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Porno — Fabrikzeitung Dezember 2015
Porno — Fabrikzeitung Nr. 314
Thank you so much. Of all the drivers my dad uses
you’re definitely my favourite.
Well thank you. I really appreciate it.
Let me get the door for you. I’ll be here all day,
let me know if you need anything.
(later the phone rings)
Hi it’s Kimberly. You think you might come
and help me with something really quick.
(the door opens)
Kimberly?
I am in the back…
Oh my god, what are you doing?
You know exactly what I am doing.
I know you want it.
Dialogue excerpt of «Preppy Redhead Kimberly Brix fucked by her driver». Tushy.com
«Porno ist nicht gleich Porno, es ist in Wirklichkeit ein Diskurs
über Sexualität, über Weiblichkeit, Männlichkeit, und die Rollen, die wir spielen», sagt Erika Lust, schwedische Filmemacherin und Pionierin des sogenannt feministischen Pornos. Während in ihren Filmen Gleichberechtigung und Werte ausgedrückt
werden sollen, scheisst der Mainstream drauf. Aggressiver
Ekel-Porno wird von Kindern, Heranwachsenden und Erwachsenen im Smartphone herumgetragen und verzerrt ihre Bilder
von Sexualität, traumatisiert gar ganze Generationen nachhaltig. Oder nicht? Hat die omnipräsente Sexualisierung tatsächlich so etwas wie einen aufklärerischen Wert; sind die Jugendlichen von heute gescheiter dran als noch in den 50er Jahren?
Und: Wie wirkt sich Porno auf das Sexualleben von blutjungen
Anfängern aus? Auf das von erfahrenen Erwachsenen? Und
weiter auf Geschlechterbilder und -Rollen?
Und wenn Sex nicht so ist wie in Pornos aufgetischt,
was ist dann mit der Wirklichkeit? Warum braucht es Porno?
Wie entstehen, funktionieren Pornos? Und seit wann reden
eigentlich alle darüber?
Seit ich in den letzten Monaten wiederholt in intensive, erstaunlich offene Gespräche über Porno verwickelt wurde, fasziniert mich seine widersprüchliche Thematik. Es kam
mir vor, als wäre Porno plötzlich «cool», feministischer im Besonderen. Auch die Industrie scheint sich selber einer Imagekur
unterziehen zu wollen, zum Beispiel mit Dokumentarfilmen
wie «Kink» oder «9 to 5: days in porn». In ersterem, einem von
James Franco produzierten Film über das blühende BDSM-
Pornografie-Geschäft, wird eine krasse, teilweise mindestens
befremdliche Art von Porno als unglaublich erfüllender Lifestyle dargestellt, als das Nonplusultra der Selbstbestimmung
– besonders für Frauen. Die einzige Darstellerin, die auch ausserhalb des riesigen Studio-Komplexes gefilmt wird, die drinnen
noch mit glühenden Augen von ihren Abenteuern erzählt hat,
wirkt draussen müde und leer. Sie spricht von Drogen, denen
die DarstellerInnen verfallen würden, um den Alltag auszuhalten, von «Seelenlosigkeit». Spätestens da fiel mir das Ende von
P.T. Andersons «Boogie Nights» wieder ein, wo die Welt der
Pornos letzlich eine traurige Sache blieb.
Was stimmt denn nun? Ich fragte herum, doch wir
konnten uns nicht einigen: In aller Öffentlichkeit sorgten wir
uns um die aufkeimende Sexualität der Internetkids von heute
und befanden die Entstigmatisierung beispielsweise von Fetischen als eine gute Sache. Im selben Atemzug gaben wir zu
bedenken, dass heute dafür die Sexarbeiterinnen anscheinend
so schlecht behandelt werden wie noch nie. Und was passiert
jetzt eigentlich mit all den XXX-Stores, wo jeder gemütlich zuhause alles runterladen kann und keiner mehr den peinlichen
Gang durch die neonbeleuchteten DVD-Regale wagen muss?
Wer geht denn heute noch ins Pornokino, und was für eine Art
soziales Ereignis ist das?
Allein in meinem Bekanntenkreis hörte ich die verschiedensten Positionierungen zum Thema Porno, manche erzählten sehr persönlich, begeisterte bis traumatische Geschichten, andere argumentierten theoretisch fundiert. Interessant
waren besonders auch die Diskussionen, in denen Männer und
Frauen anwesend waren, die, wie es mir schien, bezeichnenderweise aneinander vorbei redeten. Aber alle schienen sich mit
dem Thema einmal ausführlich auseinander gesetzt zu haben
– eigentlich nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass jede
4. Google-Suche «porn» lautet.
Unsere Gespräche kreisten um zwei Pole: Ist Porno
eine postmoderne Art von Sex-Erziehung und soll das so sein?
Wie problematisch ist dabei die chauvinistische Haltung der
handelsüblichen Pornos und wie beinflusst diese unsere Gender-Erziehung? Und: Was ist eigentlich Feminismus? Wenn
Männer Pornos wollen, was wollen dann Frauen?
Diese Themen bearbeiten auch die Texte in dieser
Ausgabe. Sie erhebt dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit; das Thema ist dafür zu weit und komplex – und offenbar
doch noch vorbelastet, wenn man bedenkt, dass eines der letzten Zürcher Pornokinos kein Interview geben wollte und die
Mainstream-Filmproduzenten auch eher schwer zu erreichen
waren. Nichtsdestotrotz machen wir ein Fenster auf in den Hinterhof des aktuellen Pornodiskurses und versammeln Essays,
Artikel, Aufsätze, Interviews und Gedichte von und mit Feministinnen und Feministen – die diesen Begriff durchaus unterschiedlich besetzen, jugendlichen Sprachrohren, Gender- und
Kunst-Gelehrten, Lyrikern und Schriftstellerinnen.
Editorial von Michelle Steinbeck
Porno — Fabrikzeitung Nr. 314
FEMINISTISCHE
PORNOS?
Ich mochte Pornos lange Zeit gar nicht. Als Teenie führte mich
meine Neugier als erstes, klar, zu YouPorn. Die Filme, die ich
dort fand, enttäuschten mich aber über alle Massen: Ein bisschen Rumrubbeln, ein paar Stellungswechsel, ein bisschen
Rein-Raus und schliesslich ein Sperma-beschmiertes Frauengesicht. Fand ich nicht cool, interessierte mich fortan nicht mehr.
Als Feministin störte mich ausserdem massiv die dämliche Darstellung von Frauen in 08/15-Pornofilmen: Das dumme Fickhäschen, das nach drei Minuten Rumhampeln kommt. So langweilig! Ich gab das Porno-Schauen auf. Bis ich die Erotikfilme
von Erika Lust entdeckte: Darin Menschen, die Spass daran
haben, miteinander zu schlafen und dabei erst noch aussehen,
wie normale Menschen eben aussehen, wenn sie Sex haben.
Lusts Filme gelten als feministischer Porno: Sie sind ästhetisch
und laufen nicht nur auf den obligaten Cumshot heraus. Stattdessen erzählen sie Geschichten; sie setzen sich mit einer tieferen Charakterzeichnung der Figuren (vor allem der Frauen,
muss man fairerweise zugeben) auseinander und unterscheiden
sich damit vom Mainstream-Porno. Trotzdem denkt ihr jetzt
vielleicht: «Feminismus und Porno – wie passt das denn zusammen?» Das habe ich mich auch gefragt. Und deshalb mit Erika
Lust über Stereotypen in Pornos und ‹50 Shades of Grey› gesprochen – und darüber, warum die Pornobranche Feministinnen dringend braucht.
Miriam Suter: Erika, wann hast du deinen
ersten Porno gesehen?
Erika Lust: Das war als Teenager, während einer Pijama-Party
bei einer Freundin. Eine von uns hat in einem Versteck ihres
Vaters – ein ziemlich schlechtes Versteck, haha – eine PornoDVD gefunden.
Und wie wars?
Wir waren alle total aufgeregt! Endlich sollten die Geheimnisse,
die sich ums grosse Thema Sex rankten, gelüftet werden! Aber
was sahen wir? Eine Frau mit gigantischen Brüsten, die ihre
vollen roten Lippen um einen riesigen Penis schlingt. Der Penis
gehörte einem Typen, der gerade das Auto der MonsterbrüsteFrau repariert hatte. Es war unglaublich enttäuschend! Wer
waren diese Leute? Ich fand sie weder attraktiv, noch konnte
ich mich mit ihnen identifizieren oder fand die Art und Weise,
wie sie zusammen Sex hatten, aufregend oder gar ansprechend.
Wir fühlten uns irgendwie betrogen um eine wichtige Erfahrung. Also kam die DVD zurück ins Versteck und das war’s
fürs Erste.
Ich kann dich gut verstehen. Mich stört diese übertriebene,
unnatürliche Darstellung von Sex und Menschen in Mainstream-Pornos auch.
Abgesehen von Darstellern mit Wassermelonen-Brüsten und
Riesenbeulen in der Hose: Die Mainstream-Pornobranche ist
vor allem überflutet mit sich wiederholenden, fantasielosen,
chauvinistischen Filmen, produziert von den immer gleichen
Arten von Männern. Die Frauen werden objektiviert und benutzt für das Vergnügen der Männer – aber niemand kümmert
sich um sie. Heute ist «Porno» ein dreckiges Wort und wird
assoziiert mit etwas Unanständigem, etwas Billigem, etwas, was
einem peinlich sein sollte. Guter Sex sollte aber niemandem
peinlich sein!
Ich glaube ehrlich gesagt nicht mehr daran, diesen Stereotyp
der Frau im Porno zerstören zu können. Viel wichtiger finde
ich, aufzuzeigen, wie langweilig eben diese Stereotypen sind.
Wie idiotisch und total von gestern. Für mich ist der Weg aus
dieser Misere wirklich, Filme zu produzieren, die Frauen sehen
wollen. Ich will andere Frauen dazu inspirieren, leitende Rollen
im Erotikbusiness zu ergreifen: Als Regisseurinnen, Produzentinnen, Drehbuchautorinnen, und so weiter. Meine Crew zum
Beispiel besteht fast vollständig aus Frauen! So bekommen
Frauen eine stärkere Stimme in dieser Branche und so können
wir die Filme machen, die wir wollen: Kreativ, intelligent, realistisch und vor allem sex-positiv, für Frauen und Männer als
gleichgestellte Individuen.
Was ist mit den Männern – sie leiden auch unter den
schlechten Neben-Effekten, die Pornos haben können.
