Beitrag - Trittauer Straßen

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Beitrag - Trittauer Straßen
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Die Vorburgstraße in Trittau in den 1930er Jahren
Verfasst von Frau Lina Beckmann, geb. Brandt
Transkribiert von Hans-Joachim von Hartz (2000)
Als ich zum ersten Mal über meinen jetzigen Hof (Vorburgstraße 16) ging und meine Nachbarn
begrüßte, wusste ich, hier lebt ein uriges Volk; es waren zum größten Teil ältere Männer, die zu
allen Späßen aufgelegt waren.
Am Anfang der Straße war die Krämerei Mewes-Lanquillon (Jetzt die Tankstelle Beckmann). Der
Garten erstreckte sich bis zum Grundstück von Ahrens. In dem Garten stand ein kleines, uraltes
Haus, in dem von Mai bis September zwei Vogelkundler wohnten. Die Vorburger sagten: "Dat sünd
Tuchvögels, de wüllt nix mit uns tau daun hebben!" Beide trugen, wie alle Fahrensmänner, Kap
Hornier-Mützen. Doch bald sollte ich den Grund erfahren. Beide waren Antialkoholiker
(Angeblich!).
Als nächstes das Kaufhaus Ahrens (Heute Riegel); es war den Anliegern ein Dorn im Auge. "Wat
hett de Bestmann sick dorbi dacht, uns dat Hus vör de Snut tau setten? Keen Hus, keen Snut, na
Schiffbek an de Bill, dor hört dat henn".
Neben Ahrens stand ein kleines Haus, darin wohnte Herr Söder und zur Miete Herr Dorjahn. Der
hatte eine Verwachsung vom linken Hinterkopf bis zur Gürtellinie. Seinen Körper hatte er nach
seinem Tode einer Klinik vermacht. Herr Dorjahn hatte einen kleinen Laden, darin stand eine kleine
Tonbank und ein Bücherbord und draußen an seiner Hausseite ein Schild. Auf diesem Schild war
eine schwarze Hand, deren Zeigefinger um die Ecke zeigte. Ging man dort entlang, kam man zuerst
in seine Küche. Darin stand ein altdeutscher Herd, ein Waschkessel und ein Wandbord, auf dem
standen ein paar Teller und Tassen, vom Rauch mehr schwarz als weiß. Im Laden schlief er unter
einem Bücherbord, das - in Abständen - zweimal des nachts herunter fiel, so dass er den Arzt
aufsuchen musste. Im Bücherbord lagen uralte und neue Groschenromane. An Wochenenden
kamen von den umliegenden Dörfern die Jugendlichen und holten sich Lesestoff: Leihgebühr 5
Pfennig pro Woche. Außerdem handelte er mit Ringen, Broschen, Ketten und Armreifen - alles
"rein von Gold" - wenn er es zeigte. Dass das Bord immer herunter fiel, schrieb er nur dem Bau des
Hauses Ahrens zu. Auch sagte er: "Ick mütt mi noch rein ein´n Wecker köpen. Heff mi ümmer na
denn Köthler Melkwogen richt. Heff em ümmer schon ab Ballin (Hamfelde) hört, un nu is dat
vörbi. Dat Hus nimmt mi de ganze Luft wech, heff rein Beklemmung". Und Herr Söder sagte:
"Dorjahn hett recht. Ick hör denn Tog erst, wenn hei affeuert".
Im Hause wohnte noch Herr Schlambor mit seiner Frau. Er sprach hochdeutsch. "Ja Dorjahn, was
machen wir bloß?" "Dat mütt ein sarchen affblökern". "Ja, ja, mache es nur, Du hast ja Deinen Kopf
verkauft". Herr Schlambor war Jagdaufseher und betreute die Feldmark. Eines Morgens kam er aus
dem Revier, und er sieht, dass aus dem Hause des Schuhmachers v.Bronk (Alle nannten ihn den
Galoppschuster) in der Hamburger Straße der Gerichtsvollzieher herausgehumpelt kommt. Er hatte
an die Tür geklopft, aber Herr v.Bronk stellte sich taub. So versuchte der Gerichtsvollzieher die alte
Tür zu öffnen. Als er es geschafft hatte die Schuhspitze in den Türspalt zu schieben, haute Herr v.
