Referat Bonfranchi

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Referat Bonfranchi
Riccardo Bonfranchi
Die unreflektierte Integration von geistig behinderten Kindern verletzt ihre
Menschenwürde
Im folgenden soll erläutert und auch begründet werden, warum die seit einigen Jahren
stattfindende Integration von geistig behinderten Kindern in den Regelschulbereich (incl.
Kindergarten) ihre Würde verletzt. Dabei gehe ich einleitend von zwei Prämissen aus.
1. Der Begriff der Würde soll hier nur kurz definiert werden. Die einschlägige Literatur
hierüber ist umfangreich. Im Handbuch der Ethik (Düwell u.a.2006, 560ff) steht, dass
Würde „die unverrechenbare Werthaftigkeit menschlicher Existenz als Zweck an sich“
ist. Würde wird als höchster Wert des Mensch-Seins verstanden
2. Der Hauptgrund der Würdeverletzung sehe ich darin, dass quasi alle diese Kinder nach
einer bestimmten Zeit den Regelbereich wieder verlassen müssen. Es sind sind nicht
einige oder z. B. 50 % (was auch schon sehr viel wäre), sondern alle. Es ist jeweils nur
eine Frage der Zeit, wann diese Integration abgebrochen wird. Es ist ein Abbruch, der
auch von betreffenden Schülern und deren Eltern als ein solcher verstanden wird.
Diese Aussagen beziehen sich weitgehendst auf die Verhältnisse im Kanton Zürich,
mögen aber auf andere Kantone durchaus übertragbar sein.
Dieser Zustand, dass Integrationsverhältnisse abgebrochen werden, dauert nun schon seit
einigen Jahren an und es wäre m. E. wirklich an der Zeit, sich verstärkt Gedanken darüber zu
machen, was sich hier eigentlich abspielt und ob es Sinn macht, in der jetzigen Form so
weiterzufahren wie bisher. Interessant ist hierbei, dass sich bzgl. der Integration von geistig
behinderten Kindern so eine Art Tabu aufgebaut hat, das man sich nicht zu verletzen getraut.
D.h. sehr viele SchulleiterInnen, mit denen ich über dieses Thema gesprochen haben, sind der
Meinung, dass die Integration von geistig behinderten Kindern kritisch hinterfragt werden
muss, getrauen sich aber nicht dies zu tun, weil sie damit gegen die herrschende Meinung des
main-stream verstossen würden. Interessant ist in diesem Zusammenhang eher die Haltung
der Hochschule für Heilpädagogik in Zürich, der ich – in globo – einen äusserst unkritischen
Umgang unterstelle, was die hier angesprochene Thematik anbelangt. Warum?
Mein erkenntnisleitendes Interesse ist eindeutig dergestalt, dass es so nicht weitergehen kann.
An unserer HPS befinden sich bereits mehrere Kinder, die vollintegriert waren. Im folgenden
soll deshalb begründet werden, warum durch eine unreflektierte Integration die
Menschenwürde von geistig behinderten Kindern verletzt wird. Meine Haltung, die ich mit
diesem Aufsatz darlegen möchte, entspricht derjenigen einer advokatorischen Assistenz, auf
deren ethische Problematik hier aber nicht näher eingegangen werden soll.
1. Förderung und Therapie
Heilpädagogische Sonderschulen gibt es in der Schweiz seit ca. 40 Jahren. Diverse Kreise
haben sich für ihre Existenz eingesetzt und es wurde das uneingeschränkte Recht auf Bildung
für alle Menschen, egal wie schwer behindert sie sind, postuliert und auch in die Praxis
umgesetzt. Diese Schulen haben heute eine gewisse Qualität und sind u.a. dafür
verantwortlich, dass erwachsene Menschen mit einer geistigen Behinderung den Status und
den Level haben, den sie erreicht haben. Dies hat mit Förderung und Therapie i.w.S. zu tun.
