Forschungsjournal Soziale Bewegungen

Transcription

Forschungsjournal Soziale Bewegungen
1 Y 12892 F
Postvprtriebsstück
Entgelt bezanlt
Neue Soziale
FORSCHUNGSJOURNAL
Bewegungen
@
WESTDEUTSCHER
VERLAG
Heft 2 - Juni 1997
DM18,-
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , J G . 10, HEFT 2, 1997
—
Editorial
M a r g i n a l i t ä t und Mobilisierung
Zwischen Aufstieg und Ausstieg sozialer Bewegungen
3
Call for Papers: V o m Sozialstaat zur Wohlfahrtsgesellschaft?
Akteure zwischen Pflicht und Engagement
12
Essay
Christian
Welzel
Die ostdeutsche B ü r g e r b e w e g u n g als Gegenelite?
Kai- Uwe
13
Hellmann
Marginalisierung und Mobilisierung. Konzeptionelle Ü b e r l e g u n g e n zur
Emergenz und Mobilisierung von Marginalisierten
Roland
23
Roth
Die R ü c k k e h r des Sozialen. Neue soziale Bewegungen,
poor people's movements und der K a m p f um soziale B ü r g e r r e c h t e
Stefan
38
Pabst
Sozialanwaltschaftliche Interessenvermittlung
Die Armutsberichterstattung der W o h l f a h r t s v e r b ä n d e
Friedhelm
51
Wolski-Prenger
M a r g i n a l i t ä t und Widerstand
Mobilisierungsprobleme der Arbeitslosenbewegung
Harald
63
Rein
' W i r k ä m p f e n um das, was wir brauchen'
Stand und Perspektiven des Erwerbslosenprotests
Eric
70
Hammann
F ü r eine K u l t u r der Gleichheit in der Verschiedenheit
Selbstorganisierte ambulante Dienste am Beispiel des fib e.V.
76
Pulsschlag
Iris
Bauer
P a l ä s t i n a am Scheidepunkt
Civil Society zwischen Befreiungskampfund Demokratie
Volker
90
Lorek
Thatcherismus und die Proteste gegen die poll tax
94
W^9M
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1 9 9 7
Stephanie
Hoffmann
Von der Subkultur zur Bewegung und z u r ü c k ?
Die Lesbenbewegung der ausgehenden 90er Jahre
Thorsten
Ullrich
S.O.S. Tierrechte H a ß b e r g e . Eine neue Gruppe in einer neuen Bewegung
Jens Sambale/Dominik
103
Brenner
Arbeitslosenzeitung 'quer'
Bernd
100
Veith
Marginalisierung als urbaner P r o z e ß
Britta
97
107
Hüttner
Das 'Archiv der Sozialen Bewegungen' H a m b u r g
108
Treibgut
Materialien, Hinweise, Notizen, Termine
110
Bewegungsliteratur
Rezensionen
Fritz
Vilmar
Im Streit f ü r die Umwelt
Jo Leinen, Basis-Aktivist und Minister (Karl-Ott Sattler)
Regina
114
Kröplin
Gewerkschaftsarbeit im Wohnbereich (Volker Hielscher u.a.)
115
Annotationen
116
Aktuelle Bibliographie
118
Abstracts
122
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2,
1
Marginalisierte
Agenda
Bewegungen
nachlässigte
schung
Phänomene.
konzentriert
Analyse
und Akteure,
vorrangig
erfüllen,
te eine
den
Mobilisierung,
Scheiterns
dann
der
sozialen
Fragestellung,
Erklärungsbedürftig
Prozeß
der Marginalisierung
resultieren
Anwendungsfall
bietet
etwa
die
kanische
Studentinnenbewegung.
durchaus
erfolgreiche
ker werdenden
Bewegung
gezeigt
zu den
an
müßte
wel-
und
AgenStuden1
versickern.
Spannungsfeld
und
von Mobilisierung
mit seinen
renden
soziale
Folgen
für
dient Aufmerksamkeit.
rikanische
Anders
auf die an
Wertehorizonten
ausgerichteten
len Bewegungen'
konzentriert.
baren sozialstrukturellen
Bundesrepublik
gehen.
dien ermöglicht
und
Die soziale
sozia-
Entwicklungen
Bewegungssektoren
sich daher
an, den
jedoch
Blick auf Akteure,
Anliegen
zurück.
1
und neue Armut
behinderte
darauf,
daß sich
am Rande
Gesellschaft
Die
Sozialabbau
der
'poor
und
rung.'' Zugleich
scheint
von
genannten
an-
mit den Betroffenen
Probleme
Aushöhlung
voranschreitenrationalisierungs-
verschärfen
Marginalität
und
die
Pro-
Marginalisie-
die Sensibilität
wie auch die
aber
einige
unserer
bedingte
Stellenabbau
Gewalt
sind nur
Bedingungen
den
über
1997f,
Straßen-
die
verschlechtern.
von
Wilk
oder auch die
Menschen*
einem
die v.a.
A. Cloward
Langzeiterwerbslosen
und Obdachlosigkeit ,
für Menschen
bleme
OffizielMillionen,
5
Wohnungsnot
zunehmend
zunächst
5
1996:193;
auszu-
zu suchen,
und Richard
den
ist (Geißler
durch
Diskussionen
F. Piven
von knapp
ein Drittel
Hinweise
sozia-
ist
von Problemlagen.
Wohlfahrtsstaates
an US-amerikanische
Frances
Eindeutig
des
Anschluß
den
Fallstu-
der Bewegungsansatz
in der
people's
movements'
wovon
gegen
beobacht-
liegen
auf
Frage kehrt auf die Agenda
zuzuordnen
na-
'neuen
'Randgruppenpro-
basierenden
le Arbeitslosenzahlen
bislang
Die
der
FraBezüge
MobilisierungschancenZ-hemmnisse.
kinder''
postmateriellen
Bewegung
von
zu den aktuellen,
einen integrativen
die
legen es aber nahe, von
wichtiger
Es bietet
US-ame-
in
Thematische
Randgruppenkonzepten
hat sich
Bewegungsforschung
hezu ausschließlich
ver-
als die
Bewegungsforschung
europäische
Wandel
marginalisie-
Bewegungen
skiz-
marginalisierten
in den 60er und 70er Jahren
ler Bewegungen
Scheitern
vorlie-
sich dem hier
Marginalen
Diskussionen
eine
etablierDas
von
der Mobilisierung.
zu-
auf
Berücksichtigung
die Akkumulation
Doch nicht nur die Frage nach dem
etc.
wir hier
beiträgt?
widmet
nahe. In Abgrenzung
Es
Selbstorganisation,
die zur Segmentierung
besonderer
dieser
aufgrund
politisch
unter
AnliePolitik
Koalitionen
oder stoßen
Bewegungen
gen
stär-
von
Politik,
Die
nachfolgender
tinnengenerationen
zierten
und die
ausgerichteten
Formenmix
blematik'
die Mobilisierungs-
da Setting-Versuche
wäre
soziomomarginalisier-
Gruppen
Themenheft
dann
ausdifferen-
Können
ter Bewegungssektoren
gende
dramatisch
können,
in einem
advokatorischer
bundesrepubli-
eingebüßt.
werden
cher Faktoren
ter gesellschaftlicher
sich
in
Anerkennungskämpfe
gen einer postmateriell
ihres
Bewegungs-
Frage bezieht
Bewegungssektoren:
ralische
kann.
hat trotz
Problemdrucks
Mobilisierungsfähigkeit
zierten
Entwicklung,
ehedem
Die für die
die Kooperationsformen
die
Scheitern
sind?
interessante
sammengehen
von
der aus dem
interessanten
Fragestellung
dann
denen
auf
worden
hät-
erfolgreicher
nach
Protestmobilisierung
Einen
Folgen
fragt?
Bewegungen,
Gele-
wirkungs-
Gründen
sondern
und
dieser
Interessen
dieser
nach
die
sozialen
Doch welche
Umkehrung
mehr
auf
sind und die Vor-
innerhalb
ihre
voll zu thematisieren.
geregt
forschung
Protestbewegungen
verankert
genheitsstrukturen
der
ver-
Bewegungsfor-
die im politischen,
System
aussetzungen
nicht
Die
sich
auf
bislang
'erfolgreicher'
kulturellen
von
sind
der Bewegungsforschung
3
1997
rückläufig.
für
die
Solidarität
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , J G . 10, HEFT 2, 1997
Das Zentrum
ripherie
der Gesellschaft
zur eigenen
nalität
zementiert
einer dominanten
des Wohlfahrtsstaates
projiziert
werden,
politischer
nicht
begreift,
viduen
zuschreibt
politischer
Ohnmacht
politischer
wesentliche
Hintergrund
systemischer
erfolgreicher
vor
Individuen
Öffnung
(Kirchen,
Gewerkschaf-
Parteien)
für
In derartigen
sich die Betroffenen
Mobilisierung,
Dort,
wo marginalisierte
essen
artikulieren,
sen
Gruppen
als
Anliegen
Inter-
auf die Teilhabe
lagenspezifischen
men und respektiert
ab, mit den
Besonderheiten
zu
Der
sich
definierten
zielt darauf
Mobilisierung
in Bewegung
glaubte
dabei
nalen
in Bewegung
unnoticed'
(Miller
dar und prägen
die
sich
Marginalen
die
Themenebene
überwunden
ge-
Thematisiert
werden
- in Anlehnung
an die Unterteilung
von
(1982)-
überschießende
Erwartungen
nicht
an Entfaltungswerte
und
orientierten
(rising demands), sondern
des
materiellen
grundlegenden
lichkeiten
Verteidigung
und
Marginalen
in einer
trale Kategorien
stoßen
sozialer,
und
meist
schnell
und
'Normali-
Anliegen
ergeben.
problem-
müssen
grundsätzlich
an
verdrängt
mangelt
es of-
und
der Marginalen.
können
sich
der Thematisierung
ihre
berüh-
Existenzängste
an Aufmerksamkeit
2
Diskus-
Bereiche
Der Kerngesellschaft
rungshemmnisse'
und
Entsprechende
jedoch
tät für die Anliegen
zen-
wirtschaftlicher
da sie 'tabuisierte'
Weise
betreffen
getrimmten
Erwerbsgesellschaft
Teilhabe.
fensichtlich
gesellBehinde-
und Obdachlosigkeit
leistungsorientierten
werden.
der
wie Alter,
auf Jugendlichkeit
kultureller
der
Partizipationsmög-
(need defence). Themen
rung, Arbeits-
sionen
Akteuren
die
Fundamentalbedarfs,
Rechte
schaftlichen
Brand
Selbstverwirklichungs-
von postmateriell
im Zen-
SensibiliMobilisie-
aus der
der
Art
eigenen
Die artikulierten
Themen
zwei Kriterien
erfüllen:
angenom-
werden.
Es muß sich um Forderungen
an die Thematik
der
Margi-
und
Ansprüche
die verallgemeinerungsfähig
Betroffene
wie potentielle
des 'seen
but
tretbarsind.
1993: 154) kann über
vier
werden,
als Sphäre
bezieht
für
er-
Im Falle der
Deprivationen.
handeln,
Eine Annäherung
stellen
einer
auf fundamentale,
ren, in die bestimmte
Interes-
an einer
die Grundlage
des Protests.
jedoch
so
Wertorientierungen
vielmehr
Würde.
bezieht
folgreichen
Agenda
Ausführun-
Wertewandel-Diskussion,
Grenzen,
An-
und
zur
offenbar
n
individuellen
der Gesellschaft
tät', sondern
ihre
es sich
Protest,
nach Anerkennung
nicht allein
trum
der
Heraus-
schaffen.™
nach gesellschaftlicher
der eigenen
sowie
Wunsch
Voraussetzungen
wie z.B. die
um politischen
erkennung
zunächst
Identität,
handelt
um die Forderung
deren
Anerkennungs-
und die
einer kollektiven
zu
gesellschaftlicher
führt.
politischer
diesem
Anerkennung
können
weniger
mit
negativer
kämpfen
bildung
Indi-
oftmals
scheint
marginalisierter
erfahren
changie-
(1) Folgt man den einschlägigen
Protestbewegungen
Anliegen
als Gruppe
Adlerperspektive
ren:
Folge
1992: 5 2 f f ) . Margi-
Wohlfahrtsverbände,
krosoziologischer
als eine
angesichts
undpolitischerAkteure
ma-
postmaterialistische
Voraussetzung
die zu einer
zwi-
und
Wohl-
die soziomoraiische
der Interessen
die
Frosch-
des
sich daher
Mobilisierung
geschehen,
gen
Chancenstrukturen.
politischer
ten,
die
den betroffenen
(Gans
verbindet
Ebenen
mikrosoziologischer
Weise
und
sondern
nalisierung
sein,
mehr
interdependente
schen
Auf die von
in einer
Entscheidungen
Effekte
Status
können
die das Versagen
dann
Pro-
den
Betroffenen
Probleme
fahrtsstaates
Margi-
bestimmter
zugleich
Mehrheitskultur.
Exklusionsprozessen
die Pe-
und die
und Marginalisierung
blemgruppen
Eine
benötigt
Verortung,
Sympathisanten
Die Mobilisierung
kann
wenn es sich um als bedrohlich
und für
vererschwert
wahr-
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2,
genommene
Themen
rung
einer
blüfft
insbesondere
aktuellen
schen
Lage,
Blockie-
vor dem Hintergrund
und
da auch
die
Diese
Generalisierung
arbeitsmarkt-
stärker
die
'Nicht-'
Problematisierung
alternativer
Der zweite
betrifft
lung an die Sphäre
die
Erleben.
für die Arbeitslosen
sowie
Was Wacker
herausgearbeitet
wird.
nung
auf die entsprechenden
Dadurch
Gruppen
zu:
Schickwahrgenom-
unterbleibt
träger, die öffentliche
(1987)
trifft
individuell
men
an
hat,
marginalisierte
sal, das aber lediglich
wirt-
als auch
ist ein massenhaftes
die
Zurech-
Entscheidungs-
Skandalisierung
und die
der (potentiell)
von externen
Betroffenen.
(2) Marginalisierte
Gruppen
sind
Gesellschaft,
sourcenebene
benachteiligt
oder
teilweise
chen
Zusammenhangs
236).
Die Teilhabe
zialen
und
unmöglich,
wenn
des
Leben
ist jedoch
Grundausstattung
gen Armen'
Sozialpolitik,
sourcenintensiv
1992:
stützung
gen
ausschließlich,
mehrheitlich
dachlosenbewegungen
sozialer
Dabei organisieren
können
interne
haben
teil, sich stärker
sich
Trägern
die Bewegungen
den
Vorselbst
können.
von externen
auf die zentrale
katorischen
Handelns
Bewegung.
Aufgrund
so-
bilisierungsschwächen
fast
herem
Maße
für
abhängig
'unwürdires-
(re-)integriert
des ReEntstestrukturel-
sich aufgrund
als andere
mulieren,
zu bündeln
politische
Sphäre
torischen
Allianzen
systemische
stimmte,
Forderungen
dann
Organisationen
betroffen
aus,
sind,
sondern
berufen
der Marginalen
füh-
zu
und an die öffentliche
weiterzuleiten.
Die
übernehmen
'Puffer-Funktion'.
nicht
sozia-
gehen
Einzelperso-
ihres Engagements
len, die Forderungen
vermittelbare
auf der Strecke
hö-
Fürsprecherinnen
Viele Initiativen
unmittelbar
in
Mo-
sind sie in weitaus
und Initiatorinnen
die nicht
advo-
der beschriebenen
oder
pater-
des
die Marginalen
von externen
le Bewegungen.
Ressourcen
Bedeutung
Institutionen
neben
schaffen
den Protestaktivitäten
nen,
Voraussetzung
1102).
innerhalb
wo sie sich etablierten
anschließen,
Ob-
Ressour-
1996:
sondern
im
die
sie sich weniger
Netzwerke,
zu
Hilfe
Lediglich
(Cress/Snow
verweist
52).
Bewegungen
auf
cen zurückgreifen
Dort,
Zuwendun-
erhalten.
Ressourcen-
source M o b i l i z a t i o n A p p r o a c h - die
hung
materielle
der Humanressourcen
eigene.
etwa
Unter-
und informationelle
von außen
bestehender
Obdach-
daß diese moralische
weitestgehend
Bereich
einer
Be-
Cress und Snow
kommen
zu dem Ergebnis,
prominenten)
die die
Maße
In
lose einsetzen,
von (oftmals
zwangsweise
Wenn - so die zentrale
in starkem
die sich für
(3) Die Abhängigkeit
an
und mehr oder minder
Ressour-
von 15 US-amerikanischen
ganz
von ge-
einer
Grup-
von
abhängig:
auch
Voraussetzung
betreut
hinaus
und einer die Ei-
unterminierenden
Mobili-
Teil
1965:
am gesellschaftlichen,
Erfah-
die
marginalisierter
Ressourcen
Res-
gesellschaftli-
Das Zusammenspiel
ist die
nalistischen
(Gans
und stehen
Marginalität
geninitiative
zwar
auf der
(Fürstenberg
eine
fehlt.
sellschaftlicher
schwäche
außerhalb
kulturellen
Ressourcen
sind
aber
und
wegungsorganisationen,
widmen
dieser
so zielen
cen. Sie sind darüber
Untersuchung
Rückkopp-
Randständigkeit
Solidarisierung
26).
Zurechenbarkeit
auch auf andere
zu mobilisieren,
sierungsanstrengungen
Erarbei-
Ressour-
Qualifikation
pen erst einmal auf die Schaffung
ihre
der politischen
rungen
Geld,
noch
interes-
Entscheidungsträger
das individuelle
cen wie Zeit,
Deprivationen
abhängt,
einer
1983:
und meint sowohl
schaftlichen
der
und relativen
von der Möglichkeit
an
und
(Dahrendorf
Punkt
der Themen
auch
und
Lösungsvorschläge
siert sein müßten
len Spannungen
ver-
wohnungspoliti-
'Vielleicht-Betroffenen'
allgemeinen
tung
handelt.
möglichen
5
1997
wie
advoka-
damit
Daß dabei
Interessen
bleiben
for-
und
eine
beund
sich
6
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2,
die Bewegungsförmigkeit
len Prämissen
an den
institutionel-
der unterstützenden
Organisa-
tionen
und Institutionen
abarbeiten
scheint
als notwendiges
Übel. Damit
men die Sozialanwälte
der
er-
überneh-
zwar die wichtige
der Öffentlichkeitsarbeit,
und
muß,
der
Ressourcenmobilisierung.
Aufgrund
ihrer (verwaltungs-)technischen
der eigenverbandlichen
Rolle
Sensibilisierung
Kontrolle
und
Interessen
stülpen
aber eigene
Organisationsstrategien
über
Forderungen
der Betroffenen.
zepte
bleiben
zugunsten
ger' Presse-
(siehe den Artikel
im vorliegenden
blemfokus
Diskus-
Wohlfahrtspluralismus
und Wohlfahrtsgesellschaft
Olk
Pabst
und die aktuelle
Sozialstaat,
anschließen
ein Handicap
für deren
dar. Hinzu
(Evers/
1996)."
räres Problem
ligen
Gruppen
wird oftmals
und verzeitlicht
Zudem
der
wodurch
die
Tendenzen'
Verhältnis
der Medien
teressen.
einer
zu marginalisierten
In-
mit ihrem Anliegen
an
-formen
an Massenwirksamkeit
entierten
Medienlandschaft
bleibenden
und der somit
öffentlichen
Berichterstattung
Teilen
und Quoten
Aufmerksamkeit.
beschränkt
auf die spektakuläre
Einzelschicksalen,
die
Darstellung
se - ist der Trend zu beobachten,
mung
und
zu entpolitisieren,
1995).
die
in der öffentlichen
dadurch
werden
bleibt
und
eine
bestimmten
als weder
fähig
eingeschätzt
zu
werArbeitsloAnliegen
Wahrneh-
dethematisieren
(Uske
die Problemlagen
neut in die Einzelverantwortlichkeit
legiert,
Die
nalen
er-
zurückde-
grundsätzliche
Diskussion
Teilöffentlichkeiten
barrieren
Temporäre
dem
schließt
die Diskussion
Thematlsierungsder
ein
fehlenund
verbindendes,
und an Lösungen
fehlt,
orientier-
so daß die
organisationswerden
Betroffenheit
Hintergrund
schlechternden
schaftlichen
Margi-
noch
(Offe
duellen
konflikt-
1972:
sich
sich
338).
aber
weiterhin
(sozial-)politischen
Einzelschicksalen
se 'Spirale
1996: 47) betrifft
der
und
Diskriminierung
wirtindivi-
zu kumulieren.
Die-
(Gahleitner
am häufigsten
Defizite,
sozialen
vor
ver-
und in
der Abwärtsmobilität'
baren ökonomischen
denzen
droht
einer
Lage zu verstetigen
die
Isolation
einhergehen
unmittel-
die oft mit
und
(Geißler
Ten-
sozialen
1996:
180).
Im Zentrum
den
sowie
vorbe-
halten.
(4) An die Frage nach
daß
der
geringeres
von
zu entproblematisieren
Dadurch
aus-
tes Handlungssystem
Ergebnisse
über
Ein
Teilhabe
bedingen,
gleichgerichtetes
skandalisiert,
- so die
zur Medienarbeit
'disso-
1975: 60)
Interaktionsmöglichkeiten
ori-
großen
problematisiert
den. Seit den 80er Jahren
der Marginalen
zu
dann
nicht aber grundsätzlich
einer Studie
sich
als
zuge-
unterstellten
entstehen.
de gemeinsame
Sie scheitern
Zustand
Defiziten
(Waldmann
die
kultureller
individuelle
Maß gesellschaftlicher
sich auch
(Butterwegge
wird durch
erlebt und den eigenen
schrieben,
tempobio-
wird
dominant
Vorstellungen
als
jewei-
1996; Beck 1986:144ff).
Übernahme
Prower-
persönlich
subjektive
negativ
Schicht-
das von der
abhängt,
das
gestaltet
Marginalität
der
interpretiert
beschrieben,
Lebensphase
graphisiert
die
stellen
- als 'lebenslanges'
spezifischer
ziativen
instrumenteil
daß
nicht mehr - wie noch zu Zeiten
Problembetroffenen
Ahnlich
und
Mobilisierungsanstren-
kommt,
und Klassenanalyse
Indi-
auch für
Betroffenen
den kann. Marginalität
auf
gelten
von Marginallsierung
die
Heft). Hier ließe sich der Pro-
erweitern
um
von Stefan
vidualisierungstendenzen
gungen
an. Die ge-
zu beobachtenden
blem
'richtioft
der Mobilisierungsebene
sie
Kon-
vermeintlich
und Öffentlichkeitsarbeit
der Strecke
sion
Innovative
rigkeiten
samtgesellschaftlich
1997
Schwie-
einer
Mobilisierung
ständigen
lassen
Strategien
ausmachen:
mobilisierung,
sich
der
zusammenfassend
Zum einen eine
die sich - nicht unbedingt
Randzwei
Selbstziel-
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2,
orientiert-
weder
men ausrichtet
antwortlichen
dann
unorthodoxe
Der
im Rahmen
denkbar,
machen
kann.
Skandalisierung
und
sten
wie
das
Bewegung
fühl
ginalität als Zustand der E x k l u s i o n . Dies f ü h r t
müßte
der
dann zur Unterscheidung einer weder inten-
gewährlei-
dierten noch zurechenbaren strukturellen M a r -
einer
ginalisierung und einer aus Entscheidungen
potentielle
Gemeinschaftsge-
anderer resultierenden strategischen M a r g i -
Im
Gegensatz
nalisierung. Erfolgreiche Protestmobilisierung
verlaufen
aber
Aktionen
scheitert unter den Gesichtspunkten struktu-
zielorientierter,
reller Marginalisierung an den fehlenden Res-
berechenbarer
sourcen, dem M a n g e l an allgemein verbindli-
die
gelenkter,
spontan,
von
Inklusion und E x k l u s i o n e r m ö g l i c h t die A n a lyse von Marginalisierung als P r o z e ß und M a r -
und festigen.
koordinierter,
und Peripherie durch die L e i t d i f f e r e n z
eine
-
zur Selbstaktivierung
für
zung der g ä n g i g e n Unterteilung v o n Zentrum
der
Problematisierung,
ebenso
unentbehrliche
weniger
diesen am seltensten artikulieren. D i e Erset-
offenlegen
- f ü r die Initialzündung
ansprechen
dann
gen, die am ehesten A n l a ß zu Protest haben,
Generalisierung
Spannungen
Konzepts der relativen
Deprivation. Es zeigt sich, d a ß gerade diejeni-
Bewegungen
307)
die
siert er anhand des
Alsein
Entsprechend
(1993:
Mobilisierung
lisierung'. D i e Entstehung von Protest analy-
diffus
eher
sozialer
von Neidhardt/Rucht
strukturellen
Fremd-
advokatorischer
dem einzelnen
zur Entstehung
solche
nen Beitrag zur 'Marginalisierung und M o b i -
und
die erst dann erfolgreich
Deprivation
und bewußt
hat Probleme' e r ö f f n e t Kai-Uwe Hellmann sei-
erscheint
ist die
subjektiv
M i t der lapidaren B e m e r k u n g ' W e r protestiert,
Ver-
disruptive
Aktion. Zum anderen
kann, wenn sie die bislang
Matrix
Protest
als ungerichtete,
mobilisierung
erlebte
Aktionsfor-
an die unmittelbar
wendet.
oftmals
lianzen
an tradierten
noch
1997
auch
chen Deutungsrahmen und u n g ü n s t i g e n p o l i -
Verbündete.
tischen Gelegenheitsstrukturen. H i n z u kommt,
Als ein Zwischenfazit
bleibt festzuhalten,
die Bewegungsforschung
Themen
teure
orientierte,
bislang
daß
an
sozialen
ressourcenschwache
vernachlässigt
hat.
Ak-
Gängige
Konzepte
der Ressourcenmobilisierung,
der Stärke
Kontinuität
sind für
von Bewegungen
Anwendungsbereich
einandersetzung
unzureichend.
mit marginalen
auch mit marginalisierten
bilisiert
insbesondere
sozialen
lischen
Kampfes
Ausaber
Bewegungen
sozialen
sen daher
als Voraussetzung
lisierung
in stärkerem
werden.
Die
Gruppen,
um Anerkennung.
aufmacht,
steht
beim
der Mobilisierung
Perspektive
noch zu
erhoffen.
len' f ü h r t Roland Roth drei D i s k u s s i o n s s t r ä n -
sensi-
ge zusammen: soziale B e w e g u n g e n , die
eines
people 's movements
poor
und den K a m p f um sozia-
le B ü r g e r r e c h t e . E r stellt fest, d a ß es den g ä n gigen Konzepten der 'neuen sozialen B e w e -
Mobi-
gungen' an einer B e r ü c k s i c h t i g u n g ressour-
berücksichtigt
censchwacher Gruppen und ihrer sozialen Pro-
Mehr-
1972) zu ei'Kerngesellschaft'
augenblicklichen
- weder
M i t seinem A r t i k e l ' D i e R ü c k k e h r des S o z i a -
müs-
Maße
marginaler
- je nach
Hellmann
dann auch gering ein.
mora-
politischer
auf die
ge Mobilisierungschancen s c h ä t z t
Die
Daß sich aber die 'abweichende
Sternmarsch
nalisierung der ' B e w e g u n g ' ansetzt. Z u k ü n f t i -
Handelns
heit' (Basaglia/Basaglia-Ongario
nem
sätzen vorhanden ist, die strategische M a r g i -
diesen
für die Bedeutung
Dimensionen
und
d a ß h ä u f i g dort, wo eine M o b i l i s i e r u n g i n A n -
tergrund der U S - a m e r i k a n i s c h e n
nen um die poor people's
movements
Diskussioskizziert
Stand
er die Erfolgschancen spontaner, disruptiver
wohl
und radikaler Protestformen. Sie g e w ä h r l e i -
befürchten
sten den Z u g a n g zu ressourcenstarken A k t e u -
Gruppen
zu
bleme und Forderungen mangelt. Vor dem H i n -
ren und etablierten Organisationen mit ihren
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
moralischen, materiellen, informationellen und
der A r m u t zwar eine (auch politische) Ö f f e n t -
integrativen U n t e r s t ü t z u n g s l e i s t u n g e n . A u c h
lichkeit schaffen, aber die A r m e n werden durch
in der Bundesrepublik erkennt Roth neue A k -
verbandspolitische Interessen zugleich instru-
teure, die B e w e g u n g in die l ä h m e n d e n korpo-
mentalisiert und als politisch h a n d l u n g s u n f ä -
ratistischen Traditionen der sozialpolitischen
hige Klientel verharmlost.
A r e n a bringen k ö n n e n . D i e
citizenship-Debat-
te bietet sich als Leitidee der politischen M o b i -
D e n Stand und die Perspektiven des E r w e r b s -
lisierung unter der P r ä m i s s e einer erfolgrei-
losenprotests beschreiben F r i e d h e l m W o l s k i -
chen A n e r k e n n u n g der Forderungen margina-
Prenger und H a r a l d R e i n . Friedhelm Wolski-
lisierter G r u p p e n an. D e r K a m p f um die sozia-
Prenger skizziert M o b i l i s i e r u n g s p r o b l e m e der
len B ü r g e r r e c h t e bietet inhaltliche, normative
Arbeitslosenbewegungen. T r o t z der
und theoretische Implikationen: E i n e um mar-
haften Betroffenheit von Arbeitslosigkeit be-
ginalisierte Gruppierungen und bislang ver-
teiligt sich lediglich ein geringer T e i l an deren
n a c h l ä s s i g t e Forderungen erweiterte
Bewe-
A k t i o n e n . Wolski-Prenger untersucht die R a h -
gungsforschung kann den Tendenzen in R i c h -
menbedingungen und die internen organisato-
massen-
tung zunehmender E x k l u s i v i t ä t sozialer B ü r -
rischen, ideologischen und strategischen D i f -
gerrechte und demokratischer Beteiligung ent-
ferenzen der verschiedenen ' R i c h t u n g e n ' i n -
gegenwirken.
nerhalb der (kirchlichen, u n a b h ä n g i g e n , gewerkschaftlichen und verbandlichen) A r b e i t s -
Akteure, Z i e l e und Strategien 'sozialanwaltli-
losenbewegung. G e m e i n s a m ist den A k t e u r e n
cher Interessenvermittlung' untersucht Stefan
die A b s i c h t , die materiellen, psychischen und
Pabst mittels einer empirischen A n a l y s e am
sozialen Belastungen der B e t r o f f e n e n z u m i n -
B e i s p i e l der Armutsberichterstattung der W o h l -
dern. D i e unterschiedlich gewichtete A r b e i t s -
f a h r t s v e r b ä n d e - vor allem des P a r i t ä t i s c h e n
losenarbeit ist durch mangelnde Vernetzung,
Wohlfahrtsverbands und der Caritas. D i e A r -
Abgrenzungsbestrebungen
mutsberichterstattung ist von strategischen und
tiges Desinteresse der A k t i v e n gekennzeich-
politischen Ü b e r l e g u n g e n a b h ä n g i g . A u s i n -
net und bedingt deren momentane E i n f l u ß l o -
nerverbandlicher Sicht zielt sie auf die E n t -
sigkeit. D i e Z u k u n f t sieht er entsprechend pes-
sowie wechselsei-
s c h ä r f u n g der K r i t i k von M i t g l i e d s v e r b ä n d e n
simistisch: W i l l die Arbeitslosenbewegung ein-
und F a c h k r ä f t e n . A u ß e r d e m soll sie genutzt
f l u ß r e i c h e r werden, so m u ß sie u m s e t z u n g s f ä -
werden, um das eigene Image in der Ö f f e n t -
higere Konzepte e n t w i c k e l n . D i e s e m ü s s e n
lichkeit zu verbessern und das
neue V e r n e t z u n g s b e m ü h u n g e n und A n n ä h e -
Spendenauf-
k o m m e n zu sichern. Politische Ü b e r l e g u n g e n
rungen der einzelnen Richtungen sowie eine
f ü h r e n z u relativ g e m ä ß i g t e n
neue B ü n d n i s p o l i t i k beinhalten.
Forderungen,
nicht zuletzt, um das kooperative Verhältnis
z u m Staat nicht zu g e f ä h r d e n . J ü n g e r e (Personal-)Entwicklungen zeigen aber auch, d a ß die
W o h l f a h r t s v e r b ä n d e insgesamt stärker auf e i nen K o n f l i k t k u r s zur Bundesregierung zusteuern, der sich u.a. in der ö f f e n t l i c h e n K r i t i k des
zunehmenden Sozialabbaus und an der T e i l nahme am S o z i a l - und B e s c h ä f t i g u n g s g i p f e l
zeigt. W o h l f a h r t s v e r b ä n d e k ö n n e n - so das
Fazit v o n Pabst - durch die Thematisierung
Harald Rein hingegen spricht der A r b e i t s l o senbewegung ein g r ö ß e r e s Handlungspotential zu. Z w a r teilt er die M e i n u n g , d a ß es eine
breite Erwerbslosenbewegung bislang nicht
gibt, betont aber stärker die M o b i l i s i e r u n g s p o tentiale des Erwerbslosenprotests
und lehnt
die sozialarbeiterisch-paternalistischen F o r men der Arbeitslosenarbeit ab. M i t den A u s f ü h r u n g e n zur E n t s t e h u n g s g e s c h i c h t e
der
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
'Bundesarbeitsgemeinschaft
9
Anmerkungen
der Initiativen
gegen A r b e i t s l o s i g k e i t und A r m u t ' zeigt er,
d a ß sich die politische E i n f l u ß n a h m e des E r werbslosenprotests
in erster L i n i e weder an
der organisierten sozialpolitischen L o b b y noch
an den i l l u s i o n ä r e n Wunschbildern des M a s senprotests orientiert. V i e l m e h r hat sich eine
V i e l z a h l eigener Widerstandsmuster i m A l l t a g
herausgebildet,
die sich sozial, ö k o n o m i s c h
und historisch v e r ä n d e r n und bislang durch
den B l i c k auf das S p e k t a k u l ä r e verdeckt werden.
1
Die Beiträge des Themenschwerpunkts dokumentieren uberarbeitete Referate der Jahrestagung der
Forschungsgruppe Neue Soziale Bewegungen, die
- im zehnten Jahr der Kooperation mit der ElisabethSeibert-Akademie der Friedrich-Ebert-Stiftung in
Saarbrücken - vergangenen November unter dem
Titel 'Marginal(isiert)e Bewegungen' stattfand.
Anläßlich dieser Zusammenarbeit sei besonders Frau
Monika Sommer-Hasenstein und Frau Lotte Wahlster für die freundliche Aufnahme gedankt.
Alex Demirovic, Frankfurter Institut für Sozialforschung, stellte auf der Tagung unter Bezugnahme
auf eine empirische Untersuchung zur politischen
Einstellung von Studierenden an hessischen Hochschulen fest, daß sich Ausdifferenzierungen studentischer Teilmilieus beobachten lassen (Demirovic/
Paul 1996). So bewegt sich das politische EngagementderStudentlnnen zwischen linkerBasisdemokratie und einem belegbaren Rechtsruck. Jenseits
dieser Teilmilieus skizzierte Demirovic das B i l d
einer Studentinnenschaft, in der trotz einer Vielzahl
von Protestanlässen Resignation vorherrscht. B e i
den von den Befragten angegebenen Gründen, sich
nicht (mehr) politisch zu engagieren, spielt der Faktor 'Zeit' die wichtigste Rolle. Hinzu kommt das
Wissen um die Wirkungslosigkeit eines Engagements als negative Lernerfahrung aus vormaligen
Bewegungszusammenhängen. JuliaTieke bestätigte am B eispiel des Heidelberger Studentinnen-Streiks
1996, daß nur wenige, in Institutionen eingebundene Studierende politisch teilhaben.
S iehe hierzu den ausführlichen Artikel von Roland
Roth im vorliegenden Heft. Desweiteren die grundlegenden Arbeiten von Piven/Cloward 1977; 1986;
1991.
Zur Mobilisierungsfähigkeit der Erwerbslosen und
den Möglichkeiten einer politischen Aktivierung
siehe die Beiträge von Friedhelm Wolski-Prenger
und Harald Rein im Hauptteil mit weiteren Literaturhinweisen.
Schätzungen sind gerade im Falle der Obdachlosen
hochgradig unsicher, da sie sich selbst - aufgrund
von Scham oder Mißtrauen - einer offiziellen Registrierung entziehen (Martin 1997:3). Die auffälligste
'Mobilisierung' läßt sich im Bereich der Obdachlo2
A m B e i s p i e l der A r b e i t des 'Vereins zur F ö r d e rung der Integration Behinderter' plädiert E r i c
H a m m a n n f ü r eine ' K u l t u r der Gleichheit in
der Verschiedenheit'. Selbstorganisierte
am-
bulante Dienste, die ihre A r b e i t zwischen den
sektorspezifischen L o g i k e n von M a r k t , Staat
und P r i v a t s p h ä r e ausbalancieren m ü s s e n , versteht er als eine institutionelle Komponente
der Z i v i l g e s e l l s c h a f t . D e r traditionellen B e hindertenhilfe, die sich durch b ü r o k r a t i s c h rationelle Problemparzellierung charakterisieren läßt, setzen selbstorganisierte
ambulante
Dienste eine Alternative entgegen, die H i l f e
demokratisch und human organisiert, R a u m
für individuelle Entfaltungsspielräume öffnet
und die B i l d u n g neuer, ( f a m i l i e n - ) u n a b h ä n giger S o l i d a r f o r m e n e r m ö g l i c h t . Sie z i e l e n
darauf, den Behinderten selber in die L a g e z u
versetzen, Entscheidungen ü b e r Ziele, A k t e u re und zeitliche Schritte der U n t e r s t ü t z u n g zu
f ä l l e n . D i e s setzt aber auch ein
gewandeltes
V e r s t ä n d n i s der institutionalisierten H i l f e und
1
4
ein demokratischeres
Verständnis
helfender
Beziehungen voraus. Erst hierdurch kann das
soziale Konstrukt ' B e h i n d e r u n g ' und die korrespondierende
Marginalisierung der Betrof-
fenen ü b e r w u n d e n werden.
Michael
Hasse/Ludger
Klein/Ansgar
5
Klein
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1 9 9 7
senpresse ausmachen (Honigschnabel 1996: 87ff).
Die einzelnen Publikationen unterscheiden sich sowohl in Basisbezug, Kommerzialisierungsgrad und
Zielgruppenorientierung als auch in bezug auf die
(redaktionelle) Beteiligung von Obdachlosen erheblich.
In der Bundesrepublik wird dieses Thema - anders
als die Diskussionen um die Straßenkinder in der
'DrittenWelt' - erstallmähIichwahrgenommen(z.B.
Jogschies et al. 1995; Institut für soziale Arbeit
1996).
Die Auseinandersetzungen werden auch häufig
unter dem Label der 'underclass', in Anlehnung an
die US-amerikanischen Diskussionen geführt: siehe
z.B. das Themenheft der Zeitschrift BerlinerDebatte
I N I T I A L 5/1995, 1 und Howald 1992.
Siehe den Beitrag von Eric Hammann in diesem
Heft und bspw. Jürgmeier 1992; Sierck 1994.
' D e r sozial wissenschaftliche Begriff der Marginalität beruht auf den Arbeiten von Robert E . Park
(1928), der unter Berufung auf den Exkurs von
Georg Simmel (1968: 509ff) zum Fremden vom
marginal man spricht.
"' Dabei sollte nicht übersehen werden, daß marginalisierte Gruppen ihre Anliegen z.T. durchaus selbstbewußt vertreten und sich in ihrem Selbstverständnis auch als soziale Bewegungen (etwa die 'Krüppel-' oder Teile der 'Arbeitslosenbewegung') verstehen.
" Dies hat Sonja Kemnitz auf der Tagung sehr
deutlich am Beispiel der Berliner Obdachloseninitiative Motz e.V. herausgearbeitet.
Themen- und sachverhaltsimmanente Defizite, so
Susann Burchhardt, Wissenschaftszentrum Berlin,
können zu einer Beeinträchtigung der Protest- und
Bewegungsfähigkeit einer Problemlageführen. Die
Konkretheit eines Themas begünstigt 'handliche
Schuldzuweisungen' und die Ausbildung entsprechender Handlungsrahmen.
Diesem Thema wird sich die Forschungsgruppe
auf der kommenden Jahrestagung widmen. Siehe
hierzu die Ankündigung im Anschluß an das Editorial.
6
7
8
12
M
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12
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
Vom Sozialstaat zur Wohlfahrtsgesellschaft?
Akteure zwischen Pflicht und Engagement
Jahrestagung der Forschungsgruppe Neue Soziale Bewegungen
in Zusammenarbeit mit der Elisabeth-Selbert-Akademie der
Friedrich-Ebert-Stiftung
Saarbrücken, 7. bis 9. November 1997
D i e D i s k u s s i o n u m die ' K r i s e des Sozialstaats' ist fast so alt wie der Sozialstaat selbst. In der
aktuellen sozialpolitischen Auseinandersetzung konkurrieren Deregulierungsstrategien
mit
den vermeintlich neuen Konzepten des ' W o h l f a h r t s m i x ' und 'Wohlfahrtspluralismus'. So
stellt sich die Frage, ob sich die Bundesrepublik v o m Sozialstaat zur Wohlfahrtsgesellschaft
entwickelt (siehe Forschungsjournal 3/95 zur Kommunitarismus-Debatte).
Dabei geht es i m Rahmen der Tagung weniger u m die Nachfrageseite als vielmehr u m die
A n a l y s e der Angebots- und Akteursseite der Wohlfahrtsproduktion mit den entsprechenden
Handlungs- und Systemlogiken. Das zentrale A u g e n m e r k gilt daher der A n a l y s e der E i n f l u ß m ö g l i c h k e i t e n klassischer i n t e r m e d i ä r e r Akteure sowie sozialer Bewegungen, bewegungsaffiner Selbsthilfegruppen, Initiativen und Projekte. A u c h das konkurrierende und/oder k o m p l e m e n t ä r e Verhältnis der vier Segmente der Wohlfahrtsproduktion - informeller Sektor, Dritter
S e k t o r / i n t e r m e d i ä r e r B e r e i c h , M a r k t und Staat - soll vor diesem Hintergrund ausgeleuchtet
werden. H i e r stellt sich auch die Frage nach staatsverordneter V e r p f l i c h t u n g sowie neuer
Engagements-
und M o b i l i s i e r u n g s f o r m e n .
Das Einleitungsreferat soll in die zentrale B e g r i f f l i c h k e i t von Sozialstaat, Wohlfahrtsstaat
und neuere sozialpolitische Konzepte einfuhren. N a c h diesem auf die Bewegungsrelevanz
verweisenden Beitrag sollen in Einzelreferaten der Stand und das Entwicklungspotential der
traditionellen und alternativen Anbieter herausgearbeitet werden.
E i n zweiter B l o c k widmet sich a u s g e w ä h l t e n Fallbeispielen. So sollen innovative Konzepte
innerhalb der kirchlichen
Kooperationsringe,
Wohlfahrtsverbände,
das Modellprogramm
die privat initiierten lokalen
Seniorenbüros
und die
Tausch-
und
Freiwilligenagenturen
vorgestellt werden.
In einem a b s c h l i e ß e n d e n S t r e i t g e s p r ä c h werden die Positionen g e b ü n d e l t und die Ergebnisse der Fallstudien z u s a m m e n g e f a ß t : Fragen der Deregulierung und Privatisierung werden
dabei ebenso zentral sein wie die M ö g l i c h k e i t e n einer neuen Sozialstaatlichkeit.
A u s a u s g e w ä h l t e n Referaten der Tagung w i r d sich H e f t 2/1998 des Forschungsjournals Neue
Soziale
Bewegungen
zusammensetzen.
Wer Interesse hat, einen Tagungsbeitrag
beizu-
steuern oder als Teilnehmerin mitzudiskutieren, ist herzlich eingeladen, sich bei folgender
Adresse zu melden:
F o r s c h u n g s j o u r n a l Neue
Soziale
Bewegungen
• M i c h a e l Hasse • Dorotheenstr.
53111 B o n n • fon & pc-fax: (0228) 696243 • e M a i l : [email protected]
85 •
13
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
Christian Welzel
Die ostdeutsche Bürgerbewegung
als Gegenelite
1
Fragestellung
terstellt, es sei f ü r ein I n d i v i d u u m leichter,
eine vorhandene K a p i t a l f o r m i n eine andere
D i e Besetzung hochrangiger ö f f e n t l i c h e r Ä m -
zu konvertieren als neues K a p i t a l zu erwer-
ter durch ehemalige D D R - B ü r g e r hält b e s t ä n -
ben. Ü b e r t r a g e n auf R e g i m e w e c h s e l f ü h r t dies
d i g D i s k u s s i o n e n i n G a n g , die v o n Stereoty-
zu der S c h l u ß f o l g e r u n g , d a ß bisher p r i v i l e -
pen beherrscht werden.
gierte G r u p p e n eine g r ö ß e r e Chance
Stereotyp
ist b e i -
haben,
spielsweise die Vorstellung, die attraktivsten
sich in der Neuelite z u etablieren, als jene
Ä m t e r in den neuen B u n d e s l ä n d e r n gerieten
Gruppen, die i m ancien regime depriviert w a -
wieder in die H ä n d e tradierter D D R - S e i l s c h a f -
ren (vgl. B o u r d i e u 1991; Hankiss 1991; Sta-
ten, w o d u r c h die B ü r g e r b e w e g u n g um die
niszkis 1991; M a t e j u / R e h a k o v a 1993; W a s i -
F r ü c h t e ihrer Revolution betrogen werde. A b -
lewski 1994; H i g l e y et al. 1996). F ü r die ost-
seits derart moralischer Bewertungen
deutsche N a c h - W e n d e - E l i t e w ü r d e das bedeu-
bleibt
es indes eine empirische Frage, ob sich das
ten, d a ß sich die Rekrutierungsgruppen
Rekrutierungsreservoir der ostdeutschen
Eli-
D D R - E l i t e am besten z u behaupten vermoch-
mit d e m R e g i m e w e c h s e l nicht doch ver-
ten. Z u r P r ü f u n g dieser These m u ß bekannt
te
2
lagert hat. Konnten sich die Rekrutierungs-
sein,
gruppen der alten D D R - E l i t e (Reproduktions-
D D R - E l i t e aufwies.
welche
Rekrutierungsmerkmale
der
die
these) oder jene der g e g e n e l i t ä r e n B ü r g e r b e wegung besser behaupten
Diese Fragestellung
sucht
(Transitionshese)?
der
Unter den biologischen
Rekrutierungsmerk-
vorliegende
malen v o n A l t e r und Geschlecht f a l l e n der
Beitrag anhand der Potsdamer Elitenstudie zu
geringe Frauenanteil von 5 Prozent und das
beantworten.
hohe Durchschnittsalter von rund 62 Jahren
1
onsniveau der D D R - E l i t e war f ü r die F ü h -
ins A u g e (Derlien 1996: 28). Das Q u a l i f i k a t i -
1.1
Mögliche Rekrutierungsbasen der
ostdeutschen Elite
Die Reproduktionsthese
rungsschicht eines hochindustrialisierten L a n des a u f f a l l e n d gering: N a c h den Daten der
D D R - L e b e n s verlaufsstudie haben nur 12 P r o -
N a c h der Reproduktionsthese
Zuge
eines
k o m m t es i m
Regimewechsels
zu
keiner
zent aller Leitungskader einen H o c h s c h u l a b s c h l u ß als h ö c h s t e Q u a l i f i k a t i o n angegeben
wesentlichen Verlagerung des Rekrutierungs-
( a u s f ü h r l i c h e r hierzu W e l z e l
reservoirs
mit
Meyers (1992) Auswertungen hatten i n der
der
E l i t e n . D i e s läßt
sich
1997a). N a c h
Bourdieus Theorie der K a p i t a l f o r m e n b e g r ü n -
D D R - E l i t e 1981-89 nur 17 bis 18 Prozent e i -
den, die z w i s c h e n ö k o n o m i s c h e m , sozialem
nen H o c h s c h u l a b s c h l u ß als h ö c h s t e b e r u f l i -
und kulturellem K a p i t a l differenziert und un-
che
Erstqualifikation aufzuweisen
(Meyer
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2. 1997
1992: 140). D e r A n t e i l der E l i t e a n g e h ö r i g e n ,
kation eine untergeordnete R o l l e g e g e n ü b e r
die einen H o c h s c h u l a b s c h l u ß auf dem z w e i -
dem linientreuen politischen Engagement ge-
ten B i l d u n g s w e g erwarben, lag mit ca. 50 P r o -
spielt habe (Endruweit
zent ( D e r l i e n 1996: 28) zwar beträchtlich dar-
Sterbling 1993). M i t der Bildungsexpansion
über, d o c h belegt dies nur, d a ß i n U m k e h -
ziehen sozialistische Regimes f o l g l i c h ihr e i -
rung der Rekrutierungsmodi entwickelter G e -
genes Gegenelitenreservoir
sellschaften eine wissenschaftliche Q u a l i f i -
sich mit einem demokratischen R e g i m e w e c h -
kation
auf
das
Folge
sel dann die Rekrutierungsbasis der E l i t e verlagert ( a u s f ü h r l i c h e r W e l z e l 1997b; v g l . eben-
handenen akademischen Q u a l i f i k a t i o n e n b i l -
so K o n r a d / S z e l e n y i 1991; B a y l i s 1994; D i e -
deten die A b s o l v e n t e n eines
wald/Sorensen
der
sondern
heran,
1991;
des Eintritts i n die E l i t e war. Unter den vor-
an
nicht Voraussetzung,
1987; A d l e r
Parteistudiums
SED-Hochschule in
tionskategorien
allen
größte
M i t ihrem F o k u s auf die Intelligenz bleibt die
G r u p p e (Schneider 1994: 84, 175) mit A n t e i -
Transitionsthese zwar relativ unscharf, doch
len zwischen 17 Prozent ( Z K - M i t g l i e d e r ) und
bietet gerade diese O f f e n h e i t w i c h t i g e A n -
50
SED-
s c h l u ß s t e l l e n an die D e m o k r a t i s i e r u n g s f o r -
Bezirksleitungen). Es folgten die Absolventen
schung. D i e gedankliche B r ü c k e läßt sich
Prozent
der D D R - E l i t e
(Erste
die
1994).
Posi-
Sekretäre
der
wirtschafts-, gesellschafts- und
staatswissen-
ü b e r die A n n a h m e herstellen, das v o n der
juristischer) A b -
Transitionsthese behauptete Gegenelitenreser-
s c h l ü s s e , die meist nicht an einer r e g u l ä r e n
voir sei identisch mit den v o n der D e m o k r a -
schaftlicher
Hochschule,
(inklusive
sondern
A k a d e m i e erworben
einer
wurden.
besonderen
Sektoral
be-
tisierungsforschung
als
besonders
typisch
identifizierten T r ä g e r g r u p p e n v o n D e m o k r a -
trachtet f ü h r t e der Weg in die D D R - E l i t e ü b e r
tisierungsprozessen.
eine hauptamtliche Karriere i n den Parteiap-
aber sind das?
Welche Trägergruppen
paraten, den Apparaten der Massenorganisationen oder in den bewaffneten Organen (vgl.
M e y e r 1992: 161).
Nach
der
traditionellen
Mittelschichtthese
sind demokratische T r ä g e r g r u p p e n i n erster
Linie im selbständigen bürgerlichen Mittel-
1.2
Die Transitionsthese
stand z u finden ( D a h l 1973; L i p s e t 1981). Im
Kontext sozialistischer Gesellschaften fällt je-
D i e Transitionsthese geht davon aus, d a ß mit
doch der b ü r g e r l i c h e Mittelstand als K a n d i -
einem R e g i m e w e c h s e l eine U m v e r t e i l u n g der
dat des demokratischen
k o m p a r a t i v e n Plazierungschancen
zwischen
aus. D a m i t r ü c k e n andere soziale Segmente
verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen er-
in den Mittelpunkt. U n d das sind dieselben,
folge. F ü r die E l i t e n bedeute dies eine v e r ä n -
die i n der j ü n g e r e n
derte soziale Z u s a m m e n s e t z u n g
schung als E i n z u g s f e l d neuer sozialer
zugunsten
Gegenelitenreservoirs
DemokratisierungsforBewe-
bislang deprivierter Gruppen.
gungen
Theoretisch stellt die Transitionsthese auf die
Demokratierelevant sind deren T r ä g e r g r u p p e n
betrachtet werden ( f ü r sozialistische
Gesellschaften z . B . K n a b e 1988; Szabo 1991).
Rekrutierungsmechanismen
aufgrund ihrer postmaterialistischen Wertori-
sozialistischer Regimes ab. Sie h ä t t e n eine D e -
entierungen, die auf die Institutionalisierung
eigentümlichen
privation der wissenschaftlichen
3
Intelligenz
erweiterter demokratischer
M i t s p r a c h e - und
manifestiert, weil f ü r die Rekrutierung von
Selbstbestimmungsmöglichkeiten
F ü h r u n g s p e r s o n a l das K r i t e r i u m der Q u a l i f i -
Sozialstrukturell gelten diese T r ä g e r g r u p p e n
abzielen.
15
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
Wilhelm Bürklin
Zur Potsdamer Elitestudie 1995
D i e 'Potsdamer Elitestudie' von 1995 ist die
erste gesamtdeutsche nach der Wiederverei-
deutschland, i n die gesamtdeutsche Elite aufzusteigen?
nigung i m Jahre 1990. Sie k n ü p f t konzeptionell an die bundesdeutsche Tradition der
Angestrebt war eine Vollerhebung der deut-
empirischen E l i t e f o r s c h u n g an und soll durch
schen F ü h r u n g s s c h i c h t , die mit H i l f e des Po-
den Vergleich mit den V o r l ä u f e r s t u d i e n von
sitionsansatzes
1968, 1972 und 1981 einen Beitrag z u m bes-
d a ß unter dem B e g r i f f der E l i t e der Perso-
seren V e r s t ä n d n i s des Wandels der deutschen
nenkreis g e f a ß t wurde, der r e g e l m ä ß i g E i n -
D e m o k r a t i e leisten. Zuletzt i n der
'Mann-
f l u ß auf gesamtgesellschaftlich wichtige E n t -
heimer Elitestudie' von 1981 war als eine
scheidungen nehmen kann. In modernen G e -
der G r u n d l a g e n f ü r das Funktionieren der
sellschaften ist M a c h t ü b e r w i e g e n d institu-
bundesdeutschen
Elite-
tionalisiert, das heißt, an F ü h r u n g s p o s i t i o n e n
geeinten
gebunden. In dieser L o g i k wurden die insge-
E l i t e ' identifiziert worden. In dieser F o r m
samt 3.941 Inhaber der h ö c h s t e n F ü h r u n g s -
sind
positionen gesellschaftlich zentraler
Demokratie
eine
struktur i n F o r m der 'konsensual
die verschiedenen
gesellschaftlichen
Interessen mit ihren widerstreitenden
Zie-
identifiziert wurde. Das heißt,
Institu-
tionen und Organisationen a u s g e w ä h l t .
len r e p r ä s e n t i e r t , gleichzeitig aber in einem
kooperativen Netzwerk integriert.
Im R a h m e n des D F G - g e f ö r d e r t e n Projekts
wurden von I N F R A T E S T B U R K E ( M ü n c h e n )
Vor diesem Hintergrund richtet sich das ana-
2.341 Interviews realisiert. Erste Ergebnisse
lytische Interesse der 'Potsdamer Elitestu-
wurden auf einem S y m p o s i u m an der U n i -
die' p r i m ä r auf die Frage, ob diese 'konsen-
versität Potsdam präsentiert und sind i n der
sual geeinte E l i t e ' fortbestehen w i r d . W i e gut
Broschüre
sind die E l i t e n der neuen L ä n d e r i n das ge-
deutschen
samtdeutsche
D i e B r o s c h ü r e kann b e i m A u t o r angefordert
integriert?
kooperative
In w e l c h e n
Elitennetzwerk
Wertorientierungen
und p o l i t i s c h e n Z i e l p r i o r i t ä t e n
unterschei-
den sich die E l i t e n ost- und westdeutscher
„Kontinuität
und
Führungsschicht"
Wandel
der
dokumentiert.
oder ü b e r das Internet abgerufen
werden
(http://enterprise.rz.uni.potsdam.de/u/elitepro/index.htm).
H e r k u n f t ? W e l c h e A u s w i r k u n g e n hatte der
Systemwandel auf die Rekrutierung der bei-
Wilhelm
den Teileliten? W e l c h e Chancen hatten die
schaftschaftlicher Leiter der Studie und S o -
f r ü h e r e n S E D - E l i t e n , welche die M i t g l i e d e r
zialwissenschaftlichen F a k u l t ä t der U n i v e r -
Bürklin
ist Professor an der W i r t -
der Oppositionsbewegung in Ostdeutschland
sität Potsdam und wissenschaftlicher L e i t e r
und der Neuen Sozialen Bewegungen in West-
der Potsdamer Elitestudie.
mam
als
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFI 2 . 100"
i n den Nachaufbaugenerationen,
den
Jahren liegen. E i n B l i c k i n d i e Daten verrät
der H u -
jedoch, d a ß weder die Frauenquote noch das
mandienstklasse sowie den T r ä g e r n nicht-eli-
Durchschnittsalter der ostdeutschen E l i t e die
tärer
Erwartungen der Reproduktionsthese
H o c h g e b i l d e t e n , den A n g e h ö r i g e n
Erwerbspositionen
verankert
(Kriesi
bestä-
1987; W e ß e l s 1991). D i e Entstehung und das
tigen; D e r Frauenanteil liegt bei 30 Prozent
Wachstum dieser sozialstrukturellen Gruppen
und das Durchschnittsalter bei 47 Jahren. D a -
verweist auf Modernisierungsprozesse, w i e
bei sind gut drei Viertel der ostdeutschen E l i -
die a l l g e m e i n e B i l d u n g s e x p a n s i o n und die
te nach 1942 geboren und stammen somit aus
T e r t i ä r i s i e r u n g , welche sich auch i n den ent-
der Generation, deren politische Sozialisati-
wickelteren
on
sozialistischen L ä n d e r n
- na-
i n d i e Z e i t nach
7
d e m E n d e der ent-
mentlich der D D R , der C S S R , Ungarn und P o -
behrungsreichen sozialistischen A u f b a u p h a s e
len - in massiver F o r m zugetragen haben (vgl.
f i e l . Im Kontext westlicher Gesellschaften ent-
auch G e n s i c k e 1994). F ü r die D D R - G e s e l l -
spricht das den Kohorten, die eine postmate-
schaft kann die Grundmenge von A n g e h ö r i -
rialistische Wertorientierung a u f w e i s e n . G e -
gen der n i c h t - e l i t ä r e n Intelligenz und H u -
genüber
mandienstklasse
D D R - E l i t e ist v o n einer deutlichen ' V e r w e i b -
auf ca. 15 Prozent der er-
der Z u s a m m e n s e t z u n g
der alten
w e r b s t ä t i g e n B e v ö l k e r u n g veranschlagt wer-
lichung' und V e r j ü n g u n g der ostdeutschen E l i -
den (Welzel 1997b). V o n daher besteht also
te z u sprechen. D i e s bedeutet eine Verlage-
g r u n d s ä t z l i c h die M ö g l i c h k e i t , d a ß sich i m
rung der elitären Rekrutierungsbasis und so-
Z u g e des Regimewechsels die Rekrutierungs-
mit eine B e s t ä t i g u n g der Transitionsthese ge-
basis der E l i t e auf diese sozialen Segmente
messen an biologischen Gruppenmerkmalen.
verlagert hat.
Das entspricht auch der E r w a r t u n g einer meritokratischen Elitenrekrutierung, bei der biologische Unterschiede i n den Hintergrund r ü k -
2
Die tatsächliche Rekrutierungsbasis der ostdeutschen Elite
2.1 'Biologische' Rekrutierung
ken.
2.2 Fachliche Rekrutierung
Sollte die Reproduktionsthese zutreffen, dürfte der Frauenanteil in der ostdeutschen
nicht
w e s e n t l i c h ü b e r 5 Prozent
Elite
Nach der Reproduktionsthese w ä r e hinsicht-
und das
lich der Q u a l i f i k a t i o n der ostdeutschen
Durchschnittsalter nicht wesentlich unter 6 0
Abb. I: Fachrichtung der akademischen Qualifikationen in wesl- und ostdeutscher Elite i 995:
Prozent an Hochschulabsolventen
SiaatsWiss
Willst!) Wiss
Niilur- + TeuhnikWiss.
iy.v[I
44
J-
is.« C
SnzialWira,
GeislesWiss.
Theologie
Journalistik
Sonstige
IJn.f.
1.1 L
,
.
U
2 , 1
Elite
zu erwarten, d a ß erstens der A k a d e m i k e r a n -
'
•
11.4
IE3
•
Wesl
Osi
k.l
11.7
[ZK.?
Basis (n)-Wesl: 1528,-Ost: 210; Cnmier's V: .44 (gewichtet: .59); Datenbasis: Potsdamer Elilensludie 1995.
FORSCHUNGSIOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
17
teil nicht wesentlich ü b e r 20 Prozent liegt,
onsgruppen stattgefunden. Diese Beobachtung
zweitens d a ß die vorhandenen A k a d e m i k e r
unterstützt ebenfalls die Transitionsthese.
ü b e r w i e g e n d ideologienahe A b s c h l ü s s e vorweisen und diese drittens an einer der besonders dogmatischen
Parteihochschulen
2.3 Sektorale Rekrutierung
oder
A k a d e m i e n erworben haben.
Nach
der
Reproduktionsthese
müßte
der
g r ö ß t e Teil der ostdeutschen Elite eine hauptSchon die erste E r w a r t u n g m u ß z u r ü c k g e w i e -
amtliche Karriere in den Apparaten der Par-
sen werden, denn knapp 80 Prozent (215 von
teien und Massenorganisationen sowie der a l l -
268 B e f r a g t e n ) haben einen H o c h s c h u l a b -
gemeinen staatlichen Verwaltung oder der be-
s c h l u ß erworben. D a hiervon nur 5 Personen
waffneten Organe, somit also i m politischen
an einer Parteihochschule oder A k a d e m i e stu-
und den zentralen staatlichen Herrschaftssek-
dierten,
toren, durchlaufen haben.
ist
auch
die
dritte
Erwartung
z u r ü c k z u w e i s e n . A b b i l d u n g 1 zeigt d a r ü b e r
und
D i e Verteilung der Ostelite ü b e r die H e r -
t e c h n i k w i s s e n s c h a f t l i c h e r S t u d i e n g ä n g e mit
hinaus,
daß
die
Absolventen
natur-
kunftssektoren 1988 (linke B a l k e n i n A b b i l -
knapp 45 Prozent der studierten Ostelite die
dung 2) widerlegt diese These. D i e relative
s t ä r k s t e G r u p p e stellen. Staats- und w i r t -
Mehrheit
schaftswissenschaftliche Q u a l i f i k a t i o n e n sind
Humandienstleistungsbereich
dagegen k a u m vertreten.
der
Ostelite
stammt
aus
dem
gefolgt
vom
Wirtschaftsapparat. H i e r b e i handelt es sich u m
die nach sachfremden K r i t e r i e n b e v o r m u n -
Verglichen mit der D D R - E l i t e hat somit eine
deten, p o l i t i s c h untergeordneten
Verlagerung der Rekrutierungsbasis v o n sy-
ren, in denen man sich noch a m ehesten auf-
stemnahen
grund
auf systemneutrale
Qualifikati-
fachlicher
Qualifikation
Abb.2: Sektorale Verteilung der ostdeutschen Elite:
I9KK und 1995 im Vergleich (Prozent)
Basis (n) 1 9 « « : 2 5 6 ; Basis (n) 1995: 272: Datenbasis: Polsuamer Elilensludie 1995
Fachsektoetablieren
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
konnte. Diese stellen somit die typischen P o -
P o s i t i o n s h ö h e die Reihenfolge 'Elite - obere
sitionssektoren der ideologieneutral q u a l i f i -
Subelite - untere Subelite - Professionen
zierten Intelligenz.