Bronk ihm mit seinem Schusterhammer auf den großen Zeh. Der arme Mann suchte sofort den Arzt
Sanitätsrat Dr. Herckt (Später Praxis Dr. Haupt) auf. Herr Schlambor überbrachte das Erlebnis
sofort allen Vorburgern, sie kamen alle vor die Haustüren, denn der Gerichtsvollzieher musste ja
hier durch. Ja, er kam angehumpelt. Von keiner Seite ein Mitleid. Herr Schlambor schmunzelte und
hob seinen Stock, als der Einzieher die Vorburgstraße verließ, und sagte: "Komm´ mir ja nicht
wieder, es kann schlimmer ausgehen".
Danach setzten sich die pensionierten Kap Hornierer wieder auf ihre Bank. Jedes Haus hatte
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übrigens zur Straßenseite hin, eine viersitzige Bank stehen. So flogen die Worte von einer Seite zur
anderen. Die Gehwege waren schmal, die Straße bestand aus Kopfsteinpflaster. Man sagt häufig
"Weibergeschwätz", aber hier waren es die Kap Hornierer, die immer Gesprächsstoff hatten: Die
Seefahrt. Die Frauen hier in der Vorburgstraße waren in der Minderheit und hatten bis ins hohe
Alter hinein immer noch Hausdienst. War Trittauer Markt und die Zigeuner rückten an, hieß es (und
das war Pflicht) von Nachbar zu Nachbar: "Heuhner insparren, Dören tau". Die Tante meines
Mannes hatte ihre Kindheit in der Grander- und Trittauer-Heide verlebt. Dort ließen sich die
Zigeuner erst einmal nieder und gingen aufs Stehlen aus. Kunstmaler und Schriftsteller sagten dem
idyllischen Ort "Adieu", weil nichts mehr sicher war.
Neben dem Haus von Herrn Söder war ein Haus das lange leer stand. Es war zum Verkauf
angeboten, ein Herr Lanquillon kaufte es. Diesen Namen bekam ich erst später zu wissen: "Hein
Fienbrot hett dat Hus köfft. Dor hett hei sick wat up´n Liew reten. Hei is doch keen Handwerker,
dat ward em een düren Spaß" Die Alten behielten Recht, nach geraumer Zeit kaufte es Herr Riegel.
Daneben stand das Haus von Julchen Lantz. Sie hatte einen kleinen Eisenwarenladen. "Tante"
Julchen war Witwe und wohnte mit ihrer Tante Schneider zusammen. Sie war eine Frohnatur,
unvergessen von allen Vorburgern. Sie wurde viel eingeladen. Dann gab sie ihren Schlüssel bei uns
ab. An ihrer Tür hatte sie einen Zettel kleben: Bitte bei Heinrich Beckmann melden, der weiß
Bescheid. Abends kam dann Tante Julchen und fragte, ob einer was gekauft hatte. Es kamen ab und
zu Käufer. Mein Mann gab aber nichts ohne Geld weg, denn es waren ja Zeiten mit ein paar
Millionen Arbeitslosen und Tante Julchen wollte ihren Laden schließen.
Dann kam das Haus von Tischlermeister Lantz (Tante Julchens Schwager und Schwägerin). Von
dort stammt der Satz "De arme Vörburg". Frau Lantz hatte nicht einen reichen Bauer geheiratet,
sondern "nur" einen Tischlermeister. Dem Vater war das nicht recht und so sagte er: "Mien Dochter
wahnt up de arme Vörburg".
(Anmerkung: An dieser Stelle hat Frau Lina Beckmann ein Haus vergessen. Hier steht noch heute
fast unverändert das Haus Nr. 9 von Elektromeister Hans Benthien. In ihm wohnt heute Horst
Benthien. Den Elektromeister Hans Benthien nannte man nur "Mol eben", zu deutsch "Das machen
wir mal eben".)
Dann kam das Haus Kahl-Mehs: Dort wohnte ein geborener Vorburger; Malermeister von Beruf.
Herr Erwin Mehs hörte sich gern die Gespräche der alten Männergarde an und gab sie weiter.
