Blick ins Buch

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Blick ins Buch
aren die alternativ Reisenden der 60er und 70er
Jahre »politisch korrekt« unterwegs? Waren sie
Pioniere in Sachen Tourismus? Und was ist dran
an den Reise-Mythen jener Zeit wie z. B. Tanger, Ibiza,
Formentera, Matala, dem Pudding Shop in Istanbul,
der Route 66 oder dem Orient Express? Was ist von
diesen legendären Hippie Trails geblieben? Und welche
Spuren haben die Reisenden in den besuchten Regionen
hinterlassen?
Mit großer Sachkenntnis, nicht zuletzt auf Grund
eigener Erfahrungen, geht Detlef Fritz diesen und weiteren Fragen nach und beschreibt dabei quasi nebenbei
die Motivation und das Lebensgefühl von Reisenden,
egal ob Globetrotter oder Pauschaltouristen. Zusätzlich
liefert das Buch auch konkrete Tipps und Ratschläge
für das Reisen in heutiger Zeit auf den Hippie Trails
von damals.
www.edition-reiseratte.de
ISBN 978-3-9815300-7-0
Detlef Fritz
Detlef Fritz, geboren 1952, reiste als
Schüler und Student nach Griechenland, nach Marokko, in die Türkei,
nach Afghanistan. Er ist ausgebildeter
Redakteur. Zuletzt war er bei einer
Boulevard-Zeitung zuständig für
die Themen Verbraucherschutz und
Reisen. Gegenwärtig lebt er als
freier Autor in Berlin.
Detlef Fritz
Reisele genden
und ihre
Geschichte
Detlef Fritz
Hippie-Trails
Reiselegenden und
ihre Geschichte
Edition Reiseratte
Das für dieses Buch eingesetzte Papier ist ein Produkt
aus nachhaltiger Forstwirtschaft.
1. Auflage 2014
© Edition Reiseratte im Dryas Verlag
Herausgeber: Dryas Verlag, Frankfurt am Main
Alle Rechte vorbehalten.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche
Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung
elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.
Herstellung: Dryas Verlag, Frankfurt am Main
Lektorat und Korrektorat: Andreas Barth, Oldenburg
Umschlagabbildung: © Guter Punkt, München (www.guter-punkt.de)
unter Verwendung eines Motives von Detlef Fritz
Graphiken: Zettel: © Anja Kaiser und Prilblumen:
© intereklam - Fotolia.com
Satz: Dryas Verlag, Frankfurt am Main
Gesetzt aus der Palatino Linotype
Druck: CPI books GmbH, Ulm
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.ddb.de abrufbar.
ISBN: 978-3-9815300-7-0
www.edition-reiseratte.de
Inhalt
Vorwort .................................................................................... 9
Istanbul:
Aufbruch im Pudding Shop
Am Startpunkt für den Hippie-Trail durch Asien .......... 12
– Reisetipps: Cafés, Bars und Restaurants
mit dem Flair der Hippie- und Künstlerreisen ........................ 18
Von Istanbul nach Kabul:
Der harte Weg in das gelobte Hippieland
Vier Tage in überfüllten Überlandbussen
und Zügen .............................................................................. 21
Italien kontra Afghanistan:
Pauschal reisen strengt auch an
Was die frühen Massentouristen auf ihrem Trip
erwartete ................................................................................ 23
Reisen mit Hesse im Gepäck:
Preis der Weisheit aus dem Osten
Nur Entbehrung führt am Ende zur Erleuchtung ........... 27
– Reisetipps: Touren zu den „Quellen der Weisheit“............... 32
Legenden von Freiheit und Abenteuer
Was uns beim Reisen antreibt ............................................. 34
– Reisetipps: Ziele mit Geschichten- und
Legendenfaktor ......................................................................... 50
– Reiseknigge: Märchen widerspricht man nicht!