Auf jeden Fall. Die Lösung liegt aber auch hier im Feminismus,
in der Gleichstellung der Geschlechter. Männer sollten genau
so realistisch dargestellt werden wie Frauen, gleichermassen
leidenschaftlich sein dürfen, und vor allem sollten viel mehr
unterschiedliche Männerbilder in Pornos dargestellt werden,
gerade im Mainstream. Nicht alle mögen diese mehr als gut
ausgestatteten Muskelprotze – und vor allem sehen nicht alle so
aus! In der Realität gibt es viel mehr Diversität: Dünne Männer,
haarige Männer, pummelige Männer, und so weiter. Männer
sollen sich genau so mit den Charakteren in Pornofilmen identifizieren können wie Frauen!
Ich kenne einige deiner Filme und mag sie sehr. Allgemein
werden deine Pornofilme als «feministischer Porno» beschrieben. Was ist dir wichtig bei deinen Projekten?
Feminismus impliziert für mich, dass der Hauptfokus auf der
Sicht der Frau liegt. Das ist mir nicht nur bei meinen Filmen
wichtig. Es beeinflusst meinen Charakter, meine Person, wie
ich denke und wie ich meine Töchter erziehe. Es ist also unvermeidlich, dass Feminismus immer ein Teil meiner Arbeit ist. So
ähnlich wie Gadgets, Explosionen und Mädchen in Bikinis immer selbstverständlich Teil eines James Bond Filmes sind.
Wie genau spiegelt sich das in deinen Filmen wider?
Meine erotischen Filme sind feministisch, weil sie chauvinistische, sexistische Klischees vermeiden. Stattdessen sind die
Frauen im Zentrum: Der Fokus liegt auf unseren Bedürfnissen,
unserer Leidenschaft und unserem Verlangen. Vor allem aber
sind meine Filme lustig und sexy! Mir ist wichtig, dass die Filme
smart und fantasievoll sind – immer aus der weiblichen Perspektive. Meine Absicht ist, sexuell zu inspirieren und natürlich
die Zuschauer zu erregen. Darum ist es mir wichtig, kreativ,
zeitgenössisch und realistisch zu sein. In meinen Filmen will ich
mit professionellen und Laien-Darstellern in schönen, stilvollen
Film-Sets die sexuellen Fantasien von Frauen, Männern und
Paaren anregen und stimulieren.
Wie wählst du deine Darsteller aus?
Kann man sich bewerben, gibts eine Art Casting?
Ja, ich weiss, schrecklich, oder? Als ob alle Frauen ständig verzweifelt versuchen, jederzeit Sex zu haben, in allen möglichen
Positionen, egal mit wem! Diese männliche Fantasie ist doch
genau so schädlich und naiv wie die klischierte Vorstellung vom
Prinz Charming, die vielen Frauen zugeschrieben wird. Aber
woher das kommt? Ich denke, die Jahrhunderte voller Chauvinismus haben ihren Teil dazu beigetragen.
Vielfalt ist mir extrem wichtig, wenn ich den Cast auswähle.
Wir versuchen, Leute zu finden, die die Geschichte und die
Charakteren des jeweiligen Films am besten verkörpern. Menschen mit Ausstrahlung und Lebendigkeit, und natürlich ist
auch wichtig, dass wir uns auf persönlicher Ebene verstehen.
Ich drehe nicht mit Leuten, die nicht dieselben Moralvorstellungen und Ziele haben wie ich. Ausserdem suchen wir immer
Leute, die nicht wie die typischen Porno-Darsteller aussehen
– wie vorher schon beschrieben. Wir wollen natürliche Männer
und Frauen in unseren Filmen, mit einer gewissen Ästhetik.
Unsere Darsteller sollen auch ausserhalb vom Bett tolle Menschen sein. Das können Schauspieler aus der professionellen
Porno-Branche sein, aber auch ganz «normale» Leute, die Lust
darauf haben. Diese Kombination funktioniert immer sehr gut!
Und wird es besser?
Und wie kommen die Leute zu euch?
Definitiv. Die Rolle der Frau im Porno verändert sich, wie sie
sich aktuell in vielen Bereichen der Gesellschaft verändert.
Naja, vielleicht ist es im Porno-Bereich etwas komplizierter,
weil das nunmal traditionell eine speziell chauvinistische
Branche ist.
Professionelle Darsteller, die wir gerne für einen Film wollen,
kontaktieren wir direkt via Twitter – oder sie fragen mich
selbst an, weil sie einen meiner Filme gesehen haben und mitmachen wollen. Interviews führen wir oft via Skype, um abzuschätzen, ob die Person für die Rolle geeignet ist. Wenn
alles stimmt, kann’s los gehen. Und natürlich sehen wir uns
wirklich viele Pornos an, um neue Darsteller zu finden. Als
Recherche, sozusagen!
Woher kommt eigentlich dieses stereotype Sexkätzchen-Image
von Frauen in Pornos?
Wie können wir als junge Frauen zu dieser
Veränderung beitragen?
Ich kenne viele Feministinnen, die von sich behaupten,
überhaupt keine Pornos zu schauen. Kriegst du auch negative
Reaktionen von Feministinnen zu deinen Filmen?
Klar! Oft sogar, denn Porno ist auch unter Feministinnen ein
immer noch sehr kontroverses Thema. Viele sehen es immer
noch als sextisch an, was es in vielen Fällen ja auch ist. Aber
ich bin eine Sex-positive Feministin. Das bedeutet, dass Erwachsene miteinander Sex vor einer Kamera haben können,
wenn sie wollen. Ich finde auch, dass Frauen fähig sein sollten,
Pornos zu schauen, wie es Männer seit Jahren tun.
In deinem Buch ‹La Cancíon de Nora› geht es um die 24-jährige Nora, die sich nicht zwischen zwei Männern entscheiden
kann. Ein erotischer Roman – deine Antwort auf ‹50 Shades
of Grey›?
Mh, ich denke, mein Schreiben fällt in ein anderes Genre. Man
könnte sagen, ‹50 Shades of Grey› ist ein Buch für Anfänger
(lacht). Nein, ernsthaft, der Hauptunterschied ist, dass meine
weiblichen Hauptcharaktere – in meinen Filmen wie auch in
meinem Buch – stark sind und den Lead übernehmen. Sie sind
neugierig und warten nicht auf den Mann, der sie rettet und
ihnen zeigt, wie das geht im Bett.
…wie Christian Grey, der Ana Steel in E.L. James’ Roman
endlich zeigt, wie man «richtig Sex hat»?
Genau. Das hat nämlich nichts zu tun mit Unterwerfung in
eine BDSM-Beziehung – dieses Thema kommt übrigens meiner
Meinung nach ganz schön lahm daher in ‹50 Shades of Grey›.
BDSM wird da total unrealistisch dargestellt, von einem sehr
männlichen Standpunkt aus. Andererseits realisieren Frauen
nach dem Wahnsinnserfolg dieses Romans jetzt, dass es vollkommen okay ist, erotische Literatur zu lesen und gut zu finden. Vielleicht werden einige 50-Shades-Leserinnen jetzt neugierig und bekommen Lust, das Feld des BDSM für sich selbst
zu entdecken!
Schaust du eigentlich deine eigenen Filme zum Vergnügen?
Oh Gott, nein! Ich verbringe so viel Zeit mit einem Film, vom
Drehbuch zur Post-Production und übernehme sogar die Promo-Arbeit. Am Ende eines Films bin ich absolut ausgepowert.
Ich denke, viele Filmemacher oder Kreative im Allgemeinen
kennen das. Wenn ich einen meiner Filme anschaue, denke ich
nur: «Ich hätte diese Einstellung länger machen sollen», oder:
«Hier hätte man einen anderen Song nehmen können». Ich
hätte also nicht wirklich viel davon, meine eigenen Pornos anzusehen.
Zum Schluss: Welche anderen Supergirls tummeln sich in der
Sex-positiven Porno-Industrie?
Ich mag besonders Murielle Scherre, Ovidie, Sonya JF Barnett,
Tristan Taormino, Jennifer Lyon-Bell, Madison Young, Maria
Beatty – ach es gibt so viele, und es gibt ständig mehr von uns!
Dieses Jahr ist sogar ein sehr spezielles für die Porno-Branche
und für mich: Vor zehn Jahren habe ich meine Produktionsfirma gegründet und seit zehn Jahren gibt es feministische PornoAwards. Viele meiner Kolleginnen haben ihre Karriere vor
zehn Jahren begonnen, als hätten wir alle zur gleichen Zeit die
gleiche Eingebung gehabt. Das kann nur ein gutes Zeichen sein!
Von Miriam Suter
Dieses Interview erschien erstmals auf dem Blog «This is Jane Wayne».
Miriam Suter (*1988) arbeitet als freie Journalistin und bloggt auf
truemmerliteratur.wordpress.com.
Porno — Fabrikzeitung Nr. 314
FEMINISMUS,
PORNO UND ICH
«Ein Haus, das in sich selbst geteilt ist, kann nicht stehen.»
So ganz grob übersetzt, was Abraham Lincoln im Bezug auf
den Amerikanischen Bürgerkrieg gesagt hat. Der Krieg ist
mittlerweile vorbei und dem Haus geht es gut. Nun ist aber
ein anderes Haus aus ähnlichen Gründen in Gefahr geraten.
Mein Haus. Was der USA ihr Unionist, ist mein Feminist;
und ihr Konföderatist ist mein überspitzter, Libido-geplagter
innerer Schweinehund, der gerne Pornos schaut. Lange findet
dieser Konflikt in mir schon statt und genauso lange findet
sich keine Lösung.
Hier finden Sie eine kleine Exploration einer möglichen Lösung und die Erklärung, warum sie nicht funktioniert.
Bevor dieser Text aber zu einer Wiedergabe der Leiden des jungen Masturbators wird, zuerst eine kurze, stark vereinfachte
Historie der Porno-Problematik: Pornos gibt es viele, es gibt sie
überall und es gibt sie immer. Und eins wurde mir schon früh
eingebläut, von Mama, dem Aufklärungsunterricht und den
unglücklichen Teilnehmerinnen meiner sexuellen Premieren:
Sex funktioniert nicht so wie in den Filmchen. Ebenso wurde
mir klar gemacht, dass man sich jetzt Sorgen mache, weil die
Generation Porno zu viele Pornos schaut und in ihrem Sexualverhalten davon beeinflusst wird. Meine Diagnose war schnell
übernommen: Nicht gut. Die Pornografie stellt ein unrealistisches und dazu unwürdiges Bild der Frau dar, und je mehr die
jungen Jungs davon konsumieren, desto eher erwarten sie diese
Art Frau im Bett. Noch schlimmer ist es für die jungen Mädchen, die solche Filme schauen, denn sie denken dann, dass man
als Frau im Bett das volle Porno-Programm über sich ergehen
lassen muss. Anders gesagt: Die Porno-Lawine nimmt der Frau
ihre sexuelle Selbstbestimmung weg. Doch dann macht die Heldin der Geschichte den Auftritt: Feministische Pornografie.