Sein Nachbar wieder war "Slötelfritz". Mit diesem alten Mann hatten die Vorburger viel
Schabernack getrieben, sein richtiger Name war Kröger. Er war ein hochbegabter Handwerker und
wohnte mit seiner Schwester zusammen. Diese war zeitweise verwirrt. Dann sagte der Bruder:
"Maria is hüt rammdösig. Ga man tau Bett". Man ließ die beiden so wohnen, wie sie wollten, auch
wenn Spinnweben die Gardinen waren und waschen an allerletzter Stelle stand.
(Anmerkung: Hier hat Frau Beckmann das Haus von Junge/Höppner vergessen).
Nebenan stand das Haus von Lehrer Scharnberg (Anmerkung: heute ALDI, Hotel Vorburg). Er war
Lehrer, sein Vater war "Rollmaker" (Stellmacher). (Anmerkung: Der Vater von Lehrer Scharnberg
war bereits seit 30 Jahren tot, aber seine Werkstatt blieb unberührt und stand noch, als der Abriss
der Häuser für den Neubau ALDI etc. begann.)
Den Schluss der rechten Seite machte das Haus Dickvoss. Vorn eine kleine Veranda, dann kam man
in den Laden: Kaffee, Konfitüren, Bonbons. Er wog sehr genau, sogar eine Kaffeebohne biss er
durch, um das richtige Gewicht zu halten, sagten die Vorburger.
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Zurück gehen wir nun auf die gegenüber liegende Seite der Vorburgstraße. Das Schuhhaus Behsen
und das daneben sollten neu gebaut werden (Nr.2 + 4).
Dann das Haus von Ernst Kröger. Dort war endlich mal Kinderlachen. Er selbst hatte nur eine
Tochter, aber die Mieter hatten viele Kinder und es ging dort alles friedlich zu.
Dann die Gastwirtschaft. Diese hieß bei den Vorburgern "Gastwirtschaft zur armen Vorburg". Die
Wirtsleute Karl und Emmy Stapelfeldt hatten die Wirtschaft von Berodt übernommen. Er wurde
auch "Patzig" Berodt genannt. Er konnte sich nämlich immer dann ärgern, wenn er mal die
Gaststube verließ und die Gäste die von ihm gemachten Striche auf einer Schiefertafel über den
bisherigen Verzehr - wegwischten - aber zu beider Ehre sei gesagt, keiner hat ihn je betrogen. Karl
und Emmy Stapelfeldt waren solide und reelle Geschäftsleute, sie sind uns unvergessen. Auch ihre
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Nebenan das Haus von Brause-Wilhelm. Trotz Alter waren beide noch in ihrer Firma tätig und
fanden nicht allzu viel Zeit, müßig auf der Bank zu sitzen.
Das Haus der von Hartz stand auf einem Hügel. Im Winter rodelten die Kinder bis über die Straße
auf das Haus von "Hein Fienbrot" zu. Dort an der Seite wohnten Frau und Herr Mager mit Tochter.
Genannt wurde Frau Mager "Sappel-Marie". Sie besuchte alle 4 Wochen ihr Heimatdorf
Fuhlenhagen. Morgens um halb sieben ging es auf Holzpantoffeln los. In der Tasche ein paar
Schuhe, die sie unterwegs wechselte. Aber schneller marschierte sie auf Pantoffeln. Abends um
halb neun war Maria wieder zurück. Auch wenn die Sonne im Sommer noch hoch am Himmel
stand, rief Maria abends ihre Tochter: "Traute kum na Hus, wi gaht to Bett". Oft musste sie lange
rufen und dann öffnete Erhard Witten, der Nachtschicht bei Brause Wilhelm machte, das Fenster
und rief: "Traute, Traute!" "Holt Mul!" sagte Maria dann. Im Herbst an einem Sonntagmorgen ging
Maria mit einer Kaffeemütze auf dem Kopf nach Fuhlenhagen; in ihrem schwarzen Filzhut hatte
nämlich ihre Katze Junge gekriegt.
