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6 58 nachmann news my germany 8 Ora et labora et lege Dr. Notker Wolf my neighbourhood Edelsteinzeit 68 Stefan Hemmerle visions 18 Ideen sind gut – Ideen umsetzen ist besser! philosophy Dr. h.c. Walter Smerling Entering the Painting – Das Bild betreten 78 James Turrell my europe 30 Dr. Gottfried Langenstein Ars Arte my munich Der MINI-malist 90 Dr. Wolfgang Armbrecht my world 40 Gebäude wie gelandete Wolken my bavaria Prof. Wolf D. Prix Immer der Nase nach Prof. Hanns Hatt 98 competence 48 Saugut Warum machen Sie so ein Magazin, Herr Nachmann? Karl Ludwig Schweisfurth Josef Nachmann Impressum Herausgeber: Josef Nachmann Beratung und Supervision: Andreas Lukoschik Chefredaktion: Jens Magers Art Director: Janis Birznieks Textredaktion: Amadeus AG, Schwyz Anschrift Nachmann Rechtsanwälte Theatinerstraße 15 80333 München www.nachmann.com Telefon +49 89 2420740 nachmann project Liebe Leser, der inhaltliche Faden durch alle Gespräche, die Andreas Lukoschik für diese Ausgabe führte, ist Nachhaltigkeit. Besonders tritt das bei Karl Ludwig Schweisfurth hervor, der mit seiner „symbiotischen Landwirtschaft“ seit vielen Jahren auf die Notwendigkeit einer Umkehr beim Umgang mit den Ressourcen unserer Natur aufmerksam macht. Aber auch der Abtprimas der Benediktiner, Dr. Notker Wolf, entstammt der Tradition eines Ordens, in dem Arbeit, geistige Haltung und Glauben nach dem Grundsatz „ora et labora et lege“ zu einem Ganzen zusammengeführt werden. Die „terra benedicta“ verbindet Dr. Notker Wolf übrigens mit Karl Ludwig Schweisfurth. Denn die Selbstversorgung mit landwirtschaftlichen Produkten steht im Mittelpunkt der Ordensphilosophie. Das Thema Nachhaltigkeit prägt die aktuelle öffentliche Diskussion in Politik, Wirtschaft und fast allen anderen Fragen des gesellschaftlichen Lebens. Mit der Wirtschaftskrise 2008 ist den Menschen wieder bewusst geworden, dass dauerhafte Werte nur geschaffen werden können, wenn die materiellen Ziele der Wirtschaft und Finanzindustrie so verantwortungsvoll verfolgt werden, dass sie im Einklang mit Mensch und Natur stehen. Eine schwierige Aufgabe, die nur durch maßvolles Handeln zu erfüllen ist. Nachhaltige Lösungen von Problemen sehen wir als die zentrale Aufgabenstellung unserer Arbeit an. Nicht der kurzfristige Erfolg zählt, sondern tragfähige Vereinbarungen und Strukturen, die unseren Mandanten Sicherheit und langfristige Perspektiven eröffnen. Am Lebensweg der Menschen, die wir in diesem Magazin vorstellen, imponiert uns die Konsequenz und der Idealismus mit der sie ihre Ziele verfolgen. Daraus erschließt sich die Ausstrahlung der Werke dieser Personen. So ist diese Publikation wieder das Spiegelbild von Leistungen für unsere und in unserer Gesellschaft, die wir als vorbildhaft ansehen und an denen wir uns gerne orientieren. Mit besten Grüßen, Ihr Josef Nachmann KLAGEN BEI FALK-IMMOBILIENFONDS VOR DEM BUNDESGERICHTSHOF Nachmann Rechtsanwälte vertreten den Insolvenzverwalter mehrerer Fonds der Falk-Gruppe. Sie sind damit beauftragt, Rückforderungsansprüche gegen Kommanditisten dieser FalkFonds durchzusetzen, die von den Fondsgesellschaften so genannte Ausschüttungen erhalten hatten. Diese Ausschüttungen waren nicht durch entsprechende Gewinne gedeckt und wurden somit letztlich aus dem Vermögensstamm der Fonds ausbezahlt. Es besteht daher ein Rückzahlungsanspruch, weil durch die Auszahlungen das festgesetzte Haftkapital unterschritten wurde. Nach den handelsrechtlichen Vorschriften waren die Kommanditisten auf Wiederauffüllung ihrer Hafteinlagen und damit auf Rückzahlung der erhaltenen Ausschüttungen in Anspruch zu nehmen. Gegen Kommanditisten, die eine angebotene vergleichsweise Einigung nicht annehmen wollten, mussten bundesweit mehr als 2000 Gerichtsverfahren anstrengt werden. Die erstinstanzlichen Gerichte haben den Klagen dabei ganz überwiegend stattgegeben. Nachdem sich nunmehr in den in der Folge geführten Berufungsverfahren bundesweit 17 unterschiedliche Oberlandesgerichte mit dem Sachverhalt beschäftigt und fast durchgängig die von Nachmann Rechtsanwälte vertretene Rechtsauffassung bestätigt haben, stehen derzeit mehrere Revisionsverfahren zur Entscheidung beim Bundesgerichtshof an. Der Bundesgerichtshof hat in der mündlichen Verhandlung über acht dieser Falk-Revisionsverfahren am 22.11.2010 seine vorläufige Einschätzung zu einigen der in diesen Verfahren diskutierten Rechtsproblemen geäußert. So sei – nach vorläufiger Wertung – eher nicht davon auszugehen, dass die geltend gemachten Ansprüche verjährt sind. Auch sei wohl die Auffassung von Nachmann Rechtsanwälte zutreffend, dass die eingesetzte Beteiligungstreuhänderin bei der Übernahme ihrer Aufgaben nicht gegen das Rechtsberatungsgesetz verstoßen habe. Seine Entscheidung beabsichtigt der Bundesgerichtshof am 22.3.2011 bekannt zu geben. Die anstehende Entscheidung hat nach Auffassung von Nachmann Rechtsanwälte Auswirkungen deutlich über den zu entscheidenen Einzelfall hinaus und wird möglicherweise die Entwicklung und die Struktur zukünftiger geschlossener Fonds beeinflussen. my neighbourhood Seite 8 Stefan Hemmerle Edelsteinzeit Wenn man die sehr elegant gestaltete Sicherheitsschleuse im Eingang des Hauses Hemmerle passiert hat, steht man zunächst vor einem in Bordeauxtönen gehaltenen Kissenbild von Gotthard Graubner. Nicht die einzige Kunst, der man in diesem Raum begegnet. In den Vitrinen liegen edle „Kleinplastiken“ aus seltenen Edelsteinen, für die Damen aus aller Welt anreisen, um sie sich an den Hals zu werfen. Gestaltet wurden sie von Stefan Hemmerle, dem Inhaber und kreativen Kopf dieser feinen Adresse aus dem Jahre 1893 auf Münchens Maximilianstraße. Seit geraumer Zeit sind er und seine Arbeit auf edelste Art geadelt. ? Herr Hemmerle, das Victoria & Albert Museum in Londons Stadtteil Kensington beherbergt die wichtigste Schmucksammlung der Welt. Diese Sammlung ist unlängst etwas größer geworden. Wodurch? ! Das ist nett formuliert: Im Victoria & Albert Museum wurde ein Stück von uns in die ständige Kollektion aufgenommen. Das ist eine außergewöhnliche Ehre. Es handelt sich dabei um diesen Armreif. Das Herausragende daran ist die Patinierung des Kupfers, die wir nach alten Rezepten unseres Hauses angefertigt haben, außerdem die Materialkombination: auf der sichtbaren Außenseite das Kupfer, auf der fühlbaren Innenseite das Weißgold. Diese ist so gearbeitet, dass sie sich auf dem Handgelenk wie eine zweite Haut anfühlt. Genial ist auch die Technik des unsichtbar eingebauten Drehmechanismus. Ohne die Mechanik zu sehen, dreht man den Armreif auf und kann ihn so über das Handgelenk ziehen. In so einem Stück steckt außergewöhnlich viel Know-how drin, weshalb das Victoria & Albert Museum genau dieses Stück für seine Sammlung ausgesucht hat. ? Der Teufel lauert ja gerne im Detail, deshalb interessiert mich: Wenn einem das Victoria & Albert Museum diese große Ehre angedeihen lässt, bezahlen die das auf diese Weise einbehaltene Stück auch? Oder muss man es ihnen schenken? ! Man muss es ihnen nicht schenken, aber wir haben es selbstverständlich getan – kommerzielle Gedanken spielten in diesem Fall keine Rolle. Der Wunsch der Kuratoren dieses Stück in ihre Sammlung aufzunehmen, war einfach zu stark – unsere Arbeiten werden als einzigartig und als „contemporary interpretation“ des heutigen Schmuckdesigns angesehen. Im Victoria & Albert Museum finden Sie ja Schmuck von den Etruskern bis zu zeitgenössischen, sehr spektakulären Arbeiten, die zwar sehr schön sind, aber die man oftmals überhaupt nicht anziehen kann. Unsere Schmuckstücke haben dagegen den Vorteil, dass sie zeitgenössisch und tragbar sind. Sozusagen „everyday-tauglich“ (lacht). ? Falls jeder Tag Sonntag sein sollte. ! Ja genau, mit unserem Schmuck fühlt sich jeder Tag wie Sonntag an. Der schöne Sch(t)ein ? Dieser Armreif ist mit Spinellen besetzt. Was sind Spinelle? ! Spinelle sind Edelsteine, welche in früheren Jahrhunderten vielfach in den Paruren hoher Adelsfamilien verarbeitet wurden – so dass es hieß: Spinell sei der Edelstein der Könige. In dieser Zeit besaß der rote Spinell einen höheren Stellenwert als der Rubin. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts geriet er ein wenig in Vergessenheit vor allem im europäischen und amerikanischen Schmuckdesign in der Zeit als Saphir, Rubin und Smaragd als die Könige der Farbedelsteine angesehen wurden ... Spinelle findet man in Burma, Tadschikistan und Afrika. ? Haben Sie den Spinell neu entdeckt oder lag diese Wiederentdeckung einfach in der Luft? Illustration: Peteris Lidaka ! Wir gehören ja zu den Neuentdeckern vieler Materialien in der Juwelierskunst. Wir sind deshalb auch eine der Ersten gewesen, die den Spinell gekauft und in unseren Schmuck integriert haben. Wichtiger Grund: Spinelle haben eine einzigartig schöne Farbpalette, sind naturfarben und können nicht behandelt werden. Bei Rubinen und Saphiren hingegen kann man die Farbe durch Erhitzen verbessern. Dabei wird der Rohstein – also der noch ungeschliffene Stein – erhitzt. Diese Techniken sind nicht neu, sondern es gibt sie schon seit mehr als 100 Jahren, allerdings haben wir uns auf die Fahne geschrieben, nur Naturprodukte zu verarbeiten. ? Sozusagen „Bio-Steine“. ! (lacht laut auf) Ja genau! ? Kaufen Sie solche Steine vor Ort ein? ! Wir fahren zweigleisig. Wir kaufen einerseits unsere Steine vor Ort bei denjenigen ein, die den direkten Zugang zu den Minen haben. Andererseits kaufen wir sehr gerne secondhand oder Dritthandstücke ein, die die Tresore wieder verlassen oder aus Familiennachlässen kommend auf dem Markt angeboten werden. Das interessiert uns sehr, weil dabei oft sehr besondere Stücke angeboten werden. Nicht immer aufgrund ihrer Wertigkeit, sondern speziell aufgrund der Farbtöne und der Struktur. Steine haben oftmals das gleiche Leben, obwohl sie aus den verschiedensten Fundorten stammen. Wie die unterschiedlichen Steine dann miteinander kombiniert werden können, ist eine Frage des Erkennens. Ein sehr spannender Vorgang. ? Was bedeutet „Steine haben manchmal das gleiche Leben“? ! Das meint die gleiche Brillanz. Wenn Sie einen geschliffenen orangefarbenen Opal nehmen und daneben einen ebenso orangefarbenen Topas halten, dann geht das nicht zusammen. Der Opal ist einfach zu matt, während der Topas Brillanz hat. Von außen sehen Sie bei einem Rohstein ja nur so eine Art Kruste. Dann schleifen Sie eine kleine Fläche an, schicken mit einem starken Punktstrahler Licht hinein und dann können Ihnen erfahrene Schleifer sagen, welche Schliffform, ob rund, oval oder rechteckig entstehen kann. Wir haben zwar immer versucht, uns aus dem Rohsteingeschäft herauszuhalten, aber je tiefer man in die Materie eindringt, umso mehr muss man sich auch damit befassen. Vor zwei Jahren habe ich zum Beispiel einen wunderschönen, großen, grünen, burmesischen Peridot-Tropfen gekauft. Wir haben diesen auf mehrere Einkaufsreisen mitgenommen und uns immer nach einem passenden Stein umgesehen. Aber nirgendwo gab’s was. Bis wir eines Tages einen Rohsteinhändler getroffen haben, der einen Stein hatte, von dem er meinte, dass er passen könnte, aber nicht sicher war, ob er als geschliffener Stein dann auch halten würde, was er jetzt verspräche. Das war ein Risiko – zumal er richtig viel Geld kosten sollte. Aber ich hab es gemacht. Und es wurde ein Traumpaar. Man muss manchmal einen solchen Schritt wagen. Wagt man ihn nicht, ärgert man sich ein Leben lang, weil solche Chancen nur selten kommen. Dieser Rohstein ist inzwischen bearbeitet und in eine unserer typischen, grünen Kupferpatinierungen eingearbeitet. ? Wie viele hilfreiche Mitarbeiter haben Sie in Ihrer Werkstatt? ! Unsere Werkstatt umfasst inzwischen ein mehrstöckiges Stadthaus. Wir haben dort eine „Zen-Atmosphäre“ geschaffen – es ist ein Ort der Kreativität entstanden und wir haben ein großartiges Team von 15 Goldschmieden. Wem der große Wurf gelingt... ? Und die Entwürfe sind von Ihnen? ! Alle sind von mir. Viele sind aber in Zusammenarbeit mit meiner lieben Frau, meinem Sohn, meiner Schwiegertochter und unserem Goldschmiedeteam entstanden. Unsere Schwiegertochter stammt aus Ägypten und hat von dort ganz neue Einflüsse mitgebracht. So ist zum Beispiel das neueste Ohrclippaar „Anubis“ – altägyptische Tempelhunde – entstanden. Ich hatte zuerst Angst, dass das zu kitschig wird, aber unser Goldschmied hat sehr viel historische Literatur gewälzt, um herauszufinden, wie man diese Tempelhunde am schönsten und möglichst pur herausarbeiten kann. Wir haben sie dann aus Kupfer gefertigt. Der Rahmen ist ausgefasst mit champagnerbraunen Diamanten und ist komplett beweglich gearbeitet. So ein Entwurf dauert zwar nur kurz, aber bis er dann Gestalt annimmt (lacht), ist das dann noch ein mühsamer Prozess. Aber er ist letztendlich hoch gelungen und war dann auch nur wenige Tage im Haus, weil er sofort gekauft wurde. ? Wie ist das, wenn so eine Arbeit raus ist. Tut das dann weh oder sagt man sich, jetzt wissen wir, wie es geht, jetzt machen wir das noch einmal? ! Ein wenig tut´s weh ... Aber wenn die richtige Trägerin gefunden ist, bin ich sehr glücklich. ? Es gibt bei Ihnen also jedes Schmuckstück nur einmal? ! In dieser Form und diesem Material ist es ein Unikat. ? Wie kommen Sie zu Ihren Inspirationen? ! Aus der Kunst. Aus der Literatur. Aber auch in der Natur finde ich sie. Ich habe zum Beispiel eine Zeit lang besonders schöne Blätter von Bäumen gesammelt, die mir gefallen haben. Außerdem zeichne ich, wo immer mir etwas einfällt. Das kann auf ganz merkwürdigen Trägern sein. Zum Beispiel hoch über den Wolken auf Zeitungspapier. Ich liebe aber auch Papiertischdecken auf Bistrotischen. Wenn ich bei einem schönen Essen darüber nachdenke, wie ich das, was ich gerade an Steinen eingekauft habe, verarbeiten könnte, fällt mir zum Beispiel ein schöner Ohrring ein. Den bringe ich dann auf der Bistrotischdecke zu Papier. Eine andere Idee kam mir, als ich eine Freundin in Luzern besuchte. Sie selbst ist auch Goldschmiedin und hatte Steine vergoldet, die sie beim Tauchen im Vierwaldstättersee gefunden hatte. Hier in München bin ich dann in den Hofgarten, Die Maximilianstraße ? Nun sind Sie ja hier auf der Maximilianstraße umgeben von Worldbrands wie Cartier, Chopard oder Bulgari. Hemmerle aber gibt es nur in München. ! Hemmerle gibt es nur in München! Brosche machen kann – zusammen mit einem schönen Stein. Mal sehen, ob da etwas entsteht... ? Dann gehen Sie immer mit einem Notizbuch durch die Welt? habe ein paar graue Steine aufgelesen – wahrscheinlich Isarkiesel – bin damit in die Werkstatt gegangen und habe meine Meister gebeten, einen fantastischen 7-karätigen Kaschmirsaphir in einem weichen Blauton – den ich gerade gekauft hatte – in einen dieser großen Kieselsteine einzusetzen. Mit einer Fassung so grau wie der Kieselstein selbst. Es wurde ein großartiges Stück – und war der Talk der Maastrichter Messe tefaf, wo ja die gehobene Kunstwelt zusammenkommt. So was zu entwerfen, das macht mir Spaß. Ich habe mir jetzt gerade ein paar der geschmiedeten Eisennägel von 1893 rausgelegt, die man beim Umbau unseres alten Ladens aus dem Holz gezogen hatte. Ich überlege, ob ich daraus nicht eine tolle ! Wenn ich durch Museen gehe, habe ich immer mein Skizzenheft dabei. Mal entstehen neue Ideen auch im Gespräch mit Kunden. Hierzu hat mich zum Beispiel eine Kundin angeregt, weil sie gerne etwas im Westernlook suchte. Da hatte ich gerade prähistorische WalrossZähne von einem Inuit auf einer Messe gekauft. Das war ganz spontan gewesen, ohne eine Idee, was ich damit machen wollte. Die habe ich dann der Kundin gezeigt und vorgeschlagen, dass man ein Walross-Zahn-Armband daraus machen könne. Die Zähne wurden untereinander mit Kupferelementen verbunden und diese mit naturfarbenen braunen Brillanten besetzt. Dieses Armband hat unsere Kundschaft tüchtig polarisiert. Die einen sagten: „Das passt gar nicht zu Ihnen, Herr Hemmerle.“ Und andere waren hellauf begeistert. Die Kundin selbst war selig – und danach kamen Anfragen, ob ich nicht noch eins machen könnte. Aber da sind wir dann konsequent. ? Ist diese „kleine Größe“ ein Vorteil oder ein Nachteil? Ein Vorteil, weil man bei Ihnen etwas entdecken kann, was es anderswo nicht gibt – oder ein Nachteil, weil man eine gewisse wirtschaftliche Größe braucht, um bestimmte Qualitätsstandards zu halten? ! Ich sehe darin ausschließlich Vorteile. Ich glaube im Gegenteil, dass wir durch unsere Unternehmensgröße in der Lage sind, kompromisslos bestmögliche Qualität anzufertigen. Sowohl in Ein- und Verkauf als auch im Service können wir sehr schnell reagieren und dadurch auf individuelle Wünsche eingehen. Wenn wir in München sind, besuchen wir täglich unsere Werkstatt und können den Entstehungsprozess eines jeden Schmuckstücks begleiten. Dort werden vor Ort ausschließlich unsere Stücke produziert – dies ist ein einmaliger Luxus... ? Wirtschaftlich? ! Wirtschaftlich, aber auch aus NachfolgeGründen. Das ist ja kein unanstrengender Beruf, den wir hier machen, denn wir sind ständig unterwegs auf der Suche nach interessanten Materialien und auch bei individuellen Kundengesprächen. Unsere Kunst zu verstehen, vor allem mit unseren seltenen Steinen, ist manchmal ein längerer Prozess. Das Thema „Schmuck als Kapitalanlage“ sehen wir folgendermaßen: Für uns steht mehr die Schönheit und Ästhetik im Vordergrund. Aber wir achten dennoch unglaublich darauf, dass auch eine hohe Wertigkeit in den Stücken steckt. Das macht sowohl das Design als auch die Fertigung erst richtig spannend. Ein Beispiel: Aus einem besonders seltenen naturfarbenen dunkelbraunen orangefarbigen Diamanten mit 18 Karat im Kissenschliff habe ich einen schlichten Kupferring designed – nur wenige vermuten, dass der Mittelstein kein Topas, sondern ein Diamant ist. Dies nenne ich tiefstapeln und so etwas macht mir große Freude. ? Ist diese Form des Understatements nicht extrem unmünchnerisch? ! Sehen Sie, nach außen hin wird eine bestimmte Ausprägung der Gesellschaft, Stichwort „Schickeria“, gerne als Teil von München kommuniziert. Meine Erfahrung ist, dass es in dieser Stadt sehr viele, sehr ernsthafte Sammler und Kenner gibt. ? Kommt Ihre puristischästhetische Linie aus einer BauhausPrägung? ! Genau. Ich habe bei einem Bildhauer/ Goldschmied gelernt – einem Schüler von Professor Rickert, der in den 30er Jahren hier in München an der Akademie gelehrt hat. Dieser Goldschmied hat mir das dreidimensionale Sehen beigebracht, weil es bei der Goldschmiedearbeit ja um Kleinplastiken geht, während es beim Silberschmied um das Arbeiten am Korpus geht, was mehr ein bildhauerisches Arbeiten ist. Von ihm habe ich gelernt, dass Goldschmiedearbeiten nicht zu flach sein dürfen, sondern wie eine Skulptur sein müssen. Und – ganz wichtig – er hat mir die Kunst des Weglassens beigebracht. Als ich dann fertiger Goldschmied war, bin ich nach Paris in ein Atelier gegangen, das für Van Cleef & Arpels und Cartier gearbeitet hat. Danach ging´s zu Georg Jensen nach Dänemark. Da habe ich die traditionelle Goldschmiede- und Silberschmiedekunst kennen gelernt. Alle diese Erfahrungen hatten ihren Einfluss auf meinen Schmuckstil. Es dauert ja durchaus lange, bis sich der eigene Stil herausgebildet hat. Edelstein und Eisen spricht ? Wie sind Sie auf die Idee gekommen, das für einen Goldschmied „gewöhnliche“ Metall Eisen in Ihre Kreationen einzuarbeiten? ! Es gibt ja diesen Spruch von 1813 „Gold gab ich für Eisen“, mit dem Prinzessin Marianne von Preußen die Frauen des Landes aufrief, ihr Gold zu spenden, damit die Preußen die Mittel zusammenbekamen, um Napoleon nach seinem missglückten Russlandfeldzug den Rest zu geben. Die Spenderinnen bekamen als Ersatz für ihren Goldschmuck damals einen Ring oder ein Schmuckstück in geschwärztem Eisen. Daraus ist eine ganze Stilrichtung geworden, der so genannte „Berliner Eisenschmuck“. Vor ungefähr 15 Jahren kam ein Sammler zu mir und sagte: Ich bin´s jetzt leid, dass meine Frau immer nur diesen Berliner Eisenschmuck trägt. Entwirf doch mal was, damit sie auch mal was anderes hat. Zu dieser Zeit hatte ich gerade einen naturfarbenen grauen Diamanten gekauft. Einen 7-Karäter – unglaublich schön in der Wirkung und sehr geheimnisvoll in seinem Farbspiel. Und den habe ich in einen schwarz-brünierten Eisenring gesetzt. Das sah unheimlich schön aus und war die Initialzündung für dieses Material. Zuerst konnte sich diese Kundin übrigens damit nicht so recht anfreunden, aber inzwischen liebt sie unsere Ideen. ? Gibt es Materialien, die Sie in Ihrer Werkstatt zusammengebracht haben, obwohl Sie eigentlich gar nicht zusammengehen? ! Ja, Edelstahl und Weißgold lassen sich nicht verlöten, weil sie verschiedene Schmelzpunkte haben. Als wir den ersten Armreif gemacht haben – innen Weißgold, außen Edelstahl... ? ... Wow, das nenne ich echtes Understatement... ! (lacht) Ja genau – das edle Metall auf der Haut und das Unedle außen. Als wir also diesen Armreif machen wollten, waren unsere Goldschmiede zuerst ratlos, weil sie beide Materialien einfach nicht zusammenbringen konnten. Aber dann hat sich unser Werkstattleiter dieser Sache angenommen – ein genialer Mann übrigens – und hat die beiden Materialien mit Lasertechnik verschweißt – höchst aufwändig, aber so konnte der Armreif entstehen. ? Karl Lagerfeld hat einmal zu mir gesagt, es sei für seine Arbeit ganz wichtig, dass seine Handwerker seine Zeichnung richtig verstehen. Sie machen ja sicherlich auch keine technischen Zeichnungen, sondern eher „Anmutungsskizzen“, oder? ! Ja genau. Und mein Team versteht meinen Kugelschreiberstrich ganz vortrefflich. Dadurch aber, dass ich gelernter Goldschmied bin, weiß ich, wo die Grenzen sind. Wobei ich – das muss ich gestehen – gerne bis an die Grenzen des Machbaren gehe. Weil ich nichts langweiliger finde als Stagnation. Aber das ist nicht nur für mich wichtig. Denn, wie kann man junge Menschen besser an einen Beruf binden, als wenn man ihnen immer neue Herausforderungen stellt. Dann geht es bei ihnen nicht mehr um das Materielle, diesen Beruf auszuüben, sondern sie lieben die Herausforderung. Das ist auch der Grund für mich, nicht kommerziell zu denken. Denn wenn ich das täte, wäre ich heute kein so glücklicher Mensch. ? Das ist wohl Berufung. ! Oder so. Wie auch immer: Ich sehe es als eine Leidenschaft an, diesen steinigen Weg zu gehen (lacht von Herzen). • N6 Stefan Hemmerle ist mit seinen Schmuckkunstwerken zu einem Kulturrepräsentanten Münchens geworden. philosophy Seite 18 Fotos: Florian Holzherr Andreas Lukoschik im Gespräch mit James Turrell, der 1943 in Los Angeles geboren wurde und heute zu den bedeutendsten Künstlern der Gegenwart gehört, studierte in Los Angeles Kunst und Kunstgeschichte, Mathematik und Psychologie. Er hielt sich immer fernab von Trends und Moden und nahm sich Zeit, um sein ganz eigenes Verständnis von Kunst und Licht zu entwickeln. So stehen heute gerade seine radikale Beschäftigung mit dem Licht und seine aufwändigen „architektonischen Laboratorien“ einzigartig in der Welt der Kunst da. Zentrum des Lebenswerkes von James Turrell ist der Roden Crater, ein 150 Meter hoher erloschener Vulkan in der Wüste von Arizona, den er seit 1974 zu einem künstlerischen Observatorium umbaut, in dem die verschiedensten Phänomene des Himmelslichts studiert werden können. Anknüpfend an dieses kosmische „Licht-Observatorium“ entstand in diesem Jahr im Kunstmuseum Wolfsburg „The Wolfsburg Project“. Es handelte sich dabei um das größte Ganzfeld Piece, das James Turrell je für ein Museum konzipiert hat: Ein begeh- und erfahrbarer Raum aus Licht. Auf 700 qm Fläche und mit 11 m Höhe entstanden zwei ineinander gehende Räume – ein Betrachterraum, der so genannte Viewing Space, und ein Erfahrungsraum, der Sensing Space. Beide Räume waren vollkommen leer und wurden mit langsam sich änderndem Farblicht geflutet. Dabei kam neueste Lichttechnologie zum Einsatz. Wer es nicht geschafft hat, im Kunstmuseum Wolfsburg diese wahrlich überwältigende Arbeit Turrells anzuschauen, findet im Zentrum für Internationale Lichtkunst in Unna zwei große Arbeiten von ihm in der ständigen Ausstellung. Vom 13.10. bis 12.12. findet außerdem in der Gagosian Gallery, 17-19 Davies Street, London W1K 3DE, eine Ausstellung mit Arbeiten von James Turrell statt. Im deutschsprachigen Raum wird James Turrell von der Galerie Häusler Contemporary in München und Zürich vertreten. Entering the Painting – Das Bild betreten James Turrell, Bridget’s Bardo Seine Arbeiten sind wohl die elegantesten aller zeitgenössischen Künstler. Elegant, weil er sich keiner Symbole bedient und auch kein symbolisch assoziatives Denken fördern will. Er zeigt keine Gegenstände oder Abbilder und auch keine abstrakten Zeichen. Er zeigt nur eins: Licht. Seine bestechende Logik dabei: „Wenn man weder einen Gegenstand noch ein Bild noch einen zielgerichteten Blick hat, worauf sieht man dann? Man sieht sich selber.