RosaRot Nr.47 - Universität Zürich

Transcription

RosaRot Nr.47 - Universität Zürich
Zeitschrift für feministische Anliegen und Geschlechterfragen
Nr. 47, Herbst 2014
RosaRot Nr. 47
RosaRot Nr. 47
Seht, eine Rote Rosa!
Rosa, eine altbekannte und verdiente Kommilitonin, die zahlreiche Studierende jahrzehntelang begleitet hat, hat sich ein weiteres Mal einer Metamorphose unterzogen. Rot erstrahlt sie nach zweijähriger Kurpause in
alter Frische und hat wie gewohnt allerhand Spannendes, Kritisches und
Provozierendes zu berichten – diesmal zum Thema Frau werden.
Interessanterweise waren viele Reaktionen auf unser Thema automatisch
auf das Frau sein angelegt – und sofort fanden auch wir uns in die altbekannte Essentialismusdebatte verstrickt. Natürlich dachten wir an Simones
berühmten Ausspruch «Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird
dazu gemacht». Aber es bleibt die Folgefrage: Und dann? Werden, sich
entwickeln, verwandeln, und eben, ja, sich emanzipieren. Hier stehen wir,
und können nicht anders, als uns einmal mehr zu fragen: Was bedeutet
es für uns, Frauen zu werden, immer noch und ständig diesen Prozess
aufrechtzuerhalten und dabei zwischen Geschichte und Zukunft unsere
Gegenwart mitzugestalten? Diese Frage verbindet uns alle – ob wir wollen
oder nicht.
IMPRESSUM
RosaRot
Zeitschrift für feministische
Anliegen und Geschlechterfragen
47. Ausgabe, Herbst 2014
erscheint halbjährlich
ISSN 1661-9277
Redaktion
Léa Burger, Carolyn Kerchof, Laura Lots,
Susanna Richli, Sarah Stucki,
Anja Schulthess, Christina Zinsstag,
Evelyne Zinsstag, Dolores Zoe
Die Zusammenarbeit rund um die RosaRot ist eine Erfahrung und eine
Entwicklung auf diesem Weg, und die Entstehung der 47. Ausgabe war
aufgrund des Themas wohl noch stärker geprägt von den Fragen: Wer
wollen ‹wir› sein, wer ist dieses ‹wir› und verbindet ‹uns› als ‹Frauen› noch
mehr als diese Fragen? Mit den Mailänder Philosophinnen haben wir im
Laufe der Heftproduktion den Reiz der Sowohl-als-auch-Antworten auf
diese Fragen entdeckt. So pflegen auch wir diese feministische Vielstimmigkeit: Neben die Aussagen der Mailänderinnen treten die Stimme einer
orthodoxen Jüdin, die lyrischen Ichs eines Gedichts, die Selbstinszenierung von Katy Perry oder die Stimme der Vagina in Der Rosendorn. Laute
Rufe und leise Beobachtungen steuert der Comic über die Zürcher DemoKultur bei und dank einem starken Auftritt der katalanischen Amazonen
bebildern auch visuelle Kommentare den Rosen-Chor.
Grafische Gestaltung und Druck
Konzeption und Layout: Carolyn Kerchof,
Christina Zinsstag
Titelbild: Monika Hoffmann, Amazone
Druck: Ley Druck GmbH, Luzern
Auflage
500 Exemplare
Konto
Raiffeisenbank Zürich
IBAN: CH60 8148 7000 0082 0648 5
Kontaktadresse
RosaRot
Rämistrasse 62
8001 Zürich
[email protected]
rosarot.uzh.ch
Markante Stimmen lassen wir hier erklingen – ob sie als Fanfare, Marsch
oder Ohrwurm daherkommen, dürfen die LeserInnen in jedem Beitrag
selbst vernehmen.
Für Nachdrucke von in der alten Rosa und der nun
neuen RosaRot publizierten Artikel ist die Redaktion zu kontaktieren.
Die Ansichten der einzelnen AutorInnen entsprechen nicht unbedingt denjenigen der RedaktorInnen. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder
verstorbenen Personen haben sich diese selbst
zuzuschreiben.
Als Minimalanforderung gendergerechter Sprache
gilt das ‹Binnen-I›, weitere Differenzierungen sind
den AutorInnen überlassen.
Wir wünschen euch rote und rosige Zeiten mit unserer 47. Ausgabe!
Anja, Carolyn, Christina, Dolores, Evelyne, Laura, Léa, Sarah und Susanne
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RosaRot Nr. 47
RosaRot Nr. 47
Inhaltsverzeichnis
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24
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49
Grundsätzlich sind alle...
von DZ
Dass Frauen heute...
von CB/SN
You may think...
von R
Als ich vor über 20 Jahren...
von MG
Wie die Rosa Rot wurde
Frauen werden politisch
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28
Frau werden? So ein Scheiss!
Amazone II
Mein erster Gedanke...
von ANS/CS
29
15
Emanzen sollen zuverlässig
wiederkehren: circa alle 20
Jahre
Amazone I
16
Dass Alice Schwarzer als Steuersünderin...
von FS
Zwischen Bescheidenheit und
Akzeptanz
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Also wenn Sie zu mir kommen...
von LB
Girls Drive?! Nein Danke,
ich geh lieber zu Fuss!
19
Pause am Deutschen Seminar...
von DZ
Mailänder
Appetithäppchen
Die feministische Bewegung ist voll...
von DS
A Person
Die Schöne und das Biest
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37
Amazone IV
These Are the Mes
These are the mes I would like...
von R
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54
39
57
Im Song Dark Horse singen...
von EZ
Es gibt gute Tage und andere...
von AH
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Ich habe lange keine Romane...
von ANS
von AS
Morgentoilette
Amazone III
5.47 Uhr– ich lehne mich...
von FW
Tat-sächlich Frau
Männer zerstäuben
Leben auf der Strasse
«Das Spiel aller Frauen»
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AutorInnen
4
5
RosaRot Nr. 47
RosaRot Nr. 47
Wie die Rosa Rot wurde
meiner Lektüregruppe voller Freude von diesem Treffen im Frauen*Zentrum und über
das Zeitschriftenprojekt. Währenddessen spannen auch die Mitfrauen der Rosa die Fäden
weiter und so fand ich eines Morgens eine E-Mail mit dem Betreff «Frage in den Raum» in
meiner Mailbox: «Wenn ihr wünschen könntet, würdet ihr die Rosa an der Uni weiterführen?» Diese «Frage in den Raum» stiess unsererseits auf entschiedene Zustimmung. Die
Übergabe wurde also in die Wege geleitet und in allerletzter Sekunde gelang es uns auch
noch, das bereits anderweitig versprochene Rosa-Büro an der Rämistrasse zurückzufordern. So gibt es sie also beide weiterhin: das Rosa-Büro als Frauenraum an der Universität
Zürich selbst und die Zeitschrift RosaRot als Diskussionsraum für feministische Anliegen
und Geschlechterfragen – hoffentlich weit über die Uni hinaus!
Rote Tradition
Die Zeitschrift Rosa entstand in den 90er Jahren dank
einigen Geschichtsstudentinnen, die aus Unzufriedenheit
über das fehlende Angebot zur Frauengeschichte eine
Historikerinnengruppe und eine dazugehörige Zeitschrift
gründeten. Von der Zeitschrift der Historikerinnengruppe
bis zur Rosa wurde die Publikation vier Mal umbenannt
und auch die neue Redaktion geht einen weiteren Schritt
auf diesem Weg: Aus der Rosa ist die RosaRot entstanden.
von DZ
Entführung und Rückeroberung
Grundsätzlich sind alle studentischen Vereine demselben Dilemma ausgesetzt: Kontinuierliches Arbeiten über das Auf und Ab des Semesterrhythmus’ hinweg erfordert einige
Anstrengung und noch schwieriger geworden ist dies im eng getakteten Bologna-Karrierefahrplan. Zudem neigt sich auch das interessanteste Studium irgendwann dem Ende
zu und engagierter Nachwuchs muss gefunden werden. Beide Umstände, zusammen mit
der Tatsache, dass das Anliegen ‹Feminismus› allenthalben nicht mehr so populär ist wie
auch schon, haben dazu geführt, dass die Rosa im Jahr 2012, nach stolzen 46 Ausgaben,
vor dem Aus stand. Ehemalige Macherinnen entschieden sich daraufhin, die Rosa aus der
Universität zu entführen und andernorts weiterleben zu lassen.
An diesem anderen Ort, dem Frauen*Zentrum Zürich, traf ich im Dezember 2013 auf das
Rosa-Redaktionskollektiv. Zu Sitzungsbeginn stellte ich mich als Initiantin einer feministischen Lesegruppe an der Theologischen Fakultät vor – das einzige, was ich als handfeste feministische Aktivität vorzuweisen hatte. In den darauffolgenden Tagen erzählte ich
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«Nein, wie könnt ihr eure Zeitschrift bloss RosaRot nennen? Ihr erfüllt damit ja jegliche Klischees der Frauenheftli!» Mehr als einmal erfolgte diese Reaktion auf den Namen
unserer Zeitschrift. Dass mit RosaRot jedoch nicht nur die Farbe gemeint ist, sondern
dass wir uns damit bewusst in eine feministische Tradition stellen, bedarf anscheinend
der Erklärung. ‹Rosa› wird im Zuge des schwindenden Bewusstseins für die historischkritischen Frauenkämpfe nicht mehr mit einer der Urheberinnen eines marxistischen
Feminismus assoziiert. Mit dem ‹Rot› im Namen wollen wir aber genau diesen Teil der
Frauengeschichte wieder zu Bedeutung verhelfen und stellen uns also in die Tradition von
Rosa, Clara & Co.
Von der Zeitschrift der Historikerinnengruppe zur HistorikerinnenZeitschrift, dann zur
Zeitschrift für Geschlechtergeschichte und schliesslich zur Zeitschrift für Geschlechterforschung – die wechselnden Untertitel der Rosa verraten es: Die Frauengeschichte verschwand
nach und nach aus dem Namen der Zeitschrift und an ihre Stelle trat die Geschlechterforschung. Dies widerspiegelt die Entwicklung, welche die dissidente feministische Theoriebildung hin zu den institutionalisierten und (fast) etablierten Gender Studies durchlebt
hat. Beide Momente sind entscheidend für unser historisches Selbstverständnis: Unsere
sozialen und strukturellen Bedingungen sind ohne herzhafte Kämpfe, mutigen Starrsinn, ohne Gewitztheit und Hartnäckigkeit der verschiedensten Fraueninitiativen nicht
zu denken; zugleich stehen wir in der Tradition wissenschaftlicher Diskurse, welche es
uns heute verunmöglichen, vorschnelle Gewissheiten über die Geschlechterverhältnisse
im Politischen wie im Sozialen zu erlangen. Als Zeitschrift für feministische Anliegen und
Geschlechterfragen wünschen wir uns die RosaRot deshalb als Amalgam der Geschichte
aller Frauenkämpfe sowie Geschlechterdiskurse – aber: wie soll das gehen?
Fragen und Forderungen
Wie bereits gesagt, findet die RosaRot an zwei Orten statt: Zum einen gibt es die Zeitschrift, zum anderen den Frauenraum an der Universität. Beide sind Verhandlungs- und
Diskussionsräume, welche wir nutzen können, um Antworten auf die obige Frage zu verhandeln.
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RosaRot Nr. 47
RosaRot Nr. 47
Zuerst zur Zeitschrift. «Ich kann das Wort ‹Identität› bald nicht mehr hören!», beklagte
sich vor kurzem eine Freundin. Zahlreiche Redaktionssitzungen haben uns gezeigt, dass
wir bezüglich den Geschlechterverhältnissen grosse, drängende Fragen haben, welche uns
besonders im Zuge poststrukturalistischer Theoriebildungen nur ungenügend oder zu
einseitig beantwortet werden. Diese Fragen und mögliche Antworten wollen wir deshalb
in die rosarote Runde werfen und erproben. Dazu wollen wir die RosaRot in ihrer Historikerinnen-Tradition auch als eine Art Zeitmaschine wieder tauglich machen. Wir wollen
gemeinsam in der Frauengeschichte stöbern und Vergessenes und Marginalisiertes hervorholen, um so die Ursprünge der Frauenemanzipation besonders auch in der genannten
kritischen Tradition zu erinnern und zu aktualisieren.
Dann zur Situierung an der Universität: Zwar ist die RosaRot nicht an den Fachbereich
Gender Studies des Asien-Orient-Instituts angegliedert, als Zugewandte möchten wir
bezüglich dieses Studiengangs jedoch auf zweierlei hinwirken: Zum einen gilt es von
Seiten der Studierenden diesen Forschungs- und Lehrbereich, der sowohl in Basel wie
auch in Zürich unter wissenschaftspolitischem Dauerbeschuss steht, zu unterstützen. Wir
erachten die Gender Studies als zwar nicht unumstrittene, aber immens wichtige Institutionalisierung jahrzehntelanger Forderungen seitens der Frauenbewegungen. Im Sinne des
Rotwerdens der Rosa möchten wir jedoch auch erwirken, dass die Geschichte der Frauenbewegungen im Lehrangebot der Universität allgemein und den Gender Studies im Spezifischen intensiviert wird. Damit einhergehen muss eine Korrektur des Fortschrittsnarrativs
der Frauengeschichte, welches sich zu oft als Befreiung von der Hausarbeit hin zur individuellen Identitätswahl als Subvertierung bestehender Geschlechternormen liest. Dagegen
könnten die Gender Studies eine Lücke in der universitären Lehre und Forschung füllen,
indem sie verstärkt auf sozialpolitische Umwälzungen und marxistisch-ökonomische Forderungen der Frauenbewegungen fokussieren und damit nicht nur historische, sondern
auch gegenwärtige Geschlechterfragen als untrennbar von materiellen und strukturellen
Bedingungen offenlegen.
Gerade weil die Rosa nun Rot geworden ist, will die Zeitschrift sich einer breiteren LeserInnenschaft öffnen. Zwar können immer noch wissenschaftliche Texte und Seminararbeiten verkürzt publiziert werden und es sollen ExpertInnen zu Wort kommen. Persönliches, Anekdotisches, Essayistisches und Kritisches wird jedoch mehr Platz erhalten. Wir
wünschen uns, damit die Zürcher Publikationslandschaft, in der wir eine feministische
Zeitschrift bisher vermisst haben, zu ergänzen. Wir freuen uns auf zahlreiche LeserInnen,
eben so viele Beiträge und weitere 46 Ausgaben! ◆
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Frau werden?
So ein Scheiss!
Zwei junge Damen aus dem Zürcher Akademie-Kuchen
unterhalten sich per E–Mail über das Frauwerden. Die
Befürchtung, in ihrer feministischen Haltung misogyn zu
sein, führt sie zur Suche nach dem, was Frauen jenseits
von Frauenbünden verbindet.
von ANS und CS
Von: [email protected]
Von: [email protected]
Betreff: Frau werden???
Betreff: Re: Frau werden???
Datum: 28.05.2014 um 15:45
Datum: 18.06.2014 um 14:39
An: [email protected]
An: [email protected]
Mein erster Gedanke zum Heftthema war:
So ein Scheiss! Frau werden, das verspricht
Klischees über den Körper, der von selbst
zur Frau wird – natürlich vor allem durch
Menstruation und Brüste, weniger durch die
Enthaarung – das zielt auf so einen inneren
Drang, der uns Frauen werden lässt. Ja, und
dabei hat doch schon Simone de Beauvoir
gesagt, wir werden zu Frauen gemacht.
Und Judith Butler hat gesagt – ja, was auch
immer sie eigentlich sagt, denn ich verstehe
es ja von Tag zu Tag weniger – jedenfalls,
Frau werden passt nicht und es passt auch
nicht dazu, dass Frauen Putzfrauen werden,
Ärztegattinnen, Hausfrauen, jedenfalls gar
nicht oder jedenfalls schlechter bezahlt als
ihre Männer und als die männliche Klasse,
um das mal so zu sagen. Was soll das: Frau
werden?
Mir ging’s ähnlich. Ich dachte ebenfalls
an Menstruation, das Erste Mal und an all
diese klischierten Vorstellungen von vomMädchen-zur-Frau-werden.
Weshalb überhaupt steht dieses ‹Werden›
so im Vordergrund? Um der Todsünde des
Essentialismus, der mit ‹Frau sein› oder
einfach mit ‹Frau› einhergeht, zu entgehen? Um also statt dessen das Prozesshafte
zu betonen, das Soziale, das einen erst zur
Frau macht? Was sicher so falsch nicht ist.
Aber eben. Da ist doch mehr. Und damit
meine ich nicht einfach den Körper, das
biologische Geschlecht.
Dennoch, bei aller Differenziertheit, bei
aller Vorsicht vor Zuschreibungen: Manchmal denk ich: Zum Teufel. Ich bin einfach
Frau – ob’s mir gefällt oder nicht. Irgendwann einmal habe ich das eingenommen,
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RosaRot Nr. 47
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was sich eine weibliche Position nennt und
damit mehr oder weniger gut gelebt. Und
deshalb verstehe ich mich nun als Frau,
ohne genau zu wissen, was das überhaupt
bedeutet.
Von: [email protected]
Natürlich ist da Interesse. Neugierde. Die
Vorstellung, dass es möglich ist, das Frausein (oder bescheidener: zumindest das
eigene Frausein) zu ergründen. Und insgeheim habe ich wahrscheinlich die Hoffnung, dass mit dem Verstehen des eigenen
Geschlechts so etwas wie ein neues Frausein einherginge und ein anderer Umgang
mit dem eigenen Geschlecht und nicht
zuletzt mit anderen Frauen möglich würde.
Esoterik? Vielleicht.
An deinen Schluss muss ich anknüpfen.
Denn mir scheint ja immer mehr, wenn
Frauwerden überhaupt etwas heisst, dann
heisst es, eine bestimmte Frau zu werden,
eben: alleinstehende Krankenpflegerin,
lesbische Mutter mit verschiedenen Jobs,
Managerin und so weiter. Und da fragt sich
dann: Wer ist Frau von all diesen Frauen?
Was sollte das Gemeinsame zwischen ihnen
sein? Ja, ich weiss natürlich um Gemeinsamkeiten auf verschiedenen Ebenen.
Reproduktionsarbeit ist ein Thema, das
viele Frauen verbindet, da sie sehr viel mehr
von dieser Arbeit leisten als Männer. Aber
eben, nicht alle. Es gibt ja Frauen in Europa,
die gern die Reproduktionsarbeit an Migrantinnen (wobei ja ‹Migrantinnen› auch so
ein Geisterbegriff ist, aber das ist hier nicht
Thema) abgeben... Und dennoch sollte das
Frausein Politikum bleiben und verbinden.
Oder nicht? Geht es nun um das Frausein,
oder Frauwerden, oder geht es eher um
jenes Weibliche, von dem ich immer mehr
das Gefühl habe, es habe mit Frauwerden
gar nicht so viel zu tun? Es sei denn, Frauwerden heisst, sich loszusagen von Konkurrenz, Egoismus, Kapital. Dann werden
wiederum viele Frauen gleich sagen, dass
sie als Frauen da gar nicht dahinterstehen
könnten.
Betreff: AW: Re: Frau werden???
Datum: 02.07.2014 um 09:09
An: [email protected]
Was mir nachgeht: die Frage, ob diesem
Interesse, dieser Neugierde, ein Uneinssein,
ein Nicht-Akzeptieren-Können des eigenen
Geschlechts zugrunde liegt. Diese Frage
trifft mich irgendwo zutiefst. Und auch:
Weshalb diese Ablehnung von für mich
typisch weiblichen Attributen? Weshalb
diese paradoxerweise fast schon misogyne Haltung bestimmten anderen Frauen
gegenüber? Du kennst das, oder?
Du willst also nicht von Frauwerden sprechen, sondern vom Hausfrau, Putzfrau,
Pflegefachfrau werden? Das sind für mich
zwei verschiedene Ebenen. Wobei das eine
mit dem anderen doch wieder zu tun haben
kann. Ich meine: Je nach dem, was man
unter Frausein, der weiblichen Position,
dem Frauwerden versteht, hat das vielleicht
mit der nach wie vor gültigen Arbeitsteilung der Geschlechter und mit dem (ökonomischen) Nicht-Wert von Reproduktion
zu tun?
Wenn das Weibliche das bezeichnen
soll, was ausgeschlossen wird in unserer
Gesellschaft, und wenn es von Männern
wie Frauen abgelehnt wird, warum heisst
es dann ‹das Weibliche›? Es ist mir klar
warum, und zugleich ist es mir schleierhaft.
Wie viele Frauen gibt es, die ich schlichtweg
mühsam finde, politisch wie persönlich!
Und das sind Frauen. Frauensolidarität,
gemeinsame Suche nach Weiblichkeit? Was
sollte das denn sein?
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Es gibt auch noch die Variante von wegen
Gebärmutter haben und so. Frauwerden bei
der Geburt oder gar schon bei der Zeugung,
dank Chromosomen? Blabla. Frauwerden
ist nicht ein organischer Vorgang, sondern
höchstens die Deutung eines solchen. Aber
das wissen wir ja auch schon länger.
tun, diese Unmöglichkeit etwas zu werden
und sich festzulegen? Aber was wäre dann
feministische Politik? Aufheben dieser
Widersprüche? Neubewertung? Woha, wo
wir’s von Gegensatzpaaren haben, müsste
es dann nicht doch um Dekonstruktion
gehen? Aber was bitte sollte das konkret
heissen?
Ist Feministin werden eigentlich zu vereinen mit Frauwerden? Natürlich gibt es nicht
die Feministin. Es gibt die bürgerlichen
Feministinnen, die sich gegen ziemlich
vieles wenden, was ich als linke Feministin
fordern würde – nehmen wir nur beispielsweise eine vollumfänglich staatlich finanzierte Kinderbetreuung, um eine relativ
harmlose und doch auch unter Feministinnen umstrittene Forderung zu nennen.
Jedenfalls aber, der Feministin hängt ja
in bestimmten Kreisen das klischeehafte
Image von Hässlichkeit usw. an. Ich lache
über solche Klischees. Gleichzeitig finde
ich mich immer wieder in Widersprüche
verstrickt: Vieles, was nämlich als weiblich
gilt, weise ich zurück. Warum? Halte ich
meine Ablehnung von typisch weiblichen
Attributen für feministisch, während sie
bloss Abbild einer patriarchalen Beeinflussung ist?
