wieder neu unter Beweis
stellen.
15 Jahre nur dauert es bis zum Jahr 2030. Eine scheinbar kurze Zeit, doch das enorme
Veränderungspotential eines solchen Zeitraums wird deutlich, wenn wir an das Jahr 2000
zurückdenken, als es noch keine nennenswerten sozialen Medien und weder den Euro
noch den sogenannten arabischen Frühling und seine Folgen gab. Noch 15 Jahre früher,
im Jahr 1985 hatten wir weder Mobiltelefone noch PCs. Gefühlte Steinzeit.
In Publikationen renommierter Zukunftsforscher wie Horst W. Opaschowski und Matthias
Horx oder Online-Portale wie zukunftsforschung.de vermittelt sich ein Eindruck von dem,
was da kommen könnte. Ich glaube, nur wenn wir eine Vorstellung davon haben, auf welche
Lebensumstände der Tanz treffen wird, den wir in Zukunft schaffen wollen, können wir
weitsichtig Wege, Mittel und Infrastruktur definieren, die wir dafür benötigen. Ich möchte
einige Szenarien, die ich natürlich auch für unsere und meine eigene Arbeit wichtig finde,
mit Ihnen teilen:
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Opaschowski hat die Formel 0,5x2x3 formuliert. Das heißt halb so viele Menschen werden
doppelt so viel verdienen und dreimal so viel arbeiten. Insbesondere die flexibilisierte
Arbeitswelt wird die Partnersuche erschweren, die Familiengründung beeinträchtigen und
Beziehungen fragiler machen. Immer mehr Menschen werden alleine leben und die
Freunde werden für immer mehr Menschen wichtiger sein als die Familie.
Es werden mehr Menschen in den Städten leben, die Einkommensschere wir sich weiter
öffnen und die Aufspaltung in Arm und Reich wird auch bei uns stetig zunehmen. Die
Experten erwarten, dass Kriege und Klimaschäden weiter steigende Flüchtlingszahlen und
zunehmende Migration auslösen werden. Das wird höhere Kosten verursachen, gleichzeitig
bietet sich aber die Chance den Geburtenrückgang teilweise oder sogar ganz aufzufangen,
wenn es gelingt die Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Unsere Gesellschaften werden vermutlich noch viel multikultureller werden, als wir es uns
heute vielleicht vorstellen können. Die Städte werden zunehmend bipolar, reiche altschweizerische Viertel stehen zunehmend ärmeren und größeren von Migration geprägten
gegenüber. Die Vermutung, dass sich soziale Spannungen verstärken könnten liegt nahe.
Dann würden auch die privaten und öffentlichen Investitionen zur Aufrechterhaltung der
Sicherheit steigen. Auch im günstigsten Fall wird in einer sehr heterogenen Gesellschaft die
Auseinandersetzung über gemeinsame Werte noch bedeutender sein.
Nach Berechnungen des UN-Bevölkerungsfonds (unfpa) wird die allgemeine
Lebenserwartung in den westlichen Industrieländern bis 2050 auf durchschnittlich 90 Jahre
steigen. Alt fühlen wird man sich erst mit fast 77 Jahren. Man spricht hier von Downaging.
Ein wachsender Anteil von Menschen wird in Zukunft im hohen Alter einer enkellosen
Generation angehören. Die Vergreisung wird dennoch relativ sein, da das Verhalten, die
Werte und auch die innere Einstellung sich bei vielen verjüngen werden.
So könnten viel mehr Senioren als heute ehrenamtlich tätig sein. Aus Angst vor dem Alter
und Pflegebedürftigkeit werden die Leute immer mehr Wert auf eine gesunde
Lebensführung legen, was sich ja gut mit dem Tanz verbinden lässt. Vermutlich werden
auch die Tänzer auf der Bühne länger tanzen als heute. Pina Bausch, Nederlands
Danstheater 3 und zuletzt Eun-Me Ahn mit den Dancing Grandmothers haben es schon
vorgemacht. Unsere Infrastruktur für ältere und behinderte Menschen wird auch in der
kleinsten freien Spielstätte weiter ausgebaut werden müssen.