“ Eine nette Theorie? Mit „Bridget’s Bardo“ im Kunstmuseum Wolfsburg hat James Turrell nicht nur das größte Lichtprojekt seiner bisherigen Arbeiten geschaffen – immerhin 8500 Kubikmeter flutendes Licht – sondern er hat damit auch die letzten Zweifler überzeugt. Was heißt überzeugt – überwältigt! Den ganzen Sommer über ließ er tagaus tagein Hunderte von Besuchern aus ganz Europa erst Schlange stehen und dann staunen. Denn hier sah man tatsächlich Licht als Gegenstand. Man tauchte ein in einen anfassbaren Raum aus Licht. Man schaute in eine Wand aus Licht, verlor die Orientierung und das Raumgefühl. Farbiges Licht quoll einem entgegen, fiel wie Rauch von oben herab, stand wie eine physische Mauer vor einem. Aber so ist es bei James Turrell: Man kann in seinen Lichträumen die Augen bewegen, ohne dass das Gesehene wie bei einem Nachbild verschwindet. Man schaut und schaut und sieht tatsächlich das, was hinter den eigenen Augen ist. Eine Erfahrung, die nicht esoterisch gemeint ist, und dennoch solche Perspektiven eröffnet. Einfach nur, indem man schaut. Leider ist diese spektakuläre Lichterfahrung nun vorbei. Das Kunstmuseum Wolfsburg zeigt einen anderen Künstler. Aber man kann trotzdem erfahren, was Turrell mit seinen Arbeiten meint. Zum Beispiel in einem Raum ... ganz ohne Licht – im „Dark Space – thought when seen“ im Hannoverschen Sprengel Museum: Ein fast völlig dunkler Raum, dessen Windungen man zunächst nur mit Hilfe eines Geländers betreten kann. Am Ende des dunklen Ganges setzt man sich auf einen Stuhl und schaut ins Dunkel. Erst nach einiger Zeit lässt sich an dem Gesehenen feststellen, ob die Augen geschlossen sind oder offen. So dunkel ist es dort im ersten Augenblick. Und erst viel später stellt man fest, dass der Raum doch nicht ganz dunkel ist, sondern schimmert. Doch da sieht man schon wieder mit den eigenen Augen – ein mildes Licht aus dem Nichts kommend. Wem es weder im Licht noch im Dunkeln dämmert, schaut bei Turrell in den Himmel. In seinen überall auf der Welt errichteten „Skyspaces“. Den größten hat er in Arizona errichtet, in einem erloschenen Vulkan – Roden Crater –, den er sich gekauft hat und seitdem zu einer gigantischen Himmelsbetrachtungsanlage ausbaut. Bei einem Glas von Turrells Lieblingswhiskey „Old Quaker“ sprach Andreas Lukoschik mit James Turrell über seine Erfahrungen und dessen Arbeit. Oder besser gesagt, Turrell begann das Gespräch mit einem bemerkenswerten Hinweis: ! Wussten Sie, dass man vor kurzem im Eis der Antarktis die Whiskeyflaschen gefunden hat, die dort einst Shackleton bei seiner ersten Expedition in einem Unterstand deponiert und zurückgelassen hatte? Er ist immer noch in perfektem Zustand. Das Eis konnte ihm nichts anhaben. Er verändert sich nicht sehr stark in der Flasche. Er ist nicht wie Wein. Und wussten Sie, dass Shackleton Quaker war? Ich mag den Bourbon „Old Quaker“. Meine Frau hat es fertig gebracht, einige Flaschen davon über das Internet zu besorgen, weil ich gesagt hatte, Quaker haben niemals Whiskey gemacht, bis ich die Flaschen sah und gekostet hatte. Jetzt habe ich etwas mehr als drei Flaschen davon zuhause. ? Haben Sie schon mal Whiskey mit echtem Gletschereis gekostet? Es gibt dem Whiskey eine fantastische Note. ! Der beste Weg ist überhaupt kein Eis. (lacht) ? Als ich im Sprengel Museum im „Dark Space“ auf dem Stuhl saß und sich meine Augen an die Dunkelheit anpassten, sah ich hunderte von grafischen Mustern vor meinen offenen Augen auftauchen und ich fragte mich, ob Sie auch so einen Dunkelraum zuhause haben, um sich sozusagen wieder auf Null zu kalibrieren, wenn Sie lange mit farbigem Licht gearbeitet haben. ! Ja natürlich. Es ist für mich die visuelle Ruhe, durch die ich runterkommen kann und wieder zum wesentlichen Punkt finde. In gewisser Weise ist diese Arbeit im Sprengel Museum sehr ähnlich meinen Erinnerungen an meine Kindheit als ich ins Bett zum Schlafen ging. In einem solch dunklen Raum lässt man die Bilder des Tages frei. Das sind alles Nachbilder im eigenen Auge und Gehirn. Es ist wie zu Beginn einer Meditation, wenn alle diese visuellen Informationen hochkommen. Wir müssen sie regelrecht löschen. Diese Art zu sehen ist eine Zwischenform zwischen dem Sehen mit offenen Augen und dem Sehen mit geschlossenen Augen. Sehen Sie, wir haben im Traum volle Sicht trotz geschlossener Augen. Es gibt keine Stimulation der Augen. Es ist nur die Vision, die aus der Vorstellung kommt. Es ist keine Erinnerung, denn oft haben wir Träume, die wir noch niemals zuvor hatten. Manchmal kann es sogar eine Vor-Erinnerung sein wie bei einem Déjà-vu-Erlebnis. Was soviel heißt wie eine Erinnerung an etwas, das noch kommen wird. Ein sehr interessantes Phänomen. Wir wissen um das Licht im Traum. Aber wir neigen dazu, es zu vergessen. Und der Traum verschwindet vom Moment an, da wir aufwachen. James Turrell, Roden Crater, Plaza ? Wenn das Tageslicht kommt, vergessen wir das innere Licht? ! Genau. ? Sie erwähnten gerade Meditation. ! Ja, wir haben die Tradition der Meditation ja auch im Westen. Sie ist zwar traditionell mehr im mönchischen Bereich zuhause aber auch im Judentum, in der Kabbala, finden wir sie. Ich komme aus der Religion der Quaker, die diese Form der Meditation während ihrer Zusammenkünfte ebenfalls pflegen. Im christlichen Glauben folgen wir dieser Tradition weniger, weil das Christentum mehr den Weg des Paulus geht als den des Jakob. Jakob war der Bruder von Christus und war tatsächlich das erste Oberhaupt der Jerusalemer Kirche. ? Jakob? ! Nun, die katholische Kirche spielt das ein wenig runter, weil sie die Bedeutung der Jungfräulichkeit Marias betonen will. Maria hatte mehrere Kinder nach Christus. Wir kennen mindestens vier davon. Sie stehen in der Bibel. Aber alles, was ich sagen will, ist: Meditation ist tatsächlich eine langjährige westliche Tradition. ? Wollen Sie den Betrachtern Ihrer Arbeiten einen Weg zur Meditation eröffnen? ! Nun, das ist ein guter Weg, die Macht des Lichts zu spüren. Aber in einer Arbeit wie dem „Wolfsburg Project“ brauchen Sie nicht zu meditieren, um die Kraft des Lichts zu fühlen. Dort erleben Sie eine überwältigende Präsentation davon. Normalerweise nutzen wir ja Licht, um andere Dinge zu beleuchten. Wir schenken dem Licht selbst eher weniger Aufmerksamkeit. Aber ich liebe die Idee, Licht so zu schätzen, wie wir Gold und Silber schätzen. Ich bin an dieser Dinghaftigkeit des Lichts selbst interessiert. Und genau diese Dinghaftigkeit des Lichts auszuzeichnen, ist das Thema meiner Arbeit. Es plastisch sichtbar zu machen. Zu zeigen, dass Licht ein Material ist. So wie ich Licht als Mittel einsetze, ist es Material, um unsere Wahrnehmung zu beeinflussen. Denn Wahrnehmung hat eine Menge damit zu tun, wie wir die Wirklichkeit erschaffen. Deshalb ist meine Arbeit eine Art von behutsamer Frage, wie wir die Wirklichkeit erschaffen, in der wir leben. Ihr Besuch im „Dark Space“ war übrigens eine gute Vorbereitung auf Wolfsburg. Für mich ist es eine Art Vorbereitung oder VorAufladung. In gewisser Hinsicht war es in Wolfsburg eine Schwierigkeit, dass es dort keinen solchen Platz gab, die Besucher voraufzuladen. Denn das hilft ungemein. ? Sehen Sie sich eigentlich eher als Künstler oder als Naturwissenschaftler? ! Ich sehe meine Arbeit heute mehr als Kunst an als zu der Zeit, in der ich jung war. Ich wollte schon immer mit dem Licht selbst arbeiten. Dabei nutze ich natürlich die Naturwissenschaft, aber als Künstler. Ich denke, dass man mit so einer Arbeit wie dem „Wolfsburg Project“ sehen kann, was ich immer wollte. ? Sind Sie eigentlich zufrieden mit der Arbeit von Florian Holzherr, der alle Ihre letztlich nicht fotografierbaren Arbeiten ablichtet, auch die für unser Magazin? ! Ja sehr. Florian kommt dem Kern meiner Arbeiten sehr nah. Er musste ja erst lernen, das Licht selbst zu fotografieren, und das als Architekturfotograf, der ja sonst Fotos von sehr konkreten Objekten macht. Aber ich denke, er holt das Beste raus, was man kann. ? Sie haben Psychologie und Mathematik studiert. Mich hat die Mathematik bei meinem Psychologiestudium sowohl gelangweilt als auch angestrengt. James Turrell, Roden Crater, Crater’s Eye ! Vielleicht haben Sie ein bisschen mehr Arithmetik gemacht als ich. Ich habe mich um die Boolesche Algebra oder die moderne Fuzzy-Set-Theorie gekümmert. Eine eher elegante Suche nach mathematischen Beweisen. Ein mathematischer Beweis ist dabei dann und nur dann elegant, wenn er einige eindeutige und wirklich wunderbar präzise Schritte hat, um zum „quod erat demonstrandum“ zu kommen. In der Kunst geht es nicht darum, was man macht, sondern um die Eleganz, wie man es ausdrückt. Das ist eine Art von Erscheinung und Einfachheit. Ein ziemlich komplexes Thema. Aber diese Eleganz ist für mich sehr wichtig. Es geht darum, eine Qualität zu erreichen, dass man nicht auf eine Wand sieht, sondern das Licht zwischen den Wänden sieht. Es geht um den Moment der Epiphanie. Nichts hat sich geändert, aber alles ist danach anders. Das ist die Macht, die Kunst hat. ? Wie messen Sie die winzigen Unterschiede in den Lichtintensitäten, die Sie ausgleichen, so dass diese übergangslosen Lichtwände entstehen? Mit Messgeräten? Oder sehen Sie sie durch Ihre eigene Sensibilität? ! Jetzt, nachdem ich genug Arbeiten gemacht habe, sehe ich sie durch meine eigene Sensibilität. Früher musste ich viele unterschiedliche Dinge einstellen. Die größte Veränderung tritt zum Beispiel auf, wenn Sie den Maßstab der Arbeit verändern. Das Licht fällt ja ab mit dem Quadrat der Entfernung. Wenn Sie also die Größe ändern, funktioniert es nicht mehr. Und wenn ich beim Aufbau im Museum versuche, dass eine Installation funktioniert, denkt jeder, ich wüsste genau, was ich tue. Dabei kämpfe ich um die Lösung. Auch bei dem „Wolfsburg Project“ ging es mir so. Heute kann man allerdings sehr raffinierte und delikate Lösungen mit dem Computer und einzeln zu steuernden LEDs erzielen. Davon gab es in Wolfsburg Tausende! Früher habe ich Glühbirnen und Tapes verwendet. Es kam mir vor wie „Bulbs & Bondage“: Mehr Tapes um die Birnen wickeln, damit das Licht weicher wurde. ? Machen Sie diese Computersteuerung selbst oder haben Sie dafür Spezialisten? ! Ich habe zwei Spezialisten. Der eine macht ansonsten die Lightshows bei Broadway Musicals und der andere bei Rock’n’RollKonzerten. Gerade bei Rock’n’Roll-Konzerten gibt es ja oft keine Proben, eben weil es Rock’n’Roll ist. Und deshalb sind die beiden für Echtzeitprogrammierungen exzellent. ? Sind Sie ein Rock’n’Roller? ! Nun, ich mag Rock’n’Roll, aber ansonsten ist meine Arbeit das Gegenteil von Rock’n’Roll. Alles, was ich tue, ist, zu entschleunigen, anstatt Gas zu geben. ? Ein wichtiger Begriff für Ihre Arbeiten ist „Entering the Painting“, also das Bild betreten. Wie meinen Sie das? ! Wenn Sie nach Den Haag oder Luzern fahren, finden Sie dort eines der letzten Panorama-Gemälde. Das war eine sehr interessante Kunstform, die ein Bild sein wollte, aber tatsächlich eine Installation war. Zum Betreten. Als ich mich damit beschäftigte, löste es etwas aus, was ich „Revision meines Denkens“ nenne. Daraus ? Was passierte mit dem „Wolfsburg Project“ nach der Ausstellung? ! Es wurde abgebaut. ? Wie ist das für Sie, wenn eine so großartige Arbeit abgebaut wird und verschwindet? ! Oh, es ist eine Tragödie. (lacht) Aber ich bin an dieses Drama gewöhnt. Das passiert mir ca. sechsmal im Jahr. Nach jeder Ausstellung eben. ? Das ist aber einzigartig, oder? Normalerweise erschafft ein Künstler doch eine Arbeit auf Leinwand oder in Marmor und dann bleibt diese Arbeit für immer im Museum. ! Richard Serra hatte dieses große Objekt „Tilted Arc“ vor einem Bundesgebäude in New York gehabt. Dann entschied die Verwaltung, es abzubauen. Da sagte er, dass er sofort nach Lorem dolor consectEuropa ipsum zöge, wenn sie sit dasamet, machen würde. etur adipisicing elit, sed do eiusmod So sauer war er darüber. Sehen Sie, meine tempor Arbeiten incididunt. kommen und gehen. Jedes Jahr. ? Was bekommt eigentlich ein Sammler, wenn er eine Ihrer Arbeiten kauft? Der große Schweizer Sammler Donald Hess sagte: „Ich kenne James Turrell seit 30 Jahren. Die Kunstwerke, die ich von ihm gekauft habe, waren Bücher mit Farbbeispielen, wie die Wände aussehen würden. Ich hatte neun von diesen Büchern. Und eines Tages hatte ich keine andere Chance als diese Räume zu bauen.“ ! Ja, er sagte: „Verdammt, ich habe nur diese Bücher. Jetzt will ich endlich diese Kunst.“ Und dann baute er diesen fantastischen Skyspace hoch oben in den Bergen Argentiniens, in Colomé, wo er ein Weingut besitzt. Und wir werden auch noch einen bauen im Nappa Valley, wo er ein weiteres fantastisches Weingut hat. Er hat übrigens eine sehr schöne Sammlung von Rothko’s, Baselitz’s und Francis Bacon’s. Ich habe in meinem Leben immer an den Fortschritt geglaubt. Aber jetzt verstehe ich, dass ich eine Kunst mache, die ins Nirgendwo führt. Wenn Sie also das nächste Mal im Nirgendwo sind, werden Sie dort meine Kunst finden. Und mit Nirgendwo meine ich nirgendwo wie Colomé (Argentinien), Bentonville (Arkansas) oder das Chichu Art Museum auf der japanischen Insel Naoshima. Ich hatte immer die Idee, überall auf der Welt Orte zu haben, wo ich die Dämmerung, die ja überall je nach Jahreszeit unterschiedlich lang ist, beobachten kann. Ich habe jetzt einen in Tasmanien, einen am Kap der Guten Hoffnung und einen in Norwegen, wo ich jetzt hinfahre, um mit dem Polarlicht zu arbeiten. Sie sehen: Ich bin der Typ mit der Kunst in the Middle of Nowhere! (lacht aus vollem Herzen) • N6 James Turrell verkörpert mit seiner Kunst einen Stil, den Nachmann Rechtsanwälte sehr schätzen, nämlich nach Lösungen zu suchen, die in ihrer Klarheit elegant sind. Sein exklusiver Fotograf, Florian Holzherr, ist seit langen Jahren Mandant von Nachmann Rechtsanwälte. James Turrell, Roden Crater, East Portal resultiert die Arbeit, die ich mache. Es ist das Betreten eines Bildes, das mehr aus dem Schauen kommt als aus der Skulptur. Denn meine Räume sind hypothetische Räume, allerdings in drei Dimensionen. Deshalb sind es eher Malräume oder Räume, die plastisch gemacht worden sind, als Ersatz von Räumen, wie man sie bei der Bildhauerei schafft. Bei meinen Arbeiten möchte ich, dass man das Licht fühlen kann, als ob man es berühren könnte. Als etwas, das einen physisch beeinflusst. Fast körperlich. In das man eintauchen kann. Man ist nicht länger außerhalb, sondern mittendrin. Der Anfang zu diesem Bildverständnis kam mit diesen Leuten, die die Dioramas und Panoramas gemalt haben. Es ist wie die imaginären Räume in unseren Träumen. Ich erschaffe sie in meinen Arbeiten – betretbare Visionen. Seite 30 Der mini malist Ein Jungs-Gespräch mit Dr. Wolfgang Armbrecht, General Director Brand Management Mini, über das erste Auto im Leben eines Mannes, den legendären Mini, seine Fahrerinnen und Fahrer und die Lust an der Ökologie. ? Herr Armbrecht, Sie waren ja auch mal achtzehn und haben sich Ihr erstes Auto zugelegt. Was für eine Marke war das? ! Kraftfahrzeuge fand ich schon weit vor dem achtzehnten Lebensjahr gut. Mit etwa zehn lenkte ich zum ersten Mal ein Auto. Es war ein Mercedes 190 D und ich saß auf dem Schoß meines Vaters. Richtig selbst Fahren habe ich mit etwa zwölf Jahren auf einem alten Normag-Traktor gelernt. Wir lebten damals auf dem Land und auf den Wiesen und Feldwegen ging so etwas... Mit achtzehn bekam ich mein erstes eigenes Automobil, einen Volkswagen 1200 in Orange. Ein tolles Auto! Nur im Winter war es manchmal schwierig. Die Heizung hatte so ihre Launen. Oft vereisten die Scheiben innen. Dann fuhr man mit nur einer Hand und kratzte mit der anderen. Und wenn es den Kratzer nicht gab, dann musste die Hülle einer Musikkassette herhalten. ? Sie hatten einen Kassettenrekorder im Auto? Davon habe ich mit achtzehn nur geträumt! Illustration: Peteris Lidaka my munich ! Ja, der Kassettenrekorder war damals wichtiger als das Radio. Ein guter Sound gehörte einfach zum Fahren dazu. Heute ist der Rekorder zwar ein mp3-Player. Sonst aber hat sich in punkto Sound nicht viel geändert. Die Krönung war ein 1302 S. Mit immerhin 50 PS. ? Gigantisch. Da war ja dem Geschwindigkeitsrausch Tür und Tor geöffnet. ! (lacht) Ja und wie! Bis es einen Punkt in Flensburg gab. Dann war es vorbei mit dem Rausch. ? Hatten Sie auch mal ein Cabrio? ! Ja, aber erst viel später. Cabriolets passten damals noch nicht in mein Budget. Beim Stahlschiebedach war Ende. Immerhin war das ja auch schon mal was. ? Danach sind Sie auf bmw umgestiegen? ! bmw gab es schon recht früh. Denn neben dem Auto lief, zumindest im Sommer, ein Zweirad. Am Anfang war es ein Moped, eine Hercules K 50, dann ein Oldtimer, eine wunderbare nsu Fox, Viertakt, mit 98 cm3. An diesem Motorrad habe ich sehr viel über Motoren gelernt. Mein Vater, ein Landtierarzt, hat mir da viel gezeigt. Später dann kam die erste bmw, eine bmw R 90/6. Dieses Motorrad war ein echter Traum. Halb Europa haben wir mit der R 90/6 bereist. Später stieg ich auf die Sportversion, die bmw R 90 S, um. Das war noch einmal ein ordentlicher Sprung. Immerhin lag die Nsu Fox bei etwa 6 PS und die R 90 S bei knapp unter 70 PS. Sie war original in Orange und hatte eine kleine Sportverkleidung. Das war Anfang der achtziger Jahre und während meines Studiums. Eine tolle Zeit! ? Und jetzt fahren Sie einen Mini. Ist das Motorradfahren für Feiglinge? ! (lacht laut) Nein, nein, wirklich nicht! Mini ist einfach ein starkes Statement. Ein tolles Design, ein außergewöhnliches Fahrerlebnis und zudem ein klares Signal, die Zeichen der Zeit erkannt zu haben. Nehmen Sie etwa den Mini John Cooper Works. Das ist angenehmes Understatement, Technik und Wertigkeit vom Feinsten, 211 PS und die Fahrdynamik eines Sportwagens. Gleichwohl bleibt es ein Mini, dem man bis in jedes Detail die Leidenschaft seiner Kreateure anmerkt. John Cooper hatte bereits Ende der 50er Jahre das sportliche Potenzial des Minis entdeckt und dieses dann immer wieder sehr pfiffig, etwa über den mini Cooper, ausgebaut. Ursprünglich war der mini ja nicht als ein Automobil für den Sport geplant. Es sollte ein gutes Auto für die breite Masse werden. Sir Alec Issigonis, der später dafür geadelte Chefkonstrukteur, sah im mini die Antwort auf die Energiekrise in den Fünfzigern. Er wollte vor allem eines, nämlich möglichst viel Platz auf möglichst wenig Raum und das bei günstigem Unterhalt. Issigonis‘ Credo hieß „Creative Use of Space“ und führte zu einer Revolution im Fahrzeugbau, dem erstmals quer eingebauten Motor. Dadurch konnte er, wie wir sagen, das Package optimieren, also eine Karosserieanordnung hinbekommen, die einfach mehr Platz im Innenraum bot. ? Was war so kompliziert daran, den Motor quer einzubauen? ! Nichts. Es hatte zuvor nur keiner daran gedacht, den Motor um 90 Grad zu drehen. Konvention war bis dato der Motorenverbau in Reihe, vom Fahrgastraum in Richtung Kühlerspitze und darüber dann eine schöne lange Motorhaube. Mit dem Querverbau war der mini das erste Fahrzeug und der Wegbereiter dieser Bauart. Gleichzeitig rutschten die Räder ganz weit nach außen. Wir nennen das das Ein-Rad-an-jeder-Ecke-Prinzip. Dazu entstanden absolut kurze Überhänge, die wiederum zum mini-typischen Fahrverhalten, dem Gokart-Feeling, führten. mini-typisch ist aber auch, um beim Exterieur zu bleiben, die steiler gestellte Windschutzscheibe. Wir behalten auch sie bis heute bei, weil sie dem Fahrzeug einfach einen attraktiveren Auftritt gibt. Nur so bleibt der mini ein „Face in the Crowd“ und unterscheidet sich von anderen Kleinwagen. Es sind also kleine, aber wichtige Feinheiten außen wie innen, die den mini zu etwas Besonderem machen. ! Es sind auf jeden Fall Menschen, die etwas fahren wollen, das unterscheidet. Etwas, durch das man sich aus dem Meer eher gleichförmiger Fahrzeuge abheben kann. Dazu möchte der Kunde sein ganz persönliches Automobil konfigurieren können: in Farbe, Materialität und sonstiger Ausstattung. miniKunden sind im Durchschnitt zwischen 35 und 45 Jahre alt. Sie sind Singles oder in jungen Familien und sie sind selbstbewusst, kommunikationsstark und vertreten engagiert ihre Meinung. Zudem haben sie ein gutes Gespür dafür, was angesagt ist und was kommt. mini-Kunden erkennen und setzen Trends. Sie arbeiten häufig in den kreativen Nischen der Gesellschaft, etwa in Agenturen oder im Medienbereich oder sie sind im freiberuflichen, aber auch im künstlerischen Umfeld unterwegs. Wir pflegen ein enges Verhältnis zur mini-Community. Denn genauso aktiv wie hier über Gegenwart und Zukunft gesprochen wird, wird über Automobile diskutiert, und das wird uns oft genug über unsere Online-Plattformen direkt mitgeteilt. Wie gesagt: mini-Kunden sind sehr aktiv, und das ist für uns eine große Chance. Ein anderes Beispiel: Wir bringen im Herbst den neuen mini Countryman auf den Markt – der erste mini mit vier Türen, vier Metern Länge und Allradoption. Neu im Interieur ist ebenfalls eine multifunktionale Schiene, in die man vom Cupholder oder Brillenetui bis zum iPhone verschiedene Features einklipsen kann. Nun haben wir dazu einen kleinen Wettbewerb auf unserer Community-Page ausgeschrieben. Thema: Schlagt uns vor, was Ihr dort installieren würdet. Bisher sind mehr als 800 richtig gute Vorschläge gekommen inklusive skurrilwitziger Dinge wie etwa einen Hundenapf für den mitfahrenden Vierbeiner. Anlässlich des Pariser Automobilsalons im Oktober prämieren wir die besten Vorschläge und setzen sie dann um. Noch ein Beispiel: Unser aktueller Jahreskalender minimalism zum Thema Nachhaltigkeit und mini ist ausschließlich von Community-Membern gestaltet worden. Das alles sind Chancen, aber natürlich auch Risiken. Denn, was immer wir tun, muss glaubwürdig sein. Wo Erwartungen geweckt werden, ist diesen zu entsprechen. In Summe ist das aber auch gut. Denn wir machen ja Produkte für unsere Kunden. Marketing ist insofern tatsächlich Führung vom Markt her. Eine schöne Aufgabe, vor allem mit einer anspruchsvollen Klientel. ? Und was passiert dann mit diesem Feedback? ? Das muss für Sie als Markenchef ja geradezu ein Vergnügen sein? ! Es fließt etwa in unsere Produktentwicklung mit ein. Oder wir nutzen das Feedback für neue Angebotsvorschläge, zum Beispiel die Gestaltung des mini-Dachs. Wer heute ein besonderes Dach-Design möchte, kann dies selbst gestalten. Der Vorschlag geht dann über die Community-Page an den Handel und von dort via spezieller Folien direkt aufs mini-Dach. Eine tolle Form der Individualisierung. Der gesamte Prozess ist das Ergebnis immer wieder geäußerter Kundenwünsche. ! Entscheidend ist, zu verstehen, wie hier kommuniziert wird und wie hier soziale Beziehungen entstehen. Die elektronischen Medien und vor allem die sozialen Netze bieten sicher den Vorteil, einfach direkter und enger mit Menschen verbunden zu sein. Wir bedienen im Wesentlichen Facebook, Twitter und YouTube. Dazu kommt noch die mini Space, unsere eigene Plattform. Direkter und enger heißt aber auch, schneller zu sein. Wenn wir Kommentare oder Anfragen nicht kurzfristig beantworten, werden wir im Netz ? Liebt der mini-Fahrer solche Feinheiten? Oder anders gefragt, gibt es eine Charakterisierung der Menschen, die mini fahren? regelrecht niedergemacht. Wobei ich das nicht weiter verwunderlich finde. Denn wer etwas wissen will und sich an uns wendet, hat eine Antwort zu bekommen. Wie oft versickert heute Kundenkommunikation im Cyberspace? Das Netz arbeitet hier gegen den gelegentlichen Vorwurf der Arroganz großer Organisationen. Es zwingt quasi zu neuer Verbindlichkeit, und das ist, positiv verstanden, eine enorme Chance. ? Ist der mini vielleicht selbst ein fahrbares soziales Netzwerk? ! Ja, in gewisser Weise schon. Immerhin bewegen sich auf unseren Plattformen etwa 500 000 an mini interessierte Menschen. Stellen Sie sich nur vor, jeder zweite würde über die Zeit zu einem Kunden. Fahrbar ist das Netz im Übrigen auch. Die mini-Community schätzt Vernetzung überaus. Und deshalb wird es ab der Modellüberarbeitung im Herbst in allen minis mini Connected geben. Das ist Facebook im mini. Das ist Webradio im mini – übrigens als erster Hersteller überhaupt. Und das ist „Text-to-Speech“, das Vorlesen von Nachrichten oder E-Mails im Auto. ? Der mini-Mensch will ja offensichtlich mehr von seiner Marke. Wie steht er denn zur Ökologie? ! Etwa ein Drittel der mini-Community sind sogenannte lohas, also Menschen, denen ein „Lifestyle of Health and Sustainability“ wichtig ist. Themen der Nachhaltigkeit spielen hier eine besondere Rolle, auch im Feld der Mobilität. Speziell dieser Klientel bieten wir unter dem Begriff minimalism Technologien an, durch die ökologischen Bedürfnissen entsprochen werden kann. minimalism heißt, mit möglichst wenig möglichst viel zu erreichen. Darum ging es beim mini von Anfang an, denken wir nur an das erwähnte Credo vom „Creative Use of Space“. minimalism ist aber auch Motorentechnik. So bieten wir den mini Cooper Diesel mit 110 PS, einem Verbrauch von 3,9 l auf 100 km und einem CO2-Wert von 104 g an. Technisch geht es da um Start-Stop-Automatik, um BremsenergieRückgewinnung oder um die GangWahlanzeige. In Kürze bieten wir zudem ein speziell ökologisch ausgelegtes Fahrzeug, den mini Minimalist, der insbesondere im CO2Ausstoß noch einmal besser wird. Er kommt unter 100 g. ? Nun haben Sie für Ihre Feldstudie mit dem Elektro-mini ja sogar 600 Autos im Dauertest. Welche Erkenntnisse ergeben sich daraus? ! Durchgeführt wird das Projekt in den USA, in England, in Deutschland und bald auch in Frankreich und sogar in China. Die Fahrzeuge werden in Kundenhand gegeben und insofern unter Alltagsbedingungen erprobt. Wir wollen daraus lernen. Denn nach wie vor gibt es mehr offene Fragen als Antworten. Die ersten Erkenntnisse sind vielversprechend. Kunden, die dieses Fahrzeug länger fahren, unterscheiden zum Beispiel nicht mehr zwischen einem konventionellen und einem elektrisch betriebenen Fahrzeug. Soll heißen, für die meisten Kunden ist der Umstieg kein Problem. Im Durchschnitt fahren die Nutzer zwischen 20 bis 30 km am Tag. Bei einer Reichweite des mini E von je nach Fahrweise 150 bis 180 km sind das gut fünf Tage. Erst danach muss er wieder ans Netz. anzunehmen, nämlich uns mit dem mini e auf dem Nürburgring zu messen. Das Ergebnis lag bei 9.50 min für die gut 20 km lange Distanz der Nürburgring-Nordschleife. Mit einer Spitzengeschwindigkeit von 187 km/h. Das ist Rekord für ein Elektrofahrzeug auf dieser Strecke. Noch läuft der Großversuch, aber wir wissen schon jetzt, dass das ein wichtiger Schritt nach vorne ist. Und wir sind zuversichtlich, dass der mini e einen wichtigen Beitrag leistet. ? So ein Projekt kostet ja richtig Geld? ! Ja, nehmen Sie zum Beispiel die Batterien. Sie können heute vergleichbare Energieträger erwerben für etwa 30 000 Euro pro Einzelstück. Insofern wäre das elektrische Fahren aktuell ein eher aufwändiges Unterfangen. Bliebe es dabei, wäre eMobilität wirtschaftlich nicht sinnvoll darstellbar. Erst der weitere technische Fortschritt und die Durchsetzung auf breiter Front führen zu deutlich niedrigeren Economies of Scale. Dies bedarf weiterer Zeit und erheblicher Anstrengungen von verschiedenster Seite. ? Der ehemalige Sap-Vorstand Shai Agassi ist ja gerade dabei, als Erster weltweit in Israel ein landesweites Netz an Batteriewechselstationen aufzubauen. Ist so etwas für den mini auch im Fokus? ? Wie lange dauert das? ! Mit Kraftstrom bei einer Leitung von 50 Ampere geht das inzwischen zwei bis drei Stunden. Mit normalem Haushaltsstrom dauert es etwa zehn Stunden, geht also über Nacht. Wichtig war uns aber auch, den Fahrspaß zu erhalten. Der mini e beschleunigt in acht Sekunden auf 100 km/h. Das ist doch erstaunlich und hat uns dazu ermutigt, eine noch größere Herausforderung ! Der mini e verfügt derzeit über eine stationäre Batterie, die im Fahrzeug wieder aufgeladen wird. Für den Kunden sollte die Fahrzeugnutzung so einfach wie möglich sein. Was sich letztlich durchsetzt, entscheidet der Markt. Klar ist auch, dass wir vor einem Paradigmenwechsel stehen. Mobilität wird in den nächsten 15 bis 20 Jahren eine grundlegende Veränderung erfahren. ? Das Schöne an Ihrem Feldversuch scheint die Erkenntnis zu sein, dass man auch bei ökologisch rücksichtsvollem Handeln Spaß am Fahren haben kann. Denn der deutsche Mensch neigt ja gerne dazu, anzunehmen, dass Ökologie gleichbedeutend mit mönchischer Enthaltsamkeit ist. ! Ja, ein mini e ist in keiner Weise eine Verzichtserklärung. Das Fahren bereitet genau die Begeisterung, die wir mit allen unseren mini-Produkten vermitteln wollen. ? Werden Sie als Chef der Marke denn auch in Designänderungen gefragt? ! Designvorschläge verantworten die Design-Kollegen. Die letztendliche Entscheidung hat dann das Managementboard. Wir sind aber bei jeder Entscheidung mit einbezogen. Denn als Markenmanagement sind wir die Anwälte für Kunde und Markt und vermitteln Anregungen oder Vorstellungen aus Sicht der mini-Community. ? Dann können Sie mir ja sicherlich die Frage beantworten, wie knuddelig der mini sein muss, um bei Frauen anzukommen und wie rasant, damit die Herren ihn auch fahren wollen? Die Fotos zeigen die Eröffnung von Xiao Hui Wangs Ausstellung „2010 Dream Plan”, die sie zusammen mit Tausenden von jungen Chinesen als interaktives Projekt anlässlich der Weltausstellung in Shanghai gestaltet hat. Die Ausstellung fand im Shanghai Sculpture Museum statt und wurde von bmw mini gesponsert. ! Der mini muss in der Tat auf jeden Fall freundlich sein und ein wenig lächeln. Es geht hier zwar um ein Produkt. Für viele mini-Freunde ist da aber ein wenig mehr, eine Art emotionale Beziehung. Wir haben letztes Jahr zum fünfzigsten Geburtstag des mini Kunden befragt, was denn der mini für sie sei. Da kam zum Beispiel: Unser mini ist das Familienmitglied, das in der Garage wohnt. mini-Design muss also in der Lage sein, eine emotionale Beziehung aufzubauen einerseits durch die Form und andererseits durch das Material. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Es ist aber auch ein Teil des Geheimnisses des Erfolgs. Der mini ist „like a Friend“. Das gilt für alle miniModelle. ? Wenn Sie dann neue Entwürfe sehen, woher wissen Sie, dass die auch tatsächlich diesen Nerv treffen? ! Das ist Know-how und subjektives Empfinden. Gefühl! Dazu kommt die Rückkopplung mit der mini-Community. Wir stellen erste Concept Cars zum Beispiel auf Messen, auf Community-Treffen vor und hören dann zu. Medien, Blogs oder miniFans äußern sich zuverlässig. Wir bekommen auch hier Feedback, ob etwas funktioniert oder nicht. Das werten wir dann kritisch aus. Wie gut die Formensprache eines Produktes tatsächlich ist, zeigt sich zudem oft erst nach Jahren. Dann aber auch richtig und mit der großen Chance, ein echter Klassiker zu werden. ? Gelingt Ihnen das auch mit dem aktuellen mini? ! Letztes Jahr haben wir den fünfzigsten Geburtstag des minis gefeiert mit 25 000 Community-Membern in Silverstone in England. Das war wie ein großes Familienfest mit mini-Clubs aus aller Welt. Allein 1300 classic minis waren dabei und über 2000 neue minis. Wir hatten Motorsport, die mini-Challenge und Paul Weller mit einem Konzert. Es war eine tolle Atmosphäre. Und wenn man dann sieht, wie mini-Freunde miteinander, aber auch mit ihren minis umgehen, dann kann ich nur sagen: mini ist schon etwas ganz Besonderes. Die Marke hat Mythos-Qualität. ? Auch für das aktuelle Programm? ! Ja, das gilt auch für das aktuelle Programm. ? Sie haben letztes Jahr auf einer Oldtimer Rallye einen mini mit der Werksnummer zwei gefahren... ! ... ein besonderes Erlebnis. Speziell die allerersten minis aus dem Jahr 1959 sind faszinierend pur. Da ist außer dem Speedometer nicht viel mehr drin. Es gibt keine Irritationen. Da ist nichts zu verwechseln. Sie haben lediglich drei Schalter zur Bedienung. In diesem Fahrzeug konzentriert sich alles auf allein eines, das Fahren. In gewisser Weise ist das MobilitätsWellness. ? Aber ein bisschen laut, oder? ! ... fürs Telefonieren bei 80 km/h vielleicht nicht immer geeignet. In solchen Fahrzeugen möchte ich aber den Motor hören. Das Abrollgeräusch darf da sein. Ich möchte auch die Straße ein Stück weit spüren. Für mich ist der classic mini kein Sofa auf Rädern, sondern ein authentisches Erlebnis. ? Holen Sie sich aus diesen miniKlassikern noch die eine oder andere Inspiration? ! Wenn wir mal nicht mehr weiterkommen, nehmen wir am Original Maß. Der classic mini ist der Ursprung. Manchmal ist es gut, den Kopf auf diese Weise freizuräumen und dann noch einmal von vorne anzufangen. Gleichzeitig ist dies ein wichtiger Weg, um Bewährtes in die Zukunft zu transferieren und so die Konsistenz der Marke über die Jahre zu entwickeln. ! Ich fahre einen mini Clubman, John Cooper Works, in British Racing Green. ? Und Ihre Frau? ! Einen mini Cabrio. ? Da stellt sich natürlich auch eine betriebswirtschaftliche Frage. Die vielen kleinen Design-Spielereien in individualistischster Mannigfaltigkeit müssen ja alle produziert werden und das kostet natürlich eine Menge Geld. Die erste Zeit hat der mini deswegen wohl nicht soooo viel Geld verdient. Verdient er inzwischen? ! Keine Frage! Der mini ist profitabel. Rein rechnerisch kommen wir mit etwa 220 000 verkauften Autos aus dem Jahr 2009 in die Größenordnung eines daxUnternehmens. ? Okay, darüber denken wir jetzt alle nach, was das wohl bedeuten könnte. Und Sie als Marketing-Chef in diesem latenten dax-Bau haben deswegen auch keine Angst mit einem einzigen Autotyp in der heutigen Autowelt zwischen den Großen zerrieben zu werden? ! Wieso ein einziges Fahrzeugmodell? Ich sehe da sechs Modelle. Mit dem mini Hatch haben wir angefangen. Das ist sozusagen der Kern-mini. Dann haben wir sehr schnell den mini Cabrio gebracht. Und dann den mini Clubman. Jetzt steht der mini Countryman an, mit vier Türen, Allradoption und vier Metern Länge, dazu die etwas höhere Sitzposition. Auf der letzten IAA standen Konzepte zu mini Coupé und mini Roadster. Für beide Fahrzeuge gab es grünes Licht. Sie werden in Kürze kommen. ? Aber Sie persönlich fahren nur einen? ? Und Ihre Tochter? ! Einen mini Hatch. ? Haben Sie neben den drei minis auch ein Langstreckenfahrzeug in Ihrer Garage? ! Ja natürlich meinen mini Clubman! Wir fahren damit zum Beispiel in die Ferien… ? Dann fahren Sie aber mit zwei Autos in den Urlaub. Oder? In einem fahren die Koffer mit und in dem anderen die Familie. ! Sie wissen wohl nicht, was in einen mini Clubman alles reingeht. Dieser mini ist für meine Frau und mich ideal. Zudem haben wir einen Hund und Gepäck haben wir auch. ? Das verbindet dann den Clubman mit dem Ferrari? ! Vielleicht. Mit einem Augenzwinkern würde ich sagen, nehmen wir doch einmal die Liter-Leistung. Da ist der mini Clubmann John Cooper Works auf jeden Fall auf Augenhöhe. ? Nun denn, dann lassen wir das mal so stehen: Das Thema, nicht das Auto! • N6 Mit Dr. Armbrecht teilen Nachmann Rechtsanwälte die Liebe zur Oper, die sie wie BMW und MINI sponsern – jeder in seiner Größenordnung. my bavaria Seite 40 Professor Hanns Hatt Immer Der Nase Nach Ein Gespräch über die Erforschung der ältesten und emotionalsten Sinnesqualität, des Geruchssinns, mit Prof. Dr.rer.nat., Dr.med., Dr.med. habil. Hanns Hatt. Er zählt weltweit zu den bedeutendsten Geruchsforschern, wurde im Jahr 2004 für den Nobelpreis in Medizin nominiert und wird allgemein als Riechpapst angesehen. Auf Riechpapst steht er eigentlich nicht so, weil ihm das viel zu pathetisch klingt. Aber mit einem Achselzucken erträgt er es, wenn ihn andere auf diesen Thron hieven. Nicht ganz zu Unrecht. Denn er hat seit vielen Jahren die Nase vorn, wenn es darum geht, im internationalen Wettbewerb der Universitäten die Geheimnisse des Riechens zu ergründen. So war Professor Hatt weltweit der Erste, dem es gelang, aus einem der 350 Gene, die für Riechrezeptoren zuständig sind, einen Riechrezeptor real entstehen zu lassen und an ihm nachzuweisen, welchen Duft er erkennen kann. Und zwar nicht bei irgendwelchen Ratten, sondern beim Menschen. Zu allem Überfluss gelang ihm diese Pioniertat sogar gleich zweimal hintereinander: Hatt und sein Institut fanden die Riechrezeptoren für „frische Meeresbrise“ (Helional) und „Maiglöckchen“ (Cyclamal). Eine wissenschaftliche Sensation. Nicht Made in USA, sondern Made in Germany. Genauer gesagt, Made in Bochum, denn dort lehrt und forscht der Bayer Hanns Hatt seit 1992. Deshalb liegt mir zu Beginn unserer Unterhaltung die Frage auf der Zunge, ob er sich inzwischen an die nordrheinwestfälische Umgebung gewöhnt habe. Die Antwort gibt mir denn auch gleich zu denken: „Wenn Sie aus dem Fenster schauen, dann sehen Sie an diesen wunderbar grünen Feldern und Wäldern, dass es schlimmere Orte als Bochum auf der Welt gibt. Aber am Wochenende waren wieder einmal bayerische Freunde bei mir und da kam schon eine gewisse Wehmut auf. Auf der anderen Seite: Wissenschaftlich gibt es keinen besseren Ort als die Ruhr-Universität Bochum. Ich habe schon so viele Angebote zu wechseln bekommen, aber keines war auch nur annähernd vergleichbar mit den Bedingungen hier. Wir haben Platz für 60 Mitarbeiter und das Budget, um die besten Geräte zu kaufen. Das ist absolut perfekt. Das Münchner Ministerium dagegen denkt zum Beispiel, dass es allein eine Gnade ist, in dieser wundervollen Stadt sein zu dürfen, weshalb es meint, dass es sich für ihre Forscher nicht besonders engagieren muss.” Dazu sei angemerkt, dass Prof. Dr. Dr. Dr. Hatt seine erste Professur an der Münchner TU innehatte und weiß, wovon er spricht. Das bedeutet wohl, so die Erkenntnis des Berichterstatters, dass die gute bayerische Erkenntnis: „Wer ko, der ko!“ auf nordrheinwestfälisch heißen müsste: „Wer Hatt, der hat!“ Themenwechsel. Ich will von ihm wissen, ob man sagen kann, dass er eine „Schlüsselloch-Wissenschaft“ betreibe. Er schenkt mir einen ratlosen amüsierten Blick. Ich präzisiere: „Sie befassen sich doch mit Rezeptoren, die zusammen mit dem passenden Duft nach dem Schlüssel-SchlossPrinzip wie Schlüssellöcher funktionieren und eine neuronale Informationsleitung in Gang setzen, die wir als Duftwahrnehmung registrieren.“ Lachend antwortet er: „Richtig! Wobei wir als Alleinstellungsmerkmal in der Riechforschung versuchen, die Breite vom Molekül bis zur Wahrnehmung abzudecken. Es gibt ja viele Forscher, die nur wissen wollen, welcher Rezeptor welches Molekül riecht. Das würde uns aber nicht befriedigen. Wir kommen eher von der Anwendungsseite her und verfolgen von der physiologischen Reaktion schrittweise den Weg bis zum auslösenden Molekül zurück. Zum Beispiel die Frage: Wie kann man bei einer Tumorerkrankung der Prostata therapeutisch in die zellulären Prozesse eingreifen? In diesem Fall vergleichen wir tumoröses mit gesundem Prostatagewebe und entlang eines steigenden Gradienten dieses Duftstoffes zu dessen Quelle, dem zu befruchtenden Ei, vordringen können. Chemotaxis nennt man diesen Vorgang. Und Professor Hatt fand heraus, wie er funktioniert, nämlich über den Duft des Maiglöckchens. Darüber hinaus entdeckten die Forscher, dass es für jeden menschlichen Riechrezeptor nicht nur einen Aktivator gibt, sondern auch einen blockierenden Duft, sozusagen einen Antiduft. Einem solchen Blockierer des Maiglöckchenduftes wurden im nächsten Schritt die Spermien ausgesetzt, wodurch unter den Spermien sofort große Ratlosigkeit ausbrach. Keiner wusste mehr wohin. Wer Woody Allens Film „Was Sie schon immer über Sex wissen wollten“ gesehen hat, kann sich diese Situation gut vorstellen. Wie auch immer. Erneut hatte Professor Hatt einen völlig neuen Weg aufgezeigt. In diesem Fall zum Thema Kontrazeption, der nun von anderen Einrichtungen weiter verfolgt wird. Beim Thema Geschlechteranziehung liefern Düfte übrigens nicht nur bei der Befruchtung höchst unterhaltsame Einsichten, sondern auch bereits im Vorfeld, also dann, wenn sich Männer und Frauen kennen lernen. Der Mensch denkt, die Nase lenkt! So entscheiden Frauen auf olfaktorischer Basis, ob sie einen Mann sympathisch oder sexy finden. Im Sympathiefall riecht er nämlich eher wie ein männliches Mitglied ihrer eigenen Familie, also Bruder oder Vater. Findet sie ihn dagegen attraktiv, muss er vollkommen anders riechen als ihre eigene Familie. Denn der Eigengeruch eines Menschen hängt unabhängig vom Geschlecht mit seiner Genausstattung, genauer gesagt, mit seinem Immunsystem zusammen. Anderer Geruch heißt andere Immunabwehr. Und wenn sich zwei unterschiedliche Illustration: Peteris Lidaka und untersuchen, ob im tumorösen Prostatagewebe die Riechrezeptoren verändert sind. Wenn das der Fall ist, sagen wir: Das ist der Riechrezeptor, der uns interessiert. Als nächsten Schritt erzeugen wir diesen Rezeptor aus dem menschlichen Genom heraus und versuchen, in einem langwierigen Prozess herauszufinden, welchen Stoff er riechen kann. Wenn wir das wissen, nehmen wir Prostatazellen und prüfen, ob sie auf diesen Duft reagieren und was physiologisch genau in den Zellen passiert, zum Beispiel, welche Signalwege aktiviert werden, oder ob sie sich vielleicht nicht mehr teilen oder was auch immer der Duft bewirkt. So sind wir übrigens tatsächlich vorgegangen und haben in den Prostatazellen einen Riechrezeptor gefunden, der auch in der Nase vorkommt und der durch Veilchenduft aktiviert wird. In der Prostata macht er allerdings etwas Besonderes, er unterdrückt das Zellwachstum. Er stoppt also die Proliferation der Zellen. Die erste Serie der Tierexperimente ist inzwischen abgeschlossen und es gibt erste Hinweise, dass die Möglichkeit existiert, das Wachstum von tumorösem Prostatagewebe nicht nur im Reagenzglas durch Veilchenduft zu stoppen, sondern auch in vivo, also im Lebewesen. Wir müssen jetzt eine zweite Serie starten und wenn die ebenfalls positiv verläuft, worauf einiges hindeutet, dann können die Versuche am Menschen beginnen. Aber das können wir nicht mehr selbst leisten, sondern das delegieren wir an spezialisierte Institutionen.“ Mit dieser eher ganzheitlich zu nennenden Vorgehensweise hat Professor Hatt viele Zusammenhänge entdeckt, die auf den ersten Blick unglaublich wirken. So fand er heraus, dass menschliche Spermien ebenfalls über einen Riechrezeptor aus der Nase verfügen und zwar für den Duft Bourgeonal, eine Komponente des synthetischen Maiglöckchenduftes. Das weibliche Ei verströmt einen chemisch verwandten Duft, damit sich die Spermien in ihrer dunklen Umgebung zurechtfinden Immunabwehren zusammentun, kommen dabei widerstandsfähigere Kinder heraus. Dieser Orientierungsmechanismus wirkte nicht nur in der Steinzeit, sondern wirkt bis heute. Ob wir wollen oder nicht! Aber nicht nur das. Frauen, die auf der Suche nach einem Partner sind, bevorzugen immer Männer, die in ihrem Körpergeruch unterschiedlich zu ihrem eigenen sind. Vorausgesetzt die Frau nimmt nicht die Pille. Doch dazu später. Während der Schwangerschaft ändert sich die weibliche Duftpräferenz. Die Frau fühlt sich dann mehr zu Männern hingezogen, die so ähnlich wie sie selber oder ihre eigene Familie riechen. Denn jetzt ist Brutpflege und Aufzucht angesagt. Und dabei ist auf die eigene Familie meist mehr Verlass als auf zeitweise zeugungswillige Vertreter des männlichen Geschlechts. Einen Vorgang, den man mit Fug und Recht Sinneswandel nennen kann und den man als Hinweis deuten kann, dass Frauen eigentlich zwei Männer brauchen: einen für die Zeugung (fremder Geruch) und einen für die Aufzucht (vertrauter Geruch). Gemeinhin stößt dieser Gedanke in der Damenwelt auf nicht uninteressiertes Nicken. Wenn nicht, kann das etwas mit der Pille zu tun haben. Die Pille ist ja eine hormonell induzierte, künstliche Schwangerschaft, während der die Frau lieber Männer riecht, die duften wie ihre eigenen Familienmitglieder. Doch was passiert, wenn sie ihren Ehemann kennen und lieben gelernt hat, während sie bereits die Pille nahm? Und was geschieht, wenn sie nun die Pille absetzt? Riecht ihr Mann dann noch hinreichend attraktiv für eine Zeugung? Oder will sie einen ganz anderen Geruch und Mann? Nun, die Gefahr besteht zumindest und zeigt, ... nein, nicht wie kompliziert die Frauen sind, sondern wie Düfte uns an der Nase herumführen. Zumindest wenn wir nichts über sie wissen. Riechforschung dient also der intellektuellen Emanzipation bei Frauen und Männern. Deshalb noch ein interessantes Detail zur weiblichen Riechleistung, die wir Männer besser kennen sollten: Frauen riechen, wenn ihr Mann Angst hat. Ein Blindvergleich von zwei T-Shirts, von denen der Liebste eines trug, als er Bungee gesprungen ist, und das andere, als er sich eine Komödie im Fernsehen angeschaut hatte, konnten alle (!) befragten Frauen richtig zuordnen. Meine Herren, versuchen Sie deshalb nicht, Ihrer Frau den großen Helden vorzugaukeln, wenn Ihnen tatsächlich das Herz in die Hose gerutscht ist. Die Gemahlin riecht den Braten. In diesem Fall falscher Hase. Diese Faktenlage nährt die Vermutung, dass Frauen besser riechen können als Männer. Dazu Professor Hatt: „Das stimmt nicht, zumindest nicht physiologisch. Eher mehr psychologisch. Jeder Mensch hat in seinen Genen die gleiche Anzahl Riechrezeptoren. Jeder kann also gleich gut riechen. Wenn einer dennoch eine bessere Geruchswahrnehmung hat, liegt es immer daran, dass Er oder Sie mehr trainieren. Frauen scheinen sich traditionell mehr mit duftenden Dingen beschäftigt zu haben. Zum Beispiel beim Kochen, mit den Blumen im Garten, Parfüms, den schönen Sachen im Leben sozusagen. Sie hatten dadurch beim Thema Duft mehr Erfahrung. Jetzt machen sie den gleichen Quatsch mit, den wir Männer auch machen, weshalb sie sich im Riechen den Leistungen der Männer angleichen.“ Interessanterweise wird bei jedem Menschen übrigens hauptsächlich ein Nasenloch benutzt, so dass man von rechtsund linksnasigen Typen sprechen kann. Untersuchungen zeigen, dass rechtsnasige Zeitgenossen ca. 80% des Tages das rechte Nasenloch nutzen und nur zu 20% das linke Nasenloch. Und umgekehrt. Und wie beeinflussen Polypen die Riechleistung? „Wenn jemand eine krumme Nasenscheidewand hat oder eben Polypen,“ so Professor Hatt, „dann kann er in der Tat nicht so gut riechen wie andere, weil er dann weniger Luft aufnehmen kann. Denn nur 10% der Luft, die man einatmet, kommt durch die Nase an die Riechschleimhaut. 90% gehen direkt in die Lunge. Und auch da gibt es ganz neue Erkenntnisse. Es gibt nämlich Düfte, die gar nicht über die Nase wirken, sondern über die Lunge. Sie kommen von da ins Blut und kursieren dann im Körper. Man kann zum Beispiel nachweisen, dass viele Duftstoffe nach 10 bis 15 Minuten im Blut erscheinen.“ „Was wir in diesem Bereich vor kurzem zeigen konnten“, fährt der Professor fort, „ist, dass ein jasminähnlicher Duft im Gehirn wie Valium wirkt. Wir konnten nachweisen, dass der Wirkmechanismus dieses Duftmoleküls im Gehirn exakt der Gleiche ist wie der von Benzodiazepinen oder Barbituraten. Er setzt nämlich an den GABA–Rezeptoren an, den Schlafrezeptoren im Gehirn. In dem Mäuseexperiment sind die Mäuse in wenigen Minuten eingeschlafen, wenn man ihnen den Duft in die Käfige gegeben hat. Und zwar nicht, weil sie ihn durch die Nase gerochen haben, sondern weil sie ihn inhaliert haben. Diese Wirkweise der Düfte über die Atmung und Inhalation wird oft in der Forschung vernachlässigt. Nicht unbedingt in der Praxis, wenn man sich die Aromatherapie anschaut.“ Wie sieht es denn mit den von uns allen am meisten eingesetzten Düften, den Parfüms, aus? Die entfalten ihre Wirkung ja erst so richtig auf der Haut? „Richtig. Aber unsere Forschung zeigt, dass wir überall Riechrezeptoren haben, nicht nur in den Riechzellen der Nase, sondern zum Beispiel auch in den Zellen der Haut. Und wir wissen noch nicht, was diese Riechrezeptoren da machen. Also welche Reaktion sie im Organismus auslösen. Über die Beispiele Tumorregulation in der Prostata und Chemotaxis bei Spermien haben wir ja gesehen, dass Riechrezeptoren teilweise Zusammenhänge steuern, die uns bis zu ihrer Erforschung völlig unbekannt waren. Ähnlichen Überraschungen können wir bei den Riechrezeptoren in der Haut begegnen. Solange keine genaueren Forschungsergebnisse vorliegen, würde ich mir selbst keine hochkonzentrierten reinen Parfümdüfte auf die Haut sprühen.“ Stellt sich die Frage, wohin man denn dann seine duftigen Essenzen applizieren soll? Dahin, wo es auch der Gentleman-Großvater immer hingesprüht hat, auf das Taschentuch oder Hemd. Denn merke: Nicht alles, was die Alten wussten, ist grundsätzlich obsolet. Das Thema Riechen am wenigsten. Da nickt Professor Hatt und fügt lachend hinzu: „30 Jahre lang hat sich kein Mensch für dieses Thema interessiert. Bei Physiologenkongressen war meist der letzte Tag, an dem alle schon auf dem Heimweg waren, überschrieben mit „andere Sinne”. Und da durfte man dann vor fast leeren Reihen seine Ergebnisse zu Geschmack und Geruch vortragen. Inzwischen ist für diese Sinne aber ein richtiger Hype ausgebrochen. Weil viel Nachholbedarf herrscht. Und weil in den USA einige sehr große Labore, die sich vorher mit Sehen beschäftigt haben, umgestiegen sind auf Riechen oder Schmecken, wie Charles Zuker, der vom berühmten Sehforscher zum berühmten Schmeckforscher geworden ist.“ Nomen est omen! „Außerdem kommt inzwischen auch die Industrie darauf, dass es mit dem Riechen ein Sinnesorgan gibt, das noch nicht hinreichend ausgeschöpft ist. Es gibt ja Unternehmen, die sich inzwischen einen eigenen Corporate Scent zugelegt haben. Singapore Airlines zum Beispiel. Aber nicht nur im Marketingbereich werden Düfte gezielt eingesetzt. Auch und besonders im emotionalen Bereich, im Wellness-Segment und im Aufmerksamkeitsbereich. So hat man zum Beispiel Düfte in Schulen eingesetzt und bei mehreren Hundert Schülern die Auswirkungen auf Konzentrationsfähigkeit, Wohlbefinden und Lernen wissenschaftlich sehr seriös untersucht. Die Daten zu dieser duften Schule sehen überzeugend aus (siehe auch http://dufteschule.de). Dabei wurden nicht nur die Konzentrations- und Lernleistungen der Kinder besser, sondern es hat den Kindern auch mehr Spaß gemacht, da zu lernen, wo es angenehm nach Orangen, Zitronen und Lavendel roch. Wir sind übrigens auch an einigen solcher Projekten beteiligt und tragen durch Kooperationen mit Firmen bei, indem wir Hunderte von Duftstoffen durchscreenen, um die wirkungsvollsten für sie herauszufiltern.“ Woran man sieht, dass der Ausdruck Naseweis nicht unbedingt von Etwas-weißmachen kommen muss, sondern von Wissen. Zum Schluss will ich vom Riechpapst noch einen konkreten Ratschlag für die trüben Tage des Herbstes wissen. Was tun, wenn sich bald die trüben Schleier des Novembers über uns senken? Professor Hanns Hatt wäre nicht er selbst, wenn er nicht auch darauf eine Antwort wüsste: „Bergamotte ist ein wahrer Lichtbringer für trübe Stunden in nebligen Tagen. Es hilft gegen depressive Verstimmungen und wirkt angstlösend. Wem das nicht reicht, der greife zu Muskatellersalbei mit seiner leicht euphorisierenden Wirkung oder zu Neroli aus der Bitterorangenblüte. Lauter Begleiter, um etwas beschwingter durch düstere Novembertage zu wandeln. Doch verwenden Sie diese Düfte nur in milder Verdünnung. Sonst sind sie nicht stimmungsaufhellend, sondern bereiten Kopfschmerzen.“ Dufte dieser Doc! Halt: Doc Doc Doc – so viel Zeit muss sein. Wer mehr zu diesem Thema erfahren möchte, dem sei das Buch „Niemand riecht so gut wie du: Die geheimen Botschaften der Düfte“ empfohlen. Autoren: Unser Professor Hanns Hatt und die Wissenschaftsredakteurin Regine Dee. Ein genial unterhaltsames Taschenbuch mit höchst Interessantem aus der Welt der Düfte. 