Jetzt kann man(n) endlich alles haben und alles sein! Erleuchteter Feminist und gleichzeitig Porno-Geniesser. Soweit das
Versprechen – die Realität sieht leider anders aus. Aber was ist
überhaupt feministische Pornografie?
Natürlich lässt sich darüber streiten. Wenn die
Filmchen, die man konsumiert, einen «PornYes» Stempel haben, dann ist man sicher schon auf dem richtigen Weg. Und
wenn die Ästhetik der Filme so aussieht, als ob sie eigentlich
auf Arte laufen sollten, dann sind es ganz sicher als feministisch deklarierte Pornofilme.
Wenn man aber den Feminismus als Ideologie und
nicht als Institution anschaut, dann sind feministische Pornos
einfach diejenigen, die gezielt solche Faktoren der MainstreamPornografie umgehen, die problematisch für ihre Ideologie sein
könnten. Es ist also wichtig, diese Faktoren erst einmal zu
untersuchen, um zu verstehen, was sich überhaupt als frauenfreundliche Pornografie beschreiben könnte. Man kann nun
über zwei verschiedene Wege das Böse in der Pornografie suchen. Der erste Weg setzt voraus, dass gewisse Akte, die in den
meisten Mainstream-Videos prominent aufgeführt werden, intrinsisch nicht feministisch sind. Der zweite Weg geht davon
aus, dass nicht unbedingt der Inhalt der Filme das Problem ist,
sondern die Infrastruktur, in welcher diese Industrie funktio-
niert. Da die überwiegende Mehrheit der Pornofilme in einer
Industrie gedreht wird, die fast ausschließlich von Männern
bespielt wird – von den DarstellerInnen mal abgesehen – und
da ihre Produkte auch überwiegend von Männern konsumiert
werden, kann man sagen, dass diese Filme von Männern für
Männer gemacht sind. Und falls vermehrter Schundfilmchenkonsum tatsächlich eine erzieherische Wirkung haben kann,
dann heisst das, dass ich so als Mann von anderen Männern
erzählt bekomme, wie sich eine Frau im Bett verhalten oder
zumindest wie der ideale Sex aussehen soll. Diese Erklärung
verneint nicht, dass es vielleicht tatsächlich Frauen gibt, die
gerne alles mit sich machen lassen, was so ein Filmchen vorschreibt. Das Problem ist, dass es in dieser Weltanschauung
nicht wirklich Platz gibt für Frauen, die nicht wollen, dass sie
sich nach jedem Beischlaf das Gesicht waschen müssen.
Obwohl und selbst wenn man sich als Pornofilmkonsument dem Unterschied zwischen Porno-Sex und realem
Sex bewusst ist, wird die Porno-Sexualität im vernünftigsten
Fall als Utopie gespeichert. Dem Körper wurde beigebracht,
dass solche Szenen einen ganz schön grossen Endorphinaus­
stoss auslösen können. Bewusst oder unbewusst wird man mit
der Zeit gewisse Aspekte des Porno-Sex in sein Privatleben
einbauen wollen.
Es geht also nicht darum zu urteilen, ob diese Akte
an sich selbst legitim sind oder nicht, sondern vielmehr darum,
dass solche Akte aufs Bett gezwungen werden, nachdem sie
der kumulativen Phantasie der Männerwelt und nicht dem
Dialog zwischen Sexualpartnern entstammt sind. Und das ist
eben genau der Verlust der Selbstbestimmung der Frau, der
uns Sorgen machen muss. Natürlich können Frauen im Bett
für sich selber sprechen und die obige Kritik an die Pornoindustrie kann als gut gemeinter Paternalismus empfunden werden. Die Tatsache besteht jedoch, dass eine erschreckende
Mehrheit der jungen Männer ins Sexualleben hineinmarschiert, voller Ideen, die den Köpfen besonders motivierter
Masturbatoren entsprungen sind.
Wenn das Problem der Mainstream-Pornografie
also ist, dass sie von Männern für Männer produziert wird,
könnte es dann sein, dass ich einfach von Frauen produzierte
Pornografie schauen muss, um mein Dilemma zu lösen? Leider
nein. Es mag sein, dass feministische Pornografie möglich ist,
und dass sie einem weiblichen Publikum – speziell einem jüngeren, noch formbareren – helfen kann, ein realistischeres und
würdigeres sexuelles Selbstbild zu erschaffen. Vielleicht auch
nicht. Es liegt diesem Text fern zu behaupten, welche Pornografie die richtige für eine oder alle Frauen ist. Nun kommen
wir aber zum Problem: Die Natur des pornografischen Films
ist nämlich eine kommodifizierte, das heisst, er ist verkäuflich.
Und sobald etwas zum Verkauf steht, richtet sich das Produkt
nach den Kunden. Ich kann als Konsument entscheiden, welche Produkte ich kaufe, und somit meinen Teil dazu beitragen,
dass das Angebot sich der Nachfrage anpasst. So funktioniert
es mit Autos, Sandwiches und allem anderen, was man kaufen
kann – auch mit Pornos.
Wenn man sich darauf einigen kann, dass keine sexuellen Vorlieben kategorisch abzuweisen sind – weil Erwachsene im Bett
das machen dürfen, was sie wollen – dann ist der hauptsächliche Schaden der Pornografie der Diebstahl der weiblichen sexuellen Selbstbestimmung. Die Gefahr, dass mehr und mehr
Frauen ein Bild von Sex bekommen, welches einer Industrie
entstammt, die in der Produktion und Logistik hauptsächlich
von Männern beherrscht wird, und die Filme kreiert, die auf
das männliche Vergnügen fokussiert sind, ist sicherlich ernst
zu nehmen. Die Natur eines kommodifizierten Produktes
bringt es aber mit sich, dass es so etwas wie feministische
Pornografie – für mich als Mann – gar nicht geben kann. Denn:
Sobald ich Kunde bin, bin ich Mitbestimmer. Da die Gesamtheit aller Mitbestimmenden zusammen die Selbstbestimmung
der Frau einschränkt – weil sich die Produktion der Filme nach
dem Klientel richtet und dieses grösstenteils aus Männern besteht – nehme ich, sobald ich mitbestimme, ein bisschen die
Selbstbestimmung anderer weg. Grob gesagt: Auch feministische Pornos wollen geschaut werden und es gibt sie in allen
Schattierungen. Wenn ich also eine Seite besuche, die eine
Vielzahl an verschiedenen feministischen Videos anbietet und
ich diejenigen auswähle, die ich schauen will, dann bestimme
ich zusammen mit allen anderen (meist männlichen) Kunden
die Inhalte der Videos der nächsten Generation, da diese sich,
wie jedes andere verkaufbare Produkt, nach dem Klientel richten. Sobald ich anfange feministische Pornografie zu konsumieren, wird ihr Klientel ein klein wenig männlicher. Weil die
Industrie sich aber nach den Wünschen des Klientel richten
muss, hat diese Pornografie nunmehr auf die Wünsche eines
mehrheitlich männlichen Klientel einzugehen. Entweder das,
oder sie muss aufhören ein kommodifiziertes Produkt zu sein.
Wenn frauenfreundliche, feministische und erleuchtete Pornografie nicht die Antwort ist, was dann?
Vielleicht würde es helfen, wenn mehr Frauen solche Filme
konsumieren würden und beide Geschlechter den Konsumentenpool unter sich aufteilen könnten. Dann wären solche Filme immer noch nach dem Publikum gerichtet, die Frauen
hätten aber einen gerechteren Anteil an der Mitsprache.
Die einfachere Lösung wäre, einfach festzustellen,
dass der Pornografie-Konsum – so unterhaltsam er sein mag
– schlussendlich vielleicht doch zu einer ungesunden Einstellung gegenüber der Sexualität führt. Die Devise wäre dann
klar: Abstinenz. Die überschüssige Energie kann man dann in
produktivere Aktivitäten stecken. Ich könnte vielleicht endlich anfangen zu joggen, oder lernen, wie man richtig schön
kocht. Falls ich in den nächsten Monaten also 20 Kilo zulege
oder abnehme, dann wissen Sie weshalb.
Von Amos Wasserbach
Amos Wasserbach studierte Politikwissenschaften in Israel. Dort wurde er
israelischer Debattiermeister und erreichte das Halbfinale der Weltmeisterschaft.
Er hat in verschiedenen Friedensprojekten Argumentations- und Debattier-Seminare geleitet.
WAS IST
POST-PORNOGRAFIE?
Post-Pornografie, die in den frühen 90er Jahren mit Annie
Sprinkle ihre Anfänge hatte, ist heute eine Bewegung, die vor
allem in Kunsthochburgen wie Berlin und Barcelona betrieben wird und fester Bestandteil der «queeren» Kunstszene ist.
Aber was versteht man unter Post-Pornografie? Und welches
Potential beinhaltet sie?
Im Jahr 1982 produzierte die Performancekünstler­
in und Ex-Prostituierte Annie Sprinkle ihren ersten selbstgedrehten Streifen «Deep Inside Annie Sprinkle», ein ArthousePornofilm, der später als Grundlage für die post-pornografische
Politik bekannt werden sollte. Der Film kritisiert die herkömmliche pornografische Darstellung und spielt mit ihr.
«Deep Inside Annie Sprinkle» untergräbt die konventionelle
pornografische Tradition. Der Film ist interaktiv: Annie
Sprinkle spricht direkt in die Kamera, zeigt Fotos von ihrer
Familie, stellt sie dem Publikum vor und fordert schliesslich
den Zuschauer auf, bei den kommenden sexuellen Begegnungen mitzumachen. Es scheint, als ob Annie Sprinkle die Bilder
von ihrer Kindheit und Familie dazu benutzt, dem Zuschauer
vor Augen zu führen, dass sie nicht nur ein glänzendes Pornosternchen ist, das alles mit sich machen lässt, sondern eine
selbstbewusste Frau, die Lust auf Sex hat und weiss, was sie
will. Annie übernimmt den Lead und stiftet die sexuellen Erlebnisse an. Die gezeigten Sexualpraktiken reichen von heteround homosexuellen Begegnungen, Gang Bangs, Masturbation,
Blowjobs, «Squirting», Anal-Sex, Sex in der Öffentlichkeit bis
zu «Golden Showers». Vor jeder sexuellen Begegnung gibt
Sprinkle eine kurze Einführung in die Praktiken und nimmt
darin auch eine aufklärerische Position ein. «Deep Inside Annie Sprinkle» entmystifiziert den Porno, indem er bewusst auf
die inszenierten sexuellen Begegnungen aufmerksam macht
und auch ihre problematischen Aspekten thematisiert. Er
macht klar, was sexuelle Darstellung wirklich ist: Ein komplexes Netz von sozialen, psychologischen, politischen und vor
allem szenografischen Konstruktionen. Der Film zeigt daher
eine «queere» Sicht der Sexualität, indem er das Vergnügen an
nicht-konformem, nicht-reproduktivem Sex porträtiert, ohne
eine Sexualpraxis abzuwerten oder typische Geschlechterrollen zu forcieren. Die Post-Pornografie erschafft neue sexuelle
Bilder, die den ganzen Körper als Lustobjekt sehen und neue
erogene Zonen definieren. So stehen in der Post-Pornografie
nicht die Geschlechtsteile im Mittelpunkt, vielmehr können
geschlechtsneutrale Körperteile oder Objekte, wie zum Beispiel ein Arm oder ein Dildo Mittelpunkt des sexuellen Aktes
sein, um genderspezifischen Privilegien entgegen zu wirken.