Frauwerden: Soll ich behaupten, dass dafür
vor allem Geld nötig ist, ökonomische
Unabhängigkeit? Jedenfalls scheint mir
klar: Die ökonomische Ungerechtigkeit
muss aufgehoben werden, in allen Sektoren. Das heisst, besonders auch in denjenigen Sektoren, in denen vor allem Frauen
arbeiten, braucht es gute Entlöhnung (um
eine scheinbar ganz bescheidene und unrevolutionäre Forderung zu formulieren).
Trägt das zum Frauwerden bei? Vielleicht
trägt es dazu bei, Frau sein zu können, statt
es immer werden zu müssen?
Von: [email protected]
Betreff: Re: AW: Re: Frau werden???
Datum: 02.07.2014 um 12:25
An: [email protected]
All diese Widersprüche! Zum Beispiel:
«Schminken ist blöd, unnötig, lächerlich...» Dies ist ein Satz, der irgendwo tief
in mir steckt und den ich im Elternhaus
aufschnappte. «Frauen sollten sich schminken, sonst fallen sie aus dem Rahmen, sind
unweiblich.» Der zweite Satz, der dem
anderen immer voraus- oder hinterhereilte.
Was tun mit solchen Satzpaaren, von denen
ich noch viele weitere aufzählen könnte?
Du glaubst also, dass es nichts gibt, was alle
Frauen verbindet? Ich weiss nicht. Es gibt
ja diesen ominösen Satz von Lacan: «La
femme n’existe pas», was vermutlich so zu
verstehen ist, dass das, was alle Frauen verbindet, paradoxerweise gerade die Tatsache
ist, dass sich nichts Allgemeines über sie
sagen lässt. Dies, weil die Frau in der Sprache
oder der gesellschaftlichen Ordnung nicht
repräsentiert wird, da diese Ordnung
männlich ist. Und das ginge dann eher in
die Richtung, die Frau nicht als Identität,
sondern als Weibliches zu verstehen – als
das, was rausfällt. Und diese Nichtartikuliertheit des Weiblichen beträfe dann beide,
Männer wie Frauen, wenn auch in unterschiedlicher Weise: Die weibliche Position
bestünde im Unterschied zur männlichen
Frauwerden: Sich zwischen diesen Satzpaaren ewig hin- und herwenden wie in einem
Hamsterrad, morgens lange vorm Schrank
stehen, nur um dann zu sagen: Scheisse,
das ist doch blöd, irgendwas bestimmtes
anzuziehen. Dann doch wieder zurückeilen
und überlegen. Hat das mit Frauwerden zu
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Position darin, sich mit etwas zu identifizieren, was nicht artikuliert ist. Männliche
oder weibliche Positionen wären dann auch
unabhängig vom biologischen Geschlecht
zu denken. In diesem Sinne könnte man
sagen, dass allen Frauen (‹Frau› als weibliche Subjektposition verstanden) gemeinsam ist, dass sie mit der Nichtartikuliertheit ihrer eigenen Position konfrontiert
sind, sich trotzdem unausweichlich einer
männlichen Kultur und Sprache unterwerfen müssen und damit wiederum auf unterschiedliche Weise umgehen.
‹weiblich› heissen muss. Ich weiss es nicht.
Aber mir scheint aus verschiedenen (historischen) Gründen einleuchtend, dass diese
gesellschaftliche Ordnung männlich dominiert ist. Dass sie anders sein könnte, auch.
Dennoch sind wir eben dieser (männlichen)
Ordnung unterworfen. Und das, was darin
nicht aufgeht, wird ‹weiblich› genannt.
Von daher stellt sich mir dann auch die
Frage, ob und wie aus einer Position heraus,
die notwendig androzentristisch ist, eine
Kritik am Androzentrismus möglich ist???
Vielleicht könnte man Frauwerden gerade
verstehen als Versuch, sich der männlichen
Logik, den männlichen Gesetzen nicht
vollständig zu unterwerfen und eine andere
Sprache zu finden. Frauwerden hiesse dann
nicht die Identität ‹Frau› anzunehmen,
so wie wir das anfangs verstanden haben,
sondern: unabhängig vom biologischen
Geschlecht dem Weiblichen ‹treu› zu sein
(im badiouschen Sinne) und das Nichtartikulierte ein Stück weit zu artikulieren; dem,
was keinen Wert hat, Wert verleihen. Frauwerden wäre dann emanzipatorisch, politisch, feministisch – aber in einem anderen
Sinne, als wir die Worte ‹emanzipatorisch›
und ‹politisch›, ‹feministisch› üblicherweise brauchen. Vielleicht müsste man dafür
ein neues Wort schöpfen?
Diese Nichtartikulierbarkeit lässt sich dann
auch verbinden mit dem Ökonomischen:
Auch die Reproduktionsarbeit existiert
quasi nicht im hegemonialen, ökonomischen Denken, weil sie keinen Wert schöpft.
Denn wenn ‹wertvoll› mit ‹profitsteigernd›
definiert wird (wie das die klassische Ökonomie tut), dann ist Reproduktion nicht
wertvoll und kommt als Teil des ökonomischen Prozesses gar nicht in den Blick.
Auch hier sind die Reproduktion und das
Weibliche das, was nicht gedacht wird, was
keinen Wert hat.
Das ist alles notwendigerweise abstrakt.
Aber dieser Zugang zum Thema Geschlechterdifferenz, zum Thema Frau scheint mir
immer plausibler. Ich merke gerade, dass
ich doch nicht so theoriemüde bin, wie ich
geglaubt habe. Zumindest diesbezüglich
nicht. Und weisst Du was? Dieser Zugang
erscheint mir noch viel plausibler, seit ich
solche theoretischen Ansätze aus dem
Mund einer Frau gehört habe. Das finde ich
interessant. Ich habe schon einige Männer
gelöchert mit Fragen nach der psychoanalytischen Sicht auf die Geschlechterdifferenz und diese Antworten, dieses Gerede
vom Phallus hat mich nicht zufriedengestellt – höchstens aggressiv gemacht, hehe.
Vermutlich hat diese Frau nicht mal etwas
fundamental anderes gesagt. Es macht also
einen Unterschied, wer es zu mir sagt.
Die Ablehnung von Dingen, die als weiblich gelten, die Ablehnung von anderen
Frauen und der Art und Weise wie sich
manche verhalten, wie sie reden – das kenn
ich nur zu gut. Ich denke, mich haben diese
Dualismen von Körper und Geist, weiblich
und männlich, Denken und Affekt enorm
geprägt und tun es immer noch – auch
wenn ich die Problematik dieser Dualismen
sehe. (Das ist doch genau auch das Problem
mit der Dekonstruktion – so wie ich das
verstehe. Klar können wir diese Dualismen
dekonstruieren und das ist sicher auch sinnvoll. Aber ändert es etwas daran, dass mich
diese Gegensätze enorm geprägt haben und
es weiter tun?)
Du fragst, weshalb dieses Ausgeschlossene
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die Frauen schlechthin spricht. Das Wort
‹Frau› ist bekanntlich älter als der Kapitalismus.
Vielleicht hat dieser (könnten wir es ‹latenten Hass› nennen?) gegen das, was als weiblich gilt bzw. was wir jeweils mit weiblich
assoziieren, mit diesem Leiden an der weiblichen Subjektposition zu tun. Die Ablehnung des Weiblichen scheint ein Ausweg zu
sein, indem wir uns davon abgrenzen und
uns damit vielleicht um so mehr der männlichen Logik unterwerfen? Wobei natürlich
nicht alles, was auf der Ebene der Rollen,
Identitäten etc. als weiblich gilt mit dem
Weiblichen (verstanden als Nichtartikuliertes, Nichtrepräsentiertes) gleichzusetzen ist. Ich glaube, das sind wirklich verschiedene Ebenen.
Wie war das noch mal mit der Reproduktion? Falls der Arbeitsbereich der Frauen,
wie Federici das sagt, im Ausgang des Mittelalters in Europa von Mechanismen des
kapitalistischen Wirtschaftens durchsetzt
wurde, wodurch die Frauen ihre Stärke und
Handlungsfähigkeit einbüssten – ja, dann
bedeutete es natürlich zuvor etwas anderes,
Frau zu sein. Und doch wurde es ‹Frausein›
genannt. Die Frauen wurden doch nicht
erst zu Frauen, als die Allmende privatisiert
wurden? In vielen Zeiten und an vielen
Orten lebten und leben Menschen, die als
‹Frauen› bezeichnet wurden und werden.
Und ich meine, dass da etwas Gemeinsames ist, das sie alle verbindet. Und zugleich
ist das Frauwerden in den unterschiedlichen Kontexten doch etwas völlig Anderes.
Damit komme ich theoretisch nicht klar.
Also doch Gender- und Intersektionalitätstheorie herbeiziehen? Gehen wir nochmals
zurück: Die unartikulierte Position. Und
eine neue Sprache finden. Ja, natürlich,
aber was ist denn nun die Sprache? Nein,
ich versteh’s wieder überhaupt nicht.
Von: [email protected]
Betreff: AW: Re: AW: Re: Frau
werden???
Datum: 07.07.2014 um 19:57
An: [email protected]
Was soll ich antworten? Ich könnte sagen:
Mit allem einverstanden! Oder auch nicht?
Ich könnte nämlich auch sagen: Wenn das
mit der Subjektposition so und so ist, halt
mal, dann verläuft die Geschlechtergrenze
aber doch wohl ganz anders?
Was ist genau diese Position, die unartikuliert bleibt, und in der herrschenden
Sprache nicht anders kann, als unartikuliert zu bleiben? Ist das gut übersetzbar in eine ökonomische Analyse, wie du
sie vorschlägst und wie ich sie ja auch für
plausibel halte: Reproduktion wird nicht
gezählt im wirtschaftlichen Kalkül. Aber
seit wann ist das so? Gab es schon immer
‹Frauen› oder nicht? Ich las, im Mittelalter
hätten sie weniger nach Mann oder Frau
unterschieden, als vielmehr nach Stand,
oder innerhalb der Frauen auch beispielsweise zwischen Jungfrauen, Ehefrauen,
Witwen, weltlichen Frauen und Nonnen,
etc. Aber dann las ich in einer mittelalterlichen Quelle gleich einen Satz, der über
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RosaRot Nr. 47
Ich weiss es nicht. Das einzige, was mir
dazu einfällt, sind Lévi-Strauss, Lacan und
Irigaray mit ihren Theorien der Frau als
Tauschobjekt, die wie ein Signifikant zwischen Männern, Familien, Clans zirkuliert.
Und die Frau als Tauschobjekt, als zirkulierenden Signifikanten zu denken, bedeutet
doch wiederum, dass die Frau eine fundamental andere Beziehung zur symbolischen
Ordnung hat als der Mann.
Was ich hingegen sicher weiss, ist, dass der
Feminismus nicht feministisch ist, wenn
ein bürgerlicher Bundesrat ‹den Frauen› in
globo vorwirft, sie seien «nicht bereit» und
deswegen nicht in Chefetagen. Ja, immerhin habe ich da ein Negativbeispiel: Es hat
aus meiner Sicht überhaupt gar nichts mit
Feminismus zu tun, wenn sich Frauen in
Chefetagen drängen. Aber indem ich dies
sage, bringe ich nicht nur die ‹feministischen› Bundesräte, sondern auch diverse
Frauen gegen mich auf. Ich komme zu
keinem Schluss. Und bin deswegen doch
nicht dankbar, wenn mir jemand flüstert,
dass die Biologie in dem Falle eben doch die
einfachste, klarste und wahrste Antwort
auf alle Fragen liefere. Diesem Logos glaube
ich nicht.
Ja, Du hast Recht. An Negativbeispielen dafür, was Feminismus sein soll, mangelt es
uns tatsächlich nicht! Das ist doch zumindest ein Anfang, ziemlich klar zu sehen,
was Feminismus, Frausein und Frauwerden
für uns nicht heissen kann.
Ich kann auch nicht aufhören zu fragen –
was wohl an der Materie selbst liegt. ‹Frau
sein›, ‹Frau werden› und ‹Weiblichkeit›, das
scheinen mir alles recht prekäre und unbeständige Angelegenheiten zu sein. Und, so
auf der ganz persönlichen Ebene: Ich habe
keine Ahnung, was es für mich heisst, Frau
zu sein. Aber die Frage lässt mich nicht los.
Und ich glaube, Dir geht es auch so. Und
ganz vielen anderen Frauen auch. Vielleicht
sollten wir uns einfach selbst und gemeinsam immer wieder fragen? ◆
Von: [email protected]
Betreff: Re: AW: Re: AW: Re: Frau
werden???
Datum: 9. Juli 2014 um 10:09
An: [email protected]
Du fragst ja eigentlich nach der Genealogie dieser Geschlechterdifferenz und -hierarchie bzw. nach der Genealogie des
Androzentrismus. Das überfordert mich.
Ich glaube aber definitiv, dass es vor dem
Kapitalismus Frauen gab. Dass es etwas
fundamental anderes bedeutete, damals
Frau zu sein, glaube ich definitiv auch. Ich
glaube aber nicht, dass das heissen muss,
dass es nichts gibt, was Frauen verbindet
(wobei mir das Wort ‹verbinden› nicht gefällt, wenn ich es mir so recht überlege.
Aber vielleicht ist das wieder diese Abwehr
gegen alles, was esoterisch anmutet. Frauenbünde, Schwesternschaft und so). Aber
dennoch: allein schon, dass sie ‹Frauen› genannt werden, verbindet sie. Frau als Signifikant für das Andere?
Du fragst, was vor dem Kapitalismus mit
der Frau und mit der Reproduktion war.
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RosaRot Nr. 47
RosaRot Nr. 47
Zwischen Bescheidenheit
und Akzeptanz
Ein Gespräch mit der Zürcher Lehrerin Esther Goldberg*
über Feminismus und das Frausein im orthodoxen Judentum.
von LB
Je mehr die orthodoxen Frauen am religiösen Leben teilhaben können, desto mehr
stehen sie für eine Gleichbehandlung der
Geschlechter und ergo für eine stärkere Partizipation der Frauen am religiösen
Diskurs ein.
«Also wenn Sie zu mir kommen, dann
sprechen wir über authentisches Judentum.
Authentisch deshalb, weil es praktiziertes
Judentum ist.»
Mit diesem Satz begrüsst mich Esther Goldberg, 75 Jahre alt, mehrfache Mutter, vielfache Grossmutter und noch zahlreichere
Urgrossmutter. Wenn jemand über die
Mutterfigur im Judentum Bescheid weiss,
dann sie. Kann sie mir aber auch Auskunft
geben über die Rolle und Selbstbestimmung der Frau? Schliesslich bin ich auf der
Suche nach einer feministischen, orthodoxen Jüdin, um das Bild der ‹unterdrückten
Frau in patriarchalen Religionen› aufzubrechen. Wie bei der Burkadebatte prominent,
wird dieses Stereotyp derzeit in Politik und
Öffentlichkeit hitzig debattiert und reproduziert. Ich aber möchte eine alternative
Frauenfigur finden. Eine, die strenge religiöse Praxis und Feminismus vereint. Was
im ersten Moment widersprüchlich klingen
mag, ist in Israel durchaus verbreitet: Laut
einer Studie von Professorin Tamar El Or
werden Frauen dort feministischer, je religiöser sie werden. Oder anders formuliert:
Bereits hier unterbricht mich Esther Goldberg, denn ‹Feministin› will sie sich nicht
nennen: «Wenn ich es mir recht überlege,
habe ich es gar nicht nötig, mich Feministin
zu nennen. Ich muss für nichts kämpfen.»
Die Bedeutung der
Frauenrolle
Für Esther Goldberg beinhaltet Feminismus immer eine Art Kampfhaltung,
die ihr nicht entspricht. Sie glaubt, dass
Feministinnen vielleicht ihr Frausein an
sich nicht akzeptieren. Goldberg selbst
hat dies bei sich noch nie in Frage gestellt
und ergänzt später, dass das sicher auch
mit ihrer Ehe zu tun hat. «Ich glaube, es
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orthodoxen Judentum intendiert ist? Wenn
ja, habe ich aber dennoch den Eindruck,
dass die Rolle der Frau eine zugewiesene
und nicht selbst gewählte ist. Wo ist da Platz
für Selbstbestimmung, die meines Erachtens als wichtiges Merkmal der (Geschlechter)Gleichheit angesehen werden kann?
Oder bin ich da zu stark von Christentum
oder gar Neoliberalismus geprägt?
hängt damit zusammen, ob man von der
eigenen Aufgabe und Rolle überzeugt ist
oder ob man sich wertlos fühlt und darum
so etwas Anderes haben muss. Das ist eine
ganz persönliche Meinung.» Aus ihrer Sicht
besitzt die Frau im Judentum nämlich eine
sehr starke Rolle, die aber vielleicht für das
feministische Anliegen nicht so relevant
sei: Während dem Mann die Aufgabe des
religiösen Lernens und Wissens zukomme,
beschäftige sich die Frau mit der Hausarbeit und engagiere sich im sozialen Bereich
der Gemeinde. Die Frau könne zwar für
das Gebet drei Mal pro Tag in die Synagoge
gehen, so wie es für den Mann vorgesehen
ist, müsse aber nicht. «Sie hat viel wichtigere Aufgaben. Sie hat die Kinder und das
Haus. Verstehen Sie, die Frau hat in diesem
Bereich einen ganz starken Einfluss und ist
glücklich, wenn sie diese religiösen Pflichten mit dem ganzen Klimbim weglassen
kann.»
Weibliche
Selbstbestimmung zwischen
Gesetz und Alltag
«Selbstbestimmung ist für mich sehr relevant», betont Esther Goldberg immer
wieder. Sie ist ihr möglich, aber immer nur
in einem bestimmten Rahmen, nämlich
innerhalb des göttlichen Gesetzes. So
empfindet sie beispielsweise die Kleidervorschriften durchaus als etwas Positives,
weil der weibliche Körper wie ein kostbares
Schmuckstück sorgfältig eingepackt werde.
Während ich ihr zuhöre, ertappe ich mich
dabei, wie ich innerlich den häuslichen
Aufgabenbereich der Frau abwerte und der
geistigen Arbeit des Mannes einen Mehrwert zuspreche. Wenn ich mir aber Esther
Goldbergs Haltung zu Herzen nehme,
beginne ich zu verstehen, was sie mit der
starken Rolle der Frau meint: Die Organisation des Sabbats, dessen Einhaltung als
wichtigstes Merkmal für Orthodoxie gilt,
die koscheren Speisegesetze, die Tag für Tag
die Essenszubereitung bestimmen, sowie
das Aufziehen der Kinder, die entsprechend
dem Gebot ‹Mehret euch› vielzählig sind –
all dies sind existentielle Bestandteile eines
jüdisch praktizierten Lebens und liegen
ganz in den Händen der Frau.
Zu den Mädchen, die Goldberg derzeit an
einer jüdischen Schule unterrichtet, sagt
sie, dass ein Mann nicht am äusserlichen
Körper ‹kleben› bleiben, sondern die Frau
aufgrund ihrer Persönlichkeit lieben und
schätzen solle. Dabei kommt sie auf die
heutige Jugend zu sprechen, auf diejenigen
Mädchen, welche so kurze Shorts tragen,
dass man schon fast die Pobacken sieht.
«Ich war in einer Sekundarschule und habe
dort ein paar Unterrichtsstunden besucht.
Da war ein Lehrer mit den 14- oder 15-jährigen Mädchen. Die waren angezogen! Da
hab ich mich wirklich gefragt: Wie kann
der als Lehrer unterrichten? Und wenn er
bei dieser Mode unterrichten kann, dann ist
es doch schade um sein Sexgefühl, dann ist
das abgetötet.» Schliesslich können Gesetze
und Grenzen auch Freiheit bedeuten, gerade
in Bezug auf die Sexualität. Goldberg zückt
einen Zeitungsartikel, in dem es um sexuel-
Im Gegensatz zum (protestantischen)
Christentum, das Wort und Glaube in den
Mittelpunkt der religiösen Auseinandersetzung stellt, steht in der jüdischen Orthodoxie die Praxis viel stärker im Vordergrund. Könnte es also tatsächlich sein, dass
eine Gleichwertigkeit der Geschlechter im
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RosaRot Nr. 47
RosaRot Nr. 47
Mir wird klar, dass ich selbst das Stereotyp der ‹unterdrückten Frau in patriarchalen Religionen› in mir trage und aufgrund
der Ausführungen von Esther Goldberg
das Bild von Frausein und Selbstbestimmung neu überprüfen und kritisch hinterfragen muss. Schliesslich ist auch die
Selbstbestimmung des Mannes und auch
meine eigene in normative Vorstellungen
und Handlungsweisen eingebettet. Das ist
mir zwar nicht neu, aber die direkte Erfahrung im Gespräch mit Goldberg überrascht
mich doch und stimmt mich nachdenklich. Sodann stellt sich mir aber eine letzte
Frage, nämlich ob es nicht so ist wie mit
den Kühen und dem Gras auf der anderen
Seite des Zauns: Schmeckt dieses nicht viel
besser als das auf der eigenen Weide und
ist darum reizvoll, weil eben ausserhalb des
Erreichbaren? Esther Goldberg antwortet
lächelnd: «Wissen Sie, ich glaube, ich bin
von Natur aus nicht so der Typ. Ich kann
zum Beispiel in ein elegantes und schönes
Haus kommen und mich darüber freuen.
Aber deswegen brauche ich nicht nach
Hause zu rennen und dort alles zu ändern.
Das habe ich nicht nötig.» ◆
len Druck bei Jugendlichen geht – aufgrund
der angeblich sexuellen Freiheit. «Das ist ja
dann auch keine Selbstbestimmung mehr!»
Selbstbestimmt leben und sich Freiheiten
nehmen sind für Goldberg also wichtig
und dahingehend möglich, als dass sie im
Alltag selbst entscheiden kann, ob sie einen
Vortrag besuchen möchte oder nicht, ob sie
eine Stellvertretung als Lehrerin annimmt
oder nicht. Aber immer innerhalb ihrer
Rolle als Ehefrau, Mutter, Schwester oder
Tante. Das ist gesetzt.