Die alten Leute, Auguste und Emil von Hartz konnten ihre Gärtnerei nicht mehr bearbeiten und sie
suchten einen Nachfolger. 1935 war es so weit, Familie Kubbernuß übernahm den Betrieb. Mit sehr
viel Fleiß, nur in Handarbeit, wurden die Berge Kubbernuß-Beckmann beseitigt. Unser Garten lag
hoch, Frentrups noch höher. Kubbernußs und Runges Gärten waren im Winter Eisbahnen, so wurde
abgebaut. Wir gaben gern Boden ab. Heute undenkbar, solche Knochenarbeit von Kubbernuß und
Beckmann.
Unsere Nachbarn, Karl und Emma Runge waren uns sehr zugetan. Herr Runge verlor seinen Posten
durch Schlamperei bei der Spar- und Leihkasse in Trittau; er wurde in den Ruhestand versetzt.
Somit hatten unsere Kap Horniere einen Sauffreund mehr. Am 28. jeden Monats ging es los, dann
wurden 11 Gastwirtschaften besucht. Vom 4. bis zum 5. des Folgemonats wurde dann erstmals eine
Zwangspause gemacht, um dann bei geringem Verzehr die Zeit bis zum wiederum 28. des Monats
neu zu beginnen. Bei Runges wohnte zur Untermiete ein Herr Schamper. Er hatte eine Nase, die in
allen Regenbogenfarben funkelte, wenn er voll war. Sonst war die Nase grau und verschnupft. Sehr
oft wurden wir des Nachts gestört. Dann hörten wir: "Nawer, stah mal up, Schamper sitt fass". Dann
brachte mein Mann ihn bis zu einer Zwischentür, durch die wir von unserer Seite aus Zugang zu
Runge´s Hinterhaus hatten, wo Schamper wohnte. Eines Nachts kam mein Mann gar nicht wieder.
Ich zog mich an und sah Schamper unter der Wasserpumpe sitzen - festgefroren. Mein Mann
befreite ihn gerade und trug ihn ins Bett. Der Mantel blieb draußen unter der Wasserpumpe,
festgefroren - bis zum nächsten Tag liegen. Drei Tage hing der in meiner Wäscherei, bis er trocken
war.
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Jetzt unser Haus:
Drei Jahre mußten wir warten, um in unserem Haus eine Wohnung zu beziehen. Hier wohnte der
Mieter Knoppe für 11 Mark Miete monatlich. Er hatte eine Küche, Flur, Stube, Schlafzimmer, einen
großen Garten mit 9 Obstbäumen, Stall und Boden. Diese Miete war vor dem 1. Weltkrieg
festgesetzt worden, jetzt schrieben wir das Jahr 1929. Eine Frau Petersen, die Eigentümerin des
Hauses, war nach Amerika zu ihren Kindern ausgewandert. Sie verkaufte das Haus an meinen
Schwiegervater durch Justizrat Wiggert, der hier auch so billig wohnte. Die Miete für Knoppe
hatten wir aber inzwischen auf 25 Mark erhöht. Ohne Klagen ging das aber nicht; er wollte und
konnte, so sagte er, nicht mehr bezahlen. Er verzog dann aber letztlich doch. Ein bekannter Satz von
Knoppe war: "Ich darf nicht so viel, meine Frau die rückt das immer glieks" (Er sprach halb hochund halb Plattdeutsch, kam aus dem entferntesten Osten Deutschlands).
Als wir nun aber doch endlich hier wohnten, saßen alle Seemänner freitags abends, wenn mein
Mann "Lötabend“ hatte, in seiner Klempnerwerkstatt, um sich zu wärmen. Trotz des kalten
Oktobers wurde nirgendwo geheizt. Jeder Topf, Kanne usw. wurden mehrmals gelötet, wenn sie
undicht wurden. Kaufen konnten sich die Arbeitslosen nichts Neues. Mein Schwiegervater kam
eines Tages mit seinem Schulfreund Karl Driver, der interniert im 1. Weltkrieg sein Leben in
Amerika verbracht hatte, und nun nach dem Tod seiner Frau Heimweh nach der Vorburgstraße in
Trittau hatte. Wir hatten noch ein Zimmer mit gebrauchten Möbeln frei und so blieb er gleich bei
uns. Er verfügte über viele Dollars und ließ gern etwas springen. Am liebsten servierte er "Danziger
Goldwasser". Dann saßen die alten Herren mit glühendem Köpfen und spannen Seemansgarn.