Vom Umgang mit flunkernden Reiseleitern ............................ 53
Der Hippie-Trail in den Medien:
Ein Mythos wird geboren
Verklärte Erinnerungen nicht nur aus Kabul ................... 55
5
Grenzkontrolle in Iran:
Hippiefreiheit unter Diktaturen
Der Zug der antiautoritären Globetrotter
durch die autoritärsten Länder ihrer Zeit ......................... 58
Das Reisen und die Menschenrechte
Der Tourismus und die politischen Verhältnisse .............
– Reisewissen: Infoquellen über das Urlaubsland ...................
– Reisewissen: Reisen – politisch korrekt?
Das Demokratie-Ranking für unsere Urlaubsziele ..................
– Reisestreitthema: Boykottieren – oder gerade reisen?
Darf man in Diktaturen Urlaub machen? ...............................
– Reiseknigge: Keine Politik, wir haben Urlaub! .....................
81
89
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92
94
Aussteigerträume in Teheran:
Hängen geblieben auf dem Weg nach Osten
Von Aussteigern, Gescheiterten und einer
erfolgreichen Hippiekolonie ................................................ 96
– Lesetipp: Die Kinder von Torremolinos .............................. 110
Urlaubsträume von einem neuen Leben
Wie Pauschaltouristen Aussteiger und
Auswanderer werden ......................................................... 112
– Auswanderungswissen:
Die meisten zieht es wieder heim ........................................... 118
Kotelett in Kabul:
vegetarisch lebt es sich billiger
Wie Reisende ihre Essgewohnheiten
in alle Welt tragen ............................................................... 121
Wildwest mit Buddha
Warum die Touristenstädtchen von Afrika bis Asien
uns immer irgendwie an Wildweststädte erinnern ....... 129
– Reisetipps: Nur die Lage zählt – Von der Wahl
der Unterkunft ....................................................................... 138
– Reiseknigge: Als Tourist zu Gast bei Fremden ................... 139
6
Kulturkampf am Hindukusch
Vom Wettlauf zwischen Globetrottern
und Touristen ...................................................................... 142
– Reisetipps: Was das (pauschale) Abenteuer kostet .............. 148
– Reiserecht: Abenteuer – oder Geld zurück .......................... 150
One Night in Bangkok
Warum ein legendäres Reiseziel
nicht zu ersetzen ist ............................................................ 152
– Reisetipp: Stopover für den Asientrip ................................ 159
Die Reise-Macher
Eine Lanze für den Massentourismus
und die Tourismusindustrie, die das Reisen
demokratisierte .................................................................... 161
– Reiseplanung: Pauschal buchen
oder selbst organisieren? ........................................................ 172
– Reiserecht: Verbraucherschutz fern der Heimat .................. 174
Reisen global
Wie sich die Reiseziele immer mehr einander ähneln,
selbst die Folklore überall die gleiche scheint ................ 176
Nachwort ............................................................................. 179
Anhang
Zitierte, benutzte und weiterführende Literatur ............ 181
7
Costa del Sol, der „Sonnenküste“, mitunter auch weiter
auf die Kanaren, da am liebsten nach Gomera. Dazu
­standen auch Marokko und Griechenland auf dem
­Reiseprogramm. Wer nicht mit eigenem Wagen dahin
unterwegs war und sich auch nicht auf sein Glück als
Tramper verlassen wollte, reiste mit der Bahn. Das machte
auch manche Zugstrecke zu einem regelrechten HippieTrail.
Die Rucksackreisenden auf all diesen Routen als
Hippies zu bezeichnen, greift allerdings zu kurz. Die
meisten ­dieser Backpacker sahen sich vielleicht als
­„Globetrotter“ oder „Traveller“, waren natürlich von
der Hippiebewegung beeinflusst, bezeichneten sich
selbst aber kaum als Hippies. Zudem: Die Vorreiter der
Hippies hatten die von ihnen initiierte Bewegung
bereits 1967, als sie sich immer mehr zum Massentrend
­entwickelte, in San Francisco bei einer symbolhaften
Demonstration zu Grabe getragen. Etliche der HippieTrail-Routen, ­darunter auch die von Istanbul nach Kabul
und weiter, bildeten sich aber erst danach als massenhaft
genutzte ­Reisewege ­heraus.