Porno — Fabrikzeitung Nr. 314
Diese Einstellung gegenüber Sexualität und ihrer Betonung
auf dem kritischen Denken der Post-Porn-Politik entwickelte
sich aus «queeren» Kunstpraktiken. Obwohl nicht zwingend
definierbar als Post-Pornografie, da diese Werke nicht explizite sexuelle Begegnungen mit Hardcore-pornografischer Ästhetik zeigen, gab es bereits früher Bewegungen, die einen
Versuch starteten, aufzuzeigen, dass das, was in HollywoodProduktionen zu sehen ist, Fiktion ist und nicht der Realität
entspricht.
Wichtige Begriffe in diesem Kontext sind die Heteround Homonormativität. Sie beschreiben den Umstand, dass die
westliche Gesellschaft auf dem Konstrukt der Heterosexualität
aufgebaut ist, was nicht nur das Sexualleben einer Person beeinflusst. Vielmehr wird die Voraussetzung der Heterosexualität als Grundlage des politischen Systems, der Gesetze und
des Gesundheitswesens gesehen. Kurz gesagt, das Alltagsleben
eines Individuums in der westlichen Kultur ist durch heterosexuelle Werte geprägt, unabhängig davon, mit welcher sexuellen Orientierung sich die Person identifiziert, da Heterosexualität als Norm beschrieben wird. «Queer»-theoretische
Schriftsteller wie Monique Witting, Lauren Berlant und Michael Warner behaupten darüber hinaus, dass die Aufrechterhaltung dieses Systems stark durch den Neoliberalismus gefördert wird, da die Heteronormativität für die Umsetzung
neoliberalistischer Visionen der Männlichkeit und des Ethnozentrismus eine zentrale Bedeutung hat. Aus diesem Gedanken
folgt die Ansicht «queerer» Theoretiker, dass der Neoliberalismus die Macht hat, den menschlichen Körper so zu manipulieren, dass das Gefühl entsteht, der geschlechtsspezifische Körper würde einem natürlichem Weg folgen. Der Gender- und
«Queer»-Theoretiker Jack Halberstam erklärt diesen scheinbar natürlichen Umstand durch den Reproduktionszyklus.
Gemäss Halberstam denkt die Mittelklassen-Gesellschaft in
der reproduktiven Zeit. Werte und Seriosität werden somit davon abhängig gemacht, wie der Reproduktionszyklus von einem Individuum erfüllt wird. Somit gelten zum Beispiel kinderlose Paare in einer heteronormativen Gesellschaft als etwas
merkwürdig oder nicht ganz normal, da sie ihre Aufgabe der
Reproduktion nicht vollzogen haben.
Nun stellt sich wahrscheinlich die Frage, was demzufolge der Homonormativität abzugewinnen sei. Seit den sexuellen Befreiungsbewegungen in den 1970er Jahren, und
dank der Arbeit verschiedener feministischen und homosexuellen Bewegungen, hat die Akzeptanz von Homosexuellen in
der westlichen Gesellschaft bekanntlich stark zugenommen.
Was hier aber von «Queer»-Theoretikern und der Post-PornPolitik kritisiert wird, ist, dass der Neoliberalismus sich diese
Entwicklung zu Nutzen macht und dafür eine Normativität
für Homosexuelle vorlegt. Dies wird von vielen als Befreiung
empfunden, ist aber in den Augen der «queeren» Theoretiker
nur eine Fortsetzung der Heteronormativität. Homonormativität baut somit auf die gleichen Werte wie die Heteronormativität und fördert folglich homosexuelle Ehen und die Adoptionen von Kindern durch homosexuelle Paare und so weiter,
solange diese ihr Sexualleben und ihre Sexualität wie die Heteronormativen hinter geschlossenen Türen halten und genderspezifisch ihre Pflichten an die Gesellschaft zur Förderung
des Neoliberalismus erfüllen. Die Legalisierung der Homosexuellen-Ehe ist ohne Zweifel wichtig, um einer egalitären Welt
innerhalb des bestehenden System einen Schritt weiter zu
kommen. Jedoch ist das Ziel von Post-Pornografie, das bestehende System als solches in Frage zu stellen.
Filme von Jack Smith und John Waters sowie auch
Andy Warhol verbanden also bereits in den frühen 70er Jahren
Schönheit mit Bildern der Verzweiflung, Gewalt, des Verfalls
und der Fragilität der sexuellen Begegnung, welche im Vergleich
die Künstlichkeit der Hollywood-Filme entlarvten und die Darstellung von Normativität hinterfragten. Diese Filme wurden
nicht gedreht, um das Publikum zu schockieren; sie waren vielmehr ein Versuch, das Vergnügen von nicht-heteronormativem
Sex zu visualisieren. Diese frühen «queer»-feministischen
Kunstwerke wurden später von Autoren wie Judith Butler, Jack
Halberstam, José Munoz, Eva K. Sedgwick und Michael Warner
theoretisiert. Der «queere» Feminismus hinterfragt die Überbewertung der Geschlechterrollen, die das Selbst, die soziale
Konstruktion von Sexualität und den Sexualakt in einer heteronormativen Gesellschaft definieren. «Queerer» Feminismus
fordert daher die heteronormative Annahme heraus, selbst das
über alles «Natürliche» und «Normale» zu sein. «Queere» Interventionen, wozu Post-Pornografie zählen kann, haben somit
das Ziel, deutlich zu machen, dass es eine Welt außerhalb von
Hetero- und Homonormativität gibt, und sie stehen damit für
die Rechte und Anerkennung der Menschen ein, die aus dem
normativen System fallen. Vielen anderen sexuellen Praktikern
fällt es schwer, ein Zugehörigkeitsgefühl in der hetero- und homonormativen Kultur zu finden, welches so stark auf dem
Grundsatz beruht, dass Sex nur hinter verschlossener Tür ablaufen sollte. Obwohl es kaum daran liegt, dass Sexualität nicht
in der Öffentlichkeit besprochen wird – leider geht es in solchen
Diskursen aber mehr um die Besprechung des Versagens in der
Normativität – wird das treibende System hinter der Normativitätskonstruktion wenig in Frage gestellt. Die «queeren» Interventionen und der «queere» Aktivismus haben somit zu untersuchen, in welchem Rahmen die Macht der Normativität
gewahrt wird und diese in einem zweiten Schritt aufzuzeigen,
sowie in Erfahrungsberichten zu erläutern, wie man sich als
«queere» Person in einer heteronormativen Welt fühlt. Die
«queere» Intervention entfernt sich dadurch teilweise auch vom
Thema Sexualität und spricht nicht nur «queere» oder homosexuelle Personen an, sondern auch heterosexuelle Personen,
die sich nicht mit der Norm identifizieren können. «Queere»
Interventionen hinterfragen also die hetero- und homonormative Kultur und zeigen andere Lebensweisen auf.
Post-Pornografie wie Annie Sprinkles Film «Deep
Inside Annie Sprinkle» folgt einer «queeren» Politik, integriert darin aber auch die Ästhetik des Pornos, um so die hetero- und homonormative Darstellung des Sexualaktes in der
Mainstream-Pornografie zu kritisieren. Da dies in einem
künstlerischen Kontext stattfindet, dekonstruiert und provoziert Post-Pornografie das primäre Ziel der Pornografie, nämlich den Zuschauer scharf zu machen. Sie bedient sich dadurch
Vorbildern aus den 70ern Jahren, wie Stücken von Valerie
Export’s «Touch and Feel» (1968) oder Yoko Ono’s Film «No.
4» (1967). Pornografisches Material im Kunstraum fordert
nicht nur die institutionellen Werte eines Museums heraus, es
setzt auch Pornografie in einen akademischen Kontext. Das
Zeigen von Sex in einem öffentlichen Raum kann durchaus
ein Wagnis sein; es birgt immer das Risiko, die Emotionen der
Besucher zu strapazieren und gesellschaftlich verbreitete Reaktionen auf solches Material, wie Unverständnis, Ärger oder
Aufruhr, zu fördern. Nichtsdestotrotz besteht die Chance,
dass wenn Pornografie einmal in einem anderen Zusammenhang erfahren wird – fernab von der intimen Vierraum-Romantik – sie ihren Scharfmacher-Zweck verliert und somit viel
kritischer betrachtet werden kann.
Die kritische und analytische Betrachtung der Pornografie ist wichtig, um den kulturellen Wert der Pornografie
sehen zu können. Wie die Mutter der Porno-Studien Linda
Williams darauf hinweist, ist die grösste Fiktion in der Pornografie die Annahme, dass Sex ganz «natürlich» passiert. Pornografie versucht, Vergnügen zu visualisieren und verwendet
dazu bestimmte Standards, um ihr Ziel – das Publikum scharf
zu machen – zu erreichen. Das aktivistische Potential von Pornografie und deren genaue und wissenschaftliche Analyse ist
bedeutend, um darauf aufmerksam zu machen, was in einer
Gesellschaft als «normal» definiert wird. Pornografie ist zwar
ein problematisches Thema, dennoch ist sie eine kulturelle
Praxis, welche helfen kann die Beziehung des modernen Subjekts, die Macht der Institutionen und des sozialen Denkens
zu verstehen. Pornografie als Medium übertritt immer Grenzen und kann daher ohnehin als eine Form von Aktivismus
gesehen werden, umso mehr, weil diese Übertretung von der
Gesellschaft im Rahmen der Pornografie akzeptiert wird. Sexuell explizites Material kann daher dazu beitragen, ein neues
Verständnis gegenüber unterschiedlichen Sexualitäten zu entwickeln, und einen Widerstand gegen das System darzustellen.
Post-Pornografie kann zu dieser Analyse einen wichtigen Beitrag leisten, da sie die kulturelle Wichtigkeit von Pornografie
versteht und ins Museum bringt. Die klare Unterscheidung
zwischen Pornografie und Post-Pornografie ist wesentlich, um
den aktivistischen und kulturellen Gedanken der Post-Pornografie zu verstehen. Post-Pornografie hat zum Zweck, das Potential der Visualität des Sexualaktes zu nutzen und dessen
Wirkung auf den Betrachter zu zeigen, und damit auch inwiefern Institutionen und Bilder die Gesellschaft beeinflussen.