Neben uns das Haus von Mathilde Hinsch. Sie hatte ihren Mittagstisch in Hamburg aufgegeben und
zog zu ihrer Schwester, eine Putzmacherin, die jedoch bald verstarb. Mathilde hatte nahe
Verwandte in Hamburg, Hinsch Im- und Export, Weinfirma. Sie wurde gut versorgt und ihr Kopf
glühte oft. Wenn sie Wintertags bei Glatteis im Stachelbeerbusch hing und um Hilfe rief, haben wir
sie oft beidseitig untergehakt, aufgesammelt und - mit der Aschschublade vorweg - Asche auf das
Glatteis streuend - damit man nicht rutschte - ins Bett gebracht.
Dahinter kam gleich das Grundstück von Frentrup, darauf standen zwei Häuser. Ein altes, kleines
Haus stand zwischen dem Haus von Mathilde Hinsch und dem Hause Frentrup. In dem alten Haus
wohnte eine Frau Schamper mit ihrer Tochter. Kurz nachdem wir in die Vorburgstraße kamen, zog
dort eine Frau mit ihrem querschnittgelähmten Sohn ein. Er war 42 Jahre alt und hieß Paul. Er hatte
ein Grammophon und viele Platten und einen großen Trichter. Unsere Wäschereifenster wurden
geöffnet, sobald er das Gerät in Betrieb nahm und meine jungen Wäschereimädchen sangen mit.
Die Freude dauerte nicht lange, denn das Haus sollte abgerissen werden, denn ein Herr Meyer
wollte das ganze Grundstück (Anmerkung: Eckgrundstück Vorburgstraße/Hamburger Straße)
kaufen. Herr Meyer hatte eine sehr hohe Stimme, sogleich hieß er "Piepmeyer". Ein Herr Schamper
und ein Gerichtsrat Meyer wohnten im Haupthaus, wurden aber gekündigt. So kam der vorher
bereits genannte Herr Schamper zu Nachbar Runge. Der Gerichtsrat Meyer zog in die 1. Etage von
Kaufhaus Ahrens. Unsere Rentner auf der Bank von Runge sitzend, sagten: "Nu sitt hei mang all de
Zuchvögel". Ahrens vermietete Einzelzimmer an vorübergehend nach Trittau abgeordnete Post-,
Bahn- oder Gerichtsbeamte. Der Gerichtsrat war ein Weintrinker, das konnten die Kap Hornierer
gar nicht begreifen. Auch trug er "Vatermörder", steife hohe Kragen mit vorstehenden Ecken und
Chemisetts. Die Kap Hornierer trugen nur zu ganz besonderen Anlässen Schlips und Kragen, sonst
blau/weiß gesteifte Hemden.
Die Frau von "Piepmeyer" hatte einen kleinen Papagei oder Sittich. Herr "Piepmeyer" lag mittags
auf der Veranda auf einer Liege bei gutem Wetter. Quer über seinen Bauch lag "Lukas", Knoppes
großer Kater, jetzt in Pflege bei Beckmanns. Der Kater half Herrn Piepmeyer sehr bei seinem
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Rheuma und bekam heimlich als Dank von ihm, Leckerbissen. Eines Tages kam Frau Piepmeyer zu
mir, mit einem hochroten Kopf und einem Sack mit einem Stein darin. Kater Lukas hatte ihren
Vogel "Lorschi" gefressen; ich sollte oder sie wollte Lukas ertränken. Als Pauls Mutter das hörte,
nahm sie den großen Trichter vom Grammophon ab und sagte ganz laut: "Frau Meyer, Lukas hat
sich verguckt. Sie sollten es sein, sie sehen Lorschi doch so ähnlich". Nach ein paar Wochen kommt
Pauls Mutter zu mir und sagt: "Frau Beckmann, kommen sie mit. Lukas liegt wieder auf
Piepmeyer´s Bauch und beide schlafen tief und fest. Frau Piepmeyer scheuert die Wohnung seit
heute morgen, aber Lukas sieht sie nicht". Wie freute ich mich, sie ist doch ein Satansknochen.