Subprofessionen - nicht E r w e r b s t ä t i g e ' auf-
2.4 Hierarchische Rekrutierung
Welzel
-
weisen (zur D e f i n i t i o n der K a t e g o r i e n v g l .
1997a).
In modernen Gesellschaften mit standardisier-
A u s A b b i l d u n g 3 ist zu erkennen, d a ß auch
ten Karrierestrukturen sind die Aufstiegschan-
diese Vorstellung nicht mit den Daten i n E i n -
cen in die E l i t e entlang der Positionshierar-
klang steht. A m stärksten sind n ä m l i c h D D R -
chie in Organisationen von oben nach unten
Professionen, knapp gefolgt v o n der unteren
gestaffelt. T r ä f e die Reproduktionsthese
zu,
d ü r f t e sich daran mit einem Regimewechsel
Subelite der D D R , i n der heutigen
repräsentiert. Beide zusammen
Ostelite
b i l d e n fast
nichts wesentliches ä n d e r n . Das heißt, die Z u -
zwei Drittel der Ostelite, wobei s o w o h l nach
sammensetzung
oben als auch nach unten ein
der Ostelite m ü ß t e in ihrer
S t ä r k e hinsichtlich der i n der D D R erreichten
quantitativer
Sprung z u erkennen ist. D e r Sprung nach oben
Abb. 3: Positionshöhe der ostdeutschen Elite in der DDR 1988 (Prozent)
Basis (n): 25h; Datenbasis: Pnlsüanier Elilenstudie 1995.
Tab. I: Politische Gruppierung der heutigen ostdeutschen Elite in der D D R
Fallzahl
Prozent
SED-Mitglieder
75
28,0
Blockparteimitglieder
47
17,5
Ungebundene
81
30,3
Oppositionelle
65
24,2
Summe
268
TÖÖ
Datenbasis: Potsdamer Elitenstudie 1995
(zur oberen Subelite und Elite) verleiht der
ditiert wurden. D e r Sprung nach unten (zu
Tatsache A u s d r u c k , d a ß ehemalige S p i t z e n -
den Subprofessionen) verdeutlicht, d a ß Q u a -
vertreter v o n D D R - E i n r i c h t u n g e n , selbst w e n n
l i f i k a t i o n und Professionalisierung zumindest
diese nur auf K r e i s - oder Ortsebene
bei
angesie-
delt waren, mit dem Regimewechsel diskre-
einem
demokratischen R e g i m e w e c h s e l
als A u f s t i e g s f i l t e r w i r k s a m sind. Insgesamt ist
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
eine
Verlagerung
zur
professionellen
und
stufen stellt sich geradewegs umgekehrt z u
unteren s u b e l i t ä r e n Intelligenz z u verzeich-
den Erwartungen der Reproduktionsthese dar.
nen. Insofern ist auch die hierarchische R e -
Besonders a u f f ä l l i g ist dabei der quantitative
krutierung mehr durch transitorische als durch
Sprung zwischen N i c h t - M i t g l i e d e r n und Par-
reproduktive Tendenzen
teimitgliedern ohne A m t einerseits
gekennzeichnet.
2.5 Politische
Rekrutierung
z u den
Abb. 4: Integration in Parteipolitik'.
Heutige Ostelite vor der Wende (Fallzahlen)
B e z o g e n auf die p o l i t i -
] 3
sche Rekrutierung m ü ß te sich die Ostelite der
Reproduktionsthese
zu-
folge z u m weit ü b e r w i e genden T e i l aus
ligen
gefolgt
ehema-
SED-Mitgliedern,
von
teimitgliedern
BlockparBasis (Ii): 2fiX; Datenbasis: Potsdamer Elilensludie iyy5.
zusam-
mensetzen. E h e m a l s O p positionelle oder Ungebundene sollten dagegen in der deutlichen Minderheit sein.
amtstragenden Parteimitgliedern andererseits.
Letztere haben ihre komparativen Karrierevorteile mit dem R e g i m e w e c h s e l o f f e n k u n -
D i e Daten i n Tabelle 1 k ö n n e n diese E r w a r -
dig e i n g e b ü ß t .
tungen nicht b e s t ä t i g e n , denn mit zusammen
55 Prozent bilden Oppositionelle und U n g e -
2.6 Zwischenbilanz
bundene die Mehrheit in der Ostelite. D a m i t
hat sich die elitäre Rekrutierungsbasis auf po-
Trotz ihrer relativ zu den Westdeutschen noch
litische G r u p p e n verlagert, die zu D D R - Z e i -
geringeren Aufstiegschancen m u ß mit B l i c k
ten keine Chance hatten, in die E l i t e a u f z u -
auf
steigen. Indes ist keine v o l l s t ä n d i g e Verlage-
Rekrutierungssieb der E l i t e g e s c h l ü p f t sind,
rung festzustellen, da S E D - M i t g l i e d e r und
eine deutliche Verlagerung der i n der D D R -
Blockparteimitglieder mit zusammen 45 P r o -
Gesellschaft
zent i m m e r noch stark und i m Verhältnis zu
konstatiert werden. Das gilt g l e i c h e r m a ß e n i n
ihren ehemaligen B e v ö l k e r u n g s a n t e i l e n so-
bezug auf qualifikatorische, sektorale, hier-
gar ü b e r d u r c h s c h n i t t l i c h vertreten
s i n d . In-
sofern treffen w i r hier eine H y b r i d k o n f i g u r a -
jene
Ostdeutschen,
archische
das
und
politische
Rekrutierungs-
kriterien. A n h a n d dieser K r i t e r i e n zeichnet
sich die positioneile
lerdings dominant transitorischen
elitenreservoirs
an.
durch
zugeteilten A u f s t i e g s c h a n c e n
tion aus R e p r o d u k t i o n und Transition mit alElementen
die
Verankerung
der
ab: die ideologieneutral
sionelle
und subelitäre
Deutlicher treten die transitorischen E l e m e n -
Intelligenz
te bei Betrachtung der H ö h e v o n Parteifunk-
che entweder
tionen i n A b b i l d u n g 4 hervor. D i e Verteilung
die parteipolitische
der Ostelite ü b e r die einzelnen Hierarchie-
war.
des
Gegen-
DDR-Gesellschaft
qualifizierte,
klar
profes-
Humandienstleistungs-
der Nachaußaugenerationen,
wel-
gar nicht oder nur marginal
Machtzuteilung
in
integriert
A u f g r u n d der r i g i d e n institutionellen
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1 9 9 7
Barrieren i n der D D R - G e s e l l s c h a f t war die-
Demokratie in allen gesellschaftlichen B e r e i -
ses Reservoir i n positionell sehr trennscharf
chen'
umrissenen Gesellschaftsbereichen eingekap-
Outputstruktur bevorzugt sie eine
selt. E s entspricht der bereits v o n L u d z (1968)
logische
beschriebenen
'institutionalisierten Gegeneli-
den 'Schutz der U m w e l t ' , die 'Integration v o n
te' und ist d a r ü b e r hinaus mit dem typischen
A u s l ä n d e r n ' und die 'Sicherung des S o z i a l -
E i n z u g s f e l d neuer sozialer
staats' in den Vordergrund stellt. U n d als per-
Bewegungen
iden-
gekennzeichnet
Ausrichtung
ist. H i n s i c h t l i c h
der Staatstätigkeit,
tisch. W i e i m folgenden zu sehen, w i r d das
sönlichen Verhaltensmaßstab
auch in einer Reihe typisch postmaterialisti-
Angehörigen
scher E i n s t e l l u n g e n der ostdeutschen
Idealismus
Elite
deutlich.
der
sozial-öko-
der ostdeutschen
die
schätzen
Elite
die
einen
hoch, bei dem es w i c h t i g ist, 'sich
f ü r sozial benachteiligte G r u p p e n
einzuset-
z e n ' , 'anderen M e n s c h e n z u helfen' und 'sich
3
Postmaterialismus in der
ostdeutschen Elite
politisch zu engagieren'.
Diese drei Wertedimensionen sind miteinan-
Tabelle 2 gibt zu erkennen, d a ß die politi-
der k o m p a t i b e l und b i l d e n A s p e k t e
schen W e r t p r i o r i t ä t e n der ostdeutschen
nochmals ü b e r g e o r d n e t e n Syndroms, das sich
Elite
stärker postmaterialistisch e i n g e f ä r b t sind als
w i e d e r u m faktoranalytisch extrahieren
jene der westdeutschen Elite. Das gilt s o w o h l
als (erweiterte) Neue Politik-Dimension
f ü r die B e w e r t u n g des politischen Regimes
zeichnen l ä ß t .
eines
und
kenn-
5
i m Input- und Outputbereich als auch f ü r die
persönlichkeitsorientierten Wertpräferenzen,
4
Fazit
denn auf diesen drei Faktoren besitzt die ostdeutsche E l i t e h ö h e r e scores als die westdeut1
D i e A n g e h ö r i g e n der ostdeutschen E l i t e w a -
sche Elite." H i n s i c h t l i c h der Inputstruktur des
ren vor der Wende zu i m m e r h i n einem V i e r -
politischen R e g i m e s präferiert die ostdeutsche
tel, aber g l e i c h w o h l nicht mehrheitlich i n der
E l i t e ein partizipatives
B ü r g e r b e w e g u n g aktiv (vgl. Tab. 1). D a s war
Demokratiemodell,
das
durch die ' E i n f ü h r u n g von Volksbegehren und
auch nicht zu erwarten i n einem a u t o r i t ä r e n
Volksentscheiden' sowie die 'Realisierung der
R e g i m e , das der M o b i l i s i e r u n g p o l i t i s c h e n
Tab. 2: Unterschiede zwischen Ost- und Westelite in den progressiven Dimensionen politischer
Wertpräferenzen: Mittelwerte von Faktorscores
Progressive Dimensionen
politischer Wertpräferenzen
Regimebewertung-Input:
Partizipati ve Demokratie
Regimebewertung-Output:
Sozial-ökologische Staatstätigk.
Persönlicher Verhaltensmaßst.:
Idealismus
Meta-Dimension:
Neue Politik (erweitert)
Datenbasis: Potsdamer Elitenstudie 1995.
Westelite
Ostelite
Eta
-.08
.58
.22
-.06
.46
.17
-.08
.60
.22
-.09
.71
.26
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , Jo. 10, HEFT 2, 1997
Dissenses massive Repressionsdrohungen entgegensetzte. D e n n o c h besitzt die ostdeutsche
tionen in Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Medien,
Verbänden, Militär und Kirchen verstanden.
Unter der wissenschaftlichen Intelligenz sind i m
folgenden die Absolventen eines Hochschulstudiums zu verstehen.
Die Faktoren, auf die sich die scores beziehen,
wurden aus unterschiedlichen Variablen extrahiert,
nämlich einer Frage zum Demokratieverständnis,
zur gewünschten Ausrichtung der Staatsaktivitäten
und zu den persönlichen Wertvorstellungen. Jede
dieser Fragen enthielt eine Batterie von items, zu
denen die Befragten ihre Zustimmung auf einer
mehrstufigen Skala einstufen konnten. Im Text sind
die items, die hoch auf den Faktoren laden, kurz
genannt (ausführlich Welzel 1997b).
Alle Faktorscore-Variablen, die sich aus den Faktoranalysen zu den oben beschriebenen Variablen
extrahieren ließen, wurden ihrerseits nochmals einer Faktoranalyse unterzogen. Dabei zeigte sich,
daß die drei oben berichteten Einzelfaktoren wiederum auf eine gemeinsame Meta-Dimension reduzierbar sind, die sich als (erweiterte) Neue Politik-Dimension kennzeichnen läßt. Erweitert deshalb, weil hier mehr Variablen berücksichtigt sind
als im ursprünglichen Neue Politik-Konzept von
Baker et al. (1981).
3
E l i t e sozial-strukturelle und -kulturelle C h a rakteristika, die f ü r neue soziale
Bewegungen
typisch sind. E s handelt sich insofern u m die
4
A n g e h ö r i g e n eines blockierten B e w e g u n g s reservoirs, das erst i m Z u g e der Wende p o l i tisch aktiv werden konnte. D a b e i w i r d am ostdeutschen Transitionsbeispiel auch deutlich,
d a ß zumindest in demokratischen U m b r ü c h e n
vor allem die f ü r neue
soziale
Bewegungen
typischen G r u p p e n mobilisiert werden und in
die E l i t e aufsteigen. D i e heutige Z u s a m m e n setzung der ostdeutschen E l i t e reflektiert v o n
daher noch die Ausnahmesituation des U m bruchs. M i t zunehmender
zeitlicher Distanz
zu dieser einmaligen Z ä s u r ist daher eine A n gleichung an die Zusammensetzung der westdeutschen E l i t e z u erwarten.
Christian
Welzel ist Politikwissenschaftler und
arbeitet a m Wissenschaftszentrum B e r l i n f ü r
S o z i a l f o r s c h u n g ( W Z B ) , Schwerpunkt Transformationsprozesse
in
postsozialistischen
5
Ländern.
Anmerkungen
1
Der Beitrag stützt sich auf die Potsdamer Elitenstudie 1995, der ersten gesamtdeutschen und sektorübergeifenden sowie als Vollerhebung angesetzten Elitenbefragung in der Bundesrepublik
Deutschland. B e i einer Rücklaufquote von knapp
60 Prozent (n=2.341) sind ehemalige DDR-Bürger zu knapp 12 Prozent (n=272) in der Elite vertreten. Sie besetzen etwa 60 Prozent der in den
neuen Bundesländern angesiedelten Elitepositionen.
Wenn im folgenden von Ostdeutschen die Rede
ist, dann sind damit Ostdeutsche nach Herkunft,
also die ehemaligen DDR-Bürger in der bundesdeutschen Elite gemeint. Zu weiteren Einzelheiten
der Erhebung vgl. Bürklin/Rebenstorf (1997).
2
Unter Eliten werden dem Positionsansatz folgend
die Inhaber nationaler und regionaler Spitzenposi-
Literatur
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22
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23
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
Kai-Uwe Hellmann
Marginalisierung und Mobilisierung
Konzeptionelle Überlegungen zur Emergenz und Mobilisierung
von Marginalisierten
1
Einleitung
sich die Diskrepanz zwischen dem, was sie
wollen, und dem, was sie haben, v e r g r ö ß e r t ,
Wer protestiert, hat Probleme. Dabei kann man
sondern erst in dem M o m e n t , da sich diese
Probleme kennzeichnen
Diskrepanz i m Vergleich zu dem, was andere
als
„Diskrepanzen
z w i s c h e n I s t - Z u s t ä n d e n und S o l l - Z u s t ä n d e n "
entbehren m ü s s e n , v e r g r ö ß e r t . Dieses
(Gerhards
zept arbeitet somit mit z w e i Diskrepanzen v o n
1992: 310): M a n erwartet etwas,
Kon-
was der F a l l sein s o l l , sieht sich aber ent-
S o l l - und I s t - Z u s t ä n d e n , z u m einen mit der
t ä u s c h t in dem, was der F a l l ist. Insofern kann
Feststellung einer absoluten
man ein P r o b l e m auch als die E n t t ä u s c h u n g
nur auf die E n t t ä u s c h u n g der eigenen E r w a r -
einer Erwartung definieren. L ä ß t sich nun die
tungshaltung bezogen ist, z u m anderen mit
E n t t ä u s c h u n g dieser Erwartung auf eine Ent-
der Feststellung einer relativen
scheidung anderer zurechnen, hätten w i r es
die auf einen Vergleich der eigenen E r w a r -
mit einem sozialen P r o b l e m zu tun. U n d w i r d
t u n g s e n t t ä u s c h u n g mit der anderer abzielt.
s c h l i e ß l i c h noch die Verantwortung f ü r diese
U n d erst, wenn in der eigenen E i n s c h ä t z u n g
Entscheidung eingeklagt, verbunden mit der
andere weniger entbehren m ü s s e n als man
A u f f o r d e r u n g , diese Entscheidung zu revidie-
selbst, w i r d dies als so ungerecht e m p f u n -
ren, handelt es sich u m Protest ( H e l l m a n n
den, d a ß die kritische S c h w e l l e v o n Erleben
1994). Protest ist somit der Versuch, auf P r o -
zu Handeln, also von A p a t h i e z u Protest, über-
bleme aufmerksam z u machen und sie zu l ö -
schritten w i r d .
Deprivation, die
Deprivation,
sen. D a b e i kann Protest ebenso von einzelnen w i e v o n mehreren Personen artikuliert
werden. W e n n jedoch mehrere, mitunter sogar sehr viele Personen gemeinsam protestieren, sprechen w i r v o n M o b i l i s i e r u n g , und verf ü g e n diese Personen untereinander noch ü b e r
eine k o l l e k t i v e Identität f ü r das, was sie tun,
von sozialer B e w e g u n g .
Geht man von diesem Konzept aus, m ü ß t e n
vor allem jene am ehesten zu Protest neigen,
die am meisten unter relativer D e p r i v a t i o n l e i den. D a v o n gibt es aber jede M e n g e , man denke nur an Arbeitslose, A r m e , Obdachlose, A l t e ,
Behinderte oder A u s l ä n d e r . Im Vergleich z u
dem, was andere Leute haben, die i n B r o t und
A r b e i t stehen oder j u n g , gesund und Deut-
In der Bewegungsforschung w i r d der Versuch,
sche sind, entbehren diese M e n s c h e n ein be-
Protest auf Probleme z u r ü c k z u f ü h r e n , vor al-
t r ä c h t l i c h e s M a ß an L e b e n s q u a l i t ä t - z u m i n -
lem mit dem Konzept
Depriva-
dest aus Sicht derer, die nicht betroffen sind.
tion verbunden (Gurr 1972). Danach neigen
der relativen
G l e i c h w o h l ist auch o f f e n s i c h t l i c h , d a ß gera-
M e n s c h e n nicht schon dann z u Protest, wenn
de diese M e n s c h e n selten ö f f e n t l i c h prote-
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
stieren, auf die S t r a ß e gehen und ihr Recht
Konzept der relativen Deprivation also auch
auf m e n s c h e n w ü r d i g e L e b e n s u m s t ä n d e e i n -
weiterhin G e l t u n g z u , nur eben mit einge-
klagen. Statt dessen w i r d die Proteststatistik
s c h r ä n k t e r Reichweite.
ü b e r w i e g e n d v o n Personen bestimmt,
denen
es weitaus besser geht als den 'Randgruppen
U m das Verhältnis von G e l t u n g und R e i c h -
in der modernen
weite dieses Konzepts genauer z u bestimmen,
Gesellschaft' ( F ü r s t e n b e r g
1965). Bedeutet dies, d a ß das Konzept e m p i -
liegt es nahe, das g r ö ß t e H a n d i c a p dieses K o n -
risch unzutreffend ist, auch wenn es analy-
zepts in Augenschein zu nehmen. D i e s be-
tisch bestechende Ü b e r z e u g u n g s k r a f t besitzt?
steht darin, d a ß jene, die dem K o n z e p t nach
am ehesten A n l a ß zu Protest h ä t t e n , es am
D i e D i s k u s s i o n u m die L e i s t u n g s f ä h i g k e i t ,
seltensten tun. In den folgenden Ü b e r l e g u n -
aber auch Leistungsgrenzen dieses Konzepts
gen w i r d es deshalb darum gehen, sich z u m
haben schon v o r Jahrzehnten
einen ü b e r die Geltung
zur E n t w i c k -
des Konzepts, d.h. ge-
lung konkurrierender E r k l ä r u n g s a n g e b o t e ge-
sellschaftstheoretisch ü b e r jene z u v e r s t ä n d i -
f ü h r t , die letztlich jedoch k o m p l e m e n t ä r ar-
gen, die berechtigten A n l a ß haben, die mit
beiten: N u r i m Z u s a m m e n s p i e l der unter-
Sicherheit g r ö ß t e absolute,
schiedlichen E r k l ä r u n g s a n s ä t z e kann es ge-
sogar g r ö ß t e relative
möglicherweise
Deprivation f ü r sich i n
lingen, das P r o t e s t p h ä n o m e n und die Entste-
Anspruch zu nehmen. Z u m anderen gilt es,
hung, E n t f a l t u n g und Erhaltung sozialer B e -
die Reichweite
wegungen v o l l s t ä n d i g v e r s t ä n d l i c h zu machen
che zu ü b e r p r ü f e n , warum gerade diejenigen,
(Neidhardt/Rucht 1993). Insofern kommt dem
die dem K o n z e p t der relativen D e p r i v a t i o n
des Konzepts, d.h. die Tatsa-
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
25
nach am ehesten A n l a ß zu Protest haben, es
nalität darin besteht, d a ß der 'marginal m a n '
a m seltensten tun. I m A n s c h l u ß daran geht es
diese Grenzsituation gleich i n doppelter H i n -
u m die Unterscheidung von
sicht erfährt: i n bezug auf 'his past and his
in Bewegung
gen;
Marginalisierten
und Marginalisierten
Bewegun-
a b s c h l i e ß e n d erfolgt eine E i n s c h ä t z u n g
traditions' und i n bezug auf 'the new society'
( „ t w o cultures and two societies").
z u k ü n f t i g e r Mobilisierungschancen von M a r ginalisierten.
Das Verhältnis von K e r n und R a n d hat auch
Herbert J . N i c k e l in seiner A r b e i t ü b e r ' D i e
2
Marginalität und Marginalisierung
Campesinos zwischen M a r g i n a l i t ä t und Integration' zur Leitdifferenz
G r u n d s ä t z l i c h bezeichnet
Struktur,
Marginalität
eine
während
M a r g i n a l i s i e r u n g einen
P r o z e ß beschreibt.
U m dem P h ä n o m e n der
gemacht,
seiner Untersuchung
nur d a ß N i c k e l
mit der Unterscheidung
ripherie
systemtheoretisch
von Zentrum
und Pe-
arbeitet ( N i c k e l 1971a: 140ff). D a -
M a r g i n a l i s i e r u n g auch s o z i o l o g i s c h auf die
nach beschreibt M a r g i n a l i t ä t den Status quo
Spur z u k o m m e n , m u ß man jedoch einen U m -
v o n Menschen, die an der Peripherie eines
weg ü b e r den B e g r i f f der M a r g i n a l i t ä t neh-
sozialen Systems leben, das ihnen den Z u -
men, der erstmals 1928 mit einer A r b e i t von
gang z u m Zentrum erschwert, wenn nicht ver-
Robert E z r a Park ü b e r ' H u m a n M i g r a t i o n and
wehrt. D a b e i äußert sich die D i f f e r e n z z w i -
the M a r g i n a l M a n ' E i n g a n g in den soziologi-
schen Zentrum und Peripherie f ü r N i c k e l v o r
schen Sprachgebrauch
fand, da der B e g r i f f
allem in Kommunikationsproblemen der Pe-
der M a r g i n a l i s i e r u n g fachintern bisher kaum
ripherie,
eigenständige lexikalische Berücksichtigung
tun haben, der F ä h i g k e i t zur komplexen K o m -
gefunden hat.
munikation, dem Tempo der Informationsver-
Park z u f o l g e handelt es sich beim 'marginal
ziehung in Entscheidungssituationen und an-
m a n ' um „ a new type o f personality, namely,
deren kommunikativen Kompetenzen ( N i c k e l
die mit der D i c h t e der Kontakte z u
mittlung, dem M a n g e l an W i s s e n , der E i n b e -
a cultural hybrid, a man l i v i n g and sharing
1971a: 155 ff; D a m s 1970: 13; G o e t z e / B e n n -
intimately i n the cultural l i f e and traditions
holt-Thomsen 1975: 8).
1
o f two distinct peoples; never quite Willing
to break, even i f he were permitted to do so,
In vielen Untersuchungen, die sich mit d e m
with his past and his traditions, and not quite
P h ä n o m e n der M a r g i n a l i t ä t vor allem i n der
accepted, because of racial prejudice, i n the
Dritten Welt b e s c h ä f t i g e n , ist die Unterschei-
new society in w h i c h he now sought to f i n d a
dung von Zentrum und Peripherie i m Sinne
place." (Park 1950: 354) Im K e r n geht es also
einer L e i t d i f f e r e n z i n Gebrauch, die weltge-
um eine Grenzerfahrung, die jene machen, die
sellschaftlich verankert w i r d und die Dritte
genau auf der G r e n z e zwischen z w e i K u l t u -
Welt als die Peripherie der westlichen Indu-
ren verharren, w e i l sie nicht b l o ß in einer v o n
striestaaten als dem Zentrum der Weltgesell-
beiden leben k ö n n e n - das 'historische' und
schaft begreift; M a r g i n a l i s i e r u n g beschreibt
'typische' S c h i c k s a l der Juden, so Park. Ent-
d e m g e g e n ü b e r eine spezifische F o r m der A u s -
scheidend ist, d a ß M a r g i n a l i t ä t -
grenzung aus dem Zentrum und Verbannung
wie Park
w ö r t l i c h formulierte ( „ o n the margin") - eine
an die Peripherie der Weltgesellschaft ( N i k -
Grenzsituation bezeichnet, in der es um das
k e i 1971b). B e s c h ä f t i g t man sich jedoch sy-
Verhältnis
stemtheoretisch
von Kern
und Rand
geht, wobei
das S p e z i f i s c h e an Parks B e g r i f f der M a r g i -
mit M a r g i n a l i t ä t und M a r g i -
nalisierung in der modernen Gesellschaft, bie-
26
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
tet es sich an, die Unterscheidung von Z e n -
systemgesetzten Teilnahmebedingungen nicht
trum und Peripherie durch die
e r f ü l l t werden und die I n k l u s i o n m i ß l i n g t ,
von Inklusion
und Exklusion
Unterscheidung
als
Leitdifferenz
v o n Exklusion
spricht ( L u h m a n n 1994).
zu ersetzen. Z u m einen w i r d dadurch der E i n druck vermieden, es g ä b e i n der
modernen
Dabei erstrecken sich Inklusion und E x k l u s i -
Gesellschaft noch ein definitives Zentrum mit
on z u g l e i c h auf die j e w e i l i g e f u n k t i o n s s y -
2
r ä u m l i c h klar lokalisierbarer P e r i p h e r i e , z u m
stemspezifische Leistungs- und P u b l i k u m s r o l -
anderen w i r d damit der kommunikative C h a -
le, w i e sie beispielsweise f ü r P o l i t i k , W i r t -
rakter betont, der der D i f f e r e n z von Inklusi-
schaft, Erziehung, Recht und Wissenschaft i n
on und E x k l u s i o n zugrunde liegt, und nicht
der „ D i f f e r e n z von Obrigkeit und Untertan,
zuletzt w i r d sich zeigen, d a ß sich M a r g i n a l i -
von Produzent und Konsument bzw. V e r k ä u -
tät und M a r g i n a l i s i e r u n g als E p i p h ä n o m e n e
fer und K ä u f e r , von Lehrer und S c h ü l e r , von
dieser D i f f e r e n z , n ä m l i c h als E x k l u s i o n s e f -
Richter und Parteien [und] v o n Forscher u n d
fekte beschreiben lassen.
E m p f ä n g e r von Wissen" (Luhmann
1980b:
139) z u m A u s d r u c k k o m m e n . D e n n es ist
2.1
Inklusion und Exklusion
ebenso m ö g l i c h , v o n einer Leistungsrolle
v o r ü b e r g e h e n d oder dauerhaft -
-
ausgeschlos-
D i e moderne Gesellschaft ist p r i m ä r f u n k t i o -
sen z u werden, etwa durch Arbeitslosigkeit,
nal differenziert. D a b e i bezeichnet f u n k t i o -
wie von einer Publikumsrolle, etwa durch Z a h -
nale D i f f e r e n z i e r u n g die A u f f ä c h e r u n g der
l u n g s u n f ä h i g k e i t . Fragt man daher nach den
modernen G e s e l l s c h a f t in f ü r e i n a n d e r
glei-
funktionssystemspezifischen M ö g l i c h k e i t s b e -
Teilsysteme: gleich, als die-
dingungen f ü r Inklusion und E x k l u s i o n , m u ß
che wie ungleiche
se Teilsysteme allesamt eine
gesamtgesell-
s c h a f t l i c h relevante
wahrnehmen,
Funktion
und zugleich ungleich,
als diese Funktionen
man zuerst einmal die spezifische K o n s t e l l a tion von Leistungs- und P u b l i k u m s r o l l e n f ü r
jedes einzelne Funktionssystem
berücksich-
j e w e i l s andere sind, wie Erwartungssicherheit,
tigen, das jeweils andere A n f o r d e r u n g e n an
Erkenntnisgewinn
die eigenen Leistungs- und P u b l i k u m s r o l l e n
oder
Bedürfnisbefriedi-
gung. Insofern ist die M u l t i f u n k t i o n a l i t ä t vor-
ausgibt (Stichweh 1988).
moderner Gesellschaften durch die A u s d i f f e renzierung der E i n z e l f u n k t i o n e n i n s p e z i f i -
So setzt die Inklusion in die P u b l i k u m s r o l l e
sche Subsysteme der modernen Gesellschaft
des politischen Systems voraus, d a ß man sich
ersetzt worden, denen j e w e i l s f ü r sich u n i -
innerhalb der Grenzen des Grundgesetzes be-
versale Z u s t ä n d i g k e i t z u k o m m t : N u r Recht
wegt; andernfalls e r f ä h r t man eine E i n s c h r ä n -
spricht Recht, nur E r z i e h u n g erzieht.
Die
k u n g seiner S t a a t s b ü r g e r r e c h t e , gegebenen-
funktionsspezifischen Teilsysteme sind somit
falls sogar Inhaftierung und damit e m p f i n d -
f ü r sich j e w e i l s autonom; sie allein bestim-
liche, wenngleich nur partielle Inklusionsein-
men, was f ü r sie relevant ist und was nicht.
b u ß e n . Immerhin kann sich das auch auf an-
Das betrifft auch die A r t und Weise, ob und
dere Leistungsrollen auswirken, w i e die B e -
w i e jemand an ihnen teilnimmt, also die Fest-
rufsverbote in den 70er Jahren zeigen. D a b e i
legung der funktionssystemspezifischen T e i l -
hat Arbeitslosigkeit einen besonders gravie-
nahmebedingungen,
die e r f ü l l t sein m ü s s e n ,
renden Einschnitt zur Folge, da die freie Ver-
damit die Inklusion einer Person ins System
f ü g u n g ü b e r ein M i n d e s t e i n k o m m e n f ü r die
faktisch gelingt. D e n n genau dies bezeichnet
Inklusion in fast alle Funktionssysteme v o n
Inklusion,
nicht zu u n t e r s c h ä t z e n d e r Bedeutung ist ( K r o -
w ä h r e n d man f ü r den F a l l , d a ß die
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
nauer 1995; Huster 1995: 9 f f ) - wie sich ü b e r -
zweiter O r d n u n g hinreichend v e r f ü g t , zeigt
haupt der E i n d r u c k einstellt, als ob das W i r t -
sich den komplexen Anforderungen der m o -
schaftssystem bei der Frage nach Inklusions-
dernen Gesellschaft auch gewachsen.
und Exklusionsbedingungen in der modernen
fern stellt genau diese F ä h i g k e i t jene funda-
Gesellschaft eine herausragende Stellung ein-
mentale Inklusionskompetenz dar, auf die es
nimmt ( K r e c k e l 1992: 180).
in der modernen Gesellschaft insgesamt
kommt. D i e K o m p l e x i t ä t dieser
Inso-
an-
Kompetenz
D o c h bei „allen offensichtlichen Unterschie-
zeigt sich aber auch darin, d a ß sie nochmals
den, die sich aus den unterschiedlichen F u n k -
zwischen der S o z i a l - , der Sach-, der R a u m -
tionen und Codierungen dieser Systeme
und der Zeitdimension differenziert.
er-
geben, zeigen sich auch ü b e r r a s c h e n d e G e meinsamkeiten, gleichsam
der
modernen
1992b:
'Tiefenstrukturen'
Gesellschaft."
(1) In der S o z i a l d i m e n s i o n handelt es sich
(Luhmann
um das P r o b l e m der Individualisierung, das
125) D e n n u n a b h ä n g i g v o n diesen
sich auch als zunehmende A n o n y m i t ä t ä u ß e r t
funktionssystemspezifischen
Sonderregelun-
und die ganzen Schwierigkeiten mit der per-
gen f ü r jede einzelne Leistungs- oder P u b l i -
s ö n l i c h e n Selbstdarstellung h e r a u f b e s c h w ö r t ;
k u m s r o l l e ist feststellbar, d a ß es allgemeine
U l r i c h B e c k hat dieses P h ä n o m e n h i n l ä n g -
Inklusionskompetenzen gibt, die f ü r alle S y -
lich bekannt gemacht, so d a ß sich weiterge-
steme gelten.
hende E r k l ä r u n g e n e r ü b r i g e n . D i e F ä h i g k e i t ,
2.2 Kompetenzen und Risiken
petenz zur Autonomie,
auf die es hier p r i m ä r ankommt, ist die K o m u m sich selbst i n Ver-
h ä l t n i s s e n zurechtfinden z u k ö n n e n , i n deM a x Weber hat i n der ' V o r b e m e r k u n g ' zu den
nen es k a u m noch l ä n g e r f r i s t i g e , v e r b i n d l i -
Gesammelten A u f s ä t z e n zur R e l i g i o n s s o z i o -
che, widerspruchsfreie, von A n e r k e n n u n g s -
logie auf einen „ s p e z i f i s c h gearteten ' R a t i o -
v e r h ä l t n i s s e n gesättigte
nalismus' der okzidentalen K u l t u r " aufmerk-
gen gibt, die eindeutige R i c h t u n g e n vorge-
sam gemacht, der sich ü b e r alle Funktionsbe-
ben und Sicherheit spenden. M a n m u ß inner-
reiche der modernen Gesellschaft hinweg er-
lich m o b i l sein, emotional beweglich, mit un-
streckt und i n einer besonderen
„Fähigkeit
terschiedlichsten M e n s c h e n trotz v ö l l i g e r U n -
und D i s p o s i t i o n der M e n s c h e n z u bestimm-
vertrautheit umgehen k ö n n e n und i m wesent-
Lebensführung"
lichen darauf vertrauen, d a ß wechselseitig die
1984: 20f) z u m A u s d r u c k k o m m t .
gleichen S o z i a l i s a t i o n s e f f e k t e zweiter O r d -
ten Arten praktisch-rationaler
(Weber
Erwartungserwartun-
E g a l , in w e l c h e m Bereich, immer trifft man
nung, also die Vertrautheit i m U m g a n g mit
auf eine spezifische F o r m der Distanznahme,
Fremdheit, in bezug auf die völlig anonyme
des k ü h l e n K a l k ü l s , der Reflektiertheit, der
Begegnung in hochkomplexen Funktionszu-
Kontextbezogenheit, kurz: der
'Beobachtung
s a m m e n h ä n g e n vorliegen, u n a b h ä n g i g davon,
zweiter O r d n u n g ' ( L u h m a n n 1992a: 89), die
wer jemand a u ß e r h a l b dieses Kontexts noch
ü b e r die Beobachtung von Beobachtungen die
ist (Hahn 1994).
j e w e i l s nur kontexturale R e l e v a n z dessen realisiert, was uns i n der modernen Gesellschaft
insgesamt
begegnet,
und
einen
ständigen
' S i n n - S w i t c h ' vollzieht, u m von Relevanzbereich z u R e l e v a n z b e r e i c h z u springen. N u r
wer ü b e r diese F ä h i g k e i t zur Beobachtung
(2) In der Sachdimension handelt es sich daru m , die extrem hohe K o m p l e x i t ä t völlig unterschiedlicher A n f o r d e r u n g e n innerhalb j e des einzelnen Funktionssystems z u b e w ä l t i gen. D e n n das K e r n p r o b l e m besteht i n der
28
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
K o n t i n g e n z der modernen Gesellschaft, die
U m g e b u n g befanden, trifft man heute auf de-
mit einer u n ü b e r s c h a u b a r e n P l u r a l i t ä t v o n
zentrale, weit verstreute W o h n - , Arbeits- und
Q u a l i f i k a t i o n e n und R o l l e n konfrontiert, ohne
F r e i z e i t v e r h ä l t n i s s e , die ein hohes M a ß an
d a ß noch eine alles beherrschende Ordnungs-
r ä u m l i c h e r B e w e g l i c h k e i t erfordern, u m der
instanz existiert, an der man sich einheitlich
E x p a n s i o n der Distanzen R e c h n u n g z u tra-
orientieren k ö n n t e ( L u h m a n n 1992b). Ä h n -
gen (Berger 1995). Deshalb k o m m t es beson-
lichkeiten m ö g e n zwar bestehen, aber der Teu-
ders auf die Kompetenz zur Mobilität
fel steckt i m D e t a i l , so d a ß ein einziges, uni-
mit diesen Gegebenheiten
versal anwendbares Schema nicht hinreicht.
nung und Entfernung Schritt z u halten ( T u l -
A u ß e r d e m w i r d man nie alles lernen k ö n n e n
ly/Wahler 1996).
an, u m
räumlicher Tren-
und immer mit der U n g e w i ß h e i t rechnen m ü s sen,
Deshalb
(4) S c h l i e ß l i c h spielt i n der Z e i t d i m e n s i o n die
braucht es vor allem die F ä h i g k e i t zur Gene-
was
als
nächstes
passiert.
E i g e n d y n a m i k der modernen Gesellschaft die
ralisierung und die f l e x i b l e V e r f ü g u n g ü b e r
entscheidende Variable, da nichts bleibt, w i e
b e t r ä c h t l i c h e Wissensmengen, w o f ü r B i l d u n g
es ist, sich s t ä n d i g alles ä n d e r t und i m F l u ß
n a t ü r l i c h eine w i c h t i g e Voraussetzung dar-
ist. Das schließt die Rollenstrukturen ebenso
stellt (Beck 1986: 126ff). Z u d e m bedarf es
ein wie die Q u a l i f i k a t i o n s p r o f i l e , so d a ß un-
eines versierten Rollenmanagements, u m po-
a u f h ö r l i c h e Fortbildung in B e r u f und A l l t a g
lykontextural agieren
und von Kontext z u
zu einer S e l b s t v e r s t ä n d l i c h k e i t geworden ist:
Kontext unvermittelt umschalten zu k ö n n e n ,
Wer sich heute auf den Lorbeeren von ge-
i m Sinne einer „ m u l t i - r e l a t i o n a l e ( n ) Synchro-
stern ausruht, v e r f ü g t morgen nur noch ü b e r
nisation" (Berger et al. 1987: 65). Ohne diese
welkes L a u b . Worauf es deshalb ankommt, ist
K o m p e t e n z ist man restlos ü b e r f o r d e r t , w e i l
die F ä h i g k e i t , permanent lernen zu k ö n n e n .
innerhalb der Funktionsbereiche
Wer nicht i n der L a g e oder bereit ist, s t ä n d i g
k e i n e Gelegenheiten
überhaupt
mehr bestehen,
diese
dazuzulernen und Schritt z u halten mit d e m
und
sozialen Wandel, der f o r t w ä h r e n d Neues zur
Zeitkredit zur N e u -
Welt bringt und anderes unter sich b e g r ä b t ,
orientierung z u versorgen. W o r a u f es daher
bleibt auf der Strecke (Berger et al. 1987:
ankommt, ist die F ä h i g k e i t zur
Reflexivität,
71). D a b e i ü b t das Tempo der S e l b s t v e r ä n d e -
u m mit der Kontingenz der modernen G e s e l l -
rung der modernen G e s e l l s c h a f t einen s o l -
schaft s o u v e r ä n umgehen zu k ö n n e n .
chen Zeitdruck aus, d a ß k a u m noch die M u ß e
D e f i z i t e noch aktuell zu kompensieren
sich mit ausreichendem
bleibt, ü b e r die S i n n f ä l l i g k e i t dieser Selbst(3) In der R a u m d i m e n s i o n geht es um die
'Entbettung sozialer Systeme', w i e Anthony
Giddens „ d a s 'Herausheben'
sozialer B e z i e -
hungen aus ortsgebundenen
Interaktionszu-
s a m m e n h ä n g e n und ihre unbegrenzte R a u m Zeit-Spannen
übergreifende
Umstrukturie-
r u n g " (Giddens 1995: 33) genannt hat. W o
f r ü h e r eine unipolare U n t e r s c h e i d u n g
schen Z e n t r u m und Peripherie die
zwi-
leichte
v e r ä n d e r u n g zu reflektieren, sich Sonderrechte zu sichern oder v o n der allgemeinen E n t w i c k l u n g auszunehmen. Statt dessen erfordert
es einen ä u ß e r s t f l e x i b l e n Erwartungshaushalt, in dem es ein s t ä n d i g e s K o m m e n und
G e h e n gibt, denn allem k o m m t nur v o r ü b e r gehende Geltung z u , weshalb man diese permanente L e r n f ä h i g k e i t auch als K o m p e t e n z
zur Reversibilität
bezeichnen k ö n n t e .
Ü b e r s c h a u b a r k e i t der Verhältnisse g e w ä h r l e i stete und sich alle wesentlichen L e b e n s b e z ü -
S o m i t e r f ä h r t die 'Beobachtung zweiter O r d -
ge w i e F a m i l i e und A r b e i t in unmittelbarer
nung' durch die Aspekte A u t o n o m i e , R e f l e -
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , Je,
29
10, HEFT 2, 1997
xivität, M o b i l i t ä t und R e v e r s i b i l i t ä t nochmals
F ü r s t e n b e r g es a u s g e d r ü c k t hat - die „ m a n -
ihre s o z i a l , s a c h l i c h , r ä u m l i c h und zeitlich
gelnde soziale Teilhabe" ( F ü r s t e n b e r g 1965:
spezifische A u s f o r m u n g . U n a b h ä n g i g von den
240) am gesellschaftlichen L e b e n . Genau i n
Besonderheiten innerhalb eines jeden F u n k -
diesem Sinne läßt sich M a r g i n a l i t ä t i n der
tionssystems
e r m ö g l i c h e n es diese ' T i e f e n -
modernen Gesellschaft als die E x k l u s i o n aus
i m Sinne generalisierter Inklusi-
einem oder mehreren Funktionssystemen ver-
strukturen'
onskompetenzen,
sich in der modernen G e -
sellschaft p r i n z i p i e l l z u r e c h t z u f i n d e n bergen aber auch gravierende
sie
Exklusionsri-
stehen, was auch positiv wahrgenommen werden mag, etwa als 'Junge Generation i m Ghetto' (Fetscher
1978), die sich gar nicht erst
siken, sofern diese 'Tiefenstrukturen' gar nicht
inkludieren lassen w i l l , sondern betont da-
oder nur u n g e n ü g e n d sozialisiert sind. D e n n
von distanziert ( W i l l i s 1978; M a n r i q u e 1992;
dann w i r d die N i c h t - T e i l n a h m e an einem oder
Guter 1994). D e m g e g e n ü b e r beschreibt M a r -
mehreren Funktionssystemen z u einem e x i -
ginalisierung den Ü b e r g a n g v o n Inklusion z u
stentiellen P r o b l e m f ü r „ d i e von der Teilnah-
E x k l u s i o n , also den Verlust von Teilnahme-
me
chancen an der Gesellschaft, w o b e i hier z u -
Ausgeschlossenen:
Nicht-Versicherte,
Schulabbrecher, 'the unemployable', A u s l ä n -
meist die negative
der ohne A u f e n t h a l t s - und Arbeitserlaubnis
auch in der Selbstbeschreibung der M a r g i n a -
('Illegale'),
lisierten.
K r i m i n e l l e , p h y s i s c h und
psy-
K o n n o t a t i o n dominiert,
chisch Behinderte und chronisch Leistungsgeminderte, D r o g e n a b h ä n g i g e . Ihnen mangelt
F ü r die moderne Gesellschaft ist aber weit-
die Verkehrsberechtigung bzw. die basale Z a h -
aus entscheidender,
lungs- und T e i l n a h m e f ä h i g k e i t f ü r Teile oder
sierung von Personen oder G r u p p e n i m m e r
die G e s a m t h e i t
mehr v o n einem Struktureffekt
des
bürgerlichen
Lebens."
( O f f e 1996: 275) D a b e i ist insbesondere
die
„ M u l t i d i m e n s i o n a l i t ä t der E x k l u s i o n " (Stichweh 1997: 7 )
vorzuheben,
3
und deren E i g e n d y n a m i k her-
da die E x k l u s i o n
Funktionssystem
-
auf einen Stra-
verschiebt. D e n n i m Unterschied
zu vormodernen Gesellschaften, in denen die
weitgehend u n v e r f ü g b a r e n
Strukturgegeben-
einem
heiten der sozialen O r d n u n g durch den uner-
einem D o m i n o - E f f e k t
forschlichen W i l l e n eines oder mehrerer G ö t -
gleich - die beschleunigte,
aus
tegieeffekt
d a ß sich die M a r g i n a l i -
selbstverstärken-
ter oder andere k o s m o l o g i s c h e M ä c h t e be-
de E x k l u s i o n aus anderen Funktionssystemen
g r ü n d e t waren, w i r d i n der modernen G e s e l l -
nach sich ziehen und dadurch hochgradig ne-
schaft durch das Kontingentwerden der E r -
gativ
eignisse - immer mehr ist der Beobachtung
1994:
integrierend
41;
w i r k e n kann
Aderhold
1970:
(Luhmann
131 f;
Nickel
zweiter Ordnung freigegeben - auch i m m e r
1971b: 45) - man denke nur an N i c h t s e ß h a f -
mehr auf E n t s c h e i d u n g e n
te ( A d e r h o l d 1970; Girtler 1980) oder „the
spricht N i k l a s L u h m a n n geradezu
cumulative effects of racial isolation and chro-
„ E r f i n d u n g v o n Entscheidungen" ( L u h m a n n
zugerechnet.
So
v o n der
nic Subordination on life and behavior in the
1991a: 35), damit die Z u r e c h n u n g
inner c i t y " ( W i l s o n 1987: 4) i m F a l l e der
selbst wenn gar keine Entscheidungen vor-
schwarzen Ghettos in den U S A .
gelingt,
liegen sollten: „ W i r m ü s s e n deshalb mit der
M ö g l i c h k e i t rechnen, d a ß die moderne G e -
2.3 Struktur und Strategie
sellschaft zu v i e l auf Entscheidungen zurech-
F o r m a l bedeutet E x k l u s i o n die Nichtteilnah-
der (Person oder Organisation) gar nicht iden-
me an K o m m u n i k a t i o n oder - wie Friedrich
tifiziert werden k a n n . " ( L u h m a n n 1991b: 130)
net und dies auch dort tut, w o der Entschei-
\30
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
U n d dies gilt nicht nur f ü r die Zuschreibung
behren mag. Im E n d e f f e k t l ä u f t dies aber auf
von Entscheidungen, sondern auch von Ver-
das G l e i c h e hinaus, n ä m l i c h ein N u l l s u m m e n -
antwortung,
f ü r die Entscheider
einstehen
müssen.
spiel: Strukturelle M a r g i n a l i s i e r u n g nimmt i n
dem M a ß e ab, wie strategische M a r g i n a l i s i e rung zunimmt.
M i t Struktureffekt
ist daher gemeint, d a ß sich
die M a r g i n a l i s i e r u n g von Personen oder G r u p -
In jedem F a l l handelt es sich bei M a r g i n a l i -
pen z w a r nicht z u f ä l l i g ereignen mag, aber
sierung in der modernen Gesellschaft u m e i -
auch nicht direkt als gewollt erscheint, etwa
nen dysfunktionalen E f f e k t der funktionalen
durch H u n g e r s n ö t e , E p i d e m i e n oder Natur-
D i f f e r e n z i e r u n g . D e n n Inklusion i n der m o -
katastrophen. E s ist keine Intentionalität i m
dernen Gesellschaft h e i ß t Inklusion
S p i e l , f ü r die M e n s c h e n verantwortlich ge-
jedes Funktionssystem v o n seiner F u n k t i o n
macht werden k ö n n e n , weshalb auch keine
her universal angelegt ist und damit alle be-
Z u r e c h n u n g dieses E f f e k t s auf Entscheidun-
trifft, weshalb auch alle Z u g a n g erhalten m ü s -
gen erfolgt; g l e i c h w o h l sind Strukturen l a -
sen ( L u h m a n n 1980a: 31). M i ß l i n g t es der
tent i m S p i e l . M a n k ö n n t e diesen E f f e k t i n
modernen Gesellschaft daher, die I n k l u s i o n
A n l e h n u n g an Johan G a l t u n g (1975) als
struk-
aller zu bewerkstelligen, ist die E x k l u s i o n ( i m -
bezeichnen, die sich
mer) g r ö ß e r e r T e i l e der B e v ö l k e r u n g , also
turelle
Marginalisierung
einfach ereignet und von niemandem
aller,
da
beab-
Marginalisierung, als eine D y s f u n k t i o n f u n k -
sichtigt und verfolgt oder auch nur nicht ver-
tionaler D i f f e r e n z i e r u n g zu bewerten, die dem
hindert w i r d , obgleich es vielleicht m ö g l i c h
Inklusionsgebot nicht gerecht w i r d - w a r u m
w ä r e . Insofern w i r d strukturelle M a r g i n a l i s i e -
auch immer ( L u h m a n n 1994: 4 2 f ) .
rung v o n allen Beteiligten nur erlebt und nicht
als H a n d e l n zugerechnet:
E s passiert, aber
3
Protest und Mobilisierung
niemand hat es entschieden; Foucaults G e schichte des Wahns i m Zeitalter der Vernunft
bezeugt
dies
sehr
eindrücklich
(Foucault
1973).
N u n konzentrieren sich nach Claus O f f e derartige E x k l u s i o n s e f f e k t e , w i e sie hier als M a r ginalisierung bezeichnet werden,
innerhalb
der Staffelung „(a) Gewinner, (b) Verlierer und
Dagegen ist mit Strategieeffekt
gerade die Z u -
(c)
Nicht-Kompetente, Nicht-Teilnahmebe-
rechnung von M a r g i n a l i s i e r u n g auf Entschei-
rechtigte,
dungen angezeigt, was demzufolge als H a n -
auf die letzte Kategorie, also auf jene, denen
deln erlebt w i r d , f ü r das jemand verantwort-
alles abhanden gekommen ist, weshalb gera-
lich
oder
de ihnen nicht nur die absolute, sondern auch
schlichtweg nur zur Verantwortung gezogen
die relative D e p r i v a t i o n ihrer marginalisier-
w i r d : Jemand w i r d marginalisiert, w e i l j e m a n d
ten Lebensweise am deutlichsten ins Gesicht
marginalisiert - man denke nur an Rassis-
geschrieben steht. Z u g l e i c h ist aber die P r o -
mus, A r b e i t s l o s i g k e i t oder A r m u t . D e s h a l b
testbereitschaft
k ö n n t e m a n diesen E f f e k t auch als
strategi-
gerade dieser Kategorie unterdurchschnittlich
zeichnet
oder
sich
zeigen m u ß
' Ü b e r f l ü s s i g e ' " ( O f f e 1996: 274)
und M o b i l i s i e r u n g s f ä h i g k e i t
wobei
ausgebildet, w ä h r e n d es v o r allem die 'Ver-
eben ein S c h w u n d struktureller M a r g i n a l i s i e -
lierer' sind, also jene, die noch inkludiert sind,
rung festzustellen ist, da i m m e r mehr auf Ent-
die auf die S t r a ß e gehen und gegen unzurei-
scheidungen zurechenbar ist oder zugerech-
chende A r b e i t s - und L e b e n s u m s t ä n d e demon-
net w i r d , auch wenn dies jeder Grundlage ent-
strieren. W i e ist diese D i s k r e p a n z z u e r k l ä -
sche
Marginalisierung
bezeichnen,
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
ren? H a t es damit z u tun, d a ß sich die Ä r m -
D i e w o h l e i n f l u ß r e i c h s t e A n t w o r t auf diese
sten der A r m e n , die ' Ü b e r f l ü s s i g e n ' , schon
Frage haben lange Z e i t John D . M c C a r t h y und
so sehr daran g e w ö h n t haben, nichts zu ha-
M a y e r N . Z a l d gegeben, als sie - ü b e r die
ben, d a ß sie jede H o f f n u n g auf Besserung auf-
K r i t i k am K o n z e p t der relativen D e p r i v a t i -
gegeben und vielleicht nicht einmal mehr den
on -
E i n d r u c k haben, am meisten unter relativer
Mobilisierungserfolg von einer erfolgreichen
D e p r i v a t i o n zu leiden? T r i f f t die G r u n d a n -
Resource
nahme des Konzepts der relativen Deprivati-
thy/Zald 1977). D e n n je mehr Ressourcen m o -
on v i e l l e i c h t d o c h z u , nur d a ß die
bilisiert werden k ö n n e n , desto wahrscheinli-
größte
D e p r i v a t i o n von
relativ
Mobilization
a b h ä n g i g ist ( M c C a r -
'Modernisie-
cher ist auch ein M o b i l i s i e r u n g s e r f o l g . D a -
rungsverlierern' und nicht v o n den ' E x k l u s i -
bei verstehen M c C a r t h y / Z a l d unter Ressour-
onsopfern'
den
darauf a u f m e r k s a m machten, d a ß ein
erfahren w i r d , auch wenn
kontraintuitiv
dies
erscheint?
cen vor allem die V e r f ü g u n g ü b e r G e l d und
Zeit, die man einsetzen m u ß , u m erfolgreich
zu mobilisieren ( O l i v e r / M a r w e l l 1992). H i n -
B e v o r es an die Beantwortung dieser Frage-
zu treten Personal, Q u a l i f i k a t i o n und andere
unumgänglich,
M ö g l i c h k e i t e n , das amorphe Heer der Betrof-
mehr ü b e r die M ö g l i c h k e i t s b e d i n g u n g e n er-
fenen in Bewegung z u setzen. V o r allem be-
stellung gehen kann, ist es
folgreicher Protestmobilisierung z u erfahren.
darf es aber einer Organisation, die mit pro-
D e n n erst deren Kenntnis w i r d d a r ü b e r auf-
f e s s i o n e l l e m K a l k ü l den E i n s a t z a l l dieser
k l ä r e n k ö n n e n , w i e es zu dieser Diskrepanz
Ressourcen ö k o n o m i s c h plant und realisiert.
von P r o b l e m d r u c k und Protestapathie kommt.
V i e l e Untersuchungen, die sich auf den Res-
D e s h a l b werden i n den folgenden drei A b -
sourcenmobilisierungsansatz
schnitten einige dieser M ö g l i c h k e i t s b e d i n g u n -
haben deutlich gemacht, w i e fruchtbar sich
gen
diese Innovation f ü r die Bewegungsforschung
und
s p e z i e l l die d a z u g e h ö r i g e n
For-
( R M ) stützen,
s c h u n g s a n s ä t z e kursorisch dargestellt. Im ein-
ausgewirkt hat -
zelnen handelt es sich um den Resource
Mo-
zungsreich erfolgreiche Protestmobilisierung
und
ist und wie ressourcenarm die meisten B e w e -
Struc-
gungen sind, weshalb ein M o b i l i s i e r u n g s e l f o l g
bilization-Ansatz,
das Framing-Konzept
die Forschung z u Political
Opportunity
grundsätzlich immer sehr unwahrscheinlich ist.
tures.
3.1
aber auch, w i e vorausset-
Die Armut des Protests
Indes ist auch der Ressourcenmobilisierungsansatz nicht frei von K r i t i k , gerade was den
Wer protestiert, hat Probleme, aber nicht je-
Organisationsaspekt
der, der Probleme hat, protestiert auch - das
de b e m ä n g e l t , d a ß der R M - A n s a t z soziale B e -
betrifft. M e h r f a c h wur-
war die C r u x mit dem Konzept der relativen
wegungen h ä u f i g auf die Bewegungsorgani-
D e p r i v a t i o n . D e n n relative D e p r i v a t i o n er-
sationen reduziert, die f ü r sich unverzichtbar
f ä h r t jeder, und doch kommt es nur selten
sein m ö g e n , was den M o b i l i s i e r u n g s e r f o l g e i -
dazu, d a ß der P r o b l e m d r u c k auch zur P r o -
ner sozialen B e w e g u n g betrifft, an sich aber
testmobilisierung f ü h r t : „ G r i e v a n c e s are eve-
keine sind (Jenkins 1983; F e r r e e / M i l l e r 1985;
rywhere, movements not." (Japp 1984: 316)
O l i v e r 1989). V o n daher wurde d e m R M - A n -
D i e entscheidende Frage lautete daher: W o -
satz z w a r nicht bestritten, d a ß er z u Recht
von h ä n g t es ab, d a ß es zur Protestmobilisie-
auf die b e s c h r ä n k t e Reichweite v o n
rung k o m m t , wenn der Problemdruck alleine
Deprivation
nicht
gleich aber vorgeworfen, die G r e n z e n seiner
ausreicht?
a u f m e r k s a m gemacht
Relative
hat, z u -
32
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
eigenen R e i c h w e i t e aus den A u g e n verloren
Genau diese Ressource hat der F r a m i n g - A n -
zu haben. M i t anderen Worten: S o w o h l Rela-
satz z u m Gegenstand seiner A u f m e r k s a m k e i t
tive Deprivation
Mobiliza-
gemacht. Im K e r n geht es u m die Frage, w i e
als auch Resource
tion haben Wesentliches dazu beigetragen, die
es sozialen Bewegungen gelingt, erfolgreich
E m e r g e n z v o n Protest und M o b i l i s i e r u n g zu
zu ü b e r z e u g e n . D i e A n t w o r t dieses Ansatzes
e r k l ä r e n ; g l e i c h w o h l v e r f ü g e n beide nur ü b e r
lautet, d a ß bestimmte Deutungsmuster,
b e s c h r ä n k t e Reichweite, weshalb es weiterer
nannte Master
Konzepte zur E r k l ä r u n g von Protest und M o -
gisch implementiert werden m ü s s e n , die vor
bilisierung bedarf.
allem drei Funktionen e r f ü l l e n : Sie m ü s s e n
Frames,
soge-
entwickelt und strate-
eine ü b e r z e u g e n d e P r o b l e m d e f i n i t i o n anbieten k ö n n e n , die auch die Frage nach Verursa-
3.2 Der Eigensinn der öffentlichen
Meinung
chung und Verantwortlichkeit b e r ü c k s i c h t i g t ;
sie m ü s s e n ü b e r z e u g e n d e P r o b l e m l ö s u n g e n
D i e K r i t i k am Ressourcenmobilisierungsan-
in Aussicht stellen k ö n n e n ; und sie m ü s s e n
satz hat mehrere Schwachpunkte aufgedeckt.
die M e n s c h e n so motivieren k ö n n e n , d a ß sie
E i n e r davon war die R e d u k t i o n sozialer B e -
sich auch mobilisieren lassen ( S n o w / B e n f o r d
wegungen auf Bewegungsorganisationen, ein
1988). D a r ü b e r hinaus m ü s s e n Master
anderer richtete sich gegen das mit diesem
mes empirisch g l a u b w ü r d i g , nachvollziehbar
Fra-
Reduktionismus verbundene R a t i o n a l i t ä t s k a l -
und kulturell gesättigt sowie i n der L a g e sein,
k ü l , mit dem soziale Bewegungen betrachtet
B r ü c k e n zu schlagen z u anderen
und an dem sie gemessen werden, demgegen-
tentialen, A n w e n d u n g s f ä l l e z u inszenieren,
ü b e r G e f ü h l e und andere Q u a l i t ä t e n in den
die
H i n t e r g r u n d r ü c k e n (Kitschelt 1991; Ferree
Ü b e r t r a g b a r k e i t auf verwandte Problemberei-
1991). D e n n bei der Frage nach den M ö g -
che z u erleichtern (Snow et al. 1986).
lichkeitsbedingungen erfolgreicher
Anwendungsbreite
Protestpo-
auszudehnen
und
Protest-
m o b i l i s i e r u n g ist entscheidend, d a ß die M o -
D i e Deutungskompetenz, die dazu erforder-
bilisierung ü b e r das Kernpersonal der B e w e -
lich ist, und der Vermittlungsaufwand sind be-
g u n g hinaus, das sich zumindest ü b e r die N o t -
t r ä c h t l i c h . J ü r g e n Gerhards hat anhand
w e n d i g k e i t des Protests e i n i g ist, auch die
I W F - K a m p a g n e 1989 i n B e r l i n gezeigt, w i e -
M a s s e n - ob direkt betroffen oder nicht
der
-
v i e l Zeit und Vorbereitung es kostet, f ü r eine
erreicht; sonst bleibt es eine konspirative Ver-
bestimmte Kampagne die unterschiedlichsten
anstaltung.
brauchen
G r u p p e n und Initiativen unter ein D a c h z u
breite U n t e r s t ü t z u n g , wenn es sich nicht nur
bringen (Gerhards 1993). D a b e i spielt die öf-
u m ' E i n t a g s f l i e g e n ' handeln soll. D r u c k auf-
fentliche M e i n u n g eine entscheidende
bauen und weitergeben kann aber nur, wer
da es wesentlich von der Resonanz der rele-
eine hinreichende Z a h l v o n Personen f ü r sich
vanten M e d i e n a b h ä n g t , ob ein Deutungsmu-
gewinnt. K o a l i t i o n e n m ü s s e n geschmiedet und
ster a n s c h l ä g t und M a s s e n m o b i l i s i e r u n g ge-
Soziale Bewegungen
Rolle,
A l l i a n z e n b e g r ü n d e t werden, damit eine trag-
lingt (Rucht 1994). Ausschlaggebend bei der
f ä h i g e Basis entsteht, die sich ad hoc m o b i l i -
ö f f e n t l i c h e n M e i n u n g ist aber auch, d a ß sie
sieren läßt und auf die S t r a ß e geht, wenn es
ü b e r einen b e t r ä c h t l i c h e n E i g e n s i n n v e r f ü g t
darauf ankommt. Entscheidend ist somit die
und selbst Gepflogenheiten gehorcht, die sich
Ü b e r z e u g u n g s a r b e i t , die soziale B e w e g u n g e n
nicht ohne weiteres f ü r den Protest verein-
leisten m ü s s e n , u m erfolgreich zu m o b i l i s i e -
nahmen
ren (Klandermans 1984).
wenn es der Protest versteht, virtuos auf der
lassen ( S c h m i t t - B e c k 1990). N u r ,
J
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
K l a v i a t u r der ö f f e n t l i c h e n M e i n u n g zu spie-
Eliten mit Interesse oder Indifferenz reagie-
len, kann er das P u b l i k u m auch f ü r sich ein-
ren. Je nachdem, welche Chancen dem P r o -
nehmen und hinter sich bringen; andernfalls
test von politischer Seite her e i n g e r ä u m t oder
ist eine u n e r h ö r t e K a k o p h o n i e mit einem a l -
verweigert werden, ist die Wahrscheinlichkeit
lenfalls irritierenden G e r ä u s c h p e g e l das R e -
f ü r eine erfolgreiche Protestmobilisierung g r ö -
sultat, und der S c h u ß geht nach hinten los.