Dennoch: Die Vorstellungen der Hippiebewegung
­spielten in der Jugendbewegung Jahrzehnte über 1967
­hinaus eine zentrale Rolle, und der Begriff vom HippieTrail für die Strecke Istanbul – Kabul hat sich fest etabliert,
steht für eine große Reiselegende von der abenteuerlichen
Suche nach dem großen Glück.
Gemessen an dieser Legende bekommt die scheinbar
perfekte Ferienreise, ganz so, wie im Katalog beschrieben, einen faden Beigeschmack. Da mag das Vier-SterneHotel direkt an einem traumhaften Sandstrand liegen,
da mögen Service und Verpflegung keine Wünsche offen
lassen, die reizvolle Umgebung noch so sehr zu erlebnisreichen Ausflügen durch eine faszinierende Landschaft,
in bilderbuchhafte Städtchen und Dörfer einladen. Dem
auf Entdeckung und Erlebnis orientierten Urlauber stellt
sich trotzdem die Frage: Das soll schon alles sein? Irgend10
etwas, so das Gefühl, versäumt man hier doch gerade...
Dabei hat dieser Urlauber oder die Urlauberin vielleicht
weit mehr getan als etliche andere Touristen. Er lag nicht
nur am Strand, sondern nutzte intensiv das vom Hotel und
seinem Reiseveranstalter angebotene Ausflugsprogramm.
Er unternahm auch auf eigene Faust Streifzüge durch die
Region und war redlich bemüht, Land und Leute kennen
zu lernen.
Denn beim Reisen geht es den meisten um mehr als nur
Erholung. Die kann man in einem Ferienpark oder einem
Wellnesshotel in Wohnortnähe einfacher haben. Eine
Reise soll auch die Sehnsucht nach Abenteuer und Exotik,
die Entdeckungslust befriedigen.
Nur: Ist das mit den meist doch nur oberflächlichen
­Eindrücken einer vielleicht zweiwöchigen Ferienreise
schon erfüllt? Kann man in einer Zeit von Billig­fliegern
und Google Earth überhaupt noch „richtig reisen“,
„abseits der ausgetretenen Pfade des ­Massentourismus“
in ­Kulturen eintauchen, die einem selbst bis dahin
unbekannt waren? In der Praxis geht das doch wohl eher
nicht. Natürlich gibt es immer noch abenteuerlustige
Globe­trotter, die ­monatelang mit dem Rucksack durch
die ­Wildnis ­ziehen; aber diese Zeit hat der „normale“
­Reisende mit dem knapp bemessenen Urlaubsbudget
nun einmal nicht. Und ­überhaupt: Bewegt sich heute
nicht auch der ­Globetrotter in der vermeintlichen Wildnis
auf Wegen, die schon x-mal begangen und beschrieben
­w urden?
Da wünscht sich dann der leidenschaftliche Reisende
in eine vergangene Zeit zurück, nicht unbedingt gleich in
die Zeit der großen Entdeckungen, aber vielleicht in die
­Epoche der Dampfschiffe, des Orient Express – oder eben
in die Ära des Hippie-Trail.
Doch sind die Selbstzweifel des modernen Reisenden,
des Touristen wirklich berechtigt? Sitzt er mit ­seinen
­nostalgischen Träumen von abenteuerlichen Reisen in der
Vergangenheit nicht einfach nur der einen oder ­anderen
11
Legende auf? Und wie groß sind die Unterschiede
­zwischen Pauschaltouristen und dem auf seinem selbst
geplanten Abenteuertrip befindlichen Globetrotter wirklich? Was hat damals die Globetrotter auf ihren Wegen
über den Hippie-Trail angetrieben? Welche Abenteuer
erwarteten sie auf ihrer Reise? Und wie weit ist das alles
entfernt von der Tourismusindustrie?