Hetero- und Homonormativität sind im täglichen
Leben sowie in der Pornografie eingebettet. Auch wenn die
Vielfalt in der Mainstream-Pornografie gewaltig ist, ist sie meist
immer noch auf hetero- und homonormative Annahmen über
Sexualität und Gender aufgebaut. Post-Pornografie, mit ihrer
«queeren» Politik ist ein Weg, den Zuschauer über Mechanismen in Kenntnis zu setzen, die diese Normativitäten vorantreiben und zu zeigen, mit welchen hetero- und homonormativen
Codes die Mainstream-Pornografie arbeitet. Post-Pornografie
hat das Potential, sichtbar zu machen, dass Sexualität und Gender sozial und kulturell konstruiert sind. Sie gibt Einblicke über
Möglichkeiten, wie man dem System entgegen wirken kann,
und zeigt neue Möglichkeiten auf, sich als Individuum selbständig und ohne eine universelle Sprache sexuell zu finden und sich
der ganzen Vielfalt der Sexualität zu bedienen.
Von Angela Walti
Dies ist ein Auszug aus der Masterarbeit in englischer Sprache ‹The Deconstruction of Hetero- and Homonormatives in Post-Pornographie: An Analysis of the
Art Project Neurosex Pornoia› von Angela Walti. Angela Walti hat soeben ihren
Master in Contemporary Art Theory an der Goldsmiths Universität in London
abgeschlossen. Sie begeistert sich für die aktivistischen und vermittelnden Aspekte der Kunst und Kultur. Queer, Gender und Porn Studies sind dabei ihre Hauptinteressensgebiete.
NORMIEREND ODER
TRANSGRESSIV?
Nun präsentieren sie wieder ihre Körper: 20 neue Kandidatinnen buhlen in der nunmehr vierten Staffel um den Bachelor.
Nebst dem offensichtlichen Sexismus des Sendungskonzepts
sticht vor allem die Porno-Ästhetik der gecasteten Kandidatinnen ins Auge. Auch die Art und Weise der Inszenierung der
Annäherungsversuche auf nicht zufällig exotischem Inselsetting in Thailand changiert zwischen Kitschroman und Pornoset. Was hier und in anderen Reality-TV-Formaten als PornoChic bezeichnet werden könnte, begegnet uns auch in Werbung,
Musikvideos oder Newsportalen im Internet. Wird unsere
Pop- und Alltagskultur immer pornografischer?
Genau das behauptet eine neue Generation feministischer Autorinnen, die unter dem Stichwort Pornografisierung gesellschaftliche Trends wie die beschriebene Verbreitung des Porno-Chics, aber auch die immer einfachere
Verfügbarkeit von Pornografie im ursprünglichen Sinne kritisieren. Dank technologischen Innovationen und dem Wegfall
von Regulierungen ist Pornografie heute auf jedem Computer
und jedem Smartphone nur einen Klick entfernt. Mit der Kritik an diesen Phänomenen nehmen die Autorinnen ein weitverbreitetes Unbehagen auf, was medial geschürte Ängste um
Pornosucht und in ihrer sexuellen Entwicklung negativ beeinflusste Teenager beweisen.
Was kritisieren diese Feministinnen an der Pornografisierung? Der Titel eines populären Buchs zum Thema
bringt es auf den Punkt: ‹Pornland – wie die Pornoindustrie
uns unserer Sexualität beraubt›. Die Autorin Gail Dines beschuldigt darin die Pornoindustrie, aus unserer Gesellschaft
eine Art pornografisches Disneyland zu schaffen, wo die Normen des pornografischen Blicks herrschen. Diese Normen
verdinglichen unsere Körper und unsere Sexualität zur Ware.
Wir beginnen uns als Produkte zu verstehen, die optimiert
werden müssen. Ich stimme dieser Kritik insofern zu, als dass
Dines damit einen Aspekt des herrschenden neoliberalen Kapitalismus aufgreift: Die Normen der Leistungsgesellschaft
müssen nun auch im Bereich des eigenen Körpers und der Se-
xualität eingeübt werden. Wir müssen uns als verführerische
Waren präsentieren, um auf dem Markt bleiben zu können.
Was mich allerdings stört an Dines’ und anderer
feministischer Kritik an Pornografisierung, das ist die Wiederkehr gewisser Argumente und Topoi, die bereits die erste
Welle feministischer Pornografie-Kritik in den 1970er / 1980er-Jahren prägten. Dazu gehören die unbewiesene Annahme einer Kausalbeziehung zwischen Pornokonsum und
sexuellen Übergriffen. Zwar findet sich in den Biografien vieler Sexualstraftäter die Neigung zum Pornokonsum, dennoch
konsumieren sehr viele Männer ebenso Pornos und werden
nicht zu Sexualstraftätern. Ein weiteres wiederkehrendes Argument ist die Verallgemeinerung von spezifisch gewaltförmiger und frauenfeindlicher Mainstreampornografie zum Beweis
der generellen Gewaltförmigkeit und Frauenfeindlichkeit von
Pornografie überhaupt. Immerhin gibt es den finanziell nicht
unerheblichen Sektor der schwulen Mainstreampornografie,
der gänzlich ohne Frauen auskommt. Pornografie muss also
Porno — Fabrikzeitung Nr. 314
nicht notwendigerweise frauenfeindlich sein. Ein letzter zentraler Topos ist die Annahme einer reinen, harmonisch-reziproken, nicht-gewaltförmigen Sexualität, die durch Pornografie
verdorben und beschmutzt wird. Diese Annahme durchzieht
mehr oder weniger unausgesprochen einen Grossteil feministischer Pornografiekritik und beruht meiner Meinung nach auf
einer falschen Vorstellung davon, wie sexuelles Begehren
funktioniert.
Denn Sexualität ist nicht etwas, das man besitzt
und das einem die Pornoindustrie wegnehmen kann. Das Subjekt ist ja nicht Herr über sein Begehren, eher ist es umgekehrt. Eher übt das Subjekt gewisse gesellschaftliche Normen
zur Sexualität ein, um überhaupt als ein begehrendes Subjekt
gesellschaftlich verstehbar und anerkannt zu werden. Doch
sexuelles Begehren ist transgressiv; es setzt sich selber Grenzen, um sie im gleichen Akt zu überschreiten. Auch wenn die
gelebte Sexualität sich innerhalb gesellschaftlicher Normen
abspielt, hält sich das Begehren nicht an diese Normen. Es lädt
im Gegenteil gerade den Grenzbereich gesellschaftlicher Normen erotisch auf. Damit überschreitet es stets das, was einem
Subjekt an Sexualität in einer spezifischen sozialen Situation
gerade real auszuleben möglich oder erlaubt ist. Für diese sexuellen Fantasien der Überschreitung eröffnet Pornografie
nun einen Raum. Die Frau, die Nein sagt, aber Ja meint, die
Erotisierung und Aufhebung von Klassengegensätzen, ja, auch
die zugegebenermassen verstörenden Gewaltfantasien und rassistischen Stereotypisierungen der Pornografie – sie sind alles
Fantasien der Überschreitung gesellschaftlicher Normen. In
diesem Sinne ist Pornografie transgressiv.
Die feministische Pornografiekritik und mit ihr
auch die aktuelle Kritik an der Pornographisierung negieren
entweder diese transgressive Funktion der Pornografie oder
nehmen sie einseitig nur als Bedrohung war. Ein Beispiel dafür
ist das in der Pornografisierungsdebatte oft verwendete Motiv
der Jugendlichen, die vor den schädlichen, allgegenwärtigen
Bildern im Internet geschützt werden müssen. Vermutlich fühlt
man sich selten in seiner Biografie als sexuelles Subjekt derart
eingeschränkt im Ausleben seines sexuellen Begehrens wie als
Teenager. Das Begehren übersteigt die realen Möglichkeiten
zur Sexualität exponentiell. Dass in einer solchen Situation die
Fantasiewelten der Pornografie als Möglichkeit erscheinen, die
realen Begrenzungen des Begehrens hinter sich zu lassen, liegt
meiner Meinung nach auf der Hand. Die Ängste um die sexuelle Unversehrtheit der Jugendlichen haben eher mit dem Reinheitsmythos, den Erwachsene auf Kindheit und Jugend projizieren, zu tun und mit Ängsten vor der Unkontrollierbarkeit der
modernen technologischen Möglichkeiten, die von sich weggeschoben und auf die Jugendlichen übertragen werden.
Beispiele, wie der transgressive Charakter der Pornografie auch politisch subversiv gegen die stereotypen Bilder
der Mainstreampornografie eingesetzt werden könnte, finden
sich in der wachsenden Szene der Postpornografie. Der Begriff
der Postpornografie stammt von der Künstlerin und ehemaligen Pornodarstellerin Annie Sprinkle, die ihre pornographische Konventionen zum Thema machenden Performances
selbst Postpornografie nannte. Heute versammelt sich unter
diesem Begriff eine breite Palette queerfeministischer, sexaktivistischer und künstlerischer Interpretationen von Pornografie. Ihnen ist der Anspruch gemeinsam, der MainstreamPornografie eigene, nicht-heteronormative, nicht-sexistische,
nicht-rassistische und doch erotisch stimulierende Bilder entgegenzusetzen. Damit machen sie genau von dem transgressi-
ven Charakter der Pornografie Gebrauch, der es erlaubt, die
Grenzen der gesellschaftlich normierten Sexualität auszuloten. Und so werden in der Postpornografie schon mal Fahrräder erotisch besetzt, es kommen von den herkömmlichen
Schönheitsidealen abweichende Körperbilder in den Blick,
Geschlechterbinaritäten werden aufgehoben.
Natürlich sind auch die Bilder der Postpornografie
nicht gänzlich frei von Normierung. Um als Pornografie lesbar
zu bleiben, müssen halt doch oft einige gängige Regeln des
Genres eingehalten werden. Eine pornografische Standardfantasie über Sex mit dem Klempner bleibt ein Stück weit den
Regeln der Mainstreampornografie verhaftet, auch wenn der
Klempner ein Transmann ist. Und auch die Zurschaustellung
von sexueller Freiheit kann als Zwang oder Normierung verstanden werden, wenn dem Publikum sexuell nicht immer so
frei zumute ist. Mir ging es an dieser Stelle auch nicht darum,
Postpornografie als Allheilmittel gegen den von Feministinnen zu Recht kritisierten Sexismus und Rassismus der Mainstreampornografie ins Feld zu führen. Es geht mir darum, den
von der feministischen Porno-Kritik entweder negierten oder
einseitig als Gefahr wahrgenommenen transgressiven Charakter der Pornografie zur Diskussion zu stellen. Und diesen gegen die Vorstellung starkzumachen, Pornografie sei einzig eine
Propagandamaschine für eine warenförmige Sexualität und
werde mit ihren Normen uns unserer heilen, unverdorbenen
Sexualität berauben.