Meine Spurensuche hat mich zu einer
Frau geführt, die konsequent ihre Religiosität mit einer bestimmten Art von
selbstbewusstem Frausein verbindet. Dies
geschieht weniger im Sinne eines Feminismus, der auf formale Gleichberechtigung
hinzielt, sondern vielmehr auf eine essentielle Weise: Indem Esther Goldberg sich auf
für sie spezifisch weibliche Eigenschaften
und Fähigkeiten beruft und eine gleichwertige Rollenverteilung postuliert, macht
sie sich innerhalb der jüdisch-orthodoxen
Ordnung stark für die Rechte und Freiheiten der Frau. Sie erachtet die Pflichten des
religiösen Gesetzes als ‹Zaun› im Leben,
der den richtigen Weg weist und zu einem
guten Leben führen kann.
Dieses Gespräch wurde als Interview bereits im fakultativ 1/2014 veröffentlicht.
*Name geändert
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Mailänder
Appetithäppchen
Der italienische Differenzfeminismus steckt voller unaufgelöster Selbst-Widersprüche, was ihm ständig Missverständnisse einbringt. Was hat es mit dieser sperrigen Richtung
des Feminismus auf sich?
von DS
schen Differenzfeminismus einzuführen:
weil da so etwas primär gar nicht erst vorgesehen ist. Und seit mich meine Bemühungen, für mich zu klären, was ich mit
der Kategorie Geschlecht anfangen will,
mit dieser Art des Denkens in Berührung
gebracht haben, werde ich den Eindruck
nicht los, dass das vielleicht gar nicht so
dumm ist. Ich will hier deshalb zu skizzieren versuchen, welche gedanklichen Wege
– vielleicht auch Um- und Abwege – sich
öffnen, wenn man sich unter dem Einfluss
der Feministinnen aus Mailand mit der
Geschlechterfrage befasst.
«Die feministische Bewegung ist voll von
politischen und philanthropischen Eindringlingen. Wir warnen die männlichen
Beobachter, uns zu ihrem Studienobjekt
zu machen. Uns interessiert weder ihre
Zustimmung noch ihre Polemik. Wir geben
ihnen zu verstehen, dass es würdevoller für
sie ist, sich nicht einzumischen.» Das war
1970. Die Autorin Carla Lonzi klinkte sich
mit ihrem Text Wir pfeifen auf Hegel gerade
aus dem Marxismus-Leninismus aus und
hinterliess dabei den Kristallisationskern
für ein Denken, das später als die Affidamento-Position der ‹Mailänderinnen› bzw.
als ‹italienischer Differenzfeminismus›
bekannt werden sollte.
Unbehagen und
Grabenkämpfe
Heute ist das Jahr 2014, und ich versuche
als Mann für die erste Ausgabe von RosaRot
– Zeitschrift für feministische Anliegen
und Geschlechterfragen einen Artikel zum
Thema Frau werden zu schreiben. Dass ich
dazu aus unmittelbarer Erfahrung nichts
zu berichten habe, ist mir natürlich schon
selber aufgefallen. Aber das Frau werden
ist ein idealer Aufhänger, um in die etwas
widerspenstige Begriffswelt des italieni-
«Also mit so Frauenzeugs halt.» Der irgendwie selbstironisch und irgendwie provokativ gemeinte Kommentar eines Freundes
dazu dokumentiert das Unbehagen, das
uns Männern nach wie vor im Nacken
sitzt, wenn es um ‹feministische Anliegen
19
RosaRot Nr. 47
RosaRot Nr. 47
und Geschlechterfragen› geht. Zumindest
kenne ich das so: Wer als Bub auf den Pausenhöfen der späten 80er und frühen 90er
sozialisiert worden ist, dem ist der kategorische Imperativ mit in den Rucksack fürs
Leben gepackt worden, mit den Weibern
ja nicht zuviel gemein zu haben. Da war
es schon verdächtig, wenn sich einer nicht
raufen wollte.
Online-Duden, und der spuckt für den
‹Kampf im Schützengraben› als Hilfestellung das folgende Anwendungsbeispiel aus:
«Es kam zu Grabenkämpfen innerhalb der
Frauenbewegung.» Linguistisch gesprochen
sind ‹Feminismus› und ‹Grabenkampf› also
quasi synonym. Klar doch, Zickenkrieg. Da
muss der Erklärbär ran und mal reinen
Tisch machen. Was soll denn da noch schief
gehen, Frau Lonzi?
Was in den kulturell diversifizierten
Schulen der Gegenwart –
­ und das meine ich
nur halb ironisch – ganz anders sein mag.
Unter Altersgenossen jedoch, wie politisch
sensibilisiert sie sonst auch sein mögen, löst
das Thema mit mechanischer Zuverlässigkeit pubertäre Reaktionen aus. Irgendwie
muss man lachen. Wenn, dann fasst man es
mit spitzen Fingern an wie einen gebrauchten Tampon. Oder man reisst sich zusammen, proklamiert mal kurz, was Sache ist,
und wischt die Thematik mit ausladender
Geste vom Tisch. Kann ja nicht so schwierig sein; weg damit und gut ist.
Unterschied im Menschsein
Tatsächlich wäre der italienische Differenzfeminismus als Ausgangspunkt
für eine Einmischung in befriedender
Absicht denkbar ungeeignet. So wird Antje
Schrupp, die im deutschen Sprachraum
gegenwärtig vielleicht umtriebigste Vertreterin dieser Denkrichtung, auf ihrem Blog
jeweils schneller mit Essentialismus- und
Biologismusvorwürfen eingedeckt, als sie
«Schwangerwerdenkönnen» sagen kann.
Zwar nicht aus guten Gründen, wie ich
meine, doch die Reaktionen sind nachvollziehbar: Die von den Italienerinnen geprägte Rhetorik scheut sich nicht, das Missverständnis in Kauf zu nehmen.
Und da die emanzipierten Frauen von heute
den Männern in nichts nachstehen wollen,
finden sie es auch irgendwie doof, dieses
Frauenzeugs. Muss man auch mal ruhen
lassen. Heute ist's ja anders. Und überhaupt,
#aufschrei, voll die Opfer. Kaum hatte ich
auch nur begonnen, mich ins Thema einzulesen, fand ich mich schon in der Rolle
eines solchen wieder, der den Frauen – bei
einer wie Lonzi bereits unten durch – den
Feminismus erklärt.
Etwa mit Äusserungen wie dieser: «Man
wird zwar als Frau geboren, es kommt aber
darauf an, was eine daraus macht.» Schrupp
führt die Aussage als blosse Variation des
berühmten Satzes von Simone de Beauvoir
ins Feld: «Man wird nicht als Frau geboren,
man wird es.» Zumindest vordergründig
jedoch scheint es sich dabei geradewegs
um dessen Widerruf zu handeln. Genauso
wie bei einer verwandten Formulierung
von Luisa Muraro, einer Mailänderin der
ersten Stunde: «Wir haben nicht gewählt,
als Frauen geboren zu werden, und gerade
diese Tatsache macht es unabdingbar, das
Frausein zu akzeptieren.»
Also zunächst, dass es den Feminismus gar
nicht gibt. Und dass vielleicht nicht überall
Feminismus drin ist, wo ‹Gender› draufsteht. In diesem Zusammenhang bin ich
kürzlich am Wort ‹Grabenkampf› hängen
geblieben: Militärhistorisch unterbelichtet,
wie ich bin, fragte ich mich, was für eine
Vorstellung genau die Rede von ‹Grabenkämpfen im Feminismus› eigentlich hervorrufen will. Die erste Adresse, die mir
in Sachen Kriegsgeschichte einfällt, ist der
Wird das Frausein damit nicht wieder
auf eine Frage der Geburt reduziert, auf
20
Ein Merkmal der Erfahrung
eine bloss biologische Tatsache? Und also
das Frauwerden, die Sozialisation mit all
ihren kulturellen Zufälligkeiten, geleugnet? Der Gedanke, dass man nicht mehr
oder weniger Frau sein kann – und im
engeren Sinn daher auch nicht Frau werden
kann – ist für den italienischen Differenzfeminismus jedenfalls zentral. Ein Mensch
verfügt über sein Geschlecht immer ganz:
«Es ist ausgeschlossen, dass eine Frau nicht
weiss, welchen Unterschied im Menschsein
es bedeutet, als Frau geboren zu sein», so
die Mailänderinnen in der im Namen der
Libreria delle donne di Milano publizierten
Kollektivschrift Wie weibliche Freiheit entsteht.
Angesichts solcher Aussagen kann man
fast nicht anders, als zu erwarten, dass
der italienische Differenzfeminismus im
Geschlechterunterschied eine Art Naturgesetz sieht, wenn nicht gar ein metaphysisches Ordnungsprinzip. Doch den Mailänderinnen geht es nicht um Natur und
Ontologie, sondern um Erfahrung und
Praxis: «Sich auf die Natur zu berufen
würde den Frauen nichts nützen, denn diese
unterliegt der gesellschaftlichen Interpretation, welche das menschliche Schicksal
der Frau direkt von der weiblichen Anatomie ableitet.» Nirgendwo machen die Italienerinnen die Geschlechterdifferenz an
isolierbaren Eigenschaften fest: «Sie ist»,
so Muraro, «keine natürliche Ausstattung
wie die Haare oder der Uterus, sondern ein
Merkmal der Erfahrung».
Und wenn jede und jeder immer schon in
einem absoluten, unhintergehbaren Verhältnis zur Geschlechterdifferenz steht,
dann steht die Geschlechterdifferenz auch
in einem absoluten, unhintergehbaren Verhältnis zum menschlichen Dasein: «Der
Unterschied zwischen Mann und Frau ist
der grundlegende Unterschied innerhalb
der Menschheit», schreibt Lonzi in Wir
pfeifen auf Hegel. Das Geschlecht erscheint
bei ihr als eine Kategorie ganz anderer Qualität als etwa die Hautfarbe: «Der schwarze
Mann ist dem weissen Mann gleich, die
schwarze Frau ist der weissen Frau gleich».
Ein Merkmal der Erfahrung – aber eines,
über das man von Geburt an verfügt? Zum
Körper gehörig – aber nicht als dessen
natürliche Ausstattung? Inhaltlich an
nichts festzumachen – und doch konstitutiv
für das Menschsein? Man könnte meinen,
beim italienischen Differenzfeminismus
handle es sich um eine Diskurstradition,
die keinen anderen Zweck verfolgt, als Verwirrung zu stiften. Opazität als Programm
sozusagen. Da kann Schrupp auf ihrem
Blog noch so betonen, dass sie das Schwangerwerdenkönnen weder für eine notwendige noch für eine hinreichende Bedingung
für das Frau sein hält: Dass sie es dennoch
als weibliche Erfahrung thematisiert, provoziert vor dem Hintergrund ihrer voraussetzungsreichen Argumentation den
Argwohn, es gehe am Ende uneingestandenermassen doch darum, geschlechtliche
Identität auf das Niveau schierer Körperfunktionen herunterzukürzen.
In Das Patriarchat ist zu Ende führen die
Feministinnen aus Mailand diesen Gedanken unter Bezugnahme auf Lonzi wie folgt
aus: «Für alle Differenzen, seien sie durch
Kultur, Charakter, Interessen oder Altersunterschiede bedingt, gibt es, so meinen
wir, zumindest theoretisch eine Vermittlung – nur für eine nicht: die Geschlechterdifferenz. Sie ist irreduzibel, denn sie
gehört zum Körper in seiner unüberwindbaren Opazität.» Für Muraro stellt sich
die Geschlechterdifferenz daher gewissermassen als die ursprünglichste Differenz
überhaupt dar: «Ich bin in der Tat überzeugt, dass niemand den Sinn der Differenz
besitzt, wenn ihm der der sexuellen Differenz fehlt.»
21
RosaRot Nr. 47
RosaRot Nr. 47
Theorie und Widersprüche
politisches Projekt ab: «Der Unterschied
besteht in der jahrtausendelangen Abwesenheit der Frau in der Geschichte. Machen
wir uns diesen Unterschied zunutze: Wenn
die Integration der Frau erst einmal erreicht
ist, wer weiss, wie viele Jahrtausende nötig
sein werden, um dieses neue Joch abzuschütteln?»
Wenn sich eine Theorie selbst zu widersprechen scheint, dann kann das bedeuten, dass es sich deren Urheberinnen oder
Urheber nicht so genau überlegt haben. Die
Auflösung von Widersprüchen wäre dann
ein gedanklicher Fortschritt, ein Gewinn.
Es kann jedoch auch sein, dass die Theorie
mit Selbstwidersprüchen operiert, um
einer paradoxen Wirklichkeit gerecht zu
werden. Die Auflösung von Widersprüchen
wäre dann ganz im Gegenteil ein Verlust.
Eine widerspruchsfreie Theorie, die zum
Umgang mit der Realität nichts taugt, ist
verschwendetes Leben.
Sich als das Andere ins Spiel bringen in
subversiver Absicht: Lonzis Politgruppe
nannte sich Rivolta femminile. Ihre Kritik
war jedoch nicht lediglich gegen das bürgerliche, sondern genauso sehr gegen das
revolutionäre Gleichheitsdenken gerichtet:
Mit Blick auf die Entwicklungen in den
Realsozialismen ihrer Zeit beargwöhnte sie
den Klassenkampf als Abrechnung unter
Männercliquen. «Die Frau wird als Frau
unterdrückt», so Lonzi, «auf allen gesellschaftlichen Ebenen: nicht auf der Ebene
ihrer Klassen- sondern ihrer Geschlechtszugehörigkeit.»
Inwiefern die begrifflichen Spannungen,
die von den Theoretikerinnen des italienischen Differenzfeminismus – zweifelsohne
in aller Absicht – aufrechterhalten werden,
produktiv sind, konnte ich für mich noch
nicht beantworten. Dessen ungeachtet aber
halte ich es für erhellend, den Gründen
nachzugehen, die die Mailänderinnen zu
ihren Theorieentscheidungen veranlasst
haben. In diesem Sinn seien hier noch
einige weitere Mailänder Appetithäppchen
serviert.
Was genau aber soll es nun sein, dieses
unterdrückte Andere? Lonzi lehnt alle
Zuschreibungen ab, die die Unterscheidung zwischen Mann und Frau inhaltlich
begründen würden – insistiert aber doch
auf der Differenz. Ein Denken, das der
gängigen Intuition nicht gerade entgegenkommt: Entweder a und b unterscheiden
sich irgendwie, oder sie tun es eben nicht.
Aber doch nicht beides zugleich!
Das unterdrückte Andere
Vier Jahre bevor Luce Irigaray mit Speculum das mitbegründete, was man heute
gemeinhin unter Differenzfeminismus versteht, nahm Lonzi in Wir pfeifen auf Hegel
den differenzfeministischen Grundgedanken vorweg: «Die Gleichheit der Geschlechter ist die Hülle, mit der heute die Unterlegenheit der Frau getarnt wird». Auf der
orwellschen Farm der Geschlechter sind
alle gleich, aber die Männer sind gleicher.
Gleichstellungspolitik heisst: Die Frauen
sollen wie die Männer werden.
Lonzi weist «sowohl die Ebene der Gleichheit als auch die der Ungleichheit als ein
von der männlichen Macht aufgezwungenes Dilemma» zurück. Das Weibliche und
Männliche leiten sich nicht voneinander
ab, ergänzen einander nicht und konkurrieren nicht miteinander; zwischen ihnen
besteht keine Symmetrie und keine noch so
vertrackte Wechselseitigkeit. Ein sperriger
Gedanke, darüber ist sich Lonzi im Klaren:
«Die Frau steht nicht in einem dialektischen Verhältnis zur männlichen Welt. Die
Bedürfnisse, die sie gerade klärt, implizieren keine Antithese, sondern ein Sich-aufeiner-anderen-Ebene-bewegen. In diesem
Und wieso nicht umgekehrt? Lonzi leitet
aus ihrem Begriff des grundlegenden
Unterschieds innerhalb der Menschheit ihr
22
Punkt haben wir am meisten Schwierigkeiten, verstanden zu werden, aber es ist
wichtig, darauf zu bestehen.»
Signifikant› – als bleibendes Zeichen für
das Potential je neuer Bedeutsamkeit –, soll
den Raum offen halten für die kommunikativen Auswirkungen des Aussersprachlichen. Wozu das sich stumm vollziehende
Kulturelle genauso zählt wie die Biologie.
Das Reale ist gemäss Chiara Zamboni, die
die Position mit Muraro und anderen in
der Philosophinnengemeinschaft Diotima
weiterentwickelt, als etwas zu begrüssen,
das «die Grenzen der Sprache verschiebt»,
indem es «sich störend aufdrängt».
Symbolischer
Materialismus
Jeder Versuch, das Weibliche und Männliche inhaltlich zueinander in Beziehung
zu setzen, läuft auf eine Theorie darüber
hinaus, weshalb sich Männer wie Männer
und Frauen wie Frauen verhalten: nicht als
Subjekte, sondern als Resultanten sozialer
und biologischer Kräfte. Und da sich die
männliche Normalität nicht zu rechtfertigen braucht, geschieht dies zu Lasten der
Frauen: Ein Mann tut, was er tut, weil er
tut, was er will; eine Frau will, was sie will,
weil es in ihrer Natur liegt oder sie halt so
erzogen wurde.
Autorität und Anerkennung
Und das geht nur in der Praxis. Das Affidamento, quasi das Markenzeichen der
Mailänderinnen, ist deren Antwort auf die
Frage, wie eine Politik der Subjektsetzung
funktionieren kann: durch die Anerkennung der Autorität solcher, zu denen man
sich – sich ‹anvertrauend› – in Beziehung
setzt, und zwar nicht auf der Basis von
Gemeinsamkeiten, sondern aufgrund von
Unterschieden. Jede Frau, die eine andere
für sich offen als Autorität anerkennt, weil
diese etwas verkörpert, was jene gerne selbst
wäre, vergrössert den Spielraum dafür, was
weibliches Handeln bedeuten kann.
Sie ist nun mal Frau geworden. Die symbolische Ordnung, die wir vom Patriarchat geerbt haben, rechnet nicht mit freiem
weiblichem Handeln. Und diese Asymmetrie verschwindet nicht, bloss weil man sich
das ganz fest vornimmt. Auch das Kulturelle weist eine eigene Widerständigkeit
auf, seine eigene Materialität. Die Mailänderinnen plädieren daher für etwas, was sie
‹symbolischen Materialismus› nennen: die
beständige Arbeit an den Spielräumen, die
Geschlechterdifferenz frei zu interpretieren.
Die Asymmetrie der Ausgangssituationen verbietet es, dies eins zu eins auf Verhältnisse unter Männern und zwischen
Männern und Frauen zu übertragen.
Dennoch vermute ich, dass es sich auch in
anderen Zusammenhängen lohnen könnte,
die Kultivierung eines solchen Begriffs von
Autorität und Anerkennung ins Auge zu
fassen. Wo auch immer nämlich man sich
in emanzipatorischer Absicht untereinander zu solidarisieren sucht, stellt sich die
Frage nach einem produktiven Umgang mit
Verschiedenheiten, nach Formen von Autorität jenseits patriarchaler Hackordnungen
sowie nach Möglichkeiten, dem eigenen
Handeln im Zusammenspiel mit anderen
neue Bedeutung zu geben. ◆
«Das unvorhergesehene Schicksal der
Welt», schreibt Lonzi, «liegt darin, den Weg
noch einmal von vorn zu durchlaufen mit
der Frau als Subjekt.» Das freie Handeln der
Frau als das unvorhergesehene Andere: Als
solches kann es sich nur ins Spiel bringen,
wenn es sich – wie es das männliche Subjekt
schon immer tat – als eines setzt, das sein
natürliches und kulturelles Gewordensein
laufend überschreitet. Was nicht heisst, es
zu leugnen. Im Gegenteil: Die Geschlechterdifferenz, nicht in einer bestimmten
Bedeutung, sondern als ‹unerschöpflicher
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RosaRot Nr. 47
RosaRot Nr. 47
Frauen werden politisch
«Das het doch ke Wert – da mache doch üseri Manne
scho recht, oder?»
Argumente der GegnerInnen des Frauenstimmrechts in der
Schweiz und deren Bedeutung für heute.
von CB und SN
Dass Frauen heute ihre politische Verantwortung wahrnehmen und an die Urne
gehen, um abzustimmen und zu wählen,
verwundert uns nicht. Dass es den Frauen
lange Zeit versagt war, in der Politik aktiv
zu sein, lässt uns dagegen stutzen. Für viele
Frauen und Männer bleibt es skandalös,
dass das Frauenstimm- und Wahlrecht in
der Schweiz erst im Jahre 1971 auf Bundesebene eingeführt wurde. Damals stimmten
65.7% der Schweizer Stimmberechtigten
für die Einführung. Bereits vor 1971 hatte
es viele Versuche gegeben, das Stimm- und
Wahlrecht für die Frauen auf Gemeinde-,
Kantons- und Bundesebene einzuführen,
davon waren die meisten aber erfolglos
geblieben.
leben und die Erziehung der Kinder litten,
wenn die Frau Politik betreiben würde. Verschiedenste Plakate im Kampf gegen das
Frauenstimmrecht zeigen alleingelassene
Kinder. Ein Plakat zeigt etwa ein brüllendes
Baby, das aus dem Stubenwagen gefallen ist.
Das ganze Wohnzimmer wurde durch den
Wind verwüstet, der durch das offengelassene Fenster hereinweht, und eine schwarze
Katze mit grossen Kulleraugen nimmt im
Stubenwagen Platz. Und schuld daran ist –
die Mutter, denn sie treibt Politik (Abb. 1)!
Auch das Plakat, auf welchem ein kleines
Mädchen zu sehen ist, das in einer Hand
ein geknicktes Blümchen hält und mit der
anderen in der Nase bohrt, bläst ins gleiche
Horn und fragt: «Mutter wenn chunsch
hei?»
Weshalb hat es so lange gedauert, bis in
der Schweiz die Frauen abstimmen und
wählen konnten? Welche Argumente haben
Männer und Frauen vorgebracht, die diese
Gleichstellung so lange verhindert haben?