Antworten auf diese Fragen wollen wir finden, indem
wir in diesem Buch den Globetrottern auf ihren Wegen
über den Hippie-Trail folgen. Dabei wollen wir auf­spüren,
wie vermeintliche Abenteurer auf individueller Reise und
Massentouristen manchem Flecken Erde einen neuen
Stempel aufdrückten – und nicht zuletzt einen kleinen
Blick auf die Milliardenbranche werfen, die für all das
steht: die Tourismusindustrie.
Wenn ein Leser hier dazu noch auf die eine oder andere
Anregung für seine eigene nächste Reise stößt – umso
­besser.
Istanbul:
Aufbruch im Pudding Shop
Auf den ersten Blick unterscheidet sich das Café an der
Divanyolu 6, aus dem die Musik von Jimi Hendrix zu
hören ist, kaum von den anderen etwas gehobeneren Cafés
in dieser besseren Lage im historischen Kern von Istanbul.
Auch die Inneneinrichtung lässt keine Besonderheiten
erkennen, ebenso wenig wie die Kellner, gekleidet in die
ordentlichen dunklen Uniformen des Hauses.
Das sieht ganz nach einer gediegenen, aber nicht ­weiter
bemerkenswerten Anlaufstelle für Bildungsreisende im
gesetzten Alter aus. Diese geben hier nach ­anstrengender
Sightseeingtour ihr Wissen über das gerade Gesehene
12
zum Besten, plaudern nicht ohne Stolz über frühere
­Reisen und bereiten sich, im Polyglott, Marco Polo oder
einem dicken Kunst- und Kulturführer blätternd, auf ihre
nächste Besichtigung vor.
Die Hagia Sophia und die Blaue Moschee sind schließlich nur wenige Gehminuten, die Galatabrücke nur einige
hundert Meter entfernt, ebenso wie der alte Bahnhof des
Orient-Express. Gleich um die nächste Straßenecke geht
es in das Yerebatan Serayi, in das noch aus antiker Zeit
­stammende, von über 300 Säulen getragene Gewölbe, das
unterirdische Wasserreservoir des alten Konstantinopel.
Das kennen die James-Bond-Fans unter den ­Touristen
sogar ohne Kunst- und Kulturführer aus dem Film
­„Liebesgrüße aus Moskau“.
In dem Café mit der Jimi-Hendrix-Musik erzählen die
Fotos und Zeitungsausschnitte an den Wänden, sorgsam geglättet und gerahmt unter Glas, die Geschichte
einer anderen Sehenswürdigkeit der Stadt am Bosporus,
­nämlich die dieses Cafés.
Wir sind im Pudding Shop, gegründet 1957, mit diesem
Alter schon ein wahrhaft historisches Unternehmen, dazu
mit legendärem Ruf. Dieser Ruf, so wusste das Lifestylemagazin Max zu berichten, lockte sogar den einstigen
US-Präsidenten Bill Clinton bei einer Istanbul-Visite hierher.
Aber das Image des Pudding Shops hat nichts mit
­seinem Alter und auch nichts mit hochrangigen Staatsgästen, ­sondern mit den 1960er- und 1970er-Jahren zu
tun, also der Zeit, in der Jimi Hendrix noch aus fast jedem
­Lautsprecher zu hören war, zumindest an den Orten, an
denen sich die Generation der damals 20- bis 30-Jährigen
traf.