Paul´s Krankenwagen, den er vom Genesungsheim bekommen hatte, eierte sehr. Also ging mein
Mann zu Slötelfritz und fragte, ob er noch etwa liegen hätte, um den Schaden zu beheben.
Slötelfritz kam persönlich auf seinen Holzpantoffeln. Ja, er hatte noch ein Ersatzteil in seiner
Werkstatt liegen. Gemeinsam schafften sie es den Krankenwagen wieder gangbar zu machen; sehr
zur Freude von Paul, konnte er doch wieder durch den Jungfernstieg bis Hamfelde fahren. Zugleich
sagte Slötelfritz: "Lat mal de Heitmangel seihn, is je wunnerbar, ick wör in Wien und in Salzburg,
aber sowat heff ick dor nich seihn. Lat ok mal dien Fohrradanhänger seihn". Mein Mann hatte
denselben für´s Wäscheaustragen selbst konstruiert. Slötelfritz, schon über 80 Jahre alt, war an
allem immer noch interessiert. Dann meinte er, mein Mann könne ja auch mal für ihn fahren. Mein
Mann fragte: "Wat wullt du denn?" "Ick will na Aesemann. Beckmann, nimm mi mit rup und denn
föhrt wi ok glieks bi Schietmöller vörbi, denn so is dat ein Wech". Es wurde also ein Stuhl auf den
Anhänger gestellt und Slötelfritz kam gut auf den Stuhl auf dem Anhänger, heil hin und zurück.
Dieses hatte Malermeister Erwin Mehs gesehen und es sofort in der Vorburgstraße erzählt, so hatten
sie wieder lustigen Gesprächsstoff "Slötelfritz in´n Anhänger".
Die Alten waren ja sehr friedfertig, nur ließen sie sich schwer einfügen, wenn der Gendarm seine
Pflicht versah und den Dienst. Sie freuten sich alle, wenn sie ihn mal ärgern konnten. Wenn z.B.
Bernhard Meyer mit Mineralwasser zum Gericht und zu v.Stolzenberg fuhr, sagten sie: "Wi hefft
doch Brause-Wilhelm, dat smekt doch teinmal bedder. Du müss orntlich Krach maken in de
Möllner Straat mit dien Buddels un mit dat Rad, dat argert den Gendarm".
Zweite Etage (Ahrens) mit den Zugvögeln nannten die Alten auch Bewohner mit Wasserklosett.
Dazu gehörte auch Zahnarzt Schröder mit Frau Sophie. Diese Dame, sehr modern eingestellt,
nannten sie "Pings-Oss". Er, der Zahnarzt schloss auch oft seine Praxis, wegen Trunkenheit. Er war
ein heimlicher Kumpel der Rentner. Frau Sophie, jung, geschminkt, schlank und hoch gewachsen,
stieg mal ins Auto von Verwandten. Die Alten auf der Bank: " Oh, Sophie, wie bist Du schön, an de
Bein´n kann man dien Öller seihn. Kannst du noch trüchohrs?". Sophie war 50 Jahre alt.
Eines Tages kam der Gendarm per Rad und stieg bei uns ab, weil Herr Fritz Haenning sein Pferd
bei uns am Laternenpfahl angebunden hatte, um zu klönen. Der Gendarm sagte: "Herr Haenning,
wiederholte Male sah ich, dass sie ihr Pferd auf dem Gehweg gehen lassen und sie gehen auf der
Straße. Sowas ist nicht gestattet!!" - "Sehen sie denn gar nicht, dass mein Pferd eine Dame ist. Bei
mir haben Damen immer Vortritt und nun petten sie man weiter. Ick gah wieder up de Strat, dormit
basta!" erwiderte Fritz Haenning. Als der Gendarm weiterfuhr sagte Fritz Haenning: "De kann mi
gornix anladen. Ick heff je ein Attest von Tierarzt Bols. Mien Perd dörf nich öber Kopp-Plaster
gahn".
Schadenfrohes Gelächter. "Dat hest em gaut gäben".