Die GegnerInnen sahen eine Bedrohung
für das traditionelle Frauen- und Familienbild und eilten zur Rettung der schweizerischen Familie. Die BefürworterInnen
betonten immer wieder, dass die Frauen
ebenso wie auch die Männer ihre Bürgerpflicht erfüllen könnten, ohne deshalb
Beruf oder Familie zu vernachlässigen. Im
Abstimmungskampf der 1950er Jahre äusserten sich die BefürworterInnen folgendermassen: «Niemand wird sich im Ernste
vorstellen, durch die Einführung des Frauenstimmrechts würden die Familienmütter
«Muetter wenn chunsch
hei?»
Eine der Befürchtungen im Bezug auf das
Frauenstimmrecht war, dass das Familien24
plötzlich allesamt zu täglich in Anspruch
genommenen Berufspolitikerinnen.»¹ Im
Gegenteil sei es sogar förderlich für die
Familie, «wenn sich das Blickfeld der Frau
über das Nächstliegende hinaus weitet.»²
stimmrecht folgenden Einwand diskutieren musste: «Die Frauen haben Hitler
gewählt. Sie sind verantwortlich für die
antidemokratischen Entwicklungen, die
gewisse Länder eingeschlagen haben.»³
Die BefürworterInnen widerlegten diesen
Vorwurf, indem sie darauf verwiesen, dass
bei denjenigen Wahlkreisen in Deutschland, bei denen überhaupt Erhebungen
über das Stimmenverhalten der Geschlechter gemacht wurden, die weiblichen Wählerinnen bedeutend weniger die Nationalsozialistische Partei unterstützt hatten. Sie
nahmen zudem auf Untersuchungen Bezug,
denen zufolge das Verhältnis der Parteistärken nicht wesentlich durch die Einführung
des Frauenstimmrechts beeinflusst wurde.⁴
Diese Ergebnisse wurden auch verwendet,
um die Ängste vor einem grossen Einfluss
des Frauenstimmrechts auf das Kräfteverhältnis der politischen Parteien zu besänftigen.⁵
Die Befürchtungen, dass die Frauen aufgrund des Frauenstimm- und Wahlrechts
zu wenig Zeit für Haushalt, Familie und
Ehemann hätten, durchzogen dennoch die
Argumente der Gegner. Die Broschüren der
BefürworterInnen befassten sich mit allerhand Einwänden dieser Art, beispielsweise, dass das Frauenstimmrecht politischen
Ehestreit und Familienhader zur Folge
habe.
«Die Frauen haben Hitler
gewählt»
Einige Argumente in diesem Abstimmungskampf schockieren heute. So ist es
zugegebenermassen lächerlich, dass der
Schweizerische Verband für das Frauen-
Vom Interesse und der
Bildung
Verbreitete Argumente gegen das Frauenstimm- und Wahlrecht stützten sich auch
auf die fehlende Mehrheit der BefürworterInnen unter den Frauen. Diese Aussagen
wurden von den Frauenbewegungen durch
Umfragen in den Kantonen Basel-Stadt,
Genf und Zürich widerlegt, in welchen sich
die Mehrheit der Frauen für das Frauenstimmrecht aussprach. Zudem verwiesen in
diesem Zusammenhang viele Broschüren
auf das Stimmrecht und Wahlrecht als ein
Menschenrecht, welches für alle Menschen
unabhängig von Geschlecht gelten soll.
Deshalb sei es überhaupt nicht von Belang,
ob die Frauen das Stimm- und Wahlrecht
wünschten oder nicht.⁶
Auch der Einwand war verbreitet, dass die
Frauen nicht genügend auf das Stimmrecht vorbereitet oder nicht reif dafür seien.
Abb. 1: Die Mutter treibt Politik.
25
RosaRot Nr. 47
RosaRot Nr. 47
Diesem Argument wurde meist mit der
Antwort begegnet, dass der Schweizerische
Verband für das Frauenstimmrecht gewillt
sei, die Frauen in Geschäften der Politik zu
schulen. «Soll der junge Mann, der mit 20
Jahren zur Urne geht, wirklich reifer sein
für die Mitverantwortung im Staat als seine
Mutter, die ihn erzogen hat?»⁷
eingenommen hatten, wurde hingegen von
den BefürworterInnen des Frauenstimmrechts als Hinweis dafür gesehen, dass die
Frauen nicht mehr nur für das Private und
das Haus zuständig seien, sondern auch in
der Politik mit ihren Anliegen und Interessen präsent sein sollten.
Auch der Schweizerische Katholische Frauenverbund wünschte sich die Teilnahme der
Frau am öffentlichen Leben, jedoch nicht
an der Politik. Sie sahen das grosse Problem
der politischen Beteiligung darin, dass die
Frauen mit ihren hohen sittlichen Werten
zu gut seien für die Politik: «Durch die
Einführung der Frau ins politische Leben
müsste sie und die Frauenorganisationen
einen grossen Teil ihrer Arbeit der Politik
schenken, zum Schaden jener Aufgaben,
die ihr näher stehen und deren Lösung
mehr zur Gesundung des Volkes beitragen
können.»¹⁰ Auch dieses Argument wird auf
Plakaten motivisch festgehalten: Eine Frau
mit ihrem Kind läuft vor der grässlichen
Hand der Politik davon. Viele befürchteten,
dass die Frauen durch das Parteiengemenge und die Politik verdorben würden. Die
Frauenverbände, welche sich für das Frauenstimmrecht aussprachen, antworteten
auf dieses Argument sehr gewitzt: «Wenn
unsere Politik wirklich so verdorben ist, so
ist es höchste Zeit, dass neue Elemente sie
aus dem Sumpfe herausziehen und gewisse
Missbräuche bekämpfen.»¹¹
Von der Ungleichheit der
Geschlechter
Erschreckend ist der Standpunkt, politische
Partizipation führe zur Vermännlichung
der Frau. Unvergessen das Plakat mit der
hässlichen Frau mit Krallen an den Händen
und Warzen im Gesicht, welches die Aufschrift trägt: «Wollt Ihr solche Frauen?»
Als Antwort der BefürworterInnen folgte
die Aussage, dass die Frauen durch das
Frauenstimmrecht ihre eigene Stimme mit
ihren eigenen Anliegen und Interessen vertreten können würden. Die Frau solle und
könne durch das Frauenstimmrecht weibliche Politik treiben und werde nicht ‹männlich› politisieren.⁸
Diese Thematik führt uns zur Geschlechterdebatte der siebziger Jahre. Die Gegner
stellten fest, dass Ungleichheiten zwischen
Mann und Frau bestehen und führten
diese Ungleichheiten auf die Naturen der
Geschlechter zurück. So wurde – meist von
Männern – erklärt, dass die Frau ihrem
ganzen Wesen nach viel mehr zum Privaten und Häuslichen als zur Betätigung
im öffentlichen Bereich tendiere. Auch
wenn schon damals anerkannt wurde,
dass Frauen in wirtschaftlichen Betrieben
arbeiteten und Geld verdienten, bestand
man doch darauf, dass es «der männlichen
Natur obliegt, die Rechten und Pflichten der Familie und der Gesellschaft nach
aussen zu vertreten.»9 Die Tatsache, dass
die Frauen ihren Platz in der Berufswelt
Von heutigen Forderungen
Wir müssen uns heute bewusst sein, dass
die Politik im europäischen Kontext in
Machtstrukturen funktioniert, welche Jahrhunderte lang allein von Männern geprägt
wurden, die selbst in Gesellschaften mit
spezifischen Geschlechterrollen lebten. Die
Frau begibt sich damit in eine Maschinerie
der Männerkultur, wo sie sich mit ihren
Besonderheiten zuerst finden und sich mit
ihrer eigenen Stimme behaupten muss.
26
Diese Auseinandersetzung zeigt, dass der
Genderdiskurs von politischer Relevanz ist
und auch nach Annahme des Frauenstimmund Wahlrechts weiter verändert werden
muss. Es muss ein politisches System
gestaltet werden, in welchem Menschen in
ihren Unterschieden und Gemeinsamkeiten geschätzt werden und in welchem ihre
Eigenschaften und Ideen produktiv und
konstruktiv aufgenommen und verwirklicht werden können. Um dies zu erreichen
müssen Frauen und Männer gemeinsam
Einfluss auf das heutige politische System
ausüben und dieses gemeinsam weiter
gestalten. Das Frau- und Menschwerden in
der Politik wird uns noch lange beschäftigen. ◆
Schon im Kampf um das Frauenstimmrecht
wurde ausgeführt: «Noch wichtiger als die
politische Gleichberechtigung der Frau (die
wir ihr persönlich durchaus nicht vorenthalten möchten) ist aber die Wiedergeburt
eines selbstständigen weiblichen Lebensideals, des weiblichen Ideals überhaupt, das
nicht in einer Vermännlichung und Selbstaufgabe bestehen kann. [...] Die Politik
wird erst dann eine Bereicherung durch die
Mitarbeit der Frau erfahren, wenn sie als
selbstbewusstes Geschlecht in ihrer weiblichen Eigenart erstarkt und sie ihre Lebensbestimmung erfasst haben wird, also nicht
als Konkurrentin des Mannes, sondern als
seine notwendige Ergänzung auftritt.»¹²
Anmerkungen
1
Der Schweizerische Verband für das Frauenstimmrecht: Das Frauenstimmrecht in der Schweiz. Tatsachen und
Auskünfte. Zürich. 1950, S. 35.
2
Arbeitsgemeinschaft der schweizerischen Frauenverbände für die politischen Rechte der Frau: Einwände gegen
das Frauenstimmrecht...und wie ich sie widerlege. Zürich. 1970, S. 10.
3
Der Schweizerische Verband für das Frauenstimmrecht: Das Frauenstimmrecht in der Schweiz. Tatsachen und
Auskünfte. Zürich. 1990, S. 34.
4
Vgl. ebd.
5
Arbeitsgemeinschaft der schweizerischen Frauenverbände für die politischen Rechte der Frau: Einwände gegen
das Frauenstimmrecht...und wie ich sie widerlege. Zürich. 1970, S. 13.
6
Ebd., S. 1.
7
Der Schweizerische Verband für das Frauenstimmrecht: Das Frauenstimmrecht in der Schweiz. Tatsachen und
Auskünfte. Zürich. 1950, S. 33.
8
Arbeitsgemeinschaft der schweizerischen Frauenverbände für die politischen Rechte der Frau: Einwände gegen
das Frauenstimmrecht...und wie ich sie widerlege. Zürich. 1970, S. 11.
9
Zentralvorstand der Helvetische Gesellschaft: Das Frauenstimmrecht. Schaffhausen. 1929, S. 101.
10
Ebd., S. 105.
11
Der Schweizerische Verband für das Frauenstimmrecht: Das Frauenstimmrecht in der Schweiz. Tatsachen und
Auskünfte, Zürich. 1950, S. 35.
12
Zentralvorstand der Helvetischen Gesellschaft: Das Frauenstimmrecht. Schaffhausen. 1929, S. 111.
Bildverzeichnis
Abb. 1: Die Mutter treibt Politik: Gosteli-Stiftung, Plakatsammlung.
27
RosaRot Nr. 47
Emanzen sollen
zuverlässig wiederkehren:
circa alle 20 Jahre
Emanzipation hat nicht nur, aber viel mit Feminismus zu
tun. Weniger gegen Männer, sondern vielmehr gegen
gestrige Karrierefeministinnen müssen Nachwuchsemanzen sich behaupten.
von FS
Bedeutung der Emanzipation schlechthin:
Die Entlassung der Kinder aus der elterlichen Gewalt.
Dass Alice Schwarzer als Steuersünderin
entlarvt wurde, hat eigentlich nur anekdotischen Wert. Die Boulevardpresse findet
daran ein Fressen und kleine BürgerInnen
mögen sich in ihrer mehr oder weniger
heimlichen, mehr oder weniger berechtigten Wut gegenüber den Einflussreichen
gefallen. Hingegen weist diese Enthüllungsgeschichte auf einen wichtigen Umstand
hin: Relikte, wie die 72-jährige Schwarzer,
fallen aus der Zeit. Vorbei sind in Europa
die Zeiten des ungebremsten Wirtschaftswachstums, als Steueroptimierung noch
ein Kavaliersdelikt war. Auch Plagiate sind
plötzlich keine Bagatellen mehr. Was vor
dreissig Jahren nicht relevant schien und
kaum überprüfbar war, kostet heute Politikerinnen und Politiker gleichermassen
die Karriere. Damit steht Schwarzer gleichsam für eine wiederkehrende Aufgabe der
Emanzipation, nämlich die Aufgabe und
Gestern...
Niemand kann behaupten, die Emma hätte
es nicht gebraucht. Schwarzers dezidierte
Stimme half, manchen gesellschaftlichen
und vor allem gesetzlichen Missstand zu
beheben. So lancierte sie 1971 in Deutschland beispielsweise die Diskussion um den
§218, der Abtreibung unter Strafe stellte. In
der Schweiz dauerte es zwar noch bis 2002,
bis eine einheitliche Praxis in allen Kantonen per Volksabstimmung durchgesetzt
wurde, aber mittlerweile ist der Schwangerschaftsabbruch – durch den Slogan ‹Mein
Bauch gehört mir› zu einem Symbol des
29
RosaRot Nr. 47
RosaRot Nr. 47
Die allgegenwärtige anti-patriarchale
Kampfrhetorik Schwarzers (und anderer
Frauen ihrer Generation) hingegen zementiert bestenfalls den grossen Unterschied,
auch wenn Schwarzer in einer Anspielung
auf die wohl berühmteste emanzipatorische
Rede der westlichen Geschichte meint, sie
habe einen Traum: Den Traum von einer
Gesellschaft, in der es nur noch Menschen
und keine Frauen oder Männer mehr gäbe.
Gut also, dass ihr Buch Der grosse Unterschied: Gegen die Spaltung von Menschen in
Männer und Frauen – das einen schönen
Traum und die berechtigte Forderung im
Titel mit Kampfparolen zerstört –, auch
schon wieder fast fünfzehn Jahre her ist.
Feminismus geworden – auch überall in der
Schweiz legal. Noch vorher (auf Bundesebene 1971) wurde den Frauen als wichtigstes
Element der Gleichstellung das Wahlrecht
zugesprochen, selbst wenn die renitenten
Appenzeller durch einen Bundesgerichtsentscheid letztlich zur Umsetzung gezwungen werden mussten. Damit kamen Frauen
endlich in den Genuss voller Rechte und
wurden zu gleichwertigen BürgerInnen.
Andere Absurditäten, wie die gesetzliche
Bevormundung alleinerziehender Mütter,
sind ebenfalls längst beseitigt. Gegen
Schwarzers Engagement ist also nichts zu
sagen. Die Erfinderin der Emma mauserte sich jedoch (zur notabene kinderlosen)
Karrierefeminstin und scheinbaren Vorzeigefrau. Ob ein solcher Lebensentwurf noch
zeitgemäss ist?
Tatsächlich ist die Verwirklichung dieses
Traums näher als erwartet. Es bräuchte
einzig den Mut, ihn in die Tat umzusetzen.
Die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu
seiner Verwirklichung sind mittlerweile
grösstenteils gegeben. Die Umsetzung dieses
Traums kann jedoch nur gemeinsam funktionieren – und sicher nicht, indem Frauen
zum Kampf gegen Männer angehalten und
Männer als Feindbild stilisiert werden.
Wozu die Entzweiung der Geschlechter
und die einseitige Identifikation mit der
eigenen bzw. anderen Geschlechtsgruppe
führen, hat die Schweiz mit den allgegenwärtigen Pädophilie-Diskussionen und
der Annahme der Pädophilie-Initiative im
Frühjahr 2014 allzu schmählich bewiesen. Dass auch Männer für diese Initiative
gestimmt haben, zeigt nur, wie heimtückisch die Situation ist – nämlich so heimtückisch, dass diese Männer nicht merken,
wie auch sie unter den Generalverdacht
der Pädophilie gestellt werden und folglich
gegen sich selbst gestimmt haben. (Dagegen
wurde kürzlich am Bezirksgericht Meilen
eine Frau, die sich an einen Minderjährigen
herangemacht hatte, zu bloss 20 Monaten
unbedingt verdonnert.)
...und heute...
Die Familie ist wieder im Kommen, auch
wenn sie – durchaus zu Recht – nicht mehr
ganz so aussehen mag, wie konservative
Kreise sie fordern. Da wohnen Väter und
Mütter bunt durcheinander gewürfelt
zusammen oder auch nicht und ziehen
Kinder gross. Eine der Voraussetzungen
dafür: Heute sind Frauen finanziell zusehends unabhängiger. Entscheidend ist
auch, dass die staatliche Bevormundung
weggefallen ist. Obwohl die Zeit nicht
weit zurückliegt, als die Kinder unverheirateter Frauen (und die Mütter gleich mit
dazu) bevormundet wurden, erinnert sich
kaum jemand der jüngeren Generationen
mehr daran – von persönlicher Betroffenheit ganz zu schweigen. Daraus zu schliessen, es müsse weiterhin gegen Männer
und vor allem ständig wider das Vergessen
gekämpft werden, ist ein Fehlschluss. Nach
siegreichem Kampf verlangen Friedenszeiten, so sie denn Friedenszeiten sein sollen,
schliesslich nach einem neuen und vor
allem gemeinsamen Vorgehen.
Umgekehrt sind Männer in ihrer überwiegenden Mehrheit keinesfalls Triebtäter,
30
die sich an kleinen Mädchen (von Jungen
spricht Schwarzer bezeichnenderweise
kaum) oder an Ehe- und anderen Frauen
vergehen. Die beharrliche Verbindung
von Sex mit männlicher Gewalt wird dem
Grossen und Ganzen kaum gerecht. Auch
dann nicht, wenn berechtigterweise immer
wieder auf höchst tragische und verdammenswerte sexuelle Gewalttaten hingewiesen wird. Gerade die Einführung des
Frauenwahlrechts in der Schweiz kann als
Zeichen dafür verstanden werden, dass
sich Dinge erstens grundsätzlich ändern
können und Männer zweitens längst nicht
die bornierten Macht- und Gewaltmenschen sind, als die sie von Schwarzer hingestellt werden. Vielmehr lässt die Tatsache
hoffen, dass die Schweiz das einzige europäische Land war, in dem den Frauen das
Stimmrecht per Volksentscheid von einer
Mehrheit der Männer (65.7%) zugesprochen wurde.
Familienleben gemeinsam zu gestalten und
die Erziehungsaufgaben zu teilen. Hingegen die Teilung der Erziehungsaufgaben zu
fordern und Männer gleichzeitig unter den
Generalverdacht der Pädophilie zu stellen,
mutet reichlich paradox an.
Aber von all dem konnte Alice Schwarzer,
aufgewachsen zur Zeit des Wirtschaftswunders und wiederkehrender Booms der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nichts
wissen. Nur schade, dass sie es immer
noch nicht gelernt hat. Emanzipation kann
deshalb für die jüngeren Generationen
nicht nur heissen, von den älteren Generationen zu lernen – ein Lernprozess, den
Schwarzer in fast schon verschwörungstheoretischer Manier bedroht sieht, da männliche Diffamierungsstrategien die Generation der Emanzen à la Schwarzer schlecht
zu machen versuchten. Emanzipation
muss auch heissen, die Unterschiede zwischen den Generationen zu kennen – die
Unterschiede in den Lebensbedingungen.
Dabei macht Schwarzer, die nach wie vor
als führende Intellektuelle Deutschlands
bezeichnet wird, auch nicht die beste Figur.
Sie klebt seit der Gründung der Zeitschrift
Emma auf dem Sessel der Chefredakteurin. Der zaghafte Versuch eines Generationenwechsels wurde 2008 schon nach acht
Wochen abgebrochen. Emanzipation – ja,
das Werden, nicht nur von Mann und Frau,
sondern überhaupt – ist damit weniger eine
Frage der Geschlechter, als eine Frage der
Generationen. Das hingegen ist wohl die
älteste Geschichte, nicht nur der Menschheit, sondern der organischen Natur generell.
...Emanzipation!
Besonders im Kontext der Zeitschrift Rosa,
die unter der neuen Redaktion auch Rot
geworden ist, muss Emanzipation bedeuten, nicht nur feministisch, sondern auch
links – eben progressiv – zu denken. Das
hiesse dann, sowohl gesellschaftliche
Schieflagen als auch gewisse wirtschaftliche Missstände, wie die veralteten Steuerregime westlicher Staaten, anzuprangern.
Das würde vielleicht auch bedeuten, dem
unseligen Karrieregedanken einmal abzuschwören und das Konkurrenzdenken sein
zu lassen. Es kann eben keinesfalls darum
gehen, dass Frauen innerhalb des gegenwärtigen Wirtschaftssystems in sogenannte Männerdomänen eindringen. Wäre
das berufliche Fortkommen nicht mehr
auf Gedeih und Verderb mit einem 100%Pensum verbunden, würde die Karriereorientiertheit der Männer (und auch die der
Frauen) wohl automatisch schwinden. Im
Gegenzug gäbe es mehr Raum und Zeit, das
So sehe ich das. ◆
31
RosaRot Nr. 47
RosaRot Nr. 47
Girls Drive ?!
Nein danke, ich geh
lieber zu Fuss!
Kennst du Girls Drive ? Seit über einem Jahr liegt die
Zeitschrift an der Uni Zürich und anderen Hochschulen
auf. Was daherkommt wie eine hippe Annabelle, will
uns Studentinnen die Emanzipation als neoliberales
Karrieretool verkaufen.
von DZ
Augen und Nase sind diabolisch schwarz
bemalt, der Mund skelett- oder narbenartig
gezeichnet. Ich muss an Corpsepaint, die
Gesichts- und Körperbemalung im Metal
denken. Hier aber mischt sich eher GothicChic-Ästhetik mit Ethno-Folklore. Die
Kinnpartie des Gesichts ist überschrieben
mit «Honduras», und weiter: «Karriere im
brutalsten Land der Welt». Tatsächlich habe
ich mir im Zusammenhang mit Honduras
noch nie karrieretechnische Überlegungen
gemacht – möglicherweise also eine vorurteilsfreie und originelle Herangehensweise an das mittelamerikanische Land? Ich
schlage die Zeitung auf und tauche hinter
den zartrosa gehaltenen Seiten und grossen
schwarzen Lettern ab.