ßer oder kleiner. Insofern stellt auch die P o l i tik eine entscheidende
Möglichkeitsbedin-
3.3 Die Hermetik des politischen
Systems
gung f ü r erfolgreiche P r o t e s t m o b i l i s i e r u n g
A b e r selbst, wenn es dem Protest gelingt, die
Ressourcen oder die ö f f e n t l i c h e M e i n u n g .
dar, ü b e r die der Protest aber noch weniger
v e r f ü g e n kann als schon ü b e r
ö f f e n t l i c h e M e i n u n g f ü r sich
protesteigene
einzunehmen,
ist er noch nicht am Z i e l seiner W ü n s c h e .
4
D e n n eine L ö s u n g vieler Probleme, f ü r die
Marginalisierte in Bewegung und
Marginalisierte Bewegung
sich viele M e n s c h e n mobilisieren lassen, läßt
sich nur ü b e r eine Entscheidung der P o l i t i k
Es zeigt sich also, d a ß Protestmobilisierung
erreichen. Protest mag l o k a l bleiben, sich i m
hochunwahrscheinlich ist, da es eine V i e l z a h l
Rahmen von ortsansässigen Bürgerinitiativen
von M ö g l i c h k e i t s b e d i n g u n g e n gibt, ü b e r die
bewegen oder bundesweite A k t i o n e n starten:
der Protest nicht s o u v e r ä n disponieren kann.
In den meisten F ä l l e n sind es kommunale E n t -
Fragt man vor diesem Hintergrund nach den
s c h e i d u n g s t r ä g e r oder politische G r e m i e n auf
Mobilisierungschancen v o n Marginalisierten,
Landes- oder Bundesebene, die kollektiv ver-
w i r d offensichtlich, wie unwahrscheinlich es
b i n d l i c h entscheiden m ü s s e n , damit sich an
ist, d a ß es ü b e r h a u p t zur M o b i l i s i e r u n g v o n
der Problemlage g r u n d s ä t z l i c h etwas ä n d e r t
Marginalisierten kommt. D e n n vor allem ver-
(Rucht 1994: 347). In diesem Sinne k o m m t
f ü g e n Marginalisierte noch sehr viel weniger
der Protest um die P o l i t i k letztlich nicht her-
ü b e r eigene Ressourcen wie G e l d oder Q u a -
um, sofern es i h m nicht nur u m ö f f e n t l i c h e n
l i f i k a t i o n als andere Protestgruppen
A u f r u h r und M e d i e n r u m m e l geht.
S n o w 1996), wenn sie auch viel Zeit haben
(Cress/
m ö g e n . D a r ü b e r hinaus haben sie auch k a u m
Wenn der P o l i t i k f ü r den Protest jedoch eine
Erfahrung i m Aufbau von
letztlich
Master
so
zentrale
Bedeutung
zukommt,
dann übt w i e d e r u m die P o l i t i k einen nicht un-
Frames,
überzeugenden
z u m a l die ö f f e n t l i c h e M e i -
nung nur eine begrenzte A u f n a h m e k a p a z i t ä t
wesentlichen E i n f l u ß auf den M o b i l i s i e r u n g s -
gerade f ü r ihre Probleme hat, und T h e m e n -
erfolg sozialer Bewegungen
aus. D e n n je
konjunkturen das ihrige dazu beitragen, u m
nachdem, w i e sich die P o l i t i k z u m Protest ver-
den Z u g a n g der Marginalisierten z u den M e -
hält, sieht sich der Protest mit mehr oder we-
dien z u erschweren. Gerade deshalb mag es
niger
K o n d i t i o n e n konfrontiert.
mittlerweile auch i n fast allen G r o ß s t ä d t e n
Genau dieser Zusammenhang ist Gegenstand
eigene Obdachlosenzeitungen geben; gleich-
des K o n z e p t s der politischen Gelegenheits-
w o h l bleibt deren Resonanz m i n i m a l und der
struktur (Tarrow 1991). Im K e r n geht es u m
Vernetzungsgrad der Initiativen völlig u n z u -
die Frage, w i e sich das politische System z u m
reichend (Morgenroth 1990: 147ff; A d o l p h i
günstigen
Protest v e r h ä l t , ob es sich o f f e n oder ver-
1997). S c h l i e ß l i c h d ü r f t e eine P o l i t i k , die sich
schlossen gibt, zur Repression oder zur R e -
von einer (Mit-)Verantwortung a m L o s der
s p o n s i v i t ä t neigt, aber auch, ob die politischen
M a r g i n a l i s i e r t e n nicht v ö l l i g f r e i
sprechen
E
1
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
kann, i n nur sehr begrenzten M a ß e f ü r deren
Konzentrationsgrad der Masse, oder, w i e w i r
K r i t i k o f f e n sein, da sie dadurch j a mit ihrem
es nannten, die dynamische D i c h t e . " ( D ü r k -
eigenen Versagen - ob gewollt oder nicht -
heim 1984: 195) Danach nimmt bei einer Z u -
konfrontiert w i r d . Insofern gibt es einen Z u -
nahme v o n Volumen und dynamischer D i c h -
sammenhang
zwischen Marginalisierten in
te das G e f ü h l der Z u g e h ö r i g k e i t und Z u s a m -
B e w e g u n g und einer marginalisierten B e w e -
m e n g e h ö r i g k e i t zu: „ D i e dynamische D i c h t e
gung, w e i l aufgrund der miserablen M o b i l i -
kann ebenso w i e das V o l u m e n durch die Z a h l
sierungschancen
die
der Individuen definiert werden, die nicht nur
Wahrscheinlichkeit hoch ist, d a ß M a r g i n a l i -
in k o m m e r z i e l l e n , sondern auch i n m o r a l i -
von
Marginalisierten
sierte i n B e w e g u n g u n v e r z ü g l i c h als margi-
schen B e z i e h u n g e n zueinander stehen; das
nalisierte B e w e g u n g enden, die kaum, da sie
heißt, die nicht nur Leistungen austauschen
versucht, erfolgreich zu mobilisieren, in i h -
oder miteinander konkurrieren, sondern ein
rem B e m ü h e n schon wieder marginalisiert
gemeinschaftliches L e b e n f ü h r e n . " ( D ü r k h e i m
w i r d - ein Teufelskreis, aus dem es kein E n t -
1984: 195)
rinnen gibt, zumal die Rede von einer marginalisierten B e w e g u n g geradezu einer Contra-
Betrachtet man nun die Bedingungen d a f ü r ,
dictio in adjecto gleichkommt.
d a ß es zu E x k l u s i o n s e f f e k t e n und damit zur
M a r g i n a l i s i e r u n g k o m m t , m u ß man
D i e Frage, warum gerade jene, die dem K o n -
ausgehen,
daß
zept der relativen Deprivation nach doch am
grundlegenden
auf
absehbare
Zeit
V e r ä n d e r u n g e n zu
davon
keine
erwarten
ehesten zu Protest A n l a ß hätten, wie A r b e i t s -
sind, insbesondere dann, wenn man den g l o -
lose, A r m e , Obdachlose, A l t e , Behinderte oder
balen Zusammenhang b e r ü c k s i c h t i g t . D i e Z a h l
A u s l ä n d e r , es a m seltensten tun, ist somit da-
der Marginalisierten w i r d nicht nur stabil b l e i -
hingehend z u beantworten, d a ß gerade M a r -
ben, sondern h ö c h s t w a h r s c h e i n l i c h noch w e i -
ginalisierte ü b e r denkbar schlechte
ter ansteigen - was durch die scheinbar un-
Mobilides
a u f h ö r l i c h e Zunahme der Massenarbeitslosig-
P r o b l e m - und Leidensdrucks, der auf ihnen
keit sicherlich beschleunigt w i r d . Das k ö n n t e
lastet. G l e i c h w o h l bleibt die Frage, ob es sich
aber zur F o l g e haben, d a ß die schiere Z a h l ,
dabei u m einen Dauerzustand handelt,
also das Volumen der Marginalisierten, und
sierungschancen
v e r f ü g e n , ungeachtet
oder
ob nicht V e r ä n d e r u n g e n auftreten k ö n n e n , die
ihr Verhältnis zueinander,
p l ö t z l i c h auch die Marginalisierten mit bes-
sche D i c h t e zwischen ihnen, soweit
also die d y n a m i -
seren M o b i l i s i e r u n g s c h a n c e n ausstatten.
gen, d a ß in nicht allzu ferner Z u k u n f t ein k r i -
anstei-
tisches M a ß ü b e r s c h r i t t e n w i r d und sie v o n
5
einer statistischen Aggregation i n eine dyna-
Die Eigendynamik
dysf unktionaler Effekte
funktionaler Differenzierung
mische A s s o z i a t i o n transformiert werden, die
dann ü b e r ganz andere Voraussetzungen
der
Selbstorganisation und der M o b i l i s i e r u n g s f ä E m i l e D ü r k h e i m hat i n seiner A b h a n d l u n g
higkeit v e r f ü g t , als es jetzt noch der F a l l ist -
ü b e r ' D i e Regeln der soziologischen M e t h o -
was s c h l i e ß l i c h sogar zur ' S o z i a l e n S c h l i e -
de' die Ü b e r l e g u n g angestellt, d a ß die 'Tat-
ß u n g durch S o l i d a r i s m u s ' f ü h r e n mag, w i e
sache der A s s o z i a t i o n ' von M e n s c h e n
P a r k i n (1983) den
mit
Exklusionsmechanismus
zwei Bedingungen v e r k n ü p f t ist: „ E s ist die
der Unterklasse einmal bezeichnet hat. M o -
Z a h l der sozialen Einheiten, oder, wie w i r auch
mentan scheinen die M o b i l i s i e r u n g s c h a n c e n
sagen, das V o l u m e n der Gesellschaft und der
der Marginalisierten zwar noch miserabel zu
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
sein; da j e d o c h kein A n l a ß besteht, anzuneh-
35
Literatur
men, d a ß die dysfunktionalen E f f e k t e f u n k tionaler D i f f e r e n z i e r u n g i n Z u k u n f t weniger
werden, mag sich das bald ä n d e r n . Wenn aber
davon auszugehen ist, d a ß der A u s s c h l u ß von
Nicht-Kompetenten
noch
zunehmen
wird,
w e i l es der modernen Gesellschaft nicht gelingt, diese dysfunktionalen E f f e k t e f u n k t i o naler D i f f e r e n z i e r u n g systemimmanent
abzu-
stellen, k ö n n t e die D i f f e r e n z v o n Inklusion
und
Exklusion
möglicherweise
„ L e i t d i f f e r e n z des
nächsten
sogar
zur
Jahrhunderts"
( L u h m a n n 1995: 147) avancieren, so d a ß sich
das V e r h ä l t n i s von M a r g i n a l i s i e r u n g und M o bilisierung qualitativ ä n d e r t .
Kai-Uwe
Hellmann
ist Sozialwissenschaftler
und P u b l i z i s t in B e r l i n .
Anmerkungen
1 Luhmann (1993: 146) schlägt sogar vor, den
Unterschied zwischen Zentrum und Peripherie
durch einen Unterschied von stratifizierter und segmentärer Differenzierung zu ersetzen.
2 Das spricht natürlich nicht dagegen, von einer
Pluralität von Zentrum/Peripherie-Differenzierungen auszugehen (Kreckel 1992: 46).
3 Schon E . V . Stonequist definierte den 'marginal
man' als „excluded from numerous spheres of social acitivity - from a System of group relationships."
(zit.n. Dickie-Clark 1966: 190) Auch Meinardus
begreift Marginalität als „ein multidimensionales,
in sich vernetztes Kontinuum" (1982: 57), nur daß
er eine andere Differenzierung der Dimensionen
vorschlägt, die nicht nach funktionalen Gesichtspunkten unterscheidet, sondern von einer psychosozialen, einer sozialen, einer kulturellen, einer ökonomischen und einer raumbezogenen Dimension
ausgeht. Siehe auch Dams (1970: l l f ) und Goetze/Bennholt-Thomsen(1975: 6), die zwischen kultureller, sozialer, politischer und ökonomischer Marginalität unterscheiden.
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38
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
Roland Roth
Die Rückkehr des Sozialen
Neue soziale Bewegungen, poor people's movements und der Kampf
um soziale Bürgerrechte
W i e der Titel a n k ü n d i g t , versucht dieser Text
dards und Reduzierung von Beteiligungsrech-
drei D i s k u s s i o n s s t r ä n g e zusammenzubringen,
ten bei Genehmigungsverfahren, Retraditiona-
die sich ü b l i c h e r w e i s e kaum b e r ü h r e n . Dies
lisierung des G e s c h l e c h t e r v e r h ä l t n i s s e s etc.).
ist k e i n vorwiegend akademisches Interesse,
sondern
gesell-
S t ä r k e r denn je steht die globale Einbettung
s c h a f t l i c h e E r f a h r u n g e n , die i n den letzten
eine
R e a k t i o n auf einige
und A b h ä n g i g k e i t der N S B - T h e m e n und i h -
Jahren nicht nur i n der Bundesrepublik ge-
rer L ö s u n g s a n s ä t z e zur Debatte. Nationale E r -
macht werden konnten. Z u n ä c h s t scheint die
folge werden als Produktions- und Handels-
zentrale R o l l e der neuen sozialen B e w e g u n -
hemmnisse und nicht mehr - w i e noch i n den
gen und ihrer Themen zu schwinden. Rechte
80er Jahren - als Innovationsressource
G e g e n m o b i l i s i e r u n g e n d r ä n g e n i n den Vor-
eine expandierende
dergrund der ö f f e n t l i c h e n Wahrnehmung. D e r
tisiert. Negative R ü c k w i r k u n g e n sind f r e i l i c h
allgemeine
sich
politische Problemhaushalt
hat
umgeschichtet.
für
U m w e l t i n d u s t r i e thema-
noch stärker i m B e r e i c h sozialer B ü r g e r r e c h te zu beobachten. W i r sind einer i m N a m e n
der globalen Standortkonkurrenz vorangetrie-
Vormals institutionell gesicherte Bereiche so-
benen Deregulierung sozialer Standards aus-
zialer Integration (Sozialstaatspostulat)
gesetzt.
wer-
den - i m N a m e n des 'Standorts', des ' E u r o '
und der ' G l o b a l i s i e r u n g ' oder auch nur aus
In der Bundesrepublik selbst setzt sich dies
f i s k a l i s c h e n Z w ä n g e n - z u m O b j e k t politi-
darin fort, d a ß M i g r a n t i n n e n und F l ü c h t l i n -
scher Infragestellungen, und soziale B ü r g e r -
ge, die ohnehin nicht i m G e n u ß voller B ü r -
rechte werden massiv abgebaut. M i t den d i -
gerrechte sind (Asylbewerberleistungsgesetz),
versen 'Sparpaketen'
benutzt
der letzten Jahre erle-
ben w i r nun in der Bundesrepublik verspätet,
werden, u m die S e n k u n g sozialer
Standards auf breiter Front voranzutreiben.
was in anderen L ä n d e r n mit den N a m e n R e a 1
gan und Thatcher verbunden war. E i n e K o n -
W i r erleben faktisch einen parallelen und eng
sequenz ist die v e r s t ä r k t e Wiederkehr der 'so-
miteinander v e r k n ü p f t e n A n g r i f f auf die E r -
zialen F r a g e n ' : A r m u t , Obdachlosigkeit, A r -
rungenschaften
beitslosigkeit. Ihr A u f t r e t e n trägt z u g l e i c h
gung,
nachhaltig z u m Verlust bereits erreichter Stan-
Wohlfahrtsstaats g e p r ä g t hatten, und die j ü n -
die
den
der
'alten'
Kern
des
sozialen B e w e keynesianischen
dards i n jenen P o l i t i k f e l d e r n bei, die zu den
geren institutionellen E r f o l g e der neuen so-
D o m ä n e n der neuen s o z i a l e n B e w e g u n g e n
zialen Bewegungen. E s ist darum an der Zeit,
g e h ö r e n (Senkung von ö k o l o g i s c h e n
diese Z u s a m m e n h ä n g e konzeptionell und e m -
Stan-
39
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
pirisch auch i n der Bewegungsforschung z u m
reichter sozialer Rechte beklagt w i r d , sondern
T h e m a z u machen. W e n n die These von der
zugleich der diskriminierende Zuschnitt bis-
Bewegungsgesellschaft heute einen S i n n m a -
lang garantierter sozialer B ü r g e r r e c h t e i n den
chen soll, m u ß sie die T h e m e n der 'alten' und
B l i c k gerät ( z . B . die Rechte alleinerziehen-
der neuen sozialen Bewegungen in globaler
der Mütter, von Asylsuchenden, F l ü c h t l i n g e n
Perspektive auf die Tagesordnung setzen. W e -
und Migrantinnen) und egalitäre Alternativen
niger anspruchsvoll w i l l ich nachfolgend die
(z.B. Existenzgeld und Grundsicherung) auf
gemeinsame
S c h n i t t f l ä c h e der drei, zumeist
die Tagesordnung gesetzt werden.
unabhängig
voneinander
diskutierten
Kon-
zepte beleuchten, die i m Titel dieses Beitrags
1
Die verborgene soziale Agenda
genannt sind. D i e zentrale These dieses P a piers lautet, d a ß sie ein an Bedeutung g e w i n -
In der vorherrschenden Sicht v o n neuen so-
nendes, gemeinsames F e l d - ' l ' e n j e u ' i m S i n -
zialen Bewegungen w i r d ihr A b s t a n d zu so-
ne A l a i n Touraines (1996) - haben. So waren
zialen Fragen z u m D e f m i t i o n s m e r k m a l . Neue
in die neuen sozialen Bewegungen von A n -
soziale Bewegungen unterscheiden sich i n i h -
beginn weit mehr soziale Forderungen und
ren zentralen T h e m e n ( Ö k o l o g i e , P a z i f i s m u s
Utopien
und Feminismus) von den klassischen A r b e i -
eingeschrieben,
wahrgenommen
als
üblicherweise
wurde. Sie markieren
U m r i s s e einer neuen
die
' P o l i t i k des S o z i a l e n ' ,
terbewegungen,
bei denen soziale Probleme
im Mittelpunkt ihrer M o b i l i s i e r u n g
standen.
die ' k l a s s i s c h e ' soziale Sicherungsforderun-
D i e Konzentration auf
gen mit dem emphatischen A n s p r u c h auf eine
Forderungen w i r d m ö g l i c h , w e i l sozialstaat-
demokratische Gestaltung von Lebensweisen
liche Garantien und biographische S i c h e r -
verknüpfen.
people's
heitserfahrungen dies zulassen. Ihre Ferne z u
movements' (etwa i m B e r e i c h W o h n e n und
sozialen Themen ist zudem der sozialen Z u -
Obdachlosigkeit) sind den M o b i l i s i e r u n g s m u -
sammensetzung der neuen sozialen B e w e g u n -
stern und Organisationsformen der neuen so-
gen geschuldet, denn bei der
zialen Bewegungen weit näher, als dies die
handelt es sich, so das G r o s der vorhandenen
Gegenwärtige
'poor
postmaterialistische
'Kerngruppe'
ä l t e r e Kontroverse ü b e r die Besonderheiten
empirischen Studien, u m Mittelschichtange-
der B e w e g u n g e n v o n armen Leuten erwarten
h ö r i g e - M e n s c h e n mit h ö h e r e r B i l d u n g und
ließ
( L e i b f r i e d / N a r r 1986; P i v e n / C l o w a r d
gesichertem E i n k o m m e n oder i n u n i v e r s i t ä -
1992). G l e i c h z e i t i g h ä u f e n sich M o b i l i s i e r u n -
ren A u s b i l d u n g s g ä n g e n auf dem Wege dahin.
gen und Proteste, w i e die 'Chaos-Tage' von
E i n i g e Beobachter sind sogar so weit gegan-
Punks ( G e i l i n g 1995; G e i l i n g 1996) oder die
gen, die - nicht-intendierte - Zuarbeit der neu-
Proteste von ' A u t o n o m e n ' , bei denen die ü b -
en sozialen Bewegungen f ü r die reibungsar-
liche
me Durchsetzung staatlicher A u s t e r i t ä t s p o l i -
Sortierung
sozialer
Bewegungen
schwierig w i r d . S c h l i e ß l i c h z w i n g e n die E r fahrungen der letzten 20 Jahre, social
zenship
tik verantwortlich z u machen.
citi-
erneut als u m k ä m p f t e s Terrain z u be-
trachten. Wachsende soziale Ungleichheit und
E x k l u s i o n werden verstärkt, aber nun angereichert mit den ' U t o p i e n ' bzw. Problemwahrnehmungen der neuen sozialen Bewegungen,
zu einem F o k u s von sozialen M o b i l i s i e r u n gen, wobei nicht nur der A b b a u vormals er-
H i n z u k o m m t ein heimlicher E v o l u t i o n i s m u s ,
der den meisten Konzepten v o n neuen sozialen Bewegungen zugrunde liegt. Sie werden
als z e i t g e m ä ß e Bewegungen einer neuen Stufe
der Vergesellschaftung (Postindustrialismus,
Postmoderne etc.) verstanden, die alte B e w e g u n g s f o r m e n und T h e m e n a b g e l ö s t
haben.
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1 9 9 7
Die
K o n t u r e n der Industriegesellschaft
sind
der Bewegungsdebatte hat sicherlich auch bei-
verschwunden und mit ihnen die Zentralität
getragen, d a ß viele sozial- und
der Arbeiterbewegungen und ihrer 'sozialen
politische Initiativen heute eher i m Kontext
F r a g e n ' . Protestbewegungen
von
entlang sozialer
T h e m e n sind aus dieser Sicht unwahrscheinlich, m a r g i n a l oder r ü c k w ä r t s g e w a n d t .
gesundheits-
S e l b s t h i l f e und D r i t t e - S e k t o r - G r u p p e n
abgehandelt werden. Ihre B e w e g u n g s b e z ü g e
werden dabei zumeist v e r n a c h l ä s s i g t . G e g e n
das 'unsoziale' B i l d der neuen sozialen B e -
E i n w ä n d e gegen diese Sichtweise sind h ä u -
wegungen spricht, d a ß sie - gelegentlich ver-
f i g vorgebracht worden. Unterhalb der gro-
stärkt durch die G r ü n e n - nachhaltig zur so-
ßen T h e m e n der neuen sozialen Bewegungen
zialpolitischen
lassen sich unschwer soziale Subthemen aus-
Jahrzehnte beigetragen
machen (Roth 1991). Ihre Akteure sind in i h -
allem f ü r den Garantismus und andere sozial
Reformdebatte
der
letzten
haben. Dies gilt vor
ren Orientierungen nicht m i t t e l s t ä n d i s c h bor-
inklusive Konzepte. M i t solchen V o r s c h l ä g e n
niert und sozialpolitisch desinteressiert.
haben sie aktiv versucht, ihrer anti-sozialen
Kri-
tisch sehen sie vielmehr die Herrschafts- und
Exklusionselemente
des
modernen
N u t z u n g entgegenzusteuern.
Wohl-
fahrtsstaates und seine Existenz als 'siamesi-
Dennoch fehlt es dem Konzept neuer sozia-
scher Z w i l l i n g ' einer ö k o l o g i s c h d e s a s t r ö s e n
ler Bewegungen an einer Integration
Wachstumsorientierung. Statt dessen suchen
censchwacher Gruppen, die sich i n ihren M o -
ressour-
sie nach F o r m e n sozialer Sicherung, die mit
bilisierungen stark an sozialen Problemlagen
ihren neuen Themen, ihren Freiheits- und D e -
orientieren bzw. von ihnen g e p r ä g t sind. E s
m o k r a t i e a n s p r ü c h e n w i e z . B . der
m u ß sich deshalb ebenfalls den V o r w u r f der
'ökosozia-
len Frage' (Roth 1996) oder der f e m i n i s t i -
' N o r m a l i s i e r u n g ' sozialer Bewegungen gefal-
schen S o z i a l p o l i t i k vereinbar sind.
len lassen, wie er gegen den mainstream
der
Bewegungsforschung i n den U S A (RessourA u c h das B i l d der m i t t e l s t ä n d i s c h e n
Kern-
cenmobilisierung, politische Chancenstruktu-
ist schief, w e i l dabei die soziale
ren) erhoben wurde ( P i v e n / C l o w a r d 1992).
Streuung der Bewegungsmilieus nicht ange-
Das Konzept 'neue soziale B e w e g u n g e n ' hat
messen b e r ü c k s i c h t i g t w i r d -
gruppen
selbstgewählte
den A n t e i l sozialer Probleme und Forderun-
M a r g i n a l i t ä t , o r i g i n ä r e R a n d s t ä n d i g k e i t und
gen an der Konstitution sozialer B e w e g u n -
junge Leute i n A u s b i l d u n g passen ebensowe-
gen - „social problems as social movements"
nig in das eindimensionale M i t t e l s c h i c h t e n -
(Mauss 1975, N o w a k 1989) - zugunsten von
b i l d w i e die gegen die Castor-Lagerung pro-
kulturellen und postmaterialistischen T h e m e n
testierenden Bauern i m Wendland. A u f f ä l l i g
so weit in den Hintergrund g e r ü c k t , d a ß sie
ist, d a ß gerade der Teil der Arbeitslosen, die
gelegentlich g ä n z l i c h ü b e r s e h e n wurden.
aktiv politisch mit ihrer Situation umgehen,
sich stark in den neuen sozialen B e w e g u n gen engagiert haben, dort oft den existenti-
2
Poor people's movements
2.1 Zur US-amerikanischen Debatte
ell-radikalen P o l bilden und wesentliche Infrastrukturleistungen erbringen (Rein/Scherer
D a es in der Bundesrepublik keine e i g e n s t ä n -
1993: 2 5 3 f f ) . Dies galt besonders f ü r die ra-
dige Tradition i n der Debatte ü b e r neuere P r o -
dikalen Jugendbewegungen
teste gegen
A n f a n g der acht-
soziale B e n a c h t e i l i g u n g e n
und
ziger Jahre und die Instandbesetzungen i n
Ausgrenzungen - von E i n z e l s t u d i e n e i n m a l
B e r l i n . Z u r Dethematisierung des Sozialen in
abgesehen ( N o w a k 1989; Rein/Scherer 1993;
41
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
Wolski-Prenger 1993) - gibt, kann ein B l i c k
ins Z e n t r u m v o n Untersuchungen
auf die e i n s c h l ä g i g e U S - K o n t r o v e r s e unsere
w i r d . Indem moralische und kulturelle T h e -
A u f m e r k s a m k e i t s c h ä r f e n . Poor people's
mo-
men privilegiert und materielle Forderungen
treten dort als benachteiligte und ver-
v e r n a c h l ä s s i g t werden, hat die B e w e g u n g s -
vements
gerückt
n a c h l ä s s i g t e Gegenspieler der 'normalen' B e -
forschung einen M i t t e l k l a s s e bias.
wegungen auf. Ihre M e r k m a l e und Besonder-
geht, d a ß zentrale Konzepte, w i e z . B . R e s -
heiten gaben A n l a ß , die mit dem A n s p r u c h
sourcen, in poor
auf V e r a l l g e m e i n e r u n g s f ä h i g k e i t auftretende,
anderen S i n n erhalten, ihn gelegentlich so-
dominierende Bewegungsforschung, die ihre
gar verkehren. „ M o s t analysts of social m o -
Schwerpunkte i n den Bereichen professionel-
vements have stressed the non-material gains
le R e s s o u r c e n m o b i l i s i e r u n g , dauerhafte B e -
of movements [...] W h i l e agreeing with the
wegungsorganisationen
und taktische balan-
importance of psychological, social network,
Kooperationsstrategien
and affiliational gains of movements, we also
cierte K o n f l i k t - u n d
mit dem Gegner bzw. staatlichen
people's
Ihr ent-
movements
einen
Instanzen
argue that for poor people such overtly non-
hat, infrage z u stellen ( M a y e r 1991). Was f ü r
material resources often translate into mate-
andere Interessen und B e w e g u n g s z i e l e gut
rial resources [...] Yet they may gain access to
und richtig sein mag, z . B . die S c h a f f u n g dau-
these material resources as a result o f m o v e -
erhafter nationaler Organisationen und ein be-
ment
rechenbares
moderates K o n f l i k t r e p e r -
553). W ä h r e n d ü b l i c h e r w e i s e die M o b i l i s i e -
toire, ist G i f t f ü r die Proteste armer Leute.
rung v o n Ressourcen (Geld, Zeit, W i s s e n etc.)
Diese sind - so die zentrale These der F a l l -
als Voraussetzung f ü r eine erfolgreiche B e -
und
participation" (Wagner/Cohen
1991:
studien von P i v e n und C l o w a r d (1977) - v i e l -
wegungspolitik verstanden w i r d , k ö n n e n W a -
mehr dann erfolgreich, wenn sie spontan, dis-
ger und C o h e n darauf verweisen, d a ß sie i n
ruptiv und radikal auftreten.
der M o b i l i s i e r u n g von sozial Ausgegrenzten
eher als Ergebnis des Protests z u erwarten
E s geht hier nicht darum, die erste Debattenrunde nachzuzeichnen ( G a m s o n / S c h m e i d l e r
1984; P i v e n / C l o w a r d 1984). Interessant ist in
unserem Zusammenhang, d a ß sie eine N e u auflage in der Auseinandersetzung mit aktuellen
sozialen
Protestbewegungen
in
den
U S A , vor a l l e m von Obdachlosen und S o z i a l h i l f e e m p f ä n g e r n , erfahren hat. Erneut lautet der V o r w u r f an die Adresse der d o m i n i e renden Bewegungsforschung, ihr Interesse an
organisierten und dauerhaften, oft auch auf
nationaler E b e n e auftretenden
Bewegungen
„ m i n i m i z e s attention to spontaneous m o v e ments o f the p o o r " (Wagner/Cohen
545).
Weder
Organisationsformen,
noch M o b i l i s i e r u n g e n v o n poor people's
vements
1991:
Inhalte
mo-
entsprechen dem g ä n g i g e n B i l d zeit-
g e n ö s s i s c h e r sozialer Bewegungen oder dem,
was als S M O (social
movement
Organization)
ist. Erst Protest e r ö f f n e t ihnen den Kontakt
zu Leuten mit h ö h e r e m E i n k o m m e n , zu etablierten Organisationen und deren
Ressour-
cen, bietet ihnen i n d i v i d u e l l e A n e r k e n n u n g
und die Reduzierung von E n t f r e m d u n g . Ä h n liche Umkehrungen sind in den B e w e g u n g s strategien zu beobachten. W ä h r e n d ü b l i c h e r weise B e w u ß t s e i n s b i l d u n g und kognitive M o bilisierung als Voraussetzung bzw. vorbereitende Praxis von Bewegungen gesehen w i r d ,
zeigt sich bei poor
people's
movements
oft
die umgekehrte Reihenfolge (Wagner/Cohen
1991: 557). Besonders kritisch ist die a m b i valente R o l l e v o n U n t e r s t ü t z e r n und V e r b ü n deten f ü r die Proteste v o n sozial Benachteiligten zu p r ü f e n . „ S o c i a l issues such as poverty, w h i c h are deeply embedded i n the Organization of capitalism, are not easily amenable to the influence of professionalized ad-
42
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
vocates" (Wagner 1993: 1831). Statt sich S y -
l i d a r i t ä t s e r k l ä r u n g e n , Teilnahme an A k t i o -
s t e m d e f i z i t e n z u z u w e n d e n , praktizieren sie
nen, L e g i t i m a t i o n etc.),
daher h ä u f i g eine P o l i t i k des M i t g e f ü h l s . Sie
trägt zwar dazu bei, soziale Probleme sicht-
•
bar zu machen, aber sie tendiert dazu, die
Betroffenen als schwach und hilflos zu prä-
eine gesicherte materielle Infrastruktur
(vor allem sichere R ä u m e , H e i z u n g , B ü r o ausstattung etc.),
sentieren. Z u diesem B i l d der hilflosen O p f e r
steuern zudem noch sympathisierende
sozi-
•
informationelle U n t e r s t ü t z u n g ( R e c h t s h i l -
a l w i s s e n s c h a f t l i c h e A r b e i t e n ihr S c h e r f l e i n
fe, Gesundheitsberatung,
bei. „ M o s t social science literature has also
Expertisen, aber auch U n t e r s t ü t z u n g bei
accepted the assessment of the homeless po-
der A b f a s s u n g von A r t i k e l n , Reden etc.),
wissenschaftliche
pulation and many members o f the marginal
poor population as suffering f r o m d i s a f f i l i a tion, isolation, vulnerability, and disempowerm e n t " (Wagner
starke F ü h r u n g s p e r s o n e n (mit integrativer
und K o n t i n u i t ä t v e r b ü r g e n d e r W i r k u n g ) .
1993: 6). U n t e r s t ü t z e r und
Wissenschaft sind somit i n der Gefahr, Proteste von armen Leuten zu entmutigen bzw. zu
vernachlässigen.
•
Die
US-Erfahrungen
der
letzten Jahre zeigen jedoch, so Wagner, d a ß
die einzige C h a n c e v o n sozial Ausgegrenzten f ü r die Verbesserung ihrer Lebenssituation in disruptiven A k t i o n e n liege.
Dies scheint, bedenkt man die besonderen L e bensbedingungen
v o n O b d a c h l o s e n , relativ
s e l b s t v e r s t ä n d l i c h . Weniger erwartbar ist das
Ergebnis, d a ß 75 Prozent dieser Ressourcen
'von a u ß e n ' k o m m t und karitative oder b ü r gerrechtliche U n t e r s t ü t z e r o r g a n i s a t i o n e n da2
bei eine zentrale R o l l e spielen. Ü b e r r a s c h e n d
d ü r f t e sein, d a ß diese besondere Ressourcen-
W ä h r e n d einige der neueren Fallstudien z u
a b h ä n g i g k e i t keine moderierende
Obdachlosenprotesten
auf die A k t i o n s f o r m e n der Initiativen
in U S - S t ä d t e n die äl-
teren Thesen v o n P i v e n und C l o w a r d i m we-
Wirkung
hat.
A u c h bei den vorwiegend k i r c h l i c h u n t e r s t ü t z -
sentlichen zu b e s t ä t i g e n scheinen, bietet eine
ten Gruppen gibt es einige, die z u radikalen
breiter angelegte, auf ethnographische
A k t i o n s f o r m e n neigen.
Feld-
arbeit g e s t ü t z t e Vergleichsuntersuchung,
die
sich mit f ü n f z e h n Obdachloseninitiativen in
' M o b i l i z a t i o n at the M a r g i n s ' hat sicherlich
acht
einige
spezifische Voraussetzungen und B e d i n g u n -
Ü b e r r a s c h u n g e n (Cress/Snow 1996). Das B i l d
gen, die sich von denen der neuen sozialen
US-Städten
auseinandersetzt,
v o m spontanen, disruptiven und deshalb er-
Bewegungen unterscheiden. G l e i c h w o h l gibt
folgreichen Protest der Marginalisierten trifft
es keinen A n l a ß , sie als exotische A u s n a h m e
allenfalls f ü r einen Ausschnitt dieses Feldes
oder als praktische U n m ö g l i c h k e i t aus dem
zu. L ä n g s t gibt es auch bezogen auf O b d a c h -
D i s k u s s i o n s f e l d sozialer Bewegungen auszu-
losigkeit erfolgreiche Bewegungsorganisatio-
grenzen. Ihre stärkere A b h ä n g i g k e i t von ex-
nen, die f ü r l ä n g e r e Zeit auf die lokale P o l i -
terner U n t e r s t ü t z u n g kann auch als A n f o r d e -
tik E i n f l u ß nehmen. Voraussetzung f ü r die er-
rung an die Solidaritäten von Initiativen ver-
folgreiche Stabilisierung solcher Organisatio-
standen werden, die aus der ressourcenstar-
nen sind folgende Ressourcen:
ken ' M i t t e ' der Gesellschaft k o m m e n - j e n seits des w o h l f e i l e n M i t g e f ü h l s und gelegent-
•
die moralische U n t e r s t ü t z u n g durch andere, meist etabliertere Organisationen (So-
licher Spenden.
43
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
2.2 Ansätze in der Bundesrepublik
einigen A l t e r n a t i v m i l i e u s eine
gewichtigere
R o l l e (Rollheimer, Wagenburgen). Z u g l e i c h
In der Bundesrepublik hatten w i r die Situati-
werden
on, d a ß die
z u m Ausgangspunkt von Initiativen und P r o -
'kritische Masse' f ü r g r ö ß e r e
soziale
Problemlagen
zunehmend
fehlte.
jekten, w i e sie f r ü h e r vor allem entlang v o n
E i n z e l n e Initiativen gab es i m m e r wieder. Erst
Themen der neuen sozialen Bewegungen ü b -
i m Z u s a m m e n h a n g mit der A u ß e r p a r l a m e n t a -
lich waren (Obdachlosen-Zeitungen,
rischen O p p o s i t i o n und der von ihr inspirier-
projekte
ten 'Sozialarbeiterbewegung' k a m es E n d e der
1996).
A r m e - L e u t e - B e w e g u n g e n weitgehend
etc.;
Honigschnabel
Wohn-
1996;
Blum
6 0 e r / A n f a n g der 70er Jahre zu einer breiteren U n t e r s t ü t z u n g v o n sozialen
(Randgruppenstrategie).
Initiativen
K o m m u n a l e B ü n d n i s s e gegen
Sozialabbau
D i e zwischen sozia-
gewinnen i n der Bundesrepublik und in E u -
lem G e w i s s e n und politischer Idealisierung
ropa an B o d e n ( Ö k u m e n i s c h e r T r ä g e r k r e i s
schwankende Parteinahme f ü r die W i d e r s t ä n -
A r m u t 1995). Solche lokalen Netzwerke ha-
digkeiten v o n M a r g i n a l i s i e r t e n wirkte nach
ben sehr unterschiedliche
und p r ä g t e das S e l b s t v e r s t ä n d n i s eines Teils
spielen professionelle A k t e u r e aus der A r -
der sich entwickelnden lokalen
Konturen. Meist
Bewegungs-
mutsberichterstattung und den freien T r ä g e r n ,
milieus. So verstanden sich die A n f ä n g e des-
aus Politik, V e r b ä n d e n und Verwaltungen eine
sen, was s p ä t e r - ö k o l o g i s c h bzw. feministisch
g r o ß e R o l l e , aber gelegentlich geben auch
e i n g e f ä r b t - unter dem Titel Alternativ- und
Betroffeneninitiativen den T o n an. K o m m u -
Selbsthilfeprojekte lief, z u n ä c h s t als Initiati-
nale B ü n d n i s s e bilden jedenfalls ein Unter-
ven gegen Arbeitslosigkeit und soziale A u s -
s t ü t z u n g s n e t z w e r k , das den ö f f e n t l i c h e n P r o -
grenzung. S o z i a l e M a r g i n a l i t ä t blieb als ein
test von Obdachlosen, Arbeitslosen und ar-
M o t i v - und Erfahrungszusammenhang
men B e v ö l k e r u n g s g r u p p e n erleichtert.
ten und wurde v o r allem i n
gen, Jugendrevolten
erhal-
Hausbesetzun-
und den Protesten
von
3
Auf
lokaler und ü b e r r e g i o n a l e r Ebene existiert i n zwischen in der Bundesrepublik eine V i e l f a l t
' A u t o n o m e n ' sichtbar (Manrique 1992). D e n -
v o n Vernetzungsinitiativen entlang
noch konnte sie neben den zentralen T h e m e n
Notlagen. E i n e neuere B r o s c h ü r e p r ä s e n t i e r t
der neuen sozialen Bewegungen kein beson-
rund 20 Organisationen und B ü r g e r b e w e g u n -
deres G e w i c h t erlangen.
gen
sozialer
gegen A r b e i t s l o s i g k e i t , A r m u t ,
Woh-
nungsnot und S t r a f f ä l l i g k e i t (Stiftung M i t a r Heute befinden w i r uns i n einer deutlich verä n d e r t e n Situation. Soziale Probleme haben
längst in den lokalen Bewegungsmilieus E i n zug gehalten und dort z u Entmischungen gef ü h r t . S o z i a l e S i c h e r u n g und A r b e i t s p l ä t z e
sind auch in den Projekten der neuen sozialen Bewegungen zu einem wichtigen T h e m a
geworden. A r b e i t s b e s c h a f f u n g s m a ß n a h m e n
und
Arbeitsförderungsgesetz begünstigten
den A u t b a u der lokalen Alternativszene in den
neuen B u n d e s l ä n d e r n ; der A n t e i l
bezahlter
A r b e i t lag schnell ü b e r dem der A l t l ä n d e r
(Blättert et al. 1997). Armutslagen spielen in
beit 1995). Ihre Programmatik hat sich ü b e r
den g e w e r k s c h a f t l i c h e n und
wohlfahrtsver-
bandlichen B e g r ü n d u n g s h o r i z o n t hinaus
be-
wegt, der an der V e r k n ü p f u n g v o n sozialen
Rechten und Lohnarbeit f e s t h ä l t . Sie setzen
stattdessen auf
Grundeinkommenskonzepte
( z . B . Existenzgeld), f ü r die es mit dem B a s i c
Income European N e t w o r k ( B . I . E . N . ) auch seit
einigen Jahren ein internationales D i s k u s s i onsforum gibt. E i n e u r o p ä i s c h e s B ü n d n i s gegen Arbeitslosigkeit und A r m u t versucht die
nationalen
M ä r s c h e gegen A r b e i t s l o s i g k e i t ,
wie sie mit einiger Resonanz in den letzten
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2. 1997
Jahren in Spanien oder E n g l a n d d u r c h g e f ü h r t
wurden, E U - w e i t zu koordinieren. W i c h t i g f ü r
3
Social citizenshipLeitidee der Mobilisierung
die M o b i l i s i e r u n g s c h a n c e n von sozialen Initiativen ist auch, d a ß heute klassische sozi-
W i r wissen, d a ß 'frames' bzw. Leitideen eine
alpolitische Problemfelder - wie z . B . die A l -
zentrale R o l l e f ü r die E n f a l t u n g s m ö g l i c h k e i -
tenpolitik - mit A n s p r ü c h e n auf Demokratie
ten von sozialen Bewegungen z u k o m m t . E i n -
und
S e l b s t v e r w i r k l i c h u n g aufgeladen
(Evers et a l . 1993; H u m m e l 1995).
sind
zelne Proteste brauchen lediglich A n l ä s s e und
Selbst
Provokationen. A b e r zur B e w e g u n g verdich-
wenn a l l diese E n t w i c k l u n g e n b e r ü c k s i c h t i g t
ten sie sich erst, wenn sie einen integrativen
werden, w ä r e es noch i m m e r ü b e r t r i e b e n , v o n
Deutungsrahmen entfalten k ö n n e n , der hete-
poor people 's movements
rogene Protestmotive z u s a m m e n f ü h r t und auf
i n der Bundesrepu-
b l i k z u sprechen. A b e r es gibt
U n b o t m ä ß i g k e i t e n und Proteste
zunehmend
4
von sozial
gesellschaftliche Resonanz abstimmt. H i s t o risch am 'erfolgreichsten' war die Vorstellung
marginalisierten G r u p p e n und ihren U n t e r s t ü t -
von Gerechtigkeit ( M o o r e 1982). A u c h
zern (erinnert sei nur an die Auseinanderset-
Gros der Nachkriegsproteste i n den U S A ar-
zungen u m Bettelsatzungen
das
und ' G e f a h r e n -
beitete mit dem erfolgreichen 'master f r a m e '
in einigen bundesdeut-
der B ü r g e r r e c h t s b e w e g u n g . F ü r die N a c h -
schen S t ä d t e n oder an lokale B o y k o t t a k t i o -
kriegsproteste in Westdeutschland spielte der
abwehrverordnungen'
nen gegen ausbildungsunwillige lokale U n -
'justice f r a m e ' keine ähnlich bedeutende R o l -
ternehmen) und eine wachsende Z a h l von ver-
le. In den avancierten kapitalistischen G e s e l l -
netzten lokalen und regionalen Projekten, die
schaften des Westens ist es zudem generell
gelegentlich z u demonstrativen A k t i o n e n aufrufen.
5
W e n n w i r g e g e n w ä r t i g e Proteste an
den H o c h s c h u l e n oder gegen
schwierig, angesichts der ö k o n o m i s c h e n U n gleichheitsdynamik Gerechtigkeitsvorstellun-
Infrastruktur-
gen i m sozialen B e r e i c h dauerhaft z u veran-
projekte genauer betrachten, dann spielen so-
kern. D i e national spezifische Ausgestaltung
ziale Fragen und soziale B ü r g e r r e c h t e f ü r die
der wohlfahrtsstaatlichen Systeme bietet un-
M o b i l i s i e r u n g e n eine ungleich g r ö ß e r e R o l l e
terschiedliche Chancen, soziale Sicherungen
als noch vor einem Jahrzehnt. Neue Akteure
als soziale Rechte einzuklagen. In
haben - neben den klassisch diesen B e r e i c h
versicherungsstaaten',
dominierenden Gewerkschaften, K i r c h e n und
republik ( R i e d m ü l l e r / O l k 1994), in denen we-
Wohlfahrtsverbänden -
'Sozial-
wie z . B . der Bundes-
die s o z i a l p o l i t i s c h e
sentliche Sozialbereiche nach dem Versiche-
A r e n a betreten. Ihre basis- und projektorien-
rungsprinzip organisiert sind, ist dies beson-
tierte Praxis, ihre organisatorische
ders schwierig, w e i l sie Rechte an v o r g ä n g i g
Orientie-
rung an vernetzten Strukturen und ihre B e -
zu erbringende Leistungen binden.
reitschaft z u Protest und z i v i l e m Ungehor-
waren i m 'keynesianischen
6
Dennoch
Wohlfahrtsstaat'
sam r ü c k t sie i n die N ä h e dessen, was w i r
der Nachkriegszeit N o r m e n sozialer Teilhabe
von den neuen sozialen Bewegungen kennen.
eingelassen, die sich als T e i l eines besonde-
V i e l l e i c h t k ö n n e n sie B e w e g u n g i n die läh-
ren citizenship
menden korporatistischen Traditionen der S o -
Phillips 1996) deuten lassen.
regimes
(Jenson 1996; Jenson/
zialpolitik bringen.
E i n e zentrale Schwierigkeit f ü r g e g e n w ä r t i g e
soziale Bewegungen, die soziale Probleme ins
Zentrum r ü c k e n , ist der Umstand, d a ß sie sich
nicht (mehr) auf ein weithin akzeptiertes L e i t -
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
b i l d sozialer Teilhabe beziehen k ö n n e n . D e r
of welfare programs by g i v i n g local welfare
Weg z u r ü c k zu dem, was h ä u f i g als 'golde-
agencies more power and m a k i n g them ac-
nes Zeitalter' der Wohlfahrtsstaatlichkeit ver-
countable to their clients" ( K y m l i c k a / N o r m a n
klärt w i r d , ist versperrt. W i e k ü n f t i g e
zenship
regimes
citi-
in ihrer sozialen D i m e n s i o n
aussehen werden, ist o f f e n . D e r B ü r g e r s t a t u s
1994: 359). D i e aktuelle, a l l m ä h l i c h auch in
der
Bundesrepublik
ü b e r citizenship
ankommende
Debatte
bietet ü b e r diese politische
insgesamt, w i e auch dessen soziale Aspekte
Kontroverse hinaus interessante
sind Gegenstand heftiger politischer A u s e i n -
und normative Konzepte f ü r die Reintegrati-
theoretische
andersetzungen,
an denen soziale B e w e g u n -
on sozialer T h e m e n i n die Auseinanderset-
gen einen mehr oder weniger starken A n t e i l
zung mit g e g e n w ä r t i g e n sozialen B e w e g u n -
haben ( k ö n n e n ) . Z u n ä c h s t geht es u m E i n -
gen.
s c h l u ß und A u s s c h l u ß , d.h. wer hat v o l l e n
rechte geht es nicht einfach darum, die Struk-
B ü r g e r s t a t u s , dann aber auch u m die R e i c h -
turen des Sozialstaats i n seiner Nachkriegs-
weite und konkrete Ausgestaltung sozialer
gestalt zu verteidigen. Z u n ä c h s t ist die K r i t i k
Bürgerrechte.
8
In der D i s k u s s i o n ü b e r soziale B ü r g e r -
ernstzunehmen,
7
die a m diskriminierten Sta-
tus von Frauen, von M i g r a n t e n und A s y l s u D i e Elemente, die zur E r o s i o n der sozialstaat-
chenden, von K i n d e r n und Jugendlichen, v o n
lichen Sicherungsysteme beigetragen
haben,
Wohnungslosen und Arbeitslosen i n der uns
sind h i n l ä n g l i c h diskutiert. Gesteigerte B e l a -
bekannten Variante der 'vollen B ü r g e r s c h a f t '
stung durch Massenarbeitslosigkeit und ihre
g e ü b t wurde. In den progressiven B e i t r ä g e n
F o l g e n sowie die internationale K o n k u r r e n z
zu dieser Debatte ist die Sozialstaatskritik der
der 'nationalen Wettbewerbsstaaten'
neuen sozialen B e w e g u n g e n
(Cerny
aufgenommen
1990: H i r s c h 1995) haben die Standards der
und in egalitäre Konzepte von sozialen B ü r -
s o z i a l e n Sicherungssysteme
gerinnenrechten
u n t e r h ö h l t und
den keynesianischen Wohlfahrtsstaat, auch wo
übersetzt,
die
zugleich
s e l b s t g e w ä h l t e Unterschiede in den Lebens-
seine wesentlichen Strukturen erhalten geblie-
weisen respektieren. Z u d e m versuchen
ben sind, in eine Sackgasse g e f ü h r t , w e i l er
Bürgerrechte
die neuen A n f o r d e r u n g e n nicht sozial inte-
H e r k u n f t als S t a a t s b ü r g e r r e c h t e h e r a u s z u l ö -
grativ b e w ä l t i g e n kann.
sen und soziale B ü r g e r r e c h t e jenseits des N a -
aus
ihrer
sie
nationalstaatlichen
tionalstaats z u denken, die eine angemessene
Politischer A n s t o ß f ü r das neuerliche Interesse am B ü r g e r s t a t u s war in den a n g e l s ä c h s i -
Antwort auf Migrationsbewegungen und ö k o nomische Globalisierungsprozesse darstellen.
schen L ä n d e r n der A n g r i f f der neuen R e c h ten auf soziale B ü r g e r r e c h t e i n den 80er Jah-
Dennoch
ren. „ I n s t e a d of accepting citizenship as a po-
Schwierigkeiten i m B l i c k zu behalten, die mit
gilt
es,
einige
grundsätzliche
litical and social Status, modern Conservati-
dem Konzept citizenship
ves have sought to reassert the role of the
storisch markierte citizenship
market and have rejected the idea that c i t i -
S t a a t s b ü r g e r s c h a f t ein zentrales K r i t e r i u m der
zenship confers a Status independent o f eco-
E i n - und A u s s c h l i e ß u n g i n innerstaatlichen
n o m i c Standing" (Plant 1991: 52). A u c h die
V e r h ä l t n i s s e n der A u s b e u t u n g , D i s k r i m i n i e -
linke A n t w o r t auf diese Herausforderung ist
rung und U n t e r d r ü c k u n g (Bader 1995: 118).
bekannt: ,,'empowering' welfare recipients by
Wenn e g a l i t ä r e P r i n z i p i e n z ä h l e n , gilt noch
supplementing welfare rights with democra-
heute: „ C i t i z e n s h i p in Western liberal demo-
tic participatory rights in the administration
cracies is the modern equivalent o f feudal
verbunden sind. H i i m Sinne v o n
46
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
privilege - an inherited Status that greatly en-
gestimmt ist. E i n e
hances one's life chances. L i k e feudal birth-
und nicht der 'Wohlfahrtsstaat' ist der H o r i -
right Privileges, restrictive citizenship is hard-
zont, an dem sich eine z e i t g e m ä ß e Ausgestal-
ly to j u s t i f y when one thinks about it close-
tung von sozialer B ü r g e r s c h a f t zu b e w ä h r e n
l y " (Carens, zit. n. Bader 1995: 119). Ä h n l i c h
hätte.
'Wohlfahrtsgesellschaft'
v e r h ä l t es sich mit dem Konzept 'soziale B ü r gerrechte'. Gerade die Marshall-Tradition hat
(c) Zeitdiagnostisch orientiert sich die D e -
betont, d a ß der P r o z e ß sozialer Inklusion, d.h.
batte ü b e r citizenship
die A u s w e i t u n g sozialer Garantien auf die B e -
radoxien, die sich aus der w i d e r s p r ü c h l i c h e n
v ö l k e r u n g insgesamt, ein wesentliches M e r k -
S c h w ä c h u n g und S t ä r k u n g nationalstaatlicher
an den politischen P a -
mal moderner Sozialstaatlichkeit unter k a p i -
Souveränität
talistischen Bedingungen ist - z u m a l in E u -
rungsprozessen
ropa (Therborn 1995: 8 5 f f ) . D i e g r o ß e histo-
bereits mit verschiedenen,
rische
soziale B e w e g u n g , die Arbeiterbewe-
schiedlich stark ausgebildeten B ü r g e r s c h a f -
gung, war gerade in dieser D i m e n s i o n e r f o l g -
ten (von der E U bis zur lokalen Politikebe-
reich. In welchen M i s c h u n g s - und K o m p r o -
ne). G l e i c h z e i t i g vollzieht sich ein Festungs-
in den
aktuellen G l o b a l i s i e -
ergeben. F a k t i s c h leben w i r
allerdings unter-
m i ß f o r m e n auch immer, der moderne W o h l -
bau gegen Asylsuchende und F l ü c h t l i n g e , der
fahrtsstaat garantiert social
restaurativ ethnische und nationale
citizenship.
Die-
se orthodoxe Sichtweise ist heute nicht mehr
Zugehö-
rigkeiten v e r s t ä r k t (Bader 1995: 116f).
zu halten:
M i t solchen Neuvermessungen
bietet die Ci-
(a) D i e von T . H . M a r s h a l l am britischen B e i -
tizens hip-Debatte
spiel gezeigte A b f o l g e v o n B ü r g e r r e c h t e n (ci-
punkte. Erstens trägt sie dazu bei, e x p l i z i t nor-
vil rights,
mative Orientierung, w i e soziale Gerechtig-
ausmachen)
keit und Menschenrechte, d i s k u s s i o n s f ä h i g z u
wurde ü b e r w i e g e n d e v o l u t i o n ä r gedeutet und
machen. Zweitens thematisiert sie kritisch die
eine füll
rights,
social
citizenship
rights,
Anknüpfungs-
die
gemeinsam
political
wichtige
verallgemeinert. Diese e v o l u t i o n ä r e n A n n a h -
askriptiven sozialen S c h l i e ß u n g e n , die mit
men sind nicht tragfällig. S o w o h l die histori-
nationalstaatlichen
K o n z e p t e n von B ü r g e r -
sche A b f o l g e w i e die M i s c h u n g s v e r h ä l t n i s s e
rechten
s i n d , und v e r k n ü p f t sie
der
citi-
mit dem Versuch, weitergehende Perspekti-
verschiedenen
zenship
Dimensionen
von
verbunden
variieren erheblich. Z u den E r f a h r u n -
ven freizulegen - z . B . eine E u r o p ä i s c h e S o -
gen der letzten Jahrzehnte zählt, d a ß alle B ü r -
zialcharta, ein transnationaler oder k o s m o p o -
gerrechte g l e i c h z e i t i g unter D r u c k geraten
litischer B ü r g e r s t a t u s (Twine 1994). Drittens
k ö n n e n , und es nicht nur um den K a m p f f ü r
sensibilisiert B ü r g e r s c h a f t f ü r die v i e l f ä l t i g e n
die avanciertesten F o r m e n geht.
sozialen und politischen E x k l u s i o n s p r o z e s se, die mit dem E n d e des füll
citizenship
im
(b) D i e ü b l i c h e Konzentration des Konzepts
Marshallschen Sinne verbunden sind. D i e ci-
B ü r g e r s c h a f t auf einen rechtlichen Status ist
tizenship-Debaüs
staatszentriert und ' p a s s i v ' . Gerade
dem sich die K ä m p f e der Marginalisierten ab-
soziale
steckt das Terrain ab, auf
Initiativen und Bewegungen praktizieren da-
spielen und klagt die Verpflichtungen ein, die
gegen ein aktives V e r s t ä n d n i s von
den Vollbürgern in dieser Situation erwach-
citizenship,
das auf solidarische und sozial kreative F o r -
sen. E i n plurales und differenziertes K o n z e p t
men der Vergemeinschaftung zielt und gegen-
v o n B ü r g e r s c h a f t s o l l es e r m ö g l i c h e n ,
ü b e r staatlichen Versorgungsformen kritisch
moralischen Erfordernisse
die
universalistischer
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
Gerechtigkeit mit den Erfordernissen der ver-
Es geht u m eine ' N e u e r f i n d u n g des S o z i a l e n '
schiedenen Varianten v o n lokaler D e m o k r a -
angesichts der E r o s i o n der sozialen F o r m e n ,
tie und deren partikulare L e b e n s f o r m e n z u
die die Stabilität der Gesellschaften des W e -
vermitteln. U m zu einem an den M a ß s t ä b e n
stens nach dem II. Weltkrieg ausgemacht ha-
von G l e i c h h e i t und Gerechtigkeit m e ß b a r e n
ben - eine E r o s i o n , die durch v e r s t ä r k t e G l o -
Konzept eines demokratischen
Bürgerstatus
balisierungen beschleunigt w i r d und natio-
zu gelangen, sind zumindest z w e i schwierige
nalstaatliche L ö s u n g s w e g e blockiert. In den
Operationen n ö t i g : E i n m a l gilt es, den B ü r -
neuen sozialen B e w e g u n g e n sind w i c h t i g e
gerstatus aus seinen askriptiven Z u r i c h t u n -
Orientierungsmarken f ü r solche sozialen A l -
gen und B e s c h r ä n k u n g e n entlang von Rasse,
ternativen entwickelt worden. Poor
people's
Geschlecht, A l t e r etc. h e r a u s z u l ö s e n . Z u m an-
movements
soziale
deren ist demokratische B ü r g e r s c h a f t aus der
Bornierungen a u f k l ä r e n , z . B . ü b e r die B e d e u -
Verstrickung mit S t a a t s z u g e h ö r i g k e i t z u ent-
tung einer sozialintegrativen M i l i e u b i l d u n g
wirren. D e m o k r a t i s c h kann dieser B ü r g e r s t a -
von unten ( B ö h n i s c h 1994). D i e Debatte ü b e r
tus nur sein, wenn er weit g e f a ß t , m ö g l i c h s t
citizenship,
e g a l i t ä r ausgestaltet und auf wirksame politi-
integriert einige dieser Aspekte. Im Zentrum
sche B e t e i l i g u n g angelegt ist ( T i l l y
1996).
steht die Neufassung eines sozialen B ü r g e r -
D i e s s c h l i e ß t notwendig soziale Garantien ein.
status jenseits der alten m ä n n l i c h e n , arbeits-
k ö n n e n uns ü b e r deren
besonders ü b e r social
zentrierten
4
industrial
citizenship,
citizenship,
die n o c h
immer die Vorstellungswelt der meisten p o l i -
Für eine bewegte
'Politik des Sozialen'
tischen A k t e u r e beherrscht (Cannan
1996:
145).
E s zeichnet sich ab, d a ß die Szene sozialer
B e w e g u n g e n bunter w i r d und soziale Proble-
D i e kritische R e f o r m u l i e r u n g sozialer R e c h -
me dabei eine gewichtigere R o l l e spielen. M i t
te steht i n einem engen Zusammenhang m i t
einer R ü c k k e h r zur K l a s s e n p o l i t i k mit den
den anderen S ä u l e n des B ü r g e r s t a t u s , die heu-
bekannten A k t e u r e n (Gewerkschaften und l i n -
te gleichfalls b r ö c k e l n . Z i v i l e B ü r g e r r e c h t e ,
ke Parteien) ist dennoch k a u m zu rechnen.
wie sie f r ü h in der Habeas Corpus A k t e als
V i e l m e h r deutet sich eine doppelte E n t w i c k -
Schutzrechte vor staatlicher W i l l k ü r f o r m u -
lung an: Einerseits laden sich M o b i l i s i e r u n -
liert wurden, sind durch neue Technologien
gen der neuen sozialen Bewegungen mit so-
in historisch unbekannter Weise bedroht - von
zialen Fragen auf, andererseits bewegen sich
den M ö g l i c h k e i t e n ' G r o ß e r L a u s c h a n g r i f f e '
die Proteste von sozial Marginalisierten und
bis z u den
die A n s ä t z e zu poor people 's movements
häu-
Atomtechnologie. D i e E n t w i c k l u n g der p o l i -
f i g in geringer Entfernung von den F o r m e n
tischen B ü r g e r r e c h t e , klassisch als die A u s -
und T h e m e n der neuen sozialen B e w e g u n -
weitung des Wahlrechts auf i m m e r
gen. Es ist daher an der Zeit, die wechselsei-
B e v ö l k e r u n g s g r u p p e n g e f a ß t , läßt sich heute
tige Ignoranz der F o r s c h u n g ü b e r neue so-
nicht mehr sinnvoll, d.h. ohne Substanzver-
ziale Bewegungen und der ü b e r poor people 's
lust auf das politische Separee liberaler D e -
movements
zu ü b e r w i n d e n . Neue soziale B e -
mokratie begrenzen. Angesichts der M a c h t -
wegungen
vertreten
nicht einfach M e n s c h -
f ü l l e der privat v e r f a ß t e n , vor- und subpoliti-
heitsinteressen jenseits des sozialen R a u m s ,
schen Bereiche haben die neuen sozialen B e -
und soziale D i s k r i m i n i e r u n g und E x k l u s i o n
wegungen radikale Demokratie f ü r alle L e -
sind längst keine Minderheitenthemen mehr.
bensbereiche
F o l g e n der
militärisch-zivilen
auf die Tagesordnung
weitere
gesetzt.
48
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
A b e r auch mit B l i c k auf den kulturellen B ü r gerstatus dominieren eher Gegenbewegungen.
D e r A u s s c h l u ß vieler v o n den gesellschaftlichen B i l d u n g s - und Kulturstandards, der mit
der aktuellen Entwertung und Z e r s t ö r u n g öffentlicher Erziehungseinrichtungen
-
allen
voran der U n i v e r s i t ä t e n - einhergeht, ist eine
weitere Facette g e g e n w ä r t i g e r E x k l u s i o n s t e n denzen.
F ü r die deutsche Forschung zu neuen sozialen Bewegungen stellt sich die Frage, ob sie
nicht durch ihre besonderen A u f m e r k s a m k e i ten zur M a r g i n a l i s i e r u n g und Nichtwahrnehm u n g v o n Initiativen und Protesten
von
sozialen
Problemen
entlang
beigetragen
hat.
M e h r A u f m e r k s a m k e i t ist schon deshalb vordringlich, u m der realen Fragmentierung
so-
3
Hier sei auf genauere Informationen zu Aachen
(Forum der Arbeit 1996) und Frankfurt/M. (Bartelheimer/Freyberg 1997) verwiesen.