Der Begriff der Glokalisierung schliesst Weltläufigkeit genauso ein wie Heimat, also
Nestwärme. Die aus der ökologischen Bewegung stammende Formel „Denke global handle lokal“ wird in der Glokalisierung ihre Weiterentwicklung finden. Eine Minderheit, die
es sich leisten kann, wird von Work-Life-Balance sprechen und ihr Leben danach
ausrichten. Parallel dazu wird sich das ausbreiten, was der Soziologe Richard Sennett
„drift“ nennt: Er beschreibt damit das Ideal einer völligen Flexibilisierung der Lebensweise,
die mit immer weniger Bereitschaft zu Bindungen und sozialer Verantwortung gekoppelt ist.
Es zeichnet sich in meinen Augen ein Trend zu Parallelgesellschaften von einerseits
gesellschaftlich überaus verantwortlich handelnden Menschen und andererseits
überzeugten Individualisten - man könnte auch sagen – Egoisten - ab.
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Diese Flexibilisierung deutet daraufhin, dass das in der Quintessenz zumindest für die
Stadttheater auch langfristig sinkende Abonnentenzahlen bedeuten könnte. Für die Häuser
heißt das vor allem: weniger Planungssicherheit. Die Bereitschaft zum künstlerischen Risiko
könnte
darunter leiden. Bei immer kurzfristigeren Kaufentscheidungen werden dann, wie heute
schon bei Hotels der Fall, Websites auf denen User Vorstellungen bewerten können, immer
bedeutender. Das wird Einfluss auf die Art haben, wie wir Tanz bewerben. Längere Texte
werden noch seltener gelesen werden. Kurze, exakt auf Zielgruppen zugeschnittene
Videoclips werden ein Schlüssel zum Erfolg. Die sozialen Medien gewinnen auch bei
älteren Zielgruppen an Bedeutung. Die Öffentlichkeitsarbeit der Tanzinstitutionen und freien
Produktionen wird sich auf weitere rasche Veränderungen einstellen müssen.
Falls man ihr Theater oder ihr Studio noch nicht per Internet besuchen kann, wird es
womöglich auch Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Unsere Kollegen aus den
Museen sind da oft schon einen Schritt weiter. Angeblich werden schon jetzt mehr Museen
virtuell als physisch besucht. Tendenziell wird es auf fast allen Feldern immer weniger reale,
aber dafür immer mehr virtuelle Kontakte geben, denken Sie nur an das vielerorts schon
spürbare Sterben des Einzelhandels auf dem Land und den Aufstieg von Versandhäusern
wie Amazon oder Zalando. Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen besteht die Gefahr,
dass kommunikative und soziale Fähigkeiten nicht mehr ausreichend entwickelt werden.
Vor zwei Wochen führte ich eine Gruppe von 13-Jährigen durch unser Theater, erläuterte
Tanztraining, zeigte Werkstätten, erklärte Abläufe beim Tanz. Am Ende der sechzig Minuten
fragte ich die Schüler, ob sie noch Weiteres wissen möchten. Zögerlich ging ein Finger
hoch und ein Junge mit Sommersprossen fragte. „Und welche Filme zeigen sie jetzt hier?“ - - Ich habe irgendwie das Gefühl, es wird nicht ganz leicht.
Betrachtet man die demographischen Vorhersagen, dann kann man heute davon
ausgehen, dass immer weniger Erwerbstätige immer mehr Alte der geburtenstarken
Jahrgänge ernähren und immer höhere Staatsschulden zurückzahlen müssen. Da Steuern
im Hinblick auf die globale Konkurrenzsituation der Wirtschaft nicht beliebig zu erhöhen
sind, ohne die Beschäftigung zu gefährden, wird um die geschrumpften Steuereinnahmen
ein heftiger Verteilungskampf entbrennen. Und wir vom Tanz mittendrin!