Pause am Deutschen Seminar der Uni
Zürich. Ich schlendere die Treppe hinunter
und bleibe wie immer vor dem roten Sideboard mit seiner kunterbunten Auslegeordnung an Flyern, Agenden und Magazinen
stehen. Mein Blick schweift über das Zettelsammelsurium und bleibt auf einem Stapel
ordentlich platzierter Zeitschriften ruhen.
Girls Drive?! Dieses Magazin habe ich noch
nie gesehen, dabei gehe ich doch fast täglich
hier ein und aus. Mein Herz schlägt schneller. Endlich ein Frauenmagazin an der Uni!
Ich schnappe mir ein Exemplar und setze
mich auf die Treppenstufen vor dem Hauseingang. Girls Drive – das Karrieremagazin
für Studentinnen mit Drive entpuppt sich
als Zeitung im grossen Tabloidformat. Ich
halte die Ausgabe No. 4 in den Händen. Ein
düsteres Gesicht blickt mir frontal entgegen,
32
Freiwillige Milizionärinnen
met wird. Dass den durch Patriarchat und
Kapital gestützten Unternehmensstrukturen durch Freiwilligenarbeit der «Studentinnen» – es ist das erste und einzige Mal
in diesem Editorial, dass ein generisches
Femininum verwendet wird – beizukommen sei, ist jedoch ein Argument, das mir
beim besten Willen nicht einleuchten will.
Was uns freiwillig nicht gegeben wird,
dafür müssen wir freiwillig arbeiten?! Das
stinkt irgendwie nach marktkonformer
Selbstoptimierung. Soziale und strukturelle
Probleme, welche nicht zuletzt gehäuft auch
an diversen Bildungsinstitutionen und in
der Forschung zu finden sind, bleiben dabei
auf der Strecke. Ungleichheit, Misserfolg
und Armut muss in einer entsolidarisierten
Gesellschaft halt jedeR für sich ertragen.
Der Tauchgang währt nicht lange. Bereits
im Editorial stolpere ich über das generische Maskulinum und das emphatische
«Engagiert euch!», mit dem die «Investorin
und Philanthropin» Carolina Müller-Möhl
uns Studentinnen die Freiwilligen- bzw.
Gratisarbeit im Dienste der Gesellschaft
schmackhaft machen will. Dabei weist
Müller-Möhl, die u.a. Mitglied der Verwaltungsräte NZZ AG, Bertelsmannstiftung
und Avenir Suisse ist, löblicherweise darauf
hin, dass der Grossteil der unbezahlten
Arbeit in der Schweiz noch immer von
Frauen verrichtet wird. Diesen Umstand
gilt es aber anscheinend weder genauer zu
beleuchten noch kritisch zu hinterfragen.
Vielmehr schliesst Müller-Möhl ihr Editorial folgendermassen:
Die Aussage «junge Frauen, die sich nicht
mehr mit dem Wertekanon ‹Kinder, Kirche,
Küche› abfinden wollen» zeugt daneben
von zweierlei: Zum einen ist dieser Satz
Hohn in den Ohren unserer feministischen
Vor- und Mitstreiterinnen, denen ebendieser Wertekanon unterstellt wird, und
verkennt damit die gefochtenen Kämpfe
und die Emanzipationsbestrebungen in
verschiedensten gesellschaftlichen – auch
theologischen! – Bereichen der vergangenen sechzig Jahre komplett. Zudem negiert
dieser Satz die selbstbestimmte Handlungsfähigkeit jener jungen Frauen, die sich sehr
wohl mit ihrem Glauben, dem Muttersein
und der Haushaltsarbeit auseinandersetzen
und identifizieren können. «Kinder, Kirche,
Küche» wird hier mit Rückständigkeit und
Naivität assoziiert, wohingegen aufgeklärte
Studentinnen ganz dem protestantischen
Arbeitsethos verpflichtet werden: Ihr seid
erfolgreich, weil ihr so hart arbeitet. Und
dieses ganze «freiwillige» Engagement muss
uns auch noch Spass machen! Da kommt
mir die Frage, ob frühe gesellschaftliche
Zwänge und Konventionen nicht ehrlicher
waren: Zumindest wusste frau, wogegen sie
sich wehren kann.
«Solange die Vereinbarkeit von Beruf und
Familie noch immer auf den hinteren
Rängen der politischen Agenda figuriert,
solange es immer noch mühsam ist, als top
ausgebildete Frau mit Kindern Karriere zu
machen und auf den Chefetagen immer
noch eine männliche Monokultur herrscht,
sind wir nicht da, wo wir hinkommen
wollen und hingehören. Gerade Studentinnen und junge Frauen, die sich nicht mehr
mit dem Wertekanon ‹Kinder, Kirche,
Küche› abfinden wollen, sind gefordert, sich
für ihre Interessen einzusetzen. Nicht nur
in Wahlen und Abstimmungen, sondern
auch als freiwillige ‹Milizionärinnen›,
um einzufordern, was uns freiwillig nicht
gegeben wird. Generationen von Frauen
haben das Terrain schon vorbereitet. Und
sie haben viel erreicht. Mit Hartnäckigkeit,
aber auch, weil es Spass macht, sich zu
engagieren.» (GD No. 4, 2)
Ganz zu Recht analysiert Müller-Möhl, dass
die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein
drängendes politisches Problem ist, dem
noch immer viel zu wenig Aufmerksamkeit
und vor allem zu wenig Tatendrang gewid33
RosaRot Nr. 47
RosaRot Nr. 47
Female High Potentials
es auf kapitalistisch-konventionellem oder
unkonventionellem Wege (für letzteres
wird in Girls Drive No. 4 Gabriela Manser,
die CEO von Goba Schweiz AG, ins Feld
geführt – sie hat nicht studiert).
In den Girls Drive-Mediadaten 2014, welche
auf der Website zugänglich sind, wird das
Programm des Magazins folgendermassen
umschrieben:
Zwei Momente dürfen meines Erachtens
dabei jedoch nicht unterschlagen werden:
Indem eine junge Generation sich abgrenzt,
schliesst sie auch immer an bestehende
Umstände an. Nur wenn frau mit diesen
vertraut ist, vermeidet sie, stets wieder in
die gleichen Fallen zu tappen. Als zweites
Moment gilt es zu betonen, dass Frauen in
politischen wie wirtschaftlichen Chefpositionen – das Maskulinum ist hier bewusst
gewählt – vor allem dann Anerkennung
finden, wenn sie bewusst ‹männliche›
Attribute an den Tag legen. Oder aber, ein
Argument neueren Datums: Sie wirtschaften ethisch-sozialverträglich und entscheiden ‹weiblich›. So oder so bewegt frau sich
in patriarchal geprägten Gefilden und muss
darum doppelt aufmerksam sein bezüglich historischen wie strukturellen Bedingungen, denn: Erlaubt ist, was nicht stört!
Nicht zuletzt scheint es dem Girls Drive
doch nicht allzu weit her zu sein mit den
Kaderfrauen: Die Zeitung ist ein Tochtermagazin von Ladies Drive – das Businessmagazin für Ladies mit Drive. Beide Zeitschriften werden zwar redaktionell von
Frauen geleitet, der Vorsitzende der Swiss
Ladies Drive GmbH, welcher die Businessmagazine angehören, ist jedoch mit Sebastian Treibel als ‹General Manager› (oder
CEO) ein Mann (s. Mediadaten 2014).
«Warum braucht es ein Karrieremagazin
für Studentinnen?
1. Es gibt noch keines!
2. Frauen stellen die Mehrheit der UniAbgänger
3. Junge Frauen suchen nach neuen Rollenvorbildern
4. Die Wirtschaft braucht Female High
Potentials
5. Und: Junge Karrierefrauen wünschen
sich mehr als Ausgeh- oder Fashionmagazine.»
Wir Studentinnen sind hier also (in der
Reihenfolge des Auftretens): Frauen, UniAbgänger, junge Frauen, Female High
Potentials, junge Karrierefrauen. Geht
es hier wirklich um weibliche Studierende? Ein auffällig geschlechter-unsensibler
Sprachgebrauch, scheint mir. Sodann wird
suggeriert, dass wir jungen Frauen neue
Vorbilder bräuchten, welche uns in Girls
Drive in Form diverser Porträts erfolgreicher CEOs und Karrierefrauen angeboten
werden. Falls dies ein unterschwelliges Plädoyer für mehr Frauen in Kaderpositionen
sein sollte, wäre auch verständlich, warum
Girls Drive vom Gleichstellungsbüro des
Kantons Zürich unterstützt wird.
Aus feministischer Perspektive scheint es
mir aber zunächst einmal fraglich, ob wir
jungen Frauen diesem Bedürfnis der neoliberalen Marktwirtschaft überhaupt entsprechen wollen. Vor allem aber wehre ich
mich explizit dagegen, dass dies nur durch
einen Bruch mit bestehenden Frauenvorbildern vonstatten gehen könne. Ich sehe sehr
wohl ein, dass viele junge Frauen sich erst
dann trauen, Karriere zu machen, wenn sie
sehen, dass dies überhaupt möglich ist – sei
Tu mehr! Besser!
Was in diesem Karrieremagazin für Studentinnen mit Drive vorherrscht, ist die
penetrante Pflicht zu einem Erfolg, der sich
an rein wirtschaftlichen Leistungsprinzipien bemisst. Frauen, die berufstätig sind und
Kinder haben, scheinen in dieser Zeitungswelt eigentlich nicht vorgesehen – ganz zu
34
weil sie mit einer ahistorischen Haltung
einhergeht, die die Geschichte der Frauenemanzipation leugnet. Während die
androzentrische
Geschichtsschreibung
oftmals als eine der ‹grossen Figuren und
Helden› erscheint, lässt sich die ‹Frauengeschichte› nicht ohne Berücksichtigung
von Familie und Gemeinschaft schreiben
– ganz einfach deshalb, weil sie über lange
Zeit der den Frauen zugewiesene Arbeitsort der Reproduktion war und über weite
Strecken immer noch ist. Die Geschichte
dieser marginalisierten Orte müssen wir
kennen, denn sie prägen unsere potentiellen Vorbilder. Das «Female High Potential»
ist also nicht an der dünnen Luft oberhalb
der vielbeschworenen ‹gläsernen Decke› zu
finden, sondern liegt in den Untiefen der
Geschichte begraben. Ein Karrieremagazin, das sich ganz und gar dem neoliberalen
Erfolgsversprechen verschreibt, hilft uns
jungen Frauen und Studentinnen weder im
familiären noch im universitären Alltag. Im
Gegenteil: Es beschreibt die Möglichkeiten
des Frauseins entlang des immer gleichen
Paradigmas, innerhalb dessen die Emanzipation, wenn überhaupt, dann als Karrieretool nützlich ist. Wenn eine «Studentin mit
Drive» zu sein bedeutet, meine Mitfrauen
rechts liegen zu lassen, dann gehe ich aber
lieber zu Fuss. ◆
schweigen von Frauen, die keine Karriere
machen wollen. Was stattdessen in Girls
Drive propagiert wird, ist das Bild junger,
wissbegieriger Frauen, die sich arbeitswillig, flexibel und genussvoll dem Credo von
«Mehr Engagement!» unterwerfen; oder,
wie es andernorts in den Mediadaten auch
heisst: «Tu mehr! Besser!».
Dazu passt, dass wir jungen Frauen uns
heute anscheinend nicht mehr auf Familien- und Gemeinschaftsstrukturen verlassen dürfen, denn wer will sich schon mit
«Kinder, Kirche, Küche» abfinden? Stattdessen wissen wir selbst viel besser, was
uns heute bei Prüfungsstress und anderen
Angstzuständen hilft: «Mini-Meditation,
der kleine Helfer fürs Studium», den wir
«ohne grossen Zeitaufwand und jederzeit
spontan» anwenden können (GD No.4, 26).
Zeit zum Reden oder für eine beruhigende Umarmung bleibt uns Studentinnen im
Bologna-Strudel sowieso nicht mehr. Auch
andere zwischenmenschliche Kontakte
haben scheinbar keinen intrinsischen Wert
mehr: «Nutzt jede Chance, interessante
Menschen kennenzulernen, diese Kontakte zu etablieren und als Investition in euer
späteres Job-Netzwerk zu sehen» (GD No.4,
40). Es ist diese Entsolidarisierung, welche
zwischen den Zeilen der Texte in Girls Drive
mitschwingt, die mich aus meinem Tauchgang in die rosige Buchstabenflut fluchtartig wieder aufsteigen lässt.
Frauengeschichte(n)
Im Weltbild von Girls Drive sind Frauen
ökonomische Faktoren, die nur als solche
Handlungsfähigkeit besitzen: Arbeitet
mehr, konsumiert besser! Das einzige, was
hier zählt, ist der individuelle berufliche
Erfolg, den sich jede Frau selber schmiedet – ohne dass der Gedanke an eine politische Solidarisierung der Frauen auch
nur gestreift würde. Diese Entsolidarisierung ist meines Erachtens nur möglich,
35
RosaRot Nr. 47
RosaRot Nr. 47
A PERSON
THESE ARE THE MES
You may think I’m a person
Tall, and somewhat fat,
You might think I’m your girlfriend,
But, in fact, I am a cat.
Out of sight, I’m sleek and wild
And quick, and keen, and free.
But at home I am your little pet,
And I’m – meow – hungreee…
I’ll find the warmest spot to sit
And rub you till I’m fed.
I’ll demurely endure all your stroking
And I’ll sometimes climb into your bed.
I’ll roll over and purr; when it suits me
I’ll act cute, and I’ll pounce and I’ll play
But soon as I have had my fill
I’ll up and go away.
Because without an open window,
A house just ain’t a home
And I’d sit before the door and claw
And make sure you hear me moan.
But give me a flap and I’m happy
I will always come back to your house –
’cause if it’s true
I can come and can leave as I please.
Then I might even bring you a mouse.
These are the mes I would like you to meet.
I’ll introduce my egos in their character conceit.
We exist together pleasantly, each holds an equal place
But who knows which is here right now, looking through this face?
There’s one who wears the outfit with the ‘S’ upon her chest
She’s everyone’s favorite, does everything best,
She doesn’t ever make mistakes, or feel any pain,
She has no room for insecurity or doubt or fear or shame.
That one always carrying ’round a concrete block,
Wearing dirty dungarees and a patent pair of Docs –
She’s strong, a survivor, she always comes through.
She can dig, she can lift things, and she doesn’t need you.
There’s one in all the black clothes who’s covering her face,
standing in the background, who won’t impose upon the space.
She’s low key and on tiptoes – she hardly dares to breathe.
She’s grateful and takes up much less than she needs.
And looking up with large eyes and a practiced little pout
Is the one who needs you to sort everything out.
She’s dizzy and clumsy, forgetful and shy
Don’t slip up and defy her cause she’s guaranteed to cry.
The one with ample bosom and wide open arms
Gives dozens of cuddles, she comforts and calms.
She will listen without judgment, she will soothe out all your woes,
She doesn’t have a single thing that others need to know.
von R
The one in the all rainbow clothes, the hair dye and the wings,
Who jumps around in somersaults and shouts out loud and sings –
She is queer, she is crazy, she is often undressed,
She is unperturbed by any dare – don’t put her to the test.
And somewhere there’s a teacher who looks down her nose at you
And anything that you’ve done, you can bet she’s done it too.
She is tight with information, she can make you feel quite small
But beware if she is watching you and doesn’t speak at all.
But the one of me who’s lonely, and terrified, and weak,
We voted her out years ago – she isn’t here to speak.
She’s hurting and she’s ugly and she’s wounded and she’s plain,
But we sent someone to look for her. She might show up again.
von R
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37
RosaRot Nr. 47
Männer zerstäuben
Sex und Macht in Katy Perrys Dark Horse
I knew you were / You were gonna come to me /
And here you are / But you better choose carefully /
‘Cause I am capable of anything / Of anything and
everything.
von EZ
Im Song Dark Horse singen Katy Perry und
Juicy J über eine gefährliche Frau, die einen
Mann hemmungslos verführt. Der Videoclip inszeniert den Song als altägyptisches
Spektakel, in dem fünf Männer nacheinander einer Königin prunkvolle Geschenke
vor den Thron bringen: einen faustgrossen
Diamanten, erlesene Speisen, einen goldenen Wagen, Schalen voller Schmuck und
eine gigantische goldene Pyramide. Die
Königin nimmt die Geschenke mit gierigem Blick entgegen, lässt daraufhin die Verehrer zu rotem Staub zerfallen und verwandelt sie in einen Gegenstand, den sie gerade
begehrt: ein Schmuckstück, einen Wasserkelch, einen dekorativen Anhänger, ein
goldenes Handtäschchen, einen hechelnden
Schosshund mit Menschenkopf. Katy Perry
nimmt sich alles, was sie will – rücksichtslos, gierig und launisch.
eine Frau einen Mann1 mit ihren Reizen
verführt und an sich bindet, während er
ihr vollkommen ausgeliefert ist: Make me
your Aphrodite / Make me your one and
only / But don’t make me your enemy / Your
enemy, your enemy.
Die Rolle der Verführerin ist auf die Anziehungskraft zugespitzt, die sie auf den Mann
ausübt; ihre eigene, nicht auf den Mann
bezogene Persönlichkeit, ist ausgeblendet.
Die sexuelle Anziehungskraft der Frau wird
über die magic im Pre-Chrous besungen:
So you wanna play with magic / Boy, you
should know what you’re fallin’ for / Baby,
do you dare to do this / ‘Cause I’m coming
atcha like a dark horse.2
Der Chorus Are you ready for ... a perfect
storm3 ... cause once you’re mine ... there’s no
going back verweist wiederum auf die überwältigende Macht, die die Frau über den
Mann ausübt. Aus dem Luststurm der Katy
Perry gibt es kein heiles Entkommen: Mark
my words / This love will make you levitate /
Like a bird / Like a bird without a cage / But
down to earth / If you choose to walk away /
Don’t walk away.
Dem Mann bleibt keine andere Möglichkeit, als ihr vollkommen zu verfallen: It’s in
the palm of your hand now, baby / It’s a yes
or a no, no maybe / So just be sure / Before
you give it all to me / All to me / Give it all
to me.
Unwiderstehliche
Verführerin
In Kunst, Literatur, Musik und Film gibt
es verschiedene Tropen, die um die Frau
als Verführerin kreisen: die ‹Lolita›, die
‹Femme Fatale›, der ‹Vamp›, die ‹Schwarze
Witwe›... Ihnen allen ist gemeinsam, dass
39
RosaRot Nr. 47
RosaRot Nr. 47
Ägyptische Körper
Juicy J tritt nicht als einer der Könige auf,
die Katy Perrys Macht ausgeliefert sind.
Nachdem er von zwei katzenköpfigen Dienerinnen aus einem Sarkophag ausgepackt
wurde, tanzt Katy Perry an der Pole-Stange
mit ihm. Während seiner Rap-Einlage ist
sie nicht nur Königin, sondern auch seine
Club-Tänzerin.
Sonnenaufgang in Memphis, Egypt, a crazy
long time ago. Auf einer ägyptischen Barke
sich räkelnd, ahmt Katy Perry in Profilhaltung antike Relief-Gestalten nach. In
verschiedenen extravaganten und lasziven
Posen inszeniert sie sich als Kleopatra: Sie
hält sich ein Horusauge vors Gesicht, Hieroglyphen schweben um sie herum, ihr
sphinxartiger Thron schleudert tödliche
blaue Blitze aus den Augen und spricht mit
tiefer Stimme den letzten Satz des Chorus:
There’s no going back.
Lebensgefährliche Lust
Dass der Song eine Phantasie für Männer
ausmalt, wird auch im Rap von Juicy J deutlich. Anders als Katy Perry singt er über
seine eigene Erfahrung in dieser wilden
Affäre; mit you wird aber wie im ersten
Song-Teil ein heterosexueller Mann als
Zuhörer impliziert.
Zunächst einmal wird Perrys Mords-Performance im Bett beurteilt: She’s a beast /
I call her Karma / She’ll eat your heart out
/ Like Jeffrey Dahmer.4 Juicy J erteilt sich
selber (und implizit seinem Zuhörer) den
Rat, vorsichtig mit seiner Partnerin umzugehen: Be careful / Try not to lead her on
/ Shorty5 heart is on steroids / ‘Cause her
love is so strong. Ihre Lust ist so stark, dass
sein Herz das fast nicht mitmacht. Wer sich
mit ihr einlässt, sollte sich nicht einbilden,
er könne ihr seine Gefühle nur vorspielen:
You may fall in love when you meet her /
If you get the chance, you better keep her /
She’s sweet as pie, but if you break her heart
/ She’ll turn cold as a freezer.
Auch Katy Perry kann blaue Blitze schmettern. In ihren verschiedenen Verkleidungen
und Posen sind Göttlichkeit und Menschlichkeit vermischt. Auf ihrer Barke und
auf dem Thron ist sie von Dienerinnen
umgeben, die hautenge goldene Kleider
und Katzen-Masken tragen. Die männlichen Körper sind ebenfalls sexualisiert.
Die nackten Oberkörper der männlichen
Sklaven sind mit blauer oder roter Farbe
bemalt. Der adlerköpfige Gott im Götterrelief hat einen ausgeprägten Sixpack.
Die Könige ihrerseits sind mit goldenem
Prunk ausgestattet. Sie wirken gegenüber
der Königin unterwürfig und ergeben. Ihre
Körper werden spielerisch zu rotem Staub
und in verschiedene Gegenstände verwandelt. Zum Schluss besteigt Katy Perry eine
goldene Pyramide, die sich unter stürmisch
wirbelnden blau-pinken Wolken zum
Himmel erhebt, während der letzte König
als hechelndes Schosshündchen zurückbleibt.
In dieser hoffnungslosen Lage kann mann
eigentlich nur noch zur Gewalt greifen:
That fairy tale ending with a knight in
shining armor / She can be my Sleeping
Beauty / I’m gon’ put her in a coma. Die
Frau in ein Koma zu versetzen, erscheint
Juicy J als die einzige Möglichkeit, in dieser
verhängnisvollen Machtkonstellation wieder die Oberhand zu gewinnen. Aber er
ist ihr doch schon zu sehr verfallen: Now I
think I love her / Shorty so bad, sprung and
I don’t care / She ride me like a roller coaster
Die Objektifizierung der Männerkörper
täuscht zwar visuell eine Umkehrung der
patriarchalen Geschlechterverhältnisse vor.