Diese Tendenzaussage m u ß sich f ü r die Zahl der
Protestereignisse einstweilen auf Augenschein und
Zeitungslektüre stützen. Die Formen des Widerstands von marginalisierten Bevölkerungsgruppen,
zumal von Menschen, die auf der Straße leben
müssen, sind ungleich vielfältiger und ambivalenter als die 'ordentlichen' Proteste der neuen sozialen Bewegungen. Hinweise und Anregungen f ü r
eine solche Blickerweiterung bietet z.B. die Studie
von Lindenberger (1995).
4
5
In einer Bestandsaufnahme spricht zwar der A u tor von einer Erwerbslosenbewegung, seine eigene Darstellung legt eher den Schluß nahe, daß es
sich um eine Projekteszene handelt, f ü r die Protestmobilisierungen nur einen kleinen Ausschnitt
ihrer Aktivitäten darstellen (Wolski-Prenger 1993).
A m klarsten läßt sich von sozialen Rechten noch
im - gegenüber den Versicherungssystemen nachrangig konzipierten - Sozialhilferecht mit seinen
Grundnormen 'Führung eines menschenwürdigen
Lebens' und 'Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft' (SGB I, § 9) sprechen.
In der klassischen, auf die englische Entwicklung bezogenen Formulierung sozialer Bürgerrechte von T. H . Marshall heißt es: „Mit dem sozialen
Element bezeichne ich eine ganze Reihe von Rechten, vom Recht auf ein Mindestmaß an wirtschaftlicher Wohlfahrt und Sicherheit, über das Recht
auf einen vollen Anteil am gesellschaftlichen Erbe,
bis zum Recht auf ein Leben als zivilisiertes Wesen entsprechend der gesellschaftlich vorherrschenden Standards. Die am engsten mit ihm verbundenen Institutionen sind das Erziehungswesen und
die sozialen Dienste" (Marshall 1992: 40).
Ein Zeichen f ü r das verstärkte Interesse sind die
Schwerpunkthefte der Zeitschriften 'Prokla' (1996,
105) und 'Feministische Studien' ( M a i 1996). Die
internationale Debatte ist unübersichtlich geworden, hier sei nur auf einige der neueren Beiträge
verwiesen: Bader 1995; Roche 1995; Mackert
1996; Einhorn et al. 1996; Tilly 1996. Seit 1997
erscheint zudem eine einschlägige internationale
Fachzeitschrift mit dem Titel 'Citizenship Studies'.
6
zialer Initiativen und Bewegungen nicht z u sätzlich Vorschub zu leisten. D i e Konsequenz
w ä r e v e r m u t l i c h , soziale B ü r g e r r e c h t e u n d
demokratische
B e t e i l i g u n g z u einem E x k l u -
sivgut f ü r wenige i m nationalen w i e i m internationalen
M a ß s t a b z u deformieren.
Genau
diese e x k l u s i v e R ü c k b i l d u n g gilt es herauszufordern.
Roland
Roth
lehrt Politikwissenschaft an der
Fachhochschule
Magdeburg.
Anmerkungen
1
Eine zusammenfassende Übersicht zu den 'sozialen Grausamkeiten' der letzten Jahre bieten Bauer/Hansen 1995.
Eine eindrucksvolle Evaluierung von kirchlichen
Empowerment-ProgYammen
für arme Leute, die auf
die Ausbildung und Unterstützung von Community Organizers setzen, denen für Protestmobilisierungen eine wichtige Rolle zukommt, bieten M c Carthy/Castelli 1994 und McCarthy et al. 1994.
2
7
8
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
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51
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
Stefan Pabst
Sozialanwaltschaftliche
I nteressenverm ittlung
Die Armutsberichterstattung der Wohlfahrtsverbände
1
Einleitung
Es w i r d hierbei von der A n n a h m e ausgegangen, d a ß die W o h l f a h r t s v e r b ä n d e komplexe
Seit M i t t e der 80er Jahre ist eine v e r s t ä r k t e
Organisationen darstellen, die sich aus unter-
Z u w e n d u n g der W o h l f a h r t s v e r b ä n d e zum A r -
schiedlichen Akteursgruppen mit verschiede-
mutsthema zu beobachten. So sind alle Ver-
nen
b ä n d e seit
Demnach ist ein akteurszentrierter Ansatz zu
1991 M i t g l i e d e r der Nationalen
Handlungsmotiven
zusammensetzen.
A r m u t s k o n f e r e n z . D a r ü b e r hinaus haben die
verfolgen und aufzuzeigen, welche
Caritas und der P a r i t ä t i s c h e Wohlfahrtsver-
gruppen
band das A r m u t s p r o b l e m z u einem zentralen
des sozialanwaltschaftlichen Engagements i m
verbandspolitischen T h e m a gemacht,
Armutsbereich vorantreiben (Pabst
eigene
in den Verbänden
Akteurs-
die Intensivierung
1996).'
Armutsberichte erstellt und eine R e f o r m der
staatlichen A r m u t s p o l i t i k gefordert. D i e Spit-
2
z e n v e r b ä n d e der freien Wohlfahrtspflege i n -
Akteure in den
Wohlfahrtsverbänden
tensivieren mit diesen A k t i v i t ä t e n die selbstgestellte A u f g a b e , als Sozialanwälte
die Lage
der A r m e n zu verbessern.
In g ä n g i g e n T y p o l o g i e n von Interessenverb ä n d e n werden die W o h l f a h r t s v e r b ä n d e als
Sozialleistungsvereinigungen
gekennzeichnet,
Fragestellung nach: Vertreten die V e r b ä n d e die
Dienstleistungen f ü r Dritte erbringen. In die-
Interessen betroffener Dritter w i r k l i c h als de-
ser F u n k t i o n sind die W o h l f a h r t s v e r b ä n d e be-
ren A n w ä l t e , wie es die W o h l f a h r t s v e r b ä n d e
triebswirtschaftlich und professionell g e p r ä g -
f ü r sich in A n s p r u c h nehmen
te Dienstleistungsunternehmen,
(Spiegelhalter
die
( A l e m a n n 1985)
Der vorliegende Beitrag geht nun folgender
insbesondere
soziale
die mit ihren
1990)7 O d e r verfolgen die V e r b ä n d e auf i n -
Angeboten z u m T e i l m a r k t f ü h r e n d e Anbieter
direktem Wege e i g e n n ü t z i g e Strategien,
sind und in vielen Einrichtungsarten
de-
ren A u s w i r k u n g e n f ü r die A r m e n wenig hilf-
gegen-
ü b e r ö f f e n t l i c h e n und privaten T r ä g e r n do-
reich sind, wie die klassische Wohlfahrtsver-
minieren. So befanden sich 1993 knapp 5 5 %
b ä n d e f o r s c h u n g in der R e g e l
aller A l t e n - und Behindertenheime, ü b e r z w e i
argumentiert
(Bauer 1978; H e i n z e / O l k 1981; T h r ä n h a r d t
Drittel
et al. 1986; A u s t 1993)? D e m z u f o l g e ist zu
mehr als jedes dritte A l l g e m e i n e Krankenhaus
untersuchen,
warum
die V e r b ä n d e politische
Forderungen erheben, v o n deren E r f ü l l u n g sie
- zumindestens
unmittelbar - nicht profitie-
ren (Winter 1992).
in
aller Jugendhilfeeinrichtungen
wohlfahrtsverbandlicher
( B A G F W 1994).
und
Trägerschaft
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
A u f g r u n d der g r o ß e n wirtschaftlichen Bedeu-
tenmacht
tung des unternehmerischen Bereichs sind er-
( K ü p p e r / O r t m a n n 1986). Z u m anderen
stens
- w i e i n anderen klassischen Betrieben
nen die F a c h k r ä f t e ü b e r die in den V e r b ä n -
bei den F a c h k r ä f t e n b e g r ü n d e t w i r d
kön-
auch - die A k t e u r e auf der unternehmerischen
den installierten F a c h a u s s c h ü s s e ihre Inter-
Leitungsebene darum b e m ü h t , die Bestands-
essen g e g e n ü b e r der organisatorischen
bedingungen und -entwicklungen der V e r b ä n -
rung auch direkt geltend machen.
de z u verbessern, d.h. strategisch
bandseigenen
Füh-
die ver-
Interessen durchzusetzen. In-
Neben den L e i t u n g s k r ä f t e n und F a c h k r ä f t e n
teressen von A r m e n werden demzufolge von
gibt es drittens
der Leitungsebene vor allem dann vermittelt,
den
wenn es den Verbandsinteressen
W o h l f a h r t s v e r b ä n d e eine weitere
nützt, d.h.
wenn es etwa die A k z e p t a n z bei den
Mit-
aufgrund der vorherrschen-
vereinsrechtlichen
Organisation
der
verbands-
politisch bedeutende Akteursgruppe: die M i l -
g l i e d s v e r b ä n d e n , Klienten und der Ö f f e n t l i c h -
lionen M i t g l i e d e r der V e r b ä n d e . Im G e g e n -
keit f ö r d e r t , der Bekanntheitsgrad e r h ö h t w i r d
satz zu den meisten anderen
oder wenn Spenden und staatliche F ö r d e r m i t -
b ä n d e n beruht i m F a l l der W o h l f a h r t s v e r b ä n -
tel
de das zentrale M o t i v , M i t g l i e d zu sein, nicht
eingeworben
werden
können
(Winter
1992).
Interessenver-
p r i m ä r auf der V e r f o l g u n g der eigenen materiellen Interessen, sondern auf der V e r w i r k l i -
D i e Produktion von Dienstleistungen bringt
chung von gemeinsam geteilten
zweitens
ungen,
mit sich, d a ß die W o h l f a h r t s v e r b ä n -
Weltanschau-
die in den Satzungen und normativen
de rund eine M i l l i o n hauptberufliche M i t a r -
Leitbildern
beiter b e s c h ä f t i g e n . A u c h diese k ö n n e n be-
(Bauer 1984). D a v e r b a n d s ü b e r g r e i f e n d in a l -
der
Verbände
formuliert
sind
reit sein, sich f ü r die Interessen von Dritten
len Satzungen der A n s p r u c h fixiert ist, sozi-
sozialanwaltschaftlich einzusetzen. D u r c h die
alanwaltschaftlich die Interessen derjenigen
P r o f e s s i o n a l i s i e r u n g sozialer Dienste bildet
benachteiligten B e v ö l k e r u n g s g r u p p e n z u ver-
sich bei den M i t a r b e i t e r n zunehmend
treten, die ihre Interessen nicht selbst artiku-
eine
spezifische Berufsethik und eine theoretische
lieren ( k ö n n e n ) , erwarten die M i t g l i e d e r von
Wissensbasis aus, die nicht nur rein tech-
den Verbandsleitungen, d a ß sie g e m ä ß der
nisch-fachliche
auch
weltanschaulichen Grundlagen die A r m e n i n -
professionelle N o r m e n und Wertvorstellungen
teressen vertreten. D u r c h die vereinsrechtli-
u m f a ß t , die die Grundlage f ü r die Bereitschaft
che Organisation der V e r b ä n d e k ö n n e n die
zur
Kenntnisse,
sondern
s o z i a l a n w a l t s c h a f t l i c h e n Interessenver-
M i t g l i e d e r ihre Vorstellungen z u m einen ü b e r
Vorstellungen
die ehrenamtlichen V o r s t ä n d e und M i t g l i e d e r -
bilden (Leisering 1993). D i e F a c h k ä f t e k ö n -
versammlungen direkt i n den innerverband-
m i t t l u n g aufgrund fachlicher
nen sich mit ihren Z i e l e n innerverbandlich i n
lichen
zweifacher Hinsicht durchsetzen: Z u m einen
Z u m anderen m ü s s e n die L e i t u n g s k r ä f t e auch
sind die Verbandsleitungen auf die K o m p e -
auf die Mitglieder R ü c k s i c h t nehmen, da die-
tenz der F a c h k r ä f t e angewiesen, da F a c h l i c h -
se wie die F a c h k r ä f t e einen zentralen L e g i t i -
keit einen zentralen Legitimationsfaktor der
mationsfaktor nach a u ß e n und zudem ein be-
W o h l f a h r t s v e r b ä n d e g e g e n ü b e r den ä u ß e r e n
deutendes Ressourcenpotential in F o r m v o n
U m w e l t e n darstellt. D i e Verbandsleitungen
M i t g l i e d s b e i t r ä g e n , Spenden und ehrenamt-
m ü s s e n daher das Fachpersonal sowie die
lichem Engagement darstellen.
Fachreferenten bei verbandspolitischen Entscheidungen miteinbeziehen, wodurch
Exper-
Willensbildungsprozeß
einbringen.
53
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
werden,
problem konfrontiert waren, die das T h e m a
d a ß in den W o h l f a h r t s v e r b ä n d e n idealtypisch
Mitte der 80er Jahre i n die Fachdiskussion
drei Akteursgruppen in den V e r b ä n d e n bereit
einbrachten und damit D r u c k auf die Ver-
sein können,
bandsstrukturen a u s ü b t e n (Aust 1993: 579f)-
Z u s a m m e n f a s s e n d kann festgestellt
die Interessen Dritter anwalt-
schaftlich zu vermitteln: die Leitungsebene,
Aufgrund
die F a c h k r ä f t e und die Mitglieder. F ü r die B e -
e m p f a h l 1986 der w i s s e n s c h a f t l i c h e Beirat
des
innerverbandlichen
Drucks
reitschaft z u m a n w a l t s c h a f t l i c h e n
Engage-
des P a r i t ä t i s c h e n Wohlfahrtsverbandes d e m
ment liegen jedoch unterschiedliche M o t i v e
Vorstand, sich des Themas Armutsberichter-
vor - strategische, fachliche und weltanschau-
stattung anzunehmen (Schneider 1989: 275).
liche - , so d a ß von den drei Akteursgruppen
Jedoch war dieses Vorgehen innerverbandlich
unterschiedliche Z i e l e verfolgt werden k ö n -
nicht unumstritten. So wurden noch 1989, als
nen und es z w i s c h e n ihnen zu Auseinander-
der P a r i t ä t i s c h e z u m ersten M a l seit seinem
setzungen ü b e r die armutspolitische A u s r i c h -
Bestehen V e r b a n d s g r u n d s ä t z e
tung und Strategie k o m m e n kann. Im folgen-
te, innerhalb des Verbandes Auseinanderset-
den w i r d nun a m B e i s p i e l der armutspoliti-
zungen d a r ü b e r g e f ü h r t , ob der Verband ein
schen
Wohlfahrtsverbände
reiner Dienstleistungsverband f ü r M i t g l i e d s -
aufgezeigt, welchen E i n f l u ß die Akteursgrup-
organisationen w ä r e oder ob er eine d a r ü b e r
pen j e w e i l s auf die Verbandspolitik nehmen.
hinaus gehende sozialanwaltschaftliche F u n k -
Aktivitäten
der
verabschiede-
tion hätte. N a c h A u s k u n f t eines Vertreters des
3
Paritätischer
Wohlfahrtsverband und Caritas
Paritätischen wurde diese Frage z w i s c h e n A k teuren, die ihre Arbeit mit einem Ü b e r g e w i c h t
politisch verstehen, und A k t e u r e n , die eher
Unter den f ü n f g r o ß e n W o h l f a h r t s v e r b ä n d e n
heben sich die Caritas und der P a r i t ä t i s c h e
Wohlfahrtsverband
deutlich
heraus:
Diese
V e r b ä n d e sind bis Mitte der neunziger Jahre
wiederholt mit eigenen Armutsberichten an
die Ö f f e n t l i c h k e i t gegangen.
2
Im folgenden
w i r d dargestellt, welche A k t e u r e die Verstärk u n g der Armutsberichterstattung
einforder-
ten, welche Z i e l e diese verfolgten und mittels welcher Strategien sie versuchten, ihre
betriebswirtschaftlich denken, „ h e f t i g debattiert, w i r k l i c h heftig. D i e D i s k u s s i o n ging quer
3
durch den Verband". L e t z t l i c h m u ß t e sich die
Verbandsleitung dem D r u c k der F a c h v e r b ä n de beugen. W i e sich ein Verbandsvertreter ä u ßerte: „ E s gab einen Problemdruck, der sich
innerverbandlich artikulierte und den Verband
zwang, auch zu diesem T h e m a Stellung z u
nehmen. Selbst wenn das nicht politisch opportun war".
Z i e l e durchzusetzen.
B e i der Caritas war die Intensivierung des
3.1
Die Akteure
armutspolitischen
Engagements
innerver-
bandlich ebenfalls umstritten. A u c h hier m u ß B e z ü g l i c h der entscheidenden Akteure ist bei-
ten erst die F a c h k r ä f t e D r u c k a u s ü b e n , bis
den V e r b ä n d e n gemeinsam, d a ß die armuts-
der Verband in die Ö f f e n t l i c h k e i t ging. So wur-
politische Initiative weder von den i n d i v i d u -
den trotz der eindeutigen normativen A u s r i c h -
ellen M i t g l i e d e r n noch von der Leitungsebe-
tung, den „ Ä r m s t e n der A r m e n " zu helfen,
ne, sondern von F a c h k r ä f t e n und F a c h v e r b ä n -
deren Interessen von der Caritas bis Mitte der
den ausging. Im F a l l des P a r i t ä t i s c h e n W o h l -
80er Jahre nicht in der Ö f f e n t l i c h k e i t vermit-
fahrtsverbandes waren es v o r n e h m l i c h die
telt (Kuper 1988: 14). E i n e Ursache h i e r f ü r
F a c h v e r b ä n d e , die vor Ort mit dem A r m u t s -
ist i n den engen personellen B i n d u n g e n an
54
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10. HEFT 2, 1997
die christliehen Regierungsparteien
und an
se M ü n s t e r 1987). D i e Bundesebene reagier-
die A m t s k i r c h e zu finden. So kam nach A u s -
te darauf nach A u s k u n f t eines Caritas-Refe-
sage eines Caritasreferenten eine in den 80er
renten z u n ä c h s t sehr verhalten. S c h l i e ß l i c h
Jahren
geplante
mutsuntersuchung
V e r ö f f e n t l i c h u n g einer A r -
sollte es nicht z u m K o n f l i k t z w i s c h e n C D U /
nicht zustande, w e i l sich
C S U und der Caritas k o m m e n . D e r P r ä s i d e n t
die Caritas aus parteipolitischen E r w ä g u n g e n
der Caritas hätte intern sehr deutlich gesagt,
k u r z f r i s t i g z u r ü c k z o g , „weil das Institut z u
d a ß das Engagement der D i ö z e s e M ü n s t e r
linkslastig war". A u f g r u n d der sich abzeich-
zwar sehr mutig gewesen sei, d a ß aber die
nenden
politischen
Ergebnisse wurde b e f ü r c h t e t , „ d a ß
Forderungen
auf
Bundesebene
man sich mit der C D U - R e g i e r u n g s m a n n s c h a f t
nicht umsetzbar seien: „ D e r hat sich i m G r u n -
in C l i n c h begeben m ü ß t e , und das wollte man
de ein Stück von dem Armutsbericht abge-
zu dem Zeitpunkt nicht". Ferner waren nach
setzt. A u f der Ebene: Ich w i l l m i c h da nicht
E i n s c h ä t z u n g dieses Fachreferenten innerhalb
in die Nesseln setzen, das ist m i r politisch zu
des Verbandes auch deshalb W i d e r s t ä n d e vor-
heiß".
handen, sich politisch f ü r die A r m e n k l i e n t e l
einzusetzen, da soziale Dienste f ü r A r m e nicht
p r o f i t t r ä c h t i g seien und es daher nicht i m Verbandsinteresse
liege, sich armutspolitisch z u
engagieren ( „ D a s ist nicht wie ein K r a n k e n haus, w o ich mit verdienen kann, oder eine
Sozialstation. Das sind alles Dienste, w o i c h
nur G e l d reinbuttern m u ß " ) . Mangelndes armutspolitisches Engagement
und sogar ein
W i d e r w i l l e n in bezug auf einen entsprechenden Einsatz resultieren schließlich auch aus
den vorherrschenden Armutsbildern innerhalb
des Verbandes. D i e A t m e n , so wie sie nach
Ansicht eines Caritasvertreters verbandsintern
gesehen werden, entsprechen nicht dem B i l d
der A r m e n , die der H i l f e w ü r d i g sind. D i e C a ritas sei zwar von ihrem A n s p r u c h her f ü r die
Ä r m s t e n der A r m e n da, „ a b e r wenn sie stin-
D u r c h den Armutsbericht des D i ö z e s a n c a r i tasverbandes M ü n s t e r wurde die Armutsproblematik jedoch auch i n anderen
Diözesan-
c a r i t a s v e r b ä n d e n intensiver diskutiert, so d a ß
der Bundesverband Probleme bekam, den f e h lenden Einsatz f ü r die A r m e n zu rechtfertigen. E i n weiteres verbandspolitisches H i n d e r nis wurde dadurch a u s g e r ä u m t , d a ß Ende der
80er Jahre der P r ä s i d e n t der Caritas seine B e denken, sich politisch zu engagieren, aufgab.
A u f g r u n d seiner christlichen Weltanschauung
- so ein Verbandsvertreter - hätte er davon
ü b e r z e u g t werden k ö n n e n , d a ß ein Engagement f ü r die Interessen der A r m e n notwendig
w ä r e . D a m i t war auch in der Caritas der W e g
f ü r die Intensivierung des armutspolitischen
Engagements geebnet.
ken und saufen und unkonventionell sind, und
zu Tageszeiten k o m m e n , w o w i r unsere B e r a t u n g s b ü r o s geschlossen haben, dann
passen
3.2 Die Ziele
sie auch nicht in unser Schema rein".
D i e Leitungsebenen beider V e r b ä n d e v e r f o l g ten mit der Intensivierung ihres armutspolitiAm
A n f a n g der armutsspolitischen
Wende
schen Engagements E n d e der 80er Jahre ne-
standen wie beim Paritätischen die A k t i v i t ä -
ben der Vermeidung massiver innerverband-
ten einiger engagierter
P r a k t i k e r und
Mit-
licher Verwerfungen weitere verbandspoliti-
g l i e d s v e r b ä n d e . So brachte der D i ö z e s a n c a -
sche Z i e l e . So versuchten
ritasverband M ü n s t e r 1987 u n a b h ä n g i g v o n
auch, sich in der Ö f f e n t l i c h k e i t zu p r o f i l i e -
der Caritasleitung i n Freiburg einen A r m u t s -
ren. N a c h Interviewaussagen wollte die C a r i -
bericht heraus (Caritasverband f ü r die D i ö z e -
tas das armutspolitische E n g a g e m e n t
beide V e r b ä n d e
dazu
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
nutzen, „ d a s Image des alten, verstaubten ka-
p r ä g t e n M e n s c h e n auf der anderen Seite und
tholischen Kastens abzulegen". D a der P a r i -
F u n k t i o n s t r ä g e r n , die den ganzen L a d e n z u -
t ä t i s c h e nach den E r g e b n i s s e n einer Infas-
sammenhalten m ü s s e n auf der dritten Seite".
U m f r a g e (Infas 1993: 4) nur f ü r 7 % der B e -
W ä h r e n d die Initiativen die E i n f ü h r u n g e i -
v ö l k e r u n g ein B e g r i f f ist, war es f ü r den Ver-
nes Existenzgeldes forderten, verlangten an-
band aufgrund dieser nach E i n s c h ä t z u n g ei-
dere die Beibehaltung der Armutsvermeidung
nes Verbandsvertreters
ü b e r das B S H G . Dritte, h ä u f i g auch progres-
„erschreckenden ErBekannt-
sive Wissenschaftler, s t ü n d e n dazwischen und
heitsgrad zu e r h ö h e n ( „ D a s löst natürlich ge-
forderten eine umfassende R e f o r m i e r u n g des
nau ein solches Nachdenken aus, wie k ö n n e n
B S H G . „ D a n n ist es Sache der F u n k t i o n ä r e
wir unser Image aufpolieren"). D a z u konnte
i m Verband, [...] die sozialpolitischen Stel-
die Darstellung als Sozialanwalt ein Weg sein.
lungnahmen so zu formulieren, d a ß ein brei-
A u f g r u n d dessen habe der Verband nach A u s -
ter innerverbandlicher Konsens m ö g l i c h ist."
gebnisse"
ohnehin
nötig,
seinen
sage eines Verbandsvertreters bei der Erstellung von Armutsberichten sehr darauf achten
A m B e i s p i e l der Caritas soll i m folgenden dar-
m ü s s e n , „ d a ß w i r dieses so optimal verkau-
gestellt werden, wie die V e r b ä n d e vorgingen,
fen, d a ß sich f ü r die Ö f f e n t l i c h k e i t damit et-
u m die unterschiedlichen Z i e l d i m e n s i o n e n
was verbindet, wenn sie P a r i t ä t i s c h e r h ö r e n " .
z u s a m m e n z u f ü h r e n . 1988 wurde v o m Z e n -
G l e i c h z e i t i g verfolgten die Verbandsstrategen
entschieden, die Arbeitsgruppe „ A r m u t s d i s -
das Z i e l , mit dem v e r s t ä r k t e n Einsatz f ü r die
kussion des Zentralvorstandes" z u g r ü n d e n
tralvorstand des Deutschen
Caritasverbandes
A r m e n m ö g l i c h s t nicht allzu starke K r i t i k sei-
( B o c k 1992: 536f). In dieser Arbeitsgruppe
tens der P o l i t i k hervorzurufen. E i n Verbands-
hatten L e i t u n g s k r ä f t e ein deutliches Ü b e r g e -
vertreter des P a r i t ä t i s c h e n d r ü c k t e die not-
wicht g e g e n ü b e r den F a c h k r ä f t e n . N a c h E i n -
wendige Gratwanderung f o l g e n d e r m a ß e n aus:
s c h ä t z u n g eines Caritas-Referenten sollte da-
D i e W o h l f a h r t s v e r b ä n d e seien in dem „ Z w i e -
mit verhindert werden, „ d a ß eine z u starke
spalt, einerseits F o r m e n v o n
ausgelagerten
Praxisorientierung da mit r e i n k a m , eine z u
Staatsagenturen z u sein, [...] auf der anderen
starke Linksorientierung". U m den A n t r a g zur
Seite sind sie M i t g l i e d e r v e r b ä n d e . [...] G e r a -
Erstellung eines Armutsberichtes durch die
de der P a r i t ä t i s c h e ist der Verband, der e i -
dem armutspolitischen Engagement
gentlich am s t ä r k s t e n in diesen widerstreit-
noch
enden Interessen steht, und versuchen m u ß ,
bandlichen G r e m i e n zu b e k o m m e n , sollte z u m
innerverbandlich auch dieses zusammenbrin-
einen eine theoretische
gen."
ü b e r den A r m u t s b e g r i f f vermieden
skeptisch
gegenüber
immer
stehenden
ver-
Auseinandersetzung
werden.
Statt dessen sollte klientenorientiert und de-
3.3 Die Strategien
D i e Verbandsleitungen m u ß t e n demnach versuchen, die unterschiedlichen Z i e l e miteinander zu vereinbaren. Diese Strategie war jedoch s c h w i e r i g umzusetzen. So gab es beim
P a r i t ä t i s c h e n nach A u s k u n f t eines Verbandsvertreters Spannungen „ z w i s c h e n den Initiativen auf der einen Seite, wissenschaftlich ge-
skriptiv vorgegangen werden. Z u m anderen
wurde versucht, einen „ g e e i g n e t e n " wissenschaftlichen Projektleiter a u s z u w ä h l e n : N a c h
E i n s c h ä t z u n g eines Fachreferenten der C a r i tas vergab man den Forschungsauftrag an e i nen Wissenschaftler, der sich bis dahin nicht
mit „ r a d i k a l e n " V o r s c h l ä g e n hervorgetan hatte, u m allzu extremen armutspolitischen F o r derungen
vorzubeugen.
Angesichts
dieser
rr i
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10. HEFT 2, 1997
Vorgehensweis gaben auch die kritisch ge-
nisterin f ü r F a m i l i e und Senioren, Hannelore
g e n ü b e r dem armutspolitischen
R ö n s c h , bezeichnete den A n s a t z der Caritas
Engagement
der Caritas eingestellten Verbandsvertreter i h -
als einen weiteren „ h i l f r e i c h e n B e i t r a g , u m
ren Widerstand auf.
das
Problem
sozialer
Ausgrenzung
in
Deutschland v e r l ä ß l i c h e r als bisher z u k l ä Trotz dieser strategischen Ü b e r l e g u n g e n w a -
ren" und erhofft sich „ e i n e V e r s a c h l i c h u n g
ren i m folgenden nicht alle Probleme gelöst.
der D i s k u s s i o n ü b e r A r m u t , in der bisher oft
So wurden innerhalb der Arbeitsgruppe, die
zu pauschale Urteile vorgeherrscht
vorwiegend nicht aus Armutsfachleuten be-
( B M F u S 1993).
stand, z u n ä c h s t doch
haben"
Auseinandersetzungen
d a r ü b e r g e f ü h r t , was ü b e r h a u p t unter A r m u t
W i e sehr die armutspolitischen Forderungen
zu verstehen ist. D a eine E i n i g u n g auf eine
der Caritas von strategischen
A r m u t s d e f i n i t i o n z w i s c h e n den K o n s e r v a t i -
g e p r ä g t waren, ist auch daran zu erkennen,
ven und den Progressiven nicht erzielt wer-
d a ß sie diese nicht p r i m ä r von den B e d a r f e n
den konnte, der Armutsbericht jedoch auch
der A r m e n , sondern vielmehr von der H a u s -
Überlegungen
nicht scheitern sollte, wurde die innerverband-
haltslage des Staates a b h ä n g i g machte, w i e
liche D i s k u s s i o n ausgesetzt und z u n ä c h s t die
ein Caritasvertreter schilderte: „In dem z u m
deskriptive Untersuchung in G a n g gesetzt. In
Ende der Caritas-Armutsuntersuchung h i n en-
der Untersuchung wurde - um sich alle Wege
ger werdenden
offen zu halten - mit mehreren A r m u t s d e f i -
w ä r e eine Forderung einer 30%igen E r h ö h u n g
nitionen gerechnet, d.h. neben der S o z i a l h i l -
der S o z i a l h i l f e nicht durchsetzbar
fegrenze wurden mehrere relative E i n k o m -
o b w o h l dies viele auch i m Caritasverband ge-
mensarmutsgrenzen b e r ü c k s i c h t i g t . N a c h A b -
fordert haben". Deswegen wurden i m A r m u t s -
schluß
bericht auch a u s d r ü c k l i c h die geringen K o -
der
Caritas-Armutsuntersuchung
„ A r m e unter uns" ( H a u s e r / H ü b i n g e r
in deren F o l g e dann auch
Finanzhaushalt des
Staates
gewesen,
1993),
sten der Forderungen betont: „ S o w ä r e n die
armutspolitische
z u s ä t z l i c h e n A u s g a b e n geringer als es z u -
Forderungen erhoben werden sollten, setzte
n ä c h s t den A n s c h e i n haben m a g " (Hauser/
sich die D i s k u s s i o n u m den A r m u t s b e g r i f f
Hübinger
fort. D i e unterschiedlichen Positionen kamen
nach Beseitigung der verdeckten A r m u t war
1993: 34). Selbst die F o r d e r u n g
s c h l i e ß l i c h l e d i g l i c h auf den kleinsten ge-
aber innerhalb der Caritas noch umstritten.
meinsamen Nenner, d a ß das
Unterschreiten
E i n M i t g l i e d der Arbeitsgruppe b e f ü r c h t e t e
der S o z i a l h i l f e s c h w e l l e als A r m u t gewertet
nach A u s k u n f t eines Verbandsvertreters, d a ß
werden m u ß ( „ v e r d e c k t e A r m u t " ) . Das p r i -
auch die moderaten Forderungen, wenn die
m ä r e M i t t e l der Armutsbeseitigung besteht f ü r
verdeckt A r m e n die ihnen zustehende S o z i -
die Caritas demnach darin, allen Anspruchs-
alhilfe w i r k l i c h beantragen
berechtigten das E x i s t e n z m i n i m u m in H ö h e
stenintensiv seien.
würden, zu ko-
der S o z i a l h i l f e zu verschaffen ( H a u s e r / H ü binger 1993: 34; Becker 1993: 13).
D i e Arbeitsgruppe verfolgte diese
4
Die arideren Verbände
Strategie
W ä h r e n d sich der P a r i t ä t i s c h e und die C a r i -
v o r n e h m l i c h deshalb, um sich nicht gegen-
tas in der Ö f f e n t l i c h k e i t durch die P r ä s e n t a t i -
ü b e r der Politik aufgrund illusorischer F o r -
on mehrerer Armutsberichte besonders p r o f i -
derungen angreifbar zu machen. Diese Stra-
liert haben, b e s c h r ä n k t e sich die Intensivie-
tegie g i n g auf, denn die damalige B u n d e s m i -
rung des armutspolitischen Engagements bei
5
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
der Arbeiterwohlfahrt ( A W O ) , der D i a k o n i e
i
ben". In diesem K o n f l i k t zwischen Fachrefe-
und dem Deutschen Roten K r e u z ( D R K ) bis-
renten und L e i t u n g s k r ä f t e n hat sich die Ver-
lang ü b e r w i e g e n d auf die M i t g l i e d s c h a f t in
bandsleitung bislang weitgehend durchsetzen
der
k ö n n e n , so d a ß ein wirksames sozialanwalt-
N a t i o n a l e n A r m u t s k o n f e r e n z und
auf
schaftliches Engagement unterblieb. D i e U r -
punktuelle Stellungnahmen.
sache f ü r das fehlende Engagement des D R K
F ü r die vergleichsweise z u r ü c k h a l t e n d e A r -
dagegen liegt vornehmlich in seiner D o p p e l -
mutspolitik dieser V e r b ä n d e gibt es
funktion als Wohlfahrtsverband und nationa-
mehrere
Ursachen. Z u m einen ist festzustellen, d a ß die
ler Rotkreuzgesellschaft b e g r ü n d e t , aufgrund
F a c h k r ä f t e i n diesen V e r b ä n d e n weniger gut
derer traditionell ein sehr enges V e r h ä l t n i s
organisiert sind und geringeren D r u c k auf die
z u m Staat besteht. Weiterhin zeigen sich be-
Verbandsleitungen a u s g e ü b t haben. Z u m an-
sonders intensive personelle Verflechtungen
deren waren hier auch die anderen Akteurs-
zu Parteien und staatlichen Institutionen, die
gruppen - die Leitungsebene i n f o l g e
bei der B e s e t z u n g v o n Leitungsposten
strate-
des
b e g r ü n d e t e r Bedenken, die Mitglieder
D R K z u m A u s d r u c k k o m m e n . D i e s f ü h r t zu
bzw. V o r s t ä n d e aufgrund der in diesen Ver-
einer konservativen Grundtendenz des Ver-
b ä n d e n bestehenden Weltanschauungen
bandes, weswegen es die P r ä s i d e n t e n nach
gisch
- bis
Mitte der 90er Jahre gegen eine Intensivie-
D e u t u n g eines Verbandsvertreters
rung des armutspolitischen Engagements.
armutspolitisch tätig zu werden: „ D i e P r ä s i -
ablehnen,
denten sind in der Regel dem sehr abgeneigt,
Die Leitungsebenen dieser V e r b ä n d e verhin-
sich ü b e r h a u p t in irgendeiner Weise sozial-
derten eine Intensivierung der A r m u t s p o l i t i k
politisch zu engagieren oder festlegen zu las-
aus mehreren G r ü n d e n . Bei der D i a k o n i e w o l l -
sen". Legitimiert werden kann dieser W i d e r -
te
spruch z u m A u f t r a g in den Statuten, „ A n w a l t
man
die
finanzkräftige Kirchenklientel
nicht Uber eine „ R e i c h t u m s d i s k u s s i o n " ver-
f ü r die
prellen, derzufolge die (Kirchen)Steuerzahler
(Helms 1990: 100) zu sein, Uber den Neutra-
Schwachen
oder
Benachteiligten"
finanzielle
müßten.
l i t ä t s g r u n d s a t z i n der P r ä a m b e l , nach d e m
A u c h die A r b e i t e r w o h l f a h r t hielt sich auf-
sich die Rotkreuzbewegung zu jeder Z e i t an
grund
armutspo-
politischen Auseinandersetzungen enthält, u m
Einbußen
finanzieller
hinnehmen
Abhängigkeiten
litisch z u r ü c k . N a c h M e i n u n g eines A W O -
sich das Vertrauen aller zu bewahren. D i e auf-
Fachreferenten steht die A W O aufgrund ihres
grund der Organisationsstruktur mit weitrei-
geringen Eigenmittelanteils und der daraus
chenden E i n f l u ß m ö g l i c h k e i t e n versehene L e i -
folgenden
von
tungsebene des D R K kann unter B e z u g auf
staatlichen Geldern stärker als die konfessio-
diesen Grundsatz politisches Engagement ab-
ausgeprägten
Abhängigkeit
nellen V e r b ä n d e i m L o y a l i t ä t s k o n f l i k t z w i -
lehnen, w i e sich ein D R K - V e r t r e t e r a u s d r ü c k -
schen Armeninteressen und organisatorischen
te, „ d e n D e c k e l draufhalten", und somit ver-
Eigeninteressen der Substanzerhaltung
ihrer
meiden, d a ß sich jemand „auf den Schlips ge-
E i n r i c h t u n g e n und Dienste: „ B e i d e s kann man
treten f ü h l t und sagt: W i e k ö n n t ihr denn da
nicht gleichwertig und gleich intensiv wahr-
sowas sagen? Das ist gegen unsere eigene
nehmen, das ist eine pure S e l b s t t ä u s c h u n g .
C D U - P o l i t i k " . E i n D R K - R e f e r e n t vertritt die
Jede Wahrnehmung der sozialpolitischen A n -
pessimistische E i n s c h ä t z u n g : „ E s ist politisch
waltsrolle kann langfristig A r b e i t s p l ä t z e der
nie m ö g l i c h gewesen, w i r k l i c h daranzugehen
A W O g e f ä h r d e n . D a m u ß man realpolitisch
und das mal i n die ö f f e n t l i c h e D i s k u s s i o n z u
sein und darf sich nicht Phantasien
bringen".
hinge-
58
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
E i n e weitere Ursache f ü r das fehlende sozi-
viele leitende A W O - F u n k t i o n ä r e , die j a sel-
alanwaltschaftliche Engagement dieser Ver-
ber S P D - F u n k t i o n ä r e sind, und i m R e g e l f a l l
b ä n d e besteht neben strategischen Ü b e r l e g u n -
mehr S P D - F u n k t i o n ä r s m e n t a l i t ä t haben als
gen der Leitungsebene in den weltanschau-
A W O " . Dies bewirkt eine A u s r i c h t u n g an den
lich g e p r ä g t e n Armutsbildern, die bei den A k -
sozialen Problemlagen der S P D - K l i e n t e l . D a
teuren dieser V e r b ä n d e vorherrschen. So wur-
sich die klassische Klientel der S P D aber tra-
de auf der Leitungsebene der D i a k o n i e , die
ditionell aus Arbeitnehmern
im Altersdurchschnitt um etwa 60 Jahre liegt,
stehen i m Mittelpunkt der politischen Forde-
nach Aussage eines Fachreferenten noch Mitte
rungen deren Lebensbedingungen und nicht
der neunziger Jahre mit dem tradierten B e -
die die Frage, ob die S o z i a l h i l f e r e g e l s ä t z e eine
g r i f f von 'absoluter A r m u t ' operiert.
zusammensetzt,
„Die
menschenwürdige Existenz ermöglichen (Lei-
gucken, was in ihrer eigenen Biographie war.
sering 1993: 496). S o rechtfertigt selbst ein
D i e sehen da irgendwelche T r ü m m e r f r a u e n ,
A W O - F a c h r e f e r e n t f ü r A r m u t die N o t w e n d i g -
die abgemagert einen E i m e r Wasser tragen,
keit des Lohnabstandsgebots: „ E s geht nicht
der f ü r die ganze F a m i l i e eine Woche reichen
an, d a ß die R e a l e i n k o m m e n der A r b e i t n e h -
m u ß . E i n e bestimmte Generation nimmt sich
mer sinken und die S o z i a l h i l f e r e g e l s ä t z e real
schmale B e g r i f f l i c h k e i t e n raus, lehnt ab, d a ß
konstant bleiben". Insofern betreibt die A W O
das so oder so bezeichnet w i r d - auch i m
lediglich symbolische Oppositionspolitik, d.h.
Bereich A r m u t - und bringt es dann fertig,
die Regierungspolitik w i r d verbal verurteilt
fast das ganze T h e m a zu negieren". D a m i t ist
und das Problem dramatisiert, ohne die A r -
insbesondere der bis 1994 amtierende P r ä s i -
meninteressen ernsthaft zu vermitteln.
dent der D i a k o n i e gemeint, der etwa in e i nem A r t i k e l konstatierte: „ W e r gerade von e i ner d r e i w ö c h i g e n Reise zu K i r c h e n und 'Brot
f ü r die Welt'-Projekten in O s t a f r i k a z u r ü c k kommt und die A r m u t und das E l e n d so vieler M e n s c h e n vor A u g e n hatte, tut sich schwer,
ü b e r A r m u t und arme M e n s c h e n in der B u n desrepublik Deutschland zu schreiben" ( N e u k a m m 1988: 11). Dementsprechend hatte das
T h e m a ' A r m u t in der Bundesrepublik' nach
Ansicht eines Fachreferenten f ü r den P r ä s i denten keine Priorität und wurde von i h m vernachlässigt.
D e n Fachreferenten dieser V e r b ä n d e bleibt
bislang lediglich das A u s w e i c h e n in die N a tionale Armutskonferenz in der Bundesrepublik Deutschland ( N A K ) . D i e 1991 g e g r ü n dete N A K ist ein nationaler A b l e g e r des eur o p ä i s c h e n Armutsnetzwerkes und eine Institution, in der neben den W o h l f a h r t s v e r b ä n den auch ü b e r r e g i o n a l e Selbst- und F r e m d hilfeorganisationen sowie der D G B M i t g l i e d
sind. D i e N A K kritisiert seit ihrem Bestehen
auch i m Namen und mit U n t e r s t ü t z u n g der
W o h l f a h r t s v e r b ä n d e vehement die S o z i a l p o litik der Bundesregierung und fordert eine
A u c h bei der A W O spielen weltanschaulich
kostenintensive
g e p r ä g t e soziale P r o b l e m b i l d e r eine
( N A K 1993). D a die Delegierten der N A K i n
große
Armutsvermeidungspolitik
R o l l e f ü r die V e r n a c h l ä s s i g u n g des A r m u t s -
der Regel der Fachreferentenebene
themas. T r o t z der formellen U n a b h ä n g i g k e i t
b ä n d e entstammen, k ö n n e n i n fachpolitischen
der Ver-
von der S P D bestehen v i e l f ä l t i g e personelle
Diskursen unter E i n s c h l u ß v o n Fachreferen-
nach A u s k u n f t eines
ten von V e r b ä n d e n , die innerverbandlich eine
Fachreferenten dazu f ü h r t , d a ß auf Leitungs-
eher schwache Stellung einnehmen, Positio-
ebene eher S P D - als A W O - P o s i t i o n e n vertre-
nen entwickelt werden, die ü b e r die Forde-
ten werden. „ D a s P r o b l e m ist, w i r haben j a
rungen
V e r f l e c h t u n g e n , was
der
Einzelverbände
hinausgehen.
59
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
D e m z u f o l g e beschreibt ein Referent der D i a -
derungen - insbesondere
konie die Nationale Armutskonferenz als e i -
der Caritas - relativ g e m ä ß i g t blieben. A u c h
nen „Bypass",
bei den V e r b ä n d e n , die sich armutspolitisch
der an den von der Leitungs-
ebene gemachten Restriktionen vorbei f ü h r t .
i m Armutsbericht
bislang vergleichsweise eher z u r ü c k h i e l t e n ,
spielen strategische Ü b e r l e g u n g e n der Ver-
D i e S t ä r k e der N A K , d a ß viele F a c h k r ä f t e in
bandsleitungen eine g r o ß e R o l l e . A u s R ü c k -
ihr vertreten sind, ist gleichzeitig auch ihre
sichtsnahme
S c h w ä c h e . W ä h r e n d die von verbandsstrate-
auch Steuerzahler
auf Beitrags-, Spendenund aufgrund
oder
gewachse-
gischen und weltanschaulichen Ü b e r l e g u n g e n
ner Verflechtungen mit dem Staat oder mit
g e p r ä g t e n Armutsberichte von den Verbands-
den g r o ß e n Parteien sind dem sozialanwalt-
spitzen letztlich mitgetragen
schaftlichen Engagement
keitswirksam
präsentiert
und ö f f e n t l i c h -
wurden,
sind die
der Wohlfahrtsver-
b ä n d e Grenzen gesetzt.
V e r b ä n d e in der N A K laut einem Verbandsvertreter „ m i t irgendwelchen Leuten von der
Neben diesen strategischen Ü b e r l e g u n g e n der
Basis vertreten, die i m Verband keine richti-
Verbandsleitungen k ö n n e n auch die in den
ge P o w e r haben". Deshalb ist die Ressour-
W o h l f a h r t s v e r b ä n d e n existierenden
cenausstattung und der E i n f l u ß auf die i n -
schauungen - etwa in F o r m dadurch g e p r ä g -
nerverbandlichen D i s k u s s i o n e n , aber auch der
ter Armutsbilder oder auch einer daraus re-
Bekanntheitsgrad
sultierenden E i n g r e n z u n g der K l i e n t e l - die
sowie die Ö f f e n t l i c h k e i t s -
w i r k u n g der N A K relativ begrenzt.
Infolge-
Weltan-
Bereitschaft zur sozialanwaltschaftlichen Ver-
dessen bleibt die A r m u t s p o l i t i k der N A K letzt-
mittlung von Armeninteressen hemmen. Das
lich wirkungsloser als die der einzelnen W o h l -
g r ö ß t e Problem f ü r die F a c h k r ä f t e , die die ar-
f a h r t s v e r b ä n d e . Z u m anderen besteht f ü r die
mutspolitische D i s k u s s i o n s o w o h l in den E i n -
L e i t u n g s k r ä f t e der V e r b ä n d e die M ö g l i c h k e i t ,
z e l v e r b ä n d e n als auch in der N A K m a ß g e b -
i m F a l l e einer u n e r w ü n s c h t e n Z u n a h m e
des
lich voranbringen, liegt darin, d a ß diese e i -
politischen E i n f l u s s e s der N A K ihre D e l i g i e r -
nen relativ geringen direkten
ten abzuberufen oder deren M a n d a t e i n z u -
verbandspolitischen Entscheidungen
schränken.
k ö n n e n , die letztendlich auf der Leitungsebe-
E i n f l u ß auf die
nehmen
ne getroffen werden. D i e F a c h k r ä f t e haben
5
nur dann Chancen sich durchzusetzen, wenn
Fazit und Ausblick
entweder die P r ä s i d e n t e n und die G e s c h ä f t s In der A n a l y s e der Interessen, Ziele und Stra-
f ü h r e r es f ü r sinnvoll erachten, die Sozialan-
tegien der verschiedenen
verbandlichen A k -
waltsrolle zu stärken, oder wenn sie in der
wurde deutlich, d a ß die Ver-
Lage sind, den innerverbandlichen D r u c k der-
der Caritas und des Paritäti-
artig zu v e r s t ä r k e n , d a ß sich die L e i t u n g s -
teursgruppen
bandsieitungen
schen Wohlfahrtsverbandes
mutsberichten
mit eigenen A r -
an die Ö f f e n t l i c h k e i t gegan-
k r ä f t e ihren Forderungen nicht entziehen k ö n nen.
gen sind, um dem innerverbandlichen D r u c k
durch M i t g l i e d s v e r b ä n d e und F a c h k r ä f t e zu
Was
begegnen und um das Image der V e r b ä n d e in
schaftlicher Interessenvermittlung
der Ö f f e n t l i c h k e i t z u verbessern.
Gleichzei-
wurde der G i p f e l des armutspolitischen E n -
tig durfte die Tragweite armutspolitischer For-
gagements zumindest i m F a l l e des Paritäti-
die
Zukunftsaussichten
sozialanwaltbetrifft, so
derungen das kooperative Verhältnis zur R e -
schen mit der V e r ö f f e n t l i c h u n g des A r m u t s -
gierung nicht g e f ä h r d e n , weswegen diese F o r -
berichtes
1994 erreicht. D i e Verbandsstrate-
60
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
gen hegen inzwischen die B e f ü r c h t u n g , d a ß
A b s c h l i e ß e n d ist zu fragen, ob eine Verstär-
sich die einseitige A u s r i c h t u n g auf die A r -
kung der sozialanwaltschaftlichen Interessen-
mutsproblematik nachteilig auf das Verbands-
vermittlung durch
image auswirken k ö n n t e . D e r Verband m ü s s e
aus der S i c h t der B e t r o f f e n e n eher positiv
zur
oder negativ zu beurteilen ist.
A u f r e c h t e r h a l t u n g eines
nach A u s s a g e des
Positivimages
zuständigen
die
Wohlfahrtsverbände
Referenten
„ s e h r d e u t l i c h aufpassen, d a ß unser P r o f i l
D i e Armutsberichte der W o h l f a h r t s v e r b ä n d e
nicht z u einseitig w i r d , d a ß w i r nachher nicht
stellen einen
zu
sozialpolitisches P r o b l e m ü b e r h a u p t i n der
e i n s e i t i g als A r m u t s v e r b a n d
dastehen."
denkbaren W e g dar, A r m u t als
Deshalb versuche der P a r i t ä t i s c h e , sich aus
politischen Ö f f e n t l i c h k e i t zu
„rein strategischen Ü b e r l e g u n g e n , die man in
D a weder eine e i n f l u ß r e i c h e Selbstorganisa-
der Ö f f e n t l i c h k e i t s a r b e i t anstellt", auch in an-
tion von A r m e n existiert n o c h der politische
deren Politikbereichen wieder zu engagieren.
W i l l e auf Seiten der Bundesregierung, sich
A u s diesem G r u n d w i r d aller Voraussicht nach
mit dem Armutsthema z u b e s c h ä f t i g e n , vor-
kein weiterer Armutsbericht erscheinen.
thematisieren.
handen ist, w ä r e das Wissen der politischen
Ö f f e n t l i c h k e i t ü b e r die A r m u t s p r o b l e m a t i k
Dagegen
scheinen
insgesamt
verstärkt auf politischen K o n f l i k t -
die
Wohlfahrtsverbände
ohne die mit g r o ß e m finanziellen A u f w a n d
erstellten Armutsberichte noch geringer.
kurs zur Bundesregierung zu gehen. So ist
bei der D i a k o n i e seit M i t t e der neunziger Jah-
Andererseits werden die Armeninteressen von
re eine politische Neuorientierung zu ver-
den S o z i a l a n w ä l t e n h ä u f i g f ü r verbandspoli-
zeichnen. M i t dem Personalwechsel an der
tische Z i e l e instrumentalisiert, gefiltert und
Spitze der D i a k o n i e i m Herbst 1994 ist of-
damit nicht authentisch vertreten, so d a ß sich
f e n s i c h t l i c h ein
die Z i e l e der Betroffenen nicht notwendiger-
Wandel der A r m u t s b i l d e r
m ö g l i c h und ein innerverbandlicher D i s k u s -
weise mit denen der S o z i a l a n w ä l t e decken.
s i o n s p r o z e ß ü b e r das T h e m a in G a n g gesetzt
Dies hat mehrere problematische Konsequen-
w o r d e n . E i n Positionspapier
zen:
des
Diakoni-
schen Werkes der E K D zur Weiterentwick(Diakonisches
1) D i e Skandalisierung des Armutsthemas i n
W e r k 1995) kritisiert nicht nur die R e g i e -
lung
des
Sozialhilferechtes
den älteren Armutsberichten der Wohlfahrts-
rungskoalition, sondern fordert d a r ü b e r hin-
v e r b ä n d e - dem der Caritas 1987 und dem
aus eine umfassende N o v e l l i e r u n g sowohl des
des P a r i t ä t i s c h e n 1989 - wurde in den aktu-
B S H G als auch der vorgelagerten Sicherungs-
elleren
systeme. A u c h der „ z u n e h m e n d e S o z i a l a b -
Hanesch 1994) durch eine eher n ü c h t e r n e B e -
bau"
wird
öffentlich
kritisiert
(SZ
Berichten
(Hauser/Hübinger
1993;
vom
richterstattung ersetzt. Z u fragen ist aber, w e l -
16.10.1996: 5). D i e anderen V e r b ä n d e gehen
che F o l g e n die neuen F o r m e n des Umgangs
ebenfalls entschiedener in die O f f e n s i v e . W i e
mit dem A r m u t s p r o b l e m f ü r die Betroffenen
sich an der Teilnahme der W o h l f a h r t s v e r b ä n -
haben werden. K ö n n t e eine Dramatisierung
de am „ S o z i a l g i p f e l " i m Jahr 1996 ( S Z v o m
und pointierte Z u s p i t z u n g des A r m u t s p r o -
9.5.1996) oder an dem geplanten „ B e s c h ä f t i -
blems
gungsgipfel"
( L e i b f r i e d et al. 1995: 344)?
im
April
1997
(SZ
vom
den
B e t r o f f e n e n nicht
eher
helfen
7.1.1997) zeigt, w i r d in diesem Z u s a m m e n hang auch die Zusammenarbeit mit den G e -
2) D i e Tragweite der sozialpolitischen F o r -
werkschaften
derungen der W o h l f a h r t s v e r b ä n d e ist durch
intensiviert.
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
verbandspolitische
Eigeninteressen
einge-
61
Anmerkungen
s c h r ä n k t und orientiert sich nicht an den P o sitionen der S e l b s t h i l f e i n i t i a t i v e n . W ä h r e n d
' Die empirische Basis beruht auf der Auswertung
von einschlägigen Materialien der Verbände sowie auf Experteninterviews, die im Jahr 1994 mit
zialhilfeinitiativen ein Existenzgeld von rund
1200 D M ohne Z w a n g zur A r b e i t fordert Fachreferenten und Vorstandsmitgliedern der Bun( B A G S H I 1992: 3), sind etwa die Forderun- des- und Landesverbände geführt wurden.
Zentrale Aktivitäten der Caritas stellen der A r gen der Caritas bescheidener: D e r A r b e i t s mutsbericht der Diözese Münster im Jahr 1987 (Caz w a n g w i r d aufrechterhalten, das geforderte
ritasverband f ü r die Diözese Münster 1987) und
N i v e a u des E x i s t e n z m i n i m u m s orientiert sich
die Armutsuntersuchung „Arme unter uns" (Hauan der bestehenden S o z i a l h i l f e s c h w e l l e . W i e
ser/Hübinger 1993) dar. B e i m Paritätischen W o h l aber k a n n sich die Lebenslage der A r m e n ä n fahrtsverband sind insbesondere die Armutsunterdern, w e n n die armutspolitischen Forderun- suchung aus dem Jahr 1989 ( B l d W 11+12/1989)
gen der Caritas derart g e m ä ß i g t ausfallen?
und der gemeinsam mit dem D G B erstellte A r mutsbericht „Armut in Deutschland" (Hanesch
1994) zu nennen.
3) S c h l i e ß l i c h stellen die W o h l f a h r t s v e r b ä n de die B e t r o f f e n e n in der R e g e l pauschal als ' Die im Text aufgeführten Zitate ohne Quellenaneinen marginalisierten und kaum handlungs- gabe stellen (anonymisierte) Interviewaussagen von
Verbandsvertretern dar.
f ä h i g e n T e i l der B e v ö l k e r u n g dar. E s stellt
z . B . die Bundesarbeitsgemeinschaft der So-
2
sich j e d o c h die Frage, ob dieses von den Verb ä n d e n nach a u ß e n vermittelte B i l d mit der
R e a l i t ä t ü b e r e i n s t i m m t und ob nicht auch
A r m e g r u n d s ä t z l i c h politisch h a n d l u n g s f ä h i g
sein k ö n n e n (Leisering 1994: 289). Wenn dies
der F a l l sein sollte, erscheint es n ö t i g , verstärkt ü b e r M ö g l i c h k e i t e n nachzudenken, wie
sich A r m e - m ö g l i c h e r w e i s e unter tätiger M i t h i l f e v o n S o z i a l a n w ä l t e n w i e den Wohlfahrtsv e r b ä n d e n - selbst
organisieren und artiku-
lieren k ö n n e n , ohne d a ß sie sich i m Interessengeflecht der W o h l f a h r t s v e r b ä n d e verstrikken und f ü r verbandspolitische Z i e l e instrumentalisiert werden.
Stefan
Pabst
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FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
Friedhelm Wolski-Prenger
Marginalität und Widerstand
ladt
Mobilisierungsprobleme der Arbeitslosenbewegung
1
Apathie oderGegenwehr?
•
Evident ist, d a ß trotz mehr als vier M i l l i o nen arbeitsloser M ä n n e r und (vor allem)
Dauerarbeitslose
Frauen i m vereinten Deutschland von einer
(arbeitsamtlich: 'Langzeitarbeitslose') zusam-
Massenbewegung nicht die Rede sein kann.'
F ü r die S o z i o l o g i e gelten
men mit Obdachlosen, A u s l ä n d e r n und A r men als A n g e h ö r i g e der Randschichten der
•
D e n n o c h findet eine A r t 'Arbeitslosenbe-
Arbeitsgesellschaft ( G e i ß l e r 1992: 165). Sie
wegung' statt, die neben Frustrationen auch
werden zu einer e i g e n s t ä n d i g e n Problemgrup-
Erfolge
pe definiert oder als neu entstehende soziale
stimmten Voraussetzungen z u k ü n f t i g zu er-
Schicht (Kronauer et al. 1993). N o c h wirkt
warten hat.
zu
verzeichnen
und
unter
be-
offenbar das D i k t u m von Claus O f f e (1973:
146f) nach, d e m z u f o l g e Arbeitslose als so-
Warum nur eine Minderheit von Arbeitslosen
ziale G r u p p e - wie K r i m i n e l l e oder 'Geistes-
an
kranke' - nicht k o n f l i k t f ä h i g sind. A l i W a k -
nimmt, welche Bedeutung den diversen R a h -
ker, S o z i a l p s y c h o l o g e und P i o n i e r der neue-
menbedingungen zukommen, ob interne (or-
ren deutschen
kollektiven
Widerstandsaktionen
teil-
A r b e i t s l o s e n f o r s c h u n g , geht
ganisatorische, ideologische, strategische) D i f -
noch weiter: E r hält die Arbeitslosen nicht
ferenzen eine Mobilisierung der Arbeitslosen-
einmal f ü r politisch o r g a n i s a t i o n s f ä h i g (Wak-
bewegung behindern und unter welchen Vor-
ker 1987: 80).
aussetzungen Arbeitslose stärker z u m Subjekt
sozialer Auseinandersetzungen
G a n z anders die E i n s c h ä t z u n g zweier 'Insi-
werden k ö n -
nen, soll in diesem Beitrag diskutiert werden.
der' der 'Arbeitslosenbewegung', denen z u folge bei den Dauerarbeitslosen geradezu ein
2
Fraktionierung
u n e r s c h ö p f l i c h e s Widerstandspotential zu finden sei: „In unserer Untersuchung soll der
Z u r E i n f ü h r u n g z u n ä c h s t drei D e f i n i t i o n s s k i z -
N a c h w e i s g e f ü h r t werden, d a ß in der G e -
zen:
2
schichte w i e in der Gegenwart Erwerbslose
eine bedeutende R o l l e in der gesellschaftli-
•
'Arbeitslosenbewegung':
Darunter werden
chen Auseinandersetzung mit dem sozialen
sehr heterogene B e m ü h u n g e n
Status der Erwerbslosigkeit spielen und spiel-
u m zu kollektiven Strategien der B e w ä l t i -
ten" (Rein/Scherer 1993: 6).
gung
der
verstanden,
A r b e i t s l o s i g k e i t zu
gelangen.
H i e r z u z ä h l e n advokatorische ArbeitslosenB e i d e angedeutete P o s i t i o n e n treffen k a u m
projekte
die R e a l i t ä t , w i e vorerst zwei einfache Fak-
selbstorganisierte Z u s a m m e n s c h l ü s s e B e -
ten
troffener sowie F o r m e n der Ö f f e n t l i c h -
nahelegen:
paternalistischer
Provenienz,
Ü5
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
7
keitsarbeit z u Ursachen und K o n s e q u e n zen von A r b e i t s l o s i g k e i t .
3
Z u n ä c h s t und 'stilbildend' organisierte die Industrie- und Sozialarbeit der evangelischen
K i r c h e in der alten Bundesrepublik ab M i t t e
•
'Arbeitslosenprojekte'
( A L P ) ist ein S a m -
der siebziger Jahre die A L P , u m die
'ersten
m e l b e g r i f f f ü r Arbeitslosenzentren ( A L Z :
O p f e r des Arbeitsmarktes' sozial zu betreuen
hauptamtliche Mitarbeiterinnen, feste Z e i -
und politisch-advokatorisch z u vertreten.
ten, Angebotsstruktur), Arbeitslosentreffs
( A L T : e i n g e s c h r ä n k t e s Angebot, teilprofes-
M i t kritischer A t t i t ü d e g e g e n ü b e r diesen als
sionalisiert) sowie Arbeitsloseninitiativen
paternalistisch wahrgenommenen k i r c h l i c h e n
( A L I : ü b e r w i e g e n d Selbstorganisation B e -
B e m ü h u n g e n entstanden ab etwa 1980 unab-
troffener) u n d
Arbeitslosenberatungsstel-
h ä n g i g e , g r o ß e n t e i l s politisch motivierte A L P ,
len ( A L B : ü b e r w i e g e n d in den neuen B u n -
die zunehmend einen eigenen D i s k u s s i o n s -
d e s l ä n d e r n ) (Wolski-Prenger 1989: 24ff).
zusammenhang neben der evangelisch-kirchlichen ' R i c h t u n g ' etablierten.
•
'Arbeitslosenarbeit'
w i r d i n A L P , aber auch
in G e w e r k s c h a f t e n sowie publizistisch ge-
A l s dritte ' R i c h t u n g ' kamen ab den f r ü h e n
leistet. D i e semantische Paradoxie des B e -
achtziger
g r i f f e s spiegelt seine B e d e u t u n g s v i e l f a l t
A L P dazu, die nicht von den Gewerkschafts-
wider. D i e U r s p r ü n g e der Arbeitslosenar-
f ü h r u n g e n initiiert waren, sondern s i c h als
Jahren
die
'gewerkschaftlichen'
beit' finden sich in der sozialen A r b e i t ( B e -
B a s i s i n i t i a t i v e n der massenhaft
treuung, B i l d u n g und Beratung), dem ge-
ten', g e w e r k s c h a f t l i c h sozialisierten B e t r o f -
werkschaftlichen M i l i e u und bei politisch
fenen organisierten.
z i e l m o t i v i e r t e n Selbstorganisationen
'freigesetz-
von
Arbeitslosen, die versuchen, andere B e t r o f -
D e r vierte Z u s a m m e n h a n g entstand
fene f ü r deren Interessen zu mobilisieren
neuen B u n d e s l ä n d e r n und kann als 'verband-
(Wolski-Prenger/Rothardt 1996).
i n den
l i c h ' apostrophiert werden. M i t der e x p l o d i e renden Vereinigungsarbeitslosigkeit entstand
K u r z g e f a ß t und entsprechend
generalisiert
hieraus
der
'Arbeitslosenverband D e u t s c h -
entwickelte sich die derzeitige 'Arbeitslosen-
l a n d ' ( A L V ) ( W o l s k i - P r e n g e r 1991; G r e h n
bewegung' aus vier relevanten U r s p r ü n g e n :
1996), der sich als o r i g i n ä r e Interessenver-
Tabelle: Grobstruktur der Arbeitslosenbewegun g nach ' R i c h t u n g e n '
Richtung
kirchlich
Initiator
Als Angebot von
unabhängig
Arbeitslose
kirchlichen Stellen
Uberwiegend
verbandlich
Eigen-
organisiert
u.a.
lich Organisierter
uberwiegend
zunächst ohne
nalisierung
professionelle
soziale Arbeit
hauptamtliche
Ziele
Bildung
professionell
differenziert
Arbeit
Arbeit und
Zweiter Arbeits-
Leben in der
markt
Arbeitslosigkeit
Soziale Arbeit
Politik
Recht auf Arbeit
Einkommen
Beratung
gewerkschaftsund sozialpolitisch
Q u e l l e : Wolski-Prenger 1996a: 21.