9,95 Euro bei Piper • N6 Professor Hanns Hatt hat mit seiner Forschung völlig neue Türen aufgestoßen, wie es auch Nachmann Rechtsanwälte mit ihrer Arbeit anstreben. nachmann project Seite 48 Fotos: Hans-Günther Kaufmann Saugut Ein Gespräch mit Karl Ludwig Schweisfurth, dem Begründer der ökologischen Landwirtschaft auf Gut Herrmannsdorf, über das Essen und Gegessenwerden, die Kunst der Bodenhaftung und darüber, warum wir uns mehr Gedanken über Gott und die Welt machen sollten. ? Herr Schweisfurth, in Ihrem ersten Leben waren Sie Europas größter, erfolgreichster und innovativster Fleischproduzent. Mit dem Slogan „Wenn´s um die Wurst geht“ war Ihr Unternehmen Herta unangefochten die Nummer 1. Mit 54 Jahren haben Sie dann nicht nur gewagt, alles nochmal in Frage zu stellen, sondern Sie haben auch den Mut besessen, vor sich selber einzugestehen, dass Sie Ihren Beruf ganz anders machen müssten. Was ist passiert, damit Sie vom SAUlus zum Paulus wurden? ! Um bei Ihrem Bild zu bleiben: Es gab nicht das Schlüsselerlebnis auf dem Weg nach Damaskus. Das war ein längerer Prozess. Wann der begann, weiß ich nicht. Vielleicht begann er schon als ich 25 Jahre alt war und die Schlachthöfe von Chicago gesehen und dort gearbeitet hatte. Vielleicht ist mir da der Virus bereits unter die Haut gegangen. Aber mit 25 hat mich ganz etwas anderes beeindruckt, nämlich die technische Perfektion, die Fließbänder, die Größe. Die andere Seite, das, was mit den Menschen an den Fließbändern passiert und was mit den Tieren, hatte eine längere Inkubationszeit, bis sie mich umtrieb. Dafür aber umso nachhaltiger. Angestoßen auch durch sehr kritische Fragen von meinen Kindern, nicht speziell zu den Tieren oder meinen Fabriken, sondern eher: „Papa, wie lebst du eigentlich? Immer schneller? Immer größer? Immer mehr? Und hier noch ne Fabrik in Südamerika? Und hier noch eine in Äthiopien? Macht das denn Sinn?“ Die haben mir richtig den Spiegel vorgehalten. Anfangs war ich natürlich ärgerlich. Da rackert man von früh bis spät und dann stellen einen die eigenen Kinder in Frage! Denn die hatten mir sehr deutlich gesagt: „Nee Papa, wir führen Herta nicht weiter. Wir haben andere Vorstellungen!“ Das hat dazu geführt, dass ich genauer hingeguckt habe. Und da kamen dann Zweifel. Sehen Sie, als Metzger ist es mein Beruf, Tiere zu töten, damit die Menschen, die Fleisch essen wollen, Fleisch essen können. Da redet zwar keiner so gern drüber, aber es ist so. Und so habe ich sehr genau hingeguckt und gespürt: Du kommst mit dem, was du hier tust, vom rechten Weg ab. ? Wozu eine gewisse Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber gehört? ! Richtig. Und dann waren wir in unserer jährlichen Fastenkur, wo man ja bekanntlich nicht nur den Bauch leer macht, sondern auch den Kopf, damit Stille eintrete. Und wo man den ganzen Müll, den man durch das Alltagsgeschäft im Kopf hat, wegwirft. In dieser Fastenzeit war es eines Morgens so, dass ich aufgewacht bin und meiner Frau gesagt habe, „Dorothee, ich habe eine Idee!“ Ich erzählte sie ihr und fing an zu schreiben und zu schreiben und zu schreiben. Nicht weil ich gerne schreibe, sondern um – ganz wörtlich – auszudrücken, was ich im Kopf hatte. Ich sagte zu ihr: „Ich bin ganz sicher, dass wir diesen neuen Weg gehen. Aber dazu muss ich mich erst von meinem großen Laden trennen.“ Neun Monate später hatte ich das Kapitel Herta beendet. ? Weil die Firma Nestlé Ihr Unternehmen gekauft hatte? ! Ja, aber meine Mitarbeiter haben das nicht verstanden. Warum verlässt uns der Alte? Denn Herta war ein ganz persönlich geführtes Unternehmen. Und ich war als Unternehmer immer präsent. Ganz unmittelbar. Meine Entscheidung konnte die ganze Branche natürlich nicht verstehen. Wie so oft in meinem Unternehmerleben. Denken Sie nur an das Projekt „Kunst geht in die Fabrik“ mit Joseph Beuys. Aber wenn ich denen genau erklärt hätte, was ich vorhatte, hätten die mich für komplett verrückt erklärt. Über dem neuen Anfang standen nämlich drei Worte: Das erste war „ökologisch“. Das hatte ich von meinen Kindern gelernt. Ich wusste ja nicht, was Ökologie war. 1985 war das was für Spinner. Das zweite Wort war „handwerklich“. Ich bin als Metzger sehr handwerklich geprägt. Ich wollte wieder verwirklichen, was ich als junger Mann mit 18 gelernt hatte: die Warmfleischtechnologie, das heißt, die Tiere selber schlachten und aus dem noch warmen Fleisch Wurst machen. Richtig von Hand. Und die dritte Säule war „regional“. Ich wollte nicht mehr global, nicht mehr national sein. Meine neuen Lebensmittel sollte man nicht überall kaufen können, sondern nur hier in der Region. Ich wollte sie nicht mehr transportieren, weil ich sie sonst verpacken musste. Dafür muss man sehr viel aufwenden für Transporte, Kühlung und Verpackung. All das wollte ich nicht mehr. Ich wollte auch nichts mehr mit dem normalen Lebensmitteleinzelhandel zu tun haben. Also mit dem, was ich heute die „Lidlisierung“ nenne und was die ganze Wirtschaft erfasst hat: Druck, Druck, Druck! Druck auf die Mitarbeiter. Druck auf die Lieferanten. Druck auf die Bauern. Denn sonst kommen die billigen Preise nicht zustande. Dem wollte und will ich mich nicht mehr aussetzen. Deshalb war mir klar: Ich muss selbst zum Verbraucher gehen und ihm erzählen, was ich anders mache. Das kann ich nicht über die Packungen im Regal. Das war nicht leicht. Als ich anfing, haben die Kunden gesagt: „Wieso? Ein Kotelett ist doch ein Kotelett!“ Und da musste ich sagen: „Aber nein lieber Kunde. Es ist wichtig, woher das Kotelett kommt. Wie das Tier gelebt hat. Was es gefressen hat. Wie es getötet wurde.“ Krone oder Krise der Schöpfung? ? Für die meisten kommt die Wurst nach wie vor aus dem Kühlregal. ! Wir sechs Milliarden Menschen sind von zwanzig Milliarden landwirtschaftlich genutzten Tieren umgeben, die bis in die jüngste Zeit unter uns waren. Wir konnten sie sehen und anfassen, als Zug- und Nutztiere. Heute sind die Tiere hinter den Toren der hochintensiven Land- und Tierwirtschaft verschwunden. Und damit auch unsere Beziehung zu ihnen als Mitgeschöpfe für die wir Verantwortung haben, wenn wir sie schon töten. Denn wir sollten nicht vergessen: Ehrfurcht vor dem Leben begründet und rechtfertigt unseren moralischen Anspruch als kultivierte Menschen zu gelten. Nur dann dürfen wir darauf bestehen, „Krone der Schöpfung“ zu sein. Tun wir das nicht, sind wir deren Krise. ? Sie haben bei Ihrem neuen Weg damals als Überzeugungsstrategie weniger auf Einsicht, sondern darauf gesetzt, dass Kunden schmecken, wie viel besser das neue Fleisch ist? ! Ja, das ist ganz wichtig. Ich habe nicht das allgemeine Blablabla über Qualität gemacht: „nach Großmutters Rezept“ und all diese Sprüche. Sondern ich habe erzählt, warum wir machen, was wir machen. Immer wieder. Das hatte mit der normalen Werbung gar nichts mehr zu tun. Das war und ist eine andere Art der Kommunikation. Und dabei haben mir die Medien sehr geholfen. Das sage ich auch deutlich. Denn als ich hier anfing, fragten sich alle: Macht der jetzt eine Fleischfabrik auf dem Bauernhof auf? Und ich habe jede Gelegenheit genutzt, wenn mir ein Mikrophon entgegengestreckt wurde, meine Geschichte zu erzählen. Immer und immer wieder. Wissen Sie, wenn die Menschen merken, dass das nicht irgend so ein Werbegequatsche ist, sondern dass wir tun, was wir sagen, dann entsteht für ein Unternehmen Vertrauen. Das ist zwar ein weiter Weg. Aber auch ein unglaubliches Kapital. ? Und macht eine Marke richtig wertvoll? ! Die Marke „Herrmannsdorfer“ ist verbunden mit dem Wort Achtsamkeit. Immer wieder Achtsamkeit. Im Umgang mit dem Boden, mit dem Wasser, mit den Pflanzen, mit den Tieren, mit den Menschen. Mit der Natur, die uns ernährt. Bodenhaftung oder „der Boden auf dem wir stehen“ ? In Ihrem Buch „Tierisch Gut: Vom Essen und Gegessenwerden“ aus dem Westend Verlag erklären Sie den Zusammenhang zwischen moderner, hochtechnisierter Landwirtschaft und Bodenqualität: Je mehr schwere Maschinen auf dem Boden herumfahren, desto mehr wird der Boden durch das Gewicht zusammengestampft. Je mehr Kunstdünger und Pestizide, die beschönigend Pflanzenschutzmittel genannt werden, auf den Boden geworfen werden, desto ärmer wird der Boden an natürlichem Leben. Der Boden wird durch all das weniger porös, es können immer weniger Mikroorganismen darin leben und der Boden kann immer weniger Regen und Kohlendioxid speichern. Kurzum, all das ist nicht „bio-logisch“. Denn das griechische Wort „bio“ heißt ja Leben und „logos“ Wissen wie auch Verstand? ! Wenn regelmäßig die 8 bis 10-jährigen Kinder aus einer der Schulen zu uns in unser „Dorf für Kinder“ kommen, das ich mit sehr großem Aufwand aufgebaut habe und für das ich jetzt eine zweite Schulter vielleicht sogar einen Sponsor suche, wenn die Kinder also in dieses Dorf kommen und dort für eine Woche leben, dann nehme ich sie an einem Nachmittag an die Hand, grabe mit dem Spaten ein Stück Boden aus der Erde und sage: „Kinder, riecht mal. Schaut euch das mal genau an. In dieser Hand voll Boden leben mehr Kleinlebewesen als es Menschen auf der ganzen Erde gibt. Daraus wachsen die Pflanzen, die wir und die Tiere essen. Davon leben wir. Nicht vom Handy. Darauf darf man nicht achtlos rumtrampeln. Darauf darf man keinen Müll werfen. Und kein Gift. Kinder, vergesst das nicht. Erzählt das Papa und Mama.“ Das kapieren Kinder sofort: Dass das das Kostbarste ist, was wir haben. Und das ist wichtig. Denn wenn das nicht mehr da ist, gibt es kein Leben mehr! Unter der Erde nicht – und auf ihr auch nicht! Symbiotische Landwirtschaft ? „Symbiotische Landwirtschaft“ ist ja noch mal etwas anderes als die rein ökologische Landwirtschaft. Was machen Sie da anders? ! Unsere Landwirtschaft ist innerhalb von 200 Jahren zur reinen Monokultur geworden. Ein Feld – eine Frucht, ein Stall – eine Tierart. Immer intensiver. Das hat man im Griff, denkt man. Aber Natur ist keine Monokultur. Natur ist immer ein Miteinander! Als ich mit Anfang 70 alles hier in Herrmannsdorf endgültig und unwiderruflich auf meine Kinder übertragen hatte, wie sich das für einen alten Bauern und Unternehmer gehört, habe ich mich gefragt: „Und was mache ich jetzt?“ Ich muss mir ja für jeden Abschnitt meines Lebens etwas Sinnvolles aussuchen. Ich kann doch nicht meine letzte Lebensphase mit Brötchenholen, Golfspielen und Kreuzfahrten beenden. Also habe ich meinem Sohn Karl gesagt, der Herrmannsdorf leitet: Ich habe euch Kindern jetzt alles übertragen, aber die vier Hektar Land da hinten, da mache ich was ganz Verrücktes und keiner redet mir rein. Und dann habe ich gesagt: Raus mit den Schweinen aus dem Stall auf die Weide. Wenig später hab ich Hühner dazu getan. Mich haben zwar alle für verrückt erklärt, weil die Schweine die Hühner fressen würden. Aber: Nichts derartiges ist passiert. Im Gegenteil. Die Schweine beschützen die ängstlichen Hühner und passen auf, dass Fuchs und Marder ihnen nichts tun. Und die Hühner picken den Schweinen die Schädlinge von der Pelle. Die Schweine wiederum wühlen die Erde auf, aus der die Hühner ihre Würmer holen, die ich ihnen im Stall nicht geben kann. Und dann habe ich die Wiederkäuer dazu gelassen in Form von Schafen. Und dann die Gänse, Perlhühner und Truthähne. Und dann ist mir der Begriff „Symbiose“ aus dem Biologieunterricht eingefallen: „Symbiose – das Miteinander verschiedener Arten zum gegenseitigen Nutzen.“ Ein besseres Leben kann ich den Tieren aus meiner ethischen Verpflichtung den Geschöpfen gegenüber nicht geben als dieses Miteinander in der freien Natur. Und als ich dann die ersten Koteletts gegessen habe vom www.weideschwein – das heißt bei mir Weide Wühlen Würmer –, war das eine Offenbarung. Das war noch auf die Qualität der ökologisch aufgezogenen Tiere oben eins drauf. Und der Beweis, dass man das Gute immer noch besser machen kann. ? Die Offenbarung des Karl Ludwig Schweisfurth? ! Genau. Außerdem war mir klar: Ich mache daraus die „Erste private landwirtschaftliche Versuchsanstalt für eine symbiotische Landwirtschaft“. Ich würde ja keinen Pfennig Geld dafür kriegen von der Politik oder von den Universitäten. Die müssen doch forschen, dass sie noch mehr produzieren. Da geht es nicht um das Geschöpf. Genforschung ist angesagt! Andererseits habe ich keine Zeit in Amtsstuben rumzusitzen, um vielleicht ne Subvention abzukriegen. Also finanziere ich das alles privat und sehe: Da stecken Chancen drin gerade für kleinere Bauern an schlechteren Standorten, die mit der kapitalintensiven Landwirtschaft nicht mehr mitkommen. Denn das gängige Modell lautet ja: Riesenmaschinen, große Felder, Monokulturen, 80 000 Schweine in einer Fabrik. Da kommt der kleine Landwirt nicht mehr mit. Ich habe aber in Russland gesehen, was es bedeutet, wenn es keine Bauern mehr gibt: Dann verlieren wir nämlich den Boden, auf dem wir stehen, unter den Füßen. Ein Schlachtfesthaus Außerdem braucht der kleine Bauer seinen Kollegen Metzger, der sein Schwein nimmt, es achtsam tötet, nach den Hygienevorschriften der Europäischen Union schlachtet, zerlegt und Wurst und Schinken daraus macht. Nur: Es gibt nur noch ca. 28 000 Metzger in unserem Land. Und die sind vom Aussterben bedroht! Deshalb war mir klar: Hier muss etwas geschehen. Also habe ich ein Schlachtfesthaus auf der Höhe der Zeit entwickelt, das alle gesetzlichen Vorschriften erfüllt. Es ist so klein wie möglich und bescheiden in der Verwendung von Technik. Man muss ja nicht zum Räuchern einer Wurst einen prozessgesteuerten Apparat haben. Das kann man auch einfacher haben. Und dann kostet so ein komplettes Haus nicht mal so viel wie ein großer Traktor mit Zubehör. Ich nenne es das Schlachtfesthaus, um an die alte ländliche Kultur des Schlachtfestes anzuknüpfen. Die Menschen auf dem Land, die früher ihre Sau ein Jahr lang gefüttert haben, haben sie doch auch nicht einfach auf einen Lastwagen gehievt und ab zu Südfleisch geschickt. Die haben gesagt: Das Schwein bleibt hier. Das schlachten wir selbst. Und machen daraus ein Fest. ? Herr Schweisfurth, Sie haben sicherlich das Buch „Tiere Essen“ von Jonathan Safran Foer gelesen...? ! In einem Rutsch! Obwohl darin an Daten und Fakten nichts Neues für mich steht. Aber er hat die industrielle Fleischproduktion in einer Weise geschildert, dass es mir an die Nieren gegangen ist. Ich habe deshalb mit meinen 80 Jahren gesagt: Ich beziehe nochmal bewusst Stellung und werde in einem Hotel oder Wirtshaus kein Fleisch, keinen Schinken, keine Wurst und kein Ei mehr anrühren, es sei denn, es ist ökologisch zertifiziert! Und das sagt ein alter Metzger wie ich. ? Sie sind also ein „aushäusiger Vegetarier“ geworden? ! (lacht) Genau das. Irgendwie müssen wir nämlich sehen, dass wir dieses agroindustrielle System verändern, das wir uns in den letzten 50 Jahren zugelegt haben. Dafür setze ich meine Kraft und Energie ein. Nicht um das System zu verändern. Das kann ich mit meinen 80 nicht mehr. Aber um noch einige Leuchttürme zu errichten, mit denen ich den Menschen zeige, dass man alles auch anders machen kann. Mein Buch „Tierisch Gut“ ist sozusagen die Ergänzung zum Buch von Jonathan Safran Foer. Er klagt an. Ich sage: „Hört auf zu jammern, wie schlimm alles ist. Krempelt die Ärmel hoch, spuckt in die Hände und macht das anders.“ Mission is possible In dieser Mission bin ich viel unterwegs. Ich war gerade drei Tage in Polen – für mich eine anstrengende Reise –, um im Norden Polens eine Stiftung beim Aufbau einer symbiotischen Landwirtschaft und beim Bau eines Schlachtfesthauses zu beraten. So wie ich Ende Oktober in der Südsteiermark bin und dort einem Unternehmer helfe, es „richtig zu machen“. Und wie ich in Ägypten beim wundervollen Projekt von Ibrahim Abouleish Sekem war, um auch in einem muslimischen Land einen Leuchtturm zu errichten. Das Projekt in Russland wird jetzt langsam fertig. In Russland! Wo ein Herr Stalin Bauern und Handwerker mit Haut und Haaren ausgerottet hat. Da versuche ich es wieder zurückzubringen: das RichtigBauer-Sein, das Richtig-Metzger-Sein und das Richtig-Bäcker-Sein. Um dort den Menschen zu zeigen, dass man keine Millionen braucht, um es richtig zu machen und wirklich gutes Fleisch von natürlich lebenden Tieren zu bekommen. ? Jeder Hobbykoch weiß, dass eine Speise nur so gut werden kann wie die Lebensmittel, die er hinein tut. Und bei Tieren und deren Ernährung ist das auch so? ! Absolut. Und wenn ich so Fleisch, Schinken und Würste mache, dann brauche ich nicht die tausend Sachen, die klein gedruckt auf den Packungen stehen. Die Erzeugung von Lebens-Mitteln, also Mitteln zum Leben, ist eine Angelegenheit von Menschen für Menschen. Nicht von Apparaten und Maschinen für AutomatenMenschen. Damit stehe ich allerdings ziemlich alleine. Denn Menschen, die wissenschaftlich geprägt sind, wissen gar nicht, wovon ich rede, weil sie meinen, man könne alles messen, zählen, wiegen. Aber je mehr wir meinen, alles entschlüsselt zu haben, um so mehr Geheimnisse tun sich auf. Das Brot der Armen fressen die Tiere der Reichen ? Ihre Einstellung hat die Konsequenz, dass wir alle weniger Fleisch essen sollten? ! Ganz genau! Es ist etwas so Wertvolles und Kostbares, dass man es nur ab und zu genießen sollte. In kleinen Dosen. Denn wenn wir weiterhin so viel Fleisch fressen wie bisher, dann haben wir in 20 Jahren, bei dann 9 Milliarden Menschen auf der Erde wahrscheinlich doppelt so viele landwirtschaftlich genutzte Tiere wie heute – nämlich 40 Milliarden. Und die fressen unsere Erde endgültig kahl. Wir sind dazu ja jetzt schon auf dem besten Wege: Derzeit machen wir den Regenwald kaputt. In Argentinien pflügen wir in der Pampa das Grünland um. In Sibirien auch. Und in Nordamerika haben wir das schon erfolgreich getan. Noch ist ein Großteil der Erde Grünland. Noch! Dort grasen Rinder und essen etwas, was wir nicht essen können. Dafür schenken sie uns Milch und Fleisch. Deshalb müssten wir die Rindviecher eigentlich jeden Morgen aufs Maul küssen. Doch was machen wir? Wir wollen mehr. Statt 4000 Liter Milch sollen es 8000 sein. Deshalb mischen wir zusätzlich Soja in ihr Futter, was eigentlich „Menschenfutter“ ist. Ich habe miterlebt, wie in Brasilien das Grünland umgewandelt wurde in Sojafelder. Innerhalb von drei Jahren, waren die Bauern und Viehhalter verschwunden. Vertrieben, verhungert oder anderswie ruiniert. Da gab´s nur noch Soja. Weil man daraus in Europa und in den USA Viehfutter macht. Dort stopfen wir damit die Rinder voll und die Schweine und Hühner und Enten und Gänse. Und fressen sie nachher auf. Das Brot der Armen da unten fressen die Tiere der Reichen. Glauben wir denn allen Ernstes, dass sich die Menschen da unten das noch lange gefallen lassen? Und ist uns nicht klar, dass die Heerscharen von wiederkäuenden Rindern gigantische Mengen an Treibhausgasen produzieren, während sie unser „Brot“ verdauen und damit kontinuierlich unser Klima verändern? Da müssen wir ganz erheblich umdenken. Ich hoffe immer noch, dass wir die Kurve kriegen. Für mich ist das nicht mehr wichtig. Ich bin 80. Aber für meine Kinder und Enkel hoffe ich das! ein gutes, langes und tapferes Leben. Die Reihenfolge ist dabei egal. ? Würden Sie diese drei Punkte allen Noch-nicht-80-jährigen mit auf den Weg geben? geht in die Fabriken“. Aber als ich dann noch mal ganz von vorne anfangen sollte und es gemacht habe, da merkte ich, wie schwer Umdenken ist, und wie sehr man Sklave seines eigenen Denkens ist. ? Wie wichtig war Ihre Frau dabei? 3 Geheimnisse + 2 ? 80 Jahre, Weitblick und eine Energie, die ihresgleichen sucht. Wie machen Sie das? ! Ganz einfach. Ich habe drei Grundregeln. Die erste ist: „Gute Lebensmittel essen“, in denen noch alles Natürliche drin ist. Zweitens: „In Bewegung bleiben.“ Körperlich und geistig. Diese Reise nach Polen, die sehr beschwerlich war, ist ein Beispiel dafür. Außerdem wandere ich viel. Und geistig nehme ich gerne neue Herausforderungen an. Und das Dritte ist: „In Beziehung bleiben.“ Also sozial bleiben. Ich habe es durch meine Arbeit ja mit jungen Menschen zu tun, die alle im Alter meiner Kinder und Enkel sind. Das sind meine drei Geheimnisse für ! Da kommen noch zwei Sachen dazu. Viertens: „Such dir immer das aus, was deinem Alter gemäß ist.“ Mit 60 hat man eigentlich nichts mehr verloren im „Wettbewerb der Unternehmer“. Mit 80 sowieso nicht. Da denke man lieber über die Zukunft nach. Weil man da einen anderen Überblick hat als mit 20. Plus die Erfahrung eines gelebten Lebens. Mein Vater ist schon mit 64 Jahren gestorben. Ich bin inzwischen 16 Jahre älter als er. Und was konnte ich in diesen 16 Jahren noch alles machen?! ? Ist da inhaltlich vielleicht das Wesentlichere passiert? ! Hmh. Aber immer dem Alter gemäß. Ich möchte nicht die Zeit missen, als ich jung war, ungewöhnliche Dinge tun konnte, und Beuys begegnet bin mit dem Projekt „Kunst ! So etwas geht nur (!) aus einer guten Partnerschaft heraus. Und meine Frau weiß, wie dankbar ich ihr für all das bin. Zum Schluss empfehle ich als kleines Hilfsmittel, damit das Befolgen der vier Geheimnisse gut funktioniert, noch mein fünftes Geheimnis: „Einmal im Jahr fasten.” Zieh dich zurück aus dem ganzen Getriebe und Getriebenwerden. Mach den Bauch leer, denn dann wird auch der Kopf leer. Dann ist da wieder Platz für Neues. • N6 Karl Ludwig Schweisfurth hat seine Vision von einer symbiotischen Landwirtschaft nicht als rosarote Utopiewelt zusammengedichtet, sondern sie unter dem Postulat der wirtschaftlichen Machbarkeit zur nachhaltigen Wirklichkeit werden lassen. Eine Leistung vor der Nachmann Rechtsanwälte den Hut ziehen. my germany Seite 58 Fotos: Hans-Günther Kaufmann Ora et labora et lege Auf eine Pfeife „Early Morning Pipe“ traf unser Autor Andreas Lukoschik den obersten aller Benediktiner, den Abtprimas Dr. Notker Wolf, auf einem Zwischenstopp in München, ehe dieser am nächsten Morgen um sechs wieder in sein Kloster Sant´Anselmo nach Rom weiterflog. Der Abtprimas sprach mit ihm über den Papst, was man am Islam nicht außer Acht lassen sollte, die 68er und was ihn reizt, auch heute noch in einer Rockband zu spielen – mit 70 Jahren! ? Vater Abtprimas, Sie haben beim Eintritt ins Kloster St. Ottilien den Ordensnamen Notker bekommen. Was ist das für ein Name? der Sequenzen erfunden und vertonte seine Gedichte selbst. Er hat auch sehr menschliche Briefe an zwei ausgetretene Mönche geschrieben. All das hat mir gefallen. ! Das war der Name eines Mönchs aus St. Gallen im 9. Jahrhundert. Er war der „Balbulus“ in seinem Kloster, der Stammler und Stotterer. Reden konnte er also nicht so gut, aber er war ein großer Sänger, er war ein Gelehrter, Leiter der Schule, der Bibliothek und des Skriptoriums. Deshalb konnte er vermutlich auch malen, wenn wir an die Buchmalereien denken. Er hat die Gattung ? In der Süddeutschen Zeitung stand über Sie zu lesen: „Es gibt Kirchenleute, die heikle Themen mit sehr viel Diplomatie umschiffen. Und es gibt solche, die gerade bei heiklen Themen ihre Stimme erheben. Zur letzten Sorte gehört Abtprimas Notker Wolf. Er hält mit seiner Meinung nicht zurück, sondern fordert den Disput manchmal geradezu heraus. Er ist unbequem und klar im Wort, selten aber vergreift er sich im Ton. Managern, Gewerkschaftern, Arbeitslosen, ja sogar dem Papst hat der heute 70-jährige Mönch schon die Leviten gelesen. Er verschont keinen und er bricht Tabus.“ (www. sueddeutsche.de/geld/ludwig-erhardmedaille-fuer-geistlichen-derfurchtlose-abt-1.1002694) Fühlen Sie sich damit richtig beschrieben? Benedikt genannt hat. Das dürfte für die Benediktiner doch eine gewisse Wertschätzung ausdrücken. ! Ja – mit einer Ausnahme: Ich habe dem Papst nicht die Leviten gelesen. Aber ich habe sicherlich – was vielleicht für manche Kirchenmänner etwas ungewohnt ist – durchaus mal gesagt: „Ich sehe das anders oder das passt mir nicht recht.“ Ich habe zum Beispiel einmal in einem Interview gesagt: „Ich glaube, der Papst hat Angst vor der individuellen Freiheit des Menschen.“ Das glaube ich wirklich. Er kommt nicht zurande mit dem modernen Freiheitsdrang des Individuums. Er war zu sehr geschockt von der brutalen Art der 68er. Aber auch wenn ihm die Entwicklung unserer Gesellschaft in seiner Haltung Recht gibt, bleibt dennoch für mich die Eigenverantwortlichkeit des Individuums das schönste Geschenk, das Gott uns gegeben hat. Denn wir sind nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen – und nicht eines Papstes oder von sonst jemandem. ? Das sind frische Worte. ! Ich lasse jedem seine Meinung. Unser Papst hat mir auch meine gelassen – was zum Beispiel meine Rockmusik angeht. Als er seinen 75. Geburtstag feierte, war er bei uns in Sant´Anselmo eingeladen. Unser damaliger Rektor spielte Violine und ich die Querflöte. Und so haben wir Renaissanceund Barockmusik bei Tisch vorgetragen. Als ich dann an den Tisch zurückkehrte, lächelte er mich ganz verschmitzt von der Seite an und sagte: „Nicht wahr, Vater Abtprimas, Sie spielen aber auch andere Musik.“ Und darauf sagte ich: „Das kann man wohl sagen. Und wenn Sie wüssten, wie viel Freude es bereitet, mit jungen Menschen Musik zu machen.“ Damit hatten wir das Thema behandelt. (lacht) Haltung und Eigenständigkeit behalte. ? Kann es sein, dass unser Papst einen gewissen Schalk im Nacken hat? ? Hat es denn eine Auswirkung gehabt, dass der damals neue Papst... ! Ja, absolut. Aber ich wollte das nur kurz als Beispiel geben, dass ich mir auch gegenüber dem Papst meine kritische ? Wie ist denn überhaupt das Verhältnis zwischen Ihnen beiden – also nicht menschlich, sondern organisatorisch? Sie sind nicht dem Papst unterstellt, oder? ! Ich bin ihm letzten Ende natürlich unterstellt. Als Katholik und Mönch. Weil er ja das Oberhaupt der Kirche ist. Das ist überhaupt keine Frage. Aber ansonsten läuft alles, was ich als Mönch mit ihm zu tun habe über die Ordenskongregation. Und was die Hochschule Sant´Anselmo betrifft, geht alles über die Studienkongregation. Das ist dasselbe wie hier das Kultusministerium. ! ... Deutscher ist? Nein. ? Nein, nein, sondern dass er sich ! Er ist den Benediktinern sicher zugeneigt. Auch dem Stil, nichts zu übertreiben und den Gottesdienst ins Zentrum zu stellen, was er ja auch immer wieder unterstreicht. Aber ich denke, er hat auch unseren Common Sense. Das hat er selbst im Umgang mit den Muslimen gezeigt. Sie hat er zwar zuerst sehr geärgert, aber eigentlich hat er nur den Common Sense eingefordert. Vielleicht ist das aber auch eine bayerische Tugend, dieses Lebenund-leben-lassen. Was ja nicht heißt Laisserfaire, sondern den anderen herauszufordern: „Du bist mir nicht gleichgültig.“ Kurz und gut, wir verstehen uns von daher gut. Ich halte es im Übrigen mit dem Motto: „Gehe nicht zu deinem Fürst, wenn Du nicht gerufen wirst.