Alle vier Wochen kam durch die Vorburgstraße ein Mann mit seinem Nudelkasten. Familie
Kubbernuß war erst kurze Zeit hier. Der Leierkastenmann spielte wohl ab da mindestens zwanzig
Mal ganz kurz " Im Grunewald, im Grunewald ist Holzauktion", dann machte der Kasten "wumm"
und danach ertönte das Lied: "Warum weinst du holde Gärtnersfrau" und zwar so lange, bis Frau
Alma Kubbernuß aus dem Garten kam und ihren Groschen gab. Der Nudelkastenmann fiel uns
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manchmal auf den Wecker, bis die Kap Horniere heraus bekamen, Erwin Mehs, jetzt Haus
Westphal, stand vor der Tür, verdeckt von Linden vor dem Haus, und spähte, wann - wir nannten
uns alle beim Vornamen - Alma endlich die Harke liegen ließ und ihren Groschen zahlte. Er zahlte
dann den abgesprochenen Restbetrag von einem Groschen. So ging es Jahre.
Herr Driver, der Schulfreund meines Schwiegervaters und bei uns wohnhaft, hatte am 18. Februar
Geburtstag und lud alle Alten der Vorburgstraße ein. Er machte Herrn von Hartz so duhn, dass
dieser in seinem Garten verschwand. Wie ich schon erwähnte, stand der Garten unter Wasser, jetzt
allerdings mit Eis überzogen. Die Alten nannten Herrn von Hartz nur Herrn von Hacke, weil er
Gärtner war. Als er wieder zum Vorschein kam, sagte er: "Es hat aber gefroren, habe alles Eis
zertreten". Allerdings hatte er auch die Mistbeet-Fenster mit zertreten.
(Anmerkung: Hier darf ich einmal etwas einfügen. Ich bin der Enkel jenes Herrn Emil von Hartz.
Mein Großvater wollte, als er am nächsten Morgen die zerstörten Fenster sah, den Schaden beim
Amtsschreiber Benthien anzeigen. Hiervon konnte ihn nur sein Nachbar Friedrich Wilhelm
abbringen. "Emil dat büst doch sülbst west, güstern obend".)
Frühjahr 1934: Frau Heymann vom Bierverlag hieß bei den Einheimischen nur "Maria vom Barg".
Sie sagte: "Kamt mal all rut, Tip-top is dor. Wi könt graben, de Winter is vörbi". Tip-top, ein
Tippelbruder mit sackartigem Gepäck, kam in jedem Jahr zum Ausmisten der Ställe und ähnlicher
Arbeiten, Bezahlung: Gering - Alkohol: Viel. Ich ließ mir sagen, schlafen tat er nur in den Ställen.
Wir machten natürlich mit, unser Garten war bestellt, obwohl noch etwas Schnee fiel. Meine
Familie meinte: "Wie könnt ihr nur, Euch verfriert doch alles". Aber nein, Tip-top hatte wohl einen
Natursinn, wir hatten früh Gemüse. Kam Tip-top aber später, dann sagten alle: "Tip-top lött up sick
täuben, wi kriegt noch keen Fröhjohr". Und es bewahrheitete sich. Mein Nachbar Wilhelm sagte
mir, Tip-top liegt hier in der Nähe begraben. Entweder im Lauenburgischen oder im Stormarnschen.
Welche Gemeinde die Pflicht hatte, die Bestattung zu übernehmen, wissen er und ich nicht.
Herr Willi Peemöller, genannt "Buhle", wohnte im neuen Haus in der Schulstraße, bei seinen
Eltern. Aber Buhle hatte Heimweh nach der Vorburgstraße, wo er zuvor mit seinen Eltern bei
Elektromeister Hans Benthien gewohnt hatte. Morgens ging er von Haus zu Haus und verkaufte
Milch. Eines Morgens, Tauwetter war eingetreten und der Rhododendron bei Runge wurde sichtbar.
Buhle sagte: "Dor hingt´n Gebiss in´n Busch". Vorangegangen war folgendes: Herr Schamper
musste nach den Rauschtagen furchtbar krank geworden sein. Er verweigerte das Essen und öffnete
auch seine Tür nicht. Frau Runge und ich klopften an seine Tür und fragten, ob wir einen Arzt holen
sollten. Er antwortete: "Nein, nein, bitte nicht, ich habe keine Appetit". Als Herr Runge ihm das
Gebiss brachte, kam er mittags zum Essen und hatte sehr guten Appetit.