ALV
initiative gewerkschaft-
Professio-
Methoden
gewerkschaftlich
Beratung
65
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG, 10, HEFT 2, 1997
tretung der ' a b g e w i c k e l t e n ' B ü r g e r i n n e n in
Relativ erfolglos verlief die a n f ä n g l i c h e A p -
den neuen B u n d e s l ä n d e r n versteht.
pellation an die hauptverantwortliche
Bun-
desebene. Dagegen verzeichnet die A r b e i t s -
2.1 Arbeitslosenarbeit
losenbewegung auf Landes- und v o r a l l e m
D i e Z i e l e der derzeit etwa l .500 A L P resul-
ter) E r f o l g e . In vielen Städten wurden ' A r -
tieren aus den Belastungen, denen sich A r -
b e i t s l o s e n p ä s s e ' e i n g e f ü h r t , die k o m m u n a l e
beitslose ausgesetzt sehen. Miteinander z u -
V e r g ü n s t i g u n g e n z . B . i m ö f f e n t l i c h e n Perso-
auf lokaler Ebene eine Reihe (oft u n t e r s c h ä t z -
s a m m e n h ä n g e n d sind diese Belastungen f i -
nennahverkehr e r m ö g l i c h t e n . A u c h die E i n -
nanziell/materiell, psychisch und sozial. P o -
richtung von A L Z mit kommunalen M i t t e l n ,
litisch gewollt steigert sich die materielle U n -
oft in Verbindung mit Personalfinanzierungen,
terversorgung
kann als E r f o l g i n dieser Hinsicht gewertet
mit zunehmender
D a u e r der
Arbeitslosigkeit. Psychische Belastungen kor-
werden.
respondieren vor allem mit dem verbreiteten
Selbstverschuldenssyndrom; soziale Belastun-
A u s der Einsicht, d a ß viele Betroffene i n f o l -
gen ergeben sich aus der verbreiteten und poli-
ge ihrer marginalisierten Situation nicht i n
tisch genutzten Schuldzuweisung an die Betrof-
der L a g e sind, sich kollektiv f ü r ihre Interes-
fenen ('blaming the v i c t i m ' ; Kieselbach 1996).
sen einzusetzen, ergab sich die Beratung als
zentrale Methode der Arbeitslosenarbeit. N a -
Gegen die Unterversorgung der Lebenslage
hezu alle A L P beraten (ehrenamtlich oder pro-
von Arbeitslosen richtet sich von B e g i n n an
fessionell) Arbeitslose in sozialrechtlicher und
politischer Protest der Arbeitslosenbewegung,
psychosozialer Hinsicht. So kann 'Beratung'
wobei das gesamte Instrumentarium
als zentrale Kategorie der Arbeitslosenarbeit
politi-
scher A r b e i t eingesetzt wurde und wird. L e i -
gesehen
tende A u s g a n g s ü b e r l e g u n g war dabei, die In-
Schaubild, das d a r ü b e r hinaus weitere M e -
werden,
w i e auch
im folgenden
d i v i d u a l i s i e r u n g der A r b e i t s l o s i g k e i t s e r f a h -
thoden zumindest i n Stichworten andeutet.
rung zu ü b e r w i n d e n .
Schaubild: M o d e l l integrativer Arbeitslosenarbeit
B i ldu ngsarbeit/Seminare
offener Bereich
Öffentlichkeitsarbeit
Gruppenarbeit
Training und Basisqualifikationen
soziale Begleitung
bei Arbeitssuche und
Arbeitsaufnahme
politische Arbeit
Familienberatung
Drogenberatung
Psychotherapie
Schuldnerberatung u.a.m.
Gewerkschaft
(Rechtsschutz)
Quelle: Wolski-Prenger/Rothardt 1996: 139.
Erstellung individueller
Förderkonzepte
Sozialamt
Arbeitsamt
andere Behörden
m
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
2.2 Vernetzung?
durch
erneute A b g r e n z u n g s v e r s u c h e
schlicht
G r u n d s ä t z l i c h unterscheidet
sich die M e t h o -
wechselseitiges
Desinteresse
oder
ge-
kennzeichnet.
dik der Arbeitslosenarbeit zwar nicht in A b h ä n g i g k e i t von den verschiedenen R i c h t u n -
D a ß i m Verlaufe der letzten Jahre diese A n -
gen,
unterschiedliche
sätze wieder i m Sande verliefen, hat eine R e i -
Schwerpunkte ausmachen. D i e in den letzten
he von Ursachen, die sich zumeist an den je-
es
Jahren
lassen
sich
aber
verstärkt aufkommende
katholische
weiligen
Schwerpunkten
der
'Richtungen'
Arbeitslosenarbeit (Wienen/Wustmanns 1996)
festmachen lassen. So konnte die
ist eher paternalistisch-advokatorisch
ausge-
schaftliche' A L P innergewerkschaftlich argu-
richtet und die (vergleichsweise wenigen) au-
mentativ an B o d e n gewinnen, was vor allem
t o n o m - u n a b h ä n g i g e n A L P betonen eher den
an der Arbeitsmarktkatastrophe i m Beitritts-
A n s p r u c h auf Selbstbestimmung.
4
'gewerk-
V i e l e 'ge-
gebiet liegt. Z u n e h m e n d setzte sich i n den
(gewerk-
gewerkschaftlichen F ü h r u n g s g r e m i e n - nicht
schafts-)politische Arbeit stärker in den Vor-
zuletzt bei der m ä c h t i g e n I G M e t a l l - die E i n -
dergrund als eine Reihe von A L V oder A L B ,
sicht durch, d a ß Arbeitslosenarbeit v e r s t ä r k t
w e r k s c h a f t l i c h e ' A L P stellen die
die aus der B e d ü r f n i s l a g e heraus die sozial-
notwendig und f ö r d e r u n g s w ü r d i g ist (Beier
rechtliche Beratungsarbeit
et al. 1993).
betonen.
E i n e solche B i l a n z läßt erwarten, d a ß es eine
D e r gleichzeitige tendenzielle R ü c k z u g
Bereitschaft zur Kooperation und Zielabspra-
der B A G Arbeit r ü h r t e aber auch von anti-
aus
che z w i s c h e n den verschiedenen ' R i c h t u n -
g e w e r k s c h a f t l i c h e n Ressentiments
gen' gibt, die auch i m A n s c h l u ß an die ange-
a n f ä n g l i c h beim A L V und bei R e p r ä s e n t a n -
sprochene
als
ten der ' u n a b h ä n g i g e n ' R i c h t u n g z u m A u s -
eine Phase der A n n ä h e r u n g und Z u s a m m e n -
druck kamen. D a sich auch der A L V stärker
Gründungsphase
tatsächlich
her,
die
arbeit zu bewerten ist (Wolski-Prenger 1993:
auf die K o n s o l i d i e r u n g seiner A L P und auf
132ff).
die Verbesserung seines Verhältnisses z u den
Gewerkschaften b e s c h r ä n k t , 'vernetzen'
In der a n s c h l i e ß e n d e n Konsolidierungsphase
die
B A G zur Zeit i m wesentlichen etwa 30 bis 40
konzentrierte sich die Kooperation der ' R i c h -
' u n a b h ä n g i g e ' A L P . Entsprechend e i n f l u ß l o s
tungen'
ist die B A G in der ö f f e n t l i c h e n Vertretung der
auf die sukzessive enger
werdende
'Bundesarbeitsgrup-
Arbeitsloseninteressen, da von den
Medien
pen der Intiativen gegen Arbeitslosigkeit und
eher der A L V als Ansprechpartner
gesucht
A r m u t ' ( B A G 1996). V o r allem nach der deut-
wird.
Zusammenarbeit in den
5
schen Vereinigung und dem rasch expandierenden A L V gab es in der B A G weitere E i n i -
A u c h die anderen 'Richtungen' betreiben je-
gungsversuche,
weils isoliert erfolgreich die interne Vernet-
an denen - trotz erheblicher
Milieuunterschiede - neben dem A L V die un-
zung.
a b h ä n g i g e und die ' g e w e r k s c h a f t l i c h e ' R i c h -
R i c h t u n g die 'Koordinierungsstelle gewerk-
So erzielen in
'gewerkschaftlicher'
tung beteiligt waren. S o v e r s t ä n d i g t e man
schaftlicher A r b e i t s l o s e n g r u p p e n ' , die
sich auf das s o z i a l p o l i t i s c h e K o n z e p t des
chen mit einer Reihe von K o o r d i n i e r u n g s z u -
' E x i s t e n z g e l d e s ' , eine Variation des
garan-
Kir-
s a m m e n h ä n g e n und der A L V mit seinem B u n -
tierten G r u n d e i n k o m m e n s ( B A G 1993). D i e
desvorstand
aktuelle E n t w i c k l u n g dagegen ist allerdings
neuen B u n d e s l ä n d e r n erhebliche
und L a n d e s v o r s t ä n d e n
i n den
Fortsehnt-
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
67
te. F ü r die ' u n a b h ä n g i g e ' R i c h t u n g ist m o -
folgreiche gesellschaftliche Auseinanderset-
mentan die B A G A r b e i t als Vernetzungszu-
zung.
sammenhang
attraktiv.
Zur
3
ZukunftderArbeitslosenbewegung
A n a l y s e der Ausgangssituation
gehört
aber auch, d a ß nicht nur die Arbeitslosen negativ von Arbeitslosigkeit betroffen sind. So
M i t ihren E r f o l g e n geht die Arbeitslosenbe-
haben alle a b h ä n g i g B e s c h ä f t i g t e n e r h ö h t e
wegung insofern f a h r l ä s s i g um, als d a ß sie
Sozialabgaben z u leisten, u m die Arbeitslo-
diese eher f ü r sich b e h ä l t , statt offensiv dar-
sigkeit zu finanzieren. D i e s w i r d i m R a h m e n
auf zu verweisen. Volker M o s c h k a u betont in
der 'Sozialschmarotzer'-Debatte auch immer
seiner E r ö f f n u n g s r e d e z u m 2. B U K O zu Recht:
gegen die Betroffenen a n g e f ü h r t . Z u d e m ha-
„Ohne
Erwerbslosenbewe-
ben viele B e s c h ä f t i g t e angesichts des drohen-
gung w ä r e es um einiges dunkler, kälter und
den Arbeitsplatzverlustes unter Existenzangst
unsozialer in dieser R e p u b l i k ! " ( M o s c h k a u
zu leiden.
unsere
'kleine'
1988: 21) Viele Arbeitslose haben durch ihr
Engagement, durch E r f o l g e i m Ä m t e r k a m p f ,
A u c h die Gewerkschaften sind offensichtlich
durch bewegungsvermittelte
von der Arbeitslosigkeit betroffen. Indem z u -
soziale Kontak-
te u.ä. Selbstvertrauen und damit die F ä h i g -
nehmend
keit z u m W i d e r s t a n d z u r ü c k g e w o n n e n . D a -
von
qualifizierte
Arbeitnehmerinnen
der A r b e i t s m a r k t k r i s e betroffen sind,
bei wurden umso bessere Ergebnisse erzielt,
schwindet die Durchsetzungsmacht
je weniger auf klassische sozialarbeiterische
beitnehmervertretung,
Klientenbeziehungen gesetzt wurde. D i e E x i -
der - ein E r f o l g auch der 'gewerkschaftlichen'
stenz von A L P bedeutet f ü r sich bereits ein
A L P - sich nun auch i m neuen D G B - G r u n d -
Politikum.
satzprogramm
widerspiegelt.
F ü r eine politisch-soziale B e w e g u n g f r e i l i c h
T r e f f e n diese
sicher u n v o l l s t ä n d i g e n
sind solche Resultate notwendige, aber nicht
g a n g s ü b e r l e g u n g e n ansatzweise z u / ' dann er-
hinreichende Bedingungen. Wenn die A r b e i t s -
gibt sich die Strategie der Arbeitslosenbewe-
losenbewegung
gung nahezu von selbst: So ist die erfolgrei-
zukünftig
gesellschaftlich
ein
der A r -
Zusammenhang,
Aus-
w i r k u n g s m ä c h t i g e r werden w i l l , m u ß aus e i -
che (und s t ä r k e r z u propagierende)
ner realistischen A n a l y s e der eigenen L a g e
grationsarbeit fortzusetzen und zu intensivie-
und der s o z i o ö k o n o m i s c h e n Situation ein u m -
ren. Q u a l i f i z i e r t e Arbeitslosenarbeit ist dabei
s e t z u n g s f ä h i g e s Konzept entwickelt werden.
die Basis, auch politisch e i n f l u ß r e i c h e r agie-
Dabei m u ß davon ausgegangen
werden, d a ß
ren zu k ö n n e n . Des weiteren sind erneute B e -
die M a s s e n - und Dauerarbeitslosigkeit z u m i n -
m ü h u n g e n der Vernetzung erforderlich. D i e -
dest mittelfristig anhalten w i r d . H i n z u k o m m t
se zielt auf eine erneute A n n ä h e r u n g
die E r f a h r u n g der Arbeitslosen, d a ß es f ü r die
'Richtungen' untereinander und auf eine neue
Mehrheit der Gesellschaft funktional ist, i h -
B ü n d n i s p o l i t i k , z u der unter bestimmten Vor-
nen die Verantwortung f ü r ihre eigene A r -
aussetzungen
beitslosigkeit zuzuweisen und damit die Ver-
vante Teile davon bereit w ä r e n .
Reinte-
der
die Gewerkschaften oder rele-
schlechterung der materiellen Existenzbedingungen zu legitimieren. Das bedeutet eine
Außerdem
materielle und soziale M a r g i n a l i s i e r u n g so-
anstreben, ein e i g e n s t ä n d i g e r Faktor - neben
wie schlechtere Voraussetzungen f ü r eine er-
den Gewerkschaften, sozial engagierten C h r i -
m u ß die Arbeitslosenbewegung
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
sten, W o h l f a h r t s v e r b ä n d e n und l i n k e n Par-
Im Jahre 1983, i n den ersten M o n a t e n nach
teien -
i m entstehenden gesellschaftlichen
dem 1. B u n d e s k o n g r e ß , verdoppelte sich die
B ü n d n i s gegen A r b e i t s l o s i g k e i t z u werden.
Z a h l der Arbeitslosenprojekte. A l s I n i t i a l z ü n -
Dabei ist eine einseitige Orientierung auf die
dung wirkte allein die ö f f e n t l i c h e W o r t m e l -
(sicher nicht g r u n d s ä t z l i c h
auszugrenzende)
dung der Arbeitslosenbewegung. E i n solches
P D S ebenso s c h ä d l i c h wie ein sozialrevolu-
Fanal w ä r e dringend z u wiederholen, um die
t i o n ä r e r Illusionismus, der sich bei einigen
Widerstandspotentiale
R e p r ä s e n t a n t e n der ' u n a b h ä n g i g e n ' Richtung,
freizusetzen.
der M a r g i n a l i s i e r t e n
aktuell bei den B A G - S p r e c h e r n , verbreitet.
Friedhelm
Wolski-Prenger,
Sozialwissen-
F ü r eine realistische B ü n d n i s s t r a t e g i e haben
schaftler und P ä d a g o g e , war 1980 M i t b e g r ü n -
die A L P dort besonders gute Voraussetzun-
der der Paderborner Initiative gegen A r b e i t s -
gen, w o sie nach wie vor am erfolgreichsten
losigkeit ( P I G A L ) .
sind: auf der lokalen Ebene. D o r t sind die
' N e t z w e r k e gegen A r m u t und A r b e i t s l o s i g keit' auszubauen
oder anzustreben
Anmerkungen
(Wolski-
Prenger/Rothardt 1996: 2 2 0 f f ) . A b e r auch auf
der Bundesebene kann - insbesondere
hin-
sichtlich relevanter M e d i e n w i r k u n g e n -
die
A r b e i t wesentlich effektiviert werden.
' In der Weimarer Republik gab es dagegen massenhafte Protestaktionen Erwerbsloser (Huber-Koller 1992); zur Arbeitslosenbewegung in den U S A
(Mattick 1969) und in Großbritannien (Gallas
1994).
In diesem Beitrag werden 'Arbeitslosigkeit' und
entsprechende Komposita gegenüber dem Begriff
'Erwerbslosigkeit' präferiert, da die Lebenslage der
Betroffenen nicht nur durch Geldmangel, sondern
auch (psycho-)sozialen Belastungen durch die Ausgrenzung aus der Arbeitsgesellschaft bestimmt wird
(Wolski-Prenger 1996a: 9ff).
2
D e r erste B u n d e s k o n g r e ß der A r b e i t s l o s e n projekte war 1982 i n F r a n k f u r t / M . , der z w e i te B U K O fand 1988 in D ü s s e l d o r f statt. W ä r e
es nicht an der Zeit, einen dritten Bundeskongreß
der A r b e i t s l o s e n z u
organisieren,
vorzugsweise in den neuen B u n d e s l ä n d e r n ?
3
Aufzuarbeiten w ä r e n die Erfahrungen der Vereinigung, die S c h w ä c h e n und Skrupellosigkeiten der neoliberalen Ideologie wie der realkapitalistischen Praxis, die Herausforderung der
e u r o p ä i s c h e n Integration und damit zusammenh ä n g e n d ein A u s b a u der internationalen K o n takte (Grehn 1996: 77ff). Vor allem w ä r e darü b e r zu sprechen, ob der erneute Versuch der
Zusammenarbeit i m Rahmen einer erneuerten
- auch institutionell abgesicherten -
Bündnis-
politik z u g r ö ß e r e r Bedeutung in den gesellschaftlichen
Auseinandersetzungen
führen
kann. E i n e fortdauernde Fraktionierung der A r beitslosenbewegung bedeutet, den Status quo,
in dem sich viele Protagonisten
eingerichtet
haben, f ü r das m a x i m a l Erreichbare zu halten.
Anders als Rein/Scherer (1993) kann ich nicht
sehen, daß individuelle Überlebensstrategien oder
'Sozialstaatsüberlistung' Elemente der Arbeitslosenbewegung sind. Vielmehr liegt nahe, solche Verhaltensweisen als Zuordnungskriterien zu einer neuen sozialen Schicht - die sich gerade durch die
'Annahme' der zugewiesenen Rolle konstitutiert zu sehen (Kronaueret al. 1993).
Dieser Anspruch wäre m.E. aber auch gründlich
zu hinterfragen.
Nennenswerten Einfluß kann das BAG-Sprechergremium lediglich i m (sozialpolitischen) Zusammenhang der Armutskonferenz verbuchen.
Differenzierter untersucht die Ausgangsbedingungen zukünftiger Arbeitslosenbewegung Gallas
1994; Gallas 1996; W o l f 1991.
4
5
6
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der Initiativen gegen
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Dieter 1996:
Soziale Arbeit mit Arbeitslosen. Beratung, Bildung,
Selbstorganisation. Beltz: Weinheim/Basel.
EL
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1 9 9 7
Harald Rein
fi
Wir kämpfen um das,
was wir brauchen'
1
Stand und Perspektiven des Erwerbslosenprotests
„ E s gibt viele g r o ß e und gute Bewegungen.
ßen bundesweiten Z u s a m m e n s c h l ü s s e i m E r -
E s gibt soziale Bewegungen, es gibt die F r i e -
werbslosenbereich, die Bundesarbeitsgruppen
densbewegung, Ö k o l o g i e b e w e g u n g , S c h ü l e r -
der Initiativen gegen Arbeitslosigkeit und A r -
und Studentenbewegung:
mut, die Koordinierungsstelle gewerkschaft-
Jetzt gibt es auch
eine Arbeitslosenbewegung!" (1. B u n d e s k o n -
licher Arbeitslosengruppen und der A r b e i t s -
g r e ß 1983: 14)
losenverband i m Osten Deutschlands arbeiten seit l ä n g e r e m k o n t i n u i e r l i c h zusammen.
D i e s e r etwas euphorisch ausgerufene Satz
Resultat dieser gemeinsamen A k t i v i t ä t e n w a -
stammt v o m 1. B u n d e s k o n g r e ß der A r b e i t s -
ren bisher die selbstorganisierte
losen, der 1982 i n Frankfurt stattfand. E r ent-
tion gegen S o z i a l l e i s t u n g s k ü r z u n g e n i n B o n n
sprach der d a m a l i g e n A u f b r u c h s s t i m m u n g ;
am 4.11.1995 und eine gemeinsame Ö f f e n t -
Demonstra-
nicht mehr isoliert in den eigenen S t ä d t e n und
lichkeitsarbeit, verbunden mit A k t i o n e n ge-
Landkreisen Initiativarbeit zu leisten, sondern
gen die N o v e l l i e r u n g des B u n d e s s o z i a l h i l f e -
gemeinsam mit vielen Betroffenen grundle-
gesetzes bzw. des A r b e i t s f ö r d e r u n g s g e s e t z e s .
gendes z u bewegen.
Im M a i 1997 werden die genannten bundesDas T r e f f e n und die bis heute darauf aufbau-
weiten Organisationen zusammen mit der I G -
ende t a g t ä g l i c h e Arbeit der Erwerbslosenin-
M e t a l l einen K o n g r e ß z u m T h e m a ' N i e d r i g -
itiativen in Deutschland widerlegt einige po-
lohn und Arbeit u m jeden P r e i s ? ' d u r c h f ü h -
p u l ä r e Vermutungen ü b e r Verhaltensweisen
ren. D i e von W o l s k i - P r e n g e r i n diesem H e f t
und politische A u s d r u c k s m ö g l i c h k e i t e n v o n
behaupteten
Erwerbslosen, etwa die behauptete K o n f l i k t -
'anti-gewerkschaftlichen Ressentiments'
u n f ä h i g k e i t bei O f f e (1972: 146f), oder gar
w i e wechselseitig vorhandenes
die U n m ö g l i c h k e i t der Organisation von E r -
se' an einer Zusammenarbeit hat mit der tat-
werbslosen bei Wacker (1987: 80).
s ä c h l i c h stattgefundenen V e r n e t z u n g s r e a l i t ä t
'Abgrenzungsversuche'
und
so-
'Desinteres-
in den letzten z w e i Jahren nichts gemein. F e h Heute existieren etwa 500 Erwerbslosengrup-
lender Kontakt zur aktiven Erwerbslosensze-
pen in Deutschland. D i e Unterscheidung i n
ne erleichtern solche Behauptungen.
k i r c h l i c h e , g e w e r k s c h a f t l i c h e und u n a b h ä n -
zeigt auch sein a u s s c h l i e ß l i c h akademisch o r i -
gige G r u p p e n spielt keine herausragende R o l -
entierter
le, da angesichts der sozialpolitischen A n g r i f -
'Richtungen' einzuteilen, 'Abgrenzungen' vor-
Dies
Drang, Erwerbslosenaktivitäten
'Definitionen' über
in
fe e i n Z u s a m m e n r ü c k e n , trotz unterschiedli-
zunehmen und
cher T r ä g e r s c h a f t e n und politischer E i n s c h ä t -
oder falsche' Verhaltensweisen festzulegen. N u r
'richtige
zungen, n o t w e n d i g erscheint. D i e drei gro-
so ist erklärbar, wie Wolski-Prenger zu der Phan-
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
tasiezahl
von
1.500
Arbeitslosenprojekten
71
Die Entstehungszusammenhänge
kommt und nach wie vor eine Typisierung des
Erwerbslosenprotests
vorgibt, die v o m A l l t a g
der Erwerbsloseninitiativen längst überholt ist.
A l s Vorläufer der bundesweiten
Zusammen-
arbeit von Erwerbsloseninitiativen stehen w i d e r s t ä n d i g e Jugendliche, die i n den siebziger
Initiative, Bewegung und Protest
Jahren in und a u ß e r h a l b der F a b r i k gegen k a pitalistische Ausbeutungsstrukturen
O b die jahrelangen A k t i v i t ä t e n der Erwerbs-
und f ü r
selbstorganisiertes Arbeiten k ä m p f t e n . A u ß e r -
loseninitiativen bereits als B e w e g u n g zu be-
halb der Produktion trafen Jugendliche, die
zeichnen sind, erscheint m i r gewagt. Sicher-
keinen Ausbildungsplatz fanden oder v o n den
lich ist es in ü b e r z w a n z i g Jahren Massener-
Betrieben nicht ü b e r n o m m e n wurden, auf sog.
werbslosigkeit nicht gelungen, den a u f k e i -
Aussteiger aus der Leistungsgesellschaft, die
menden Protest in eine g r o ß e
Protestbewe-
eine eigene A u f f a s s u n g von selbstbestimm-
gung zu transformieren. Allerdings wurde i m
tem Arbeiten und Leben einbrachten. D i e er-
Wissenschaftsbetrieb, so z . B . auch in der B e -
sten
wegungsforschung der Fehler begangen, ein-
von Erwerbslosen entstanden. A u f z w e i ü b e r -
gegrenzte
selbstorganisierten
Zusammenschlüsse
Konfliktverhaltensmuster und her-
regionalen Treffen 1977 wurde der Kontakt
k ö m m l i c h e Organisationsvorstellungen z u m
z w i s c h e n den E r w e r b s l o s e n i n i t i a t i v e n ver-
Ausgangspunkt z u nehmen, u m nach Protest-
stärkt und gemeinsame Zielvorstellungen dis-
potential i m B e r e i c h der von E r w e r b s l o s i g -
kutiert.
keit B e t r o f f e n e n z u suchen. Ausgeklammert
bleiben dann die a l l t ä g l i c h e n Resistenzwei-
Ä h n l i c h w i e die s p ä t e r e n Bundesarbeitsgrup-
sen, die i c h weiter g e f a ß t als Erwerbslosen-
pen hatten diese f r ü h e n Z u s a m m e n s c h l ü s s e
protest bezeichne. Darunter fallen alle i n d i -
bereits Elemente des utopischen Denkens mit
v i d u e l l e n und k o l l e k t i v e n Verhaltensweisen
radikaler praktischer A r b e i t verbunden. D i e
von Erwerbslosen, die eine Ä n d e r u n g beste-
Problematisierung
hender sozialer V e r h ä l t n i s s e bezwecken oder
strukturen, das M i ß t r a u e n g e g e n ü b e r institu-
ein L e b e n in W ü r d e anstreben.
tionalisierter Sozialarbeit und die A b l e h n u n g
kapitalistischer A r b e i t s -
hierarchischer
Organisationsprinzipien
bei
D i e i m Wissenschaftsbetrieb h ä u f i g zu f i n d -
gleichzeitiger
inhaltlicher Z i e l s e t z u n g
auf
ende T y p i s i e r u n g der
Erwerbslosengruppen
kleine wie g r o ß e gesellschaftliche V e r ä n d e -
trifft nur noch bedingt die Realität. D i e B e -
rungen standen i m M i t t e l p u n k t der A u s e i n -
zeichnung einer G r u p p e als Treff, Initiative
andersetzung. N a c h wie vor ist diese A r t der
oder Z e n t r u m ist oft z u f ä l l i g . E i n Z e n t r u m
A n a l y s e bzw. der konkreten Umsetzbarkeit
kann sich a u s s c h l i e ß l i c h der sozialbetreueri-
p r ä g e n d f ü r einen T e i l der E r w e r b s l o s e n i n -
schen T ä t i g k e i t z u w e n d e n , w i e auch unter
itiativen.
U m s t ä n d e n eine Initiative nur ü b e r F r e m d hilfe am L e b e n gehalten werden kann. D i e
A n f a n g der achtziger Jahre erlebte die Initia-
organisatorischen
L e i s t u n g e n von E r w e r b s -
tivenszene in Deutschland den erhofften Z u -
losen u m f a ß t am besten der B e g r i f f Erwerbs-
wachs. Immer mehr Erwerbslose erkannten,
loseninitiative, denn der Terminus Initiative
d a ß ihr erfolgloses Suchen nach einem A r -
beinhaltet nicht nur den entschlossenen
Wil-
beitsplatz weniger mit ihrer i n d i v i d u e l l e n U n -
len etwas z u v e r ä n d e r n , sondern auch die
f ä h i g k e i t oder ihrer mangelnden beruflichen
praktische Umsetzung.
Q u a l i f i k a t i o n , als v i e l m e h r mit einem gesell-
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10. HEFT 2, 1997
.schaftlichen System zusammenhing, das nicht
Innen, Obdachlose, F l ü c h t l i n g e , Gruppen, die
in der L a g e war, j e d e m M e n s c h e n i m er-
sich gegen prekäre, u n g e s c h ü t z t e Arbeitsver-
w e r b s f ä h i g e n A l t e r einen angemessenen A r -
hältnisse wehren oder Widerstand gegen A r -
beitsplatz oder zumindest eine m e n s c h e n w ü r -
b e i t s z w a n g s v e r h ä l t n i s s e leisten.
dige materielle A b s i c h e r u n g zu garantieren.
E i n e neue Bundesarbeitsgruppe
bildete sich
M i t dem ersten B u n d e s k o n g r e ß der Arbeits-
unter dem N a m e n 'Multinationale Z u s a m m e n -
losen 1982 i n F r a n k f u r t / M . wurde der G r u n d -
arbeit', die 1990 ein Internationales A r b e i t s -
stein f ü r die E n t w i c k l u n g r e g e l m ä ß i g e r , ba-
losentreffen
sisdemokratischer
Vorbereitungen wurde s c h l i e ß l i c h
bundesweiter T r e f f e n ge-
legt. Im N o v e m b e r
1986 trafen sich rund
Spanien das
organisierte.
Nach
intensiven
1994 i n
'Europäische Netzwerk
gegen
1.000 Erwerbslose in Köln z u einem zentra-
Arbeitslosigkeit und A r m u t ' ( I T A C A ) g e g r ü n -
len A k t i o n s - und Konferenztag. Themenbe-
det. D e r ein Jahr s p ä t e r in H a m b u r g stattfin-
zogene Arbeitsgruppen bildeten den K e r n der
dende
Veranstaltung. Sie u m f a ß t e n die B i l a n z und
Massenarbeitslosigkeit und A r m u t ' war ein
'Europäische
Kulturkongreß
gegen
Perspektiven der Erwerbslosenbewegung, der
weiterer H ö h e p u n k t in der internationalen S o -
B e s c h ä f t i g u n g s p o l i t i k und der existentiellen
lidaritätsarbeit.
A b s i c h e r u n g . D i e Bundesarbeitsgruppen
eta-
blierten sich und fanden ihre B e s t ä t i g u n g auf
dem 2. B u n d e s k o n g r e ß 1988 in D ü s s e l d o r f .
D e r 1989 erfolgte Zusammenbruch der D D R ,
ebenso w i e andere gesellschaftliche E n t w i c k lungen, blieben auch f ü r den Bundeszusam-
Gesucht und teilweise auch gefunden wurde
m e n s c h l u ß der Erwerbsloseninitiativen nicht
der Kontakt zu anderen Gruppen, die von A r -
ohne F o l g e n . 1990 g r ü n d e t e sich i m Osten
mut, gesellschaftlicher Ausgrenzung oder son-
Deutschlands der Arbeitslosenverband ( A L V ) .
stiger Formen der D i s k r i m i n i e r u n g betroffen
A n f ä n g l i c h e s M i ß t r a u e n , besonders ü b e r den
waren. Dies sind u.a. die Sozialhilfebezieher-
N a m e n , der einen A n s p r u c h f ü r
Gesamt-
deutschland
beinhal-
'
.aber VUSWASM.. <fe e i \ -
t e t e
' konnte nur teil-
weise
ausgeräumt
werden. Hauptkritikpunkt
blieb
die
Lohnarbeitszentriertheit in den Forderungen des A L V , die bei
manchem
Westakti-
visten K o p f s c h ü t t e l n
verursachte.
Trotzdem ist die gegenseitige
tanz der
rischen
und
AkzeporganisatoStrukturen
inhaltlichen
Schwerpunkte i m m e r
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
noch der Grundkonsens
gemeinschaftlichen
derstandsmustern, die nach den sozialen und
Handelns, und mehrere B A G - T r e f f e n fanden
ökonomischen
in den darauf folgenden Jahren i m Osten statt.
der j e w e i l i g e n historischen E p o c h e genutzt
Entwicklungsvoraussetzungen
E i n gutes Z u s a m m e n w i r k e n gibt es auch mit
schichte des Erwerbslosenprotestes
den gewerkschaftlichen Arbeitslosengruppen,
se meist v o n den Forschern ignoriert oder v o n
deren erste bundesweite Arbeitstagung
wurden. D a es noch keine geschriebene G e gibt, die-
1984
der allgemeinen Geschichte der Arbeiterbe-
stattfand. E i n halbes Jahr s p ä t e r g r ü n d e t e sich
wegung ü b e r l a g e r t w i r d , ist es a u ß e r o r d e n t -
eine Koordinierungsstelle.
lich schwierig, Spuren des Widerstandes
'aus-
zugraben'. D e r a u s s c h l i e ß l i c h e B l i c k auf das
Inhaltlich
und
aktionsbezogen
haben
die
S p e k t a k u l ä r e verdeckt aber die Sicht auf die
B A G s neben einer V i e l z a h l v o n F l u g b l ä t t e r n ,
alltägliche Resistenzformen, die ansonsten i n
Pressemitteilungen usw. K a m p a g n e n gegen die
den B e r e i c h des 'abweichenden
B e d ü r f t i g k e i t s p r ü f u n g und
fallen w ü r d e n .
gegen
den
er-
Verhaltens'
zwungenen Arbeitseinsatz v o n Sozialhilfebezieherlnnen und Erwerbslosen d u r c h g e f ü h r t .
Reaktions- und Widerstandsformen
D i e Ausarbeitung einer e i g e n s t ä n d i g e n P o s i tion zur existentiellen Absicherung, i n F o r m
A k t u e l l e politische Verhaltensmuster v o n E r -
einer Existenzgeld-Forderung, kann als bis-
werbslosen finden sich h ä u f i g i n F o r m a l l -
heriger H ö h e p u n k t der gemeinsamen
inhalt-
täglicher Widerständigkeit, i m individuellen
lichen A r b e i t angesehen werden. In den letz-
Widersetzen. Dieser 'stumme' Protest ( R e i n /
ten Jahren etablierte sich ein Sprecherinnen-
Scherer 1993: 253ff) ist es, der sich am ehe-
g r e m i u m , u m u.a. i n der Ö f f e n t l i c h k e i t P o s i -
sten i n der Protestwirklichkeit der A r m u t s b e -
tionen der Erwerbsloseninitiativen effektiver
v ö l k e r u n g wiederfindet. E r stellt oft den e i n -
zu p r ä s e n t i e r e n . E i n w i e i m m e r gearteter B u n -
zigen Weg dar, sozialer Ungerechtigkeit ent-
desvorstand w i r d abgelehnt, denn schon P i -
gegenzutreten und bewahrt d a r ü b e r hinaus i n
v e n / C l o w a r d (1986) haben darauf hingewie-
s e l b s t b e w u ß t e n ' l i s t i g e n ' Handlungen einen
sen, d a ß soziale Bewegungen nicht durch den
gewissen G r a d an menschlicher W ü r d e .
Aufbau
großer
Organisationen
erfolgreich
sind, sondern nur dann, wenn sie die herr-
D i e Geschichte zeigt: Erwerbslose lassen sich
schenden
F o r m e n der politischen A u s e i n a n -
nur schwer i m traditionellen Sinne organisie-
verletzen. E n t s c h e i d e n d ist der
ren. Sie galten und gelten mit ihrem u n k a l k u -
dersetzung
'nichtberechenbare
Protest'.
lierbaren politischen Auftreten und ihren disruptiven Reaktionsweisen als S t ö r f a k t o r i m
Auf den Blickwinkel kommt es an!
geregelten, organisierten Klassenkampf. D e r
Verlust des Arbeitsplatzes f ü h r t z u m Z u s a m -
Wesentlich f ü r die Herangehensweise an das
menbruch der teilweise jahrzehntelangen (po-
Widerstandsverhalten
v o n E r w e r b s l o s e n ist
litischen) S e l b s t v e r s t ä n d l i c h k e i t e n und z u den
die A b k e h r v o n einem eindimensionalen P o -
wiederholenden E r f a h r u n g e n , d a ß E r w e r b s -
litikbegriff, der m a ß g e b l i c h e politische E i n -
lose v o n keinen politischen Instanzen
f l u ß n a h m e nur als festorganisierte L o b b y a r -
zu erwarten haben. Stattdessen werden sie f ü r
beit oder als demonstrierende
Masse identi-
ihre unverschuldete Situation durch K ü r z u n -
fiziert und bewertet. Das Protestverhalten E r -
gen der Sozialleistungen noch bestraft. D i e s
werbsloser beinhaltet eine V i e l f a l t von W i -
kann z u politischen Verhaltensweisen f ü h r e n ,
Hilfe
74
FORSCHUNGSJOURNAL NSB, Jo. 10, HEFT 2,
1997
die durch keine Partei oder Gewerkschaft ein-
bestens aus.
zuordnen oder zu integrieren sind.
Menschen W i d e r s p r ü c h e gegen Bescheide der
1993 legten mehr als 500.000
A r b e i t s ä m t e r ein, und A n f a n g 1995 gab es
Protesthandeln steht in engem Zusammenhang
125.000 W i d e r s p r ü c h e gegen die K ü r z u n g e n
mit der j e w e i l i g e n Struktur eines gesellschaft-
von Arbeitslosengeld und -hilfe. O b w o h l i n -
lichen Systems und den S p i e l r ä u m e n , die den
d i v i d u e l l angelegt,
M e n s c h e n zugestanden werden. Solange die-
K a n ä l e innerhalb der Erwerbsloseninitiativen
se „ d a s A l l t ä g l i c h e leben k ö n n e n , rekonstitu-
Einspruchs- und W i d e r s p r u c h s m ö g l i c h k e i t e n
ieren sich die alten V e r h ä l t n i s s e " (Lefebvre
an andere Betroffene weitergegeben.
1972: 51). In diesem Zusammenhang k ö n n e n
zählt auch die Weitergabe von 'geheimen' In-
Erwerbslose den Verlust von Lohnarbeit nicht
formationen, z . B . ü b e r M ö g l i c h k e i t e n , die ge-
nur als Resignation, Apathie oder Krankheit
ringen Sozialleistungen durch Nebenverdien-
erleben, sondern auch als politischen und per-
ste ('Schwarzarbeit')
sönlichen
S e l b s t f i n d u n g s p r o z e ß , sowie
werden ü b e r i n f o r m e l l e
Hierzu
aufzubessern.
als
M ö g l i c h k e i t , vorhandene A k t i v i t ä t e n zu i n -
D i e Freiraumschafferlnnen
tensivieren bzw. neue zu entfalten.
schaffenen F r e i r a u m z u m Nachdenken und
nutzen den
ge-
zur R e a l i s i e r u n g anderer L e b e n s - oder A r So finden sich verschiedene Formen der R e -
b e i t s m ö g l i c h k e i t e n , etwa um in gesellschaft-
sistenz unter E r w e r b s l o s e n , die - wenn sie
lichen B e r e i c h e n politisch aktiv z u werden
ü b e r h a u p t erkannt
oder ihnen nützlich erscheinenden
werden -
einer ö f f e n t l i -
chen D i f f a m i e r u n g unterliegen:
Tätigkei-
ten nachzugehen. D i e A k t i v i t ä t e n bestimmter
sozialer Bewegungen ( z . B . A n t i - A K W - B e w e unter-
gung, H ä u s e r k a m p f usw.) w ä r e n ohne diese
werfen sich nur i n ä u ß e r s t e n Notsituationen
Protagonisten k a u m denkbar gewesen. F r e i -
einem r e g e l m ä ß i g e n Lohnarbeitsdrill und neh-
raumschaffung kann aber auch zur p e r s ö n l i -
men nur solche T ä t i g k e i t e n an, die nötig sind,
chen Neugestaltung des individuellen und be-
das eigenbestimmte Lebensniveau z u halten.
ruflichen Lebens f ü h r e n . Ü b e r die Zeit z u ver-
E r g ä n z e n d halten sie sich mit z u s ä t z l i c h e n
f ü g e n , nachzudenken und Neues
sozialen Leistungen ü b e r Wasser. Solange ihr
spielt dabei eine g r o ß e R o l l e . Diese Erwerbs-
D i e individuellen
Leistungsverweigerer
anzugehen,
individueller Widerstand erfolgreich ist, se-
losen begreifen ihre Situation als i n d i v i d u e l -
hen sie keine Notwendigkeit des gemeinsa-
le Chance autonomen Handelns, als H i l f e f ü r
men politischen Engagements.
die B e s t ä t i g u n g ihres Status quo oder f ü r w e i tergehende Lebensschritte. D i e s kann auch
D i e selbstbewußten
Bezieherinnen
von S o z i -
alhilfe und Lohnersatzleistungen lassen sich
politische
Verhaltensweisen
einschließen,
m u ß es aber nicht.
ihre L a g e weder psychologisieren noch f ü r
ihre Situation individuell verantwortlich ma-
Arbeitslosenarbeit?
chen. Sie wissen sehr w o h l , wer sie wegrationalisiert und ihnen die Sozialleistungen ge-
Der in der letzten Zeit eingebrachte Ansatz
kürzt hat. Ihr Widerstand ist der K a m p f um
einer
materielle Leistungen und f ü r ein Leben in
1996) ist in seiner K o n z e p t i o n und Praxis sehr
W ü r d e . Sie fordern die ihnen
Arbeitslosenarbeit
(Wolski-Prenger
zustehenden
problematisch, da er verdeutlicht, d a ß sich
staatlichen Leistungen s e l b s t b e w u ß t ein und
Arbeitslosigkeit mit all ihren Facetten zu ei-
kennen sich in den rechtlichen Grundlagen
ner Wachstumsbranche innerhalb der S o z i a l -
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FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
arbeit etabliert hat. In diesem Sinne steht A r -
tischen Beratungsstellen f ü r verzweifelte Arbei-
beitslosenarbeit i m Widerspruch z u e i g e n s t ä n -
terinnen nach Beendigung der Tarifrunde?
diger und u n a b h ä n g i g e r Interessenartikulation durch die Betroffenen selbst. D e r b e r u f l i -
Harald
che D r u c k , etwas vorweisen zu m ü s s e n , läßt
beitet i m Frankfurter Arbeitslosenzentrum.
Rein ist Sozialwissenschaftler und ar-
professionelle M e r k m a l e der Sozialarbeit und
der Betreuung E i n g a n g i n die a l l t ä g l i c h e A r -
Kontakt:
beit der Initiativen finden. W o H i l f e zur K o n -
( F A L Z ) , Solmsstr. l a , 60486 F r a n k f u r t / M . ,
trolle w i r d , ist dann k a u m noch z u unterschei-
Tel.: (069) 700425, Fax: 704812.
Frankfurter
Arbeitslosenzentrum
den. B e i z u p f l i c h t e n ist der E i n s c h ä t z u n g von
psychosozialen Dienstleistungen: „ S i e leisten
Dort existiert auch ein A r c h i v mit M a t e r i a l i -
H i l f e dort, w o M e n s c h e n mit der B e w ä l t i g u n g
en zu den A k t i v i t ä t e n von E r w e r b s l o s e n i n -
ihrer A l l t a g s p r o b l e m e nicht mehr
zurecht-
itiativen. H i n z u w e i s e n sei auch noch auf die
k o m m e n , und sie ü b e n Kontrolle g e g e n ü b e r
einzige ü b e r r e g i o n a l e , u n a b h ä n g i g e A r b e i t s -
H a n d l u n g e n und Individuen aus, die gesell-
losenzeitung i n Deutschland: Quer, Postfach
s c h a f t l i c h lizensierte Toleranzgrenzen ü b e r -
1412, 09581 Freiberg. Siehe hierzu auch die
schreiten" (Keupp 1986: 447).
Selbstdarstellung i n der R u b r i k 'Pulsschlag'
i m vorliegenden H e f t .
W o l s k i - P r e n g e r sieht i n der Sozialarbeit ein
neutrales Instrumentarium,
dessen man sich
Anmerkungen
nur in der richtigen A r t und Weise bedienen
m ü s s e . D i e i n der sozialen A r b e i t T ä t i g e n geraten p l ö t z l i c h in die R o l l e eines M o t o r s f ü r
1
Zentrales Motto des 2. Bundeskongresses der Initiativen gegen Arbeitslosigkeit und Armut 1988.
soziale Bewegungen, wenn der A u t o r behauptet, „ d a ß soziale A r b e i t v i e l f a c h erst die Vor-
Literatur
aussetzungen f ü r eine politische oder soziale
B e w e g u n g schaffen m ü ß t e "
(Woski-Prenger
1996: 218). Wieder soll ü b e r die K ö p f e der
E r w e r b s l o s e n h i n w e g i m a g i n ä r e P o l i t i k betrieben werden, falls sie bereit sind, sich vorher 'betreuen' z u lassen.
Selbstorganisation
und s e l b s t ä n d i g e s D e n k e n und Handeln hat
in solchen Konzeptionen keinen R a u m . - Passend dazu auch die konsequente D e f i n i t i o n
des A u t o r s : „ d i e B e s c h ä f t i g u n g mit deren L e i den [der Erwerbslosen, H . R . ] w ä r e daher f o l g lich
Arbeitslosenarbeit."
(Wolski-Prenger
1996: 15).
E i n e ketzerische Frage sei am E n d e noch gestellt: W a r u m w i r d eigentlich i m m e r wieder
eine spezielle psychologische Betreuung f ü r
Erwerbslose gefordert, die ihre Arbeit 'verloren haben', und warum gibt es keine therapeu-
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Keupp, Heiner 1986: Normalität und Abweichung.
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FORSCHUNGSJOURNAL N S B . JG. 10. HEFT 2, 1997
Eric Hammann
Für eine Kultur der Gleichheit in der
Verschiedenheit
Selbstorganisierte ambulante Dienste am Beispiel des fib e.V.
1
Behindertenhilfe und
Individualisierung
A u f der anderen Seite besteht eine nach w i e
vor dominierende Z u s t ä n d i g k e i t der privaten
S p h ä r e , die den g r ö ß t e n A n t e i l des H i l f e b e -
'Perspektive ohne Alternative z w i s c h e n öf-
darfs von behinderten M e n s c h e n abdeckt, bei
fentlicher Anstalt und privatem Haushalt', so
gleichzeitiger A u f l ö s u n g der dort angesiedel-
kann die Struktur der H i l f e f o r m e n f ü r behin-
ten Hilferessourcen. D i e Notwendigkeiten und
derte M e n s c h e n kurz auf einen Nenner ge-
Voraussetzungen dieses i n hohem M a ß e h i l -
bracht werden. A u f der einen Seite existiert
ferelevanten
eine hochgradige Konzentration der ö f f e n t l i -
Kenntnis genommen. Im Gegenteil: Im Ver-
Bereiches
werden
kaum
zur
che A u f m e r k s a m k e i t auf den professionellen
such der U m k e h r u n g des historischen Trends
B e r e i c h der Behindertenhilfe, auch wenn er
einer zunehmenden
nur ca. 10% des notwendigen H i l f e b e d a r f s
Frauen sollen und werden hier äußerst pre-
behinderter
k ä r e Bedingungen i n zynischer Weise v e r k l ä r t
Menschen
abdeckt
(Socialdata
Erwerbsbeteiligung v o n
1980: 60). A u f g r u n d seiner b ü r o k r a t i s c h - r a -
und aufrechterhalten.
tionellen Ausrichtung ist dieser B e r e i c h durch
Nachdenken ü b e r die M ö g l i c h k e i t e n einer so-
ein hohes M a ß an Spezialisierung und D i f f e -
zial gerechten Verteilung dieser gesellschaft-
O h n e jedes kritische
renzierung gekennzeichnet. D i e damit einher-
lich notwendigen B e i t r ä g e , f ü h r t die O r g a n i -
gehenden Prozesse der Problemparzellierung
sation der H i l f e i m privaten B e r e i c h zu enor-
und der Z e r p f l ü c k u n g des Menschen in seine
men A b h ä n g i g k e i t e n
' D e f i z i t e ' sowie die Perfektionierung zusam-
sowohl der Hilfeleistenden (in traditioneller
menhangloser M i t t e l und Werkzeuge der E r -
Z u s t ä n d i g k e i t s v e r t e i l u n g vor allem der F r a u -
ziehung usw. zielen i m K e r n auf die R e d u k t i -
en) als auch der H i l f e e m p f ä n g e r .
und
Überforderungen
on von K o m p l e x i t ä t . Professionelles Handeln
entzieht sich dem A l l t a g und m i ß a c h t e t dabei
weitestgehend die alltäglichen B e w ä l t i g u n g s muster sowie die Bedeutung der N o t w e n d i g keiten des a l l t ä g l i c h e n Lebens. Insofern ist
das professionelle System v i e l f a c h eine M a ß nahme zur A b w e h r realer Verantwortung und
dient d e m g e g e n ü b e r eher zur Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Machtstrukturen
p e r s ö n l i c h e m M a c h t - und Statusgewinn.
und
Dieser P o l a r i s i e r u n g s p r o z e ß ist Resultat e i ner zunehmend
rasanter werdenden
Indivi-
d u a l i s i e r u n g s d y n a m i k i n modernen
Gesell-
schaften,
in
werbs)arbeit
deren
Vollzug
die L o h n ( E r -
als A n d e r t h a l b - P e r s o n e n - B e r u f
z u m dominaten M u s t e r der sozialen Integration w i r d . Anders und ausgegrenzt sind die,
die nicht gleich dem V o l l z e i t e r w e r b s t ä t i g e n
kontinuierlich in den Arbeitsmarkt und i n die
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
durch die Erwerbsarbeit abgesicherten Siche-
auch von den Sicherheiten traditionaler G e -
rungsformen eingebunden sind. D a v o n abge-
meinschaftsformen, erwachsen neue B e d ü r f -
sehen, und vor allem hierauf soll aufmerk-
nisse, die sich gegen die negativen F o l g e n
sam gemacht werden, f ü h r t das L e i t b i l d einer
der I n d i v i d u a l i s i e r u n g richten und d a r ü b e r
Verallgemeinerbarkeit des 'Normalarbeitsver-
hinaus auch den i n d i v i d u e l l e n Gestaltungs-
h ä l t n i s s e s ' a u ß e r d e m zu spezifischen E i n s e i -
und E n t f a l t u n g s s p i e l r a u m erweitern sollen.
tigkeiten und Ausblendungen, welche die öf-
Alternative Projekte bilden hier Kristallisati-
fentliche Debatte ü b e r Verantwortlichkeiten
onspunkte, in deren Zusammenhang die E n t -
gegenüber
stehung selbstorganisierter ambulanter D i e n -
behinderungsbedingten
Risiken
p r ä g e n . So konzentriert sich die traditionelle
ste f ü r behinderte
A r b e i t s - und Sozialpolitik fast a u s s c h l i e ß l i c h
sind. V o n der 'Arbeitsseite' sind sie als Ver-
Menschen zu
verstehen
auf die S c h a f f u n g und A b s i c h e r u n g von pro-
suche anzusehen, H i l f e human und demokra-
fessionellen und institutionellen Standards i m
tisch zu organisieren und z u g l e i c h den R a u m
Rahmen
'Normalarbeitsverhältnisses',
f ü r i n d i v i d u e l l e E n t f a l t u n g s s p i e l r ä u m e und
w ä h r e n d andere F o r m e n der sozialen Beteili-
die B i l d u n g neuer, f a m i l i e n u n a b h ä n g i g e r oder
gung unterhalb und a u ß e r h a l b dieser Stan-
e r g ä n z e n d e r S o l i d a r f o r m e n zu schaffen. A u s -
dards ignoriert bzw. abgelehnt werden. D i e
gangspunkt ist die individuelle Bedarfslage.
sich damit verschlechternden
Es w i r d versucht, dem j e w e i l s v o n der E i n -
des
Bedingungen
f a m i i i a l e r H i l f e und sozialer U n t e r s t ü t z e r n e t z -
zigartigkeit
werke h i n s i c h t l i c h freier A r b e i t s k a p a z i t ä t e n ,
H i l f e b e d a r f und den ö r t l i c h e n V e r h ä l t n i s s e n
bedarfsgerechter Zeitstrukturen und r ä u m l i c h -
gerecht z u werden. Problemlagen werden mit
technischer Voraussetzungen werden
v e r l ä ß l i c h e n f l e x i b l e n H i l f e n dort
kaum
der P e r s ö n l i c h k e i t
abhängigen
angegan-
z u m Ausgangspunkt politischer L ö s u n g s s t r a -
gen, w o sie sich f ü r die einzelnen herausbil-
tegien gemacht. D u r c h das S c h w i n d e n ele-
den: in der K o m p l e x i t ä t des gegebenen
mentarer
tags eines selbstbestimmten Lebens. Z i e l der
Voraussetzungen
famiiialer Hilfe
und den M a n g e l an e r g ä n z e n d e n s e k u n d ä r e n
H i l f e ist, behinderte
Hilfs-
selbst in die L a g e zu versetzen, Entscheidun-
und
Entlastungsmöglichkeiten
wird
Menschen
All-
möglichst
sich die D i s k r e p a n z z w i s c h e n dem s o z i a l -
gen ü b e r Ziele, Akteure und zeitliche Schritte
strukturell
dem
der H i l f e m a ß n a h m e n z u f ä l l e n ; des weiteren
A n g e b o t an ö f f e n t l i c h finanzierten und f ü r
die F ö r d e r u n g lokaler G e m e i n s c h a f t s f o r m e n
'verursachten'
B e d a r f und
K o n s u m e n t i n n e n 'bezahlbaren'
persönlichen
und U n t e r s t ü t z u n g s n e t z w e r k e , die sozial be-
Dienstleistungen in absehbarer Z u k u n f t er-
nachteiligten Personengruppen
heblich v e r g r ö ß e r n .
Verortung e r m ö g l i c h e n . Im Gegensatz z u klas-
eine soziale
sisch biologistischen oder defizitorientierten
D i e Verallgemeinerung der individuellen A b h ä n g i g k e i t v o m Arbeitsmarkt auch über G e schlechtergrenzen hinweg und die A u f l ö s u n g
tradtioneller p r i m ä r e r S o l i d a r f o r m e n ist aber
nur die eine Seite des Individualisierungsprozesses. Individualisierung kann auf der anderen Seite auch als notwendiger P r o z e ß der
i n d i v i d u e l l e n und gesellschaftlichen E m a n zipation a u f g e f a ß t werden. Befreit von den
moralischen und normativen Z w ä n g e n , aber
A n s ä t z e n definiert sich professionelles H a n deln hier ü b e r Ressourcenorientierung. V o n
der
'Angebotsseite'
reagieren
selbstorgani-
sierte ambulante Dienste damit
insbesondere
auf die zunehmenden B e d a r f s l ü c k e n , die sich
der polarisierenden w i e unangemessenen A r beitsteilung formeller und informeller H i l f e systeme verdanken. E x p l i z i t w i r d die Intensivierung und wechselseitig e r g ä n z e n d e A b s t i m m u n g der Interaktionen
z w i s c h e n dem
El
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
f o r m e l l e n B e r e i c h professioneller H i l f e und
tionsanspruch f ü r geistig behinderte
dem i n f o r m e l l e n Bereich der H i l f e durch die
schen mit zeitintensiven H i l f e b e d a r f umge-
Men-
F a m i l i e und/oder lokale U n t e r s t ü t z u n g s n e t z -
setzt werden konnte ( H a m m a n n 1995: 209).
werke und s c h l i e ß l i c h der Selbsthilfe behin-
D i e Perspektive eines s e l b s t ä n d i g e n Lebens
derter M e n s c h e n i m Sinne der Mitgestaltung
in der eigenen Wohnung (allein, in der Part-
von Hilfeangeboten angestrebt.
nerschaft oder in einer W G ) wurde also auch
f ü r den
Personenkreis
der
gemeinhin
als
1.1 Verein zur Förderung
der Integration Behinderter
hinderten E r w a c h s e n e n erschlossen. D a m i t
D e r Marburger 'Verein zur F ö r d e r u n g der In-
jenen A n s ä t z e n , die mit der V e r f o l g u n g einer
'nicht i n t e g r a t i o n s f ä h i g ' geltenden geistigbesteht der f i b e.V. i m krassen Gegensatz z u a l l
tegration Behinderter' (fib e.V.) hat sich, aus
'stufenweisen Integration' letztlich nur den
einer Initiative von behinderten und nichtbe-
weiteren A u s s c h l u ß von behinderten
hinderten M e n s c h e n 1982
schen aus der Gesellschaft in H e i m e und A n -
hervorgegangen,
Men-
in den letzten 15 Jahren zu einem m i t t e l s t ä n -
stalten perpetuieren. Im R a h m e n dieser Stu-
digen Unternehmen mit einem Haushaltsvo-
fenkonzeptionen bestimmt der v o n a u ß e n ge-
lumen von knapp 5 M i l l i o n e n M a r k und e i -
setzte ' G r a d der B e h i n d e r u n g ' die L e b e n s -
nem differenzierten Hilfeangebot entwickelt.
form:
G l e i c h w o h l gehen von i h m nach wie vor wesentliche i n n o v a t i v e Impulse nicht
nur auf
•
f ü r die 'fitten Behinderten' die L e b e n s f o r m
die traditionellen F o r m e n der Behindertenhilfe
der betreuten Wohngemeinschaft oder des
aus. H a b e n sich ambulante Dienste vor allem
betreuten E i n z e l w o h n e n s ,
in der Selbstorganisation k ö r p e r l i c h beeint r ä c h t i g t e r M e n s c h e n entwickelt, so hat der
•
f i b e.V. auch i m Kontext dieser neuartigen
f ü r die 'richtigen Behinderten' die b e h ü t e te L e b e n s f o r m i m W o h n h e i m und
Dienstleistungangebote wichtige A n s t ö ß e geliefert. D i e s deshalb, weil er sich konsequent
•
dem Z i e l verschrieben hat, das Recht auf ein
f ü r die 'Restgruppe' die V e r w a h r u n g i n
Psychiatrien und G r o ß e i n r i c h t u n g e n , die in
L e b e n i n einer s e l b s t g e w ä h l t e n W o h n f o r m f ü r
der F o l g e i m m e r mehr z u unmenschlichen
alle M e n s c h e n - u n a b h ä n g i g v o m A u s m a ß des
Schwerstbehindertenzentren
verkommen.
Angewiesenseins auf fremde H i l f e bei der B e w ä l t i g u n g des A l l t a g s - mit verschiedenen
aufeinander abgestimmten Hilfsangeboten z u
v e r w i r k l i c h e n : V o n A n f a n g an - und das war
Uber Jahre h i n w e g bundesweit einzigartig f ü r
den A u f b a u eines f l ä c h e n - und bedarfsdekkenden Netzes ambulanter Angebote zur Vermeidung von H e i m e i n w e i s u n g und A u s s o n derung - wurde der Integrationsanspruch ü b e r
den Personenkreis k ö r p e r l i c h b e e i n t r ä c h t i g ter Menschen hinaus auch f ü r und mit M e n schen mit geistigen B e e i n t r ä c h t i g u n g e n praktisch erschlossen. Das f i b - A n g e b o t ist i n z w i schen soweit, d a ß 1992 erstmals der Integra-
D e r fib e.V. setzt mit seinen praktischen E r folgen Standards: D i e Q u a l i t ä t selbstorganisierter ambulanter Dienste bestimmt sich darin, inwiefern es ihnen gelingt, die Perspektive
'Schwerstbehindertenzentren'
als
logi-
sches Produkt 'stufenweiser Integration' z u
verhindern,
indem
kooperativ-dialogische
H i l f e n auch f ü r M e n s c h e n mit geistigen B e e i n t r ä c h t i g u n g e n entwickelt werden, die zeitintensive und spezifische H i l f e n b e n ö t i g e n .
In einem Konzept 'ungeteilter
Integration'
kann es keine Z u w e i s u n g von M e n s c h e n in
besondere, von der ü b r i g e n Gesellschaft ab-
79
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
gesonderte Lebensorte geben. Diese f r e m d -
Diese D e f i n i t i o n verdeutlicht die soziale K o n -
gesetzten M u s t e r entsprechen
mehr unserer
struktion 'Behinderung' und zielt auf die K r i -
eigenen Phantasielosigkeit als den B e d ü r f n i s -
tik an der kulturellen Vorherrschaft einiger
sen, aber auch M ö g l i c h k e i t e n der B e t r o f f e -
Gruppen, die exklusiven oder p r i m ä r e n Z u -
nen.
gang zu den M i t t e l n der Interpretation
und
K o m m u n i k a t i o n in der G e s e l l s c h a f t haben.