“ Das weiß er auch. Aber wenn wir uns sehen, ist das immer sehr schön. Letztes Jahr hat der damalige Bundespräsident Köhler dem Papst Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium in der Sixtinischen Kapelle geschenkt. Ich war – wie üblich – zu spät, weil der Flieger Verspätung hatte. Deshalb saß ich in der letzten Reihe und hatte damit eigentlich die beste Reihe erwischt, weil ich mich richtig gut anlehnen konnte, während die anderen auf unbequemen Stühlen saßen. und ich konnte während des Konzerts die ganze Sixtinische Kapelle auf mich wirken lassen, mit allen wunderbaren Bildern. Es war herrlich! Am Ende des Konzerts gingen der Bundespräsident und der Papst dem Ausgang entgegen. Da sieht er mich hinten in der Ecke, kommt auf mich zu und fragt: „Wie geht´s Vater Abtprimas? Schön, dass Sie da sind.“ Mit einer spontanen, natürlichen Herzlichkeit – das empfand ich einfach liebenswert. Mit dieser Herzlichkeit öffnet er viele Herzen. Ich selbst bin ja kein einfacher Kandidat. So ist ihm das, was die „Süddeutsche“ geschrieben hat, sicherlich zugetragen worden. Es ist sowieso unglaublich was ihm alles zugetragen wird. Ich habe kürzlich in „Il Sole 24 Ore“ ein Interview gegeben, das die unter dem Titel veröffentlicht haben: „Die Kirche muss lernen, die Wahrheit zu sagen.“ Mir hat dann einer aus dem Vatikan gesagt, dass am nächsten Tag mein Interview in allen Büros auf den Tischen lag. „Und“, hab ich ihn gefragt, „hat´s gewirkt?“ Sozusagen als Missionar in eigenen Reihen. (Lacht verschmitzt) ? Wenn man den Benediktinerorden erwähnt, wird ja gerne zitiert „ora et labora“. Aber den dritten Teil vergessen die meisten „et lege“. ! Ja, Lesen – also Fortbilden –, Arbeiten – also Handeln und nicht nur Reden – und etwas Spiritualität. Kann ja alles nicht schaden. ? Sie sind 1968 zum Priester geweiht worden, während die anderen auf den Straßen demonstrierten, um danach den langen Marsch durch die Institutionen zu unternehmen. Ich frage jetzt bewusst provokant: Ist Ihre Entwicklung vom Mönch zum Abtprimas auch ein Marsch durch die Institutionen gewesen? wissen. Die ersten Schauprozesse gegen Christen fanden ja schon 1951 statt. Sie haben also unserer Vätergeneration vorgeworfen, die hätten wissen müssen, was in den Lagern gelaufen ist – und haben es selbst nicht anders gemacht. Das Zweite war, dass sie mir vorschreiben wollten, was Freiheit ist. Da ging ja eine Political Correctness los, die erschütternd war. Man wurde bei Diskussionen niedergeschrien und konnte keine eigene Meinung mehr äußern. Freiheit bedeutete, nur das denken zu dürfen, was die Rädelsführer dachten. Da habe ich mich sofort ausgeklinkt. Da bin ich einfach ein alter Sokratiker. Sokrates ist für mich ein enormes Vorbild – dieser ewig alles hinterfragende Mann. Und der dritte Schock kam – wesentlich später – als dann Schröder und Fischer an die Regierung kamen. Nicht dass ich es ihnen nicht vergönnt hätte. Sie waren ja demokratisch gewählt worden und deshalb hatte das alles seine Ordnung. Aber das Faktum, dass es Leuten, die die Macht haben wollen, tatsächlich gelingt, die Leute so übers Ohr zu hauen, dass sie sie ihnen geben – das hat mich schon erschüttert. ? Sie betonten eben, dass man eine Meinung haben soll. ! Man soll sie haben – aber man muss sie auch sagen dürfen. ? Darf man es heute? ! Ein klares Nein! Zunächst einmal: Ich hatte dasselbe Anliegen wie die Studenten auf den Straßen damals, nämlich die Befreiung aus sämtlicher Bevormundung. Aber was mich erschüttert hat, war, dass sie damals durch die Straßen gerannt sind und „Ho, Ho, Ho Chi Minh“ gerufen haben, obwohl man wissen konnte, wer Ho Chi Minh war. Und man hat Mao-Bibeln verteilt in der Zeit der brutalen, Menschen verachtenden Kulturevolution. Auch das konnte man ! Nein. Nicht alles. ? Was darf man zum Beispiel nicht? ! Ich darf beispielsweise nicht sagen, dass der Islam eine Gefahr werden könnte. Ich darf auch nicht sagen, dass im Koran die Wurzel für Gewaltbereitschaft liegen kann. ? Kann? ! Ja, kann! Damit sie nicht ausbricht, braucht der Koran eine Exegese, die er noch nicht durchgemacht hat. Ich vergleiche das mit der Gewalt im Christentum. Was immer Christen taten, es konnte und kann kein Theologe sagen: „Im Namen der Heiligen Schrift müssen wir gegen Andersgläubige Gewalt anwenden.“ Dagegen ist im Koran veranlagt, dass die Nichtgläubigen Bürger zweiter Klasse sind. Und wenn sie nicht gehorchen, dann kann Gewalt angewendet werden. ? Was mich am Islam massiv stört, ist, wie die Frauen behandelt werden. ! Ja. Es ist nach unseren Vorstellungen ganz sicher unter der Würde der Frau, dass ein Mann mehrere Frauen haben kann. Das entspricht aus meiner Sicht nicht dem christlichen Verständnis von Mann und Frau als Abbilder Gottes im Miteinander. Dann der Zwang zur Verschleierung. Auch das kann ich nicht im Sinne der Würde der Frau verstehen. und – um das auch gleich anzusprechen – die muslimische Verschleierung kann nicht mit dem Gewand einer Ordensfrau gleichgesetzt werden. Es braucht keine christliche Frau den Schleier einer Ordensfrau anzulegen. Und wenn sie in den Orden geht, ist das freiwillig. Der Schleier ist ein Zeichen der freiwilligen Unterwerfung unter Christus. Diesen bedeutsamen Unterschied können Mannheimer Richter aber anscheinend nicht verstehen. Ich meine damit die Richter, die das Ordensgewand einer Nonne gleichgesetzt haben mit der Burka. Es geht ja sogar so weit, dass ich – wenn ich heute mein Brustkreuz trage – damit rechnen muss, angezeigt zu werden, weil ich ein christliches Symbol in der Öffentlichkeit trage. Das empfinde ich als eine Unterdrückung sondergleichen. Es ist auch „politically incorrect“ zu sagen, wie es in 50 Jahren bei uns aussehen könnte. Dann könnte uns nämlich der Muezzin jeden Tag wecken. Denn die Muslime werden in der Mehrzahl sein. Allein schon weil sie mehr Kinder bekommen. Es besteht auch die Gefahr, dass eines Tages sogar die Scharia kommt. Ich möchte damit nicht den Teufel an die Wand malen. Ich schätze die Muslime als gläubige Menschen. Und für mich gibt es immer nur den Dialog. Der muss nicht immer intellektuell erfolgen. Er kann auch existenziell durch das Zusammenleben geschehen – indem man sich im täglichen Leben kennen lernt und merkt, dass die eigenen Vor-Urteile nicht stimmen. Das kann sich aber nur ereignen, wenn nicht ein Imam dasitzt und diese Menschen bewusst abschottet. ? Spielt der Koran dabei eine Rolle? ! Er ist im Islam bei allen Richtungen – von den sehr dogmatischen Wahabiten bis zu fast schon säkularen Richtungen – die totale Autorität. Und damit die totalitäre Autorität, die Norm des individuellen, gesellschaftlichen und politischen Lebens. Das ist das Problem. Ich glaube, wir müssen als Erstes diesen Sachverhalt einfach mal anerkennen. Was ich in unserer Gesellschaft kritisiere, ist dieses ständige Abwiegeln à la: „Die meinen das ja nicht so ernst!“ Nein, die meinen das sehr wohl ernst. Abgesehen davon, dass es eine Verhöhnung eines anderen ist, wenn ich von ihm sage, er meine es nicht so ernst. Wir müssen die Muslime in unserer Gesellschaft ernst nehmen. Und das auch aussprechen dürfen. Denn erst wenn wir es ausgesprochen haben, können wir uns darüber verständigen. Sehen Sie, ich saß vor einiger Zeit mit Ayyub Köhler, dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime, bei einer Diskussion auf dem Podium. Wir haben uns gut verstanden, weil wir uns anerkannt haben. Auch in unserer Verschiedenheit. Am nächsten Morgen begegneten wir uns nochmal am Flughafen und redeten weiter über die gegenseitige Anerkennung und Wertschätzung. Er war auch so freundlich und begleitete mich bis zum Gate – aber am Schluss sagte er mir etwas, was mir zu denken gab. Er sagte: „Aber Recht haben doch wir!“ Ich habe mit ihm natürlich darüber gelacht. Aber ich muss akzeptieren, dass das eine verbreitete Einstellung ist. fundamentalistisch genommen. Ich glaube, die größte Gefahr für den Islam ist nicht der westliche Porno, ist nicht der Materialismus, sondern eine mit einer Exegese beginnende Aufklärung. ? Setzen wir uns für unsere Position zu wenig ein? ! Das ist ein gut gemeinter Schritt. Aber wer bestimmt, wer die Professoren sind? Einer wurde von den eigenen Leuten in Münster bereits abgesägt. Ich nehme zur Zeit mit dem Institut für Philosophie und Mystik in Ghom, einer der heiligen Städte der Schia im Iran, Beziehungen auf. Denn das ist genau die Spezialisierung, die wir auch in Sant´Anselmo haben. Wir wollen damit sehen, was wir an Dialog anstoßen und durchführen können. Ich war letzte Woche in London bei der Jahresversammlung unseres interreligiösen monastischen Dialogs. Da haben zwei muslimische Theologen über die Barmherzigkeit Gottes als Wesensmerkmal Gottes im Koran gesprochen. Das war wunderbar. Da sprach der glaubende Mann und Religionswissenschaftler zugleich. ! Ja. Wir sind alle geprägt von der Aufklärung, auch von Lessing her. Für uns ist jede Religion ein abstraktes Konzept. Und diesen Religionsbegriff projizieren wir auf den Islam und meinen, wir könnten mit seinen Gläubigen genau so einen Dialog führen, wie wir ihn jetzt hier untereinander führen. Für uns ist Religion zu einer Weltanschauung geworden und damit zu einer Theorie. Damit bekommt sie aber auch ein Stück Beliebigkeitscharakter. Ob ich dann ein Platoniker oder Aristoteliker bin, spielt keine so bedeutende Rolle mehr. Es ist alles Philosophie. Und da hat Benedikt XVI. reingestochen. Und zwar meines Erachtens zu Recht. Für mich ist Christentum nicht eine Religion, sondern eine Lebensform. und eine Denkform, die aber aus der Lebensform entspringt – nämlich aus der Botschaft Jesu. Und beim Islam ist gar keine Denkform da – sondern nur die reine Existenzform, weil der Koran auf Handlungsanweisungen ausgerichtet ist. Dazu kommt, dass viele gläubige Muslime den Koran auswendig lernen. Sie lesen ihn naiv – ohne den Wunsch nach Exegese. Ja, für viele ist Exegese sogar eine Verfälschung des Textes, eben weil er durch die Exegese nicht wörtlich genommen wird. Das hat aber etwas von Blindheit. Und ich denke, es fehlt in breitesten Schichten das, was wir Bildung nennen. Deshalb wird der Koran auch so oft ? Jetzt werden bei uns ja Imame an Universitäten ausgebildet. Ist das der richtige Schritt? ? Es gibt also durchaus gute Bestrebungen im Islam, die man guten Herzens unterstützen kann. Wissen wir einfach zu wenig? ! Einerseits wissen wir zu wenig. Andererseits ist es aber – wie gesagt – unsere abstrakte, rationalistische Religionstheorie, die wir auf den Islam übertragen wollen und der er sich entzieht. ? Sie entstammen ja dem Kloster St. Ottilien – in der Nähe von Landsberg –, dessen Schwerpunkt die Missionsarbeit ist. Was sagen Sie aus Ihrer Sicht, was die vordringliche Aufgabe für die christliche Mission ist? ! Schlichtweg die Botschaft Jesu zu verkünden. Ohne jeglichen Zwang. Als Angebot. Und zwar in einer Sprache, die man heute versteht. Das wird kirchlicherseits noch viel mehr Mut brauchen. Denn was sage ich jenen Menschen, die nicht nach den traditionellen Prinzipien der Kirche leben können. Beispielsweise die wiederverheirateten Geschiedenen. Die kann ich doch nicht links liegen lassen. Für die muss ich eine Botschaft haben. Da gibt es bisher noch keine Lösung. Oder was sage ich hier in München den 50 oder 60% Singles? Was sage ich den Kindern in den PatchworkFamilien? Da fehlen uns pastorale Anweisungen noch und nöcher. Damit muss sich die Kirche auseinander setzen – ohne die wesentlichen Prinzipien zu ändern. Aber vielleicht geht es jetzt endlich mal los. Ich habe unlängst mit einem Bischof gesprochen und der sagte mir einige Dinge, die ganz gut klangen. Mal schauen. ? Hat das was mit unserem neuen Papst zu tun? ! Ich denke schon! ? Gehört zur Missionsarbeit auch Ihre Kolumne in „Bild der Frau“? ! Ja natürlich. Es ist das Weitertragen der Botschaft Jesu zum Heil und zur Freude des Menschen. ? Und Freude ist jetzt kein philosophisch-kontemplativ abgehobenes Konzept, sondern darf „Lachen“ bedeuten... ! Natürlich! Jesus hat vermutlich viel gelacht oder geschmunzelt und auch sehr gerne gut gegessen und getrunken. Denn er wurde als Fresser und Säufer gescholten. ? Kommen wir zu Ihrer Musik. Sie spielen Querflöte und E-Gitarre in der Rockband Feedback. Stehen Sie da richtig in Ihrer Kutte auf der Bühne? ! Ja, klar. Sogar mal mit Deep Purple, was sicherlich zu den Highlights meines Lebens gehört. Unter den jungen Menschen zu sein und ihnen zu vermitteln: Es gibt einen Gott, der mag euch. Und das sollt ihr spüren. Das ist sehr, sehr schön. Ich wurde ja von den Musikern der Gruppe Feedback – damals noch als Abt von St. Ottilien – gefragt, ob ich nicht bei ihnen mitspielen wollte. Ich hatte das erst für einen Gag gehalten. Aber im Laufe der Zeit bin ich sehr stark mit der Gruppe verwachsen. Ich habe sie getraut, ihre Kinder getauft und habe auch sehr viele leidvolle Stunden mit ihnen gemeinsam geteilt. Manches Mal, wenn der eine oder andere nicht mehr weiter wusste, dann haben sie mich angerufen und ich habe mich abends in den Wagen gesetzt, bin als „der flitzende Erzabt“ zu ihnen nach Erlangen gefahren, nachts wieder zurück und war in der Früh wieder im Chor gestanden. Das sind die eigentlich wichtigen Dinge, weshalb ich mit ihnen auf der Bühne spiele. ? Es geht also nicht nur um den musikalischen Klang, sondern auch um den Gleichklang der Seelen in Ihrer Band? ! Ja. ? Es gibt in der journalistischen Berichterstattung über Sie zwei unterschiedliche Lieblingslieder. Der „stern“ berichtet, es sei „Highway to Hell“ von AC/DC. Die „Süddeutsche“ schreibt, es sei „Stairway to Heaven“ von Led Zeppelin. Was ist denn jetzt richtig? ! Weder noch, sondern „My best Friend“. der Normandie, gestern in Überlingen, heute in München, morgen in Rom und übermorgen geht´s nach Togo. Sie sind in diesem Jahr 70 geworden und sitzen jetzt hier, rauchen eine Pfeife, was ja auch nicht so gesund ist... ! Das ist sehr gesund. Seelisch! Und damit wirkt sich das körperlich wieder aus. ! Von unserer Band Feedback. Das erste Lied unserer CD Rock my Soul. (In diesem Augenblick klopft´s an der Türe und es wird ein Paket abgegeben, das seinen Lieblingspfeifentabak „Early Morning Pipe“ enthält. Mit großer Freude nimmt er das Paket entgegen.) ? Spielen Sie jetzt als oberster Benediktiner immer noch in der Band mit? ? Das passt ja dramaturgisch hervorragend. Halten Sie sich neben der Pfeife noch anderweitig fit? ! Ja, ja, ich habe jedes Jahr meine vier bis fünf Konzerte. Dieses Jahr haben wir sogar auf dem ökumenischen Kirchentag gespielt. ! Oh ja. Ich mache jeden Morgen meinen Frühsport. Der ist genau durchdacht – vom Kopf bis zu den Füßen. Es ist ein leichtes Training, das auf Beweglichkeit ausgerichtet ist. Manchmal muss ich natürlich den inneren Schweinehund überwinden, aber das Bewusstsein, dass es mir danach gut geht, ? Von? ? Cool! Sie nannten sich eben den „flitzenden Erzabt“. Das klingt realistisch: Vorgestern waren Sie in lässt mich die Übungen doch immer wieder machen. Und dann – Pfarrer Kneipp lässt grüßen – in der Dusche hinterher heiß-kaltheiß-kalt-heiß-kalt. Mir hat ein Internist einmal erklärt, wie sehr das die Arterien und Venen stärkt. Und wie dadurch die Immunabwehr angeregt wird. Die anderen liegen in den Betten, aber ich halte die größten Strapazen aus und grins mir eins. ? Wenn man Sie sieht, unseren Papst und die Kurie dann hat man den Eindruck – um beim Bild des Sports zu bleiben –, dass man in der katholischen Kirche ein Langstreckenläufer sein muss und nicht ein Sprinter. Stimmt das? ! Ja, würde ich schon sagen. Man muss was aushalten können. (Sagt´s mit ernstem Gesicht. Schaut noch mal – und lacht laut auf!) • N6 Dr. Notker Wolf ist als eigenwilliger Denker Vorbild für Nachmann Rechtsanwälte. visions Seite 68 Ideen sind gut – Ideen umsetzen ist besser! ? Herr Dr. Smerling, wissen Sie noch wie Ihre Leidenschaft für die Kunst entstand? ! Durch einen Herrn mit Hut. Als ich mit 18 eine Banklehre machte, besuchte ich die Klee-Ausstellung im Rheinischen Landesmuseum hier in Bonn. In der Ausstellung waren überhaupt keine Besucher – bis auf einen Menschen mit Hut, flankiert von zwei, drei Studenten. Dieser Herr war Joseph Beuys. Ich kannte ihn damals nicht, kam aber mit ihm ins Gespräch und er erklärte mir Paul Klee. Einfach so. Und er eröffnete mir dabei den Wirkungsanspruch der Kunst. Das hat mich sehr fasziniert. Er lud mich danach zu einer Abendveranstaltung ein mit dem Titel „Kreativität = Volksvermögen“. Das war für mich die Initialzündung. Ich weiß nicht, ob ich ohne Beuys zur Kunst gekommen wäre. Ich habe nach der Beuys-Begegnung Betriebswirtschaft studiert und sogar vier Semester Kunstgeschichte angeschlossen, dann aber ein Fernsehvolontariat beim Südwestfunk gemacht. Währenddessen war ich immer von dem Wunsch beseelt, Ausstellungen zu machen und Kunst zu zeigen. Und so habe ich 1986 mit Freunden die Stiftung für Kunst und Kultur e.V. Bonn gegründet, in deren Räumen wir heute sitzen. ? Was hat Sie an der Kunst so fasziniert? ! Die Wirklichkeit der Kunst war eine, die ich zwar erkannte, die sich mir aber ad hoc nicht vollständig erschlossen hat. Ich wollte sie gerne noch besser, tiefer gehender spüren, empfinden, verstehen. Das war der eigentliche Motor: diese Wirklichkeit zu begreifen, den Wirkungsanspruch des Künstlers und dessen Vorstellung von Wirklichkeit. Illustration: Peteris Lidaka Das ist der Claim der Stiftung für Kunst und Kultur e.V. Bonn, dessen Vorsitzender Dr. h.c. Walter Smerling in einem Gespräch mit unserem Autor Andreas Lukoschik über einige der 280 Kunstprojekte spricht, die er in den letzten 25 Jahren realisiert hat. ? Ich war damals mit 20 einer der vielen hundert Studenten in Joseph Beuys` Düsseldorfer Akademieklasse und habe ihn nicht verstanden – ehrlich gesagt. Ich habe mich zwar darum bemüht, aber es waren böhmische Dörfer für mich. Da waren Sie mir offensichtlich weit voraus... ! Halt. Ich habe das auch nicht verstanden, aber ich wollte es verstehen. Was ich begriffen hatte, war diese wunderbare Vorstellung von der Gesellschaft als einer sozialen Skulptur, die sich permanent verändert, die also nicht den festen Aggregatzustand einer normalen Skulptur aus Blei, Plastik oder Holz hat. Mir ist das erst später klar geworden, als ich mich intensiv für meine Filme mit Beuys beschäftigte. Meine Begeisterung für die Kunst bekam weitere Nahrung durch die Begegnungen mit Immendorff, mit dem ich 30 Interviews gemacht habe. Und dann der permanente Dialog mit Anselm Kiefer, mit dem mich seit unserem gemeinsamen Film „Volkszählung“ eine lange Freundschaft verbindet. Sie müssen sich vorstellen, da sagt Ihnen ein Künstler: Ich gehe in die Vergangenheit und in die Zukunft gleichermaßen, um daraus die Sinnlosigkeit des Daseins zu entschlüsseln, mitsamt der Mythologie und der Schuldfrage. Das muss man erst einmal verstehen. Ich denke, ich habe durch diese Dialoge im Sinne des „Learning by Doing“ vielleicht mehr gelernt als durch ein Kunstgeschichtsstudium an der Universität. Zumindest habe ich den Eindruck. ? Wenn Sie einen Film über einen Künstler machen, haben Sie dann vorher ein klares Bild von dem, was er will, oder verstehen Sie ihn eigentlich erst im Dialog? Beim Drehen? MKM Installationsansicht: Markus Lüpertz, Foto: Georg Lukas, Essen ! Wenn Sie einen Film über Hanne Darboven machen, dann müssen Sie Hanne Darboven begriffen haben, sonst können Sie es gleich lassen. „Mein Geheimnis ist, dass ich keins habe“ – ein 45-minütiger Film, den ich das Vergnügen hatte, zwischen 1989 und ’91 mit ihr zu drehen – war ein hochinteressantes Projekt für mich. Ihr Sichtbarmachen von Zeit in räumlicher und bildlicher Hinsicht, in dieser ihr eigenen Schreibweise, das war etwas, was mich schon 1982 auf der documenta 7 sehr, sehr fasziniert hatte. Ich fragte mich: Wie kann das gehen? Als ich dann das erste Mal in ihr Atelier gekommen bin und Hanne mir ihre Blätter zeigte, mir erzählte, wie sie entstanden sind, dabei ihren Anspruch und ihre Besessenheit vermittelte, da war ich noch mehr fasziniert. Und als sie mir schließlich 1985 den „Regenmacher“ zeigte, da war mir klar: Diese Arbeit, die Kunst, Wissenschaft, Politik, Zivilisation über 150 Jahre darstellt, ist so fantastisch, die müssen wir zeigen. Da sagte Hanne nur, „wenn du sie zeigen willst, dann zeig sie“, und wir mieteten einen Raum an und zeigten sie. Eine sehr erfolgreiche Ausstellung. dann wollen Sie Ihre Begeisterung mit anderen teilen und sie ihnen zeigen? ? Wenn Sie also von einer Arbeit oder einem Künstler begeistert sind, ! Ich bin immer sehr gerne nach Salzburg gefahren, habe diese wunderbare ! Ich bin sehr am Dialog interessiert. Ich glaube, dass der Dialog über die Kunst, also über etwas, was man nicht immer sofort versteht, aber verstehen möchte, immer interessanter ist als das, was sowieso alle verstehen. ? Sie sind künstlerischer Leiter der Salzburg Foundation. Was macht die? ? Wie muss man sich einen solchen Prozess vorstellen? Sie haben eine Idee. Dann brauchen Sie erstens das Nicken der Stadtväter und zweitens treiben Sie zur Realisierung den einen oder anderen Euro auf? ! Das ist die falsche Reihenfolge. Sie brauchen zuerst die Künstler, die das Konzept realisieren wollen. Da hatten einige zugesagt, weil ihnen mein Gesamtkonzept plausibel erschien – nämlich eine Stadt im Zeitraum von zehn Jahren mitzugestalten. Wir alle sind ja – wieder nach Josef Beuys´ Modell der Gesellschaft als sozialer Plastik – Mitgestalter am Ganzen. So wie sich Salzburg damals präsentierte, lud die Stadt geradezu ein, Künstler zu holen, um neben dem Bereich der Musik noch eine weitere Säule der Kultur zu etablieren: die zeitgenössische Kunst. Natürlich gab es 2001, als wir das Projekt starteten, das Rupertinum und den wunderbaren Thaddaeus Ropac mit seinen hochkarätigen internationalen Kontakten. Dennoch war zeitgenössische Kunst kein öffentlich greifbares, wirklich präsentes Thema in der Stadt Salzburg. Und ich nehme für mich in Anspruch, einen Beitrag geleistet zu haben, dass es heute ein Thema ist. ? Haben Sie Kiefer als Ersten angesprochen, weil Sie ihn damals schon gut kannten? ? Welche Künstler haben inzwischen mitgemacht? ! In der Reihenfolge wie ihre Arbeiten entstanden: Anselm Kiefer (2002), Mario Merz (2003), Marina Abramovic (2004), Markus Lüpertz (2005), James Turrell (2006), Stephan Balkenhol (2007), Anthony Cragg (2008), Christian Boltanski (2009) und in diesem Jahr ist Jaume Plensa dazugekommen. Joseph Beuys: Infiltration homogen für Konzertflügel 1966, Installationsansicht “60 Jahre. 60 Werke.”, eine Ausstellung der Stiftung für Kunst und Kultur e.V., Berlin 2009 (c) VG Bild-Kunst, Bonn, Foto: Stefan Lucks, Berlin Stadt gesehen, mir die Musik dort angehört. Aber es war so ... bieder. Durch einen Zufall wurde ich gefragt, ob ich mir denn nicht vorstellen könnte, dort etwas zu zeigen. Da habe ich gesagt: „Ja, lassen Sie uns Kunst im öffentlichen Raum machen.“ Und daraus ist die Salzburg Foundation entstanden. ! Nein. In erster Linie bin ich fasziniert von seiner Kunst. Kiefer langweilt mich nie! Zweitens war er ein Künstler, der Erfahrung mit Kunst im öffentlichen Raum hatte. Wenn Sie in einer Stadt wie Salzburg, in der damals sowieso jeder dagegen war, mit öffentlicher Kunst etwas gestalten zu wollen, dann können Sie nicht mit Künstlern starten, die dem öffentlichen Druck nicht standhalten können. Nach immerhin fünf langen Überzeugungsgesprächen kam Anselm Kiefer schließlich nach Salzburg – mit viel Literatur bewaffnet – und ließ die Stadt auf sich wirken. Wenig später suchte er sich den Platz aus, wo er seine Arbeit A.E.I.O.U. Gestalt annehmen lassen wollte. Es war der Furtwänglerplatz an der Kollegienkirche, wo die Salzburger gerne flanieren und damals ihre Hunde ausführten. Ein sehr zentraler Ort, direkt gegenüber dem Festspielhaus. In Kiefers Arbeit muss man ebenso hineingehen wie ins Festspielhaus: Tür auf, Vorhang auf und dann erblickt man das Gemälde „Wach im Zigeunerlager“ mit einem Zitat von Ingeborg Bachmann und gegenüber das Symbol des Wissens: das Buchregal. Jeder Besucher ist frei, den Raum zum „Leben zu erwecken“, wie Anselm Kiefer sagt, und die einzelnen Elemente, die sich mit der menschlichen Existenz zwischen Vergangenheit und Zukunft beschäftigen, miteinander in Beziehung treten zu lassen. Wir hatten ihm damals gesagt: „Du machst die Kunst, wir bringen das Geld und die Genehmigung.“ Der Prozess allerdings, um diese Genehmigung zu bekommen, war bizarr: 23 Sitzungen innerhalb von drei Monaten mit Ausschüssen, Politikern und Gegnern. 23 – in drei Monaten. Wir haben alle nicht mehr geglaubt, dass wir Kiefers Arbeit ein Jahr später eröffnen könnten, weil der Widerstand so massiv war. Und der hat sich dann sogar noch gesteigert. Aber wir haben immer gesagt: „Gebt uns die Chance, das zehn Jahre lang zu machen, und die Salzburger werden beginnen, das Projekt zu lieben.“ Am 9. Oktober 2010 haben wir die bislang neunte Skulptur enthüllt: „Awilda“ von Jaume Plensa, die sich mit der Kraft beschäftigt, die ein einzelner Mensch hat, um die tägliche Geschichte zu gestalten – obwohl natürlich immer gesagt wird, dass das nur große Namen und die hohe Politik leisten könnten. Wie auch immer: Inzwischen kippt die Salzburger Meinung ins Positive. Wir haben damit etwas in Salzburg geschaffen, was es so noch nie gab: Kunstwerke, die sich mit der Stadt auseinander setzen, auf Plätzen, die von den Künstlern ausgewählt wurden – und das ganz ohne öffentliche Mittel, ohne Steuermittel. Das ist weltweit einzigartig! ? Chapeau! Arm in Arm mit der Wirtschaft? ! Mit der Wirtschaft oder mit Privatleuten. Das Phänomen ist ja, dass wir für das Salzburg-Projekt von der österreichischen Wirtschaft vielleicht 10% der Mittel bekommen haben. Der Löwenanteil kam von der Credit Suisse – DEM wesentlichen Anchorsponsor. Ein anderer wichtiger Freund und Förderer der Salzburg Foundation ist Reinhold Würth. ? Wem gehören eigentlich die Kunstwerke? ! Der Salzburg Foundation. ? Und was haben die Sponsoren davon? ! Es geht dabei natürlich um eine gewisse Werbewirkung bei einer gehobenen Klientel. Es hat ja seine Wirkung, wenn die Vertreter der Credit Suisse bei einer 100-Jahr-Feier im Centre Pompidou in Paris feststellen können: „Oh, drei der Künstler, die hier gerade ausgestellt werden, präsentieren wir ja auch in Salzburg!