Von Nathan Schocher
Nathan Schocher ist Doktorand am Philosophischen Seminar der Uni Zürich und
am Zentrum Gender Studies der Uni Basel. Er ist zudem Programmleiter Menschen mit HIV bei der Aids-Hilfe Schweiz.
PROMINENZ, PORNO
& PROJEKTION
Vor einigen Jahren geschah etwas Seltsames: Eine kroatische
Sängerin, die eigentlich nur im ex-jugoslawischen Raum Bekanntheit genoss, schaffte es auf die Titelseite einer deutschen
Boulevardzeitung, ja sogar DER Boulevardzeitung. Die Dame
heisst Severina Vuckovic, der Titel lautete: «Sex-Skandal
beim Grand Prix.» Aber eigentlich hatte sie es vor allem und
dank dieses «Sex-Skandals» überhaupt erst zum Grand Prix
geschafft.
Das Sextape – immer wieder wird es sorgfältig in
Planung und Konzept von Promikarrieren platziert. Es ist
nicht neu, bereits 1988 konnte man das erste Sextape eines
Prominenten erwerben: Der 22-jährige Rob Lowe beim Gruppensex. Oder später, in den 90ern, das viel bekanntere Video
von Pamela Anderson und Tommy Lee. Ich sah mir beide an.
Nicht nur durch den Rauscheffekt, den man bei damaligen
VHS-Rekordern nun mal hatte, fühlten sich diese Bilder
harmlos an. Es sind eindeutige, irgendwie langweilige Homevideos, die man gleichzeitig auch gar nicht weiter schauen mag,
weil man damit in die Privat- und Intimsphäre eines anderen
Menschen greift, eintaucht, irgendwo, wo man nicht hingehören sollte und auch nicht hingehören mag. Die Bilder von Pamela, ihr Gesicht in diesem Video verschwanden und wurden
von meinem Gehirn als unbrauchbare Bildfolge weggeschwemmt.
Trotz des sogenannten «Skandals», den Prominenten schadeten diese Videos nicht – ganz im Gegenteil. Ob es
Absicht war? Ich glaube nicht, dass diese Videos für die Öffentlichkeit gedacht waren. Der darauffolgende Erfolg war in
beiden Fällen nicht voraussehbar und ein angenehmer Nebeneffekt nach einer Reihe von Unanehmlichkeiten.
Aktuelle Sextapes von Prominenten hingegen wirken wie «echte» Pornos – und zwar wie die, welche man im
Internet in der tatsächlich ziemlich durchkonzipierten Kategorie des «Amateurporn» findet. Der Hauptdarsteller hält sich
die Kamera meist vors Gesicht, wodurch der/die Zuschauer/in
seine Perspektive einnimmt; es wird Nähe geschaffen, es wird
Schlafzimmer simuliert, es entsteht eine Ich-Perspektive, die
Beleuchtung ist spärlich – es sind verfilmte Minidrehbücher.
Küssen, ein paar Nahaufnahmen beim Oralsex, wenig Perspektivenwechsel, etwas Stöhnen und Wimmern – nicht übertrieben schreien, wenig Zusammenschnitte. Das Ziel ist Echtheit zu simulieren, jedoch kombiniert mit den Idealen eines
professionell gedrehten Pornos, weswegen es sorgfältig entworfen und vorbereitet erscheint. Im Promi-Sextape zelebriert
sich die Frau als Pornostar, dabei ist ihr Gesicht meist starr,
einige linkisch-holprige Lächler werden hie und da platziert,
der Körper streng so ausgerichtet, dass ja kein Speckröllchen
sichtbar wird. Beide Darsteller haben Pose einzuhalten. Auch
der Drehort ist arrangiert: Es wirkt wie im Schlafzimmer eines
Fünfsternehotels, ein Ort, an dem so manche/r der Zuschauer/
innen gar nie sein wird. Eine Welt, in der sich der Alltag und
somit auch der Sexualalltag dieser Auserwählten abspielt:
Himmelbett und faltenfreie Körper. Beim Sexualakt selber
wirken die Frauen erstaunlich unbeeindruckt, unecht und
auch parodistisch: Paris Hilton nimmt, während sie von Hinten genommen wird, ein Telefonat entgegen, und während sich
Ray-J (Sexualpartner von Kim Kardashian) vorbereitet, indem
er seine Hüfte ins Leere stösst und sich dabei selber zusieht,
schreibt Kim im Hintergrund irgendwelche Notizen. Als sie
dann miteinander schlafen, kaut sie permanent einen Kaugummi. Und selbst wenn behauptet wird, dass diese Videos
nicht an die Öffentlichkeit hätten gelangen dürfen, ist es genau
das, was die Darsteller und Darstellerinnen zeigen möchten:
Kein emotionaler Ausbruch, kein Zeichen von Befriedigung
(aber auch keine Unzufriedenheit), nur eine leere, sich beim
Akt einbringende Hülle, ein unbeschriebenes Gesicht, auf das
man seine eigenen Emotionen projizieren muss – tatsächlicher
Spass ist nirgends sichtbar, genauso wenig eine Nähe zwischen
diesem angeblichen Liebespaar.
Früher musste man sich ein Hochglanzmagazin
kaufen, um einem sogenannten Star und seinem Leben näher
zu kommen und eine wie auch immer geartete, meist einseitige Nähe zu ihm zu schaffen. Soziale Medien wie Facebook und
vor allem Instagram regeln diese Nähe von selbst. Das eigenartige Selfiebombardement, dem man durch Kim Kardashian
ausgesetzt wird, gibt einem die Möglichkeit weiter in ihren
Alltag zu tauchen – quasi das Kapitel nach dem erfolgreichen
Sextape. Ihr Gesicht ist immer noch gleich starr, manchmal
erhascht man ein Lächeln. Doch es ist eines dieser Lächeln,
von denen man weiss, dass sie gleich wieder verschwinden,
eines, das wir manchmal im Vorbeigehen unkontrolliert einem
Menschen schenken. Ein Lächeln, das wir gleich wieder unter
Kontrolle haben – ja nicht ausgelassen, zu herzlich, man lässt
sich dem Fremden gegenüber ja auch nicht gehen. Eine Kombination aus äusserlicher Nähe und innerer Distanz, aus Inszenierung und angeblich natürlicher Anmut. Dieses Lächeln
bleibt eine Leerstelle, welche unumstösslich und überlebensnotwendig für ein prominentes Dasein in den heutigen Medien
ist: Gestraffte Selbstkontrolle, die alle Ebenen eines Wesen
und eines Auftreten glättet. Wir werden mit Nachdruck eingeladen an Kims Sexual-, Familien- und Liebesalltag teilzunehmen, doch nicht an ihren Gedanken. Vielleicht hat sie
nicht viele? Aber sollte wahrhaftige Bewunderung für Künstler nicht vielmehr in Anbetracht ihrer Gedanken entstehen,
statt durch diesen inszenierten Hintereingang zur Promi-LifeMansion, der uns da präsentiert wird? Diesen inneren Hohl-
raum mit der äusserlichen Fülle drumrum kann Kim jedoch
nicht aufgeben, sonst würde sie als Projektionsfläche für die
Fantasien und Träume junger, darauf anspringender Frauen
bröckeln. Sie setzt unseren medialen Überschuss und die damit verbundenen, permanenten Darbietungen jeder Emotionsregung gegen uns ein, weil sie weiss, was wir wollen und welche Sehnsüchte da draussen vor den Bildschirmen schlummern.
Wenn ein Skandalvideo auftaucht, ist es innerhalb
weniger Minuten im ganzen Netz. Natürlich interessieren
Skandale – und das Internet vergisst nie; wir können sie jederzeit, wenn uns danach ist, wieder abrufen. Sogar über referenzielle Videos – zum Beispiel von Reaktionen auf das Sextape
von Kim Kardashian. Das wohl bekannteste ist: «Gradmas
watch Kardashian sex tape». Sie sagen dabei lustige Dinge, kichern und rufen aus. Es ist, als ob hier auch ein Beweis geliefert
werden wolle, dass das Sextape über alle Gesellschaftsschichten hinweg etwas eher Harmloses und durchaus auch Sehenswertes sein soll. Früher musste man sich als prominente Person
von einem Sexskandal erholen – heute bedeutet der Sexskandal
selbst die Rückkehr oder gar den Aufstieg als Star.
Skandale und Reality-Shows haben Bildung und
Informationen aus den Medien fast verscheucht. Die Grenze
zwischen dem Sein als Privatperson und dem einer Figur im
Netz ist flüssig – somit wird nicht nur Eigenes, sondern auch
Sexuelles zur Schau gestellt. Paris Hilton, Kim Kardashian,
Pamela Anderson, Ray-J, Colin Farrell (die Liste ist noch viel
länger)... Es macht nicht den Anschein, dass das Sextape ihrer
Berühmtheit geschadet hat. Junge Frauen und Männer – das
kann man nicht leugnen – bewundern diese Personen; junge
Menschen werden mit dieser Art von Medienkultur gross. Es
gibt also diese Personen, die dank eines pornografischen Skandals berühmt wurden. Aber es gibt auch Prominente, die
durch sexuelle Skandale gelitten haben. So wurde Britney
Spears, wegen eines Paparazzi-Fotos, auf dem sie unten ohne
abgebildet wurde, wie sie in einem Minirock ohne Unterwäsche breitbeinig aus dem Taxi stieg, als «trashig» oder «billig»
bezeichnet – und dann fällt dieser Begriff «Schlampe». Wo die
Gesellschaft hier ihre Grenzen zieht, ist mir nicht klar, mir ist
– zum Glück – sowie das eine, als auch das andere Gedankengut völlig fremd.