Bei meinem Jahrzehnte zurückliegenden ersten Besuch
war der Pudding Shop ein solcher Ort, der Istanbuler
Treffpunkt der Hippies, Globetrotter, Traveller, all derer,
die aus der vermeintlichen Enge europäischer oder nordamerikanischer Spießigkeit aufbrachen in die weite Welt
13
der Freiheit, zu den Quellen asiatischer Weisheit, auf das
Dach der Welt, zu den Traumstränden der Glückseligkeit
in Indien und noch weiter weg. Der Pudding Shop lag für
uns am äußersten Ende Europas, als das Tor nach Asien,
als fast zwangsläufige Station auf dem Weg ins ferne
Afghanistan, nach Indien oder Nepal.
Klar war für uns weltenbummelnde Gäste des Pudding
Shops dabei vor allem eines: Die Route, die wir nehmen
würden, lag fern der ausgetretenen, kommerzialisierten
Touristenpfade, auf denen die pauschalreisenden Spießer
trotteten.
Die Einheimischen unterdessen sahen damals in
­diesem Treffpunkt weltenbummelnder Glückssucher eher
eine Höhle des Lasters, in die sie ihre eigenen ­Kinder nie
hätten gehen lassen, einen Umschlagplatz für ­Drogen
und Geschlechtskrankheiten. Aber diese Einschätzung
­hinderte sie nicht daran, mit den naiven Fremden ins
Geschäft zu kommen: Da zeigte man ihnen gegen ein
kleines Entgelt die Geheimnisse der Stadt, das authentische Istanbul, inbegriffen selbstverständlich die wirklich
besten Läden, um billig an Schmuck und handgeknüpfte
echte Orientteppiche zu kommen; da demonstrierte man
ihnen ganz praktisch die Trickbetrügereien, vor denen sich
Istanbul-Besucher schon damals in Acht nehmen mussten,
vom Hütchenspiel bis zum missglückten Geldwechsel,
bei dem der Reisende auf einmal nach der Barschaft in
­seiner Börse suchte; und schließlich vermittelte man gern
besonders günstige Busfahrkarten für die Weiterreise
nach Kabul, Tickets, die sich später dann allerdings nur
für einen Bruchteil der Strecke als gültig erweisen sollten.
Seinem Image als Drogenumschlagplatz und Ort der
sexuellen Libertinage wurde der Pudding Shop allerdings, wenn auch zum Leidwesen vieler ­seiner ­damaligen
Gäste, nie gerecht. Dass die türkische ­Polizei bei Drogenbesitz nicht mit sich spaßen ließ, war auch dem konsum­
freudigsten Drogenfreund unter den Pudding-Shop-­
Besuchern klar – und Raum für Intimitäten boten weder
14
der ­Pudding Shop noch die umliegenden ­Herbergsbetriebe.
Die ­vermieteten nämlich weniger Zimmer als vielmehr
Plätze in Schlafsälen. In denen behielt man seine Kleidung
­besser an, kroch so in seinen ­mitgebrachten Schlafsack
und hoffte, vom Ungeziefer verschont zu bleiben, eine
Hoffnung, die sich regelmäßig als trügerisch erwies.
Viel sauberer war der Pudding Shop auch nicht,
und von einer türkischen oder irgendwie orientalisch-­
exotischen Atmosphäre konnte ebenso wenig die Rede
sein. Die Gäste hatten sich geduldig am Tresen anzustellen, entschieden sich dann für einen der Yoghurts,
­Puddings oder eine der anderen Mahlzeiten aus der Auslage, ­gingen damit an die Kasse, suchten sich einen freien
Platz – oder ­mussten im Stehen essen. Dabei konnte man
dann aber gleich die Aushänge an den Wänden studieren
und wichtige ­Informationen sammeln: wer einen freien
Platz im VW-Bus nach Kabul bieten konnte, wer einen
Schlafsack verkaufen wollte, wer für welche Stationen
vor was für Schleppern und fiesen Betrügereien warnte.