“ Nämlich Boltanski, Cragg und Kiefer. So was schafft Kommunikationsanlässe. Für Sponsoren ist es auch interessant, wenn der Bankvorstand Kunden nach Salzburg zu einem Empfang ins Kiefer-Haus oder in James Turrells sky-space oder zu einem Rundgang zu den Projekten durch die Stadt einladen kann. Die wichtigste Voraussetzung für Sponsoring ist, dass man sich gegenseitig als Team versteht und die Wünsche klar definiert sind. Ebenso wichtig ist, dass ganz klar verabredet ist: Keine Einmischung in die Ausstellung, keine Einmischung in die Konzeption. Das wissen die Sponsoren zwar meistens, aber es ist dennoch eine wesentliche Voraussetzung. ? Sie erwähnten gerade James Turrell. Für das Interview in dieser Ausgabe unseres Magazins habe ich sein „Wolfsburg Project“ erlebt und war von der meditativen Kraft seiner Arbeiten fasziniert. ! Ja, und wenn Sie die Salzburger Arbeit sehen, dann spüren Sie auch den sakralen Charakter. Gehen Sie in die Salzburger Kirchen und schauen Sie sich diese elliptischen Heiligen-Darstellungen an den Decken an. Wenn Sie dann in den skyspace von Turrell gehen, wiederholt sich diese Ellipse in der Decke. Sie sehen dort keine Heiligen, sondern den realen Himmel. Nach einer Weile der Betrachtung verändert sich der Himmel durch Lichteinwirkung und Wolkenbildung und wird zu einem abstrakten Bild. ? Haben das die Salzburger verstanden? ! Sie bieten jetzt – im Rahmen ihrer Tourismus-Arbeit – den „Walk of Modern Art“ an, der immer mehr angenommen wird. Und das ist ein deutliches Zeichen dafür, dass man etwas verstehen will. ? Nun sind Sie ja nicht nur in Salzburg, sondern auch in Duisburg tätig. Als Direktor des Museum Küppersmühle, das mit 5000 qm Ausstellungsfläche ein recht großes Haus ist, und das derzeit sogar noch mit einem Erweiterungsbau von Herzog & de Meuron versehen wird. ! Ja, wir sind in der glücklichen Lage, dass die Freunde dieses Museums, das Sammlerehepaar Sylvia und Ulrich Ströher aus Darmstadt, von der die „zeit” sagt, dass sie von allen deutschen Großsammlern die stillsten sind und die wichtigste Sammlung deutscher Kunst nach 1945 haben, mit uns einen Dauerleihvertrag gemacht haben, der bis 2025 geht. Deshalb kann ich in aller Klarheit sagen: Ohne Sylvia und Ulrich Ströher würde dieses Projekt nicht laufen. Denn sie finanzieren beachtlich viel und stellen uns ihre Sammlung zur Verfügung. ? Herr Dr. Smerling, kann es sein, dass umtriebige Leute wie Sie der Kunstszene suspekt sind? ! Ob ich der Kunstszene suspekt bin, weiß ich nicht. Es gibt dort jedenfalls viele Freunde. Gleichzeitig gibt es auch viele Leute, die mich nicht mögen. Mittlerweile ist es aber so, dass immer mehr Museumskolleginnen und -kollegen nach Kooperationen fragen. Immer mehr Künstlerinnen und Künstler sind erfreut, bei uns ausgestellt zu werden. So hat sich bei sehr vielen die Einstellung zu mir und meiner Arbeit in den letzten zehn Jahren gewandelt. Ich weiß, dass morgen alles wieder anders sein kann. Genau deswegen muss man die Dinge, die man macht, verlässlich und wahrhaftig tun. Man muss zu dem stehen, was man macht und davon überzeugt sein. Authentizität ist sehr wichtig. Dann kann man auch ertragen, dass andere manchmal die eigene Arbeit nicht so toll finden wie man selbst. Aber das ist ja eigentlich auch normal. ? So zu leben, ist aber ein aufreibendes Sein! ! Routine ist viel aufreibender, weil sie furchtbar langweilig ist. Ich finde es schön, wenn man jeden Tag so lebt wie – na ja, vielleicht nicht gleich wie Markus Lüpertz als wär´s der letzte – aber doch so, dass man ihn proaktiv und neu gestaltet. Wir arbeiten jetzt zum Beispiel an einem neuen Projekt: „Kunst und Zeitung“, das wir in Berlin ausstellen werden. Ich bin der festen Überzeugung, dass es ein ganz wichtiges Projekt ist. Dahinter steckt folgende Überlegung: Die Zeitung ist ein wesentlicher Impulsgeber unserer Demokratie. Meinungsvielfalt wäre ohne Zeitung vermutlich nicht denkbar. Um zum Meinungsbildungsprozess beizutragen, soll die Presse so objektiv wie möglich berichten und informieren, aber allein die Auswahl der Nachrichten ist natürlich schon eine Manipulation, weil dadurch Gewichtung entsteht. Dem Rezipienten wird letztlich eine mediale Version der Wirklichkeit an die Hand gegeben – nicht mehr und nicht weniger. Den Medien gegenüber steht der Künstler, der die Wirklichkeit reflektiert und aus seiner Sicht darstellt. Er kreiert damit eine rein subjektive Version von Realität. Ich behaupte nun, dass diese Subjektivität viel authentischer und wahrhaftiger ist als das, was die Medien in vermeintlich objektiver Absicht darstellen können. Denn sie kommt immer nur aus dem Künstler selbst heraus. Vor diesem Hintergrund finde ich es interessant, wie Künstler mit dem Medium Zeitung und der Presse umgegangen sind. Wenn wir die Geschichte aufblättern, dann stellen wir fest, dass es seit dem Beginn der Moderne ab etwa 1870 zahlreiche Künstler gibt, die die Zeitung aus inhaltlichen Gründen in ihr Werk integrieren. Ob sie nun collagieren oder decollagieren wie Braque, Picasso oder Schwitters oder politische Gründe haben wie Heartfield, Hausmann oder Beuys. Oder sie machen Kunst mit den Vorlagen der Massenmedien wie Warhol. Wir können also sagen: Von Cézanne bis Beuys haben wir zehn, fünfzehn Positionen von Künstlern, die in der Vergangenheit das Medium Zeitung aus den verschiedensten Gründen in ihr Werk integriert haben. Soweit der Rückblick – aber wie machen das die zeitgenössischen Künstler? Deshalb wollen wir ergänzend zum historischen Teil etwa 30 Künstler einladen, zum Thema „Kunst und Zeitung“ auf ihre Weise Stellung zu nehmen. Das zeigen wir 2012 im Berliner Martin-Gropius-Bau für drei Monate. Parallel zur Ausstellung wird jeder dieser zeitgenössischen Künstler für einen Tag eine Doppelseite in der Bild-Zeitung bekommen. Das bedeutet, dass an einem einzigen Tag Millionen von Menschen seine Arbeit, seine Auseinandersetzung mit der Presse sehen werden. Das ist grandios. ? Kann man dann sagen, dass 2012 – nach etlichen Jahren Tätigkeit in der Kunst – die Themen des Journalisten Walter Smerling, nämlich Journalismus und Kunst, in einer Ausstellung aufeinander treffen und sich der Kreis schließt? ! Kann man. ? Ist das Zufall? ! Es gibt keine Zufälle. ? Richtig, aber wenn es einem zu-fällt, muss man es auch auffangen. Sonst ist es ein Moment wie jeder andere, der vergeht. ? Bei so viel Initiative und so viel „Kunst der Geldbeschaffung“ – denn das ist ja auch eine Kunst – stellt sich die Frage, wie wählen Sie die Künstler für Ihre Projekte aus? ! In Salzburg war es mir wichtig, dass alle Kunstwerke unabhängig voneinander funktionieren, eine starke Aussage haben und in den verschiedenen Bereichen der öffentlichen Installation angesiedelt werden können – also als Skulptur, als Environment, als Meditationsraum, als sakraler Raum –, aber dennoch insgesamt Interdependenzen aufweisen und ein Beziehungsgeflecht entwickeln. Das macht den „Walk of Modern Art“ interessant. Die Künstler habe ich dabei durchaus subjektiv ausgesucht nach meinen Vorstellungen. Im Museum Küppersmühle achten wir zunächst darauf, bei den Wechselausstellungen einen Kontext zur Sammlung herzustellen. Wenn wir also in der Sammlung Arbeiten von Jörg Immendorff, Stephan Balkenhol, Gerhard Richter, Peter Brüning und anderen haben, dann zeigen wir mit einer Werkschau die gesamte Bandbreite des jeweiligen Künstlers. Wichtig bei der Programmgestaltung ist mir aber auch, diese renommierten Positionen mit denen noch eher unbekannterer Künstler abzuwechseln. ? Wen würden Sie von den jüngeren Künstlern als viel versprechend oder spannend einschätzen? Nicht im Sinne von Marktwert, sondern in Hinsicht auf seine künstlerische Aussage? ! Interessant finde ich – wenn auch nicht unbedingt als jünger einzustufen – den Daniel Richter, und natürlich Neo Rauch, auch Abraham David Christian oder Norbert Schwontkowski. Erwin Wurm ist sehr spannend, auch Brigitte Kowanz und Richard Prince. Harland Miller, ein relativ unbekannter Künstler aus England, finde ich hochinteressant, weil er Literatur und bildende Kunst miteinander verknüpft. Und dann fällt mir noch Katja Pfeiffer ein, die extrem viel versprechend ist. Sie ist zwar meiner Meinung nach noch auf der Suche, aber – wenn sie findet, was sie sucht, und ich glaube, dass sie es findet – wird es spannend werden. • N6 An Dr. Smerlings Arbeit schätzen Nachmann Rechtsanwälte sein Geschick, private und industrielle Gönner der Kunst dafür zu gewinnen, Werke einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Jaume Plensa: Awilda 2010, Foto: Wolfgang Lienbacher, Salzburg ! Für „Kunst und Zeitung“ haben wir rwe als Hauptsponsor und die BildZeitung als Medienpartner. Der Bild-Chef, Kai Diekmann, ist ein großer Gewinn für die Kunstvermittlung. Ohne ihn gäbe es die Popularisierung des Feuilleton vielleicht gar nicht. Mit solchen Freunden arbeiten zu können, macht einfach Spaß! Weil wir gestalten können. Dasselbe hat mich auch am Museum Küppersmühle so gereizt: Wir können gestalten! Wenn man einmal den Kontakt zu einem Sponsor wie Jürgen Großmann hat, dem ceo von rwe, dann kann man den nur überzeugen, wenn man authentisch ist. Überzeugung und Verbindlichkeit sind das A und O. Denn wenn man nicht selbst an sich glaubt – wer soll´s denn dann tun? Und noch etwas ist wichtig: die Nachhaltigkeit. Natürlich sind langfristige Engagements interessanter als einmalige oder kurzzeitige. Kurzzeitiges Engagement bindet keine Kraft und die Sponsoren haben auch nicht so viel davon. Wichtiger ist aus meiner Sicht Sponsoring über lange Perioden. Die SEB Hypothekenbank (früher BFG) hat mit uns 18 Jahre lang zusammengearbeitet, die Deutsche Bank/die Deutsche Bank Stiftung macht es seit 12 Jahren und die Essener National-Bank seit sechs Jahren. my europe Seite 78 Ein Gespräch mit dem Präsidenten von Arte, Dr. Gottfried Langenstein, über gutes Fernsehen, die Vorteile, mit beiden Beinen in zwei verschiedenen Ländern zu stehen, den Fehler der Politik, das Tafelsilber der Mediengesellschaft zu verhökern, die glorreiche Zukunft der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten durch die demografische Herausforderung der Babyboomer und warum wir in der kommerziellen Nutzung kultureller Inhalte noch sehr viel besser werden müssen. ? Wie muss ich Sie als Präsident von Arte und Ritter der Ehrenlegion korrekt anreden? Monsieur le Président-directeur générale? ! Langenstein. Gottfried Langenstein. ? Herr Langenstein, wie fühlt man sich, wenn man der Chef eines Fernsehsenders ist, der bei den führenden Gehirnträgern des Landes als Lichtblick in der Medienlandschaft angesehen wird? Binationalität als Chance ! Ich fühle mich dort sehr wohl – und auch herausgefordert. Denn man hat bei Arte ein Klima, das man in keinem rein deutschen Unternehmen aber auch in keinem rein französischen Unternehmen vorfindet. Eine Hälfte des Arte-Vorstandes ist deutsch, die andere französisch. Wir führen alternierend, das heißt, wer vier Jahre Präsident ist, weiß, dass er die nächsten vier Jahre Vizepräsident sein wird, und umgekehrt. Da stellt sich automatisch die Weisheit ein, den anderen gut zu behandeln, denn nach vier Jahren ist die andere Seite wieder dran. Wer sich in Deutschland an die konsequenten Abläufe und Entscheidungsprozesse von Vorstandssitzungen gewöhnt hat und dann auf die deutlich informellere Entscheidungskultur Frankreichs trifft – wie alles informell geht, wie alles vorbesprochen, wie alles vorgefühlt sein will –, der erlebt eine Führungswelt mit völlig anderen Koordinaten. In Deutschland ist ein Projekt, wenn es im Vorstand ankommt, komplett durchgeprüft – auf Finanzen, auf rechtliche Fragen, auf technische Probleme. In Frankreich steht die Begeisterung am Anfang und man kommt mit den Problemen möglicherweise erst zwei, drei Monate später. Wenn man bei Arte den Hut aufhat, weiß man, dass bei einem neuen Projekt die Deutschen alle Risiken abprüfen – sehr solide, sauber, gut planend. Man weiß aber ebenso, dass die Franzosen ein sehr gutes Gefühl haben für Marketing, für eine neue Idee, für das Besondere in einem Projekt. Wirkung wird von vornherein mitgedacht. Und dass Illustration: Peteris Lidaka Ars arte sie mit unheimlichem Drive hinter einem Projekt stehen. Diese Mischung beider Stile ist ausgesprochen fruchtbar und belebend für beide Seiten. ? Nun hört man immer wieder, dass es in französischen Unternehmen für Deutsche sehr mühsam zugeht. ! In Frankreich gibt es in Ergänzung des Fantasiestroms und der Begeisterungsfähigkeit auch ein ganzes Stück höfische Hierarchie. In Paris hörte ich einmal die humorvolle wie aufrichtige Bemerkung: „Nous avons tué le roi pour conserver la cour.“ Das heißt, man hat zwar den König umgebracht, aber das höfische Verhalten erhalten. Diese höfische Struktur ist in Deutschland durch die Umbrüche, die wir im 20. Jahrhundert hatten, völlig verschwunden. Zentralistische Machtstrukturen und herrschaftliche Haltung waren durch die historischen Abgründe gänzlich diskreditiert. Wir sind außerdem – vielleicht deshalb – am Ende pragmatischer. In Frankreich verhält sich ein Präsident durchaus präsidial und will in die Details des Arbeitsprozesses überhaupt nicht eindringen. Denn er betrachtet das als die Aufgabe seiner Mitarbeiter. In Deutschland kann man hingegen erleben, dass ein Präsident sich auch um das kleinste Detail kümmert und die Arbeitsebene aufsucht, um aus der Kenntnis aller Produktionsprozesse eine umfassende und gute Unternehmensentscheidung zu treffen. Wir Deutschen beziehen unsere Beschlusskraft aus der Materie. Der französische Manager bezieht die Beschlusskraft aus der Vision und der Struktur. Das muss man beim Umgang, bei der Kommunikation und den Entscheidungen immer berücksichtigen. Für den so wichtigen informellen Kontakt ist die Kenntnis der Sprache unabdingbar. Und wenn es um Interessengegensätze geht, ist es entscheidend, dass man sehr, sehr früh ventiliert und die Dinge sortiert. Wer meint, so etwas in einer Vorstandssitzung im Wege eines strittigen Disputs zu lösen, kommt nicht weit. ? Wird bei Arte nur Französisch gesprochen? ! Und Deutsch. Wir haben die Regel, dass der Vertreter eines französischen Abteilungsleiters deutsch sein sollte und umgekehrt. Jeder kann sich in seiner Sprache artikulieren und für die anderen wird es übersetzt. Oder von diesen ohnehin verstanden, weil die meisten bei uns bilingual sind. Gerade in der Führungsposition sollte man die Sprache des anderen perfekt beherrschen. Denn die eigentlichen Entscheidungen fallen – wegen der informellen französischen Arbeitskultur – nicht in der offiziellen Sitzung mit Dolmetscherkabinen, sondern auf dem Korridor, in einem Restaurant, an einem Telefon, in einem Café. Dort ist man – in der Regel – nicht von einem Dolmetscher begleitet. Wenn man es mit einer Gruppe aus beiden Ländern zu tun hat, ist es für das Kohärenzgefühl wichtig, die Fragen jeweils in der Sprache zu beantworten, in der sie gestellt werden. So verfahre ich auch in der Mitgliederversammlung. Das hat ein Stück Statur, erweist Respekt und generiert Bindung an das Gemeinschaftliche. Die Spitze wird so nicht mehr einem Land zugeordnet. ? Dann ist die Binationalität also weniger ein Nachteil als ein Vorteil? ! Sie ist bei manchen Themen sogar ein großes Geschenk. Wir unterliegen zum Beispiel nicht den einschränkenden Regularien, denen die deutschen Rundfunkanstalten bei ihrem Internetauftritt ausgesetzt sind. Denn die französische Seite vertritt genau die gegenteilige Politik. Dort werden wir ausdrücklich zum InternetEngagement aufgefordert. Die Entwicklung der Netzwelt gilt als notwendige Aufgabe, um auch das junge Publikum für Themen der Kultur und des Wissens zu begeistern. Niemand käme in Frankreich auf die Idee, uns dabei zu bremsen. Was das Arte-Programm zu Arte macht ? Inspirieren Sie Ihre Töchter in dieser Hinsicht? ! Man nimmt natürlich viel von seinen Kindern mit und lernt von der Aufteilung ihrer Medienzeit viel über neue Nutzungstrends im Netz. Über sie bin ich darauf gestoßen, dass es bei Facebook zahlreiche Communities gibt, die sich mit Arte beschäftigen. Es macht für die Nutzer wie den Sender Sinn, solche Initiativen mit Inhalten anzureichern und sie proaktiv zu nutzen. Die Nutzer spielen auch für den Transport von Inhalten eine immer größere Rolle. Erinnern Sie sich noch an den Kennedy-Mord 1963? Das war noch das klassische Radioereignis. Wir Kinder saßen mit unserem Vater vor einem großen Röhrenradio und hörten auf der Kurzwelle mit der ganzen Familie bei Norddeich Radio die Nachrichten aus Amerika. Die Mondlandung, nur sechs Jahre später, am 21. Juli 1969, war bereits ein komplettes Fernsehereignis. Der Anschlag auf das World Trade Center 2001 markiert den Übergang zur Internet-Information. Der Sturz der Flugzeuge in die beiden Türme war zum einen ein Fernsehereignis, zum anderen aber auch schon ein bedeutendes Internetereignis. Die Menschen wollten immer wieder die unglaubliche Katastrophe sehen und gingen dazu auf die Websites der großen Fernsehanstalten cnn, bbc, ard oder zdf, um den Zusammenbruch beider Türme zu verfolgen. Acht Jahre später, als am 21. Juni 2009 die Studentin Neda Agha-Soltan bei den Teheraner Protesten gegen die Präsidentenwahl 2009 erschossen wurde, verfolgten Millionen Menschen, wie sie blutend auf der Straße lag und starb. In Frankreich hatte man den mit diesen tragischen Bildern verbundenen Internet-Traffic gemessen und festgestellt, dass nur noch 20% auf den klassischen Nachrichtenwebsites erzeugt wurde, dass sich aber über 80% der Nutzer über kommunikative Netzwerke wie Twitter, YouTube, Facebook und MySpace informiert hatten. Dies war für uns Anlass, die Internetstrategie neu zu überdenken. Es war für uns klar, dass wir denjenigen, die interaktiv im Netz unterwegs sind, ermöglichen müssen, ebenso interaktiv mit Arte zu kommunizieren. Wir lassen deshalb heute auch zu, dass junge User Content von uns auf ihren Websites als „embedded content“ nutzen. ? Was antworten Sie, wenn man Sie fragt, was Arte ist? ! Arte ist von seiner Bestimmung her ein europäisches Programm, das sich vor allem um Kultur-, Wissens- und Wertefragen kümmert. Es ist ein Sender, der sich nachhaltig darum kümmert, unterschiedliche Kulturen miteinander vertraut zu machen. Dazu gehört die Erkenntnis, dass wir uns unter dem Druck der Globalisierung nicht nur mit Themen Europas beschäftigen dürfen, sondern dass wir uns auch mit den aufstrebenden außereuropäischen Kulturen vertraut machen müssen, wie Indien, China, Indonesien und Brasilien. Die Globalisierung werden wir nicht als Deutsche oder Franzosen oder Italiener bestehen, sondern nur als weltläufige Europäer. Wir müssen verstehen lernen, dass die Länder, die aufgrund ihres wirtschaftlichen Aufschwungs selbstbewusster werden, sich auch aufmerksam mit Geschichte beschäftigen und uns unser Handeln in den zurückliegenden Jahrhunderten vorhalten. So hatte ich in China ein bemerkenswertes Gespräch mit einem jungen Galeristen in Shanghai. Es fand kurz vor der Olympiade statt, zu der Zeit, als man in Deutschland die Frage diskutierte, ob die Bundeskanzlerin angesichts des chinesischen Vorgehens in Tibet nicht nach Peking zur Olympiade fahren sollte. Auf meine Frage, wie er die Probleme in Tibet sehe, antwortete der junge Galerist, dass er meine Frage verstehe, doch er würde mich gerne fragen, woher die Europäer den Hochmut nähmen, den Chinesen ihr Handeln in Tibet moralisch vorzuhalten, ohne sich ihrer eigenen historischen Verantwortung auch nur im Geringsten zu stellen? Denn der Vorgänger des jetzigen Dalai Lama, der 13. Dalai Lama, sei auch vertrieben worden. Aber nicht von den Chinesen, sondern von den Engländern, die 1904 Lhasa besetzten. Colonel Younghusband war Ende 1903 im Auftrag der britischen Krone zur Eroberung Tibets aufgebrochen und hatte mit Maschinengewehren in einer blutigen Aktion die Tibeter zu den Füßen des Potala-Palasts niedergemäht. In der New York Times von 1904 ist dieses Vorgehen mit der triumphierenden Tonalität festgehalten: „The British mewed efficiently the Tibetans.“ Der Dalai Lama floh damals nicht in die Arme des Westens, sondern in die Arme von Cixi, der letzten chinesischen Kaiserin. Diese Erinnerung an unsere europäische Verantwortung haben wir nicht mehr. Die Chinesen aber sehr wohl. Und inzwischen sagen sie uns das auch. Man kann die Chinesen von dem, was von ihrer Seite in Tibet geschah, deswegen nicht exkulpieren, weil man Leid nicht gegen Leid aufrechnen kann. Aber ich bin überzeugt, dass wir Europäer lernen müssen, dass uns unsere historische Schuld in vielen Ländern der Welt mit einer ganz anderen Souveränität in Zukunft entgegengehalten werden wird. Und wir sind wohlberaten unseren ethischen Anspruch mit historischem und kulturellem Verstand vorzutragen und, wo geboten, auch Verantwortung zu übernehmen. Der europäische Kultursender Arte besteht also nicht nur darin, uns wechselseitig die europäische Kultur zu spiegeln, sondern uns aufmerksam zu machen auf die Leistungen anderer Kulturen und auf den Blick, der von dort auf Europa fällt. ? Zum Beispiel in Themenabenden... ! Ja, Themenabende sind dafür das richtige Format. Der Themenabend war im übrigen eine deutsche Erfindung. Der brillante Redaktionsleiter des Kleinen Fernsehspiels beim zdf, Eckart Stein, hatte diese Idee. Schwerpunkte und Vertiefung von Themen sind für einen Sender wie Arte ein wichtiges Planungselement. In einer Zeit, wo ständig neue Kanäle entstehen, ist niemand mehr intellektuell in der Lage sich die Programmschemata aller Sender zu merken. Unser Gehirn wäre damit vollkommen überfordert. Die Zuschauer reagieren deshalb auf eine typische Weise, die unserem Internetkonsum durchaus ähnlich ist. Sie wählen drei, vier Sender aus, die sie regelmäßig aufsuchen und darüber hinaus merken sie sich eine Gruppe von Sendern – 10 bis 15 –, die sie auch für relevant halten. Ähnlich sieht es auf unserer Favoritenliste für Internetangebote aus. Für Sender mit weniger breiten Zuschauergruppen wie Arte kommt es deshalb darauf an, Aufmerksamkeit zu erzielen, um in der Gruppe des „relevant set“ unserer Favoritenliste verankert zu bleiben. Es gilt durchaus, Ungewöhnliches zu wagen, wie „24 Stunden Berlin“. Eine 24 Stunden Dokumentation war bislang für Fernsehmacher ein undenkbares Format. Es gab bei den Medienforschern und Planern erhebliche Zweifel, ob Zuschauer bereit sind, bei einem solchen Langzeitformat dranzubleiben. Aber der Mut zum Risiko wurde belohnt. Es war ein großartiger Erfolg. Verdreifachung der Zuschauerzahlen an diesem ungewöhnlichen Tag. Das verdanken wir auch dem Autor und dem Produzenten, die mit 80 Teams hier ein durch die Nähe zu den Menschen ausgesprochen dichtes wie spannendes Bild des Innenlebens einer Stadt gezeichnet haben. ? Wie wichtig sind bei Arte überhaupt Marktanteile? ! Sie sind wichtig – und auch wieder nicht. Wichtig sind sie, weil sich jedes Unternehmen, das sich aus öffentlichen Mitteln finanziert, legitimieren muss, das Geld, das es erhält, in einem vernünftigen Verhältnis zur Anzahl der Zuschauer einzusetzen. Arte könnte sich heute – im Gegensatz zu der Zeit vor zehn Jahren – nicht mehr leisten, mit einem Marktanteil von 0,5% in Deutschland unterwegs zu sein. Nicht wichtig sind Marktanteile, weil Arte am Ende als Einrichtung wie als Marke seine Bedeutung nur behalten wird, wenn es Qualitätsstoffen und besonderen Autorenhandschriften Spielräume gibt, auch wenn diese nicht von vornherein große Zuschauerquoten versprechen. Am Ende wird ein Programm wie Arte an der Substanz und Relevanz seiner Angebote gemessen werden. ? Wie viel Geld bekommt Arte aus Deutschland? ! Der deutsche Gebührenanteil liegt ungefähr bei 163 Millionen Euro, das ist im Vergleich zu den Etats der großen Sender in Deutschland und Frankreich sicher nicht opulent. Aber mit den Geldern aus Frankreich kommen wir auf ca. 400 Millionen Euro. Und damit machen wir unser gesamtes Programm – werbefrei und für zwei Sprachräume. ? Wie viel Mitarbeiter hat Arte? ! In Straßburg 430. Nimmt man die Mitarbeiter in Paris und bei den deutschen Dependancen dazu, kommt man auf etwa 800. Wir müssen damit zwei Kulturräume bespielen, zwei Sprachen abdecken und betreuen einen hohen Anteil an Eigenproduktionen, nicht nur aus beiden Ländern, sondern aus ganz Europa. ? Wie viel Mitarbeiter hat – zum Vergleich – der Bayerische Rundfunk? ! Ich schätze etwa 3000. ? Bleibt es bei der Strategie des besonderen Fernsehens? ! Ja, wir sind wohlberaten, das Image als Sender mit besonderem Anspruch zu pflegen, eigene Autorenhandschriften zuzulassen, ungewöhnliche Fernsehformate zu wagen und sich an Filmprojekte junger Filmemacher heranzuwagen, die die Talente für das Europa von morgen sein können. Wenn wir die letzten Preisträger der Berlinale oder des Festivals von Cannes ansehen, finden wir junge Filmemacher aus Bosnien, Rumänien, Uruguay, Thailand, die mit ArteProduktionen den Goldenen Bär oder die Palme d’Or erobert haben. ? Und was der Marke Arte auch brillant bekommt. ! Ja, das bekommt ihr sehr gut. Deswegen dürfen wir den Aspekt „Zukunftswerkstatt der Avantgarde“ auch nie aufgeben. ? Wenn man das so hört, stellt sich doch unweigerlich die Frage, ob der Quotendruck bei anderen Sendern nicht gleichbedeutend ist mit Niveauverlust und der Banalisierung des