1.2 KulturelleVorherrschaft, Gewalt
und Marginalisierung
H i e r generalisieren dominante Gruppen, oft
ohne es zu merken, ihre Erfahrungen als rep r ä s e n t a t i v f ü r die Menschheit. Sie s t ä r k e n
Im folgenden sollen anhand der i n der kriti-
ihre Situation, indem sie andere G r u p p e n an
schen B e h i n d e r t e n p ä d a g o g i k und -bewegung
der k a u m hinterfragten S e l b s t v e r s t ä n d l i c h k e i t
etablierten D e f i n i t i o n der B e h i n d e r u n g ver-
und Verbreitung ihrer kulturellen Erzeugnis-
schiedene Ausgrenzungsprozesse
se messen. Differente A n s p r ü c h e und Lebens-
drückungsformen
wie
und Unter-
kulturelle
Vorherr-
formen, die sich aus anderen als den vorherr-
schaft, G e w a l t und M a r g i n a l i s i e r u n g thema-
schenden
Erfahrungshorizonten
begründen,
tisiert werden. D i e L o g i k dieser A u s g r e n -
werden in der Folge als das A u f f ä l l i g e , U n -
zungsprozesse aufzuzeigen, verfolgt nicht das
terlegene rekonstruiert,
Z i e l , erneut behinderte Menschen als geson-
senszug in die Natur der Betroffenen substan-
derte G r u p p e zu klassifizieren. E s geht v i e l -
tialisiert und in irgendeiner A r t mit ihrem K ö r -
mehr darum, anhand der Darstellung auf an-
per i n V e r b i n d u n g gebracht.
gemessene Strategien der Beendigung dieser
Gruppen sind unausweichlich mit einer para-
Prozesse und in dieser Hinsicht auf die B e -
doxen Erfahrung konfrontiert. Eigene kultu-
deutung selbstorganisierter ambulanter D i e n -
relle A n s p r ü c h e und A u s d r u c k s f o r m e n finden
ste hinweisen zu k ö n n e n .
keine Anerkennung und W e r t s c h ä t z u n g . Z u -
als besonderer W e -
Unterdrückte
gleich finden sie sich als das ganz Andere
In A n l e h n u n g an die B e g r i f f s d e f i n i t i o n der
Weltgesundheitsorganisation W H O formuliert
Jantzen (1987: 18):"Behinderung kann nicht
als ein n a t u r w ü c h s i g entstandenes P h ä n o m e n
betrachtet werden. Sie w i r d sichtbar und damit als B e h i n d e r u n g erst existent, wenn M e r k male und M e r k m a l k o m p l e x e eines Individuums aufgrund sozialer Interaktion und K o m m u n i k a t i o n in bezug gesetzt werden z u jeweiligen gesellschaftlichen Minimalvorstellungen ü b e r i n d i v i d u e l l e und soziale F ä h i g keiten. Indem festgestellt w i r d , d a ß ein Indiv i d u u m aufgrund seiner M e r k m a l s a u s p r ä g u n g
diesen Vorstellungen nicht entspricht,
gekennzeichnet, indem die A u ß e n w e l t Vorgaben d a r ü b e r macht, wie sie als stigmatisierte
G r u p p e ü b e r sich denken sollten. Das D i l e m m a behinderter Menschen besteht darin, d a ß
sie diese Fremdzuschreibungen in gewissem
M a ß e verinnerlichen m ü s s e n , u m auf d i s k r i minierende
Verhaltensweisen
dominanter
G r u p p e n a d ä q u a t reagieren z u k ö n n e n . Z u gleich haben sie innerhalb dieser isolierenden V e r h ä l t n i s s e ein Selbstbild z u behaupten,
d a ß sie mit anderen Charakteristika als mit
dem
Handicap
identifiziert ( Y o u n g
1996:
1271'f; G o f f m a n n 1967: 151 f f ) .
wird
Behinderung erst o f f e n s i c h t l i c h , sie existiert
K e i n anderes T h e m a ist i n den letzten Jahren
als sozialer Gegenstand erst von diesem A u -
mehr in den Fokus der ö f f e n t l i c h e n A u f m e r k -
genblick an."
samkeit geraten und hat z u einer g r ö ß e r e n
Verunsicherung bei den i m
Behindertenbe-
reich T ä t i g e n beigetragen als die G e w a l t ge-
80
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
gen machtlose/stigmatisierte
richte
Menschen. Be-
und A u f k l ä r u n g s i n i t i a t i v e n zu
eigenen Lebensweise entspricht. Jene A n t e i -
Miß-
le des Selbst, die mit selbstgeschaffenen M y -
handlung, sexuellem M i ß b r a u c h und T ö t u n g
then nicht in E i n k l a n g zu bringen sind, wer-
behinderter
den an den ' R a n d s t ä n d i g e n ' ausgemacht bzw.
M e n s c h e n durch F a m i l i e n a n g e -
h ö r i g e und/oder professionelle H e l f e r i n n e n ,
auf sie projiziert und vermeintlich mit ihnen
sowie die gezielten rechtsradikalen A n g r i f f e
aus dem eigenen L e b e n 'entsorgt'. M i t dieser
auf Behindertenheime und Sonderschulen ha-
Tendenz erfolgt die Ü b e r n a h m e eines D e n -
ben das B i l d von F a m i l i e und ö f f e n t l i c h e r E i n -
kens der Scheidung zwischen
r i c h t u n g als 'sicheren'
und 'lebensunwertem'
Ort z u m L e b e n er-
schüttert.
'lebenswertem'
L e b e n i n gesellschaft-
liche N o r m v o r s t e l l u n g e n . W i e die kritische
Auseinandersetzung mit alten und neuen A p o -
G l e i c h w o h l hat die tradierte Vorstellung B e -
logeten der Euthanasie behinderter,
stand, d a ß es sich bei den P h ä n o m e n e n phy-
und alter Menschen zeigt, ist die F i k t i o n v o m
sischer und psychischer
Gewaltanwendung
kranker
leidensfreiem I n d i v i d u u m , das des anderen
handelt,
M e n s c h e n nicht mehr bedarf, der wirksamste
u m eine b l o ß individuelle, moralisch falsche
M o t o r aller gegenseitiger Entsolidarisierungs-
nur u m eine private Angelegenheit
H a n d l u n g . D e m g e g e n ü b e r sind A n s ä t z e not-
prozesse. A u s dieser F i k t i o n resultiert konse-
wendig, die einen offensiven U m g a n g mit die-
quent die Angst vor und der H a ß auf M i t g l i e -
ser T h e m a t i k verlangen, auf den systemischen
der ausgegrenzter G r u p p e n . M i t ihnen darf
Charakter v o n G e w a l t hinweisen und ihr en-
es keine Gemeinsamkeit geben, nichts, was
ges Zusammengehen
das eigene L e b e n in die N ä h e von R a n d s t ä n -
mit Formen kultureller
digkeit bis hin zu potentiell t ö d l i c h e r B e d r o -
Vorherrschaft aufzeigen.
hung r ü c k e n k ö n n t e . Machtlose/stigmatisierG e w a l t ist eine F o r m institutioneller und so-
te G r u p p e n bedeuten eine P r o v o k a t i o n des
zialer Praxis, die K o n f l i k t l ö s u n g e n qua ex-
Selbst. U n a u s w e i c h l i c h verweisen sie auf jene
pansiver B e m ä c h t i g u n g bevorzugt. Dabei un-
Schmerzen und Anstrengungen der Selbstun-
t e r s t ü t z e n sich gegenseitig kulturelle T r a d i -
terwerfung, die als Preis f ü r die Z u g e h ö r i g -
tionen, ein expansives Wirtschaftssystem und
keit zur allseitig reduzierten Lebensweise der
das H e r r s c h a f t s v e r h ä l t n i s zwischen M ä n n e r n
herrschenden
und Frauen (Rommelspacher
wesentlicher Aspekt der w i l l k ü r l i c h e n und sy-
1992). G e w a l t
G r u p p e n zu zahlen sind. E i n
dient zur A b s i c h e r u n g von Privilegien derje-
stemischen G e w a l t ist ihre Irrationalität, die
nigen,
Angst
die das
Zentrum
gesellschaftlicher
' N o r m a l i t ä t ' v e r k ö r p e r n . Sie richtet sich z u -
und
der
Haß
als
Motivgrundlage
(Young 1996: 132).
allererst gegen Menschen in ihrer Eigenschaft
als
Mitglieder
machtloser/stigmatisierter
D i e v o n Jantzen vorgeschlagene
Definition
G r u p p e n . Das Wissen u m die M ö g l i c h k e i t der
der 'Behinderung' ist zwar richtig, um die P r o -
Verletzung allein aufgrund einer bestimmten
zesse der Behinderung als Interaktions- und
Gruppenzugehörigkeit gehört zum Alltag i m
Kommunikationsprozesse zu beschreiben, i n
L e b e n der B e t r o f f e n e n . In dieser
denen Menschen d a f ü r sanktioniert
allgegen-
werden,
w ä r t i g e n F o r m ist Gewalt aber auch i m Vor-
d a ß sie in der konkreten M e r k m a l s a u s p r ä g u n g
stellungshorizont dominanter G r u p p e n per-
ihrer P e r s ö n l i c h k e i t bestimmten gesellschaft-
manent w i r k s a m . Sie erzwingt den Erhalt e i -
lichen Vorstellungen nicht entsprechen. A b e r
nes Selbstbildes, das dem A n s p r u c h dieser
die A n a l y s e f ü h r t allein bis dahin i n die f a l -
G r u p p e n auf N o r m a l i t ä t und U n i v e r s a l i t ä t der
sche R i c h t u n g , w o sie nicht aufzeigt, w i e
il
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
N o r m - und Wertkonstituierung wesentlich von
der D o m i n a n z k u l t u r ausgeschlossen. D i e s ge-
der ö k o n o m i s c h e n L a g e der Gesellschaft ab-
schieht durch den Verweis auf ein H i l f e s y -
hängen:
stem, das in seiner Struktur wiederum wesent-
„Es wird
noch nicht v o n gesell-
s c h a f t l i c h e r P r o d u k t i o n und A r b e i t gespro-
lich auf dem gesellschaftlichen L e i t b i l d ' N o r -
chen, die i n letzter Konsequenz diese Prozes-
m a l a r b e i t s v e r h ä l t n i s ' aufsitzt, auf Unsichtbar-
se bestimmen" (Jantzen 1987: 19). M a r g i n a -
machung abzielt und Verantwortung als Ver-
lisierung als A u s s c h l u ß von Menschen die das
wahrung entsorgt.
Arbeitssystem nicht brauchen kann und w i l l ,
rückt damit in den Mittelpunkt der A n a l y s e
Zusammenfassend kann festgehalten werden,
von
obgleich A b h ä n g i g k e i t und H i l f e b e d ü r f t i g k e i t
Behinderungsprozessen.
A u s d r u c k einer gemeinsamen
menschlichen
Moderne Gesellschaften sind durch eine D i f -
Situation sind, gerinnen sie in unserer G e -
f e r e n z i e r u n g in sektoriale Teilbereiche ge-
sellschaft, die dem Wettbewerb und der E i n -
kennzeichnet. M a r k t , Staat, zivilgesellschaft-
zelleistung unangemessen g r o ß e n Wert bei-
licher und privater bzw. gemeinschaftlicher
mißt, z u m Stigma. A u s der noch nicht, nicht
B e r e i c h b i l d e n s o w o h l S p h ä r e n , die durch
mehr oder nur in geringem U m f a n g vorhan-
eine
denen ö k o n o m i s c h e n N ü t z l i c h k e i t und Ver-
relative E i g e n s t ä n d i g k e i t
voneinander
getrennt sind, als d a ß sie sich auch gegensei-
wertbarkeit
tig voraussetzen,
indem erst ihr arbeitsteili-
schen in der R e g e l ' B e h i n d e r u n g ' , d.h. eine
resultiert
f ü r betroffene
ges Z u s a m m e n w i r k e n die Reproduktion der
umfassende Entrechtung, E n t w ü r d i g u n g und
G e s e l l s c h a f t als Ganzes g e w ä h r l e i s t e t . D i e -
Isolation bzw. die Ausgrenzung von der T e i l -
ses Z u s a m m e n w i r k e n vollzieht sich aber nicht
habe am gesellschaftlichen L e b e n - und zwar
in einem A b s t i m m u n g s p r o z e ß , der den ver-
in dem doppelten Sinn der Beteiligung an der
schiedenen sektorialen Teilbereichen gleiches
gesellschaftlichen
G e w i c h t z u k o m m e n läßt und ihren wechsel-
w i c k l u n g und der A n t e i l n a h m e am gesell-
Reproduktion
und
Men-
Ent-
seitigen A b h ä n g i g k e i t e n p l a n v o l l R e c h n u n g
schaftlichen Reichtum. U n d dies sollte deut-
trägt. V i e l m e h r besteht eine Hierarchie gesell-
lich geworden sein: M i t der Ü b e r w i n d u n g se-
schaftlicher S p h ä r e n und eine
gregierender
'Gleichzeitig-
Institutionen,
wie
Anstalten,
keit von H e g e m o n i e und relativer A u t o n o -
H e i m e usw., w ä r e nur ein ä u ß e r e s und sicht-
m i e ' . D i e konkrete A u s b i l d u n g bestimmter
bares Zeichen der I n h u m a n i t ä t und brutalen
Sektoren basiert geradezu auf der Unterord-
Gewalt von Ausgrenzung beseitigt, nicht aber
nung anderer Sektoren, deren spezifische L o -
diese Realität und Praxis selbst.
giken und Ressourcen zugleich begrenzt wie
auch instrumentalisiert werden, und vollzieht
sich in einem Mechanismus, der wechselsei-
2
Zivilgesellschaft und
Selbstbestimmung
tige A b h ä n g i g k e i t e n unsichtbar macht. D i e s
verhindert aber die Einsicht in einen wesent-
Das Ende einer 'Perspektive ohne Alternati-
lichen
ve' zwischen ' ö f f e n t l i c h e r Anstalt' und ' p r i -
Aspekt
menschlichen
Lebens:
Alle
Menschen sind lebenslang auf die H i l f e an-
vatem
derer angewiesen ( R ö d l e r 1993). Behinderte
bzw. f ü r alle gesprochen,
M e n s c h e n , die diese v e r d r ä n g t e Seite des L e -
„ g r e n z e n l o s e n Ausdehnung der Anstalt in die
Haushalt'
f ü r behinderte
Menschen
das E n d e
einer
bens durch ihre Existenzweise unnachgiebig
' N o r m a l i t ä t ' h i n e i n " (Feuser 1995: 266) setzt
zur G e l t u n g bringen, stören das Herrschafts-
notwendig eine umfassende R e v i s i o n all je-
getriebe. A l s leidiges P r o b l e m werden sie von
ner gesellschaftlichen Vorstellungen und H a i -
82
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
tungen voraus, die sich einem ö k o n o m i s c h -
faßt, das Gemeinschaftlichkeit als Ergebnis
patriarchal verzerrten
jener
L i b e r a l i s m u s verdan-
prekären Erfahrungen
widerspiegelt,
ken. D i e atomistische D o k t r i n abstrahiert von
„die sich gerade in der Kette durchgestande-
den konkreten sozialen Kontexten, in denen
ner K o n f l i k t e , ertragener und
M e n s c h e n leben, z e r s t ö r t elementare soziale
akzeptierter
Z u s a m m e n h ä n g e und damit die sozialen Vor-
1994: 1811).
Divergenzen
wechselseitig
bilden"
(Dubiel
aussetzungen, auf denen moderne G e s e l l schaften basieren. Sie tut dies, indem die ba-
Angesprochen ist damit der zivilgesellschaft-
nale E r k e n n t n i s nicht n a c h v o l l z o g e n
wird:
liche B e r e i c h , der zwar z u M a r k t , Staat und
d a ß nicht nur Individuen eine Gemeinschaft
privaten Haushalten gleichen Abstand wahrt,
oder Gesellschaft bilden, sondern d a ß auch
aber wesentlich zur sozialen Integration
die eine Gesellschaft und die vielen G e m e i n -
Gesellschaft beitragen kann, indem die sek-
schaften das Verhalten der Individuen und
torspezifischen Verfahrensweisen - d i e
G r u p p e n bilden, beeinflussen und gestalten.
gleich k o m p l e m e n t ä r und konkurrierend w i r -
der
zu-
Das atomistische Denken - darauf insistiert
ken - so organisiert werden, d a ß die i n d i v i -
vor allem die kommunitaristisch
duellen Intentionen
inspirierte
nicht vereitelt
werden.
S o z i a l - und Gesellschaftskritik - erweist sich
Diese Verfahren betreffen Marktallokationen,
als u n f ä h i g , L ö s u n g e n g e g e n ü b e r einer z u -
staatliche Planung, k o l l e k t i v e B e d ü r f n i s v e r -
nehmenden Fragmentierung in durch Indivi-
sorgung, Schutz der Rechte des einzelnen so-
dualisierung und Pluralisierung gekennzeich-
wie l e i s t u n g s f ä h i g e demokratische
neten Gesellschaften zu entwickeln. Schon die
und K o n t r o l l m a ß n a h m e n (Taylor 1995: 123).
Initiativ-
Frage bleibt v ö l l i g a u ß e r h a l b des P r o b l e m horizonts marktliberaler D o k t r i n , wie denn
„ein
hang
sozial ü b e r g r e i f e n d e r Wertzusammenbeschaffen
sein kann, der
einerseits
durch neue F o r m e n der gesellschaftlichen S o lidarität den destruktiven
weiteren
Tendenzen
Individualisierung
einer
entgegenwirkt,
ohne andererseits dem radikalen Pluralismus
liberaler
Gesellschaften
zuwiderzulaufen"
(Honneth 1994: 22f).
Z w e i Aspekte sind vor allem hervorzuheben,
die der zivilgesellschaftliche Bereich b e i t r ä g t
z u m A u s f i n d i g m a c h e n nie e n d g ü l t i g e r , sondern
immer
wieder
solchen Gesellschaften ausgemacht
werden,
auszuhandelnder
widerstreiten-
den Forderungen der unterschiedlichen,
und
doch sich wechselseitig e r g ä n z e n d e n und voraussetzenden Verfahren, durch die w i r unser
Zusammenleben
Welches einigende B a n d kann nun aber in
neu
Gleichgewichte zwischen den
organisieren.
Zunächst: Zivilgesellschaftliche Zusammens c h l ü s s e nehmen ihren Ausgangspunkt oft i n
das die bestehenden D i f f e r e n z e n z w i s c h e n
Themenbereichen
Lebensformen
als
allgemeingesellschaftliche Relevanz, die bis
V i e l f a l t zur Geltung bringt und als spezielle
dato vornehmlich als private Angelegenhei-
B e i t r ä g e zur Realisierung eines gemeinsamen
ten oder als das A n l i e g e n m i n o r i t ä r e r G r u p -
G a n z e n anerkennt? D i e Rede von der S o l i -
pen galten. Sie vermitteln dem Handeln e i -
dargemeinschaft
gesichts
und
-bereichen
positiv
und verdeutlichen
deren
der B ü r g e r i n n e n macht an-
nen Z u g a n g zur Ö f f e n t l i c h k e i t und bringen
der v i e l f ä l t i g e n Spaltungslinien in
dort lebensweltlich verankerte A u s d r u c k s f o r -
einen
men und Praktiken zur Geltung. D . h . sie b ü n -
S i n n , wenn man darunter das B e w u ß t s e i n e i -
unserer G e s e l l s c h a f t nur noch dann
deln Ressourcen der P r o b l e m d e f i n i t i o n , -ar-
nes gemeinsam geteilten politischen Raumes
tikulation und - b e w ä l t i g u n g i n einer A r t und
83
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
Weise, die der Tendenz traditioneller Wahr-
licht, handelt es sich hier u m z w e i verschie-
nehmungs-
dene Muster sozialer Integration: W ä h r e n d es
scher
und L ö s u n g s m u s t e r bzw. k l a s s i entgegen-
f ü r die soziale Integration einer Gesellschaft
wirkt, einseitig nur auf einer der Handlungs-
ideologischer Strömungen
von Belang ist, d a ß jene Eigenschaften wech-
logiken v o n M a r k t , Staat und privaten Haus-
selseitig A n e r k e n n u n g f i n d e n , die alle ihre
halten zu basieren. A u s der N ä h e zu den prak-
Mitglieder miteinander teilen, so ist f ü r die
tischen Fragen des alltäglichen Lebens resul-
soziale Integration v o n Gemeinschaften von
tiert i n s o f e r n ein angemessenes M i s c h u n g s -
B e l a n g , d a ß sich die M i t g l i e d e r i n E i g e n -
verhältnis von Krisenbewältigungsstrategien,
schaften und F ä h i g k e i t e n w e r t s c h ä t z e n , die
das an der K o m p l e x i t ä t menschlicher B e d ü r f -
ihnen j e w e i l s als bestimmten Subjekten oder
nisse und gesellschaftlicher Z u s a m m e n h ä n g e
Personengruppen z u k o m m e n . „Sich wechsel-
nicht vorbeigeht. U n d in dem M a ß e , w i e z i -
seitig w e r t s c h ä t z e n aber heißt,
vilgesellschaftliche Akteure g r ö ß e r e n E i n f l u ß
Beziehungen der S o l i d a r i t ä t zu
auf die f o r m a l e r organisierten Entscheidungs-
jemandem Solidarität entgegenzubringen n ä m -
untereinander
unterhalten:
instanzen r e p r ä s e n t a t i v e r Demokratie nehmen
lich meint, ihn oder sie als eine Person zu
und z u gewinnen versuchen, w i r d auch staat-
betrachten, deren Eigenschaften von Wert f ü r
liche P o l i t i k aufgrund dieser breiteren Basis
eine gemeinsame
von Beratung und Entscheidungsfindung ein
sind die sozialen Beziehungen, die w i r vor
h ö h e r e s M a ß an praktischer R a t i o n a l i t ä t be-
A u g e n haben, wenn w i r von 'Gemeinschaf-
anspruchen k ö n n e n . Direkte Demokratie und
ten' sprechen, stets V e r h ä l t n i s s e der Solidari-
Dezentralisierung stehen damit nicht i m G e -
tät: In ihnen bringe i c h dem anderen mehr als
gensatz zu r e p r ä s e n t a t i v e n F o r m e n der D e -
Respekt und Toleranz entgegen, i c h w e i ß m e i -
mokratie, sondern bilden deren
ne Lebensziele als etwas, das von seinen F ä -
wesentliche
Voraussetzung und E r g ä n z u n g .
higkeiten e r m ö g l i c h t oder bereichert
(Honneth
Entscheidend f ü r die Frage nach angemessenen Strategien der Beendigung von Ausgrenzungsprozessen behinderter M e n s c h e n ist ferner der H i n w e i s auf die zivilgesellschaftliche
S p h ä r e als F e l d der K o n f l i k t e r f a h r u n g und
-austragung. E x p l i z i t m u ß die Bedeutung der
Z i v i l g e s e l l s c h a f t als ein Netz von selbstorganisierten f r e i w i l l i g e n Vereinigungen bzw. T e i l ö f f e n t l i c h k e i t e n hervorgehoben
Verschiedenheit
nicht
nur
Lebenspraxis sind. Daher
wird"
1993: 263). D i e A n e r k e n n u n g in
Form sozialer W e r t s c h ä t z u n g in Gemeinschaften macht es m ö g l i c h , d a ß der/die einzelne
sich auf sich selbst positiv beziehen
kann,
und diese A r t von nach innen gerichtetem Vertrauen erlaubt es, ungezwungen auch von i n neren B l o c k i e r u n g e n die eigenen B e d ü r f n i s se z u artikulieren und die eigenen F ä h i g k e i ten a u s z u ü b e n .
werden, w o
passiv
toleriert
Diese Perspektive z i v i l e r Solidarität und ge-
w i r d , sondern die B ü r g e r i n n e n sich auch ak-
sellschaftlicher Selbstorganisation w i r d aber
tiv darum b e m ü h e n , sich gerade in jenen U n -
nur dann C h a n c e n auf R e a l i s i e r u n g haben,
terschieden zu verstehen und zur L ö s u n g strit-
insoweit es staatlicher P o l i t i k gelingt, ihr e i -
tiger Fragen beizutragen, die ethisch b e g r ü n -
genes A u f g a b e n v e r s t ä n d n i s in R i c h t u n g ent-
det sind. Neben der A n e r k e n n u n g eines bür-
wicklungorientierter Strategien z u k o r r i g i e -
gerrechtlichen Status kommt in dieser Streit-
ren (Evers 1989). Staatlicher P o l i t i k fällt hier
praxis - und das m ö c h t e ich betonen - auch
die A u f g a b e zu, auf behutsame, aber entschie-
ein M i n i m u m an sozialer W e r t s c h ä t z u n g z u m
dene Weise die sozialen Kontexte zu v e r ä n -
A u s d r u c k . W i e Honneth (1993: 263) verdeut-
dern, eine soziale Infrastruktur und f i n a n z i -
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10. HEFT 2, 1997
eile Ausgangsbedingungen z u schaffen, die
halb, w e i l nur so die Idee selbstgesetzter Wer-
es wahrscheinlicher machen, d a ß M e n s c h e n
te gesichert werden kann, die nicht nur ein
sich in sozialer Hinsicht ' m o r a l i s c h ' verhal-
historisch nicht mehr hintergehbares F a k t u m
ten, d.h. als freie Individuen die A u s w i r k u n -
darstellt, sondern auch die recht verstandene
gen ihres Handelns auf andere bedenken und
F o r m gelungener I n t e r s u b j e k t i v i t ä t z u m A u s -
diese in das eigene Handeln miteinbeziehen.
druck bringt" ( R ö s s l e r 1994: 84f; B e n j a m i n
U m es noch einmal hervorzuheben: E s kann
1990; Rommelspacher 1992). D i e F ö r d e r u n g
dabei nicht um die F ö r d e r u n g jedweder G e -
b ü r g e r s c h a f t l i c h e n Engagements kann nur i m
meinschaften gehen. „ G e m e i n s c h a f t e n [kön-
umfassenden R a h m e n einer arbeitszeitpoliti-
nen, E . H . ] ihrem eigentlichen, positiven Sinn
schen Neuorientierung gelingen. D i e ' H y p e r -
nur gerecht werden, wenn sie als f r e i w i l l i g e
dominanz' der Erwerbsarbeit f ü r das
und e g a l i t ä r e Gemeinschaften und nicht als
Leben und die bestehende Geschlechterhier-
ganze
durch ( m ä n n l i c h e ) Traditionen und A u t o r i t ä -
archie stehen in einem engen wechselseiti-
ten vorgegebenen Gemeinschaften verstanden
gen K o n s t i t u t i o n s z u s a m m e n h a n g . Erst eine
werden. U m die Idee von Freiheit in G e m e i n -
Arbeitszeitpolitik, die auf die A b l ö s u n g der
schaften z u sichern, ist dieser Rekurs auf F r e i -
Vorherrschaft der Arbeit f ü r das ganze L e b e n
w i l l i g k e i t wesentlich. E r ist wesentlich des-
zielt und sich an der gleichberechtigten V i e l -
85
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
falt unterschiedlicher B e d ü r f n i s s e und Inter-
3
essen orientiert, die das D i k t a t des Zeitre-
Selbstorganisierte
ambulante Dienste
gimes der Erwerbsarbeit zugunsten einer neuen Synchronisation der verschiedenen R h y t h -
Selbstorganisierte ambulante Dienste sind als
men des Lebens aufbrechen w i l l , schafft die
eine Variante institutioneller M a n i f e s t a t i o n der
wesentlichen Voraussetzungen f ü r die Ü b e r -
Zivilgesellschaft
windung der Geschlechterhierarchie und da-
d a ß sie sich nicht eindeutig einem der B e r e i -
mit die Voraussetzungen f ü r die Realisierung
che von Markt, Staat und privaten Haushal-
f r e i w i l l i g e r und e g a l i t ä t e r G e m e i n s c h a f t e n .
ten zuordnen lassen. A u s dieser Z w i s c h e n l a -
Erst hier gewinnen alle mehr Freiraum f ü r die
ge f o l g t der vermittelnde Charakter
Entfaltung bisher v e r n a c h l ä s s i g t e r und unter-
F o r m personenbezogener Dienstleistung, d.h.
d r ü c k t e r C h a n c e n allseitiger E n t w i c k l u n g der
hier m ü s s e n erhebliche Spannungen z w i s c h e n
eigenen P e r s ö n l i c h k e i t ( K u r z - S c h e r f 1994).
dadurch
gekennzeichnet,
dieser
sektorspezifischen L o g i k e n ausbalanciert werden. D i e spezifische Q u a l i t ä t dieser Balance-
O h n e die H o f f n u n g auf z i v i l e Ö f f e n t l i c h k e i t
arbeit kann aber nicht allein dadurch
und Solidarität ü b e r d e h n e n z u wollen, kann
stimmt werden, d a ß hier S t ä r k e n und S c h w ä -
be-
doch f ü r die interessierende Frage der Selbst-
chen isoliert betrachteter Sektoren i n A d d i t i -
b e s t i m m u n g behinderter
M e n s c h e n zusam-
ons- und Subtraktionsverfahren neu k o m b i -
menfassend behauptet werden, d a ß die A k t i -
niert werden. M i t dem B e g r i f f 'synergetische
vierung und F ö r d e r u n g des zivilgesellschaft-
M i x e ' (Evers 1992: 54) ist angesprochen, d a ß
lichen Bereiches seitens staatlicher S o z i a l p o -
spezifische S t ä r k e n sich erst ausmachen und
litik i m oben a n g e f ü h r t e n Sinne hier wesent-
optimieren und spezifische S c h w ä c h e n sich
liche Voraussetzungen sichert und Perspekti-
erst minimieren lassen, wenn man sie als B e i -
ven e r s c h l i e ß t . M i t den M ö g l i c h k e i t e n zu po-
träge in einem gemischten Arrangement er-
litischer P a r t i z i p a t i o n und
wertschätzender
mittelt. Erst solche Institutionen, die eine i n -
in g e m e i n s c h a f t l i -
teraktive V e r k n ü p f u n g unterschiedlicher Ver-
chen Z u s a m m e n h ä n g e n der Z i v i l g e s e l l s c h a f t
fahrensweisen in der Organisation ihrer A r -
sind soziale Voraussetzungen gegeben, die als
beit erreichen, garantieren als Synergieeffekt
ausschlaggebend
eine
Anerkennungserfahrung
dafür
angesehen
werden
dynamisch-innovative
demokratische
k ö n n e n , ob es behinderten M e n s c h e n gelingt,
Alltags- und H i l f e k u l t u r jenseits nur punktu-
von der ihnen zunehmend rechtlich g e w ä h r -
eller A d - h o c - S o l i d a r i t ä t e n und
ten Freiheit zur Selbstbestimmung auch tat-
Institutionen. D i e Etablierung einer Instituti-
sächlich Gebrauch zu machen. M i t h i n stellt
onskultur, die auftretende A m b i v a l e n z e n we-
der z i v i l g e s e l l s c h a f t l i c h e B e r e i c h jene insti-
der verleugnet noch einseitig a u f z u l ö s e n ver-
tutionellen Arrangements bereit, die sich vor
sucht, sondern quasi in der Schwebe hält, er-
allem f ü r die spezifischen B e i t r ä g e behinder-
m ö g l i c h t institutionelles L e r n e n und e r ö f f n e t
ter M e n s c h e n sensibel zeigen, diese s o w o h l
insofern die Chance, die eigene Verantwor-
stützen als auch einfordern und somit aner-
tung f ü r die Inklusion des/der Ausgegrenz-
kennen. D i e s e spezifische Q u a l i t ä t soll i m f o l -
ten wahrzunehmen.
genden f ü r die selbstorganisierten
Dienste
ambulante
als z i v i l g e s e l l s c h a f t l i c h - k o l l e k t i v e
A k t e u r e i m B e r e i c h der Behindertenhilfe anhand der A r b e i t des fib e.V. konkretisiert werden.
verkrusteter
In A n l e h n u n g an eine Darstellung von Evers
et al. (1993: 47) soll der synergetische M i x
f ü r den f i b e.V. veranschaulicht werden. S e i ne i n t e r m e d i ä r e A r b e i t s - und A n g e b o t s f o r m
86
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
zielt darauf ab, den einzelnen
behinderten
behinderten
M e n s c h e n und W o h n u n g s i n -
M e n s c h e n aus dem Korsett an Restriktionen
habern
und Vorschriften z u befreien, das h e r k ö m m -
a b z u s c h l i e ß e n . D e r H i l f e v e r t r a g k a n n so
lich durch staatlich g e w ä h l t e und
bzw.
Wohnungsbaugesellschaften
verordnete
jederzeit g e k ü n d i g t werden, ohne d a ß die
H e l f e r g e s c h n ü r t wurde: der/die einzelne soll
A u f g a b e der bestehenden W o h n s i t u a t i o n
bei
notwendig damit verbunden w ä r e .
der Zusammenstellung des eigenen
Hil-
fearrangements den g r ö ß t m ö g l i c h e n Entscheidungsspielraum realisieren, indem gewisserm a ß e n eine unternehmerische
Rolle
•
D e r Hilfevertrag darf auch nicht an andere
gegen-
Bedingungen g e k n ü p f t sein, wie z . B . der
wird.
Besitz eines Arbeitsplatzes i n einer W e r k -
Dies s c h l ä g t sich in folgenden G r u n d s ä t z e n
statt f ü r Behinderte. D a m i t w ä r e die F r e i -
ü b e r den H e l f e r i n n e n eingenommen
der f i b - A r b e i t nieder.
w i l l i g k e i t als Grundlage des Vertrags i n
Frage gestellt. G r u n d s ä t z l i c h ist darauf zu
•
Zuallererst gilt als Grundlage der H i l f e l e i -
achten, d a ß nicht alle Lebensbereiche ( A r -
stung die Z u s t i m m u n g der Betroffenen und
beit, Freizeit, Wohnen) unter dem D a c h e i -
der A b s c h l u ß eines Hilfevertrages. A r t , Zeit,
ner Institution organisiert werden, so d a ß
Ort und U m f a n g der H i l f e n werden als Ver-
Wechsel, Wahl und neue Erfahrungen nicht
tragsinhalt v o n den K u n d i n n e n selbst fest-
oder nur sehr e i n g e s c h r ä n k t m ö g l i c h sind.
gelegt. D i e H i l f e l e i s t u n g soll also
flexibel
nach den i n d i v i d u e l l e n B e d ü r f n i s s e n der
•
Das Laienhelferlnnen-Prinzip bedeutet, d a ß
Betroffenen erbracht werden, deren W ü n -
selbstorganisierte
sche und Interessen sind m a ß g e b e n d , nicht
die H i l f e vor Ort generell den Einsatz v o n
die Vorgaben der Institution.
Laienhelferlnnen bevorzugen. Dieses P r i n -
ambulante
Dienste f ü r
zip b e g r ü n d e t sich aus dem S e l b s t v e r s t ä n d •
D i e H i l f e ist als H i l f e l e i s t u n g gegen B e -
nis behinderter
zahlung z u konzipieren. Unentgeltliche H i l -
die Expertinnen ihrer Situation sind und
fe ist oft mit Situationen verbunden, in de-
am besten wissen, welcher U n t e r s t ü t z u n g
nen v o n den B e t r o f f e n e n erwartet w i r d ,
sie b e d ü r f e n . D i e G e f a h r der B e v o r m u n -
dankbar f ü r erhaltene U n t e r s t ü t z u n g s l e i -
dung durch professionelle H e l f e r i n n e n soll
stungen sein z u m ü s s e n , so d a ß die A r t i -
dadurch unterbunden
k u l a t i o n eigener B e d ü r f n i s s e nicht
5). D i e a u s s c h l i e ß l i c h e B e s c h ä f t i g u n g v o n
mehr
erfolgen kann.
Desweiteren
wird
werden ( V I F 1985:
ungelernten, sozial und f i n a n z i e l l schlecht
abgesicherten
•
M e n s c h e n , d a ß sie selbst
darauf
geachtet,
K r ä f t e n w i r d v o m f i b e.V.
jedoch auch als qualitative E i n s c h r ä n k u n g
daß
Wohnen und H i l f e l e i s t u n g nicht aneinan-
angesehen, die es i n Z u k u n f t durch die
der gekoppelt werden. D i e U n v e r l e t z l i c h -
Festanstellung
keit der Wohnung als Grundrecht (Art. 13
ü b e r w i n d e n gilt (fib 1991: 162). Insbeson-
des Grundgesetzes) ist zu sichern. Z u m H i l -
dere gilt dies f ü r Bereiche, die speziell A n -
feangebot g e h ö r t zwar die U n t e r s t ü t z u n g
gebote f ü r M e n s c h e n mit geistigen B e e i n -
bei
t r ä c h t i g u n g e n entwickelt haben und w e i -
der Wohnungssuche,
d.h. aber nicht,
hauptamtlicher
K r ä f t e zu
tere e r s c h l i e ß e n w o l l e n .
d a ß der fib e.V. ü b e r Wohnungen in eigener T r ä g e r s c h a f t v e r f ü g t , die er dann an
behinderte
Menschen
weitervermietet.
M i e t v e r t r ä g e sind immer direkt zwischen
•
Als
letzter
und
vielleicht
wichtigster
Grundsatz soll hier noch a n g e f ü h r t wer-
87
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
den: Integration ist unteilbar! A m b u l a n t e
dessozialhilfegesetzes
H i l f e m u ß u n a b h ä n g i g v o m Schweregrad
Menschen mit geistigen B e e i n t r ä c h t i g u n g e n
(§§ 39ff B S H G ) f ü r
der B e e i n t r ä c h t i g u n g f ü r alle Menschen er-
anerkennt und finanziert. Z u d e m konnte der
reichbar sein. A u c h traditionelle ambulan-
Landeswohlfahrtsverband Hessen dazu be-
te Dienste ( z . B . Sozialstationen) bieten f ü r
wegt werden, f ü r 'Betreutes Wohnens' einen
M e n s c h e n mit dauerhaft intensiver H i l f e -
abweichenden P e r s o n a l s c h l ü s s e l v o n 1:6 (4,3
b e d ü r f t i g k e i t keine w i r k l i c h e Alternative
Std./Woche) H i l f e zu bewilligen und z u zah-
zu verwahrenden Versorgungsformen der
len. Insgesamt sind also knapp 16 Std.AVo-
Behindertenhilfe. D i e s e L ü c k e versuchen
che
selbstorganisierte
Dienste zu
m ö g l i c h . Z u d e m k ö n n e n als weitere F i n a n -
s c h l i e ß e n , i n d e m sie H i l f e n rund um die-
zierungsgrundlagen noch Leistungen der H i l f e
U h r sowie an Wochenenden und Feierta-
zur Pflege ( § § 68, 69 B S H G ) und teilweise
gen zur V e r f ü g u n g stellen. E i n s c h r ä n k e n d
auch der Pflegekassen herangezogen werden,
ist kritisch anzumerken, d a ß trotzdem vie-
so d a ß i m E i n z e l f a l l auch die finanzielle A b -
le behinderte M e n s c h e n das Angebot a m -
sicherung zeitintensiver H i l f e n m ö g l i c h ist.
bulanter H i l f e ü b e r h a u p t nicht erreicht. V o n
Ohne die ganzen U n z u l ä n g l i c h k e i t e n und U n -
W a h l f r e i h e i t kann also keine Rede sein,
sicherheiten a u f z u z ä h l e n , die mit dieser recht-
z u m a l sie schon i m V o r f e l d derart in eine
lichen und f i n a n z i e l l e n Regelung verbunden
Rehabilitationskette eingebunden sind, d a ß
sind, kann die Situation w i e i m fib-Jahresbe-
sich die eigene Entscheidung zu e r ü b r i g e n
richt 1996 so z u s a m m e n g e f a ß t werden: „ A l l
scheint. A b h i l f e k ö n n t e n hier vielleicht trä-
das sind nur K r ü c k e n , u m eine
g e r ü b e r g r e i f e n d e und - u n a b h ä n g i g e Infor-
Form
mations- und Beratungsstellen schaffen.
schen in ein normales W o h n - und L e b e n s u m -
ambulante
sozialpädagogisch
begründete
Hilfen
unteilbare
der E i n g l i e d e r u n g behinderter
Men-
feld zu realisieren" (Urban 1996: 61; D e g e n Diese
Grundsätze
verdeutlichen
einerseits
eine m ö g l i c h e V e r t r ä g l i c h k e i t von A r b e i t s und A n g e b o t s f o r m mit m a r k t i n d i v i d u a l i s t i scher Philosophie von Freiheit und D e m o k r a tie. Andererseits ist aber auch offensichtlich,
d a ß die K o n z e p t i o n des fib e.V. nicht v o l l s t ä n d i g in dieser P h i l o s o p h i e aufgeht: E s bedarf n ä m l i c h erheblicher kollektiver Garantien finanzieller und rechtlicher A r t , um solche
individuellen F r e i r ä u m e auch jenen Personen
zu e r ö f f n e n , denen sie ü b l i c h e r w e i s e mangels
finanzieller M i t t e l verschlossen w ä r e n .
er 1990). War f ü r die H i n w e n d u n g der S o z i alhilfeträger zu ambulanten F o r m e n der H i l fe neben h u m a n i t ä r e n G r ü n d e n vor allem das
erhebliche
Einsparungspotential
s t a t i o n ä r e n Versorgungsformen
gegenüber
ausschlagge-
bend, so ist das K o n f l i k t f e l d klar umrissen:
M i t der N o v e l l i e r u n g des B S H G 1996 hat der
Gesetzgeber v e r a n l a ß t , i m § 3a der ambulanten H i l f e den Vorrang g e g e n ü b e r der station ä r e n Versorgung e i n z u r ä u m e n , w o b e i nach
§ 3 den W ü n s c h e n der H i l f e e m p f ä n g e r nur
dann entsprochen werden soll, wenn dies k e i ne ' u n v e r h ä l t n i s m ä ß i g e n M e h r k o s t e n ' verursacht. D i e Auseinandersetzung ü b e r die In-
A l s v o r l ä u f i g e s und bisher bundesweit einzigartiges E r g e b n i s konnte der fib e.V. i m
m e h r j ä h r i g e n Rechtsstreit mit dem örtlichen
terpretation des B e g r i f f s ' U n v e r h ä l t n i s m ä ß i g keit' w i r d in j e d e m E i n z e l f a l l i m m e r wieder
neu g e f ü h r t werden m ü s s e n .
und ü b e r ö r t l i c h e n S o z i a l h i l f e t r ä g e r durchsetzen, d a ß die Stadt M a r b u r g bis m a x i m a l 11
Std.AVoche H i l f e b e d a r f auf der Grundlage der
Entscheidend wurden f ü r die Q u a l i t ä t institu-
sog. E i n g l i e d e r u n g s h i l f e i m R a h m e n des B u n -
tioneller Arrangements i m Zivilgesellschaft-
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
liehen B e r e i c h vor allem die M ö g l i c h k e i t zu
den kann: W o k ö n n e n und m ü s s e n G r e n z e n
politischer Partizipation und Gemeinschafts-
ü b e r s c h r i t t e n werden, und w o erweisen sie
bildung herausgestellt.
Insofern m u ß f ü r die
sich als sinnvoll und h i l f r e i c h ? O h n e
die
Arbeit des fib e.V. noch ein Drittes a n g e f ü h r t
Grundlegung der A r b e i t des fib e.V. auf die-
werden: R a d i k a l i s i e r e n d e Forderungen
ser Basis von D i a l o g und Kooperation z w i -
und
Neuerungen w ä r e n gar nicht aufgestellt und
schen
umgesetzt worden, wenn der fib e.V. nicht von
schen und professionellen H e l f e r i n n e n , w ä r e
v o n B e h i n d e r u n g betroffenen
Men-
A n f a n g an eine Doppelstrategie verfolgt hät-
es weder dazu gekommen, dieses M o d e l l mit-
te. So werden nicht nur mehr i n d i v i d u e l l e
samt seiner D i f f e r e n z z u m rein versorgungs-
W a h l - und F r e i h e i t s s p i e l r ä u m e i m oben an-
staatlichen
g e f ü h r t e n Sinne angestrebt. G l e i c h z e i t i g sol-
Ansatz durchzusetzen, noch w ä r e es m ö g l i c h
len auch die M ö g l i c h k e i t e n gemeinsamer B e -
geworden, jene
teiligung f ü r all jene g e ö f f n e t und g e s t ä r k t
ments herzustellen, die bislang oft in vieler-
und
rein
marktwirtschaftlichen
vertrauensvollen
Arrange-
werden, die ü b e r ihren durch die P r i m ä r - und
lei Hinsicht hilflosen Menschen M u t machen,
Arbeitsbeziehungen begrenzten Radius sozia-
zu lernen, wie man selbst etwas unternimmt
ler B e z i e h u n g e n zur Thematisierung p o l i t i -
und wieder die K r a f t der eigenen Entschei-
scher A n l i e g e n hinaus w o l l e n . Ohne diesen
dung erlangt. Diese F o r m e n des R ü c k h a l t s bei
B e z u g zur gemeinsamen
politischen A k t i o n
einer Gemeinschaft und einem K o l l e k t i v b i l -
ist die A r b e i t des f i b e.V. undenkbar. Initiato-
den bis heute das K o m p l e m e n t des Z u g e w i n n s
rinnen des vor 15 Jahren g e g r ü n d e t e n fib e.V.
an individuellen Freiheiten und sind die ent-
waren z u m einen die in provokativer A b s i c h t
scheidende Voraussetzung f ü r die spezifische
sich selbst so bezeichnende
Krüppelbewe-
Qualität der Arbeits- und A n g e b o t s f o r m des
gung und z u m anderen die von antiautoritä-
fib e.V. Wesentlicher B e z u g s p u n k t ist hier
ren Ideen g e p r ä g t e n S o n d e r p ä d a g o g i k s t u d e n -
nach wie vor die E r f a h r u n g v o n behinderten
tinnen, die gemeinsam ein gesellschaftskriti-
Menschen, wenn nicht schon von der V e r f ü -
sches G e g e n m o d e l l entwickeln wollten: f ü r
gung Uber m i n i m a l e gesellschaftliche Stan-
selbstbestimmte
dards materieller Teilhabe ausgeschlossen, so
W o h n - und L e b e n s f o r m e n ,
A r b e i t in nicht-hierarchischen
Projektstruk-
doch i m H i n b l i c k auf gesellschaftliche E i n -
turen, ein H ö c h s t m a ß an Mitsprache und M i t -
f l u ß - und T e i l n a h m e m ö g l i c h k e i t e n
gestaltung f ü r alle Beteiligten sowie ein de-
zu sein.
machtlos
mokratisches V e r s t ä n d n i s helfender B e z i e h u n gen zu f ö r d e r n , in dem behinderte Menschen
nicht nur als Konsumenten von Dienstleistungen, sondern auch als Ko-Produzenten personenbezogener
A r b e i t s - und A n g e b o t s f o r -
men i m B e r e i c h der Behindertenarbeit
und
Eric Hammann,
D i p l . P ä d . , ist Mitarbeiter des
fib e.V. i m Arbeitsbereich A m b u l a n t e H i l f e n
z u m s e l b s t ä n d i g e n L e b e n f ü r geistig behinderte M e n s c h e n ' .
als Gestalter von f a m i l i e n u n a b h ä n g i g e n oder
ergänzenden
S o l i d a r f o r m e n auftreten.
wichtigste A u f g a b e n f e l d der
fib-Arbeit
Das
be-
steht also in der Herstellung ö f f e n t l i c h e r R ä u me, w o i m kollektiven Austausch zwischen
behinderten und nicht-behinderten Menschen
ausgelotet werden kann, w i e eine K u l t u r der
G l e i c h h e i t i m Verschiedenen realisiert wer-
Kontakt: fib e.V., Verein zur F ö r d e r u n g der
Integration Behinderter, Biegenstr. 34, 35037
Marburg.
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2,
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Literatur
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
r O K s a
jung*
BfKk"! Ml"
Palästina am
Scheidepunkt
Civil Society zwischen
Befreiungskampf und
Demokratie
felhaft die Herausbildung eines
demokratisch verfaßten palästinensischen Gemeinwesens vor
Augen hatte? W o sind die demokratietheoretisch relevanten
Potentiale der palästinensischen
Gesellschaft zu verorten?
Sonderfall Palästina
Palästina stellt für die Transformations- und Demokratisierungsforschung einen Sonderfall
„Whatever political entity final- dar:
Neben
der
internen
ly emerges on the West Bank (Re-)Organisation politischer,
and Gaza, there is a sound basis sozialer, zivilgesellschaftlicher
for attributing to the Palestinans und ökonomischer Strukturen in
a high potential for developing a der Folge liberalisierter Besatparticipant political System", for- zungsbedingungen stehen hier
mulierte Richard August Norton auch der Aspekt der national(1995: 13f) in der Einleitung ei- staatlichen Souveränität und daner Studie über zivilgesellschaft- mit Entscheidungen über die
liche Strukturen i m Nahen Osten. Staatsbürgerschaft und
das
Eine territorial endgültig defi- Staatsterritorium (im folgenden:
nierte politische Entität oder gar stateness) zur Disposition. Der
ein palästinensischer Staat exi- Fall Palästina offenbart damit ein
stieren auch 1997 noch immer weiteres Dilemma am Transfornicht, und die zögerlichen Ver- mationshorizont,
das
eines
handlungen um das Hebron-Ab- Transformationsprozesses,
in
kommen haben unlängst illu- dem die Nationalstaatsbildung
striert, wie sehr der israelisch- synchron zur Systemtransformapalästinensische Friedensprozeß tion verläuft. Beide Entwicklunins Stocken geraten ist. Der Aus- gen vollziehen sich dabei in eigang dieses Prozesses und da- nem Kontext nicht-demokratimit der Endstatus des inzwischen scher Traditionen und neopatriimmerhin teilautonomen palästi- archaler sozialer und politischer
nensischen Gemeinwesens sind Macht- und Herrschaftsstruktuderzeit vollkommen offen, wäh- ren. Das Hauptaugenmerk der
rend internationale Medien und vorliegenden Skizze konzentriert
Menschenrechtsorganisationen
sich allerdings weitgehend auf
autoritäre Tendenzen der Herr- die Beurteilung der demokratieschaftsausübung und fortgesetz- theoretischen Relevanz der (erte Menschenrechtsverletzungen staunlich) zahlreichen palästides palästinensischen Autono- nensischen zivilgesellschaftlimieregimes dokumentieren. Quo chen Organisationen innerhalb
vadis Palästina und wie valide dieser beiden Prozesse - so in
ist die eingangs formulierte The- einem nicht-staatlichen und neose Nortons, der implizit unzwei- patriarchalen Kontext überhaupt
die Rede von einer Zivilgesellschaft sein kann.
Gibt es eine palästinensische Zivilgesellschaft?
Die zunächst problematisch erscheinende Anwendung der
'klassischen' zivilgesellschaftlichen Konzepte und deren Perzeptionen innerhalb des sozialwissenschaftlichen civil societyDiskurses auf den palästinensischen Fall kann dabei über die
P r ü f u n g der folgenden Ausgangsfragen aufgelöst werden:
(1) Inwieweit sind universalistisch-normative Konzeptionen
der Zivilgesellschaft explizit und
ausschließlich auf demokratische
Gesellschaften bzw. solche in einem demokratischen Transformationsprozeß zugeschnitten?
(2) Gibt es eine Zivilgesellschaft
ohne den Referenzpunkt (Nation a l s t a a t ? (3) Ist die Zielsetzung
'nationalstaatliche Souveränität'
legitimes Anliegen einer Z i v i l gesellschaft?
(1) Es kann als unstrittig gelten,
daß die Herausbildung zivilgesellschaftlicher Strukturen und
Handlungsspielräume i m Rahmen einer rechtsstaatlich verfaßten demokratischen Ordnung auf
ungleich günstigere Ausgangsbedingungen trifft als in autoritären politischen Systemen. Dies
bedeutet jedoch nicht zwingend,
daß die Entstehung einer Z i v i l gesellschaft in letzterem Falle
unmöglich ist. Im Gegenteil können zivilgesellschaftliche Organisationsformen in solchen Systemen einen substantiellen B e i trag zur Aufweichung autoritärer Herrschaftsformen sowie zur
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
Erosion deren gesellschaftlicher
Durchdringungspotentiale leisten
und damit den Boden f ü r eine
postautoritäre,
demokratische
Entwicklung bereiten (Lauth/
M e r k e l 1997). Freilich ist die
Respektierung universeller K r i terien wie der Verzicht auf physische Gewalt, nicht-intendiertes
Streben nach politischer Herrschaft und Ämtern, Freiwilligkeit, wechselseitige Toleranz,
Akzeptanz und Pluralität (Diamond 1994) als conditio sine qua
non f ü r eine Zivilgesellschaft
prinzipiell auch in nicht-demokratisch verfaßten Gesellschaften möglich.
(2) D i e zivilgesellschaftlichen
Organisationen agieren im Kontext einer fremdstaatlichen Besatzung. M i t dem israelischen
Besatzungsregime ist damit auch
im palästinensischen Fall der
staatliche Referenzpunkt gegeben. Das Besatzungsregime läßt
die Herausbildung zivilgesellschaftlicher Assoziationsformen
dabei in dem M a ß e zu, wie diese den eigenen Herrschaftsstatus nicht zu gefährden drohen.
Die die Existenz einer zivilgesellschaftlichen Sphäre garantierenden rechtsstaatlichen Strukturen (Habermas 1992) existieren
hingegen nicht. Die Beendigung
dieser Besatzungsbedingungen
und die Herstellung einer eigenstaatlichen Autorität avancieren
dementsprechend zum Primärziel der palästinensischen Z i v i l gesellschaft. 'Adressaten' ihrer
Aktivitäten sind neben dem Besatzungsregime die Organisationen der nationalen Befreiungsbewegung und seit 1994 die pa-
lästinensische
waltung.
Autonomiever-
(3) Bleibt die Frage nach der L e gitimität ihrer Zielausrichtung:
Das Erreichen nationalstaatlicher
Souveränität kann dann ein legitimes Anliegen sein, wenn zivilgesellschaftliche Strukturen und
Handlungen erstens von pluralistischen Partikularinteressen und
zweitens von einem gemeinsamen normativen Basiskonsens
im Sinne der genannten universellen Kriterien flankiert werden.
Denn: um eine mögliche innerstaatliche zivilgesellschaftliche
oder gar demokratische Entwicklung zu verfolgen, m u ß diese
Staatlichkeit erst hergestellt werden. Insofern zielt das Streben
zivilgesellschaftlicher Organisationen und Assoziationen nach
nationalstaatlicher Souveränität
auf 'öffentliche Angelegenheiten' innerhalb einer fremdbestimmten Handlungssphäre. Für
die Beurteilung der demokratietheoretischen Relevanz der palästinensischen Zivilgesellschaft
ist deshalb entscheidend, inwieweit sie den angeführten notwendigen Bedingungen gerecht wird,
welche Funktionen sie erfüllt
und durch welche Erscheinungsmerkmale sie charakterisiert ist.
Organisationsvielfalt
und'vertagte'
Partikularinteressen
Die Wurzeln des traditionellen
palästinensischen Organisationswesens und die Gründung von
Gewerkschaften, Frauen- und
Studentenverbänden
sowie
Wohlfahrtsorganisationen in den
91
U r b a n e n Zentren datieren zum
Teil vor Beginn der Okkupation. Die marginale sozioökonomische Staatstätigkeit und die
repressive Realität des Besatzungregimes (Watzal 1994), aber
auch dessen eingeschränkte gesellschaftliche Durchdringungskapazität weichen zusammen mit
erneuten Modernisierungsimpulsen neopatriarchale soziale M u ster an den Rändern auf und bereiten so den Boden f ü r die Ausweitung bestehender Organisationen (Tamari 1991: 65) und die
Herausbildung weiterer kollektiver zivilgesellschaftlicher A k teure.
Die palästinensische Zivilgesellschaft zeichnet sich durch eine
hohe Inklusivität und einen mit
der Besatzungszeit, vor allem in
den achtziger Jahren, wachsenden Vernetzungs-, Interaktionsund Organisationsgrad aus.
Die Mobilisierungspotentiale der
palästinensischen Zivilgesellschaft liegen in der allen Organisationen gemeinsamen politischen Zielsetzung begründet, die
in der Sicherstellung der Grundversorgung, der Schaffung einer
von Israel unabhängigen sozioökonomischen Infrastruktur und
in der Beteiligung am nationalen Befreiungskampf ihren Ausdruck findet. Diese Aktivitäten
stoßen auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens, dessen
Basis wiederum das Identifikationsmerkmal der nationalen Z u gehörigkeit ist. Partikularinteressen hingegen - gewerkschaftliche, frauenpolitische, studentische etc. - werden dem kollekti-
92
ven Primärinteresse untergeordnet und auf den Zeitpunkt nationalstaatlicher Unabhängigkeit
vertagt (Hiltermann 1991: 7f;
Jawwad 1990: 66; Muslih 1995:
252). Z u einer die gesamte Gesellschaft horizontal integrierenden Entfaltung pluralistischer Interessen kommt es daher nicht,
die politische Kultur bleibt vorwiegend parochial, wenngleich
mit einer im Verlauf der Besatzung wachsenden partizipativen
Komponente.
'Defekte' palästinensische Zivilgesellschaft
D i e Organisationen der Zivilgesellschaft weisen eindeutige A f finitäten zur nationalen Befreiungsbewegung und Kongruenzen mit der Präferenzordnung der
P L O bzw. ihren Faktionen auf;
sie scheren in den Elitenkonsens
hinsichtlich des Primats der Nationalstaatsbildung ein. Bezeichnenderweise sind vor allem die
mitgliederstärksten Organisationen von derselben Faktionalisierung geprägt wie die P L O (Jad
1990: 131); ihre Dachverbände
sind in die PLO-Organisationsstruktur hineinkooptiert. Andere
Organisationen
werden von
PLO-nahen politischen Eliten
penetriert und kulturelle Foren
und Medien verstehen sich
schließlich als Multiplikatoren
der nationalen Identität (Ashrawi 1990: 77ff; Taraki 1990).
W ä h r e n d die Autonomie der z i vilgesellschaftlichen Sphäre gegenüber dem Besatzungsregime
gegeben ist, fehlt sie hingegen
weitgehend gegenüber der quasi-staatlichen P L O . Die zivilgesellschaftliche Sphäre avanciert
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
vielmehr zum funktionalen
Äquivalent für die fehlende political society in den besetzten
Gebieten und zum gesellschaftlichen Resonanzboden f ü r die
nationalistischen Mobilisierungen durch die P L O und ihre
Faktionen (Taraki 1990: 62).
Die von Arafats Fatah-Bewegung dominierte E x i l - P L O wird
in Abwesenheit einer eigenstaatlichen Autorität zum informellen politischen Agenten f ü r die
Regelsetzung der assoziativen
Aktivitäten (Muslih 1995: 266)
und greift aus dem E x i l mittels
eines eigens eingerichteten ' M i nisteriums' sowie über ihre klandestinen Counterparts in Westbank und Gaza systematisch auf
die zivilgesellschaftliche Infrastruktur zurück, um über diesen
Transmissionsriemen auch die
palästinensischen Massen zu kollektiven Aktionen gegen das Besatzungsregime zu mobilisieren:
Bereits vor Beginn der Intifada
kommt es wiederholt zu Streiks,
Protestaktionen und Demonstrationen. Dabei entlarven die Verbände und Assoziationen die
Dysfunktionalitäten des autoritären Besatzerregimes und Menschen- und Bürgerrechtsgruppen
untergraben seine Legitimität ein empirischer Befund, der sich
mit den Ergebnissen anderer
Länderanalysen
(Forschungsjournal N S B 10/1997, 1) deckt.
Im palästinensischen Fall allerdings verstärkt sich über die Interaktion von P L O , zivilgesellschaftlichen Akteuren und 'Massen' vor allem die kollektive nationale Identität. Es entstehen die
verhaltensstandardisierenden
Normen und Codes eines cleavageübergreifenden/jat/wiafarjc
capitals, aus dem sich ein hohes
Mobilisierungspotential speist
und das Herrschaftsanspruch und
nationstate
/ i ' m - P r ä f e r e n z der
E x i l - P L O auch innerhalb der besetzten Gebiete legitimiert.
Social Capital als
Nebenprodukt
Das als Ausgangsbedingung f ü r
einen erfolgreichen demokratischen Transformationsprozeß so
fundamentale social capital (Putnam 1993: 163-185) häuft sich
hingegen nur als Nebenprodukt
an und bleibt auf die internen
Akteure, politische wie zivilgesellschaftliche, beschränkt. Genau hier sind deshalb in Ansätzen die - auf längere Sicht - relevanten demokratischen Potentiale der palästinensischen Gesellschaft zu verorten: Im Gegensatz zu den delegativen Praktiken der Elitenreki'utierung auf
Seiten der Exilorganisationen
greifen einzelne interne Gruppierungen, um angesichts der repressiven Rahmenbedingungen
(Verhaftungen, Deportationen)
nicht zerschlagen zu werden, zu
Dezentralisierungsmaßnahmen
und wählen ihre F ü h r e r s c h a f t
über demokratische bzw. semidemokratische Verfahren (AbuA m r 1996: 87). Zudem entwikkeln sie über ihre Aktivitäten
eine Kultur des Widerstands gegen autoritäre Herrschaftsformen
und eine Tradition gesellschaftlicher Selbstorganisation. Ihre
organisatorische Binnenstruktur
ist zwar insgesamt weniger hierarchisch und vertikal als diejenige der Exilgruppierungen, ihre
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2 , 1 9 9 7
Mitgliederstruktur aber spiegelt
ebenso wie diejenige der externen Organisationen weiterhin
den transformatorischen Grundcharakter des Neopatriarchalismus wider. Die Anbindung der
zivilgesellschaftlichen Sphäre an
das PLO-Staatssurrogat koinzidiert dabei wiederum mit der geringen funktionalen Ausdifferenzierung und steigert so die E r folgsaussichten der klassenübergreifenden nationalistischen M o bilisierung in der Intifada: Die
zivilgesellschaftliche
Sphäre
wird zur sozialen Infrastruktur
des permanenten Widerstands
gegen das Besatzungsregime und
die Intifada zum zentralen endogenen Delegitimierungs- und
Destabilisierungsfaktor f ü r das
Besatzungsregime.
Stateness versus
Demokratisierung
Durch die Autonomieabkommen
Oslo I und II explizit legitimiert
und durch die demokratischen
Wahlen von 1996 bestätigt,
kommt es nach 1994 schließlich
zur Institutionalisierung
der
PLO-Exil-Führung als neue palästinensische Regimeelite. Sie
überträgt ihre Präferenz des nationstate first und ihre neopatriarchialen,
undemokratischen
Herrschaftsstrukturen auf das
neue Gemeinwesen. Die von den
PLO/Fatah-Eliten besetzte Palestinian Authority (PA) bestimmt
nunmehr die rules of the game
und orientiert politische Entscheidungsprozesse primär entlang des von ihnen selbst definierten nationalen Interesses: Der
nationalistische Faktor und das
Herrschaftsverständnis der neu-
en Regimeeliten üben einen
nachhaltigen Einfluß auf die Institutionalisierung des Autonomieregimes aus. Während weite
Teile der Gesellschaft und der
Zivilgesellschaft noch immer
den Imperativen der nationalen
Befreiungsbewegung verhaftet
sind, entzündet sich an der autoritären Herrschaftspraxis der aus
dem E x i l zurückgekehrten A u tonomieeliten die Kritik einzelner interner politischer Eliten
und zivilgesellschaftlicher Organisationen. Die P A wiederum ist
um die Aufrechterhaltung des für
ihre interne Herrschaftslegitimation konstitutiven nationalen
Konsenses bemüht und begegnet der Artikulation divergierender Interessen mit ambivalenten
Strategien. Entweder über K o optationen und Verhandlungen
oder aber über Korruption und
Repressionen. Der Entfaltung
pluralistischer Interessen stehen
neue constraints entgegen.
E i n konstitutioneller Rahmen,
der die Artikulation und Aggregation unterschiedlicher politischer und gesellschaftlicher Interessen rechtlich normieren, vor
allem aber die Autonomie des
gewählten Parlaments und der
zivilgesellschaftlichen Handlungssphäre garantieren würde,
existiert noch immer nicht. Die
zweifellos vorhandenen demokratischen Kräfte innerhalb der
palästinensischen Gesellschaft
stehen deshalb vor der schwierigen Situation, sich i m Kontext
neuer autoritärer und nicht-konstitutioneller Strukturen zu organisieren und das Erreichen nationalstaatlicher Souveränität mit
den Prärogativen einer demokratischen Transformation in E i n klang zu bringen. Inwieweit dies
in Anbetracht der Vielzahl der
auf den palästinensischen Transformationsprozeß einwirkenden
Einflußfaktoren gelingen kann,
wird nur längerfristig zu beurteilen sein.
Iris Bauer, Institut f ü r Politikwissenschaft, Universität Mainz.
Literatur
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and the Palestinians. In: Journal
of Democracy V o l . 7/1996, 3,
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Populär Committees. Palestinian Women 1919-1989. In: Nassar, Jamal R./Heacock, Roger
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125-142.