Mit nichts anderem. Wenn nun ein geistig behindertes Kind in den Regelbereich integriert
wird, so erhält es nicht mehr die für es spezifisch ausgerichtete Förderdiagnostik bzw. die für
es konzipierte Erziehungstherapie auf heil- und sonderpädagogischer Basis. Physiohterapie,
Ergotherapie, Logopädie (incl. Ess- und Schlucktherapie), Psychomotorik, Rhythmis usw. usf.
muss zusätzlich organisiert werden, währenddem diese Angebote häufig in den Alltag einer
HPS integriert (!) sind. Es soll deshalb die These gewagt werden, dass ein nach jetzigen
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Bedingungen integriertes geistig behindertes Kind nicht mehr die gleichen Kompetenzen
erwirbt und deshalb in einer Beschäftigung (oder waren diese Menschen ev. nie integriert,
weil zu schwer behindert?) oder Werkstätte nicht mehr die gleiche Leistung zu erbringen im
Stande sind. Ist das egal? Wird ev. bei geistig behinderten Menschen darauf weniger Wert
gelegt?
Die Würde wird dadurch verletzt, indem nicht mehr eine optimale Förderung im Vordergrund
steht, sondern die Hauptsache die ist, dass das Kind integriert wird.
2. Entwicklungspsychologie nach Piaget
Betrachten wir das Geschehen etwas Genauer bzw. richten wir den Fokus auf die einzelnen
Lektionen. Hier wissen wir gemäss Piaget, dass beim Lernen jeweils Assimilations- und
Akkomodationsprozesse ablaufen müssen, damit eine immer wiederkehrende Äquilibration
stattfinden. Dabei darf der Spannungsbogen eines neuen, zu erlernenden Gegenstandes nicht
zu gross sein, weil dann dieser Prozess nicht stattfinden kann. Man ist überfordert. Im
Gegensatz dazu verhält es sich, wenn der Spannungsbogen zu klein ist, erlebt man das zu
Lernende als langweilig. „Haben wir schon gehabt“, meinen dann die Schüler. Meine These
ist nun die, dass ein geistig behindertes Kind sich in einer permanenten
Überforderungssituation befindet, wenn alle anderen Kinder nicht geistig behindert sind. Das
hier Ausgeführte bezieht sich aber nicht nur auf Lerngegenstände, sondern allgemein auch
alle sozialen Interaktionen. Auch die laufen für ein geistig behindertes Kind viel zu schnell
ab. Warum wohl wird in einer HPS der Lerngegenstand sequenziert, reduziert und in einem
viel langsameren Tempo angeboten. Dies muss doch wohl seine Gründe haben. Spielen die
plötzlich keine Rolle mehr? Hauptsache das geistig behinderte Kind ist integriert. Die Würde
des geistig behinderten Kindes wird verletzt, weil es permanent einer Überforderungssituation
ausgesetzt wird.
3. Exotenstatus
Gängige Praxis ist, dass ein geistig behindertes Kind allein in einer grossen Gruppe von nichtgeistig behinderten Kindern integriert wird. D.h. es erhält einen Exotenstatus, wie ich das hier
bezeichnen möchte. Das betreffende Kind hat kein Vis-à-Vis. Dementsprechend und dies ist
ein übliches (normales) Phänomen wird ihm dementsprechend begegnet. Es hat einen
Aussenseiterstatus und die Umwelt geht in ganz bestimmter Art und Weise mit ihm um. Man
könnte also sagen, dass es sich gar nicht um eine Integration aus der Sicht des behinderten
Kindes handelt, denn alle anderen sind ja nicht geistig behindert. Deshalb stellt sich im
Grunde aus der Sicht des behinderten Kindes die Sache auf den Kopf: Das Kind wird
vereinzelt, man entzieht es seiner Bezugsgruppe und stellt es auf sich allein. Dass die Umwelt
bzw. die anderen Kinder „nett“ mit ihm umgehen, mag zwar in Ordnung sein. Aber man
reduziert im Grunde für das geistig behinderte Kind die Normalität und handelt zuwider dem
in der Heil- und Sonderpädagogik so hoch gepriesenen Normalisierungsprinzip. Hauptsache,
dass es integriert ist. Bezeichnend war für mich einmal die Aussage eines Vater eines geistig
behinderten Mädchens, das integriert war und nun an unserer HPS ist, dass er es zunehmend
als schwierig empfunden hätte, seine Tochter erziehen zu können, weil sie in einem
permanenten Ausnahmezustand gelebt hätte.
Das Beispiel aus Basel, indem gemäss einer älteren Idee aus Nordrhein-Westfalen, vier
geistig behinderte Kinder bei ständig anwesenden zwei Lehrpersonen und ca. 16 Kindern
integriert werden, vermag dieses Gegenargument schwächen. Geht man aber von der i.d.R.
praktizierten Einzel-Integration aus, behält es seine Gültigkeit.