Programms? ! Das wäre zu einfach gedacht. Die entscheidende Frage für alle Sender wird sein, wie sich die Internetwelt insgesamt weiter entwickelt. Die Netzwelt generiert bei den jüngeren Zuschauern neue Sehergewohnheiten und Qualitätserwartungen, die mittelfristig auch auf die Fernsehnutzung durchschlagen werden. Obwohl wir in der Netzwelt Millionen Websites aufsuchen können, steuern wir am Ende doch nur die 10 bis 20 Seiten unserer „Favorites List” an, bei denen wir die auf unsere spezifischen Interessen bezogene Qualität bekommen. Wenn es um ein punktuelles hohes inhaltliches Interesse geht, gehen wir über Suchmaschinen bis zu den letzten Details. Auch der Laie hat damit unmittelbar Zugang zu absolutem Expertenwissen. Fernsehsender sind hier vor eine neue Herausforderung gestellt. Sie können überzeugend nur die Themenfelder bedienen, wo sie auch über die hinreichend starke redaktionelle Kompetenz verfügen. Sie brauchen ein scharfes Profil, hinter dem hinreichend journalistische Kraft versammelt ist, um die Neugierde der Zuschauer im verschärften Qualitätswettbewerb zu halten. ? Das ist jetzt sehr schön erklärt, warum die kommerziellen Sender beim „Unterschichtenfernsehen“ bleiben werden. ! Ich schätze den Terminus „Unterschichtenfernsehen“ nicht. Aber es ist richtig, dass man allein mit Zukäufen internationaler unterhaltender Ware und wenig anspruchsvollem Programm Fernsehkanäle betreiben kann, die breitere Zuschauerschichten binden. Für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft, die auf eine geistig lebendige und erfindungsreiche Nachwuchsgeneration angewiesen sein wird, ist das sicher kein Beitrag. Die Alten sind die Zukunft ? Stichwort „demografischer Faktor“. Den stellt alle Welt ja immer als eine große Gefahr dar. Ich denke hingegen, dass die Zunahme des Lebensalters fürs Niveau-Fernsehen eher eine große Chance ist. ! Absolut. Alle Welt redet von einer Verjüngung, weil alle Medienunternehmen aufgeschreckt sind von den Entwicklungen in der Netzwelt. Dabei übersehen viele völlig, dass der größte Zuwachs der Mediennutzung nicht aus der Jugend kommen wird, sondern von den Älteren. Die Generation der Babyboomer – die zwischen 1945 und dem Jahr der Erfindung der Pille (1964) Geborenen – stellen einen unverhältnismäßig großen Anteil unserer Gesellschaft dar, und die ersten von ihnen erreichen jetzt das Pensionsalter. Da Pensionäre im Schnitt etwa dreimal soviel Zeit vor dem Fernseher verbringen, wie die arbeitende Bevölkerung, werden wir dort einen erheblichen Zuwachs an Seherzeit erleben, der das Durchschnittsalter der Fernsehzuschauer insgesamt deutlich nach oben verschieben wird. Da diese Generation gut ausgebildet und öffentlich-rechtlich geprägt ist, haben wir gute Chancen, dass wir damit auch ein Stück Renaissance des öffentlich-rechtlichen Fernsehens erleben. Vorausgesetzt wir schaffen es bis dahin, unsere Qualität auch so zu halten und so zu profilieren, dass wir diese aus den 60er Jahren kommenden, popkulturell geprägten Generationen angemessen bedienen. ? Zu diesem Thema kommt noch ein Aspekt, über den ich mich schon seit zwanzig Jahren wundere: Diejenigen Zeitgenossen, die ein stattliches Budget zur Verfügung haben, sind doch die Älteren, die die Ausbildung der Kinder, ihr Auto und das Haus schon abbezahlt haben. Und die die Zeit haben, ihr Geld auch auszugeben. Das ist sowohl wirtschaftlich als auch kulturell eine hochinteressante Zielgruppe. ! Die Werbeindustrie ging lange Zeit davon aus, der alte Mensch sei kein Konsument. Das halte ich für eine Illusion. Das mag für die Generation gegolten haben, die noch vom Krieg geprägt war und in der Nachkriegszeit mit großer Sparsamkeit wieder Vermögen aufgebaut hat. Aber die Generation, die heute das Pensionsalter erreicht, hatte diese Sparsamkeitshaltung nicht mehr und ist die Erbengeneration der geschaffenen Vermögen. Sie erleben sich und leben um vieles jugendlicher als ihre Elterngeneration. Die damals 50-jährigen sind mit den heute 50-jährigen nicht vergleichbar. Und mit 60 oder 65 haben viele noch einmal richtig Lust, ein neues, differenziertes und erlebnisreiches Leben zu führen, zu reisen und das Leben zu genießen. ? Wie reagiert Arte auf diese demografische Herausforderung? ! Wir sind – wenn man mal den Kinderkanal außen vor lässt – der jüngste öffentlich-rechtliche Sender. Es gibt in unserem Programm erstaunlich gut funktionierende Brückenprogramme, die bei jüngeren wie älteren Zuschauern gleichermaßen erfolgreich sind. „24 Stunden Berlin“ war so ein Programm. Das gilt interessanterweise auch für Geschichte, insbesondere, wenn wir ein Thema breiter aufstellen. In solchen Fällen zeigen wir nicht nur eine Dokumentation, sondern stützen die Erzählung des Themas durch Fiktion, Spielfilme, gegebenenfalls auch durch wissenschaftliche Sendungen. Diese Kombination erweist sich als ausgesprochen erfolgreich. Die Zukunft des Fernsehens ? Kommen wir zu der zukünftigen Entwicklungen des Fernsehens im Allgemeinen und in Deutschland im Besonderen. ! Es wird zwei elektronische Medienwelten geben: Die jugendliche Gruppe, die in der Netzwelt unterwegs ist. Und es wird die Fernsehwelt geben. Die Entscheidung, ob die Fernsehwelt überlebt oder nicht, hängt von der inhaltlichen Qualität ab und von der Frage, ob die Politik es schafft, dafür zu sorgen, dass der technische Zugang zu diesen Inhalten frei bleibt. Man sieht ja heute schon, dass es Unternehmen gibt, die den Zugang kanalisieren und beschränken. In den meisten Hotels ist dies bereits der Fall. Dort gibt es eigene Anbieter, die den Zugang zu den unverschlüsselten Fernsehprogrammen stark einschränken, um mehr Neigung zu generieren, den Abend vor einem ihrer PayTV-Programme zu verbringen. Wer häufig in Hotels unterwegs ist, macht bereits diese missliche Erfahrung. Aber auch bei der allgemeinen Verbreitung beobachtet man europaweit, dass adsl-Anbieter, Anbieter von Satellitendecodern und Kabelnetzbetreiber, anfangen, eigene Programmangebote bevorzugt auf den ersten Nutzeroberflächen anzubieten. Und die übrigen Angebote werden so weit hinten platziert, dass der Nutzer erheblichen Aufwand treiben muss, sich diese Programme überhaupt zugänglich zu machen. Die rechtlich vorgegebenen Must-carry-Pflichten für öffentlich-rechtliche Fernsehangebote werden damit über die Gebrauchsfähigkeit der Nutzeroberflächen Zug um Zug ausgehöhlt. Das wird noch einen Schritt weitergehen, wenn wir Hybridfernsehen bekommen. Hybridfernsehen wird Fernsehangebote mit Internetangeboten auf einem Bildschirm vereinen und dem Zuschauer zugänglich Investoren wie John C. Malone, der in den usa die größten Kabelnetze besitzt, können hier ebenso uneingeschränkt Kabelnetze kaufen. ? Ein schwerer Fehler der Politik? machen. Es ist davon auszugehen, dass die Telekom-Unternehmen, die einem den Anschluss zur Verfügung stellen werden, die Buttons auf der Eingangsseite nur bevorzugten Partnern zur Verfügung stellen werden. Wer auf den Buttons als Nummer 1 programmiert sein wird, wird weniger von der Qualität seines Programms abhängen, als von den wirtschaftlichen Parametern des Vertrags mit der Verbreitungsgesellschaft. Das heißt, diese Verbindung zwischen Content, Netzverbreitung und Netzanbieter wird intensiver und vermutlich vieles aushebeln, was wir bislang an Must-carryVerpflichtungen für die Sender seitens der Politik kennen. ? Aber könnte es nicht im Interesse der Parteien liegen, dass diejenigen Nachrichten, in denen sie immer schön mit ihren Botschaften zu sehen sind – also in den öffentlich-rechtlichen Sendern – auch ganz weit vorne zu empfangen sind? ! Das ist eine liebevolle Hoffnung, die man hegen kann, die ich aber für unrealistisch halte. Wir haben dazu in Deutschland zu viele Fehler gemacht, indem wir sowohl die aus Steuern finanzierten Kabelnetze und Telefonnetze, also das neuronale Rückgrat unserer Mediengesellschaft, an internationale Gesellschaften verkauft haben. Und jetzt will die eu-Kommission die europäischen Länder sogar zwingen, Frequenzen in internationalen Bieterverfahren zu veräußern. Selbst das Symbol des Freihandels, die usa, kämen nie auf die Idee, so zu handeln. Sie haben die verlässliche fccRegulation 310, die Ausländern verbietet, mehr als 20% an zentralen Medienunternehmen in den usa zu halten. Vergleichen Sie das mit Deutschland: Dort konnte Chaim Saban ohne Hindernis 100% der Pro7/Sat1-Anteile erwerben und wenige Jahre später gegen einen Milliardengewinn an die Gruppe Kohlberg Kravis Roberts weitergeben. Durch Belastung des Kaufpreises an das erworbene Unternehmen floss auch noch der restliche innere Substanzwert des Unternehmens an den Investor aus den usa. Internationale ! Richtig. Und wir sind gerade beim nächsten Fehler, der Veräußerung von Frequenzen. Die Frequenzanteile, die durch den Umstieg von analoger Verbreitung auf digitale Verbreitung frei werden, sollen nicht für deutschlandeigene Zwecke vorgehalten werden, sondern sollen in einem internationalen Bieterverfahren an den Meistbietenden versteigert werden. Wir haben also die komplette Struktur für das Informationszeitalter, deren Aufbau wir anfänglich durch Steuern finanziert hatten, als Tafelsilber mit kleinem Gewinn international verkauft – nur um jeweils momentane Engpässe in den Bundeshaushalten zu füllen. Ohne strategische Perspektive für die Zukunft. Uns fehlt eine kluge Kulturökonomie Wir bräuchten auf europäischer Ebene nicht nur den verengten Blick des Wettbewerbsrechts, sondern eine kulturökonomische Strategie für das Digitalzeitalter. Ich erinnere mich noch gut an den Moment der Wiedervereinigung. Während wir uns alle über die Öffnung des Ostens freuten, brachen Bill Gates und Paul Getty nach Osteuropa auf und sagten den Direktoren der dortigen Museen: „Wir richten euch eure Archive wieder her mit Regalen und objektgerechter Klimatisierung, wir helfen bei der Restaurierung, alles wird fotografiert und katalogisiert. Wir wollen nur eine winzige Kleinigkeit dafür – die digitalen Weltrechte.“ Und das haben sie bekommen. Getty sagte damals: „Digitale Rechte sind das Öl des 21. Jahrhunderts!“ Die Amerikaner sind viel klüger, was die Entwicklung von Geschäftsmodellen um Kultur herum angeht. Und ich neide den beiden Kaufleuten nicht ihren guten Riecher für den Wert, den der Besitz von Content in einem digitalen Weltvertrieb darstellt, wo die Kunden die Vertriebskosten tragen. In Deutschland haben wir eine andere Tradition. Hier werden Kultur, Ökonomie und Politik säuberlich getrennt. Kultur ist Weimar, Politik Berlin, und den Handel überlassen wir den Kaufleuten in Hamburg. Wir sind exzellente Logistiker, verfügen über die größte Containerflotte der Welt, sind aber nicht in der Lage im digitalen Raum bei der Economy of Scale mitzuspielen. Das man beim Vertrieb der eigenen kulturellen Güter auch eigene „neuronale Netze“ braucht, das haben wir übersehen. In Frankreich gibt es die Trennung zwischen Kultur und Ökonomie nicht in dieser Weise. Das hat damit zu tun, dass es sich um ein zentral regiertes Land handelt. Dort geht bei den führenden Familien ein Teil in die Politik, der andere in die Kultur und der dritte in die Wirtschaft. Und es gibt einen klaren politischen Willen, Frankreich als kulturökonomischen Player auf Weltniveau zu halten. ? Es gibt in der Tat kein Land auf der Welt, das so viele erstklassige Opernhäuser, Theater und Museen hat und betreibt wie Deutschland. ! Das stimmt. In der Produktion von kulturellen Inhalten sind wir großartig. In der kommerziellen Nutzung aber ausgesprochen schwach. Die Amerikaner holen aus eindeutig weniger Substanz wesentlich mehr Erträge. ? Zurück zur Zukunft des Fernsehens. Werden die Nachrichten eigentlich auch durch die Konkurrenz der Netzwelt einen Wandel durchmachen? ! Darüber diskutieren wir gerade bei uns im Sender. Die Nachrichtensendung am Abend hat ihre Funktion als Listing der wichtigsten Nachrichtenereignisse des Tages verloren. Die meisten Zuschauer informieren sich mehrfach im Laufe des Tages über das Netz und kommen bereits als Informierte zur Sendung. Und sie erwarten nun vom Sender, dass er die Ereignisse des Tages einordnet, wertet und gewichtet. Die Vertiefung und analytische Betrachtung ist gefragt. Dafür braucht man Personen, die sowohl Vertrautheit als auch Glaubwürdigkeit transportieren. Wir werden uns auf Moderatoren konzentrieren müssen, die auch für die Zuschauer ein glaubwürdiges Gegenüber darstellen. ? Also einen Anchorman? ! Genau. Das wird für die großen Kanäle leichter sein, weil sie natürlich eine ganz andere Durchschlagskraft haben. Für kleinere Kanäle wird das schwieriger, obwohl wir bei Arte gleichwohl eine Reihe von Personen haben, die die Qualitätsanforderungen mehr als erfüllen könnten. ? Bleibt Fernsehen dennoch in der Zukunft ein wichtiges Medium? ! Mit Sicherheit. Nur müssen wir begreifen: Aufmerksamkeit ist die neue Währung. Das Fernsehen wird immer mehr von Events getragen werden. Die FußballWM hatte an einzelnen Tagen mehr als 80% der Zuschauer vor dem Schirm versammelt, und nicht nur dort, sondern auch in Parks und Gaststätten beim Public Viewing. Das ist etwas ganz Neues: Das Fernsehen als Träger von „Volks-Ereignissen“. Das ist etwas, was das Internet nicht leisten kann. Selbst wenn Millionen gleichzeitig im Netz sind, ist und bleibt jeder für sich am Ende individuell. Wir haben bei Arte solche Events in wesentlich kleinerer Dimension produziert, indem wir bedeutende Opernaufführungen in andere Opernhäuser übertragen haben. Mit großem Erfolg. Ich weiß, dass auch der Münchner Fernsehunternehmer Herbert Kloiber gerade mit der Metropolitan Opera in New York einen Vertrag geschlossen hat, der es ihm gestattet, dass er die Premieren der Met in große Digitalkinos übertragen kann. Damit kann man in Ohio oder Denver Colorado die Premiere der Metropolitan Opera im Kino verfolgen. Mit hdtv zeichnen wir heute große Kulturereignisse in einer so hohen Qualität auf, dass man sie problemlos auch auf große Leinwände übertragen kann. Wir sind deshalb bei Arte früh auf hdtv umgestiegen. Der Impuls dazu kam aus Frankreich. ? Ist secam so schlecht? ! secam ist vielleicht nicht ganz so gut wie PAL, aber der wesentliche Grund war: Die Franzosen hatten keinen Schwarz-Schilling, der ihr Land mit Kupferkabeln durchzogen hat. Das heißt, es gab nie die Frage: Werden am Ende die Kabelgesellschaften oder die Telefongesellschaften die führenden Player sein? Diese Frage war von vornherein für die Telefongesellschaften entschieden, die deshalb auch große Investments für den Ausbau der Netze in die Hand nahmen. Schon seit einigen Jahren ist es in Frankreich kein Problem, Datenraten von bis zu 100 Megabyte aus der Telefonsteckdose zu erhalten. Damit lässt sich problemlos auch hdtv übertragen. Wie schafft man das? ? Herr Dr. Langenstein, Sie sind ja auch noch beim ZDF und bei 3sat an führender Stelle tätig. Was ist dort Ihre Position? ! Ich bin einmal beim zdf Direktor für die Satellitenprogramme und bei 3sat, bei dem das zdf die Federführung für die Geschäftsleitung hat, der Vorsitzende dieser Geschäftsleitung, in der auch ard, orf und srg vertreten sind. Und das mache ich gerne und mit viel Vergnügen. ? Das macht man aber nicht so nebenbei, oder? ! Nein, diese beiden Sender zusammen zu lenken, kostet schon viel Zeit. 70 bis 80 Stunden in der Woche. Man ist viel unterwegs – auch an Wochenenden – und kommt oft spätabends heim. ? Da muss aber auch die Familie mitspielen. ! Genau. Ich habe deshalb eine Regelung mit meiner Frau und meinen vier Töchtern, dass ich für sie jederzeit zu sprechen bin. Da kann es durchaus vorkommen, dass ich eine Vorstandssitzung verlasse, um einen Dreisatz in Algebra zu erklären. ? Haben Sie einen Fahrer? ! Ohne ihn ginge das Pensum gar nicht. Bis Straßburg, zu Arte, braucht man zwei Stunden. Während dieser Zeit kann ich mich zurücklehnen und über Problemfragen in Ruhe nachdenken – was für bemessenes Handeln ausgesprochen wichtig ist. Oder ich arbeite die Telefonliste ab und redigiere Texte. Man muss bei der Fülle an Aufgaben gut organisierte Arbeitsabläufe haben. Und gute Mitarbeiter an der Seite, damit man in großem Umfang ganze Themenbereiche delegieren kann und weiß, dass sie dort auf ’s Beste erledigt werden. Unternehmen, das täglich von Ideen lebt, entscheidend. Es ist das wichtigste Investment. Und die Netzwelt verlangt hier auch Multifunktionalität. Es wird künftig nicht mehr gehen, dass jemand als Redakteur nur die Fernsehproduktion im Blick hat. Er muss die anderen Medien mitdenken – gerade in so einem kleinen Unternehmen wie Arte. Wir können uns nicht leisten, parallel eine zweite Redakteurswelt nur für das Internet aufzubauen. Sondern wir müssen schauen, dass neue Redakteure, die wir einstellen, die entsprechenden Fertigkeiten für beide Welten mitbringen, und am Ende einschätzen können, welche Ausschnitte des Programms sich für die Videothek oder sonstige Internetanwendungen eignen. ? Wenn Sie sich von einer Fee etwas wünschen dürften, was wäre das? ! Mehr Geld und ein besseres Urheberrecht mit einfacheren Strukturen. Hier haben die Amerikaner wieder einen deutlichen Vorteil, weil sie mit Buyouts die Verwertungsketten besser planen und wirtschaftlich effizienter nutzen können. Es ist für uns bei komplizierten Archivlagen oft einfacher, Koproduzent einer angloamerikanischen Produktion zu sein, als die urheberechtlichen Hürden selbst zu nehmen. Wir brauchen – besonders für die digitale Welt – andere Lösungsmodelle. Auch im Sinne der Autoren, damit sie mehr Geld bei geringerem administrativem Aufwand bekommen können. • ? Also sind die Einstellungsgespräche von zentraler Bedeutung? ! Das ist in der Tat so. Die Auswahl des Nachwuchses und damit der Leistungsträger von morgen ist für ein journalistisches N6 ARTE ist nicht nur der Sender mit dem jüngsten Publikum, sondern steht auch für den Mut Neues auszuprobieren, ohne Gefahr zu laufen, sich in vordergründigem Pragmatismus zu verlieren. Auch das ist Nachmann Rechtsanwälte Vorbild. Professor Wolf D. Prix schöpft in einem alten Fabrikgebäude im 5. Wiener Bezirk, einem traditionellen Arbeiterbezirk, aus dem Vollen: die Getty Foundation in L.A. und das Pariser Centre Pompidou stellen seine Architektur aus, die größten Unternehmen lassen sich ihre Firmengebäude von ihm bauen und die Menschen sind von seinen Bauten fasziniert. Trotz der vielen Arbeit an neuen Landmarks in aller Welt hat sich der Gründer und Kopf des Architekturbüros „coop himmelb(l)au“ Zeit zu einem Gespräch mit unserem Autor Andreas Lukoschik genommen. Launig und bei einer guten kubanischen Zigarre reden die beiden über seine frühere Aussage, dass Architektur brennen müsse, die Rolle von großen Brands im öffentlichen Raum, seinen Spaß an Nicknames für seine Gebäude und darüber, womit ihn eine Fee beglücken könnte. my world Seite 90 Gebäude wie gelandete Wolken ? Herr Professor Prix, wie muss ich mir Sie als kleinen Jungen vorstellen, als einen der...? ! Achtung. Jetzt wird´s psychologisch! ? Nein, keine Sorge. Also... als einen Jungen, der mit Legosteinen gebaut hat...? ! ...Lego hat´s damals noch nicht gegeben. ? Oder Bausteinen? Illustration: Peteris Lidaka ! Mit diesem berühmten Baukasten... ? ...Fischer? ! Nein, es war nicht technisch. Es war einer mit runden und eckigen Steinen, mit Zwiebeltürmen und so. Der kam aus Dresden. Mit dem habe ich viel gespielt. Ich erinnere mich, richtige Burgen gebaut zu haben. ? Also ganz konkret „gebaut“. Nicht Himmelsschlösser erdacht? ! Lassen Sie es mich so sagen: Mein Vater war Architekt und Baumeister, mein Onkel war Komponist und ein anderer Onkel Burgschauspieler. Ich komme also aus einer Familie, die sich zum Teil aus freischaffenden Künstlern zusammengesetzt hat, zum Teil aus Lehrern und mein UrUrUrUrgroßvater – oder noch mehr Ur – war Bürgermeister von Wien. Also alles das zusammen ergibt einen perfekten Architekten. ? Dann kenne ich jetzt ja auch den richtigen Cocktail. ! Genau. Was soll ich Ihnen noch aus meiner Jugendzeit erzählen? ? Nichts. In Ihrer „Confessio der Unruhe“ – also eine Art Manifest – kommt der Satz vor „Architektur muss brennen“? ! Na ja, das war zum Teil aus Zorn gegen die Postmoderne geschrieben, die ja eine Retrobewegung war. Die Aussage „Architektur muss brennen“ war in den 80er Jahren ein Statement für die emotionale Qualität der Architektur. Architektur muss mehr haben als nur das dreidimensionale Bauen eines funktionell-ökonomischen Programms. Und mehr sein als nur Erfüllungsgehilfe einer ökonomischen Zwangssituation. Architektur muss als dreidimensionaler Ausdruck unserer Gesellschaft auch ihre Unruhe und ihren Wandel darstellen. Das ist der Hintergrund des Textes. Aber genauer kann ich ihn nicht erklären, denn sonst hätte ich den Text ja nicht so geschrieben, wie ich ihn geschrieben habe. ? Trotzdem habe ich das Gefühl, dass Ihre Architektur jetzt – 20 Jahre ! Prinzipiell nicht. Das ist eine Rechercheaufgabe für Sie. (lacht) ? Bei der „Bmw Welt“ sind mir zwei Sachen aufgefallen. Einerseits finde ich, dass der Mensch mit seinem Auto dort etwas klein wirkt und sich nicht unbedingt als die Nummer 1 im Raum vorkommt. Und andererseits fielen mir die Anlehnungen der Gebäudeformen an die derzeitige Form der BMWModelle auf. ! Umgekehrt. ? Bitte? BMW Welt, Munich © Christian Richters danach – nicht brennt, sondern eher schwebt. ! Ja, ja, das hat was mit „Himmelblau“ zu tun. Himmelblau ist ja keine Farbe, sondern die Idee, Architektur veränderbar wie Wolken zu machen. Wir wollten damals, also 1968, als wir unser Büro gründeten, sofort und radikal die Architektur verändern. Das war – im Nachhinein gesehen – eine Unterschätzung der Geschmacklosigkeitsbereitschaft der Auftraggeber und eine Überschätzung der Intelligenz der Bauindustrie. Wir haben dann gesehen, dass es nicht sofort und auf einmal geht, sondern dass man es schrittweise machen muss. Und ein Schritt war immer die Polemik gegen die Schwerkraft. Architektur ist dazu da, die Schwerkraft nicht zu verstärken, sondern sie zu überwinden. Spätestens seit 1969, wo wir Erdenmenschen beim Flug zum Mond zum ersten Mal die Erde von außen fotografiert gesehen haben, hat ein Paradigmenwechsel in der Theorie der Architektur stattgefunden: Im schwerelosen Raum gibt es kein oben und unten, kein links und kein rechts, sondern man schwebt schwerelos im Raum. Deshalb ist zu diesem Zeitpunkt die Zentralperspektive obsolet geworden und wir können uns jetzt freier durch den Raum bewegen als in der Renaissance. Das war das eine. Das andere war, Architektur ursprünglich als Schutz gegen die Witterung gebaut, bekam eine neue Aufgabe: Sie wurde emotionale Darstellung. Ein Bauwerk, das sich emotional ins Gedächtnis prägt, ist ein Identifikationspunkt in der anonymen Masse der Stadt. Man kann sich an ihm orientieren und es schafft auch nicht nur Identifikation, sondern es erleichtert auch die emotionale Besitzergreifung. Ich liebe es, wenn Menschen unseren Bauten Spitznamen, also Nicknames, geben. Denn das zeigt, dass sie sich damit identifizieren können. ? Gibt´s für die „Bmw Welt“ einen solchen Spitznamen? ! Ja, aber den sag ich nicht. ? Sagen Sie es prinzipiell nicht oder weil er Ihnen nicht gefällt? ! Die Autoindustrie ist dem Architekturdesign immer um zehn Jahre hinterher. Jetzt durch den Computer nicht mehr soo weit, sagte mir der ehemalige Bmw-Chefdesigner Chris Bangle selber, sondern nur noch fünf Jahre. Aber die architektonischen Anklänge, die Sie in der „Bmw Welt“ sehen, sind eine Vorausschau auf die zukünftigen Automodelle. Und noch etwas: Wenn sich die Menschen so klein vorkämen, wie Sie sagen, dann kann ich nicht verstehen, dass 4 Millionen Menschen die „Bmw Welt“ bis jetzt besucht haben. Es ist eher ein öffentlicher Raum, der mit dem Attraktor Auto versehen worden ist. Das ist übrigens auch ein Konzept unserer Architektur, Win-win-Situationen zwischen dem Auftraggeber und dem öffentlichen Raum herzustellen. Ganz wichtig. Unsere Städte verlieren zunehmend öffentlichen Raum, weil kein Geld mehr vorhanden ist. Und so übernehmen die Brands wie früher die Adeligen und die Kirche die Aufgabe, öffentlichen Raum zu schaffen. Wir als Architekten müssen nur eine Strategie entwickeln, dass man beide intelligent verknüpft. ? Wie sind Sie auf den gekommen? ! Zu den bestehenden Gebäuden des Headquarters von bmw – also der Vierzylinder mit der Schale –, die von meinem ehemaligen Professor Karl Schwanzer stammen, mussten wir eine dritte Figur erfinden, um ein Ensemble zu kreieren. Der Doppelkegel beschäftigte uns in unserer Architektur schon lange. Er ist eine unserer „Vokabeln“. Wenn man ihn richtig dreht, ist er ein sehr dynamisches Element, aus dem dann – wie in der „Bmw Welt“ – das Dach entspringt. So kann man die Entstehungsgeschichte des Projekts lesen. ? Wie fanden Sie, dass Sie nach Ihrem Professor an der gleichen Stelle...? ! Ich muss Ihnen sagen: Ich habe schon immer sehr viel Fantasie gehabt. Als Student vielleicht noch mehr als heute. Aber ich hätte mir niemals vorstellen können, dass ich neben meinem damaligen Professor ein Gebäude errichten werde. Das war eigenartig. Und eine kollegiale Herausforderung. ? Haben Sie gedacht, dass dieses Gebäude so ein Erfolg wird? ! Ja. ! Ja, das ist immer so. Architektur ist schwer – vom Gewicht her. Und Gewicht kostet Geld. Und wo Geld eine Rolle spielt, spielt Politik eine Rolle. Ob intern oder extern. All das kostet Zeit. ? Sie haben mal gesagt, bei Architektur ist Bauen das Geringste. Wie meinen Sie das? ! Na wieso. Bauen ist ein Wort. Und Architektur ist ein Wort. Es heißt ja nicht „Archbauen“ oder „Bautur“. Es heißt Architektur und Bauen. Um Architektur zu verwirklichen, kommt der Bauprozess hinzu. Aber er ist nicht das Entscheidende. Das Entscheidende ist die Architektur – wie sie gedacht ist, wie sie geplant ist. Und dann später, wie sie gebaut