Ich erinnere mich gerne an die Serie «Black Mirror» und die erste Episode «The National Anthem»: Der Premierminister bekommt ein Video, auf dem sich die Botschaft
eines anonymen Entführers befindet. Der Entführer hat ein
hochgeschätztes und beliebtes Mitglied der Königsfamilie in
seinem Gewahrsam. Für die Freilassung der Prinzessin fordert
er, dass der Premierminister Sex mit einem Schwein hat und
das im Nationalen Fernsehen übertragen wird. Der Premier-
Porno — Fabrikzeitung Nr. 314
minister weigert sich natürlich und fordert strengste Geheimhaltung von seinem ganzen Team, doch das Entführungsvideo
wird auf Youtube gestellt. Ich möchte das Ende hier nicht verraten, vielleicht mag sich jemand diese wirklich wunderbare
Episode ansehen. Natürlich ist es absurd und dystopisch, aber
sieht man sich zukünftig geplante Projekte, wie zum Beispiel
«mars one» an, so wollen wir anscheinend immer tiefere
Schamgrenzen durchbohren und zusehen, wie andere ihre
Schamgrenze sprengen: Asoziale Schwiegersöhne sollen vermittelt werden; Frauen machen sich zu Leibeigenen, damit sie
eine Rose von einem sogenannten Unterwäschemodell mit
massenweise Gel in den Haaren erhalten; und Leute machen
nackte Blinddates auf einer verlassenen Insel, welche die
Schöpfungsgeschichte auf Trash-TV simulieren sollen. Im
Genre des Promi-Sextapes zeigt sich die Ästhetik der gekünstelten Perfektion als effektivstes Zeichen für Erfolg. Je höher
der Inszenierungsgrad eines Individuums ist, desto mehr Anerkennung kriegt es. Dieses Resultat ist gefährlich, denn diese Farce wird immer realer wahrgenommen; sie ist eine lichterlohe Projektion für junge Menschen und teilweise eben ein
schwarzer Spiegel unserer narzisstischen Gesellschaft, unserem Drang nach Selbstdarstellung.
PS: Was mich – trotz allem – Wunder nimmt (auch ich
bin nicht immun gegen Trash, no no): Was macht eigentlich
Pamela Anderson heute? Wann kommt das erste Schweizer
Sextape – hier braucht man ja immer etwas länger, bis man
merkt, dass sich etwas bewährt hat – wer wird es sein? Und
wird es dann überhaupt noch ein Trend sein? Wann kommt
das erste homosexuelle Sextape und was wird es auslösen?
Werden es Frauen oder Männer sein? Und was empfindet
Frau Martullo-Blocher wohl als erotisch?
Von Ivona Brdjanovic
Ivona Brdjanovic, *1984 in Bosnien und Herzegowina, lebt seit 1991 in Zürich.
Sie hat am Schweizerischen Literaturinstitut studiert. Sie arbeitete in Spitälern,
Bäckereien, Bars, Baustellen und Tankstellen und studierte Umweltingenieurwesen. Sie hat kürzere Texte in Zeitschriften und Magazinen veröffentlicht.
ZWISCHEN
HAUSAUFGABEN & CHAT
Die Generation Y, auch Digital Natives oder Millennials genannt, ist die erste, die in der digitalen Welt aufgewachsen ist.
Seit einigen Jahren haben sie, die Jahrgänge 1985 bis 1995,
ihre Kinderschuhe abgestreift und befinden sich nun in ihrem
jungen Erwachsenendasein. Themen wie Sex, Verhütung und
Pornografie sind entsprechend präsent, werden umfangreich
diskutiert – und so uneingeschränkt wie gelassen konsumiert.
Denn während ältere Generationen heimlich den Playboy aus
Mülltonnen (oder Papas Sockenschublade) holten oder mit der
Bravo unter der Bettdecke auf erste Erkundungstouren gingen,
bedienen sich die Digital Natives natürlich des Internets und
sind so schnell am Ziel wie keine Generation vor ihnen. Ich bin
einer von ihnen. Ein Einblick in unsere Welt.
Spätestens seit Youporn und ähnlichen Seiten müssen wir
nicht mehr lange suchen: Kurz bestätigen, dass man über 18
Jahre alt ist – und schon ist man drin in der Welt des schnellen
Sex, der sicher kommenden Darsteller, der stets rasierten Körper. Die Auswahl ist so immens wie undurchsichtig, da findet
sich schnell mal ein Gangbang- oder Ekelporno zwischen den
«klassischen» Paarsex-Darstellungen; selten ist etwas sortiert
oder markiert, das «Cover» bzw. der Screenshot umso mehr
«auf den Punkt gebracht». Nun gut, man kann nicht alles haben – bzw. eben doch, absolut alles. Aber durchdrehen wird
von uns deshalb niemand. Und genau damit stiften wir noch
mehr Verwirrung in der Altersklasse unserer Eltern.
Als Generation Y gelten wir bereits seit einigen
Jahren als Phänomen – natürlich nicht nur wegen unseres
Pornokonsums. Mal wurde gespottet, wir seien altkluge und
feedbackheischende «Wunderkinder», mal unterstellt, wir wären spiessig, sicherheitsbedürftig und nicht kritikfähig. Dabei
ist unsere Vorstellung vom Leben die Konsequenz unserer digitalen, sozialen und historischen Umstände. Entsprechend
befremdlich haben wir zunächst gewirkt, weil alle Generationen vor uns noch mit dem Internet haderten, während wir
schon fröhlich posteten, twitterten, chatteten – und Internetpornos konsumierten. Dies taten wir weder als Akt der Rebellion noch aus Gründen der Gleichschaltung. Es war einfach
die Welt, in die wir hineingeboren wurden. Unbeschränkt,
unkompliziert, unerforscht.
Warum wir die neuen Medien so intensiv nutzen und lieben? Sie
ermöglichen eine enorme Zugänglichkeit zu Information, Inhalten und Wissen. Und diese ist schier unbegrenzt – innerhalb
kürzester Zeit und an beinahe jedem Ort können wir auf alle
weltweit verfügbaren Daten und Informationen zugreifen – mit
einem Klick. Wir suchen nicht, wir finden. Und wir sind auch
nicht nur schnell, sondern vielmehr überall und gleichzeitig.
Das Entscheidende hierbei ist: Dieser zeit- und raumlose Zugang
zu allem – und mit allem meine ich alles: von Wikipedia und
Katzenvideos über Pornos und Pädophilie, über Horror und
Terror zu Mobbing und Überwachung – führte zur Perfektionierung unserer Selektionierungsfähigkeit. Durch die Unmenge an Informationen mussten wir lernen, schnell zu wählen und
zu entscheiden, was Sinn macht, was uns weiterbringt – oder
einfach Spaß macht. Vielleicht mussten wir dadurch die Leichtigkeit der Jugend schneller verlassen: Unsere Reifeprüfung
scheint das Erwachsenwerden in der digitalisierten Welt zu sein
– und zwar ohne Anleitung. Denn während es bei der digitalen
Informationsflut und der dafür notwendigen Auswahlfähigkeit
bisher wenig bis keine Erfahrungswerte gibt, kommt beim Thema Porno noch Unsicherheit und Prüderie hinzu. Uns blieb also
nichts anderes übrig als «learning by doing».
In der Tat ist der Zugang zu Pornos so einfach wie nie zuvor.
Wir wissen, was im Internet passiert; wir kennen die berühmten – und auch die berüchtigten – Seiten und tummeln uns
dort, wenn es gerade passt. Laut diverser Studien haben 60 bis
80 Prozent aller Zehnjährigen schon einen Porno im Internet
gesehen. Diese Zahlen mögen ältere Generationen schockieren, doch der große Schaden ist ausgeblieben: Wir sind als
Generation weder abgeschreckt noch asexuell, geschweige
denn traumatisiert oder missioniert. Ja, wir können Pornos mit
wenigen Klicks erreichen. Und ja, wir machen diese Klicks.
Doch genauso, wie all die Generationen vor uns durch Masturbation nicht impotent geworden sind, können wir unser Leben
trotz Internetpornografie einfach weiterführen.
Natürlich spielen Pornos in unserem Leben eine Rolle. Vor
allem männliche Digital Natives scheinen das Angebot im Internet rege zu nutzen, alleine, mit Kumpeln und gerne auch
mit der Partnerin. Bei uns gibt’s kein verschämtes DurchsSchlüsselloch-Schauen, kein Getuschel auf dem Schulhof.
Ganz im Gegenteil ist das Konsumieren von Pornos für Jungs
ein Statussymbol, das man nicht verheimlichen muss, sondern
zelebrieren kann. Bei den Mädchen sieht das ein wenig anders
aus: Sie konsumieren Pornos durchaus auch, geben damit aber
nicht an.
Einige mögen diese Geschlechterverteilung als klassisch diffamieren, doch darüber können wir nur schmunzeln.
Wir sind zwar die erste in der digitalisierten Welt aufgewachsene Generation, aber das bedeutet nicht, dass wir in ein soziokulturelles Vakuum gefallen sind und von unserer Umwelt und
den Vorgängergenerationen absolut unbeeinflusst bleiben. Im
Gegenteil: Dass die Darstellungen von Frauen in Pornos nicht
sehr realitätsnah sind, ist uns wahrscheinlich klarer als vielen
anderen. Im richtigen Leben und unter unserer Bettdecke wissen wir nämlich sehr genau, was Gleichberechtigung bedeutet.
Mädchen und Frauen erwarten und fordern hierbei ihre vollwertige Mitsprache als selbstverständlich ein – und erhalten sie
ebenso selbstverständlich. Beide Partner bestimmen gemeinsam, wo es lang geht, wie es läuft, wann was passiert.
Und wir setzen noch einen drauf: Nicht nur haben
die Frauen unserer Generation die Verhütung wesentlich besser im Griff als alle vor ihnen – auch das andere Geschlecht
steht hier seinen Mann. Verhütung ist zumindest in meinem
Umfeld zu einer gemeinsamen Aufgabe mit fairer Teilung geworden, die von uns Jungs und Männern gerne angenommen
wird; schließlich sind wir realistisch und pragmatisch genug,
um die Konsequenzen abzusehen. Kopflose Sexorgien? Bleiben
im Netz.
Zudem gehören für uns Sex und Beziehung relativ eng zusammen. Unsere Beziehungen halten nicht ewig, sie sind aber meistens monogam – und werden durch Sex nach spätestens zwei,
drei Monaten geprüft und bestätigt. Die sprichwörtliche Katze
im Sack ist bei uns auf sexueller wie auch auf menschlicher
Ebene nicht angesagt. Außerdem wird der Sex mit einem festen
Partner mit der Zeit ja auch immer besser.
Hierbei spielt die Internetpornografie insofern eine
Rolle, als dass wir früher mehr ausprobieren, früher mehr
kennen – und zum Beispiel Analverkehr in unserer Generation wesentlich bekannter und weniger verpönt ist als bei älteren Generationen. Pornos sind auch für die Phasen zwischen
den Beziehungen ein netter Freizeitausgleich. Denn auch
wenn das Singledasein völlig normal ist, ist es nicht unbedingt
erstrebenswert: Es bleibt die Zeit nach einer und vor einer
Beziehung, in der wir nicht unbedingt auf flotte One-NightStands aus sind. Da kann ein guter Porno durchaus den einen
oder anderen Abend versüßen.