Der ­Pudding Shop war die große Informationsbörse am
Schnittpunkt von Europa und Asien. In seiner Nachbarschaft gab es durchaus Cafés und Restaurants, in denen
man sogar ­besser und ­billiger hätte essen können und
dabei vielleicht sogar einen Hauch von Orient und ­Exotik
verspürt hätte. Doch als Informations­börse schien der
Pudding Shop trotz der ­Ausstrahlung eines heruntergekommenen Schnell­imbisses oder drittklassigen Bahnhofslokals eben unverzichtbar. Nirgends konnte man sicher
sein, mehr ­Gleichgesinnte als hier zu treffen, wirklich die
neuesten Tipps und Informationen für die Weiterreise
aufzuschnappen. Hier fanden die mitteilungsbedürftigen Heimkehrenden immer dankbare Zuhörer für ihre
Geschichten aus der Ferne.
Warum entwickelte sich gerade der Pudding Shop
zum zentralen Umschlagplatz für Reisenachrichten aller
Art? Die zentrale Lage spielte sicherlich eine Rolle – aber
das Interesse der Pudding-Shop-Gäste an Kulturdenk­
15
mälern war nicht übermäßig ausgeprägt, vor allem dann
nicht, wenn für die Besichtigung ein Eintrittsgeld fällig
wurde, das das Tagesbudget des Durchschnittsglobetrotters gesprengt hätte. Dass auch bessere und billigere
Konkurrenz den Pudding Shop nicht von seinem ersten
Platz als Anlaufstelle für junge erlebnishungrige Reisende
verdrängen konnte, hatte einen beinahe zufälligen, ganz
banalen Grund: Der Pudding Shop wurde als Anlaufstelle
genannt in „Der billigste Trip nach Indien, Afghanistan
und Nepal“. 1972 war dieses Buch von Robert Treichler im
Schweizer Regenbogen-Verlag erschienen. Es erlebte Jahr
für Jahr neue Auflagen und entwickelte sich zumindest
für den deutschsprachigen Raum rasch zu dem großen
Standardwerk für alle, die sich auf die große Reise nach
Osten begaben.
Im 21. Jahrhundert zehrt der Pudding Shop noch immer
von seinem nun historischen Image als zentraler Treffpunkt internationaler Globetrotter, als wichtiger Station
des einstigen Hippie-Trails. Nach den aktuellen Gäste­
kritiken in Internetbewertungsportalen wie Tripadvisor
und ähnlichen könnten das Essen und der Service zwar
angesichts der verlangten Preise durchaus besser sein,
aber das sagt eigentlich nur eines: Geändert hat sich hier
trotz nun ordentlich gekleideter Kellner gar nicht mal so
viel. Eine gealterte Legende wahrt ihre Tradition. 2007
schrieb das Schweizer Globetrotter-Magazin in durchaus selbstkritischer Betrachtung über Robert Treichlers
­inzwischen nur noch antiquarisch zu erstehenden Reise­
führer: „Treichler hatte (...) als Pionierleistung einen Reise­
führer für Leute wie uns, also Reisende mit Kleinstbudget,
gemacht. Er führte mit mehr oder weniger schlauen Tipps von
Stadt zu Stadt. Von Land zu Land. (...) So gesehen wurde mit
dieser und ähnlichen ­Reisebibeln unfreiwillig ein Informationsgrundstein zum späteren Massentourismus gelegt. Man traf
immer wieder die gleichen Gesichter mit gleicher Ausrüstung in
den gleichen Kneipen, beim gleichen Geldwechsler, im gleichen
Zug. Ein wenig ‚Zuhause’ auf Reisen.“
16
Diesen Gedanken hätten wir Gäste des Pudding Shops
damals empört und beleidigt weit von uns gewiesen:
Wir sollten gerade dem Massentourismus den Weg
­bereiten, nur, weil wir uns an die so wertvollen, weil
geldsparenden Tipps von Treichler halten? Nein, niemals!