Man verletzt die Würde des geistig behinderten Kindes, indem man es vereinzelt und einem
Exotenstatus preisgibt.
4. Abbruch
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Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei der Aufgabe der Integration jeweils um einen
Abbruch. Dass alle geistig behinderten Kinder – früher oder später – doch den Weg in eine
Heilpädagogische Sonderschule finden (müssen), ist eine Tatsache, die nicht wegdiskutiert
werden kann. Der Einwand, dass es doch „schön“ sei, wenn diese Kinder wenigstens eine
Zeitlang integriert gewesen wären, halte ich schlicht und ergreifend für zynisch und lässt die
Frage nach der Würde geistig behinderter Kinder erst recht als relevant erscheinen. Deshalb
ist auch mit Fug und Recht zu fragen, welche Qualität den ein Projekt hat, indem quasi 100 %
der Fälle nicht zu einem Erfolg kommen. Ein Abbruch, egal wann er passiert, kann nie als
Erfolg gewertet werden. Wenn bei einem Projekt 50 % glücken würden und 50 % nicht,
würde ich mir schon die Frage nach der inhaltlichen Güte des Projektes zu stellen wagen. Ist
der Prozentsatz aber nahezu bei 100 % erscheint diese Frage nachgeradezu überflüssig zu
sein.
Wichtig ist mir aber in diesem Zusammenhang vielmehr, dass dieser Abbruch von den geistig
behinderten Schülern und auch ihren Eltern immer als ein Abstieg empfunden wird. Es ist
nicht einfach eine Umplatzierung, wie z. B. bei einem Wohnortwechsel. Ist das betreffende
Kind schon etwas älter, empfindet es den Eintritt in eine HPS als schmerzhaft. Warum nimmt
man das so ohne weiteres in Kauf? Ist nicht Schmerzverhütung ein hohes Gebot in unserer
Gesellschaft? Da es sich ja i.d.R. um die kognitiv stärksten Schüler dieser Bezugsgruppe
handelt, ist ihnen die Umplatzierung und der damit verbundene Prestigeverlust sehr wohl
bewusst.
Man verletzt die Würde des geistig behinderten Kindes, weil man es wohlwissentlich einem
Schmerz in Form von Prestigeverlust aussetzt.
5. Separation durch Integration
Bei Punkt 4. habe ich angesprochen, dass es sich bei der Integration von geistig behinderten
Kindern und dies ist auch in Basel der Fall, i.d.R. immer um die leistungsstärksten geistig
behinderten Schüler handelt. Schwer- und mehrfachbehinderte Kinder, mit Sonden, in
Rollstühlen, mit Orthesen, elektronischen Sprachausgabegeräten usw. usf. werden in die
Diskussion, ob sie integriert werden sollen oder nicht, gar nicht miteinbezogen. Das heisst,
diese Form der Integration bedeutet eben nicht, wie das zum Teil auch auf die
„Integrationsfahnen“ geschrieben wurde, eine Schule für alle, sondern nur für diejenigen, die
durch das Nadelöhr der Integration schlüpfen können. Diese Form der Integration erhöht
somit den Faktor der Separation, weil (vermeintlich) schwerer behinderte Kinder nicht
integriert werden. Das alte Wort der Separation, die zur Integration führen soll, verliert hier
völlig an Bedeutung, indem die Gruppe der geistig behinderten Kindern, die natürlich nicht
homogen ist, in zwei Teile gespalten wird. Ein Vorgang, der m. E. kaum diskutiert wird.
Warum eigentlich nicht?
Man verletzt die Würde des geistig behinderten Kindes, weil die schon längst überwunden
geglaubte Position der Separation insbesondere für schwer- und mehrfachbehinderte Kinder
weiter zementiert wird.
6. Das Wecken von falschen Hoffnungen bei den Eltern
Hierbei ergibt sich die Frage, welche Motive die Eltern bei der Integration ihrer geistig
behinderten Kinder leiten. Dies ist für mich eine heikle Frage, weil ich hier die Rolle einer
advokatorischen Assistenz nicht mehr einnehmen kann und selber nicht Vater eines geistig
behinderten Kindes bin.