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1 9 9 7
Jawwad,
Islah Abdul
1990: The
Zuschüssen und dem Lastenausgleich) angebunden
bliebe,
schien die poll tax mit ihrer spezifischen Form dazu geeignet, in
Zukunft die Schwächung von jenen politischen Kräften zu garantieren, die Einsparungen entLauth,
Hans-Joachim/Merkel,
gegenstanden. So sollte poll tax
Wolfgang 1997: Zivilgesellschaft Die anti-poll tax campaign war garantieren, daß jeder Bürger f ü r
und Transformation. In: For- eine der wichtigsten Protestbe- den vom ihm angerichteten
schungsjournal N S B 10/1997, 1. wegungen gegen die neoliberale Schaden zur Verantwortung geMuslih, Muhammad
1995: PalePolitik der Regierung Thatcher. zogen werden konnte. L o k a l e
stinian C i v i l Society. In: Norton, Nach einer ganzen Reihe von in- Widerstände gegen die sozialRichard August (ed.): C i v i l So- nenpolitischen Siegen dieser Re- staatliche
Einsparungspolitik
ciety in the Middle East. Leiden gierung - z.B. gegenüber der La- sollten dadurch gebrochen weret al., 243-268.
bour Party bei den Wahlen 1983
den, so daß an der Schnittstelle
Norton,
Richard
August
1995:
und 1987, den Gewerkschaften zwischen Staat und Bürger ein
Introduction, in: Ders. (Hrsg.): im miner 's strike 1984/85 - bot marktförmiges Regime verankert
C i v i l Society in the Middle East. die 1989 in Schottland und 1990 würde (Mac Gregor 1988). D i e
Leiden et al., 1-25.
für den Rest Großbritanniens (mit poll tax sollte i m Sinne des ThatPutnam,
Robert
1993: M a k i n g
Ausnahme der Provinz Nordir- cherismus 'individualisierend'
Democracies Work. Civic Tra- land) eingeführte poll tax den
wirken.
ditions in Modern Italy. Prince- Anlaß f ü r ein symbolträchtiges
ton.
Zurückweisen der Auswüchse der Doch das tat sie nicht. Vielmehr
Tamari,
Salim 1991: The Pale77!arc7ierire-Ideologie.
entzündete die Entscheidung
stinian Movement in Transition.
eine massive Protestbewegung.
Historical Reversais and the Poll fax als Politikum
In Schottland, wo die Abgabe
Uprising. In: Journal of Palestizuerst eingeführt wurde, verweiDie poll tax war eine abgabenne Studies 20/1991,2, 57-70.
gerten schon i m ersten Jahr über
förmige lokale Steuer, die jeder
Taraki,
Lisa
1990: The De600.000 Bürger die Entrichtung
erwachsene Bürger an seinem
velopement of Political Conscider poll tax. A m 31. M ä r z 1990,
Wohnort f ü r lokale öffentliche
ousness in the Occupied Terrieinen Tag vor der Einführung der
Dienstleistungen wie Müllabfuhr
tories 1967-1987. In: Nassar, JaAbgabe in England und Wales,
etc. entrichten sollte. 1989 führmal R./Heacock, Roger (eds.):
protestierten auf zwei nationate die Regierung Thatcher die
Intifada. Palestine at the Crosslen Kundgebungen in Schottland
offiziell als Community
Charge
roads. New York et a l , 53-71.
(Glasgow) und in England (Lon(Kommunalabgabe) bezeichnete
Watzal,
Ludwig
1994: Frieden
don) über 200.000 Menschen geSteuer ein, um lokale Steuerzahohne Gerechtigkeit? Israel und
gen die Steuer. Für das Finanzler - insbesondere Hauseigentüdie Menschenrechte der Palästijahr
1990/91
folgten rund
mer, eine wichtige und einflußnenser. Köln et al.
4,5 M i l l . Briten dem schottireiche Wählergruppe der Toryschen Beispiel und hielten ihre
Partei - längerfristig von K o m lokalen Steuerzahlungen zurück.
munalabgaben zu entlasten (Butler et al. 1994). D a jeder ErwachMobilisierung der Nichtsene zur geplanten Steuer beitragen würde und die Höhe der Mobilisierbaren?
Abgabe eng an die Ausgaben ei- Die Proteste gegen die poll tax
ner Gemeinde (nach Abzug von stellten die größte Mobilisierung
Evolution of the Political Role
of the Palestinian Women's M o vement in the Uprising. In: Hudson, Michael (ed.): The Palestinians. New Directions. Washington, 63-76.
Thatcherismus
und die
Proteste gegen
die poll tax
1
2
FORSCHU
zivilen Ungehorsams in der
Nachkriegsgeschichte Großbritanniens dar. Sie waren der M o bilisierungserfolg einer dezentralen Protestkampagne, die ohne
organisatorische Unterstützung
der Labour Party wie der nationalen Gewerkschaften zustande
kam. W i e kam es zu dieser außergewöhnlichen Protestmobilisierung?
Die poll tax verletzte mit ihrer
archaischen Steuerform das Gerechtigkeitsempfinden breiter
Teile der Bevölkerung und konnte mit der sonstigen Politik der
Regierung in Beziehung gesetzt
werden. Schon der Umstand, daß
bestimmte soziale Gruppen wie
Arbeitslose, Sozialhilfeempfängerlnnen. Rentnerinnen und
Hausfrauen vielfach zum ersten
Mal in ihrem Leben über eine
direkte Lokalsteuer belastet werden sollten, reichte im Vorfeld
der Protestkampagne aus, um die
poll tax zu einer öffentlich kontrovers diskutierten Politikentscheidung zu machen (Deacon/
Golding 1994). Die poll tax
spitzte den autoritären Politikstil
der Zentralregierung i m Umgang
mit den Kommunalverwaltungen
in einer Weise zu, die lokalen
Widerstand geradezu herausforderte. V o r allem in einer Region
wie Schottland, wo ohnehin tiefsitzende Ressentiments gegenüber dem Zentralstaat und der
Regierungspolitik Thatchers bestanden, mobilisierte die Entscheidung die lokale Öffentlichkeit (Lavalette/Mooney 1989).
Hier bildete sich schon im Frühjahr 1988 eine dezentrale Pro-
' '. H . i
2,1997
testbewegung heraus, die mit ihrer Aufforderung zum Steuerboykott wesentlich größere U n terstützung fand als moderate
Proteststrategien, wie sie i m besonderen von der Labour Party
und den Gewerkschaften vertreten wurden. Die Führung der Labour Party und der Gewerkschaften hatten sich schon i m
Herbst 1988 aus wahlstrategischen und mit dem New LabourImage
zusammenhängenden
Gründen entschieden gegen einen Steuerboykott ausgesprochen.' Damit wurde der Weg f ü r
eine dezentral und stark basisdemokratisch-organisierte antipoll tax campaign frei. Bis 1990
formierten sich in Großbritannien über 1.200 sog. anti-poll tax
Unions, die lokal von kleineren
linken Gruppierungen wie der
trotzkistischen Militant Tendency oder Studentenorganisationen,
Stadtteilinitiativen, aber auch
von lokalen Gewerkschaftsflügeln und Kirchenvertretern unterstützt wurden. Aufgrund ihrer
lokalen Verwurzelung konnten
häufig auch in Bewegungen marginalisierte Gruppen wie Sozialhilfeempfänger und (Haus-)Frauen im Rahmen ihrer lokalen Unions die Organisation selber politisch aktiv gestalten. Die nationalen Organisationen der Tendency oder der Socialist Workers
Party besaßen jedoch weder die
organisatorischen Mittel noch
die Verankerung an der Basis der
Bewegung, um die Kampagne
zentral zu steuern oder zu koordinieren. Eine wesentliche Besonderheit der Bewegung lag in
ihrer kommunalen Verwurzelung
(Burns 1992).
-1
Der überwältigende Mobilisierungserfolg für den Steuerboykott kann allerdings nur zum Teil
mit der lokalen Verwurzelung
der Bewegung erklärt werden.
Die Kampagne profitierte mit ihrer disruptiven Mobilsierungsstrategie auch von der schwachen Sanktionsgewalt der lokalstaatlichen Institutionen. Nur
deshalb konnten schließlich auch
Hunderttausende von Bürgern in
allen Regionen des Landes zum
Steuerboykott bewegt werden.
Waren die verschiedenen Protestbewegungen gegen den Thatcherismus vor allem deshalb gescheitert, weil sie kein Mittel gegen die durch eine gesellschaftspolitische Hegemonie stabilisierte law and order-Polhik der Regierung finden konnten, so stellte sich heraus, daß die Politik
der Regierung Thatcher im Fall
der poll tax auf lokaler Ebene
angreifbar war. Die poll tax bot
- nach 10 Jahren Thatcherismus
- für 'normale' Bürger die politische Gelegenheit zum regelverletzenden Protest. Das Beispiel
Schottland, wo die Bewegung
besonders stark war, machte
schon 1989 deutlich, daß ein
massenhafter Steuerboykott gegenüber der juristischen und polizeilichen Sanktionsgewalt der
Councils aufrechtzuerhalten war.
Deren
Maßnahmenkataloge
gegen Steuerschuldner - wie
(Lohn-)Pfändungen, Einfrieren
von Bankverbindungen - versagten gegen eine politisch mobilisierte Protestbewegung. Hierfür
war auch der Umstand bedeutsam, daß Großbritannien keine
Einwohnermeldeämter
kennt,
was die strafrechtliche Verfol-
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
. .
^ ^
/
^ *
gung erschwerte bzw. insbesondere in den durch häufige Wohnwechsel bestimmter Bevölkerungssegmente gekennzeichneten Innenstädten praktisch unmöglich machte. Die sonst erfolgreiche Strategie der Regierung Thatcher, Protestbewegungen bzw. soziale Unruhen mit
einer law and orrfer-Haltung zu
konfrontieren und über Ausgrenzung effektiv zu bekämpfen, war
angesichts der S c h w ä c h e der
Sanktionsgewalt des lokalen
Staats gegenüber der anti-poll
tax campaign zum Scheitern verurteilt.
Die non-payment-Zah\en entwikkelten sich 1990 zum unerbittlichen Barometer, welches anzeigte, daß die Zeit f ü r die konservative Regierung unter der Führung
von Margret Thatcher abgelaufen war. Innenpolitisch kompromißunfähig, waren ihr die politischen Zügel aus der Hand geglitten. Folglich zeichneten sich
schon im Sommer 1990 jene
kurzfristigen politischen Wirkungen ab, die die anti-poll tax
campaign zu einer erfolgreichen
Protestbewegung machten. A m
21. November 1990 trat Thatcher
als Premierministerin zurück.
Ein halbes Jahr später nahm die
neue konservative Regierung unter John Major die Entscheidung
zurück.
Feste kollektiven
Handelns
Die anti-poll tax Bewegung war
themenspezifisch integriert, dezentral organisiert und sozialstrukturell wie politisch heterogen. A l s der Kampagne 1991
durch die Ankündigung der Z u rücknahme der poll tax im Jahr
1993 der politische Wind aus den
Segeln genommen war, verlor
sie in den meisten Orten ihren
gemeinsamen Bezugspunkt. Nur
in Schottland gelang es der Scottish Militant mit ihrem charismatischen Führer Sheridan in
vier Stadtbezirken die Bezirkratswahlen gegenüber LabourKandidaten zu gewinnen und bei
der Unterhauswahl 1992 im Bezirk Pollok mit 20% der Stimmen das beste Ergebnis eines unabhängigen Kandidaten seit 1945
zu erzielen (Butler et al. 1994:
298).
kriegsgeschichte Großbritanniens hin. Die poll tax gab dabei
auch sozial wie politisch marginalisierten Gruppen die Gelegenheit zum politischen Protest.
Dies war in den achtziger und
neunziger Jahren in Großbritannien sonst keiner anderen politischen Kraft gelungen.
Volker Lorek, Berlin.
Anmerkungen
1
Dieser Bericht faßt die Ergebnisse einer an der F U Berlin am
F B Politische Wissenschaft eingereichten Diplomarbeit zusammen.
Die Höhe der 'Kopf-Steuer'
wurde von jeder Kommune eigenständig festgesetzt. Für bestimmte Gruppen - z.B. Studenten und S o z i a l h i l f e e m p f ä n g e r waren Rabatte vorgesehen, die
die Abgabe auf 20% des jährlichen Betrags reduzierten.
' Wegen B e f ü r c h t u n g e n um
Steuerausfälle in ihren Gemeinden gehörten auch Labour-Kommunalpolitiker zu den scharfen
Kritikern der Kampagne.
In Leeds waren z.B. 13 von 25
gewählten Kontaktpersonen der
lokalen Stadtteil-Gruppen Frauen (Bagguley 1993).
2
In den meisten Teilen Großbritanniens setzte nach dem E i n lenken der Regierung Major allerdings ein völliger Auflösungsprozeß der Mobilisierungsstrukturen ein. Nur in Schottland
konnte nach dem Wahlsieg der
Konservativen 1992 mit einer
Kampagne gegen die geplante
Privatisierung von Scottish Water an Netzwerkstrukturen und
an kollektive Erfahrungen aus
den poll (ax-Auseinandersetzungen angeknüpft werden.
Die anti-poll tax Bewegung kann
vor allem hinsichtlich ihrer Organisationsform wie auch des regelverletzenden Charakters des
kollektiven Handelns als eine
einmalige Episode bezeichnet
werden. Nur die in vielen Landkreisen und Gemeinden nach
1990 erheblich zurückgegangene Steuerdisziplin weist als statistische Spur noch heute auf eines der größten 'Feste kollektiven Handelns' in der Nach-
4
Literatur
Bagguley, P. 1995: Protest, Poverty and Power: A Case Study
of the Anti-Poll Tax Movement.
Unpubl. M s . (später erschienen
in: Sociological Review 3/95).
Bums, D.1992: Poll Tax Rebellion. A K Press: Stirling.
Butler, D./Adonis, A./Travers, T.
1994: Failure in British Govern-
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Mac Gregor, S. 1988: The Poll
Tax and the Enterprise Culture.
The implicadons of recent local
government legiislation for democracy and the welfare State.
Center for Local Economic Strategies: London.
der einst recht großen und kämpferischen Bewegung geworden
ist. Warum sind die meisten
Frauen der nachrückenden Generation nicht mehr in dem Maße
für ihre Belange zu mobilisieren, es sei denn, es handelt sich
um die Love-Parade oder den
Christopher-Street-Day ( C S D ) .
Sind es vielleicht nicht mehr die
Belange der jungen Frauen, die
verfolgt werden? Kann in den
neueren Entwicklungen tatsächlich ein Ende, eine Stagnation
oder eine Umstrukturierung gesehen werden, die eine Bewegung wie die der 70er Jahre überflüssig werden läßt?
IM
Anhand einer kurzen Geschichte der bundesrepublikanischen
Lesbenbewegung, ihrer Zielen
und Erfolgen sollen diese Fragen beantwortet werden.
K i t
Ii
I
Von der
Subkultur zur
Bewegung und
zurück?
Die Lesbenbewegung
der ausgehenden 90er
Jahre
Eine Lesbe gilt heute nicht als
'Nestbeschmutzerin', wenn sie
öffentlich das Ende der Lesbenbewegung konstatiert und die
einstige Bewegung nur noch bei
Tanzveranstaltungen oder Partys
entdecken kann. Mit dieser Bemerkung wird ein mittlerweile
weit verbreitetes und in feministisch-Iesbischen Diskursen viel
diskutiertes Phänomen angesprochen. Seit einigen Jahren versuchen vor allem politisch aktive
Feministinnen und feministische
Lesben herauszufinden, was aus
1
2
Raus aus der
Anonymität der
Subkneipe
Die allgemeine Aufbruchsstimmung zu Beginn der 70er Jahre
war auch förderlich f ü r die kleine Gruppe von Lesben, die sich
im Februar 1972 der 'Homosexuellen Aktion Westberlin' anschloß (Weiland 1994). Das Bedürfnis, aus der Subszene herauszutreten und neue Kommunikationsorte und -formen zu
kreieren und damit der Isolation
und Diskriminierung entgegenzuwirken, wurde in Aktionen
umgeleitet. Aus dieser Gruppe
entstand 1974 das 'Lesbische
Aktionszentrum' ( L A Z ) , ein erster öffentlicher Zusammenschluß, von dem für die nächsten Jahre die entscheidenden
1
Impulse f ü r die Bewegung und
ihre Öffentlichkeitsarbeit ausgingen. Gleichzeitig war das Zentrum aber auch Inspiration f ü r
Frauen in anderen Städten, aktiv
zu werden. In den darauffolgenden Jahren entstanden Frauenbuchläden, Kneipen und Cafes,
und es kam zu ersten Buchveröffentlichungen mit lesbischen
Themen sowie zu Gründungen
von Frauen-/Lesben-Bildungsund Therapiestätten, Verlagen
und Archiven.
A m Beispiel der Pfingsttreffen
läßt sich die Entwicklung der
Szene nachverfolgen: 1973 fand
das erste gemeinsame Pfingsttreffen von Schwulen und Lesben in Berlin statt, zu dem etwa
50 Lesben kamen. Dieses Treffen war aus der Tradition des
Pfingstspaziergangs in den 20er
Jahren wiedererwacht und avancierte in den nachfolgenden Jahren zu einem der größten öffentlichen Auftritte der Lesbenbewegung. 1986 trafen sich bereits
900 Lesben in M ü n c h e n zum
Pfingsttreffen, um drei Tage lang
über lesbische Theorie und Praxis zu diskutieren. Im M a i 1996
trafen sich etwa 5.000 Lesben
zum - mittlerweile aufgrund des
christlichen Hintergrunds umbenannten - 22. Lesbenfrühlingstreffen in München unter dem
Motto '... und sie bewegt sich
doch'.
4
Was wurde erreicht,
was fehlt noch?
Die Formierung der Lesbenbewegung in den 70er Jahren war
geprägt durch die Schaffung von
' L e s b e n r ä u m e n ' innerhalb der
98
Gesellschaft (und außerhalb der
Subszene), durch die Auseinandersetzungen mit feministischen
Themen sowie durch Selbstfindungs-, Selbsterstarkungs- und
Solidarisierungsprozesse.
In den 80er Jahren begann die
'Projektphase': Es galt, feste
Standorte zu schaffen, um sich
besser zu organisieren und das
bis dato Erreichte auszubauen.
Die entwickelten Strukturen und
das gesammelte Wissen wurden
in Strategien umgesetzt, die es
lesbischen Frauen ermöglichen
sollten, sich in allen gesellschaftlichen Bereichen zu etablieren
und der Homophobie und Diskriminierung entgegenzuwirken.
Die immer deutlichere Präsenz
lesbischer Frauen in den M e d i en - wenn auch nicht immer zum
Vorteil der F r a u e n - , in Kultur
und Politik, am Arbeitsplatz und
in der Familie erschwert zwar
mittlerweile die Ignoranz gegenüber lesbischen Frauen und der
Subsumption unter männliche
Homosexualität, schützt aber
nach wie vor nicht vor Diskriminierung und Rechtlosigkeit.
D i e so oft geforderte und notwendige institutionelle Macht
steht noch aus. Allerdings gibt
es einige positive Errungenschaften, die eine gewisse institutionelle und politische Sicherheit
geben.
Diese Liste der kleineren und
größeren Erfolge ist lang, sollte
aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß es an entscheidenden
rechtlichen Absicherungen und
Antidiskriminierungsmaßnah-
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
men mangelt. Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften genießen nicht die gleichen Rechte wie heterosexuelle Partnerschaften. Dadurch, daß der Staat
die gegengeschlechtlichen Zweiergemeinschaften wie Ehe und
Familie nach wie vor protegiert,
stehen Lesben z . B . beim Miet-,
Erb- und Steuerrecht sowie beim
Sorge- und Adoptionsrecht oder
beim Besuchsrecht im Krankenhaus z.T. vor juristischem Niemandsland (Steinmeister 1995).
Integration in den
Mainstream
Im Vorwort zum 22. Lesbenfrühlingstreffen heißt es:
„Die Projektszene spiegelt die
Situation der Lesbenbewegung
wider. Es mangelt an Solidarität, obgleich viele danach schreien. Noch immer haben wir keinen Dachverband, der tragen
kann. Woran scheitern wir bisher, zur Zeit? Was ist 'politisch
korrekt' ? Ist es politisch korrekt,
sich in und mit der Masse zu
bewegen? [...] W i r können es uns
nicht leisten, uns ins Private zurückzuziehen und uns auszuruhen auf den Errungenschaften
der letzten 20 Jahre. W i r wollen
nicht alles fallen lassen, was wir
- oder die anderen - mühsam erkämpft haben."
Nur die wenigsten werden das
Vorwort gelesen haben, und
wenn, dann ohne weiteres Interesse. Für die meisten Lesben dienen die alljährlichen Frühlingstreffen schon lange nicht mehr
dazu, neue Strategien f ü r lesbische Politik zu entwickeln und
sich mit feministischen Positionen auseinanderzusetzen. Zwei
Tage lang haben die Teilnehmerinnen, die sicherlich einen repräsentativen Querschnitt durch
die bundesweite Lesbenszene
darstellen, die vielfältigen M ö g lichkeiten genutzt, sich in Workshops und Vorträgen weiterzubilden, zu diskutieren und zu
streiten. Dennoch dominiert der
Aspekt, sich zu vergnügen und
das Bad in der 'Lesbenmenge'
zu genießen und sich nach diesem Wochenende in das Private
zurückzuziehen. Das Frühlingstreffen ist von einer politischkulturellen Veranstaltung zu einem Happening mit politischem
Tauch mutiert.
Bedeutet das aber auch ein Fallenlassen dessen, was andere
m ü h s a m e r k ä m p f t haben? S i cherlich nicht, weil das, was heute stattfindet, auf dem Erkämpften aufbaut. Viele fragen sich
dabei allerdings nicht, ob es politisch opportun ist, sich in und
mit der Masse zu bewegen. Sie
genießen die Möglichkeiten, sich
in der Masse zu bewegen und
verfolgen mit gespannter A u f merksamkeit 'die Romanze der
Massenkultur mit den Lesben'
(Budge/Hamer 1996). Dies geschieht dann auf Parties, beim
C S D , im Kino, in der Kneipe
und auch im Privaten.
5
A n diesem Punkt setzt die K r i tik der politisch-engagierten
Frauen an, die häufig mit ihren
Aufrufen zu Aktionen und Veranstaltungen nur noch wenig
oder kein Gehör finden. Der W i derstand und M u t sowie die So-
99
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
lidarität und Kampfbereitschaft
gegen lesbenfeindliche Strukturen sind Teilnahmslosigkeit und
Bequemlichkeit gewichen. Diese Eigenschaften resultierten aus
mangelndem politischen Bewußtsein f ü r die Situation von
Frauen und speziell von lesbischen Frauen in der Gesellschaft.
U m aber diese Strukturen zu erkennen, bedarf es neben den Diskriminierungserfahrungen auch
einer Beschäftigung mit feministischen Gesellschaftsanalysen.
Genau diese beiden Faktoren
spielen bei vielen Lesben der
neuen Generation kaum eine
Rolle. Sie können und wollen
sich nicht mit feministischen Positionen auseinandersetzen, weil
sie keine Identifikation bieten.
Die meisten jungen Frauen fühlen sich von den Problemen und
Wertvorsteüungen ihrer Vorgängerinnen nicht mehr angesprochen. E i n Grund dafür dürfte
sein, daß die meisten jungen Lesben heute mit ganz anderen Geschlechtervorstellungen und anders gelebten Geschlechterverhältnissen als die Frauen der 50er
und 60er Jahre aufwachsen.
Dementsprechend fehlt ihnen
auch eine gewisse Sensibilität
gegenüber den alltäglichen Diskriminierungen. Sie haben innovative Strategien entwickelt, sich
mit dem anderen wie mit dem
eigenen Geschlecht auseinanderzusetzen. Hinzu kommt, daß
heute gewandelte Problemlagen
und Wertvorstellungen das L e ben der jüngeren Generation beeinflussen: D a geht es um Schulabschlüsse, Ausbildungsplätze,
Studium, Geld, Klamotten, Computer und Musik. Sicherlich hat
auch A I D S seinen Teil dazu beigetragen, daß insgesamt mit Sexualität heute anders umgegangen wird.
So profitieren die jungen Lesben von den Errungenschaften
der letzten zwanzig Jahre, die die
'erste Generation' erkämpft hat.
Aber die nachrückende Generation ruht sich nicht aus, sondern
nutzt die geschaffene Infrastruktur diverser Einrichtungen (Zentren, Discos, Archive usw.), genießt das veränderte Bewußtsein
in der Bevölkerung, die Präsenz
Gleichgesinnter im öffentlichen
Leben und trägt mit einem
selbstbewußteren Auftreten zum
Fortleben der erkämpften Strukturen bei. Das alles ist bei weitem nicht so politisch und kämpferisch wie in den 70ern, aber
der Zeit entsprechend.
Stephanie Hoffmann, Röttgenerstr. 28, 53127 Bonn.
Anmerkungen
1
Im weiteren Verlauf wird auch
zwischen
Frauen(-bewegung)
und Lesben(-bewegung) unterschieden, was immer noch zu
Diskussionen in Frauen-/Lesbenkreisen führt, da nicht jede Feministin lesbisch und nicht jede
Lesbe feministisch ist. Gerade
diese Unterscheidung verstärkt
auch heute noch den Konflikt
zwischen den aktiven, offen-lebenden und den 'versteckten'
Lesben sowie zwischen Heteras
und Lesben in der Bewegung.
2
Der C S D entstand in den 70er
Jahren als Folge einer geplanten
Razzia in einem New Yorker
Schwulen-Club in der Christo-
pher Street. Dort wehrten sich
die Besucher zum ersten M a l in
der amerikanischen Schwulenund Lesben-Geschichte gegen
eine solche M a ß n a h m e . Seitdem
wird dieser Tag - mittlerweile
weltweit - mit Paraden, Demonstrationen und Veranstaltungen
gefeiert, um sich selbst und den
Menschen zu zeigen, wie groß
die Homosexuellen-Bewegung
tatsächlich ist.
1 m Februar 1972 kam es zu der
bis dahin größten Öffentlichkeitskampagne von Lesben in
der Bundesrepublik: 10.000
Flugblätter mit der Überschrift
'Verbrechen an den lesbischen
Frauen' wurden als Gegenaktion zu einer BILD-Serie 'Verbrechen der lesbischen Frauen' verteilt. Dabei ging es um den Prozeß gegen zwei Frauen, die des
Mordes am Ehemann der einen
angeklagt waren.
Neben diesen unabhängigen
Zusammentreffen gab es auch
vielfältige Aktionen und Initiativen aus gewerkschaftlichen und
politischen sowie kirchlichen
und privaten Zusammenhängen.
So haben z . B . die G R Ü N E N
1988 eine 'Bundesarbeitsgemeinschaft f ü r Lesben' gegründet und später ein 'Antidiskriminierungsgesetz'
erarbeitet,
was bis heute allerdings noch
nicht verabschiedet
werden
konnte (Pagenstecher 1994; Weiland 1994).
So gilt es als chic, lesbisch zu
sein. Zudem haben Anspielungen und Eindeutigkeiten aus der
lesbischen Szene Einzug in die
Mainstream-Kultur
gehalten
(z.B. in Filmen, in der Pop-Musik und Werbung).
1
4
5
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
Literatur
Budge,
Belinda/Hamer,
Diane
1996 (Hg.): V o n Madonna bis
Martina. Die Romanze der Massenkultur mit den Lesben. Orlanda: Berlin.
Pagenstecher,
Lising
1994:
20
Jahre Lesbenbewegung in der alten Bundesrepublik. Rückblick
und Ausblick. In: Frauenanstiftungen e.V. (Hg.): Was uns verbindet, was uns trennt. Lesbische
Perspektiven in den Frauenbewegungen
deutschsprachiger
Länder. Dokumentation zur Wiener Konferenz i m Juli 1993,
Hamburg, 34-37.
Steinmeister,
Ingrid
1995:
Les-
bische Lebensformen. Rechtslage, Tips, Forderungen. Lesbenring: Bonn.
Weiland,
Martina
1994: Und wir
nehmen uns unser Recht! Kurzgefaßte
Lesbenbewegungsgeschichte(n) der 70er, 80er, 90er
Jahre in West-Berlin, nicht nur
für Berlinerinnen! In: I H R S I N N
1994, 10, 8-16.
SELBST
[JAUMH
lA.'NO
S.O.S. Tierrechte
Haßberge
Eine neue Gruppe in
einer neuen Bewegung
1
Warum Tierrechte? Gedanken zur Ethik
Rechte f ü r Tiere? Etwas seltsam
mag es klingen, ist der Begriff
'Recht' im moralischen Sinne bis
jetzt dem Menschen vorbehalten.
Zudem ist es noch nicht lange
her, daß 'Rechte' nur bestimmten Menschen zugestanden wurden (z.B. der weißen Rasse oder
dem männlichen Geschlecht).
'Rechte' sind also keine historische Selbstverständlichkeit, sondern der Kreis derer, die sie genießen, hat sich nur laufend erweitert.
Aber Rechte für Tiere? Für Vögel? Für Ratten? Dies hört sich
sehr ungewöhnlich an, und auch
unter Philosophen wurden Tiere
immer recht stiefmütterlich behandelt, wenn es um das moralische Prinzip geht. Ausnahmen
sind hier u.a. Peter Singer (1982)
und Helmut F. Kaplan (1993).
Zentraler Ausgangspunkt der
Tierrechtsethik ist das Gleichheitsprinzip. Das Gleichheitsprinzip baut auf der gleichen Berücksichtigung von Lebewesen auf,
welche Interessen besitzen. Die
Voraussetzung dafür, Interessen
zu entwickeln, ist Leidensfähigkeit , ein Merkmal, welches ohne
Zweifel Tiere mit Menschen gemeinsam haben. Die biologischen
Merkmale 'Rasse' oder 'Geschlecht' oder Zugehörigkeit zu
einer anderen Spezie spielen also
im Gleichheitsprinzip an sich keine Rolle. In einem Interessenkonflikt müssen diese verglichen und
abgewogen werden, d.h. wichtigen Interessen muß eine größere
Berücksichtigung gegenüber geringeren Interessen zugesprochen
werden.
1
2
Zur Verdeutlichung ein Beispiel:
Fleischessen von Tieren aus Massentierhaltung in Deutschland.
Für den Menschen bedeutet dies:
Kurzer Gaumenkitzel und reine
Genußlust, aber keine Notwen-
digkeit und keine wirkliche
Schwierigkeit, sich anders zu ernähren. Für das Tier bedeutet
dies: Lebenslange physische und
psychische Schmerzen sowie ein
oft qualvoller Transport und grausamer Tod. Die Diskrepanz könnte nicht größer sein. Die größeren Interessen des Tieres werden
geringfügigeren Interessen des
Menschen geopfert. E i n offensichtlich krasser Verstoß gegen
das Gleichheitsprinzip. Diese U n terdrückungsform wird in Anlehnung an den Begriff Rassismus
'Speziesismus' (Singer 1982: 26)
genannt. Fleischessen aus Massentierhaltung wäre somit eine
speziesistische Handlung.
2
Die Tierrechtsbewegung
Die Anzahl der Menschen, die
sich als Tierrechtlerinnen bezeichnen und dementsprechend
leben, ist schwer zu schätzen. Sie
liegt auf jeden Fall noch deutlich unter 1% der Gesamtbevölkerung in Deutschland. Dies bedeutet aber nicht, daß die Tierrechtsbewegung stagniert. Sie
hat sich überhaupt erst in den
letzten zehn Jahren in Deutschland formiert und dürfte jährliche Zuwachsraten im zweistelligen Prozentbereich verzeichnen.
In einer groben Annäherung läßt
sich die Tierrechtsbewegung in
drei Strömungen aufteilen, wobei die Übergänge fließend sind.
2.1 Bürgerliche
Tierrechtlerinnen
Die größte (und relativ bekannte) Organisation ist 'Animal Pea-
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
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ce' mit ca. 20.000 Mitgliedern.
A n i m a l Peace ist von der Organisation und der Struktur mit
Greenpeace vergleichbar. Im
Vordergrund stehen spektakuläre Aktionen, die nicht immer legal, aber immer gewaltfrei sind,
auf großes Medieninteresse und
größtmögliche Aufmerksamkeit
zielen. Animal Peace ist f ü r Jugendliche sehr attraktiv, und für
viele ist dies der erste Schritt in
politischen Z u s a m m e n h ä n g e n
aktiv zu werden. Trotz anhaltender Kritik an A n i m a l Peace strenge Hierarchie, zuwenig
sinnvolle Aktionen für Tiere, zuviel Geld f ü r Werbung - bleibt
die Organisation eine wichtige
Stütze der Tierrechtsbewegung.
Eine weitere recht bekannte Organisation ist ' P e T A ' (People
for ethical Treatment of A n i mals). Diese Gruppe hat ihren
Hauptsitz in den U S A und ist dort
eine große, einflußreiche Organisation. PeTAs Aufklärungsarbeit
zielt hauptsächlich auf Erwachsene aus der Mittelschicht, so daß
für die Werbung gerne Personen
aus dem öffentlichen Leben zum
gegenseitigen Imagegewinn eingeladen werden.
2.2 Autonomer Tierschutz
Autonomer Tierschutz arbeitet
mit dem Z i e l , Tiermord oder
Tierquälerei direkt vor Ort zu
verhindern. Dafür werden auch
illegale Aktionen akzeptiert, und
ein Großteil der Vertreterinnen
des autonomen Tierschutzes befürwortet auch Gewalt gegen Sachen, um Gewalt gegen Tiere zu
verhindern.
Aktionsformen sind z.B. die Befreiung von Hühnern aus Legebatterien, Jagdsabotagen, B e schädigungen an Schlachtereien
usw. D i e Pressearbeit hierfür
übernimmt der 'Bundesverband
der Tierbefreierlnnen' mit der
Zeitschrift 'Tierbefreiung aktuell'.
6
4
Außer Animal Peace und P e T A
gibt es noch viele kleinere bürgerliche Tierrechtsgruppen. E i nige davon sind unter dem Namensverbund 'Menschen für
Tierrechte' zusammengeschlossen. Dies ist ein Sammelbecken
für enttäuschte Aktive aus Tierschutzkreisen, denen der traditionelle Tierschutz nicht konsequent erscheint.
5
2.3 Politisch-linker
Zusammenhang
Speziesismus wird als eine weitere U n t e r d r ü c k u n g s f o r m zu
Rassismus, Sexismus und Kapitalismus verstanden. Eine Plattform bot das vor kurzem eingestellte, vierteljährliche 'VeganInfo'. Das Einstellen der Zeitschrift ist ein Zeichen dafür, daß
sich diese Teilbewegung in einer unsicheren Phase befindet:
Viele Gruppen sind i m Umbau
oder lösen sich auf. Die Gründe
hierfür sind wohl sehr vielschichtig, ein paar seien hier kurz angesprochen:
• Viele Aktivistinnen kommen
aus antifaschistischen Zusammenhängen. Die Mehrheit der
'Antifa' akzeptiert jedoch Speziesismus nicht als weitere
Unterdrückungsform.
• Die Bewegung konnte sich in
vielen strittigen Fragen nicht
einigen (z.B. Gegenverhalten
zu 'Hardline' ).
7
• Viele Leute wenden sich mehr
dem Erdbefreiungsgedanken
zu (z.B. 'Earth First!'"). Hier
werden die Tierrechte nur als
ein Teilaspekt begriffen.
3
S.O.S. Tierrechte
Haßberge
Die Gruppe gründete sich A n fang 1994. Damals waren wir ca.
zehn Jugendliche, die sich allesamt vegetarisch oder vegan' ernährten und sich einfach effektiver f ü r die Rechte der Tiere einsetzen wollten. Unser Ziel ist die
Verbreitung des Tierrechtsgedankens in der Öffentlichkeit.
Aktionsformen hierfür sind Ausstellungen, Tierrechtetage (z.B.
Ausstellung und Benefiz-Konzert in Jugendzentren), Demonstrationen in den umliegenden
Städten, Infostände und der Verkauf von veganem Essen (z.B.
auf Konzerten). W i r arbeiten mit
allen Gruppen zusammen, denen
die Befreiung der Tiere ein ernsthaftes Anliegen ist. Ausdrücklich grenzen wir uns gegen Gruppierungen ab, die die Tierrechtsdiskussion in ein 'rechtes Deckmäntelchen' zwängen oder den
Tierschutz als A u f h ä n g e r f ü r die
Verbreitung von rechtem Gedankengut mißbrauchen.
J
4 Ausblick
Die Utopie der vollständigen
Tierbefreiung ist noch weit entfernt, ihr vollständiges Ziel noch
nicht klar definiert. Diese Ziele
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
werden sich an den Menschenrechten orientieren (z.B. Recht
auf Leben, Schutz der körperlichen Unversehrtheit, Schutz der
individuellen Freiheit). Darin
kommt dann auch der Unterschied zum traditionellen Tierschutz z u m Ausdruck. Versuchen Tierschützerinnen an das
Mitleid der Menschen zu appellieren und das Tier vor 'unnötigen' Qualen zu schützen, gehen
Tierrechtlerinnen einen Schritt
weiter: Gnade soll zu Recht werden, das am Gleichheitsprinzip
orientiert und gesetzlich verankert ist. Während es der Tierrechtsbewegung um die A b schaffung der gegenwärtigen
Praktiken des Umgangs mit Tieren geht, verfolgt die Tierschutzbewegung lediglich eine Reform.
Trotz einiger Fortschritte gestaltet
sich die Befreiung der Tiere recht
mühsam. Dies liegt vor allem:
• an der recht schwierigen Ausgestaltung der Tierrechtsethik
in der Realität;
• an der fehlenden Fähigkeit der
Tiere, sich selbst zu wehren
(obwohl dies natürlich jedes
Individuum mit allen Kräften
versucht);
• am christlich geprägten Bewußtsein, wonach der Mensch
eine absolute Sonderstellung
als höchstentwickeltes Säugetier einnimmt.
Entgegenwirken werden diesen
Schwierigkeiten die massiven,
aus tierrechtlerischer Sicht zweitrangigen,
(art-)egoistischen
Gründe der Menschen f ü r die
Tierbefreiung (Robbins 1995):
• Ökologische G r ü n d e : Verschwendung von Lebensmitteln (durch den Umweg Pflanze, Tier, Mensch gehen 85%
der pflanzlichen Kalorien verloren), vermehrter Ausstoß
von Methan, Abholzung von
R e g e n w ä l d e r n zum Anbau
von Futtermitteln oder als
Weideflächen für Rinder.
• Sozialökonomische G r ü n d e :
Jedes Jahr werden aus der
'Dritten Welt' Millionen Tonnen Getreide exportiert, um es
an westliche Rinder zu verfüttern ('Das Vieh der Reichen
frißt das Brot der Armen').
• Gesundheitliche
Gründe:
Fleisch ist das Nahrungsmittel mit den meisten Skandalen
(z.B. B S E , Schweinepest,
' H o r m o n k ä l b e r ' ) . Zudem ist
Fleisch ein von Grund auf die
Gesundheit belastendes L e bensmittel, das f ü r verschiedene Krankheiten (mit-)verantwortlich gemacht werden
kann.
Zusammenfassend bleibt festzustellen, daß die Befreiung der
Tiere eine gewaltige Aufgabe ist.
Gewaltig vor allem deshalb, weil
die Ausbeutung immer perfekter und gnadenloser funktioniert,
das Ausmaß des Leidens unermeßlich und die Anzahl der Opfer nicht mehr zählbar ist. ' A n i mal Liberation' ist somit eine der
größten Aufgaben für den Schritt
ins 21. Jahrhundert.
Thorsten Ullrich, S.O.S. Tierrechte Haßberge, Stöckach 27,
97494 Bundorf.
Anmerkungen
1
Peter Singer ist in Deutschland
(und auch in unserer Gruppe)
sehr umstritten. Grund hierfür
sind befremdliche Äußerungen
zur Euthanasie, die aber meiner
Ansicht nach z.T. auch auf M i ß verständnissen beruhen.
So
schreibt Singer z . B . in seinem
Buch 'Praktische Ethik' von 'a
life not worth living', also ' L e ben, daß es nicht wert ist, gelebt
zu werden'. Der Ausdruck ist in
der deutschen Fassung mit 'lebensunwert' übersetzt, ein Wort
aus der Naziterminologie, welches auf gesellschaftliche ' V o r teile' der Euthanasie abzielt. B e i
'a life not worth living' ist aber
die Innenperspektive des Leidenden gemeint. Meine Meinungsbildung zu Singer ist noch nicht
abgeschlossen, i m Moment halte ich ihn aber auf jeden Fall f ü r
zitierbar (wobei ich nicht i m N a men der ganzen Gruppe sprechen
kann).
2
Bereits Jeremy Bentham
schrieb 1780: „Vielleicht wird
eines Tages erkannt werden, daß
die Anzahl der Beine, die Behaarung der Haut oder die E n dung des Kreuzbeins ebensowenig Gründe dafür sind, ein empfindendes Wesen diesem Schicksal zu überlassen. D i e Frage ist
nicht: können sie verständig denken? oder: können sie sprechen?
Die Frage ist: können sie leiden?" (Bentham zit.n. Singer
1982)
' Animal Peace e.V., Im Hahmich 1,51570 Windeck.
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
4
PeTA-Deutschland e.V., Postfach 311503, 70475 Stuttgart.
Z . B . Menschen f ü r Tierrechte
W ü r z b u r g e.V., Sternstraße 17,
97464 Niederwerrn.
Bundesverband der Tierbefreierinnen, Postfach 3140, 55396
Bingen.
'Hardline' ist eine Bewegung
aus den U S A , die absolute Korrektheit und Perfektion anstrebt
(z.B. keine Drogen, keinen Sex
zum Vergnügen). Wegen augenscheinlich rechtslastiger Aussagen (kategorisch gegen Abtreibung und Homosexualität) wurde die Bewegung aus der linken
Tierrechtsszene verbannt.
'Earth First!' ist eine radikale
Naturschutzbewegung aus den
U S A , die auch in Europa langsam F u ß f a ß t . ' D i e E u l e ' ,
A . N . J . A . , c/o Schwarzmarkt,
Kleiner Schäferkamp 46, 20257
Hamburg.
'' 'Vegan' ist ein von 'vegetarisch' künstlich abgeleitetes
Wort, um eine exaktere Abgrenzung zu (Ovo-)Lacto-Vegetarierinnen zu ermöglichen. Veganerlnnen ernähren sich rein pflanzlich und lehnen den Konsum tierischer 'Produkte' grundsätzlich
ab (Fleisch, M i l c h , Eier usw.).
Ethische Veganerlnnen meiden
außerdem noch Leder, W o l l e ,
Pelz, Seide etc.
5
Peter Singer 1982: Befreiung der
Tiere. Eine neue Ethik zur Behandlung der Tiere. Hirthammer:
München.
Strategie politischer Eliten und
keine statische Kategorie sozialer Verhältnisse. Daher favorisieren wir den aktiveren Begriff
der Ausgrenzung.
6
7
8
Literatur
Kaplan, Helmut F. 1993: L e i chenschmaus. Ethische Gründe
für eine vegetarische Ernährung.
Rowohlt: Reinbek.
Robbins, John 1995: Ernährung
für ein neues Jahrtausend.
Nietsch Hans: Waldfeucht.
Marginalisierung
als urbaner
Prozeß
Die Verlaufsform 'Marginalisierte Bewegungen' beschreibt
einen Prozeß, der scheinbar konfliktfrei verläuft. A l s dessen Resultat finden sich sog. Randgruppen als hilflose Opfer, die zudem durch Forschung und H i l fepraxis reproduziert werden.
Diesen Mechanismus möchten
wir im folgenden in Frage stellen und versuchen, den Kontext
der gegenwärtigen Ausgrenzungsprozesse kurz zu skizzieren, den räumlichen/urbanen
Charakter dieser Entwicklung zu
benennen und schließlich die
Ausgegrenzten als Akteure zu
rekonstruieren.
1
1
Marginalisierung als
dynamische Strategie
Der Begriff der margins oder
Marginalität verschweigt in seiner Allgemeinheit, daß die Grenze zwischen Innen und Außen
sowie zwischen Zugehörigkeit
und Ausschluß nicht dauerhaft
fixiert, sondern umkämpft ist und
daß sie aktiv gezogen wird, also
soziale und politische Kräfteverhältnisse kennzeichnet. Marginalität als Produkt der Marginalisierung ist also eine dynamische
Seit Ende der 60er Jahre geht es
in den sozialen Kämpfen gegen
den Ausschluß aus der Mehrheitsgesellschaft immer weniger
um die schlichte Integration in
eine Gesellschaft, die um die
zentralen Werte Lohnarbeit und
Kernfamilie organisiert ist.
Im Rahmen der gegenwärtigen
Austeritätspolitik wird zu schnell
vergessen, daß sich die politischen Forderungen gegen die
Sparmaßnahmen häufig auf die
formelhafte B e s c h w ö r u n g der
wohlfahrtsstaatlichen Leistungen
beschränken, die von den Bewegungsakteuren ehedem aufgrund
ihrer rigiden Normalisierungsfunktion abgelehnt worden sind.
Die 'Verschlankung' des Staates führt unter der Bedingung einer zunehmend komplexer werdenden Gesellschaft zur organisierten Ausgrenzung: Immer weniger soziale Gruppen bleiben als
anerkannte und
legitimierte
E m p f ä n g e r i n n e n sozialer L e i stungen zurück und werden
durch die eskalierenden A u s grenzungsprozesse immer stärker diszipliniert. Diese Funktion
der Marginalisierung als Mittel
zur Herstellung sozialer Kohärenz deutet auf den Ausstieg aus
dem fordistischen Klassenkompromiß hin und markiert eine
Transformationsphase, in der
Ausgrenzung und nicht Ausbeutung die sozialen Konflikte strukturiert.
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
Legitimiert als Anpassungsleistungen an eine globalisierte
Ö k o n o m i e und innenpolitisch
getragen durch einen Grundkonsens gegen die „fremden Armen
und ... armen Fremden" (Freyberg 1995: 23), ist die Formation einer veritablen Unterklasse
kein konjunkturelles Krisenphaenomen, sondern Strukturmerkmal des postfordistischen Kapitalismus. Die mediale Repräsentation dieser 'gefährlichen U n terklasse' (Wilson 1987) macht
Sicherheit und soziale Kontrolle
zu zentralen Elementen kommunaler und nationaler Politik.
2
Geographie der
Ausgrenzung
Henri Lefebvre (1972) hat frühzeitig darauf aufmerksam gemacht, daß mit dem Übergang
von der Ausbeutung zur Ausgrenzung die Städte zur Bühne
gesellschaftlicher Konflikte werden. Dieser Wandel der Städte
von Zentren der Produktion zu
Dienstleistungsmetropolen (und
Kriscnkapitalen) geht mit starken sozialen, ethnischen und
räumlichen Polarisierungs- und
Restratifizierungstendenzen einher, die nicht auf den Arbeitsmarkt beschränkt bleiben, sondern auch
Wohnungsmarkt,
Haushaltsstrukturen, (Über-)Lebensperspektiven und -Strategien modifizieren.
Weniger untersucht sind die konkreten lokalpolitischen Strategien, auswärtiges Investitions- und
Risikokapital sowie globale
Geldströme in städtische Projekte zu vermitteln (z.B. Keil 1993).
Die Restrukturierung des loka-
len Sozialstaates als Versuch,
Standortvorteile zu schaffen, erschöpft sich allzu oft in der M i n derung der konsumptiven L e i stungen. Das Mißverständnis der
kommunalen Akteure, L e i stungskürzungen f ü r die Meistbedürftigen sowie Zuwendungen
für Investoren und die bessergestellten Schichten als antizyklische Investition für den kommenden konjunkturellen Boom
zu begreifen, treibt die Metropolen durch Neuverschuldungen
in die Zinsquotenfalle und wird
weiterhin Marginalisierung produzieren.
Kulminierende
Armutslagen
(Einkommens- und Wohnarmut,
niedriges Niveau formaler B i l dung, soziale Isolation usw.)
konzentrieren sich zunehmend
kleinräumig. Die Vernichtung
industrieller Arbeitsplätze trifft
die innerstädtischen Quartiere
der Arbeiterinnen und Einwanderlnnen, während die Minderung sozialer Leistungen die Gebiete unter Anpassungsdruck
setzt, die einen besonderen Bedarf aufweisen (z.B. viele Haushalte mit Kindern oder Rentnerinnen).
3
Marginalisierung und
Bewegung in Berlin
Wir weiden am Beispiel Berlins
skizzieren, daß es Sinn macht,
sich angelsächsische Analysen
zur Stadtentwicklung und Marginalisierung zu vergegenwärtigen. Das Beharren auf der deutschen und speziell Berlinischen
Besonderheit artikuliert einen
kulturalistischen Überhang, der
die Analyse wie die Bekämpfung
metropolitaner Armutsentwicklung vernebelt.
Die abrupte weltwirtschaftliche
Integration der Stadt unter der
Bedingung einer ernsten fiskalischen Krise und das Handlungsrepertoire einer an der Westberliner Subventionswirtschaft geschulten politischen Klasse führt
zu schonungslosen Verdrängungsprozessen im öffentlichen
Raum und auf dem Arbeits- und
Wohnungsmarkt. In den innerstädtischen Quartieren der Arbeiterinnen und Einwanderlnnen
werden pauperisierte und ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen
räumlich konzentriert, während
sich in den Zentren eine Zitadellenökonomie formiert. Diese Z i tadellen-/Ghetto-Metapher aus
der US-amerikanischen Stadtforschung (Friedmann 1995; K e i l
1993) scheint hier überzogen. Sie
will jedoch keineswegs die Realität des Ghettos in Berlin unterstellen, sondern die sozialräumliche Polarisierung in der Innenstadt analytisch beleuchten. Die
sozialen Probleme der Stadt sind
(noch) Probleme der Innenstadt.
So steigen z . B . die Einkommen
der Haushalte, die Lebenserwartung der Bewohnerinnen und die
Quadratmeterzahl der Wohnungen je Mieterin mit der Entfernung zum Zentrum, während
bspw. die Sozialhilfequote, die
Anzahl sozial diskriminierter
Migrantinnen, das Qualifikationsniveau in gleicher Richtung
abnehmen. Das gilt zumindest
vorläufig auch noch für die verschrieenen Großsiedlungen am
östlichen Stadtrand (Marzahn,
Hellersdorf, H o h e n s c h ö n h a u sen), die in weiten Teilen eher
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
einem vertikalen Suburbia ähneln als den Slums, die nach der
Wende prognostiziert wurden.
Natürlich geht die Komplexität
der Stadt nicht in dieser dualistischen Zentrum/Peripherie Spaltung auf, der städtische Raum
ist vielfach fragmentiert. Trotzdem laufen die gegenwärtigen
Planungen und Entwicklungen
auf eine widersprüchliche Randwanderung der Armutsbevölkerung hinaus, die nur als Resultat
eines komplexen, zugleich tiefgreifenden sozialen Wandels zu
begreifen sind. Wichtiger ist
noch, daß diese Restrukturierungen weder abgeschlossen noch
unwidersprochen oder isoliert
sind. Die hegemonialen Projekte lokaler Eliten und ihre Ausgrenzungsstrategien setzen sich
nicht schlicht durch, sondern
sind als konkrete Produkte Resultat öffentlicher Auseinandersetzung und/oder antihegemonialer sozialer Praxen. In diesen
Kämpfen treten Marginalisierte
als neue Akteure auf, die die soziale Bedeutung von Orten verändern und ihr Anwesenheitsrecht in R ä u m e n und Diskursen
verhandeln, aus denen sie verdrängt werden sollen. W i r wollen dies am folgenden Beispiel
erläutern.
4
Devianz und Konsum
Wir werden uns hier auf den innerstädtischen Raum der City
West um den Breitscheidplatz
(Gedächtniskirche) mit den nationalen Ikonen Bahnhof Zoo
und K A D E W E beschränken. Der
Zoo markiert einen bekannten
Raum der Devianz, während das
K A D E W E als Kathedrale marktförmiger Begierden mindestens
den gleichen Bekanntheitsgrad
genießt. Zwischen diesen beiden
Punkten liegt eine der umsatzstärksten innerstädtischen E i n kaufszonen der Bundesrepublik.
Die Reproduktion dieser Standortqualität gegen die vermutete
Konkurrenz aus Ostberlin und
dem Umland ist sowohl das A n liegen des Senates als auch der
Einzelhändler. Die Allianz der
Händler ( A G City e.V.) bemüht
sich schon lange, am Kurfürstendamm konsumptive von öffentlichen Nutzungen zu trennen.
Dazu gehört laut Satzung 'die
Einflußnahme bei der Entscheidung über Demonstrationen' und
die Verhinderung von Großveranstaltungen an verkaufsoffenen
Samstagen. Daß dies gelingt,
zeigt zuletzt die Verlagerung der
Love Parade 1996 mit 700.000
Teilnehmerinnen in den Tiergarten. U m die Verhaltensstandards
und Normalitätsvorstellungen
der Kundinnen zu schützen, hat
die A G City Anfang der 90er
Jahre einen eigenen Sicherheitsdienst installiert, der in den Geschäften patrouilliert (Eick 1995;
Eick 1996).
Unmittelbar angrenzend findet
sich der Bahnhof Zoo. Seit der
Privatisierung der Bundesbahn
wird dieser Reproduktionsraum
der Armen verstärkt überwacht
und regelmäßig geräumt. Die
Bahn A G bewirbt das Gelände
als „ W a r e n h a u s mit Gleisanschluß" (Vorstandsvorsitzender
Dürr) und stellt klar: „Der Bahnhof kann keine Sozialstation und
kein Sammelbecken f ü r Stricher
sein" (Martin Lepper von der
Bahn A G ) . Innerhalb des Bahnhofes übt die Bahn A G Hausrecht aus, außerhalb spricht die
Polizei Platzverweise aus, um
unerwünschte Verhaltensweisen
zu unterbinden. Werden diese
Platzverweise nicht befolgt,
nimmt sie die betreffenden Personen in Gewahrsam. Der sog.
Verbringungsgewahrsam dient
dazu, den Platzverweis durchzusetzen, indem die Verwiesenen
an den Stadtrand verbracht werden. Die Zwangsausweisung
hilfloser Personen in städtische
Forstgebiete fern jeder Transportmöglichkeit wurde lange geleugnet, bis die ' A G Leben mit
Obdachlosen' 1996 in einer Fragebogenaktion Dutzende von
Fällen dokumentierte. In einem
Anhörungsmarathon verschiedener Ausschüsse des Abgeordnetenhauses stellte sich heraus, daß
diese Praxis absolut legal ist. Erst
die Skandalisierung und Politisierung dieser Maßnahmen bewegte die Innenverwaltung im
März 1997 dazu, diese Verbringungen zu unterbinden und den
Polizistinnen mit einer KannBestimmung zu ermöglichen,
hilflose Personen auf deren
Wunsch in soziale Einrichtungen
zu fahren.
Die Verhinderung der räumlichen Reproduktion der Marginalisierung durch die Verbringung an die städtische Peripherie kann nicht das Ziel emanzipativer Politik sein. Hierfür ist
es wichtiger, daß die sozialen
Angebote f ü r ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen (akzeptierende Drogenhilfe, Gesundheitsversorgung, psycho-soziale Beratung usw.) in den aufgewerten
106
Innenstädten erhalten bleiben
und entsprechend der veränderten Nachfrage in ausreichendem
Maße erweitert werden (z.B.
neue Schlafcontainer für Jugendliche). Der Preis f ü r das Anwesenheitsrecht der Dienste an diesem zentralen Ort ist ihr zumeist
mobiler Charakter und die Lage
hinter dem Bahnhof, wo eine
K o l l i s i o n mit Reisenden und
Kundinnen weitgehend ausgeschlossen ist.
W i r wollen dieses Beispiel nicht
als grandiosen Erfolg pauperisierter Massen verklären, sondern dahingehend interpretieren,
daß mit der ausgehandelten A n wesenheit von Marginalisierten
und sozialen Diensten, der von
A G City, Bahn A G und Senat
hofierte Mythos der widerspruchslosen postindustriellen
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
Dienstleistungsgesellschaft
Frage gestellt wird.
in
Der Bahnhof Zoo markiert den
umkämpften Rand der Isoglosse
dieses Mythos. Die Isoglosse beschreibt den Geltungsbereich der
entpolitisierten Rede von der
Dienstleistungsmetropole. Innerhalb dieser sind Armut und Obdachlosigkeit durchaus präsent,
„but their activity is rendered invisible by the dominant meaning
of the space" (Ruddick 1996:
46). Die Räumungswellen gegen
besetzte Häuser und Wagenburgen im Sommer 1996 und die
Razzien an zentralen Orten der
westlichen Innenstadt gegen unerwünschte Nutzerinnen seit
Herbst 1996 kennzeichnen die
Bemühungen staatlicher und privatwirtschaftlicher Akteure, den
Geltungsbereich des Mythos der
Dienstleistungsmetropole mit
Hauptstadtfunktion über die gesamte (Innen-)Stadt auszudehnen
und Marginalisierte an die Peripherie zu drängen. So heißt dies
in den Worten des Berliner
Innensenators:"Berlin ist nicht
Hauptstadt der Wagenburgen
und
Hausbesetzer,
sondern
Hauptstadt der Deutschen. W i r
haben eine Verantwortung vor
der gesamten Nation" (Tagesspiegel, 27.09.96: 9).
Der Konflikt um die Vertreibung
Obdachloser von den Bahnhöfen stellt diese dynamische Strategie der Ausgrenzung erfolgreich in Frage. Wer von der f o l genlosen Säuberung der Innenstädte ausgeht, ist dem Mythos
bereits erlegen und arbeitet an
seiner Ausdehnung mit. D i e
Grenze, die Devianz von Akzep-
ln eigener Sache
Das Projekt Forschungsjournal existiert mittlerweile seit zehn Jahren und gerade der Rubrikteil
'Pulsschlag' lebt zu großen Teilen von den Berichten über die Arbeit der Bewegungen vor Ort und
der wissenschaftlichen Auseinandersetzung damit.
D a das Forschungsjournal in rein ehrenamtlicher Arbeit erstellt wird, können wir nicht alles 'Bewegte' und 'Bewegende' wahrnehmen oder recherchieren. D a wir aber stets an Beiträgen zu Fragen der
Bewegungsforschung interessiert sind, möchten wir alle Leserinnen auffordern, aus Ihrer laufenden
Forschungs- und Projektarbeit zu berichten. Aber auch Tagungsberichte, aktuelle Analysen und
Kommentare aus dem weiteren Bewegungsumfeld sowie Selbstdarstellungen neuer(er) oder bislang
vernachlässigter Bewegungsakteure sind willkommen. Ausdrücklich ermutigen möchten wir auch
diejenigen Leserinnen, die im Rahmen von Magister- und Diplomarbeiten oder Dissertationen zu
bewegungsaffinen Themen geforscht haben.
Sicher können wir nicht alles berücksichtigen, da der Spielraum für die Rubrik auf wenige Seiten
begrenzt ist: einiges wird aufgrund unserer vierteljährlichen Erscheinungsweise terminlich nicht
passen, und anderes ist vielleicht einfach nicht mit dem Selbstverständnis des Journals vereinbar.
Dennoch: Der Pulsschlag lebt auch von dem aktiven Engagement seiner Leserinnen.
Kontakt: Michael Hasse, Dorotheenstr. 85, 53111 Bonn, Tel./PC-Fax: (0228) 696243, e M a i l :
[email protected].
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
tanz scheidet, ist nicht dauerhaft
fixiert, sondern läßt sich verschieben. Ziel emanzipativer sozialer Bewegungen sollte es sein,
gegen die hegemonialen Exklusionsbestrebungen
inklusive
Strategien zu entwickeln. Dafür
ist die Wahrnehmung der Ausgegrenzten als handelnde Subjekte zentrale Voraussetzung, um
paternalistische Überformungen
und unreflektierte Vertretungsansprüche zu verhindern. Diese
Wahrnehmung ist in der Bundesrepublik weiterhin unterentwickelt und birgt die Gefahr, die
materielle und diskursive Marginalisierung noch auf einer dritten, analytischen Ebene zu reproduzieren.
Jens Sambale
und
Dominik
Veith, beide D i p l . Pol., sind wissenschaftliche Mitarbeiter des
Forschungsprojekts 'Stadtentwicklung und Obdachlosigkeit'
an der F U Berlin.
Anmerkung
1
D a in weiten Teilen der bundesdeutschen (auch der progressiven) Literatur Marginalisierte
vornehmlich als Opfer struktureller Prozesse außerhalb ihrer
Kontrolle angesehen werden,
greifen wir stärker auf die angelsächsische Literatur zurück:
v.a. Liebow (1993), Ruddick
(1996) sowie Wagner (1993),
desweiteren
Smith
(1996),
Snow/Anderson (1992) und
Wright(1997).
Literatur
AG City e.V. o.J.: Selbstdarstellung.
Eick, Volker 1995: 'Berlin wird
Hauptstadt - aber sicher ...'. In:
Sträter, Frank (Hg.): Stadt der
Zukunft - Zukunft der Stadt. Los
Angeles - Berlin. Context: Stuttgart, 129-142.
Eick, Volker 1996: ' M e i n ist die
Stadt'. Das Berliner Sicherheitskonzept und die Zugangsbedingungen der Stadt für ihre Bewohnerinnen. Unveröff. Diplomarbeit: F U Berlin.
Friedmann, John 1995: Ein Jahrzehnt der World City-Forschung.
In: Hitz, Hansruedi et al. (Hg.):
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und Politik in den Finanzmetropolen Frankfurt und Zürich. Rotpunkt: Zürich, 22-44.
Freyberg, Thomas von 1995: ...
im ganzen also sehr widerwaertig... Verleugnen, Verleumden,
Ausgrenzen: V o m Umgang mit
der Armut. In: Hengsbach, Friedhelm/Moehring-Hesse, Matthias
(Hg.): Eure Armut kotzt uns an!
Solidariät in der Krise. Fischer:
Frankfurt/M., 23-37.
Keil, Roger 1993: Weltstadt Stadt der Welt. Westfälisches
Dampfboot: Münster.
Lefebvre, Henri 1972: Die Revolution der Städte. Hain: Frankfurt/M.
Liebow, Elliot 1993: Teil them
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Ruddick, Susan 1996: Young and
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Smith, Neil 1996: The New Urban Frontier. Gentrification and
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107
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Wilson, William J. 1987: The
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City, the Underclass, and the Public Policy. Univ. of Chicago:
Chicago.
Wright, Talmadge 1997: Out of
Place. Univ. of New York: New
York. (i.E.)
SF.IJM-
fMKMI-l LU\w
Arbeitslosenzeitung 'quer'
Seit 12 Jahren erscheint - derzeit zweimonatlich - die älteste
und einzige bundesweite A r beitslosenzeitung quer. Sie wird
redaktionell von einer bunten
Mischung von Erwerbslosen und
deren (selbst-)organisierten politischen Zusammenhängen aus
Ost und West getragen. Redaktioneller Grundkonsens ist dabei
die unbedingte Parteilichkeit f ü r
Erwerbslose und A n n e .