ist. Aber „Bauen ohne nachzudenken“ ist nicht Architektur. Oder populärer ausgedrückt: Wenn man heute als Architekt keine Visionen hat, dann bleibt man Häuselbauer. ? Da sind wir jetzt bei der wichtigen Frage: Wie entstehen in Ihrem Atelier Lösungen für die Ziele, die mit den Gebäuden erreicht werden sollen. Wie wird das in Ihrem Hause gemacht? ! Das geht nicht von heute auf morgen. Da müssen sich verschiedene Ebenen miteinander vernetzen und kommunizieren. Das geht im Laufe eines Gesprächs, im Laufe von Nachdenkprozessen, manchmal auch zwischen Tür und Angel. Oder auch – sehr intensiv – am Projekt. Eine Ebene, die inzwischen bei mir dazu kommt, ist die Ebene der Erfahrung. Man weiß heute einfach viel mehr, als was man als junger Architekt gewusst hat. Daher vermute ich, dass das Wort „forever young“ nicht mehr gilt. Dadurch werden die Projekte auch reicher. An Gedanken. coop himmelb ( l ) au ! Der Chris – ein guter Bekannter von uns – hat damit nichts zu tun gehabt. Die Formfindung kommt ganz von uns. Natürlich war eines der Ziele, die Dynamik, die ein wesentlicher Bestandteil unserer Gesellschaft ist, mit Eleganz zu verbinden. Dass das dann dem Auto nahe kommt, ist auch klar. Aber ich hab noch nie einen Doppelkegel in einem Auto gesehen. (lacht) Wir arbeiten mit Trendforschern, Gehirnforschern und ähnlichen Sparten zusammen, weil wir sagen: Wenn man immer nur Architektur denkt, kommt immer nur Architektur raus. Ich denke aber, dass die aktuellen Techniken, Philosophien und Kunstrichtungen ein wichtiger Bestandteil unseres Entwicklungsprozesses sein müssen, damit wir das, was wir beanspruchen – nämlich weit vor der Zeit zu sein – auch erfüllen können. Denn wenn man heute das Heutige baut, ist es ja schon morgen das Gestrige. Wir müssen also heute vorausdenken. Im Idealfall 20 Jahre. Denn so lange muss das Gebäude auf jeden Fall stehen. (lacht) Kurzum, das ist ein langer Prozess. Auch wenn die entscheidende Zeichnung oder das entscheidende Modell in kurzer Zeit entsteht. Dennoch ist der assoziative Prozess vorher ein langer. ? Die Fertigstellung hat sich aber ein bisschen hingezogen, oder? Dalian International Conference © ? Gab es beim Bau der „Bmw Welt“ eine gegenseitige Befruchtung mit dem damaligen Chefdesigner Chris Bangle? ? Das ist also schon ein Sichgegenseitig-die-Bälle-zuwerfen? ! Das muss nicht unbedingt im Team passieren. Sondern es tauchen Ideen auf, die der Aufgabe adäquat sind. Sie sind also nicht apriori eine Lösung der Aufgabe, sondern die Ideen passen als Lösung für die Aufgabe. Das impliziert ja auch das „Mehr“. Denn die Aufgabe ist ja meistens technokratisch: soundsoviel Quadratmeter, das und das Programm, so soll´s funktionieren, das darf´s kosten und in dieser Zeit muss es gebaut sein. Das ist Bauen – eine technokratische Abwicklung eines Prozesses. Architektur ist mehr. Man muss sich in den Raum hineindenken und sich vorstellen können, wie er wirkt. Oder ihn erfinden. Die Techniken der Ideenfindung sind verschieden. ? Mir kommen immer die besten Ideen morgens in der Badewanne? machen können. Obwohl man jedes Mal denkt, schöner geht´s nicht? ! Das kann schon passieren. Aber die Lösungen in der Architektur sind ja nicht eindimensional, sondern mehrdimensional. Vielleicht kommt einem die Idee zur Gestalt des Gebäudes zwischen Tür und Angel. Aber dann beginnt´s bei der Architektur ja erst. ! Das ist eben wie bei einem Architekturprojekt. Es gibt immer noch eine bessere Lösung. ! Architektur ist eine dreidimensionale Sprache. Sie muss dreidimensional gesprochen werden. Es hilft also nicht nur die Zeichnung, sondern es muss auch dreidimensional begreifbar sein – im wahren Wortsinn. Das heißt, wir entwickeln immer Modelle. Und anhand von diesen Modellen passieren Veränderungen und formale Verbesserungen. Das ist die eigentliche Weiterführung der kreativen Arbeit, damit die Ideen zu einem dreidimensionalen Ausdruck der Kultur werden können. ! Eine schwierige Frage. Da ist auch wieder Erfahrung eine großartige Hilfe. Ich geh dann meistens aus dem Atelier, wenn ich glaub, dass der Entwurf so weit fertig ist. ? Kann das auch computeranimiert sein? ! Ich sehe mich eher als Regisseur, als Spielmacher. ! Ich sag zu computeranimierten Entwürfen: Das ist wie Telefonsex...Was für ein Unterschied! ? Apropos. Was für ein Auto fahren Sie eigentlich? ? Sie sind also schon der kreative Motor? ! Na ja, es ist schon ein Teamspiel. Aber es gibt dann den, der den genialen Pass spielt, der zum Tor führt. ? Mit Ihnen als Stürmer? ? Also als „Schweinsteiger“. ! Würde ich so sehen. Der schießt ja auch Tore. (lacht) ? Wie war die Ideenfindung beim Pavillon 21. Hat sie lange gedauert? ! Porsche 4S. ? Sehr schnell. ! Nicht nur. Sondern auch sehr, sehr elegant. ? Wobei ich es bewundere, dass die Porschedesigner dieses Auto mit jeder Generation immer noch schöner ! Ja. Weil da verschiedene Widersprüche miteinander verbunden und daraus eine Lösung gefunden werden musste. Dieser Raum sollte akustisch hochqualifiziert sein. Und er sollte immer wieder auf- und abbaubar sein. Das ist ein Widerspruch per se, weil man gute Akustik nur mit schweren Materialien hinkriegt. Wenn man also eine Lösung in einem leichten, Pavilion 21 MINI Opera Space © Duccio Malagamba ? Sie haben aber schon so eine Art Eingebung für die Grundform? ? Heißt das, dass es auch in der Architektur wie bei einem expressionistischen Bild, eine Frage ist, wann der Künstler aufhört, an dem Bild zu malen? Wann das Bild fertig ist? Was ist für Sie Dekonstruktivismus? ! Da müssen Sie jetzt aber mal zwei Minuten zuhören. ? Wird gemacht. Pavilion 21 MINI Opera Space © Duccio Malagamba flexiblen Raum finden will, muss die Akustik im Inneren durch die Abschirmung der äußeren Geräusche erfolgen, was bei einem Leichtbau schwer ist. Wir haben deshalb gleich bei der ersten Skizze eine Oberflächenvergrößerung konzipiert, die den Schall von außen zum Teil reflektiert und zum Teil absorbiert. Das ist das eine. Das andere ist, dass mich Musik immer schon interessiert hat. Ich wollte dieses Mal nicht den blöden Vergleich strapazieren, dass Architektur „gefrorene Musik“ sei, sondern ich wollte lebendige Musik machen. Wir haben daher via Computer ein paar Takte aus zwei meiner Lieblingsstücke – die Arie des steinernen Gastes aus Don Giovanni und Jimi Hendrix’ „’Scuse me while I kiss the sky“ – in ein Computerprogramm übersetzt, das uns erlaubt hat, diese Oberflächenvergrößerungen in Größe und Richtung zu bestimmen. Dass das Pyramiden geworden sind, hat mit der Bautechnik zu tun, weil die am einfachsten zu erzeugen waren. Und nachdem wir über verschiedene Modelle gegangen sind, haben wir uns für die perfekte Form – die auch durch einen akustischen Konsulenten überprüft wurde – entschieden und gebaut. ! Mozart, Jimi Hendrix und die Rolling Stones. ? Musik ist wichtig in Ihrem Leben und Arbeiten, oder? ? „Rolling Stone“ ist natürlich auch für einen Dekonstruktivisten ein schöner Begriff? ! Ja. Ich gehe gleich nach unserem Gespräch zur Aufnahmeprüfung meiner neuen Studenten. Die kriegen von mir die Frage gestellt, welche drei Musiker/Komponisten ihnen die wichtigsten sind. Und wer da nur zwei hat, für den sieht´s finster aus. ? Welche sind Ihre? ? Deshalb auch der Titel eines Ihrer letzten Bücher „Get Off of My Cloud“? ! Ja. ! (Lacht). Ja, obwohl´s natürlich nix damit zu tun hat. Außer dass Musik sicherlich auch dekonstruktivistisch erfahren – bzw. komponiert wird. ? Lieber Professor Prix, die jetzige Frage haben Sie sicherlich schon eine Milliarde Mal beantwortet. Dennoch: ! Der Dekonstruktivismus ist eine philosophische Richtung, die von Jacques Derrida begründet wurde, der von Martin Heidegger und Edmund Husserl beeinflusst war und der Psychoanalyse Sigmund Freuds nahe stand. Derrida sagt – vereinfacht ausgedrückt – dass in jedem Text ein so genannter „weißer Fleck“ vorkommt, nämlich ein unbewusst geschriebenes Wort oder Satz oder eine ganze Passage, der, die oder das – obwohl unbewusst geschrieben – den ganzen Text regiert. Bei uns haben wir sehr früh damit begonnen, analog zu dieser philosophischen Idee mit dem empfindlichsten Punkt des Architekturprozesses – nämlich dem Moment des Entwurfs – zu experimentieren. Unsere Meinung war: Wenn wir den Moment des Entwurfs freihalten können von den ökonomischen, funktionellen und rechtlichen Zwängen, dann wird der Raum befreit. Das war Ende der 70er Jahre. Wir haben dazu unzählige Versuche unternommen, bis wir sogar ein Haus entwickelt haben, das mit geschlossenen Augen gezeichnet wurde, um sich von keinem Zwang ablenken zu lassen. Dabei haben wir bewiesen, dass, wenn man das Unbewusste nicht im Moment des Bewusstwerdens behindert und dabei alle Sachzwänge ausschaltet, dann die Realität zwar Kopf steht, man sie aber bauen kann. ? Hört sich nach „Sturm der Gehirne“ – also Brainstorming – an? ! Ja, eigentlich ist Architektur in unserem Atelier ein „Brainstorming im Team“. Und das haben wir uns von unseren Kindern abgeschaut. Die haben sich nie die coop himmelb ( l ) au Art Museum Strongoli © Sandburgen zerstört, sondern haben sie sich gegenseitig ergänzend aufgebaut. Oder wie die Rockgruppen ihre Musik schreiben: Da kommt einer mit einer Idee, spielt einen Lick und der andere spielt was dazu. So entstehen Nummern. Und genau so muss man sich auch unsere Arbeit vorstellen. ? Daran anschließend muss ich gleich nach einem Zitat fragen...? ! ... Der Nachteil daran, dass man älter wird, ist der, dass die Leute sagen, Sie haben schon einmal gesagt... (lacht und zündet sich eine Zigarre an). ? Es fällt mir auf, dass Sie in einem ganz alten Fabrikgebäude wohnen...? ! Nein, nein. Wir arbeiten hier. Ich hätte mir lieber ein Büro selber gebaut, aber das scheitert an den finanziellen Möglichkeiten eines Architekten. Aber ich wohne in einem von mir gebauten Wohnhaus. Das möchte ich betonen. Das ist ein progressiver Bau aus sechs Häusern zusammengeschlossen mit 34 verschiedenen Wohnungstypen. Und da wohn´ ich auch. Ich wohne nicht in einem altbau. ? Warum nicht? ! Weil ich Fenster liebe, die bis zum Boden reichen. Ich habe lange gebraucht, um herauszufinden, warum ich mich damals in Kalifornien in den modernen Einfamilienhäusern so wohl gefühlt habe: Weil bei denen die Fenster bis zum Boden gehen. ? Das zum Thema „unbewusst“? ! Richtig. ? Wenn ich die Vielfalt der fantastischen Bauten sehe, die Sie und Ihr Büro planen, also das Akron Art Museum, die ezb, das Art Museum Strongoli..., dann frage ich Sie: Gibt es so etwas wie ein Lieblingsgebäude? ! Immer das Nächste. ? Wenden wir uns der Zukunft zu. Was erwartet uns bei der Europäischen Zentralbank? ! Ein neuer Typ eines Hochhauses. Ein Hochhaus, das in drei Teile zerlegt und sehr raffiniert wieder zusammengesetzt wurde, wobei die Geschossflächen verschieden sind. Das widerspricht dem normalen Hochhausbau, weil normalerweise eine Grundfläche gerade von unten nach oben weiter gebaut wird. Wir haben bei diesem Hochhaus aber einige Dinge auf den Kopf gestellt. Eines der drei Teile ist unten schmaler als oben und ein anderes Teil ist oben schmaler als unten. Das ergibt eine gedrehte Form, die das Haus von verschiedenen Blickpunkten verschieden aussehen lässt. Also praktisch wie einen Januskopf. Oder eine Münze. Womit wir das Thema Geld aufgenommen haben. Im mittleren der drei Teile sind hängende Gärten geplant, die das Mikroklima dieses großen Atriums unterstützen. Auf der Metaebene gesprochen, haben wir bei diesem Gebäude die dialektische Auseinandersetzung zwischen Neu und ? Das sieht man ja an Berlin, Hamburg und Wien. Das sind ja alles Zusammenschlüsse aus vielen Einzelgemeinden zu einer gemeinsamen Stadt. ! Ja, aber das war auch lange das Problem in Wien: Die Innenstadt war lange die mentale Landkarte der Wiener. Und diese Innenstadt ist eine Historische. Deshalb hat jeder Wiener gedacht, dass eine Stadt nur eine historische Stadt sein kann. Das hat die Entwicklung der Moderne in Wien sehr, sehr behindert. Erst jetzt durch das polyzentrische Wachstum entstehen Spannungsfelder, aus dem Neues dynamisch entstehen kann. ? Sie haben vorhin über Ihre Studenten gesprochen. Wie viele Lehrstühle haben Sie inne? Harvard. Buenos Aires. Was noch? ! Da war ich überall mal. Jetzt bin ich Vizerektor und Leiter des Instituts für Architektur an der Universität für angewandte Kunst Wien und leite auch einen eigenen Studiengang gemeinsam mit Zaha Hadid und Greg Lynn. Was wir an unserer Schule erreicht haben, ist, dass wir das internationale Netzwerk, das vorher nur sehr bescheiden vorhanden war, ausgebaut haben, so dass unsere Studenten jetzt die Möglichkeit haben, über den Tellerrand zu blicken. ? Welche andern Architekten schätzen Sie als Kollegen? ! Ich habe jetzt gerade die Elbphilharmonie von Herzog & de Meuron gesehen. Ein fantastisches Gebäude. Zaha Hadid, Rem Koolhaas, Thom Mayne, Eric Owen Moss, auch Norman Foster – sind zum Teil meine Freunde, zum Teil schätze ich deren Architektur sehr. ? Wenn jetzt eine Fee käme und würde Ihnen den Wunschauftrag schlechthin offerieren. Wie sähe der aus? ! Eine Stadt zu bauen. Aber nicht allein. Sondern mit all diesen Kollegen zusammen. • N6 Prof. Prix verbindet in seinen Bauten visionären Weitblick mit praxisnaher Nutzbarkeit. Eine Haltung wie sie auch Nachmann Rechtsanwälte in der Arbeit für ihre Mandanten immer wieder suchen. European Central Bank © Isochrom.com, Vienna Alt aufgenommen. Wobei die Überlegung, dass wir Neu und Alt kombinieren müssen, uns ja nicht fremd ist. Das gibt´s in Wien ununterbrochen. Wir sind überdies Verfechter des aktiven Denkmalschutzes, das heißt, wir übernehmen in den neuen Bauten die Proportionen des Alten, ohne das Alte nachzubauen. Dennoch war die Realisierung sehr komplex. Die Markthalle war nämlich architektonisch ganz anders organisiert wie das Konferenzzentrum, das jetzt in diese Markthalle eingebaut werden musste. Das zweite Thema dabei war: Wie schaffe ich dennoch einen attraktiven Eingang zu dem dahinter stehenden Hochhaus, in dem die eigentliche Europäische Zentralbank ihren Sitz hat? Dann mussten wir noch die Funktionen lösen, das Verhältnis öffentliche versus private Räume und die Sicherheitsbestimmungen. Das war eines der Hauptthemen: Wie man die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen um das Gebäude so arrangiert, dass es nicht in einem Zaun endet. Wir haben da mit Landschaftsplanern zusammengearbeitet, die Außenareale gestaltet haben, die nicht als abweisende Sicherheitszonen zu erkennen sind. Ich bin der Überzeugung, dass dieses Gebäude einen neuen Entwicklungsschub in diesem Gebiet auslösen wird. Es wird dann in Frankfurt nicht mehr ein Zentrum geben, sondern zwei. Und das halte ich ja für ganz wichtig, weil polyzentrisch immer besser ist als monozentrisch. competence Seite 98 Warum machen Sie so ein Magazin, Herr Nachmann? Offene Worte des Herausgebers über seine Motive, dieses Magazin nun schon zum sechsten Mal erscheinen zu lassen, was diese Motive mit den Aufgaben einer Wirtschaftskanzlei zu tun haben und warum die heutige Zeit mehr eigenwillige Köpfe braucht, aus deren gegenseitigem Respekt Vertrauen entsteht. Ungewöhnliche Ansichten eines Mannes, der durch seine Arbeit als Wirtschaftsanwalt mehr als nur konstruktive Impulse setzt. ? Herr Nachmann, die vorliegende Ausgabe dieses Magazins trägt die Nummer 6. Das bedeutet: N ist kein Schnellschuss gewesen oder eine vorübergehende Laune seines Chefs, sondern ist offensichtlich auf Nachhaltigkeit angelegt. Überdies spürt man die Entwicklung des Heftes. Es wird umfangreicher, professioneller und findet immer mehr eine eigene Linie. Da muss die Frage gestattet sein: Warum machen Sie so ein Magazin? ! Eine Anwaltskanzlei schwebt nicht im freien Raum, sondern ist eingebettet in die Gesellschaft, in der sie lebt. Ein Teil dieser Gesellschaft wird durch die Massenmedien abgedeckt. Mit unserem Magazin verfolgen wir eine andere Richtung: Bei uns sollen Verantwortungsträger zu Wort kommen, die ihren eigenen Kopf haben und das leben, was in diesem Kopf vorgeht. Denn ich denke, dass wir für die Herausforderungen unserer Zeit sehr viel mehr die Ideen dieser eigenwilligen Denker und Macher brauchen, um Antworten auf die anstehenden Fragen zu finden. ? Am Ende eines jeden Artikels steht ein kleiner Hinweis, in welcher Beziehung der Porträtierte oder Interviewte zur Kanzlei steht. Von James Turrell über Dr. Notker Wolf bis zum Präsidenten von Arte reicht die Palette derer, die allein in diesem Heft zu Wort kommen. Haben die alle etwas mit Ihrer Kanzlei zu tun? Oder muss das gar nicht sein? ! Der Abtprimas der Benediktiner, Dr. Notker Wolf, ist genau der eigenwillige Denker, den ich meine. Ebenso wie Professor Hanns Hatt, der mit seiner Forschung zum Riechen völlig neue Türen aufgestoßen hat – und von dem wir noch viele bahn- brechende Erkenntnisse über die Zusammenhänge im menschlichen Körper erwarten dürfen. James Turrell wiederum verkörpert mit seiner Kunst einen Stil, den auch wir sehr schätzen: Er sucht bei seinen künstlerischen Aussagen nämlich nicht nur nach ästhetischen Lösungen, sondern auch nach Lösungen, die in ihrer Klarheit elegant sind. Das verbindet ihn mit Professor Prix, der in seinen Bauten ja auch ein hohes Maß an Ästhetik mit Nutzbarkeit verbindet. Turrell ist außerdem der Erste, der für mich Licht zu einer (fast) anfassbaren Realität gemacht hat. Außerdem erfüllt es uns mit Freude, dass wir Florian Holzherr, seinen exklusiven Fotografen, zu unseren Klienten rechnen dürfen. Und schließlich und endlich sind wir sehr stolz, dass der Präsident von Arte, Dr. Langenstein, zu einem Gespräch mit uns bereit war. Wir schätzen Arte, weil dieser Sender im Reigen der kommerziellen und öffentlich-rechtlichen Anstalten nicht nur der Sender mit dem jüngsten Publikum ist, sondern auch für medialen Mut steht. Denn er probiert Neues aus, ohne Gefahr zu laufen, in grellbunten Mainstream abzudriften. Und er tritt den Beweis an, dass es geht, Substanz, attraktive Optik und gute Unterhaltung zusammenzubringen – und damit Erfolg zu haben. Dafür an dieser Stelle meinen ganz persönlichen Dank. Stefan Hemmerle ist mit seinen Schmuckkunstwerken zu einem Kulturrepräsentanten Münchens geworden. Mit Dr. Armbrecht teilen wir die Liebe zur Oper, die von BMW und MINI so vorbildhaft gesponsert wird, und wo wir auch einen, wenn auch kleinen Beitrag leisten. Und Dr. Smerling habe ich über sein Engagement für die Salzburg Foundation kennen lernen dürfen und bewundere bei ihm sein Geschick, private und industrielle Gönner der Kunst dafür zu gewinnen, Werke einem breiten Publikum zugänglich zu machen, sei es im Museum oder im öffentlichen Raum wie dem „Walk of Modern Art” in Salzburg. ? Was sagen andere Kanzleien zu Ihrem Magazin? ! Es gibt viele Kollegen, die uns zu unserem Magazin beglückwünschen – was mich natürlich freut – weil wir damit als Juristen ja durchaus Neuland betreten haben. In der „Neuen Juristischen Wochenschrift“ sind wir zum Beispiel als Kanzlei des Monats vorgestellt worden. Aus dem Kollegenkreis kommt also Anerkennung. Übrigens umso mehr je länger es uns gibt. ? Und wie reagieren die Leser und wer sind sie? ! Unsere Leser sind natürlich zuallererst unsere Mandanten und die Unternehmen, mit denen wir geschäftliche oder freundschaftliche Beziehungen unterhalten. Dabei muss ich an dieser Stelle – wenn Sie gestatten – meiner Freude Ausdruck verleihen, dass unsere Kunden nicht nur unser Magazin erhalten, sondern es auch lesen. Die Gattin eines Bankiers schrieb uns, dass das aktuelle N auf ihrem Nachttisch liegt und sie jeden Abend darin liest... ? ... näher kommt man an seine Klienten nicht ran! ! Das denke ich auch. Wir erreichen also nicht nur diejenigen Menschen, die aufgrund ihres sehr verantwortungsvollen Berufs eigentlich nur wenig Zeit zum Lesen haben. Wir sind in der ganzen Familie präsent. Ich frage Sie: Wo gibt es das, dass der Ehemann seine „Geschäftslektüre“ mit nach Hause nimmt – und die Familie darin mit Vergnügen liest. ? Glauben Sie, die Themen reichen bis zu einem N 50? ! Da habe ich überhaupt keine Zweifel, weil das Magazin von außergewöhnlichen Menschen lebt, von ihrer Arbeit und ihrer Sicht der Dinge. Hinzu kommt, dass diese Köpfe in der Polarität des täglichen Lebens wirken – also zwischen einerseits aktuellen Trends, die aus der Entwicklung einer Gesellschaft und ihren Zeitströmungen erwachsen, und andererseits eine zeitübergreifende Haltung verfolgen, wie sie zum Beispiel in dieser Ausgabe Karl Ludwig Schweisfurth darlegt. Er hat ja nicht nur ein Leben lang versucht, das, was er tat, zu optimieren. Das versuchen wir letztlich alle. Nein, Karl Ludwig Schweisfurth hat in seinem inzwischen 80-jährigen Leben den Mut aufgebracht, mit 54 eine radikale Änderung seines Kurses einzuschlagen und erst mit der ökologischen und inzwischen „symbiotischen Landwirtschaft“ ganz neue Wege auszuprobieren. Und nicht nur das: Er kann durch sein Herrmannsdorfer Modell belegen, dass eine ökologisch-symbiotische Landwirtschaft nicht nur leckerere Produkte für uns Menschen schafft, sondern auch die Welt, in der wir leben, lebenswerter macht – angefangen von der Gesundheit des Bodens, auf dem wir stehen, bis hin zu den Kreaturen, mit denen wir gemeinsam in dieser Welt leben. Und all das hat er sich nicht in einer rosaroten Utopiewelt zusammengedichtet, sondern immer unter dem Postulat der wirtschaftlichen Machbarkeit, nachhaltige Wirklichkeit werden lassen. Eine Leistung, vor der man seinen Hut sehr tief ziehen muss! ? Sie denken sehr ungewöhnlich für den Chef einer Wirtschaftskanzlei! ! Nicht wenn man die Dinge zu Ende denkt. Sehen Sie, wir betrachten uns natürlich als ein Organ der Rechtspflege und könnten diese Arbeit sehr gut tun ohne dieses Magazin. Keine Frage. Aber gerade bei rechtlichen Auseinandersetzungen kommt es darauf an, dass die gegnerische Seite sieht, dass unsere Standpunkte aus einer verantwortlichen Grundhaltung entstanden sind und das Ziel einer konstruktiven Lösung haben. Dazu bedarf es natürlich zunächst einer hohen rechtlichen Kompetenz, um eine Lösung für die Sache selbst zu finden. Andererseits ist es aber ebenso zentral für den Ausgang, dass auf der anderen Seite Vertrauen für unsere Arbeit entsteht, damit es am Ende zu einer konstruktiven Lösung kommt, mit der beide Parteien leben können. Doch wodurch entsteht Vertrauen? Durch Glaubwürdigkeit! Und diese Glaubwürdigkeit zu leben, ist ein Teil der Botschaft des Magazins N. ? Ist das die Philosophie Ihrer Kanzlei? ! Sehen Sie, keiner unserer Mitarbeiter steht morgens auf, schaut in die Philosophie – die sie übrigens auf unserer Internetseite nachlesen können – und nimmt sich vor, sie mit allen Poren seines Seins an diesem Tag in die Tat umzusetzen. Dazu ist das Alltagsgeschäft zu hart, zu schnell und zu stressig. Aber wenn nach Lösungen für Konflikte gesucht wird, dann sollte unsere Philosophie der rote Faden sein, der jeden einzelnen Mitarbeiter auf dem Weg zu diesem Ziel leitet. Ohne einen solchen Kompass kommt man leicht vom Weg ab, verliert das Ziel aus den Augen und läuft Gefahr, in Streitereien steckenzubleiben. In einer Wirtschaftskanzlei, wo ja RessourcenZusammenschlüsse für neue Aufgaben beschlossen und verhandelt werden, kommt es immer auf das gegenseitige Vertrauen an. Denn ohne gegenseitiges Vertrauen geht man keinen gemeinsamen Weg. Vielleicht nebeneinander. Aber nicht miteinander. Womit wir wieder beim Thema „Vertrauen“ und „Glaubwürdigkeit“ sind. Das sind übrigens nicht nur meine Themen, sondern sie sind auch für meine jungen Kolleginnen und Kollegen bei der Wahl ihres Arbeitsortes sehr wichtig gewesen. ? Wen würden Sie gerne in Ihrem Magazin interviewen – außer vielleicht den Papst? ! Ohne Witz, genau der würde mich am meisten interessieren. ? Warum? Sind Sie so „kirchlich“? ! Darum geht es gar nicht. Er repräsentiert eine Haltung für die auch unsere Kanzlei steht – die Christliche. Das heißt nicht, dass wir in allen Fragen dieselben Positionen beziehen, aber gerade aus den unterschiedlichen Blickwinkeln würde sich aus meiner Sicht ein sehr interessantes Gespräch ergeben. Schließlich ist es ja so, dass mit Benedikt XVI. seit vielen Jahren – vielleicht sogar überhaupt zum ersten Mal – ein Intellektueller auf dem Papstthron sitzt. Deshalb glaube ich, dass ein solches Gespräch sehr interessante Impulse geben könnte. ? Wer würde Sie noch reizen? Vielleicht ein wenig weltlichere Zeitgenossen? ! Nehmen wir mal die Struktur unseres Magazins auf: Da fiele mir unter „My Neighbourhood“ Giorgio Armani ein, der nicht nur die ästhetische Selbstdarstellung von Millionen Menschen auf elegante Art beeinflusst hat, sondern dabei ein Imperium aufgebaut hat, das seinesgleichen sucht. Unter „My Munich“ sähe ich gerne – und nun werden wir in der Tat sehr weltlich – Uli Hoeneß, dem mit dem Aufbau des FC Bayern eine hoch attraktive Marke gelungen ist. Von Franz Beckenbauer wüsste ich gerne, wie er „My Bavaria“, also seine Heimat sieht, und von Karl Theodor zu Guttenberg würde ich gerne seine Vision für Deutschland erfahren. Nicht weil er von der Presse als Medienstar gefeiert wird – so was lässt ja auch schnell wieder nach. Nein, weil er durch seine Familie mit ihrem in vielen Generationen gewachsenen Verständnis von Engagement für die Gesellschaft eine auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Haltung verkörpert. Denn ich glaube, dass wir in unserer durch Quartalsergebnisse geprägten Epoche uns allzu leicht in den Anforderungen des Alltagsgeschäfts verlieren können – wenn wir nicht eine auf Langfristigkeit und bestimmten ethischen Standards ruhende Grundhaltung zu uns und unserer Arbeit haben. ? Das hört sich nach vielen weiteren Ausgaben an, weshalb wir Ihnen nicht nur wünschen, dass Sie es bis N 50 schaffen, sondern bis N 120! ! Herzlichen Dank. •