Um als wichtig betrachtet zu werden, müssen wir Formen von Tanz entwickeln, die die
Gesellschaft im Jahr 2030 braucht und versteht, zur Kontemplation, zur Vermittlung von
Werten, zur Überbrückung von Konflikten, zur Spiegelung einer schwerer verständlichen
Welt. Dazu müssen wir die Reflexion über Tanz und seine Unabdingbarkeit zu einer viel
breiteren gesellschaftlichen Diskussion machen, um das Gespräch mit Wirtschaft und Politik
voranzutreiben und die öffentliche Wahrnehmung zu vergrößern. Mit einem Mix aus 85%
öffentlicher Kulturförderung und 15% Eintrittseinnahmen werden im Jahr 2030 vermutlich
noch weniger Tanzproduktionen kalkulieren können. Tanz wird sich auch andere
Finanzierungsquellen erschliessen müssen.
Am schwierigsten finde ich persönlich die Vorstellung, dass die bürgerliche Mitte sicherlich nicht bis 2030 komplett, aber doch nach und nach - schwinden wird. Dies hätte
gravierende Auswirkungen für den Tanz, denn in Deutschland wie in der Schweiz trägt das
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Bürgertum die Kultur. Irgendwann werden Sie sich vielleicht entscheiden müssen:
Produzieren Sie für eine kleine, sehr reiche Oberschicht, die die weit entwickelten Codes
unserer Kunstform überwiegend versteht oder haben Sie ein neues multikulturelles
Publikum, auf dessen Rezeptionsgewohnheiten Sie mehr Rücksicht nehmen müssen. Ich
glaube, die Tanzsprachen werden entsprechend unterschiedlich ausfallen.
Gerade geht eine Welle von künstlerisch geprägten, partizipatorischen Projekten übers
Land. Ob Joanne Leighton oder Jan Martens, ob Sharon Friedman oder Koen Augustijnen,
die Choreografen entdecken die Kraft der Realität und die Theater gewinnen neue
Zuschauer. Ich vermute, dass dies nur der Anfang einer langfristigen Entwicklung sein wird.
Elaborierte Virtuosität wird immer ihren Platz haben. Aber vielleicht wird sie in Zukunft ihre
Ressourcen teilen müssen zugunsten einer größeren Integration des Zuschauers.
Möglicherweise werden wir Zwischenschritte schaffen, um Amateure für Mitmachprojekte
systematisch zu qualifizieren, vielleicht wird die Form des Bewegungschors auf neue Weise
wiederbelebt. Und ich glaube, dass in diesem Zuge die Dramaturgie im Tanz endlich als
unentbehrlich betrachtet wird. Mein Herzenswunsch.
Nur wenige Theater werden die Festungen bleiben können, die sie früher einmal waren.
Freie Szene und Institutionen werden Synergien schöpfen und die Zusammenarbeit wird
sich flächendeckend ausbreiten. Immer mehr Tänzer werden ausgebildet. Kleine und
kleinste Tanzprojekte werden versuchen, noch in die letzten Nischen der Gesellschaft
vorzudringen.
Neben durchlässigeren Institutionen benötigt der Tanz dann Produktionshäuser, die hoch
flexibel sind, Residenzen und Beratung bieten und auch Techniker- und Technikpools,
regelmäßige Trainings und Physiotherapie für freie Tänzer. Sie sollen ein Heimathafen für
die freien Radikale der Kunstform sein. Unterschiedliche Wissensformen können hier
zueinanderfinden und nicht jede Grundlagenforschung sollte dem Aufführungszwang
unterliegen. Vermutlich werden wir noch häufiger als heute darüber streiten müssen, ob die
hybriden Formen, die in diesen Produktionshäusern entstehen, Tanz heißen dürfen.
In der digitalen Welt von morgen werden die sinnliche und spirituelle Dimension von Tanz
auf jeden Fall gebraucht. Die Orte, an denen wir aufführen, dürfen viel gemütlicher werden
und zu einer höheren Verweildauer einladen, denn die Menschen werden weniger
Gelegenheiten haben, sich zu treffen und miteinander zu reden. Wie der Tanz für 2030
aussehen wird, darauf dürfen wir gespannt sein. Ich hoffe klug, emotional, vielgestaltig. Und
- wir werden es brauchen - gemeinschaftsstiftend. Tanz muss wie Fussball sein. Manchmal
jedenfalls.
© Honne Dohrmann, 30.10.2015 – Schriftliche Fassung des Vortrags „Aufbruch in die Tanzgesellschaft“ am
Forum Tanz.
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