Dabei lässt das Globetrotter-Magazin den ­damaligen
Gästen des ­Pudding Shops beinahe schon zu viel an
Ehre angedeihen. Solche Pioniere, die anderen den Weg
­bereiteten, waren wir Billig-Reisenden auf dem HippieTrail streng genommen nämlich gar nicht mehr. Denn an
den einzelnen Zielorten dieses Hippie-Trails hatte auch
der organisierte ­Tourismus mit den auf ­europäischen
Standards ausgerichteten ­Unterkünften, mit den an
­europäischen Geschmäckern orientierten Restaurants,
mit den an Europa und Nordamerika angeglichenen
­Preisen längst seine ersten, wenn auch noch dünnen
Wurzeln geschlagen.
Folgenlos blieb der Zug der Hippies und Globetrotter
aber nicht. Wenn sie schon an dem einen oder anderen
Ort nicht unbedingt die absolut Ersten waren, so ­kreuzten
sie dort zumindest in der Frühphase der touristischen
Erschließung auf – und das in Massen, die der organisierte
Tourismus dorthin noch nicht unbedingt bewegen konnte.
So hinterließen Hippies und Globetrotter auf ihrem Zug
vom Istanbuler Pudding Shop über Teheran, Kabul und
darüber hinaus durch Asien und die Welt durchaus ihre
Spuren, auf die man heute noch stößt.
17
Reisetipps
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Von Istanbul nach Kabul:
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„Great!“ – „Jetzt geht es gleich richtig los!“ – „Magnifique!“
–„Endlich in Asien!“
Kaum hat der Bus die Bosporus-Brücke überquert,
­brechen seine Passagiere in vielsprachigen Jubel aus.
Zwar sind die Reisenden immer noch im Istanbuler
­Großraum, unterscheidet sich die Umgebung nicht von
der auf der zurückliegenden Seite der Brücke, aber es
geht nun nicht mehr durch Europa, sondern durch einen
neuen ­Kontinent, durch eine andere Welt.
Die Passagiere kommen aus Skandinavien, Groß­
britannien, Frankreich und Deutschland. Nur Türken,
­Iraner oder Afghanen, also Einheimische der Länder,
durch die die Reise gehen soll, sind nicht unter ihnen.
Fast alle Fahrgäste haben sich im Pudding Shop zumindest schon ­einmal gesehen, einige bereits miteinander
­gesprochen, erste Bekanntschaften geschlossen. Für
viele ist es nun das erste Mal, dass sie asiatischen Boden
­betreten, persönlich ein geradezu historischer Moment.
Da würde ­mancher jetzt gerne einen kurzen Halt
­einlegen, ­vielleicht ein ­Erinnerungsfoto schießen. Doch
die zahl­reichen Stopprufe verhallen ungehört. Für solche
­Sentimentalitäten gibt es keine Zeit.
Zwei Tage soll der bis auf den letzten Platz besetzte
Bus, der weder über eine Heizung noch eine Klimaanlage ­verfügt, bis Teheran unterwegs sein, dann noch
­einmal zwei Tage bis Kabul benötigen. Weil das türkische
­Busunternehmen den Gepäckraum für z­ usätzliche Transportaufträge nutzt, halten die Reisenden ihre Rucksäcke
und sonstigen Habseligkeiten auf dem Schoß, haben sie
vor ihren Sitz gequetscht oder im Gang gestapelt. Und die
21
Fahrzeit ist genau geplant. Nur wenn Fahrer und Beifahrer die Plätze tauschen, gibt es einen kurzen Halt an einer
Raststation, Gelegenheit, einen Happen zu essen oder
eine Toilette aufzusuchen.
So lässt der Bus Istanbul im Eiltempo hinter sich.