Nach einigen Jahren der - inzwischen ersatzlos gestrichenen
- Förderung durch die Stadt
Frankfurt/M. und die Bundesanstalt für Arbeit ist das Projekt
wieder 'back to the roots': nah
an der 'Basis' - und trotz steigender Abonnentinnenzahlen
nah an der Pleite.
Durch Themenwahl und Art der
Berichterstattung setzt sich quer
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
mit den rastlos umgetriebenen
Globalisierungsgespenstern
ebenso auseinander wie mit nationalistischer Standortlogik und
begreift statt dessen Massenerwerbslosigkeit und Armut nach
wie vor als Teil des alltäglichen
kapitalistischen Normalvollzugs.
quer w i l l Arbeitslosigkeit weder
auf 'individuelles menschliches
Versagen' noch auf Konzepte reduziert wissen, die mehr oder
weniger offen 'Arbeit um jeden
Preis' bis hin zu Zwangsarbeitsszenarien favorisieren. Diese
Sichtweise bringt in schöner Regelmäßigkeit Konflikte - auch
mit den Funktionären formal
'wohlmeinender' Organisationen
und Parteien, die Erwerbslose
bestenfalls ein wenig besser verwaltet bzw. 'betreut' sehen wollen - sei es, um das eigene K l i entel zu 'retten', zu beruhigen
und letztlich bei der Stange zu
halten, sei es, um sich als potentiell koalitions- und regierungsfähig (pardon, auf neudeutsch
heißt das jetzt 'reform-' oder
auch ' z u k u n f t s f ä h i g ' ) zu erweisen.
also nicht verstanden werden als
tabuisierter Lebensabschnitt, m l
dem mensch sich am besten gai
nicht bewußt auseinandersetzt
bzw. dem man schleunigst - und
selbst um den Preis nicht-existenzsichernder Arbeits- und
Entlohnungsbedingungen - wieder entkommen m u ß .
Dagegen setzt quer auf die
(Selbst-)Organisationsansätze
von Erwerbslosen, versucht,
Kontakte zu vermitteln und berichtet über bzw. beteiligt sich
an politischen Kampagnen wie
z.B. den für A p r i l bis Juni diesen Jahres durchgeführten europäischen Arbeitslosenmarsch.
Zudem unterstützen wir Positionen, die statt 'mehr Arbeit',
'mehr
Wirtschaftswachstum'
und 'mehr Konsum' eine gesellschaftlich gerechte Verteilung
von Arbeit und Einkommen, radikale Arbeitszeitverkürzung,
und last but not least eine vernünftige und menschenwürdige
Absicherung von Erwerbslosen
fordern.
Britta Brenner, Freiberg.
Gleichzeitig soll quer einen
möglichst hohen Nutzwert f ü r
ihre Leserinnen haben. Sie dient
als 'Fachblatt' f ü r engagierte und
selbstbewußte Erwerbslose bzw.
Beratungsstellen; so informiert
sie fortlaufend über die sozialrechtliche Gesetzgebungssintflut
und deren Konsequenzen. Die
Zeitung quer gibt entsprechend
Tips über verbliebene Spielräume, z . B . an welchen Punkten
Widersprüche gegen Amtsentscheidungen erfolgversprechend
sind etc. Erwerbslosigkeit soll
Kontakt: quer, Postfach 14 12,
09581 Freiberg.
E i n Abonnement kostet jährlich
21,60 D M für Erwerbslose/Einzelpersonen mit geringem Einkommen und 50 D M für Organisationen/Förderer. Probehefte
sind gegen 3 D M in Briefmarken erhältlich.
Das 'Archiv der
Sozialen
Bewegungen'
Hamburg
Das Hamburger 'Archiv der sozialen Bewegungen' mußte i m
Herbst 1995 einen empfindlichen
Rückschlag hinnehmen: In der
Nacht vom 27. zum 28. November brannte das Obergeschoß des
autonomen
Kulturzentrums
'Rote Flora' im Hamburger Szene-Stadtteil Schanzenviertel aus.
Über 90 Prozent des Bestandes
des dort seit 1993 untergebrachten Archivs wurde vernichtet.
In der nachfolgenden Solidaritätswelle gegenüber der Roten
Flora und dem Archiv konnte der
finanzielle Grundstock f ü r die
Renovierung des Stadtteilzentrums und auch f ü r die Weiterführung des Archivs (in Ersatzräumen) gelegt werden. Zudem
kam und kommt es bis heute nicht weniger wichtig - zu einer
V i e l z a h l von Materialspenden
von Einzelpersonen, politischen
Gruppen und anderen Archiven.
Der Umzug in die dann wiederaufgebauten und renovierten
R ä u m e in der 'Roten Flora' soll
noch in diesem Jahr erfolgen.
Geschichte
Das Archiv entstand 1989 aus
einer Privatinitiative. Es ist zusammen mit dem 'Archiv Soziale Bewegungen in Baden' (Freiburg) und dem 'Papiertiger'
109
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
(Berlin) eines der drei größten
selbstorganisierten Archive mit
linksalternativer und linksradikaler Ausrichtung. Den größten
Bestand i m Bereich alternative
bzw. neue soziale und linke Bewegungen dürfte das ID-Archiv
aufweisen, das aber seit seinem
Umzug nach Amsterdam 1988
zum Internationalen Institut f ü r
Sozialgeschichte (IISG) relativ
schlecht vor Ort nutzbar ist. W e i tere Archive, die dem Hamburger von den inhaltlichen Schwerpunkten her vergleichbar sind,
gibt es unter anderem in München (Gruppe 2), Nürnberg (Metroproletan-Archiv im K O M M ) ,
in Münster (Umweltzentrum), in
Berlin (Umwelt-Bibliothek) und
in Duisburg (Archiv f ü r alternatives Schrifttum).
Das Archiv der Sozialen Bewegungen versteht sich als Ted der
sozialen Bewegungen und hat
per Selbstdefinition einen engen
Bezug zu diesen in Hamburg und
darüber hinaus. D i e Resonanz
aus der (linksradikalen) Szene
vor Ort ist aber gering. Nur ein
kleinerer Teil der Nutzerinnen
wird durch die eigene politische
Aktivität zu einem Besuch i m
Archiv angestoßen, so einer der
Mitarbeiter: 'Die meisten Nutzerinnen kommen von der Hamburger U n i . Sie interessieren sich
erst f ü r die eigene Geschichte,
wenn dies an der U n i Thema ist'.
Sammelschwerpunkte
In der 33 Bereiche umfassenden
Archivsystematik finden sich in
unvollständiger Aufzählung die
Gebiete: Geschichte, außerparlamentarische Opposition, Antire-
pression, Antifaschismus, Antirassismus, Frauen-'Lesbenbewegung, Stadtentwicklung, Antimilitarismus, Internationalismus,
A n t i - A K W - B e w e g u n g , Ökologie, Medien und Zensur, Jugend,
Kunst und Kultur. E i n Großteil
des Bestandes besteht aus Periodika, zumeist Zeitschriften. Zur
Zeit werden 170 Zeitschriften
regelmäßig bezogen.
im Bedarfsfall werden dann A b züge gefertigt.
Beim Fundus nicht mehr erscheinender Titel ist aufgrund der vielen Spenden der paradoxe U m stand eingetreten, daß heute der
Bestand umfangreicher als vor
dem Brand ist. Bei Broschüren
und Dokumentationen ist der
ehemalige Stand zu 70 Prozent
wieder erreicht. Die Flugblattund Presseartikelsammlung des
Archivs war umfangreich und
wurde durch den Brand völlig
zerstört. Dieser Teil des Archives, der auch eine Unmenge von
politischen Papieren, Protokollen und ähnlichem enthielt, ist
vermutlich so nicht wiederherstellbar, da die Wiederbeschaffung und Aufarbeitung der M a terialien sehr zeitaufwendig,
wenn nicht gar unmöglich ist.
Desweiteren werden noch Plakate, Aufkleber, Postkarten und
Revolutionsdevotionalien gesammelt.
Der Bestand ist komplett i m
Freihandsystem organisiert und
schriftlich i m Bestandsverzeichnis erfaßt (aktuell erscheinende
Zeitschriften auch per E D V ) .
Fotokopien können vor Ort persönlich angefertigt werden, K o pien auf postalische Anforderung
werden in geringer Stückzahl
kostenlos gegen Rückporto angefertigt, größere Stückzahlen
oder Recherchen sind Verhandlungs- und Absprachesache,
ebenso wie die Abgabemodalitäten des Foto-Archiv-Kollektives.
In den Räumen des Archives arbeitet auch das Foto-Archiv-Kollektiv, das die verschiedenen
Aspekte sozialen Protestes fotographisch dokumentiert und der
interessierten Öffentlichkeit zur
Verfügung stellt. Die Fotoarbeiten können in Form von K o n taktabzügen eingesehen werden,
Nutzungsmöglichkeiten
Das Archiv, das immer noch
Materialien sucht, ist für jeden
zugänglich und bis zu seiner
Rückkehr in die Rote Flora donnerstags von 16 bis 19 Uhr sowie nach telefonischer Anmeldung geöffnet.
Bernd Hüttner, Bremen.
Kontakt: Archiv der sozialen
Bewegungen, c/o Rote Flora,
Schulterblatt 71, 20357 H a m burg, Tel.: (040) 433007.
110
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1 9 9 7
Statistik nach Maß
Anarchistischer
Herbst
Mit seinem Zeitreihenservice
'Time Series' öffnet das
Statistische Bundesamt den
Nutzerinnen des Internet die
statistische Datenbank
STATIS-BUND mit über
einer Million Zeitreihen. Der
neue Service umfaßt ein
kostenloses Dokumentations- und Recherchesystem
sowie einen kostenpflichtigen Bestell- und Abholdienst
per Datentransfer.
Vom 10. bis 12. Oktober
1997 feiert die 'graswurzelrevolution' ihr 25jähriges Bestehen mit einer Tagung in
der Alten Feuerwache in
Köln.
In der Datenbank sind Daten
aus 21 Sachgebieten der
amtlichen Statistik gespeichert, die teilweise bis 1950
zurückreichen.
Kontakt: Statistisches Bundesamt, Gustav-Stresemann-Ring 11, 65180 Wiesbaden, http://www.statistikbund.de.
SS ISS
Wä WS WS W&l WS WS SS3
Studie zum
Kirchenasyl
Eine neue Befragung der
'Bundesarbeitsgemeinschaft
Asyl in der Kirche' über
'Erfolg und Mißerfolg von
Kirchenasyl' liefert neues
Zahlenmaterial.
124 Fälle von Kirchenasyl
mit 560 Betroffenen wurden
in der Studie erfaßt, das sind
etwa 60 Prozent aller Fälle
bis 1996 und 90 Prozent der
Fälle seit der Asylrechtsänderung 1993.
Kontakt: BAG Asyl in der
Kirche, Kartäusergasse 911, 50678 Köln, Tel.: (0221)
3382281.
H
Ein Referat zu 'Herausforderungen an den gewaltfreien
Anarchismus am Ende des
20sten Jahrhunderts' eröffnet die Veranstaltung. Am
Samstag sind Arbeitsgruppen zu folgenden Themen
vorgesehen: Anarchismus
und soziale Frage, Weltmacht Deutschland, Feminismus und Staat, Anarchismus - Kunst und Popkultur,
Macht der Medien sowie
Herausforderungen durch
neue Technologien. Die
Veranstaltung schließt am
Sonntag mit einer Plenumsdiskussion über die Herausforderungen und Antworten
gewaltfreier und anarchistischer Bewegungen.
Kontakt: graswurzelrevolution, Kaiserstr. 24, 26122
Oldenburg, Tel.: (0441)
2489-663, Fax: -661, eMail:
[email protected].
Durchblicken
In der Reihe 'Durchblicke'
hat das Berliner Landesamt
für Verfassungsschutz eine
Neuauflage der Broschüre
'Rechtsextremistische Bestrebungen in Berlin' vorgelegt. Das 220seitige Heft
bietet informative Details
über verschiedene Organisationen und Gruppierungen
der rechtsextremistischen
Szene.
Kontakt: Landesamt für
Verfassungsschutz, Auf dem
Grat 2,14195 Berlin.
Freispruch
Ein Atomkraftgegner, der im
März 1996 zur Schienendemontage vor dem Atomkraftwerk in Gundremmingen
aufgerufen hatte, ist vom
Dortmunder Amtsgericht
freigesprochen worden.
In der 30seitigen Urteilsbegründung heißt es, daß die
Aufforderung zur friedlichen
Demontage der Schienen
durch das Grundgesetz
geschützt ist. Der Richter
begründet dies mit dem
Recht auf Meinungs- und
Gewissensfreiheit. Zudem
betont er, daß der Staat die
Pflicht habe, unbequeme
Gewissensäußerungen nicht
nur zu dulden, sondern auch
zu schützen.
Einmischen statt
Zusehen!
Im März hat der Landesverband Rheinland-Pfalz von
Bündnis 90/Die Grünen ein
Handbuch gegen Rechtsextremismus und Ausländerinnenfeindlichkeit herausgegeben. Auf fast 120 Seiten
werden Studien und Expertisen, Projekte sowie Kampagnen und Aktionen vorge-
.ja
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
stellt. Ausführlich werden
zudem Reader, Broschüren
und weiterführende Literatur
besprochen und kommentiert. Im Anhang sind die
Kontaktadressen zu den
wichtigsten Institutionen,
Organisationen und Gruppen gesammelt.
Kontakt: Bündnis 90/Die
Grünen Landesverband
Rheinland-Pfalz, Holzstr. 39,
55116 Mainz, Tel.: (06131)
2318-46, Fax: -49, eMail:
[email protected] (Schutzgebühr:
5 DM).
Erinnerungen
Das Hamburger Archiv Aktiv
für gewaltfreie Bewegungen'
hat einen gut 80seitigen
Neudruck der Erinnerungen
von Theodor Michaltscheff
herausgegeben.
Der Bulgare gründete 1947
den deutschen Zweig der
'War Resisters International'
und die 'Internationale der
Kriegsdienstgegner' (IdK).
Die Broschüre beinhaltet
Michaltscheffs Bilanz von 20
dahren Arbeit der Zeitschrift
'Friedensrundschau' (1947
bis 1966) sowie einen Text,
den er zum Abschied aus
Deutschland verfaßte.
Kontakt: Archiv Aktiv für
gewaltfreie Bewegungen,
Sternschanze 1, 20357
Hamburg, Tel.: (040)
4302046, Preis: 8 DM.
Menschenrechte
und Demokratie
Ziviler
Friedensdienst
Im Herbst 1995 lud das
Komitee für Grundrechte
und Demokratie in Zusammenarbeit mit dem Bildungswerk 'weiterdenken' zu der
Tagung 'Menschenrechte in
ost-westdeutscher Perspektive' nach Chemnitz ein. Die
nun vorliegende Dokumentation (DinA4, 130 Seiten,
12 DM) gibt einen Überblick
über die diskutierten Themen: Demokratisierung,
Teilhabe an gesellschaftlich
sinnvoller Arbeit und sozialer
Sicherung sowie die Migrantinnen- und Flüchtlingspolitik
als 'wiedervereinigte Menschenrechtsverletzung'.
Das 'Forum Ziviler Friedensdienst' in Minden hat am
23. Mai den diesjährigen
'Gustav-Heinemann-Bürgerpreis' erhalten. Damit werden dessen Bemühungen
gewürdigt, in einer Zeit
zunehmender internationaler
Spannungen Wege zu einer
gewaltfreien Konfliktbearbeitung aufzuzeigen.
Kontakt: Komitee für Grundrechte und Demokratie,
Bismarckstr. 40, 50672 Köln.
Prison Watch
International
In Hannover ist Anfang
Februar der Verein 'Prison
Watch International' gegründet worden, der die Situation
von Gefangenen beobachten will. Erster regionaler
Schwerpunkt des auf Initiative der Landtagsfraktion von
Bündnis 90/Die Grünen
gegründeten Vereins ist die
Türkei und die kurdischen
Gebiete. Erste Vorsitzende
ist die grüne Landtagsabgeordnete Heidi LippmannKasten; Sitz des Vereins ist
Göttingen.
Arbeitstreffen NGOs
Am 4. Juli findet in Frankfurt/
M. im Institut für Sozialforschung (Senckenberganlage
26) das 3. Arbeitstreffen zu
Nicht-Regierungsorganisationen statt. Zugesagt haben
Titus Bahner, Alex Demirovic
und Thomas Jahn. Dazu
wird es noch einen vierten
Beitrag geben.
Kontakt: Ulrich Brand/Christoph Görg, Uni Frankfurt/
M., NGO-Forschungsprojekt,
FB Geisteswissenschaften,
Robert-Mayer-Str. 5, 60054
Frankfurt/M.
Rechte im
Umweltschutz
Das Unabhängige Institut für
Umweltfragen in Berlin hat
eine Broschüre zum Recht
im Umweltschutz herausgegeben. 'Einmischen - Rechtliche Wege der Bürgerbeteiligung im Umweltschutz'
beleuchtet u.a. Auskunftsan-
112
sprüche nach dem Umweltinformationsgesetz, die
Bürgerbeteiligung in der
Bauleitplanung, das Umweltstraf- und Zivilrecht und
nennt Ansprechpartnerinnen
von Umweltinitiativen.
Das Freiburger Öko-Institut
hat eine Studie 'Bürgerrecht
im Umweltschutz' veröffentlicht. Darin wird die erweiterte Informationspflicht der
Behörden empfohlen, um
vorhandene Daten über
Gesetzentwürfe, Genehmigungsanträge, behördliche
Entscheidungen und den
Zustand der Umwelt leichter
zugänglich zu machen.
'Ökologische Bürgerrechte'
ermöglichen es der Bevölkerung, bei allen wichtigen
Planungs- und Genehmigungsverfahren beteiligt zu
sein. Außderdem wird ein
Einwendungsrecht für alle
Interessierten und die Umweltklage als 'JedermannKlage' gefordert. Zudem wird
vorgeschlagen, einen Bundesbeauftragten für Verfahrensrecht im Umweltschutz
zu ernennen.
Nicht Neo und
Nicht Neu
Die Bundestagsfraktion von
Bündnis 90/Die Grünen hat
eine Materialsammlung über
ihre Aktivitäten der vergangenen zwei Jahre zum Thema Rechtsextremismus
herausgegeben. Darin sind
die parlamentarischen Initiativen und Pressemitteilungen
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
der Bündnisgrünen zu verschiedenen Aspekten des
Rechtsextremismus sowie
die Antworten der Bundesregierung dokumentiert.
Die 120seitige Broschüre mit
dem Titel 'Nicht Neo und
Nicht Neu' kann gegen eine
Schutzgebühr von 5 DM
(zzgl. 1,50 DM Porto) bestellt werden.
Kontakt: Bündnis 90/Die
Grünen, Bundestagsfraktion,
Deutscher Bundestag,
10870 Berlin.
KDV in der Türkei
Die Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und
Militär initiiert ein Projekt mit
dem Ziel, auch in der Türkei
ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung (KDV) zu
erreichen. Es richtet sich
zunächst an Menschen mit
deutscher und türkischer
Staatsbürgerschaft sowie an
türkische Staatsbürger, die
in Deutschland leben. Anknüpfungspunkt ist das
Abkommen zwischen
Deutschland und der Türkei,
demzufolge jemand, der in
Deutschland Zivildienst
geleistet hat, damit auch
seiner Wehrpflicht in der
Türkei nachgekommen ist.
Die Kampagne will dies als
'Recht auf K D V durch die
Hintertür bekannter machen.
Trotz internationaler Abkommen gewährt die Türkei
bisher ihren Bürgern noch
kein Recht auf KDV.
Im Rahmen des Projekts hat
die Kampagne eine zweisprachige Broschüre herausgegeben.
Kontakt: Kampagne gegen
Wehrpflicht, Zwangsdienste
und Militär, Oranienstr. 25,
10999 Berlin, Tel.: (030)
61500-530, Fax: 529.
G. Fälscht
Das Bremer 'Archiv für ungewöhnliche Maßnahmen' ist
umgezogen. Das kurz
'G.Fälscht' genannte Archiv
sammelt seit 1991 politische
Fälschungen von unten.
Kontakt: G.Fälscht, 'Archiv
für ungewöhnliche Maßnahmen', Lagerhaus Schildstr.
12-19, 28203 Bremen, http://
www.underground.de/
gjaelscht/.
Parteienfinanzierung
Rechtsextremistische Parteien erhalten für das dahr
1996 fast fünfeinhalb Millionen Mark an staatlichen
Zuschüssen. Der Löwenanteil von rund viereinhalb
Millionen geht an die 'Republikaner', und die 'Deutsche
Volksunion' erhält gut
920.000 DM. Für 1995 hatten die 'Republikaner' Anspruch auf vier Millionen
Mark, davon wurden aber
1,9 Millionen Abschlagszahlung abgezogen, da sie die
Auszahlung der Gelder
113
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
durch verspätete Antragsstellung verpaßt hatten.
Totale Kriegsdienstverweigerung
Die Totalverweigerer-Initiative hat die fünfte, vollständig
übearbeitete und aktualisierte Auflage des Grundlagenreaders herausgegeben. Sie
enthält eine fundierte Einführung in das Thema mit vielen
Originaltexten.
Kontakt: TotalverweigererInitiative Braunschweig, c/o
Detlev Beutner, Helmstedter
Str. 21, 38102 Braunschweig, Tel./Fax: (0531)
794688.
Nation Europa?
Vom 27. bis 29. Oktober
findet in der Gustav-Heinemann-Akademie in Freudenberg ein Tagung zum Thema
'Nation Europa?' statt.
Rechtsextremistische Parteien und Bewegungen gibt es
in nahezu allen Ländern der
EU, Vernetzungen mit Hilfe
moderner Kommunikationstechnologien nehmen zu.
Eine 'Neue Rechte' bemüht
sich um Respekt im neokonservativen Lager zur Erringung kultureller Hegemonie.
Mit Expertinnen aus den
Nachbarländern sollen Gegenstrategien bilanziert und
entwickelt werden. Tagungssprachen sind deutsch und
englisch (Simultanübersetzung).
Kontakt: Gustav-Heinemann-Akademie, Postfach
1145, 57251 Freudenberg,
Tel.: (02734) 4980, Fax:
2473.
Pax Christi in
Ex-Jugoslawien
Der Einsatz für Kriegsflüchtlinge im ehemaligen Jugoslawien ist zu einem Schwerpunkt der Friedensarbeit von
Pax Christi geworden. In der
Broschüre 'Bei den Opfern
des Krieges. Aus der Arbeit
mit Kriegsflüchtlingen' berichten Freiwillige über ihr
Zusammenleben mit vom
Krieg traumatisierten Menschen in kroatischen und
bosnischen Flüchtlingslagern.
Mehr als 600 freiwillige
Helferinnen hat Pax Christi
seit Herbst 1992 entsandt.
Ihr mehrwöchiger Einsatz ist
ehrenamtlich, die Kosten
müssen aus eigener Tasche
bezahlt werden. Die dokumentierten Erfahrungsberichte sind 'ein Zeugnis
gegen das verbreitete Vorurteil, gegen Krieg und Gewalt
könne man doch nichts tun
und die Friedensbewegung
sei angesichts des Kriegs im
ehemaligen Jugoslawien
verstummt'.
Kontakt: Pax Christi Sekretariat, Postfach 1345, 61103
Bad Vilbel, Fax: (06101)
65165 (6 DM zzgl. Versandkosten).
links
Im 29sten Jahrgang hat die
Zeitschrift links mit der Ausgabe 320/321 ihr Erscheinen
eingestellt. In der letzten
Nummer werden die Gründe
- die politisch, organisatorisch und ökonomisch ausweglose Situation - ausführlich dokumentiert und diskutiert.
Schade, die Red.
Tor des Monats
'Ich erkenne an, daß Christus, als er einzig Männer zu
seinen Aposteln berief, nicht
von soziologischen oder
kulturellen Motiven seiner
Zeit geleitet wurde, sondern
frei und souverän handelte.'
( Papst Johannes Paul II. an
den srilankischen Pater
Balasuriya, Januar 1997)
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
kl./r NMONfcN
Volker Hielscher u.a.
Im Streit für die
Umwelt
biographischen G r ü n d e n Inter-
in zahllosen anderen Fällen vor
esse und eine
Buchbespre-
Ort auch funktionierte, in zahl-
chung beanspruchen. (Nur die
losen anderen Fällen ebenso
A k t i v e n in der „ Ö k o p a x " - B e -
aber auch an den „vested i n -
wegung werden i m A u f s t i e g
terests" des p o l i t i s c h - ö k o n o m i -
und „ F a l l " von Jo L e i n e n mit
schen Systems und seiner Gre-
viel rückerinnernder Anteilnah-
mienvertreter scheitert(e).
me auch ein S t ü c k i h r e r e i g e n e n
A n h a n d vergleichsweise harm-
politischen Biographie des letz-
loser B e i s p i e l e zeigt der A u t o r
Jo Leinen, Basis-Aktivist
und Minister
ten Vierteljahrhunderts erken-
plastisch den D s c h u n g e l des
nen und von daher auch „per-
sozio-politischen Interessenge-
Bilanz und Ausblick
s ö n l i c h " interessiert sein.) Z u m
flechts, innerhalb dessen der
K i r k e l : E d i t i o n A p o l l 1995
hochinteressanten gesellschaft-
Umweltminister
lich-politischen L e h r s t ü c k „ a m
Ö k o b e w e g u n g s - A k t i v i s t als-
lebenden O b j e k t " w i r d
bald zahllose Barrieren und
das
gewordene
B u c h , weil darin exemplarisch
eben auch bittere Niederlagen
Sattler g e h ö r t zu den seltenen
der Z u s a m m e n p r a l l z w e i e r
erleben m u ß t e , sicher nicht
Politikwissenschaftlern, die -
grundverschiedener politischer
zuletzt deshalb, w e i l er dieTak-
als Journalisten - Texte schrei-
Kulturen
Darstellung
tiken des s t a a t s b ü r o k r a t i s c h e n
ben bzw. herausbringen, w e l -
kommt: D i e K u l t u r der Neuen
Politikstils, sich rechtzeitig
che solide Information mit e i -
Sozialen Bewegungen ( N S B )
r ü c k z u v e r s i c h e r n und Bundes-
nem hohen Unterhaltungswert
und die der traditionalen Partei-
genossen i m Entscheidungs-
verbinden. So ist i h m auch mit
politik und Staatsverwaltung.
vorfeld z u verschaffen ( i m Ver-
seinem B u c h ü b e r Jo L e i n e n
A u s den Interviews und Texten
b ä n d e - , Parteien- und Regie-
eine E d i t i o n gelungen, die weit
von und ü b e r L e i n e n w i r d deut-
rungssystem), nicht in langer
mehr z u bieten hat als eine ein-
lich, w i e der politische Stil der
( p a r t e i - ) b ü r o k r a t i s c h e r Dienst-
fache „ p o l i t i s c h e B i o g r a p h i e " :
N S B - hier der U m w e l t b e w e -
erfahrung gelernt hatte.
zur
Indem er nicht nur selbst den
gung - g e p r ä g t war (und noch
Schließlich waren (fast) alle mit
bisherigen, e i n i g e r m a ß e n dra-
ist?) durch zielgerecht m a x i -
ihm unzufrieden: Lafontaine, weil
matischen politischen Lebens-
male Forderungen ohne R ü c k -
er zu oft auf dem staatsbürokrati-
weg des Exministers beschrie-
sicht auf ö k o n o m i s c h e Sonder-
schen Parkett ausrutschte und
ben hat, sondern auch L e i n e n
interessen und (partei-)politi-
aneckte, und die Umweltaktivi-
i m O r i g i n a l t o n z u Wort k o m -
sche M e h r h e i t s b e s c h a f f u n g ,
sten, weil er Versprechungen nicht
men läßt und vor a l l e m zehn
getragen v o n der Ü b e r z e u g u n g ,
einlöste. D a ß er zahlreiche Vor-
B e i t r ä g e v o n Mitstreitern und
d a ß der massierte D r u c k der
haben auch angeschoben und
K r i t i k e r n gesammelt hat, ge-
„ S t r a ß e " , also die direkte M o -
durchgesetzt hat, wollten beide
lang i h m ein nahezu „ o b j e k t i -
bilisierung der B ü r g e r / i n n e n ,
Seiten nicht w ü r d i g e n . ( D e m
ves", n ä m l i c h facettenreiches,
irgendwo und -wann auch schon
Rezensenten erscheint es nicht
seinen „ H e l d e n " mit seinen
auf den traditionalen politisch-
als Ruhmesblatt Oskar Lafontai-
L i c h t - und Schattenseiten, sei-
parlamentarischen E n t s c h e i -
nes, daß dieser seinem idealisti-
nen Leistungen und F e h l l e i -
dungsprozeß
durchschlagen
schen Jung-Minister nicht hier
stungen zeigendes B i l d .
werde. Was j a i m F a l l W y h l und
und da besser den Rücken stärk-
D a b e i k ö n n e n diese L i c h t - und
der riesigen Wiederaufberei-
te, und daß er f ü r ihn keine andere
Schattenseiten nicht p r i m ä r aus
tungsanlage hinter Passau wie
Aufgabe suchte, wenn er denn
115
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
glaubte, ihn aus dem Umweltres-
eine V i e l f a l t an Orientierungs-
S t a n d b e i n « zu e r g ä n z e n " - das
sort z u r ü c k n e h m e n zu müssen).
angeboten
Ansetzen an individueller B e -
Wer i m m e r aus der K u l t u r der
Überkommene
N S B - der Frauen- oder U m -
s t ä n d l i c h k e i t e n ' - w i e die G e -
sung des Interesses aus der
weltbewegung, der Friedens-
werkschaften - verlieren ihre
Zweckrationalität betrieblichen
oder S e l b s t h i l f e b e w e g u n g
Handelns - , soll die theoreti-
zur V e r f ü g u n g .
'Selbstver-
troffenheit und die H e r a u s l ö -
-
Bindewirkung. Die Gewerk-
kommt, u m i m ( p a r t e i p o l i t i -
schaften in Deutschland m ü s -
sche Debatte fruchtbar machen.
schen Institutionensystem
et-
sen sich auf unterschiedliche
Dies ist hervorzuheben, da hier
was z u bewirken, dem sei drin-
Weise umstrukturieren. G e r a -
ein W e c h s e l der Perspektive
gend e m p f o h l e n , den l e i d v o l -
de der g r o ß e n M e n g e der M i t -
stattfindet: Nicht mehr die be-
len H ü r d e n l a u f eines Frieden s-
glieder ohne 'besondere F u n k -
triebliche Gewerkschaftsarbeit
und
tion' fehlt das Mandat.
steht i m Vordergrund, sondern
merksam nachzuvollziehen.
D i e in diesem Band präsentier-
die soziale Integration.
D e n A k t e u r e n und Theoreti-
ten und analysierten Ergebnisse
D i e A u t o r e n zeichnen die je-
kern des politischen Systems
basieren auf der wissenschaftli-
weiligen I n i t i i e r u n g s b e m ü h u n -
aber bietet der exemplarische
chen Begleitung eines Versuchs
gen i n den Verwaltungsstellen,
F a l l wichtigen S t o f f z u m N a c h -
innerhalb der I G Metall, lebens-
deren E r f o l g e und M i ß e r f o l g e ,
denken, w i e die dynamischen
weltliche Gewerkschaftsarbeit in
p r ä z i s e nach,
K r ä f t e aus den N S B f ü r das
je zwei Verwaltungsstellen in
dazu immer wieder, w o die E i n -
Gesamt unserer K u l t u r kreativ
Ost- und Westdeutschland vor-
g r i f f s m ö g l i c h k e i t e n der P r o -
geworden sind - aber auch, w i e
anzutreiben. Dies in der H o f f -
jektbetreuer endeten und wes-
man sie instrumentalisieren und
nung, eine umfassendere E r -
halb die E r f o l g e begrenzt wa-
kaputtmachen kann.
reichbarkeit der Mitglieder her-
ren. D i e Initiierung der W o h n -
zustellen und durch die Vielfalt
bereichsarbeit ( W B A ) w i r d als
und Kreativität der Lebenswelt
erteilte Aufgabenstellung von
U m w e l t a k t i v i s t e n auf-
Fritz Vilmar,
Berlin.
verdeutlichen
Impulse f ü r neue Politikfelder
'oben' begriffen, weshalb k e i -
zu erhalten. D i e Analyse führt
ne Identifikation mit der Idee
die bisherigen Diskussionen zu
durch die
Beteiligungskultur und Gewerk-
hergestellt werden kann, son-
schaft fort und setzt i m Kontext
dern W B A eher als „ R e t t u n g s -
Gewerkschaftsarbeit im
Wohnbereich
der praxisrelevanten Ergebnisse
r i n g " i n Mobilisierungsphasen
Schriftenreihe der HansBöckler-Stiftung
Münster:
m
Volker Hielscher u.a.
'Hauptamtlichen'
an den Schattenseiten der A n -
(z. B . A r b e i t s k ä m p f e ) betrach-
nahme eines verstärkten Beteili-
tet w i r d . B i s l a n g ist bei den
gungsinteresses und d e r Ö f f n u n g
M i t g l i e d e r n ein fehlendes oder
gewerkschaftlicher Arbeit an.
partielles B e t e i l i g u n g s b e d ü r f -
A l s theoretischer Bezugsrah-
nis auszumachen, das bezogen
men w i r d unter dem S c h l a g -
auf die Handlungsethik R ü c k -
wort der Beteiligungsgewerk-
griffe auf b e w ä h r t e Delegati-
schaft ein M o d e l l nach van der
onsmechanismen statt E i g e n -
L o o und v a n R e i j e n (1992)
initiative nahelegt. So ergibt
unterbreitet. D i e Idee, die prio-
sich f ü r die A u t o r e n schon i n
D i e heutige westliche Indu-
ritäre Betriebsarbeit durch ein
der K o n z e p t i o n der W B A ein
striegesellschaft p r ä g e n Indi-
„in der Lebenswelt der M i t -
S p a n n u n g s g e f ü g e . D a der W e g
vidualisierung und Pluralisie-
glieder f u ß e n d e s
als Z i e l definiert w i r d , erhalten
Westfälisches
D a m p f b o o t 1996
rung. F ü r das Individuum steht
»zweites
116
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
die Interessierten keine A n t wort auf die konkret gestellte
Ansatz einer politischen E t h i k
ANNOf".''\Ht'>N?uN
„ S i n n f r a g e " . A l s notwendige
die A s y l - und M i g r a t i o n s p o l i -
A n a l y s e derartiger Verhaltensweisen fassen die Autoren in
einem gesonderten K a p i t e l zur
K u l t u r der Organisation der I G
M e t a l l zusammen, welche sozialen und kulturellen P r a k t i -
und macht diesen A n s a t z f ü r
tik fruchtbar. V o n besonderem
Albert-Peter Rethmann
Interesse sind seine Ü b e r l e g u n gen zur B e d e u t u n g
Asyl und
Migration
sozialer
Bewegungen als Akteure sozialen Wandels und bei der gesellschaftlichen Erzeugung von
W B A in ihrer Entstehung eher
Ethik für eine neue Politik
in Deutschland
gestellungen der Bewegungs-
behindern als f ö r d e r n .
M ü n s t e r : L i t 1996
forschung werden M ö g l i c h k e i -
ken eine
erfolgversprechende
Konsens. Im A n s c h l u ß an F r a -
K u r z : Im Mittelpunkt des E r -
ten v o n Christen als B e w e g u n g
kenntnisinteresses und als Ver-
und i n Bewegungen erörtert,
einzelnen
D e r A u t o r diskutiert a u s f ü h r -
K a p i t e l steht die Fragestellung,
l i c h die Ursachen von M i g r a t i -
welche A s p e k t e und B e f u n d e
on und Flucht (Teil 1) und die
klammerung
der
aus der vielschichtigen lebens-
Konturen w i e gesellschaftli-
weltlichen
Gewerkschaftsar-
chen F o l g e n der M i g r a t i o n f ü r
beit als erster Versuch relevant
die Bundesrepublik. Diese ist
sind und gegebenenfalls
im
trotz politischer Dementis, wie
weiteren G e s t a l t u n g s p r o z e ß f ü r
sie etwa die Bundesregierung
die A k t e u r e bedacht werden
noch heute formuliert, als E i n -
können bzw müssen. Dem
wanderungsland z u betrachten
B u c h ist breite A u f m e r k s a m -
(Teil 2). S c h o n die eher e i n f ü h -
keit z u w ü n s c h e n .
renden Teile sind - f ü r Disser-
Regina
tationen eher untypisch - we-
Kröplin,
Bremen.
gen ihrer Systematik und Ü b e r sicht einer breiten Leserschaft
zu empfehlen. Im Schwerpunkt
steht f r e i l i c h die
bemerkens-
werte K o n z e p t i o n einer „politischen E t h i k in der pluralistischen
Einwanderungsgesell-
schaft" (Teil 3), an die sich
Ü b e r l e g u n g e n f ü r eine „ P r o -
zu einer P r o - M i g r a n t e n - B e w e gung beizutragen. D i e s e F r a gestellung w i r d ergänzt u m eine
A n a l y s e der M i g r a t i o n i n der
j ü d i s c h - c h r i s t l i c h e n Tradition.
A u s ihr ergeben sich i n einer
liberal-kommunitaristischen
P e r s p e k t i v e A n s c h l ü s s e f ü r eine
ethisch verantwortete A s y l - und
M i g r a t i o n s p o l i t i k , etwa b z g l .
ethisch unhintergehbarer M i n deststandards des A s y l r e c h t s ,
aber auch hinsichtlich v o n K i r chenasyl und K i r c h e als A s y l bewegung. Diese Ü b e r l e g u n gen werden a b s c h l i e ß e n d an
die D i s k u s s i o n e n ü b e r m u l t i kulturelle Gesellschaft und
ü b e r die notwendige A u s g e staltung
des
Staatsbürger-
schaftsrechtes r ü c k g e k o p p e l t .
A. K.
M i g r a n t e n - B e w e g u n g in C h r i stentum und K i r c h e " (Teil 4)
u n d die „ K o n z e p t i o n
einer
ethisch verantworteten
Asyl-
und M i g r a t i o n s p o l i t i k " (Teil 5)
a n s c h l i e ß e n . D e r A u t o r rezipiert die kommunitaristische
Gesellschaftskritik als neueren
m
117
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
Pollack, Dieter /
Rink, Dieter (Hrsg.)
debates w h i c h have most cha-
den sich soziale Bewegungen
racterized feminist theory to
i n Ost- und Westdeutschland,
date. Including articles as 'Por-
und welche Sonderstellung hat
nography and Fantasy', 'The
dabei B e r l i n ? Solche und ä h n -
B o d y and C i n e m a " , 'Nature as
liche Fragen untersucht dieser
F e m a l e ' , 'and A M a n i f e s t o f o r
B a n d anhand
C y b o r g s ' , F e m i n i s m s explores
theoretischer Konzepte, e m p i -
Politischer Protest in der
DDR 1970-1989
thougths on sexuality as a do-
rischer Untersuchungen
main of exploration, the Visual
innerdeutscher Vergleiche. D a -
representation of women, what
bei ist festzustellen: D e r Insti-
F r a n k f u r t / M . : C a m p u s 1997
being a feminist means, and
t u t i o n a l i s i e r u n g s p r o z e ß hat die
Zwischen
Verweigerung
und Opposition
D i e A u t o r e n geben einen E i n b l i c k i n die verschiedenen Formen des politischen Protests i n
der D D R , die sich in den O p p o sitionsströmungen
innerhalb
der evangelischen K i r c h e n , der
Kunst- und Literaturszene und
der S E D herausgebildet haben.
Sie zeigen, w i e es zur Entstehung v o n Protest und K r i t i k
und z u m Ü b e r g a n g von vereinzelten Protestgruppen
zum
Massenprotest 1989 k a m . Insgesamt ist es e i n R e s ü m e e der
j ü n g s t e n politikwissenschaftlichen und soziologischen F o r schung z u Protestformen der
70er und 80er Jahre in der D D R .
Iii
Squires, Judith /
Kemp, Sandra (Eds.)
Feminisms
An Oxford Reader
Spanning nearly two decades
(1980-1996), the six sections
of this reader investigate the
und
what feminists are increasin-
'alternativen' G r u p p e n beson-
gly involved in political strug-
ders i n Ostdeutschland i n sehr
gles to negotiate the context
kurzer Z e i t v e r ä n d e r t ; dennoch
and meaning o f technological
wurden sie nicht z u konventio-
development. W i t h writing by
nellen I n t e r e s s e n v e r b ä n d e n .
bell hooks, A l i c e Jardine, and
Andea Dworkin, Feminisms
reflects the dynamic nature o f
feminist debates and the genuine diversity within current f e minist theory.
m
Rucht, Dieter /
Blättert, Barbara /
Rink, Dieter (Hrsg.)
Soziale
Bewegungen
auf dem Weg
zur Institutionalisierung
Zum Strukturwandel 'alternativer' Gruppen in beiden
Teilen Deutschlands
m
Rainer Benthin
Die Neue
Rechte in
Deutschland
und ihr Einfluß
auf den
politischen
Diskurs der
Gegenwart
F r a n k f u r t / M . u.a. L a n g 1996.
D e r A u t o r analysiert die Neue
Rechte mit M i t t e l n der B e w e gungsforschung und der D i s kursanalyse. A l s empirische
Oxford: Oxford University
Press 1997
verschiedener
F r a n k f u r t / M . : Campus 1997
Grundlage dieser eher explorativen Studien dienen ausge-
Was macht eine G r u p p e zur
w ä h l t e B e i t r ä g e aus den ein-
Bewegung und eine B e w e g u n g
schlägigen Publikationen.
zur Institution? W i e unterschei-
F e i n d b i l d der N e u e n Rechten
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
sind die 68er und die N e u e n
examine environmental issues
Sozialen Bewegungen, als de-
f r o m acultural perspective, this
ple w i t h Disabilities? In: T h e
ren Gegenbewegung
sie sich
innovative book adopts a c u l -
A n n a i s , N o . 549, 10-23.
verstehen lassen. „ M i t d e r N e u -
tural studies approach to reach
en Rechten konstituiert sich
a deeper understanding of the
Bearman,
rechts v o m
significance o f ecological is-
oung
eine intellektuelle Teilbewe-
sues i n our lives. Jagtenberg
D y n a m i c s o f M o v e m e n t Parti-
gung, die zusammen mit ande-
and M c K i e bring a body o f
cipation. In: A m e r i c a n S o c i o -
ren eine rechtsradikale 'Gegen-
relevant literature into the de-
logical Review, V o l . 62, N o . 1,
bewegung'
begründet. Wäh-
bate - that stems f r o m both
70-93.
rend die Gesamtheit sich durch
cultural and environmental is-
Konservatismus
W i l l Conservatism H a r m Peo-
Peter S./Kim,
Hyoy-
1997: T h e Structure and
diverse A k t i o n s f o r m e n aus-
sues - as w e l l as their o w n
Becker,
zeichnet, b e s c h r ä n k t sich die
multidisciplinary perspectives
1997: E l i t e Research i n E a -
Neue Rechte weitgehend auf
on the subject.
rung)." (S.13) D i e drei Teile
der klar gegliederten und mit
zahlreichen Z w i s c h e n b i l a n z e n
versehenen Studie
gungen", eine „ b e w e g u n g s a n a lytische B e s t i m m u n g der N e u en R e c h t e n " sowie „ P a r t i z i p a tionsebenen
und
Report. Opladen: L e s k e und
AK'lL'f I ' fV
F<"SlIO0' 'V! { =
diskursive
Verstrickungen".
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B3
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behandeln
„ G r u n d l e g u n g e n und B e d i n -
Heinrich
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der
122
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
Kai-Uwe Hellmann: Marginalisation and Mobilisation. Conceptional Thoughts about
the Rise and Mobilisation of Marginalized People, FJ NSB, 2/97, pp. 23-37
Kai-Uwe Hellmann opens his contribution on "marginalisation and mobilisation" with the simple
Statement
" w h o protests, has problems". T h e author analyses protest using the concept of relative
deprivation and arrives at the conclusion that usually those w h o have the most reasons to protest,
are the least l i k e l y to articulate it. R e p l a c i n g the c o m m o n distinction between centre and periphery
by that between i n c l u s i o n and exclusion enables one to see marginalisation both as a process and
as a State o f exclusion. F r o m this one can further derive a differentiation between structural
marginalisation, w h i c h is neither intended nor attributable, and
Strategie
marginalisation, w h i c h
results f r o m the decisions o f other actors. Structural marginalisation may inhibit successful protest
mobilisation as a result o f insufficient resources, a lack of generally acceptable frames of meaning,
or unfavourable political opportunity structures. E v e n i f movements sueeeed in passing these
barriers, Strategie marginalisation may prevent them f r o m realising their mobilisation potential. A s
a result, H e l l m a n n arrives at a pessimistic conclusion regarding the future chances o f mobilisation.
Roland Roth: The Return of the Social. New Social Movement, Poor People's
Movements, and the Struggle for Civil Rights, FJ NSB, 2/97, pp. 38-50
In his article "The return o f the social", Roland Roth combines three theoretical Strands: social
movements, poor people's movements, and the struggle f o r c i v i l rights. A c c o r d i n g to Roth, the
c o m m o n conceptualisations of "new social movements" f a i l to take into account resource-poor
groups and their social problems and demands. D r a w i n g on the A m e r i c a n discussion on poor
people's movements he Sketches the success chances of spontaneous, disruptive, and radical
protest f o r m s . Through them, access can be gained to resourceful actors and established organisations and to the moral, material, informational and integrative support that these may offer. In the
Federal R e p u b l i c , as w e l l , R o t h sees new actors arising that may bring some "movement" into the
stifling corporatist traditions of the social-political arena. T h e concept o f citizenship, that has
become prominent i n recent debates, offers itself as a leading principle to guide political
mobilisation f o r the recognition o f the demands o f marginalised groups. T h e struggle f o r social
citizenship rights has Substantive, normative, and theoretical implications: research on social
movements that incorporates marginalised groups and neglected demands may provide a counterweight against the increasing exclusiveness o f social citizenship rights and democratic participation.
Stefan Pabst: Interest Mediation through Social Advocacy. Empirical Analyses of the
Coverage of Poverty in the Journals of Private Welfare Organisations. FJ NSB, 2/97,
pp. 51-62
Stefan Pabst investigates actors, aims, and strategies of "interest mediation through social
advocacy" on the basis of an empirical analyses of the coverage of poverty in thejournals o f private
welfare organisations (particularly the " P a r t i t ä t i s c h e r Wohlfahrtsverband" and "Caritas"). T h i s
coverage is a funetion o f Strategie and political considerations. F r o m the internal perspective of the
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
123
organisations, its f u n c t i o n is to take the edge o f f the criticism o f member organisations and
Professionals. A t the same time, the coverage in thejournals should improve the organisation's
public image and secure f u n d i n g revenues. Political considerations lead to relatively moderate
demands, not least in order not to endanger co-operative relations with the State. Recent (personnel)
developments, however, show that the welfare organisations tend to develop a more conflictoriented approach towards the federal government, w h i c h among other things is expressed in
public c r i t i c i s m o f the dismantling o f the welfare State and in the organisations' participation i n the
" S o c i a l and E m p l o y m e n t S u m m i t " . Pabst draws the conclusion that private welfare organisations
may succeed in m a k i n g poverty a topic of attention among the wider public. However, in doing so
they also instrumentalise the poor f o r organisational interests and reduce them to the Status o f a
clientele that is deemed incapable of independent political action.
Friedhelm Wolski-Prenger: Marginality and Resistance. Protest by the Unemployed,
FJ NSB, 2/97, pp. 63-69
F r i e d h e l m Wolski-Prenger and H a r a l d R e i n discuss current developments and future perspectives
of protest by the unemployed. Friedhelm Wolski-Prenger Sketches the mobilisation problems of
u n e m p l o y e d people's movements. O n l y a small part of the mass of unemployed participate i n the
movement's activities. W o l s k i - P r e n g e r investigates the contextual constraints and the internal
organisational, ideological, and Strategie differences among the various (religious, independent,
unionist, and welfare-corporatist) "currents" within the movement of the unemployed. These
actors share a commitment to alleviate the material, psychological, and social burdens of the
unemployed. However, inadequate co-ordination, demarcation tendencies, as well as insufficient
mutual interest, have resulted in the present lack of influence o f the movement. The author therefore
draws a pessimistic conclusion f o r the future: the movement o f the unemployed can only gain more
influence i f it sueeeeds in developing practicable Strategie concepts. These should include renewed
attempts at co-ordination, a rapprochement among the various currents as well as a new alliance
politics.
Harald Rein: 'We are fighting for what we need'. Current developments and Future
Perspectives of the Unemployed People's Movement, FJ NSB 2/97, pp. 70-75
H a r a l d Rein, on the contrary, arrives at a more positive assessment o f the potential of the
unemployed people's movement. A l t h o u g h he acknowledges that a broad movement of the
unemployed has thus far not developed, the author emphasises the underlying mobilisation
potential and dismisses forms of social worker paternalism in m o b i l i s i n g the unemployed. T h e
history of the emergence of the "Bundes arbeitsgemeinschaft der Initiativen gegen Arbeitslosigkeit
und A r m u t " (National Association of Initiatives against U n e m p l o y m e n t and Poverty) shows that
the political action of the unemployed conforms neither to the model of organised political
lobbying, nor to the illusionary imagery of mass protest. Instead, one sees a multitude o f patterns
of resistance, rooted in the practices o f daily l i f e and e v o l v i n g along social, economic and historical
lines. T h e c o m m o n fixation on the spectacular has thus far obscured these developments f r o m view.
f3§&&ESi
FORSCHUNGSJOURNAL N S B , JG. 10, HEFT 2, 1997
Eric Hammann: For a Culture of Equality-in-Diversity. Self-organised Outpatient Services - The Association for the Integration of Disabled People', FJ NSB, 2/97, pp. 7689
D r a w i n g o n the example o f the "Verein zur F ö r d e r u n g der Integration Behinderter" ( A s s o c i a t i o n
for the Integration o f D i s a b l e d People) E r i c Hammann argues f o r a "culture o f equality-indiversity". Self-organised outpatient Services, which have to strike a balance among the sectoral
logics o f market, State, and private sphere, can be seen as institutional components o f c i v i l society.
Traditional Services f o r the disabled are characterised by problem partitioning according to the
logic o f bureaucratic rationality. Self-organised outpatient Services, on the contrary, o f f e r a
democratic and humane alternative, w h i c h creates room f o r individual development as w e l l as f o r
new forms o f (family) independent solidarity. T h e i r aim is to enable disabled people to make their
own decisions on the aims, actors and t i m i n g o f the Service relation. However, to achieve this aim
a changed understanding o f institutionalised care and a democratic perspective o n care relations
are necessary. O n l y then can the social construct of "disability" and the concomitant marginalisation of those involved be transgressed.
In eigener Sache:
Förderverein ist als gemeinnützig anerkannt!
D i e R e d a k t i o n des Forschungsjournals Neue Soziale Bewegungen
arbeitet seit G r ü n d u n g der
Zeitschrift auf rein ehrenamtlicher Basis. D a w i r ü b e r keine institutionelle A n b i n d u n g
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redaktionelle Arbeit zu verschaffen. Daher m ö c h t e n w i r Sie als Leserinnen und L e s e r einladen,
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Der Verein h e i ß t Soziale Bewegungen - Verein der Freunde und Förderer
politikwissenschaftlicher Publizistik und demokratischer
Partizipation
e. V. D e r Mitgliedsbeitrag b e t r ä g t j ä h r l i c h
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Seit F r ü h j a h r 1997 ist unser Verein als g e m e i n n ü t z i g anerkannt, und so besteht die M ö g l i c h keit, M i t g l i e d s b e i t r ä g e und Spenden v o n der Steuer abzusetzen. Leserinnen und L e s e r des
Journals, die dem Verein als M i t g l i e d e r beitreten, aber bereits ein Jahresabo besitzen,
entstehen hierdurch i n Z u k u n f t keine doppelten Kosten. D e r Verein w i r d i n enger Kooperation
mit der Redaktion und dem Westdeutschen Verlag f ü r eine u n b ü r o k r a t i s c h e A b w i c k l u n g
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A u f Mitgliederversammlungen und A k t i v i t ä t e n des Vereins w i r d z u k ü n f t i g i m Forschungsjournal hingewiesen. Weitere Informationen (Vereinssatzung etc.) k ö n n e n bei der R e d a k t i o n
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D i e Herausgeber und die R e d a k t i o n des Forschungsjournals Neue Soziale
Bewegungen
Kontakt: L u d g e r K l e i n , Im Erlengrund 1, 53757 St. A u g u s t i n , T e l : 02241/ 330583
Aus dem Programm
Sozialwissenschaften
Sludien zur Soziataissenschali
Rodrigojokisch
LOGIK
DER DISTINKTIONEN
ZURPROTOLOGIK
EINER THEORIE DER GESELLSCHAFT
Andreas Diekmann / C a r l o C . Jaeger (Hrsg.]
Umweltsoziologie
1996. 5 8 4 S. (Kölner Zeitschrift für Soziologie
und Sozialpsychologie, Sonderheft 36)
Kart. D M 7 9 , 5 0
ISBN 3-531-12688-1
Dieser Band gibt einen Uberblick über den aktuellen Forschungsstand der Umweltsoziologie
im internationalen Rahmen und unter Einschluß
von Nachbardisziplinen.
Michael Schwab-Trapp
Wesldeutscher Verlag
Rodrigojokisch
Logik der Dlstinktionen
Zur Protologik einer Theorie der Gesellschaft
1 9 9 6 . 4 2 3 S. (Studien zur Sozialwissenschaft,
Bd. 171) Kart. D M 7 6 ISBN 3-531-12804-3
Der Autor schlägt vor, Gesellschaft mil Hilfe des
Begriffes der Distinktion zu beobachten. Dieses
Konzept wird an so grundlegenden Sachverhalten wie „Form", „Komplexität", „Selbstreferenz"
und „Beobachtung" erprobt, sowie an den Theoriearchitektoniken der Theorie sozialer Systeme
(N. Luhmann), der Theorie des allgemeinen
Handlungssystems (T. Parsons) und der Theorie
kommunikativen Handelns (]. Habermas). O b wohl ihr Ausgangspunkt in der soziologischen
Thematik liegt, läßt sich die bewußt allgemein
angelegte Theorie nicht ausschließlich auf soziologische Themen beziehen.
Konflikt, Kultur
und Interpretation
Eine Diskursanalyse des öffentlichen Umgangs
mit dem Nationalsozialismus
1996. 2 4 6 S. (Studien zur Sozialwissenschaft,
Bd. 168) Kart. D M 4 8 ISBN 3-531-12842-6
Die Legitimität des politischen Systems der Bundesrepublik bedarf einer beständig aufs Neue
zu leistenden symbolischen Abgrenzung zum N a tionalsozialismus. W o frühere oder gegenwärtige Verfehlungen einzelner Repräsentanten des
politischen Systems öffentlich bekannt werden,
entbrennen Konflikte um die normative Angemessenheit ihrer Handlungsweisen. Die Akteure solcher Konflikte ringen in ihrem Bezug auf die Vergangenheit um Macht, Legitimität und Anerkennung in der Gegenwart. In diesen Auseinandersetzungen wird eine „legitime Sichlweise der
Vergangenheit" erzeugt, die dem politischen
Handeln der Gegenwart Optionen eröffnet und
Restriktionen auferlegt. Die Erzeugung solcher
Sichtweisen ist Gegenstand dieser Untersuchung.
WESTDEUTSCHER VERLAG
Abraham-L'ncoin-Slr. 46 6 5 1 8 ° Wiesbaden
Fax [06 111 78 78 - 420
I
Aktuelle
Neuerscheinungen
Alexander Siedschlag
Neorealismus, Neoliberalismus
und postinternationale Politik
Beispiel internationale Sicherheit Theoretische Bestandsaufnahme und Evaluation
1997. 4 9 8 S. (Studien zur Sozialwissenschaft,
Bd. 169] Kart. D M 9 8 ISBN 3-531-12916-3
Das Ende des Kalten Kriegs hat in der Politikwissenschaft zwei Generaldebatten ausgelöst:
diejenige um die Zukunft internationaler Sicherheil und Sicherheitspolitik sowie die um die entsprechende Theorie und Methode. Diese Studie will beides verbinden. Die drei großen Paradigmen Neorealismus, Neoliberalismus und
Postinternationalismus werden dabei systematisch auf Aspekte der globalen, regionalen und
nationalen Dimension internationaler Sicherheit
nach dem Ende der bipolaren Welt angewandt.
Gerhard Göhler (Hrsg.)
Institutionenwandel
1997. 2 8 5 S. (Levialhan-Sonderheft 1 6 / 9 6 )
Kart. D M 5 4 ISBN 3-531-12936-8
Unsere Zeit ist in besonderem Maße durch Institutionenwandel geprägt. Im Blickpunkt stehen die
vielfältigen und häufig schwer durchschaubaren
Prozesse des Institutionenwandels in Mittel- und
Osteuropa. Die Beiträge machen in vergleichender Perspektive deutlich, welche Formen des Institutionenwandels unsere Gesellschaften am Ende
des 2 0 . Jahrhunderts kennzeichnen und wie die
Sozialwissenschaften sie begreifen.
V O N DER BLOCKPARTEI
Z U R VOLKSPARTEI?
Ute Schmidt
Von der Blockpartei
zur Volkspartei?
Die OstGDU im Umbruch 1989 - 1 9 9 4
1997. 4 0 6 S. (Schriften des Zentralinstituts für
sozialwiss. Forschung der FU Berlin, Bd. 81)
Kart. D M 7 2 ISBN 3-531-12931-7
Fünf Jahre nach der deutschen Vereinigung brechen in der ostdeutschen C D U Konflikte auf, die
zeigen, daß der Wandel von der Blockpartei zur
Volkspartei westdeutschen Zuschnitts noch keineswegs abgeschlossen ist. Die Arbeit von Ute
Schmidt liefert eine anschauliche und quellenfundierte Analyse des Umbruchs und der Strukturierungsprozesse in der ostdeutschen C D U . Ausgangspunkt ist die Frage, wie aus der heterogenen Gemengelage politischer Kräfte eine politikfähige Partei entstehen kann.
WESTDEUTSCHER VERLAG
Abraham-tmcoln-Str 46 65189 Wiesbader.
Fox {06 11J 73 7 8 - 4 2 0
JKKP- Alternative Kommunal Politik
- Bin Muß für alle, die In der Kommunalpolitik
akfk sind!
Die grün-alternative Fachzeitschrift AKP - Alternative Kommunalpolitik ist
die Top-Adresse für Menschen, die in diesem Bereich politisch oder beruflich
tätig sind. K e i n aufgeregtes Materialiensuchen mehr - alles ist schon einmal i n
der A K P oder unserem "Handbuch für alternative Kommunalpolitik" oder
unserem Buch "Politik mit leeren Kassen" behandelt worden. Jede Ausgabe der
Zeitschrift enthält auf 68 Seiten ein Schwerpunkt-Thema, zahlreiche Fachbeiträge, einen M a g a z i n - und Nachrichtenteil, eine Materialienbörse, Rezensionen
und Stellenanzeigen. Die A K P erscheint 6 x pro Jahr; das Abo kostet 66.- D M .
Kostenloses Probeheft und Katalog anfordern bei: AKP- Redaktion und
Vertrieb, Luisenstr. 40, 33602 Bielefeld, 0) 0521/177517 • 0521/177568
Denken und Handeln
Gerhard de Haan / U d o Kuckartz
Umweltbewußtsein
Denken und Handeln in Umweltkrisen
1996. 3 0 3 S. Kart. D M 4 8 , —
ISBN 3 - 5 3 l - l 2 8 0 8 - 6
Die Bevölkerung ist in hohem Maße umweltbewußt. Dennoch zeigt der Einzelne kaum ein umweltverträgliches Verhalten. W i e kommt es zu diesem Mißverhältnis? W a s wissen wir über das Denken und Handeln
in der Umweltkrise? Um hier zu genaueren Einsichten zu gelangen, wurden mehrere hundert empirische
Studien zum Umweltbewußtsein und -verhalten verglichen und analysiert. Die Autoren haben das Knäuel
der oft widersprüchlichen Resultate entwirrt und systematisiert. Das Ergebnis: Zu wenig wurde bisher
berücksichtigt, daß die Gewohnheiten des einzelnen, sein Lebensstil, sein Risikobewußtsein und sein
Bedürfnis nach Wohlbefinden ihn am umweltgerechten Verhalten hindern. Der Band bietet neue Perspektiven zur Entwicklung eines nachhaltigen Umweltbewußtseins.
in
Aktuelle
Neuerscheinungen
Dieter Ohr
NATIONAL.
SOZIALISTISCH!
PROPAGAN DA UND
WEIMARER WAHLiN
EMPIRISCHE ANALYSEN
ZUR WIRKUNG
V O N NSDAP-VERSAAAMLUNGEN
Wesldeulscher Verlag
Ludger Helms
Wettbewerb und Kooperation
Zum Verhältnis von Regierungsmehrheit
und Opposition im parlamentarischen
Gesetzgebungsverfahren in der BRD,
Großbritannien und Österreich
1997. 238 S. (Studien zur Sozialwissenschaft,
Bd. 191) Kart. D M 5 2 ISBN 3-531-13053-6
Die Akteure Regierungsmehrheit und Opposition
besitzen nicht nur eine wichtige Orienlierungsfunktion für den politischen Meinungsbildungsprozeß
der Bürger, sondern stehen zugleich im Zentrum
des politischen Entscheidungssystems parlamentarischer Demokratien. Die Studie bietet einen systematischen Überblick über die Ansätze und Ergebnisse der einschlägigen Forschung.
Dieter Ohr
Nationalsozialistische Propaganda und Weimarer Wahlen
Empirische Analysen zur Wirkung
von NSDAP-Versammlungen
1997. 2 7 8 S. (Studien zur Sozialwissenschaft,
Bd. 180) Kart. D M 5 8 ISBN 3-531-13006-4
Welche Rolle die nationalsozialistische Propaganda für den Aufstieg der NSDAP in den Weimarer
Wahlen spielte, ist nach wie vor umstritten. Systematische empirische Untersuchungen zur Wirkung
der NSDAP-Propaganda auf das WählerverhaTten liegen bislang kaum vor - eine Lücke, die
diese Untersuchung zu schließen versucht. Sie geht
der Frage nach, welchen Anteil die nationalsozialistischen Propagandaversammlungen an den
Wahlerfolgen der NSDAP hatten.
Harold Hurwitz, unter Mifarb. von
Ursula Böhme und Andreas Malycha
Die Stabilisierung der SED
Zum Verlust von Freiräumen und sozialdemokratischer Identität in den Vorständen 1946 - 1 9 4 9
1997. 5 1 4 S. (Schriften des Zentralinstituts für
sozialwiss. Forschung der FU Berlin, Bd. 79)
Kart. D M 9 4 ISBN 3-531-12772-1
Die Sfalinisierung der SED begann nicht, wie
oft angenommen, im Jahre 1948 als Reaktion
auf den Kalten Krieg. Freiräume zum relativ offenen Diskurs in den paritätisch besetzten Führungsgremien wurden in einem komplexen VierPhasen-Prozeß zuerst eingeschränkt, dann schrittweise eliminiert.
WESTDEUTSCHER VERLAG
Abraham-Lincoln-Str 46 65189 Wiesbaden
Fat {Ob 11)78 7 8 - 4 2 0