Deshalb will ich mich auf die Frage beschränken, ob man den Eltern, was eigentlich ein
Gebot der Ehrlichkeit wäre, bereits bei Beginn einer Integration darauf hinweist, dass es sich
nur um eine passagere Integration handeln kann, weil ein Abbruch ja vorprogrammiert ist.
Möglich und dies ist eine Beobachtung aus dem Alltag, dass die Eltern mit der Integration die
Hoffnung verbinden könnten, dass ihr Kind weniger behindert ist bzw. dass sich die
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Behinderung im Laufe der Zeit als weniger gravierend herausstellen könnte. Dem ist natürlich
nicht so. Im Gegenteil, die Schwere zwischen ihren Kindern und den anderen Kinder der
Regelklasse öffnet sich immer weiter. Deshalb nehmen dann die Eltern den Entscheid, dass
ihr Kind in eine HPS umgeteilt werden soll relativ widerspruchslos hin. Es bleibt natürlich die
Frage, wie diese neuen Eltern die HPS wahrnehmen, nachdem sie bzw. ihr Kind in der
Integration gescheitert sind. Ich lege Wert auf die Feststellung, dass ich in Diskussionen unter
professionellen Fachleuten den Eindruck gewonnen habe, dass diese Umplatzierung eines
geistig behinderten Kindes als nicht so tragisch empfunden wird. Aus meiner Erfahrung kann
ich aber sagen, dass dem überhaupt nicht so ist, sondern dass die Eltern dies eindeutig als
einen Abstieg empfinden.
Der moralische Wert bei dieser These geht darum, dass man mit der Integration bzw.
Auflösung derselben wesentlich sorgfältiger umgehen sollte, als dies bis anhin geschieht, um
die Gefühle der davon Betroffenen nicht zu verletzen.
7. Instrumentalisierung
Bei dieser These geht es darum, dass oft gesagt wird, die Integration von geistig behinderten
Kindern hat ihren Wert (u.a.) darin, dass die nicht-behinderten Kinder in Kontakt zu den
behinderten Kindern kommen. Diese Ansicht halte ich für im höchsten Mass bedenklich, weil
sie die geistig behinderten Kinder instrumentalisiert. Das bedeutet im Klartext, dass die
geistig behinderten Kinder als Mittel und nicht als Zweck ihrer Selbst betrachtet werden. Den
gleichen Effekt könnte man auch mit einem Film erreichen. Kinder mit einer geistigen
Behinderung sind nicht dafür da, dass andere Kinder diese Kinder kennen lernen, sondern
weil sie da sind. Ob sie in einer Institution, die auch heute noch in der Hauptsache auf der
Basis von Abstraktion und Intellektualität lebt, das sind die Kerngeschäfte von Schule
überhaupt, am richtigen Ort sind, wage ich zu bezweifeln.
Man verletzt die Würde des geistig behinderten Kindes, wenn man es instrumentalisiert.
8. Fazit
Durch die Berücksichtigung einer falsch verstandenen Achtung vor geistig behinderten
Kindern, verletzt man ihre Würde. Ich habe versucht, mittel fünf Argumentationssträngen
nachzuweisen, dass es sich tatsächlich um Würdeverletzung handelt. Die Integration, vor
allem in der Zürcher Form kann nur gutgeheissen werden, wenn alle von mir aufgeführten
Gegenargumente ausser Kraft gesetzt d.h. widerlegt werden könnten. Besteht nur eines zu
Recht, so muss die Integration in der jetzigen Form in frage gestellt werden.
Es wäre an der Zeit, so mein persönliches Fazit, dass die Integration von geistig behinderten
Kinder konzeptionell überdacht wird.
Andere Formen der Integration könnten z. B. eine Form der Teilintegration sein, die über
Jahre durchgeführt werden kann. Oder man könnte sich Gedanken dazu machen, inwieweit
die Integration, gefördert durch die Schule im Freizeit-Bereich zur Durchführung gelangen
kann.
Integration von Menschen mit einer geistigen Behinderung in die Gesellschaft ist eine Pflicht
jeder Gesellschaft. Sie sollte aber Hand und Fuss (und Herz) haben, damit sie sich letztendlich
nicht kontraproduktiv auf die Integration grundsätzlich auswirkt. Bei der jetzigen Form der
Integration besteht diese Gefahr. Ihr ist zu begegnen, weil sie behindertenfeindlich ist.
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