Mein erster Reisetagebucheintrag vom 1. September
1977, vom ersten Tag in Asien lautete: „Nach Istanbul
beginnt der Abstieg. Die Dörfer sind verfallen, das Essen
wird ungenießbar – und die Toiletten sind nicht mehr
zu ­benutzen.“ Und: „Die Nacht wird kalt und ungemütlich.“ Das klingt nicht gerade angetan. Reiseerinnerungen
bestehen in der Regel schließlich aus schöneren Bildern,
aus ­Bildern von wilden, romantischen Landschaften,
von ­Dörfern wie aus einem Karl-May-Roman. Doch das
­Reisetagebuch hält stattdessen ernüchternd fest: „Der Stop
in Erzerum ist ein glatter Reinfall. Wir stehen an einer
Tankstelle, begnügen uns mit einem Kaffee. Die Leute
sind unfreundlich – jedenfalls kommt es uns so vor. Einen
besonderen Grund, zu uns freundlich zu sein, haben sie
allerdings auch nicht: Wir essen nichts, trinken nichts
außer dem Kaffee, sind auf der Durchreise und bringen
kein Geld.“ Möglichweise geben solche Tagebuchein­
tragungen nicht unbedingt die Realität wieder – aber doch
die Realität, die man wahrgenommen hat.
Auf den anderen Routen des Hippie-Trials, auf dem
Weg nach Spanien, Marokko oder Griechenland, war das
Reisen nicht minder beschwerlich.
Im März 1972, in dem Jahr, als Robert Treichlers Asien­
führer erschien, gaben 21 europäische Eisenbahngesellschaften das erste InterRail-Ticket heraus, ein ­Bahnticket,
mit dem Jugendliche bis 21, später bis 29 Jahren für
zunächst gut 200 Deutsche Mark quer durch ganz Europa
reisen konnten. Der löbliche Gedanke war, dass junge
Menschen mit schmaler Reisekasse so ihre Nachbarländer
kennen lernen sollten. Genutzt wurden die Tickets jedoch
vielfach nur, um so schnell wie möglich und so billig
wie möglich zu einer der Stationen des Hippie-Trails zu
22
­ elangen, zu den griechischen Inseln, nach Istanbul oder
g
nach Spanien für die Überfahrt nach Marokko.
Platzreservierungen, Nutzung von Liegewagen und
anderer Komfort waren bei diesen billigen InterRail-Tickets
nicht vorgesehen. Deshalb blieb den jungen Bahnreisenden
nur, sich mitsamt ihren Rucksäcken irgendwie in die vor
allem in Spanien und Griechenland ohnehin bis auf den
letzten Platz belegten Waggons zu zwängen und zu hoffen,
vom Zugpersonal nicht wegen der verkehrsgefährdenden
Überfüllung wieder hinausgeworfen und auf den nächsten, nicht minder überfüllten Zug verwiesen zu werden.
Sicher, die Stimmung der InterRail-Reisenden stand
trotz, vielleicht sogar wegen solcher Umstände auf Party­
laune. Schließlich blieb den Reisenden nichts anderes
übrig, als sich dicht an dicht gedrängt näherzukommen.
Aber nach über 24 Stunden – und von Barcelona etwa
bis nach Algeciras, einem der Fährhäfen nach Marokko,
­benötigten spanische Züge mitunter 36 Stunden und mehr
– siegte irgendwann immer die bleierne Müdigkeit.
Doch egal, wie müde man am Ziel auch ankam: Eine
solche Strapaze überstanden zu haben, machte auch stolz.
Im Unterschied zu den bequemen Massen- und Pauschaltouristen war man als Globetrotter eben auch bereit, auf
jeglichen Komfort zu verzichten und Entbehrungen in
Kauf zu nehmen. Und das zeichnete einen wahren Reisenden doch aus.
Italien kontra Afghanistan:
Pauschal reisen strengt auch an
War der Stolz der sich als Globetrotter fühlenden über­
müdeten InterRailer berechtigt? In einem zumindest lagen
sie gründlich falsch: Von bequemem Reisen konnte auch
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