Tatsächlich geschieht die Umkehrung der
Machtbeziehungen jedoch nicht: In Song
und Clip wird eine auf den männlichen
Zuschauer zugeschnittene Phantasie illustriert. Der einzige Körper, der im Videoclip
nackt gezeigt wird, ist der von Katy Perry.
40
/ Turned the bedroom into a fair / Her love
is like a drug / I was tryna hit it and quit it
/ But lil’ mama so dope / I messed around
and got addicted. Der Song endet mit dem
Chorus – der Mann bleibt gefangen – there’s
no going back.
Subjekten zu einem Geschehen zwischen
einem Subjekt und einem Objekt bei. In
dieser Konstellation kann keine Gegenseitigkeit mehr stattfinden: Das (weibliche)
Subjekt wird zum passiven Gegenstand
der (Liebes-)Handlungen des (männlichen)
Subjekts.
Diese strukturelle Verschiebung wird
besonders im Songtext von Dark Horse,
aber auch im Videoclip an verschiedenen
Stellen sichtbar. Obwohl die strukturellen Voraussetzungen scheinbar umgekehrt
werden, indem die Verführerin Katy Perry
die zentrale Figur des Songs spielt, dreht
sich tatsächlich alles um you – den männlichen Gesangspartner und den impliziten
männlichen und heterosexuellen Zuhörer.
In Song und Clip spielt Katy Perry also eine
Rolle in einer Männerphantasie, in der sie
sich selber zum Objekt macht: Juicy J vergleicht seine Sehnsucht nach Katy Perry
damit, einem kannibalischen Mörder zum
Opfer zu fallen. Um sich aus dieser für
ihn offenbar viel zu intensiven Beziehung
zu befreien, erwägt er, sie wie Sleeping
Beauty (Dornröschen) in ein Koma zu versetzen, um als knight in shining armor der
Geschichte zu entkommen. Diese Stelle ist
besonders brisant, weil sie auf die weltweite Problematik des Femizids verweist. Das
Narrativ des Mannes, dem aus einer Liebesbeziehung, als deren Opfer er sich sieht,
nur der Ausweg der Ermordung der Frau
bleibt, ist als Legitimierung für Gewalt an
Frauen stark verbreitet. Dass dieses Narrativ auch den Mann klischiert, zeigt, dass
die Subjekt-Objekt-Verschiebung auch für
das ‹Subjekt› der Beziehung negative Konsequenzen hat.
Dialektik des Liebesspiels
Songtext und Videoclip zelebrieren in einer
gigantischen Metapher das spannungsvolle
Spiel der Verführung. Dies macht den Song
zu einem Ohrwurm und den Clip zu einem
opulenten visuellen Erlebnis. Umwerben
und Umworben-werden, Begehren und
Begierde, Verführen und Verschlungenwerden – all dies wird im Clip in Bildern
ausgemalt, ohne dass direkte sexuelle
Handlungen zu sehen sind. Stattdessen
wird Katy Perry von den Männern mit
auserlesenen Geschenken umworben. Mit
diesen dürfen sie sich ihr nähern, setzen
sich dabei jedoch ihrer Launenhaftigkeit
aus, die sofort umschlägt, wenn sie erhalten hat, was sie wollte. Wenn beim Mann
nichts mehr zu holen ist, wird er kurzerhand selber in ein Accessoire verwandelt.
So ist alles, was von ihm übrigbleibt, ein
Spielzeug für Katy Perry – und ein Häufchen roter Sand.
Die Metaphorik der Verführung als Austausch von Geschenken hat von alters her
Dichter_innen inspiriert. Ihre exzessive
Verwendung hat nicht nur in der Popkultur zum Klischee der Frau geführt, deren
Zuwendung nur durch teure Geschenke zu
erwerben ist und auch auf diese beschränkt
bleibt. Dieses Klischee ist seit langem gesellschaftlich akzeptiert und wird z.B. in der
Werbung der Schmuck- und Parfümindustrie weiter tradiert. Die exzessive Verwendung der Metapher hat jedoch noch eine
weitere schwerwiegendere Konsequenz: Sie
trägt zur Verwandlung des Liebesgeschehens als einem Geschehen zwischen zwei
Juicy J ringt in seiner Rap-Einlage mit
Katy Perrys Leidenschaft, richtet seine Ratschläge jedoch stillschweigend auch an den
männlichen Hetero-Zuhörer. Damit impliziert er, dass auch dieser solch eine Affäre
mit Katy Perry erleben könnte. Mit dem Rat
Try not to lead her on – ‹versuche, ihr keine
41
RosaRot Nr. 47
RosaRot Nr. 47
falschen Gefühle vorzuspielen› – vermittelt
er der Zuhörer_innenschaft, dass heterosexuelle Männer grundsätzlich mit Frauen
nur ins Bett wollen, und ihnen zu diesem
Zweck Gefühle nur vorspielen. Mit diesem
Rollenbild wird das Handlungsspektrum
von Männern im Umgang mit ihren Emotionen dramatisch eingeschränkt.
religiöser Strang weit besser bekannt ist. Als
Beispiel sei hier nur die Strategie vieler christlicher Konfessionen erwähnt, unter Berufung
auf biblische Stellen Frauen von kirchlichen
Leitungsfunktionen fern zu halten.
Die übermässige Verwendung von Geschlechterstereotypen in der gesellschaftlichen Kommunikation hat direkte Konsequenzen für das
Selbstverständnis von Frauen und Männern
heute. Die ärgerliche Frage bleibt, warum viele
Sängerinnen und Schauspielerinnen sich auf
solche Darstellungen ihres Geschlechts einlassen – ja, sie sogar mitproduzieren. Ich sehne
mich nach einem Mainstream-Pop, der das
Spiel der Verführung auch ohne diese Stereotypen erlebbar machen kann. So schwierig wäre
das nicht: Wie wär’s zum Beispiel, wenn sich
im Videoclip nicht nur Männer, sondern auch
Frauen in Katy Perry verlieben würden? Oder
wenn Juicy J seine Verzweiflung nicht in Morddrohungen ausdrücken müsste? ◆
Das Spiel der Stereotypen
Flirt, Verführung, Sex und Liebe geschehen
nicht in einem Machtvakuum – gerade das
macht sie reizvoll, im echten Leben ebenso
wie in Geschichten, Filmen und Liedern.
Song und Clip von Dark Horse positionieren sich jedoch in einem popkulturellen
Mainstream, der Liebe und Sex plakativ auf
ein heteronormatives Geschehen reduziert
und Geschlechterstereotypen tradiert, die
von Feministinnen seit langem denunziert
werden. Durch das Setting des Videoclips
im Alten Ägypten werden diese Rollenbilder zusätzlich zementiert. Nicht nur wird
ein längst obsoletes Bild des ‹geheimnisvollen Alten Ägyptens› abgerufen. Durch die
Projektion in eine vergangene oder zukünftige Kultur erhalten bestehende Geschlechterstereotypen zusätzliches, mythisches
Gewicht. Die reaktionäre und stereotype
Darstellung von Frauen ist in vielen Bibel-,
Heroen- und Science-Fiction-Filmen symptomatisch. Damit situieren sich diese Filme
stillschweigend in einen Diskurs, dessen
Anmerkungen
Prism, Katy Perrys drittes Studio-Album, wurde am 22. Oktober 2013 veröffentlicht. Eine glänzende Quelle für
feministische Medienkritik ist Anita Sarkeezian's Youtube-Kanal feminist frequency.
Diese Tropen sind grundsätzlich heterosexuell ausgerichtet, da sie innerhalb der patriarchalen Dialektik Frau–
Objekt / Mann–Subjekt konstruiert sind.
2
Ein dark horse ist ein unbekanntes Pferd, das bei Pferderennen die Berechnungen der Wettenden zunichte
macht.
3
Die Redewendung perfect storm bezeichnet einen apokalyptischen Zerfall des Kosmos, der durch das Zusammenfallen verschiedener Komponenten ausgelöst wird.
4
Jeffrey Dahmer war ein amerikanischer Serienmörder, der 1978–91 siebzehn Männer und Jungen vergewaltigt,
ermordet und verstümmelt hat. Zu seinen Verbrechen gehörten auch Nekrophilie und Kannibalismus. Juicy J
spielt mit der Redewendung she eats my heart out, was ‹sich nach jd. verzehren› bedeutet: ‹Sie isst mein Herz
wie Jeffrey Dahmer›.
5
Shorty ist ein Slang-Begriff für einen ‹Grünschnabel›. Damit bezeichnet Juicy J sich selbst.
1
42
«Das Spiel aller Frauen»
Die Protagonistin Iris Vegan verliert sich in Siri
Hustvedts Roman Die unsichtbare Frau fast bis zur
Auflösung in Männerblicken. Eine Reflexion über
die weibliche Subjektposition.
von ANS
tion, weibliche Begehrensstrukturen, über
«weibliche Neugierde und männlichen Fetischismus»2, über die Nicht–Repräsentierbarkeit des Weiblichen in einer männlich
dominierten Sprache und Kultur, über das
Leiden an der unausweichlichen Unterwerfung unter diese Ordnung. Diesen Themen
möchte ich in diesem Essay nachgehen.
Ich habe lange keine Romane mehr gelesen.
Das Studium hat sie mir ausgetrieben. Ich
las die grossen Philosophen, politische und
ästhetische Schriften. Ab und zu Gedichte.
Aber kaum Romane, und schon gar keine
‹Frauenliteratur›. Dann habe ich Siri Hustvedt entdeckt, von der ich lediglich wusste,
dass sie die Frau von Paul Auster ist, ebenfalls schreibt und dass ihre Bücher (zumindest die deutschen Ausgaben) mit klischeeversprechenden Buchdeckeln und -titeln
versehen sind. Eine Freundin, auf deren
Geschmack und Intellekt ich mich verlasse, lieh mir What I loved von Siri Hustvedt.
Ich las das Buch in zwei Nächten. Danach
wollte ich mehr und fand ein unscheinbares Bändchen mit dem Titel Die unsichtbare Frau. So kam es, dass ich mich mit
Iris Vegan, der Heldin aus Siri Hustvedts
Romandebut, identifizierte. Ich liess es
geschehen. Ich liess mich – um mit Iris’
Worten zu sprechen – von diesen «Fiktionen infizier[en]»1. Es ist diese Nähe, dieses
Wiedererkennen von Eigenem in dieser
Geschichte, die mich veranlasst zu fragen,
ob Iris’ Geschichte nicht auch eine grössere, allgemeinere Erzählung beinhaltet; eine
Erzählung über die weibliche Subjektposi-
Weibliche Neugierde und
männlicher Fetischismus
Im ersten Teil des Romans lässt sich Iris
Vegan, Doktorandin in Literatur, aus
Geldnöten für ein etwas seltsames, morbides Projekt eines gewissen Mr. Morning
einspannen. Iris soll die Gegenstände, die
dieser in Schachteln aufbewahrt, detailliert beschreiben und auf Tonband sprechen – für sechzig Dollar pro Schachtel
und Gegenstand. Die Gegenstände (ein
Handschuh, ein Wattebäuschchen u.ä.)
gehörten einer jungen Frau, die bis zu
ihrem Tod in demselben Haus wie Mr.
Morning wohnte. Er ist überzeugt davon,
dass sie den ‹Abdruck› dieser Frau tragen,
43
RosaRot Nr. 47
RosaRot Nr. 47
«den Abdruck eines warmen lebendigen
Körpers auf die Welt.» Um die Lebendigkeit dieser Dinge zu erhalten, steckt er
sie in Schachteln. Iris soll ihm nun dabei
helfen, «die Fragmente einer unbegreiflichen Existenz zusammenzufügen», indem
sie die Gegenstände mit einer flüsternden,
jeglicher Individualität beraubten Stimme
beschreibt, damit sie sich in ihrer «Reinheit» und «Nacktheit» entfalten können.
Iris ist zugleich fasziniert und abgestossen
von diesem Projekt. Aus Neugierde beginnt
sie zu recherchieren, wer diese junge Frau
war, und findet dabei heraus, dass diese
ermordet und Mr. Morning des Mordes
verdächtigt wurde. Als sie Mr. Morning
damit konfrontiert, antwortet dieser: «Ich
glaube, Sie haben das Wesen Ihrer Aufgabe
nicht ganz verstanden. Ich habe Sie gerade
deswegen engagiert, weil Sie nichts wissen.
Ich habe Sie engagiert, damit Sie sehen,
was ich nicht sehen kann, weil Sie sind, wer
Sie sind.» Iris, Neugierde und ihr Interesse
haben in diesem Projekt keinen Platz. Sie
ist Platzhalterin für das Phantasma eines
Mannes, der glaubt, das Wesen einer Frau
zu ergründen, indem er es auf Gegenstände reduziert und eben darin verfehlt und zu
sehen verweigert.3
einen Radiergummi von sich und einen falschen Namen zurück.
Begehren und
Begehrtwerden
Iris scheint Männer, die sie für ihre Zwecke
einspannen, geradezu anzuziehen. Der
zweite Teil des Romans erzählt von der
Dreierbeziehung zwischen Iris, ihrem
Freund Stephen und dem Fotokünstler
George. Iris’ Liebesbeziehung zu Stephen
ist keine auf Augenhöhe. Stephen bezeichnet sie als «offenes Buch» während er sich
selbst verschliesst und ihr «zu glatt[e], zu
vollständig[e]» Geschichten erzählt, die sie
immer wieder nach den «Löchern» fragen
lässt. Ihre Gespräche erschöpfen sich für
Iris in «Zeile[n] aus Groschenromanen»
und «vorgefertigte[n] Antwort[en]». Sie
fühlt sich verwundbar und beeinflussbar:
«Ihn reizte die Vorstellung, er könne mein
Begehren manipulieren. Jedenfalls befürchtete ich das. Was mich anwiderte, war, dass
ich an dieser undurchsichtigen Beziehung
beteiligt war. Ich hatte sie gesucht, und
meine Motive waren konfus.»
Gemäss Lacans Freud-Lektüre verleugnet
der Fetischist den Mangel des Phallus der
Frau, indem er einen symbolischen Ersatz
für den fehlenden Phallus findet.4 Damit
verleugnet er nicht nur die Andersheit der
Frau, sondern auch seinen eigenen Mangel,
mit dem sie ihn in ihrer Andersheit konfrontiert. Denn mit dem Penis ‹besitzt›
der Mann den Phallus, der ihn vollständig machen würde, nur vermeintlich – im
Imaginären. Indem Iris’ Neugierde auf den
«nekrophilen Fetischismus»5 eines Mannes
trifft, bedient sie dieses Phantasma (und
ihr eigenes) und schreckt zugleich davor
zurück. Am Ende des ersten Teils wirft Iris
die Gegenstände der toten Frau mitsamt
dem Lohnscheck von Mr. Morning weg
und lässt ihm – auf seine Bitte hin – nur
Iris erkennt also, dass sie das Manipuliertwerden durch andere (Männer) sucht
und geniesst, auch wenn sie darunter
leidet. Beschimpft und «klein gemacht zu
werden», gibt ihr das Gefühl, geliebt zu
werden.6 Iris geniesst es, begehrt zu werden
und macht sich dazu immer wieder zum
Objekt des Begehrens eines anderen – zu
dem, was dem anderen fehlt und in ihr zu
finden glaubt. So bemerkt sie einmal luzide:
«Sie [die Jungen] suchten alle nach einem
Objekt, und einige von ihnen dachten, ich
wäre es. [...] [Sie] bettelten um irgendein
geheimnisvolles Geschenk, von dem sie
glaubten, ich könnte es ihnen geben. Aber
ich hatte es nicht – das, was sie wollten.»
44
Der zerstückelte Körper
keinen Moment lang zweifelte ich, dass es
real war. Das Loch wuchs, verzehrte das
linke Auge und die Nase, und dann kam die
Furcht, kalt und absolut, ein so tiefes Entsetzen, dass es eine Art Lähmung bewirkte.
Ich war starr. [...] ich beobachtete, wie das
Loch den Rand des Bildes verschluckte. Ich
hatte Angst um meine Finger, dachte aber
nicht daran, das Foto fallen zu lassen. Es
war mit meinen Händen verbunden, war
Teil meiner Gliedmassen, und dann war
ich blind.»
Dass dieses Objekt-Werden fatale Folgen
haben kann, zeigt Iris’ Begegnung mit dem
Fotokünstler George, von dem sie vermutet,
dass er eine heimliche sexuelle Beziehung
mit ihrem Freund Stephen lebt. Aus Neugierde und von der erotischen Ausstrahlung
Georges angezogen, lässt sich Iris auf ein
Fotoshooting mit ihm ein. Dabei entdeckt
sie die Lust «angesehen zu werden» und
gerät in einen ekstatischen, tranceartigen
Zustand, indem sie sich voll und ganz dem
Blick des Fotografen hingibt. Das einzige
Foto, bei dem es sich – gemäss George –
wirklich um Kunst handelt, ist eine Aufnahme, die Iris’ Körper nur fragmentarisch
zeigt: «Die Aufnahme zeigte nicht meinen
ganzen Körper. Ich war unter den Brüsten
abgeschnitten, und meine ausgestreckten
Arme waren am Ellbogen abgetrennt. Fotos
werden auf alle möglichen Arten gestutzt,
und die Ergebnisse sind selten verstörend.
Der Betrachter ergänzt die fehlenden Teile.
Aber dieses Bild war anders. [...] ich hatte,
den furchtbaren Eindruck, dass die Teile
von mir, die nicht im Bild waren, wirklich
fehlten.»
Das Bild entwickelt aber auch ein Eigenleben in dem Sinne, dass es ohne Iris’
Zustimmung und angeblich ohne Georges
Wissen in Umlauf gerät. Plötzlich wird
Iris von fremden Männern auf das Bild
angesprochen. Iris entwickelt die Idee, sie
sei zum «Tauschobjekt»9 geworden, und
Stephen sei von Anfang an in Georges Plan
eingeweiht gewesen.10 Als sie George damit
konfrontiert, weicht ihr dieser aus. Er hält
es für sich als Künstler für legitim, Iris’
Bild neben demjenigen einer Epileptikerin, deren Anfall er zufällig auf der Strasse
fotografierte, in einer Galerie auszustellen. Damit fügt er sich ein in die Reihe der
männlichen Voyeuristen und Fetischisten
in Iris’ Leben.11 Iris’ Körper hat er durch
seine Fotografie zerstückelt: Rumpf, Hände,
Beine, Unterleib sind abgeschnitten, was
wie schon bei Mr. Morning als Verweigerung betrachtet werden kann, die Frau in
ihrer Andersheit zu sehen.12 Iris wird als
(Partial-)Objekt gesehen und gebraucht,
nicht als Subjekt – was auch erklärt, weshalb
sich Iris selbst auf dem Bild nicht erkennt.
Iris fühlt sich von George nicht nur
«beraubt», sie erkennt sich auf der Fotografie selbst nicht wieder, während andere
sie auf der Fotografie als Iris erkennen.
Dies stürzt sie in eine fundamentale Krise
der Grenzenthebung zwischen Bild und
Körper, Fiktion und Realität. Wie Elisabeth
Bronfen in ihrem Essay zu Siri Hustvedt,
Paul Auster und Sophie Calle überzeugend
zeigt, beginnt Iris «[...] ganz im Sinne der
klassischen Hysterikerin [...] jene unsaubere
Schnittstelle zwischen Fiktion und Realität,
die das Foto für sie markiert, am eigenen
Leib nachzuempfinden.»8 Iris entwickelt
eine Reihe von Symptomen und Halluzinationen. Das Foto erhält für Iris ein Eigenleben: «Das Bild veränderte sich. [...] [ich
bemerkte] ein kleines schwarzes Loch im
Gesicht. [...] Es war vorher nicht da. Aber
‹Diskurs des Hysterikers›
Iris’ Migräneattacken und Halluzinationen führen schliesslich zur Hospitalisierung, wo sie sich in die Hände des «Kopfschmerz-Zar[en]» Dr. Fish, eines hoch
angesehenen Spezialisten für neurologische
Leiden, begibt.13 Von diesem verspricht sie
45
RosaRot Nr. 47
RosaRot Nr. 47
gesellschaftlichen Ordnung zu konfrontieren und andererseits besonders gefährdet
ist, ein psychosomatisches Leiden zu entwickeln.18
sich nach dem erfolglosen Aufsuchen einer
Reihe anderer Ärzte endlich Hilfe, konfrontiert ihn jedoch gleichzeitig mit seiner
Unzulänglichkeit und Unmöglichkeit,
die Ursache ihres körperlichen Leidens zu
erklären.
Bin ich ein Mann oder
bin ich eine Frau?
Wie schon im Zusammenhang mit dem
Fetischisten Mr. Morning, dem voyeuristischen Fotografen George und mit Stephen,
an dessen Begehren sich Iris ausrichtet, zeigt sich auch hier Iris’ ambivalente
Haltung: Einerseits bedient sie das Begehren von Dr. Fish, indem sie ihn an den Platz
des Wissenden setzt und sich als (Untersuchungs)Objekt zur Verfügung stellt.14
Andererseits fordert sie ihn heraus und
konfrontiert ihn mit seinem Mangel, für
den Iris’ rätselhafte Symptome und Halluzinationen als Beweis fungieren: «Dr. Fish
war ein Mann, der Erfolge liebte. Er liebte
sie so sehr, dass er mir, bevor ich im Krankenhaus landete, sagte, es ging mir besser,
wenn es mir schlechter ging, und jetzt,
wo es mir offensichtlich nicht besser ging,
mied er mich. Ich war das Symbol seines
Versagens geworden, ein widerspenstiger
Körper, eine Verhöhnung seiner medizinischen Überlegenheit.»
Auch im vierten Teil gerät Iris an eine
Reihe von (wissenden?) Männern. So etwa
an Prof. Michael Rose, für den sie als Assistentin zu arbeiten beginnt. Die Arbeiten
lassen sie ebenso kalt wie ihre früheren
Recherchen für den Medizinhistoriker Dr.