Herr Kramer wohnte zeitweise bei Herrn Schedler, auch Herr Krützfeld war dort Gast. Eines Tages
kommt er mit Johann Wegner, alle wohnhaft Alte Möllner Straße, und sagt: "Bi Jeß hefft se ein
Karnickel klaut, hei, de Gendarm söcht all 2 Dag na denn Deif, hei, de Karnickel, sall in disse
Gegend sien. Krützfeld seggt, wat is de Gendarm dumm, ick harr em all lang hatt. He mütt Kinner
frogen, ob se hüt Karnickel eten hefft, Kinner secht jümmers de Wohrheit".
Eines Tages im November kommt Herr Krützfeld zu mir und sagt: "Mi geiht dat gaut, aber ick kann
schlecht seihn. Ick seih so väle swarte Punkte". Sie war voller Fliegendreck und ich reinigte sie,
seine Brille. Er hat sich bedank und sagte: "Dank mien Deern, ick heff se ok lang nich putzt".
Wenn es regnete, saßen alle in der Klempnerbude. Dann sagte Herr Dorjahn: "Gliecks kümmt Adolf
Witten". Adolf Witten war der Bruder von Emma Runge, Besitzer des heutigen MönchsteichRestaurants. Er war im ersten Weltkrieg durch Gas fast erblindet. Aus dem Krieg zurückgekehrt,
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konnte er aber ohne Hilfe von Bollmoor bis hier zur Schwester zu Fuß gehen. Er berichtete von
einem Jagdpächter, der keinem "Guten Tag" sagte, noch bei Witten Schwarzsauer, Grützwurst oder
Bratkartoffel aß. Der Vorgänger war verstorben, ein Mensch voller Gemüt und Skatfreund. Der
Nachfolger, ein Bajaz, aß nur in Schwarzenbek in Schröders Hotel. Der Verstorbene hatte noch
Freunde mitgebracht zum Schlachtfest und alkoholischen Runden. Seinerzeit war der Terrierhund
Mode, weiß mit schwarzen Flecken; sie nannten ihn die Stimme seines Herrn. Ein Terrier, und zwar
seines nächsten Nachbarn, sollte wildern. Entschieden wiesen alle Terrierbesitzer dieses zurück,
und es kam zur Klage beim Amtsgericht. Zur gerichtlichen Verhandlung stiegen ca. 15 Männer auf
Leiterwagen, samt ihren Hunden. Nun sollte der Kläger heraussuchen, welcher Hund auf seiner
Feldmark gewildert hat. Wenn der Kläger dann dachte, er hätte den Richtigen, sagte ein Bauer oder
Anlieger: "Dat is mienen. Ick wahn in Grönwohld oder Hoisdörp. Alle könt betügen, dat mien Hund
Dag un Nach an de Kett liggt". So bekam der Bajaz nicht den richtigen zufassen. Die Bollmoorer
haben den Prozess gewonnen. Der Bajaz musste natürlich alle Unkosten bezahlen. Die Sieger
sagten: "Denn hefft wi nich wedder tau Gesicht krägen un wat hefft wi fiert".
Schluss:
Viele Jahrzehnte ist es mir vergönnt gewesen, in der Vorburgstraße zu wohnen. Nun fehlen schon 6
alte Vorburghäuser, sie wurden abgerissen, um neuen Bauvorhaben zu weichen.
Söbentig Johr, dat is een lange Tied, wenn een se vör sick liggen süht,
söbentig Johr, dat is ne kotte Spann, wenn een se süht vun achtern an.
PS: Heute habe ich diese Geschichte der Vorburgstraße abgeschrieben. Mir stand ein Manuskript
zur Verfügung, welches Frau Lina Beckmann verfasst hat. Ich habe keine Veränderungen
vorgenommen, mit Ausnahme zweier Zusätze, welche meiner Meinung nach fehlten. Mein Vater hat
sie mir erzählt. Er wurde 1894 in der Vorburgstraße geboren.
Hans-Joachim von Hartz,
Trittau, im März 2000