Rosenberg – bis sie damit beauftragt wird,
die Geschichte Der brutale Junge zu übersetzen. «Etwas an der Geschichte, etwas
in ihr war wahnsinnig aufregend, und
es hat auf uns übergegriffen», wird Iris
später zu ihrem Liebhaber Michael Rose
sagen. Während der Übersetzungsarbeiten
beginnt Iris, sich mit dem Jungen Klaus
Krüger aus der Geschichte zu identifizieren. So sehr, dass sie nachts zu Klaus wird
und als Mann durch das nächtliche New
York zieht – ebenso wie Klaus getrieben
von «perverse[n] Impulse[n]», etwas «Irrationales zu tun».
Diese Konstellation erinnert an Lacans
‹Diskurs des Hysterikers›, in dem sich ein
Subjekt an einen ‹Herren› wendet, dem
es ein Wissen unterstellt und von dem
es etwas wissen will, während es diesen
‹Herren› jedoch gleichzeitig mit seiner
Unzulänglichkeit konfrontiert.15 Iris’ Symptome können also in diesem Zusammenhang nicht nur als Ausdruck eines inneren
Konflikts zweier widerstreitender Begehren
verstanden werden.16 Sie weisen auch auf
die Löchrigkeit des ‹Symbolischen›17 hin,
von dem das System der empirischen Wissenschaft und der medizinischen Sprache
Teil ist, und das hier von Dr. Fish verkörpert wird. Zu fragen bleibt, inwiefern Iris
als Frau einerseits dazu prädestiniert ist,
andere mit dieser Löchrigkeit unserer
Wie schon bei Iris’ körperlicher Reaktion
auf das Foto scheinen sich für Iris auch hier
die Grenzen zwischen Fiktion und Realität
zu verwischen. «Du weißt genausogut wie
ich, dass man keine Grenzen ziehen kann,
dass wir ständig von allen möglichen Fiktionen infiziert werden, dass es unvermeidlich ist», sagt Iris später zu Michael Rose.
Sie magert ab, schneidet sich die Haare kurz
und zieht die Kleider eines fremden Mannes
an. «Ich war dieser Junge. Woher er kam,
wusste ich nicht. Klaus war vor langer Zeit
an einem unterirdischen Ort, den ich nicht
erreichen konnte, konstruiert worden.»
Nach Freud ist es unmöglich geworden, in
Iris’ Ausdruck des «unterirdischen Orts»
nicht eine Metapher für das Unbewusste zu
46
Mit dieser Entdeckung ihrer Weiblichkeit ändert sich auch Iris’ Beziehung zu
Männern. Ein letztes Mal lässt sich Iris
auf eine dieser Grenzerfahrungen ein, die
sie stets gesucht und gefürchtet, genossen
und erlitten hat. Auf dem Weg zu ihrer
Wohnung lässt sich Iris von Michael Rose
die Augen mit einem Tuch verbinden, das
er ihr geschenkt hat. «Wie ein Kind hatte
ich das Gefühl, dass meine Blindheit mich
verschwinden oder die Grenzen meines
Körpers verschwimmen liess.» Dieses
zunächst harmlose Kinderspiel, das dem
Roman im Original auch seinen Namen
gibt (The Blindfold) kann als Metapher verstanden werden für Iris’ Phantasie, sich dem
männlichen Blick als Objekt des Begehrens
komplett auszuliefern und dadurch als
Subjekt, als Zurückblickende und Erwidernde zu verschwinden.
vermuten. Mit dem luziden Satz drückt Iris
aus, dass sie etwas Männliches in sich trägt,
für das Klaus nur Repräsentant ist und dem
sie in ihren nächtlichen Verwandlungen
Ausdruck verschafft und nachforscht.
Nach Lacan kennt das Unbewusste kein
Geschlecht.19 Das Subjekt nimmt lediglich
auf der Ebene der symbolischen Ordnung
die Position ‹Mann› oder ‹Frau› ein.20 Und
selbst diese Positionierung ist eine unsichere Angelegenheit. Da es keinen Signifikanten der Geschlechterdifferenz gibt,
der es erlauben würde, ‹Mann› oder ‹Frau›
vollständig zu symbolisieren, sieht sich das
Subjekt dazu gezwungen, sein Geschlecht
immer wieder aufs Neue zu befragen.21
Die Frage, die Iris umtreibt und auf die
sie sich von ihren nächtlichen Streifzügen
als Klaus Krüger eine Antwort erhofft, ist
die Frage der Hysterikerin: «Bin ich ein
Mann oder eine Frau?» und genauer: «Was
ist das, eine Frau zu sein?»22 Eine wirkliche
Antwort auf diese (unbewussten) Fragen
findet Iris konsequenterweise weder im fiktiven Klaus Krüger noch beim Kunstkritiker Paris (der mit seinen Anspielungen vermutlich wesentlich zu Iris’ Verwandlung in
Klaus beigetragen hat). Und auch nicht bei
ihrem Liebhaber Prof. Michael Rose, der sie
dazu bringt, ihre nächtlichen Streifzüge als
Klaus aufzugeben. Dennoch scheint sich
im Laufe des Buches Iris’ Haltung zu sich
selbst und ihre Beziehung zu Männern zu
ändern.
Was als erotisch verspielte Geste beginnt,
endet für Iris mit der erschreckenden
Begegnung mit einem komplett Anderen.
Michael Rose drängt sie gegen ihren
Willen zum Geschlechtsakt, schlägt und
beschimpft sie als «Hexe». Iris erkennt eine
unüberbrückbare Kluft zwischen sich und
diesem Mann, und die beiden trennen sich.
Am Ende des Buches macht der exzentrische Kunstkritiker Paris Iris ein eindeutiges Angebot: «Bist Du nicht neugierig?»
Iris schlägt das Angebot aus und als Paris
seinerseits physischen Druck auf sie ausübt,
rennt sie davon «[...] als wäre der Teufel
hinter [ihr] her.» Wohin sie rennt, wissen
wir nicht. Vielleicht ist sie dabei, Frau zu
werden – in dem Sinne, dass sie ihre Weiblichkeit, ihre Andersheit anderen, aber auch
sich selbst gegenüber, erkennt und als Möglichkeitsraum annimmt.
Das Spiel aller Frauen
Iris wird es möglich, die Lust an ihrer
‹Weiblichkeit› zu entdecken, die sie als
«Spiel aller Frauen» erkennt, in dem sie sich
verlieren kann. Weiblichkeit als lustvolles
Spiel zu erleben scheint mir eine komplett
andere Erfahrung zu sein, als sich dem
Begehren eines anderen zu unterwerfen
und zu seinem Objekt zu werden.
Zum Schluss am Rande: Siri Hustvedt, die
ihrer Heldin den Namen Iris – ein Anagramm von Siri – gegeben hat, hat Die
unsichtbare Frau übrigens ihrem Mann,
Paul Auster, gewidmet. Eine unerhörte Botschaft? ◆
47
RosaRot Nr. 47
RosaRot Nr. 47
Die Schöne und das Biest
Oder: Frau werden ist ein psychischer Prozess,
der Zeit braucht
Anmerkungen
1
Wenn nicht anders angegeben, stammen alle Zitate aus: Hustvedt, Siri: Die unsichtbare Frau. Deutsch von Uli
Aumüller. 11. Auflage. Rohwolt Taschenbuch Verlag. Reinbek bei Hamburg 2012.
2
Bronfen, Elisabeth: Männlicher Wissensdurst, weibliche Neugierde: Überkreuzte double games von Siri Hustvedt, Paul Auster und Sophie Calle. In: Crossmappings. Essays zur visuellen Kultur. Scheidegger & Spiess. Zürich
2009, S. 173.
3
Siehe dazu auch: ebd. S. 167.
4
Evans, Dylan: Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse. Turia und Kant. Wien 2002, S. 100.
5
Bronfen 2009, S. 167.
6
Iris: «Seine Gegenwart liess mich schrumpfen, und obwohl ich mich darüber ärgerte, freute ich mich auch
auf dieses Gefühl, kleingemacht zu werden [...] Ich kann unmöglich sagen, warum diese Beschimpfung mir das
Gefühl gab, geliebt zu werden, aber es war so.»
7
Siehe dazu auch: Bronfen 2009, S. 168.
8
Ebd.
9
Ebd.
10
Iris’ Vorstellung, ein Tauschobjekt zu sein, erinnert auch an Lacans frühe Schriften, in denen er in Anlehnung an Lévi-Strauss die Schwierigkeit der weiblichen Subjektposition darin sieht, dass sie in die Position eines
Tauschobjektes gedrängt wird und dazu (als Tauschobjekt, als Signifikant, der zwischen verschiedenen Familienverbänden zirkuliert) «zur symbolischen Ordnung eine Beziehung zweiten Grades hat» (zitiert nach Evans 2002,
S. 103).
11
Siehe dazu auch: Bronfen 2009, S. 168.
12
Ebd.
13
Interessanterweise bringt Iris ihre Symptome selbst mit ihrer Lektüre über eine Adelige aus dem 18. Jahrhundert in Verbindung, die über zwanzig Jahre an Kopfschmerzen gelitten haben soll. Auch dies ist ein Beispiel für
die ausgeprägte Wechselwirkung zwischen Fiktion und Realität in Iris’ Erleben. Interessant wäre es, der Frage
nachzugehen, inwiefern es sich bei (psychosomatischen) Symptomen immer auch um eine Form der Kulturleistung handelt.
14
Iris: «Dr. Fish war zuversichtlich, und ich glaubte ihm halbwegs. In Wahrheit beteiligte ich mich an dem Betrug.»
15
‹Der Diskurs des Hysterikers› ist einer von vier Diskursen, die Lacan entwickelt hat, um verschiedene soziale
Bindungen oder intersubjektive Beziehungen zu charakterisieren (siehe dazu Evans 2002, S. 78–81). Der ‹Diskurs
des Hysterikers› muss jedoch von der Hysterie als neurotische Struktur unterschieden werden (ebd. S. 137).
16
Evans 2012, S. 302.
17
Das ‹Symbolische› bezeichnet eines der drei Register (Symbolisches, Imaginäres und Reales) in Lacans Denken.
Die ‹symbolische Ordnung› kann hier, sehr stark vereinfacht, als Bereich der Kultur mit ihren Gesetzen und ihrer
Sprache verstanden werden. Siehe dazu auch: Evans 2002, S. 298–301.
18
Den Hinweis darauf, dass die notwendige Unterwerfung des Subjekts unter eine männliche, phallozentrische
Sprache und Kultur für die weibliche Subjektposition mit einem «Selbstkannibalismus» (Tove Soiland) einhergeht
und damit Aufschluss über die grosse Verbreitung psychosomatischer Leiden bei Frauen geben könnte, verdanke
ich Tove Soiland.
19
Siehe dazu: Evans 2002, S. 117–122.
20
Ebd.
21
Ebd.
22
Ebd. S. 137.
48
Ausgehend von der mittelalterlichen Erzählung Der
Rosendorn wird das Verhältnis von Sexualität und Ästhetik
psychoanalytisch betrachtet. Dabei wird aufgezeigt,
wie wir Prozesse der Aneignung und Integration von
Geschlecht zur Bildung der eigenen Geschlechtsidentität
alternativ zu populären Gendertheorien begreifen können.
von MG
wissen, und nachdem das kleine zottelige
Ding noch einmal frech seinen Anteil an
Ehre und Anerkennung fordert, wird es
von der Herrin zum Teufel gejagt: «Geh
weg, du verfluchtes schwarzes Ungeheuer, stachelig wie ein Meermonster. Du pist
gruilich geschaffen.»
Als ich vor über 20 Jahren auf der Suche
nach einem Thema für meine Dissertation
war, stiess ich in einer spätmittelalterlichen Märensammlung auf eine Geschichte, die mich seltsam berührte: Der Rosendorn erzählt die Geschichte einer jungen
Frau, deren Genitale eines Tages zu sprechen beginnt. Es beklagt sich bitterlich
darüber, dass es vernachlässigt werde: Von
all den Zuwendungen, in deren Genuss
ihre Herrin komme, werde ihm gar nichts
zuteil – und dies, obwohl man sie, die junge
Dame, überall nur seinetwegen begehre.
Die Schöne blickt verwundert an sich hinab
und erschrickt zutiefst über das, was sie
dort am eigenen Leib entdeckt: Nein, das
konnte unmöglich sein, dass so ein hässliches, schwarzes, haariges Ding der Grund
für die Verehrung der Männer war – «viel
eher müsste ich mich schämen, würde man
dich sehen.» Die Fut versucht sich treuherzig zu verteidigen, lobt die makellos hellrosa schimmernde Haut ihrer Herrin, meint
aber, dass der braune Pelz ihr auch nicht
schlecht stehe: «Denn jedes Ding soll man
nach der Farbe loben, die zu ihm passt.»
Davon will die Schöne aber gar nichts
Unter Tränen trennt sich die Fut von ihrer
Herrin und versucht ihr Glück bei den
Männern alleine. Doch es wird ihr schlecht
gelohnt: Wo immer man sie erblickt, hält
man sie für eine Kröte und tritt sie mit
Füssen. Der Herrin aber ergeht es nicht viel
besser: Kaum hatte sich herumgesprochen,
dass ihr das Ding zwischen den Beinen
fehlt, wurde sie als die Fudlose verlacht.
Man begann, den Blick von ihr abzuwenden und tat, als ob man sie gar nicht mehr
sähe. Beide sind zutiefst unglücklich und
wünschen sich nichts sehnlicher, als einander wieder zu finden. Als sie sich tatsächlich
nach einem Jahr just an der Stelle, an der sie
sich getrennt hatten, wieder begegnen, sind
sie überglücklich und beschliessen, einander nie mehr zu verlassen.
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RosaRot Nr. 47
RosaRot Nr. 47
Literarische Gestaltung
einer genuin weiblichen
Erfahrung –
oder doch bloss eine
Männerphantasie?
Also raut ich ainem ietlichen man, / der ie
liebes weib gewan, / das er seinem weib /
nagle die fud zu dem leib, / das ir die fud icht
entrinn, / oder er ist versaumpt seiner minn.
Dieser erzählerische Rahmen erlaubt es, die
Geschichte vom Rosendorn als eine Männerphantasie zu lesen, als eine Geschichte von und für Männer geschrieben, die
– so meine damalige Interpretation – das
Ambivalente und Konflikthafte, das mit
Geschlecht und Sexualität verbunden ist,
an die Frau delegiert und es dort abhandelt
und bannt. Damit, so meine Kritik, wird ein
Bild der Frau konstruiert, das sich denkbar
schlecht dazu eignet, Anerkennung und
Integration von Geschlecht und Sexualität
auf der Seite der Frau zu fördern.
Nun lassen sich Geschichten bekanntlich
auf ganz verschiedene Arten und Weisen
lesen. Als ich mich damals entschloss, den
Rosendorn zum Ausgangspunkt einer kulturwissenschaftlichen Studie zur Repräsentation des weiblichen Genitales zu machen,
standen für mich ganz klar kulturkritische
Interessen im Vordergrund. Es ging mir um
die Kritik an einer Kultur, welche die Darstellung des weiblichen Genitales entweder
vollständig tabuisierte oder aber diese nur
zuliess, wenn es sich um Bilder monströser
Hässlichkeit handelte.
Dann machte ich aber eine interessante Erfahrung. Wenn ich die Geschichte
erzählte, fiel der Erzählrahmen logischerweise weg. Dann war eben ich die Erzählerin, und die Erzählung bekam eine ganz
neue Bedeutung, entfaltete eine ganz andere
Wirkung: Der Rosendorn entpuppte sich
als eine Erzählung, die meine ZuhörerInnen ganz offensichtlich berührte, sie in
Kontakt mit eigenen, schwierigen Gefühlen brachte, und vor allem: sie damit nicht
alleine liess, sich nicht damit begnügte,
diese schwierigen Gefühle darzustellen und
ins Bewusstsein zu heben, sondern diese als
Ausgangspunkt eines Prozesses darstellte,
in dessen Verlauf eine Entwicklung stattfindet und der Konflikt überwunden wird.
Gerade dieses letzte Moment – die glückliche Wiedervereinigung der Frau mit ihrem
Geschlecht – schien mir ganz entscheidend
wichtig dafür, dass die Geschichte auch
bei meinen ZuhörerInnen einen Prozess
in Gang zu setzen vermochte und eine
transformative Kraft mit ermächtigender
Wirkung entfaltete.
Der Rosendorn eignete sich ganz prima für
einen solchen kritischen Zugang, und dies
umso mehr, als die allegorische Geschichte
vom Streit zwischen weiblicher Schönheit
und Sexualität in eine geradezu voyeuristische Erzählperspektive eingebettet ist: Ein
Ich-Erzähler berichtet, wie er sich einem
Rosengarten nähert, durch eine kleine
Öffnung schaut und beobachtet, wie eine
junge Frau sich in den Garten begibt und
im Rosentau badet. Dabei geschah es – so
berichtet er weiter – dass ein Zauberkräutlein das Geschlecht der Schönen berührte,
worauf dieses zu Reden anfing… Am Ende
der Geschichte wendet sich die junge Frau
nach der glücklichen Wiedervereinigung
mit ihrem Geschlecht mit einer doppelten Bitte an den Erzähler: Er möge dafür
sorgen, dass sie ihr Geschlecht nie mehr
verliere, und er möge aller Welt berichten,
dass sie jetzt keine Fudlose mehr sei:
do tet ich des si mich bat: / hinwider an
die alten stat / satzt ich die fud, als ich wol
kund. / ainen nagel sazestund / ich vil vast
dardurch traib. / die fud immer mer belaib./
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Aneignung von
Geschlecht als universelle
Entwicklungsaufgabe
schen Konflikte her betrachtet – weniger
auf die Tatsache, dass eine Gesellschaft stets
regulierend und normierend auf das Individuum einwirkt und dieses, wie wir zu
sagen pflegen, damit subjektiviert. Die entscheidende Frage scheint vielmehr zu sein,
inwiefern die spezifische Art und Weise,
in der eine bestimmte Gesellschaft das tut,
dazu geeignet ist, das Individuum bei der
Bewältigung seiner psychischen Konflikte zu unterstützen oder eben nicht: Welche
Regulierungen sind hilfreich und wirken
progressiv? Welche wirken zusätzlich belastend und hemmen oder erschweren die
individuelle Konfliktlösung? Welche stehen
im Dienste des Individuums und fördern
Identität und Integration, Autonomie und
Handlungsfähigkeit? Welche wirken entfremdend, ausbeuterisch und isolierend,
etc.? Beantworten lassen sich diese Fragen
nicht absolut, sondern stets nur im Rahmen
eines bestimmten historisch-gesellschaftlichen Kontextes.
Der Rosendorn wurde für mich damit zu
einer Erzählung, die es mir ermöglichte,
Frauen in Kontakt mit etwas zu bringen,
worüber sie bisher meist mit niemandem
gesprochen hatten – und es in vielen Fällen
vermutlich sich selbst gar nie recht klar
gemacht hatten: das höchst ambivalente
Verhältnis zu ihrem eigenen Genitale. Die
Frage aber, woher dieses ambivalente Verhältnis kommt und weshalb es für viele
Frauen offensichtlich so schwierig ist, ihr
Genitale ins eigene Selbstbild zu integrieren, ist damit noch nicht beantwortet.
Handelt es sich um einen Konflikt, der
gesellschaftlich eingepflanzt wird? Ist er ein
Effekt weiblicher Sozialisierung? Ist die
Jahrhunderte alte Tradition der tabuisierenden und abwertenden Darstellung der
Vulva daran schuld? Oder gibt es dafür
genuin psychische Gründe?
Die schützende Funktion
von Scham
Ich persönlich gehe davon aus, dass die
Aneignung und Integration von Geschlecht
eine universelle Entwicklungsaufgabe ist,
bei der psychische Konflikte sozusagen vorprogrammiert sind und damit unvermeidlich. Die wissenschaftliche Grundlage für
diese Annahme ist die über Jahre gewachsene Einsicht in die spezifische Eigengesetzlichkeit psychischen Funktionierens.
Die Konflikte selbst können deshalb nicht
einfach auf das Konto einer regulierenden und normierenden Gesellschaft verbucht werden. Wie gut oder schlecht deren
Bewältigung gelingt, scheint nun aber von
verschiedenen – individuellen und kulturellen – Faktoren abhängig zu sein. Hier
spielt die Gesellschaft m.E. tatsächlich eine
bedeutende Rolle – aber anders, als wir uns
dies gewöhnlich vorstellen: Denn der kritische Punkt bezieht sich – vom Standpunkt
der individuell zu bewältigenden psychi-
Dieser Ansatz hat für mich heuristischen
Wert – es geht mir nicht darum zu beweisen, dass es so ist, wie ich annehme. Er
erfüllt seinen Zweck, wenn er mir erlaubt,
die Probleme, die sich mir stellen und die
ich mir zu untersuchen vorgenommen
habe, besser zu verstehen oder neu zu formulieren. Seine Plausibilität hingegen steht
und fällt mit der Frage, ob es mir gelingt zu
erklären, was ich mit der Eigengesetzlichkeit
des psychischen Funktionierens meine. Für
mein eigenes Verständnis genuin psychischer Prozesse entscheidend war die Auseinandersetzung mit dem Phänomen der
Scham. Dabei interessierte mich vor allem
der Umstand, dass die Scham im Deutschen
nicht nur ein bestimmtes Gefühl bezeichnet, sondern auch als Bezeichnung des
weiblichen Genitales dient. Ich begann mir
auch Gedanken darüber zu machen, woher
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die Genitalscham kommt, die, wie wir
wissen, zwar eine anthropologische Universalie ist, aber dennoch nicht von Geburt
an vorhanden. Dabei entdeckte ich, dass
Scham nicht nur das Gefühl ist, das wir
empfinden, wenn wir nicht comme il faut
sind, also aus dem normierenden Rahmen
der Gesellschaft herausfallen oder uns als
sonst wie defizient empfinden, sondern dass
Scham psychogenetisch betrachtet zunächst
einfach das Resultat eines inneren Regulierungsprozesses ist, der dafür sorgt, dass wir
psychisch im Gleichgewicht bleiben.
wir in der Pubertät und frühen Adoleszenz
von Mädchen häufig beobachten und in
der Geschichte vom Rosendorn in einer Art
und Weise literarisch verarbeitet wurde, die
uns heute noch anspricht.
Entwicklung ist ein Prozess,
der Zeit braucht
Im Rosendorn ermöglichte die Trennung
zwischen der jungen Frau und ihrem Genitale den für den psychischen Reifungsprozess benötigten Aufschub. Die negative
ästhetische Besetzung erwies sich somit
als funktional und passager, das Genitale
konnte seiner sexuellen Funktion entsprechend anerkannt und ins Selbstbild integriert werden. Wie auch immer sich dieser
Prozess ‹im richtigen Leben› vollzieht: ob
still und unbemerkt, weil relativ konfliktfrei, oder als etwas, was mit diffusem Unbehagen oder exzessiven Schamgefühlen einhergeht – Aneignung und Integration von
Geschlecht ist ein Prozess, der m.E. zentral
zum Frau werden gehört (genauso notabene wie zum Mann werden, nur stellen sich
hier die zu lösenden Konflikte etwas anders
dar). Es handelt sich um einen psychischen
Prozess, der Zeit braucht und kulturell in
geeigneter Form unterstützt werden sollte.
Eine entscheidende Rolle bei diesem
Erkenntnisprozess spielte eine Passage aus
Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, die ich zwar schon zigfach gelesen haben
musste, ohne dass ich sie für die Themen,
mit denen ich beschäftigt war, produktiv
machen konnte. Die Passage findet sich in
der zweiten Abhandlung, in der sich Freud
mit der kindlichen Sexualität auseinandersetzt. Er fragt sich, was mit denjenigen
sexuellen Regungen passiert, die das Kind
zwar empfindet, die für dieses aber aufgrund der noch fehlenden körperlichen und
psychischen Reife «unverwendbar» sind
und deswegen «Unlustempfindungen hervorrufen». Die Psyche, so Freud, reagiert
darauf, indem sie «seelische Gegenkräfte»
mobilisiert, «die zur wirksamen Unterdrückung solcher Unlust die erwähnten psychischen Dämme: Ekel, Scham und Moral,
aufbauen». Zu ergänzen ist, was Freud hier
auslässt, aber an der «erwähnten» Stelle
zusätzlich nannte und für die Probleme, mit
denen ich mich beschäftigte von besonderer
Bedeutung war: die Ästhetisierung als ein
weiterer Mechanismus der Gegenbesetzung
von unverwendbaren sexuellen Regungen.
Damit habe ich plötzlich die innere Gesetzmässigkeit verstanden, die es mir erlaubte,
zwei scheinbar disparate Phänomene miteinander in Verbindung zu bringen: Die
Genitalscham als Resultat einer regulären
kindlichen Strukturbildung und die negative ästhetische Besetzung des Genitales, die
Inwiefern unsere Kultur das tut und was
eine ‹geeignete Form› der Unterstützung
sein könnte, ist Gegenstand meiner aktuellen Forschungsarbeit. Es handelt sich um
eine kulturkritische Analyse, die ein ganz
anderes Erkenntnisinteresse hat und von
ganz anderen Voraussetzungen und Kriterien getragen wird als meine frühe, gesellschaftskritische Analyse des Rosendorns,
die zwar vermutlich irgendwie richtig war,
aber nichts bewirkte. Auch Erkenntnisprozesse brauchen ihre Zeit. ◆
Der Rosendorn, in: Hanns Fischer (Hg.): Die deutsche
Märendichtung des 15.Jahrhunderts, München 1966.
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Morgentoilette
von FW
geschnarcht diese Nacht. Nun ja, wird wohl
so gewesen sein. Wird sich auch kaum
ändern in Zukunft. Ich drücke meine Zigarette aus, küsse meine Frau ins braungraue
Haar und gehe unter die Dusche. Meinen
Körper seife ich nur knapp ein. Er ist zu
hart, zu muskulös, zu kantig, überall sind
Haarstoppeln. Nach kurzer Zeit verlasse ich die Duschwanne wieder. Ein Badetuch um die Hüfte gewickelt, beginne ich
vor dem Spiegel den Rasierschaum auf
Gesicht und Hals zu verteilen. Den elektrischen Braun-Rasierer verwende ich schon
länger nicht mehr. Einerseits störte sich
meine Frau ständig an den Bartstoppeln im
Waschbecken. Andererseits bevorzuge ich
das Gefühl der kühlen Klinge auf meiner
Haut und das kratzige Geräusch, welches
entsteht, sobald die Klinge die dicken
Haare durchtrennt. Es gibt Tage, an denen
wachsen meine Barthaare so stark, dass ich
meine 10-Uhr-Pause und meinen Mittag
etwas nach hinten schiebe, um mich auf der
Toilette unbemerkt ein zweites oder drittes
Mal rasieren zu können. Mir ist es unangenehm, wenn die Stoppeln durchs Make-up
5.47 Uhr – Ich lehne mich zum Küchenfenster raus und ziehe an meiner ersten
Zigarette. Den Rauch atme ich langsam aus;
beobachte, wie er sich sanft mit den Nebelschwaden vermischt und fast unmerklich
davonschwebt. Eine kühle Brise streichelt
meine Hand.
Ich giesse mir eine Tasse Filterkaffee ein
und zünde eine zweite Zigarette an. Mir
ist kalt. Dennoch spreize ich meine Beine
und die Kälte des Windes dringt durch
meine Pyjamahose. Meine Morgenlatte beginnt langsam zu erschlaffen. Früher
habe ich mir morgens oft einen runtergeholt – in dieser Beziehung dachte ich sehr
pragmatisch. Jetzt gehe ich nicht mal mehr
duschen mit einem Ständer. Weiss nicht
mehr, wann sich das dieses Verhalten einzuschleichen begann. Ich mag dieses Ding
weder anfassen noch anblicken. Ich mag
meinen Schwanz nicht. Ist irgendwie ’n
Fremdkörper geworden.
Meine Frau setzt sich frisch geduscht und
angekleidet zu mir. Sie meint, ich hätte
54
spriessen und einen Bartschatten werfen.
Nur eine glatte, frisch rasierte Haut fühlt
sich richtig, fühlt sich weiblich an.
ist. Ich weiss dann nicht so recht, was ich
machen soll. Ich fühle mich erniedrigt.
Sie sieht mich nackt, lechzt nach meinem
Kolben und ich will mich am liebsten ausm
Staub machen, weil mir bewusst wird, was
mir blüht – aber das kann ich nicht so
einfach. Das kann ich nicht so einfach...
Meine Frau kann schliesslich nichts dafür,
dass ich mich als Frau fühle – in einem
Frauenkörper leben will. Erst seit ich ihr das
vor etwas mehr als zehn Monaten anvertraut habe, will sie überhaupt Sex im Stile
einer Vergewaltigung haben. Als ob sie mir
das abverlangt, nur um die letzten Tropfen
meiner verschwindenden Männlichkeit zu
ergattern.
Ich höre, wie meine Frau nach den Schlüsseln kramt. Sie ist aufm Sprung. Ich hoffe,
sie kommt sich nicht von mir verabschieden,
während ich noch im Bad bin. Eigentlich
weiss sie, dass ich es nicht aushalte, wenn
sie mich so sieht – ganz ungeschminkt, mit
blossem Oberkörper und flacher Brust. Im
Alltag trage ich bereits Silikonimplantate im BH. Ich schäme mich, wenn ich als
Zwischenwesen vor ihr stehe. Nicht Mann
– das war ich im Grunde nie – und auch
nicht Frau. Halb geschminkt, halb nackt.
Nur – wir haben gestern miteinander
geschlafen... Manchmal bildet sie sich am
Morgen danach ein, dass ich meinen männlichen Körper doch akzeptieren würde. Ich
fühle mich nicht ernst genommen, wenn
sie denkt, dass ich durch Sex wieder zum
Mannsein finden würde. In ihren Augen
ist nach einer solchen Nacht wieder alles
wie früher. Ich würde mich nicht mehr so
aufwendig zurechtmachen und sie könnte
sich deswegen mit einem Kuss von mir verabschieden – obwohl ich noch nicht fertig
bin mit meiner Morgentoilette. In der Regel
hält sie sich zwar an unsere Abmachung
und stört mich morgens nicht im Bad. Aber
nach einer durchzechten Nacht missversteht sie die Dinge schon mal.
Kaum habe ich mein Gesicht mit einer
feuchtigkeitsspendenden Creme eingerieben und die Make-up-Grundierung aufgetragen, höre ich es an der Tür klopfen.
Meine Frau ruft mir zu, dass sie mir einen
sonnigen Tag wünsche. Durchatmen...
Ich höre, wie ihre Schuhe auf dem Parkett
klacken und sie die Tür ins Schloss fallen
lässt. Schnell steigt sie die Treppe hinunter, ihre Schritte hallen im Treppenhaus
nach. Wie sehr ich sie noch immer liebe,
trotz aller Schwierigkeiten, die wir gemeinsam durchleben. Manchmal traue ich mich
nicht mal mehr sie anzusprechen. So auch
gestern Nacht. Meine Frau genoss es sichtlich, als ich sie entkleidete. Mein Blick
wanderte voller Bewunderung über ihren
Körper. Das Altern hat auch bei ihr einige
Spuren hinterlassen, aber ihr geschmeidiger, wohlgeformter Körper gefällt mir
noch immer. Ich hasse meine Hülle, alles
Materielle an mir. Besonders dieses Ding
im Schritt. Wenn ich mit dem Fahrrad
unterwegs bin, klemm ich’s mir zwischen
die Beine, schiebe das Becken etwas nach
hinten und bücke meinen Oberkörper nach
vorn. Mein ganzes Gewicht drückt dann
drauf. Es schmerzt höllisch, aber ich will
meinen Schwanz nicht. Ich ekle mich davor.
Der liebgewonnene Schmerz ist Ausdruck
dieses Ekels.
Eigentlich haben wir ohnehin nur noch
selten Sex. Nicht, dass es mir etwas ausmachen würde, sie oral oder mit einem
Dildo zu befriedigen, aber sie will mich mit
meinem Schwanz. Sie will, dass ich es ihr
vaginal besorge. Sie will mir ausgeliefert,
mir untergeben sein, mich in sich spüren.
Ich soll über sie verfügen. Mir liegt das
nicht. Wir begegnen uns nicht mehr auf
Augenhöhe und diese Machtspiele sind
nicht einvernehmlich. Manchmal trachtet
sie danach, dass ich ihr Schmerzen zufüge
oder in sie eindringe, obwohl sie seit den
Wechseljahren oft nicht feucht genug dafür
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RosaRot Nr. 47
Während meine Frau vergangene Nacht
mit zusammengebundenen Armen nackt
auf dem Bett lag und mich zwang, ihre
mit aller Kraft zusammengepressten Beine
zu spreizen, musste ich immer wieder an
meinem Schwanz rumfummeln, damit die
Erregung nicht nachliess. Sie lag auf dem
Bauch, so hat sie’s zum Glück nicht mitbekommen. Als ich in sie eindrang, wieder
ohne dass sie feucht genug gewesen wäre,
stöhnte sie laut auf. Wenn ich sie ficke,
dann sehe ich mich dort liegen. Es ist mein
Körper, der dort liegt. Es ist nämlich ihr
Körper, mit dem ich mich identifiziere,
nicht meiner, aber das versteht sie nicht.
Seit sie sadomasochistische Szenen nachahmen will, kann ich mich jedoch nicht mehr
in sie hineinprojizieren, es macht mich
keineswegs an. Deshalb die Erektionsprobleme. Nachdem sie bereits ein erstes Mal
gekommen war, kniete sie gestern irgendwann vor mir, wollte meinen Schwanz mit
ihrer Zunge liebkosen. In vielem komme
ich ihr entgegen, aber meinen Schwanz darf
sie nicht in den Mund nehmen. Dieser Körperteil gehört nicht zu mir, er gehört auch
nicht hingebungsvoll befriedigt zu werden!
meinen Schwanz einige Male schnell und
heftig in sie hinein. Die Bauchmuskeln
meiner Frau zuckten unwillkürlich, kurz
bevor sie ein zweites Mal kam. Ich spürte
nichts. Nur Ekel vor mir selber. Übelkeit
stieg in mir auf. Verharrte einen Moment
in ihr, raunte mehrmals laut. Zog meinen
Schwanz hinaus, tat so, als ob ich es mit
meiner Hand zu Ende führen würde. Sie
weiss, dass ich nicht mehr in ihr kommen
will. Verschwand ins Bad. Übergab mich
leise.
Meine Füsse sind kalt. Die Fussbodenheizung im Bad muss ausgefallen sein. Ziehe
mir schnell Strümpfe über und schlüpfe
in meine kuschlig weichen Pantoffeln. Mit
dem Concealer bessere ich die Unebenheiten auf meinem Gesicht nach. Ich greife
nach der Wimpernzange. Anstelle von
künstlichen Wimpern verleihe ich meinen
eigenen eine schön geschwungene Form.
Sieht natürlicher aus. Danach trage ich
zwei Mal schwarze Mascara auf. Etwas
Rouge, ein wenig Lipgloss, zuletzt noch die
Frisur. Mein Naturhaar ist leider zu dünn
und nicht mehr dicht genug, als dass ich
auf eine Perücke verzichten könnte. Meine
Kleider liegen auf dem Wäschekorb bereit.
Spüle meinen Mund aus, putze mir die
Zähne. Betrachte dabei mein Gesicht im
Spiegel. Die Blässe und Sorgen werden vom
Make-up überdeckt. Ja, so gefalle ich mir
besser. ◆
Früher mochte ich es, wenn wir uns
gegenseitig geleckt haben, bis wir beide in
unseren Mündern gekommen sind. Jetzt
verabscheue ich meinen Schwanz so sehr,
dass ich nicht mehr kommen will. Und das
könnte – seit meine Frau auf jene Art von
Sex abfährt – nur noch beim Oralsex passieren. Ich stiess sie also jäh von mir weg.
Sie landete rücklings auf dem Bett. Stiess
Tat-sächlich Frau
von AH
Es gibt gute Tage und andere. Heute ein beschissener. Getaktet. Effizient. Gezwungen
gesprächig. Höflich. Ich bin hier, dort die anderen und ich bald mehr dort als hier. Körperliche Anstrengung wäre gut, also gehe ich laufen. Mein Puls schlägt hoch, meine Muskeln
spielen. Atmen. Ich überquere im Laufschritt die Strasse. Ein Mann kommt mir entgegen.
Ein kleiner. Ein junger. Nervös tänzelnd. Spannung. Unsere Blicke treffen sich. Ich gehe
zur Seite. Versuche auszuweichen. Und dann der Schlag. Er sitzt. Die Faust trifft mich zwischen Brust und Schulter. Zwischen Selbstbewusstsein und Verletzlichkeit. Stehenbleiben.
Ich drehe mich um. Sprachlos. Von hinten sehe ich dieses Würstlein, das zum Ungeheuer
wird. Es rennt davon. Wie immer in solchen Situationen fehlt die Schlagfertigkeit. Ich
drehe mich wieder um und laufe weiter. Haltung. Vorerst.
In den nächsten Minuten versuche ich, die Situation zu begreifen. Chaos im Kopf. Mit
jedem Schritt erahne ich zunehmend, was Gewalt gegen Frauen bedeuten kann. Plötzlich fühle ich eine unglaubliche Betroffenheit. Nicht ich wurde geschlagen. Wir wurden
geschlagen. Auch wenn ich dazu diszipliniert wurde, nicht in naturalisierenden und
homogenisierenden Kategorien zu denken, erlebe ich in diesem Moment eine bis dahin
unbekannte Verbundenheit. Differenz und Reflexion sind schlagartig unwichtig. Allein
das Gefühl der Solidarität zählt. An und durch meinen eigenen Körper wird plötzlich
vieles nachvollziehbar, was vorher abstrakt war. Erstaunen.
In mir pocht es. Aufregung. Erfahre ich meine weibliche Identität tatsächlich durch diesen
Angriff auf ganz neue Weise? Ich komme an. Hier. ◆
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AutorInnen
AH – Anna Hoj hegt den geheimen Wunsch, mit anderen Ismen den Mainstreamkonstruktivismus des Poststrukturalismus zu überwinden und eine vierte Welle der Frauenbewegung auszulösen.
ANS – Anja Nora Schulthess studiert im Master Kulturanalyse, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
und Gender Studies an der Universiät Zürich.
AS – Antonia Steger studiert Kulturanalyse und Germanistik, arbeitet nebenberuflich im Ausstellungsbereich und
ist hauptberuflich fasziniert von städtebaulichen Fragen, Vögeln und CSS. Seit einem Jahr hat sie die neu erblühte
künstlerische Comic-Szene für sich entdeckt und teilt ihre Freude unter www.facebook.com/graphicnovel.ch.
CB�SN – Christina Bosbach und Stefanie Neuenschwander kennen sich seit der Kantonsschule, wo sie dieselbe
Klasse besuchten. Christina ist 23 Jahre alt, hat Operngesang in Berlin studiert und schliesst im kommenden Semester
den Bachelor in Soziologie ab. Stefanie (24) hat den Bachelor in Theologie an der Universität Zürich abgeschlossen
und studiert nun im Master Religion und Kultur in Berlin. Beide verbindet die Freude an delikatem Essen, schwerem
italienischem Rotwein und gemeinsamen Gesprächen über Gesellschaft, Genuss und Glück. Die fachliche Zusammenarbeit der Freundinnen hat mit diesem Artikel begonnen.
CS – Corinna Schaub verstand sich schon lange vor dem Studium in Philosophie und Geschichte als Feministin und
tut es auch danach noch, trotz allem und erst recht.
DS – Dalibor Suchanek ist Programmierer mit Philosophieabschluss. [email protected]
DZ – Dolores Zoe kann sich nicht so recht entscheiden, ob sie arbeits- oder hobbylos sein soll. Umso dezidierter ist
sie kritische Feministin, lebenspraktische Dogmatikerin und hoffnungslose Ästhetin. Farbe zu bekennen findet sie
wichtig – möglicherweise ist das dem Leben als Stadtkind geschuldet, vielleicht auch der Steinerschule. www.bellelibelle.ch
EZ – Evelyne Zinsstag studiert Theologie in Zürich. Nebenbei beschäftigt sie sich intensiv mit Filmen und Serien,
YouTube und Social Media – was als Ablenkung begann, ist längst zum Objekt feministischer Analyse geworden.
FS – Fabian Schwitter Tafelessig, Wasser, Kochsalz, Senfsamen – wahlweise mit Rosmarin, Feigen oder Knoblauch.
Auf speziellen Wunsch mit Meerrettich. Vorzüglich zu Wurst.
FW – Frieda Watson (181cm) wuchs in einer Regenbogenfamilie, bestehend aus zwei schwedischen Müttern und
zwei schottischen Vätern im Zürcher Oberland auf. Nach dem Abschluss der Klosterschule in Einsiedeln bezog sie
ein Baumhaus am Greifensee und liess sich zur professionellen Flohmarktverkäuferin ausbilden. Heute arbeitet sie als
Holzschnitzerin, Aktografin und freischaffende Journalistin.
LB – Léa J. Burger interessiert sich für (jüdische) Körperrituale und Geschlechterbilder. Derzeit schliesst sie ihr
Studium der Religionswissenschaft und Gender Studies an der UZH ab und freut sich auf neue Herausforderungen
und mögliche Synergien.
MG – Monika Gsell ist Psychoanalytikerin mit eigener Praxis und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich
Gender Studies an der Universität Zürich. Sie ist Autorin des Buches Die Bedeutung der Baubo. Studien zur Repräsentation des weiblichen Genitales (Stroemfeld-Verlag 2001) und hat verschiedene Artikel zur psychischen Bedeutung von
Geschlecht veröffentlicht. In ihrer aktuellen Forschungsarbeit beschäftigt sie sich mit unterschiedlichen Formen von
chirurgischen Eingriffen in den menschlichen Genitalbereich.
R – Rozalin ist Performance- und Seiten-Dichterin aus England. Sie hat mit The Lovely Persons Book of Poems ihre
erste Gedichtsammlung veröffentlicht und mehrere kleinere Bücher in limitierter Auflage herausgegeben. Ihre Arbeiten über die verrückten Seiten des Lebens sind charmant und voller Liebe, aber immer aufmerksam, ehrlich und
provokant. [email protected]
Bilderserie Amazonen
Die Amazonen von Monika Hoffmann stammen aus der Serie BCN • 2012, welche im Mai 2012 in Barcelona entstanden ist. Ursprünglich auf der Suche nach Austausch mit lokalen feministischen Gruppierungen begegneten der Fotografin diese feministischen Street-Art-Motive. Die Bilder wurden im August 2012 in Bern ausgestellt und können nun
als Unikat-Drucke bestellt werden. Monika Hofmanns neueste Serie Elfen[sch]au ist ab dem 25. August 2014 in der
Tapas-Bar Volver in Bern und ab dem 30. September 2014 im Absinthe-Bistrot Die Grüne Fee in Solothurn zu sehen.
Monika Hoffmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung
der Universität Bern (IZFG). Sie hat Germanistik, Hispanistik und Gender Studies an den Universitäten Bern und
Basel studiert. [email protected]
von AS
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Wir suchen feministische, essayistische, wissenschaftliche, persönliche, radikale, ironische Artikel sowie literarische, fotografische und künstlerische Beiträge zum Thema
Sach- und Lustpolitik für unsere 48. Ausgabe.
Wie hast du's mit der Lust? Nach was gelüstet dich? Bist du Lust(ig)? Lust- und Liebesobjekte. Geht Lust immer mit Sache einher? Fetischismus, sexueller Fetisch, Warenfetisch. Sachen, Dinge, Objekte. Bist du Objekt(iv)? Neue Sachlichkeit. Ist Sachpolitik
Männersache/Lustpolitik Frauensache? Kann Politik lustvoll sein? Kann es in Bern auch
nach Lust und Laune zugehen? Wird unsere Lust geordnet und kontrolliert? Lust und
Frust. Zuviel, zu wenig, keine Lust haben. Gibt es gute/richtige/natürliche im Gegensatz zu schlechter/falscher/unnatürlicher Lust? (Feministische) Pornografie in Text, Bild
und Film. Und: Ist Feminismus Lust- oder Sachpolitik, oder gar Privatsache?
Wir freuen uns auf alle Artikel, die unser Thema in Frage stellen, es auf die Spitze
treiben oder es ganz und gar ignorieren.
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06.12.2014 an [email protected].