Dass Internetpornografie uns komplett verwirrt, sexualisiert
oder gar beziehungsunfähig macht, belegen meine Studien
nicht. Ganz im Gegenteil, wir trennen meist ziemlich gut zwi-
schen der Youporn-Welt und der Realität – und nehmen von
ersterer das in den Alltag mit, was uns gerade passt.
Intimrasuren oder Sexualpartner, die immer können und wollen, mögen durch Pornos als normal und unbedingt
erstrebenswert wahrgenommen werden. Das scheint mir jedoch
nicht irrwitziger oder gefährlicher zu sein, als «Scripted Reality» nicht als solche zu erkennen. Komplikationen an den Grenzen zwischen Realität und Fiktion gab es schon früher, man
denke zum Beispiel an so manche Patienten in den 80er Jahren,
die versuchten den TV-Doktor Brinkmann von der Serie «Die
Schwarzwaldklinik» als ihren tatsächlichen Arzt zu gewinnen.
Solche Verwirrungen gehören scheinbar dazu. Nichtsdestotrotz ist uns der Unterschied zwischen unseren Schlafzimmern
und den Porno-Studios durchaus bekannt und bewusst.
Wir sind also ganz entspannt, während die Gesellschaft panisch umherrennt und uns mal wieder vor uns selbst und der
digitalen Welt schützen will. Was uns dazu einfällt? Dass jede
Generation ihre Form von Bravo oder Playboy hat, und dass
offener Umgang mit Sex und Sexualität nicht gravierender
sein kann als Verbote und Dämonisierungen. Dass Pornos
schon wesentlich länger produziert und konsumiert werden,
als wir leben oder an Sex denken können. Und dass ChatForen wie beispielsweise Chat-Roulette geschlossen wurden,
weil «alte Säcke» dort ihre Penisse präsentierten, bevor jemand zu Wort kommen konnte.
Natürlich müssen wir uns mit einigen unserer Konzepte und Tendenzen auch kritisch auseinandersetzen: Der
Zugang zu schnellem Sex via Tinder & Co. lässt selbst Großstädter staunen, so zahlreich sind die Angebote in Ballungsgebieten. Ebenso hat das manchmal arg voreilige Verschicken
«nicht jugendfreier Selfies» schon so manchen der Generation
Y zu einem Erpressungs- oder Mobbingopfer gemacht und in
eine tiefe Krise gestürzt. Dies sind ebenfalls Konsequenzen der
unbegrenzten Zugänglichkeit, der schnellen digitalen Verfügbarkeit – und unserem ungelernten Umgang mit diesen Phänomenen. Unser «learning by doing» verläuft in der Tat nicht
geradlinig, sondern beinhaltet diverse Kurven in allen Formen.
Die meisten der Generation Y haben jedoch einfach
nur Spaß an Internetpornografie – ohne süchtig zu werden,
«kleine Fehler» mit unaufhaltsamen Kettenreaktionen zu begehen oder den Bezug zur Realität zu verlieren. Wir lernen
dazu, übernehmen, was uns gefällt, und lehnen ab, was nicht
in unser Weltbild passt oder uns schlicht nicht stimuliert. Der
Konsum pendelt sich nach dem ersten Hype meist auf ein gesundes Maß ein und lässt mit steigenden eigenen Erfahrungen
ohnehin weiter nach. Unsere echte Sexualität soll nicht durch
die digitale ersetzt werden. Denn Sex spielt für uns eine Rolle,
und zwar nicht nur auf dem Bildschirm, sondern vor allem in
Zusammenhang mit Liebe und Beziehung. Warum wir jedoch
dabei nicht auch ab und zu einen guten Porno gucken können,
kann niemand wirklich sagen. Wir auch nicht, also machen
wir es einfach.
Von Philipp Riederle
Philipp Riederle ist seines Zeichens Entrepreneur, Keynote-Speaker und Digital
Native. Mit 13 Jahren gründete er den Internetblog «Ich und mein Iphone», nun
spricht er auf Fachkongressen, Medienkonferenzen und Unternehmensveranstaltungen zu seinen Herzensthemen Social Media, Generation Y und «Zukunft der
Arbeit». 2013 erschien sein Buch ‹Wer wir sind und was wir wollen›.
Porno — Fabrikzeitung Nr. 314
BESCHWICHTIGUNG
Immer wenn du Pornos schaust, bist das nicht du, der das
macht. Du hast ein aufgeklärtes Ich und ein Porno-Ich, und
nur letzteres schaut Pornos.
Aber nicht jeden Porno. Denn auch dein Porno-Ich ist aufgeklärt. Es schaut keine Pornos, in denen Frauen als bloßes
Ding behandelt werden; in denen dicke Schwänze gewaltvoll
in enge Pussys von quiekenden Mädchen gerammt werden.
Die Pornos, die dein Porno-Ich schaut, sind schön. Die Frauen, die darin vorkommen, haben keinen idealisierten PornoKörper, das Bedürfnis, solche zu sehen, hast du schon längst
überwunden.
Einen erotischen Blick sollten sie aber schon haben.
Besonders schön findest du, wenn die Frauen in den Pornos
das wollen, was auch der Mann in den Pornos will.
Dir begegnet eine Frau. Du schaust sie an. Manchmal hast
du das Gefühl, als würdest du in diesem Moment des Anschauens nicht einen, sondern zwei Blicke auf sie richten.
Den ersten Blick bemerkst du meistens nicht. Er dauert nur
einen Bruchteil einer Sekunde. Du hast darüber noch nicht
nachgedacht, glaubst aber, dass du – würdest du einmal darüber nachdenken – feststellen würdest, dass sich der zweite
Blick auf die Frau als Mensch richtet, es ist ein Blick der Begegnung, der entsteht, wenn sich zwei Menschen begegnen.
Der erste Blick muss wohl mit irgendetwas anderem zu tun
haben, du weiß auch nicht genau.
Aber die Kellnerin im Prückl ist einfach nett, anmutig, hinreizend, hübsch.
Du bemühst dich sehr. Wenn sich ein Hintern vor dir im
Bus erhebt, versuchst du immer, ihn schon im Moment des
Wahrnehmens als Teil einer Person zu betrachten und nicht
erst dann, wenn du danach gefragt wirst, wie du dich zu diesem Hintern verhältst.
Manchmal schaust du dir Nacktbilder von Frauen an.
Neulich hast du dir im Filmmuseum einen Godard-Film angeschaut, wie viele andere Männer auch, die du aus deinem
Philosophiestudium kennst. Es kam zu einer Szene, in der
einer der Protagonisten im Film meinte: «Frauen sollten
nicht älter als 25 werden.»
Du und alle anderen Männer im Kinosaal brüllten vor Lachen. Ihr fandet diese Aussage witzig.
Es gibt eine Kellnerin im Cafe Prückl, die hat schwarze Haare
und Lippenstift auf den Lippen und einen lieblichen Blick,
wenn sie dich anschaut und «Bitte, was darfs denn sein?» fragt.
Du findest sie sehr herzlich und nett und hast in ihrer Gegenwart Empfindungen. Du hast meistens Empfindungen,
wenn du auf solche Frauen triffst.
Du weißt, es gibt diese Rolle der schwachen, hilflosen,
schutzsuchenden Frau, die, weil sie so schwach ist, geil ist.
Wenn du anderen darüber erzählst, sagst du immer: «Ich
schaue mir Nacktbilder von Frauen an, weil das interessant
ist. Ja, das ist sehr interessant, aus kulturwissenschaftlicher,
aus soziologischer, aus gendertheoretischer, aus anthropologischer, aus politischer Perspektive.»
Das ist tatsächlich so. Du schaust keine Nacktbilder von
Frauen an, um dich aufzugeilen oder so. Du willst dabei etwas lernen.
Du sagst «Nein!» zum Sexismus. Du wendest dich von ihm
ab. Du drehst dich von ihm weg, bis er hinter dir verschwindet. Dort siehst du ihn nicht, er ist also nicht mehr da.
Von Jakob Kraner und Matthias Vieider
Dies ist die abgewandelte und gekürzte Version des Textes der Performance
«Think feminist, act sexist» von Jakob Kraner und Matthias Vieider. Mithilfe von
Text, Stottern, Stimm- und Saxophongeräuschen wird darin versucht, das männliche, weiße, heterosexuelle, aufgeklärte, sich zum Feminismus bekennende Subjekt auf seine versteckten Sexismen hin zu untersuchen. Reicht es aus, Feminismus und Gleichstellung zu behaupten, weil sie richtig sind, weil sie vernünftig
sind? Ist nicht vielmehr eine Umwälzung im Bereich des Unvernünftigen notwendig, als ein rationales Bekenntnis? Eine Umschichtung im Emotionalen, im Unbewussten? Man muss sich seinen Sexismus erlauben, um sich gegen ihn entscheiden zu können.
DIRTY DIARIES
*
* Dirty Diaries ist eine feministische PornoKurzfilmsammlung, herausgegeben von Mia
Engberg. Die schwedische Regisseurin forderte
feministische Künstlerinnen, Akteurinnen
und Aktivistinnen dazu auf, feministische Pornos zu drehen. Dass alle Akteure über 18 Jahre alt sind und freiwillig mitspielen, waren die
einzigen Bedingungen. Was feministische Pornos sind, lässt sich anhand dieser zwölf Filme
nicht definieren, aber ebendiese Frage hat die
Filmemacher und Darsteller vor eine interessante Aufgabe gestellt. So kamen die unterschiedlichsten Filme heraus und zusammen.
Pornos, die mich geil gemacht haben und mich
über Sexualität haben nachdenken lassen: Ist
Pornoschauen blosse Selbstbefriedigung oder
auch Selbstbestätigung? Was ist, wenn Leute
die Gesellschaft bewusst mit ihren sexuellen
Vorlieben konfrontieren? Wird anal Mainstream? Welche Rolle haben Dominanz und
Unterwürfigkeit und wie viel Vertrauen steckt
darin? Wie viel Hirn fickt? – Ich habe ganz
eindeutig Brainshots bekommen. Die Herausgeberin Mia Engberg selbst schreibt: «So what
is feminist porn? There is not one simple
answer to that question, but you are about to
see twelve amazing shortfilms that are challenging our gaze upon ourselves and our notion of
pornography. I proudly present to you: Dirty
Diaries.» Folgende Gedichte sind zu den 12
Kurzfilmen entstanden und sollen weder Antwort auf sie, noch ihre lyrische Abbildung sein.
Das bin ich nach den feministischen Pornos.
Eine klare Filmempfehlung.
Skin
Ich will dich in mir spürn.
Sich so sehr wollen,
dass Haut behindert.
Ich will deine Gedanken über mich
in mir; aber ich kann mich nicht
selbst eröffnen;
wohl nur im Gegenzug
dir meine Denke bieten.
Wir wissen doch beide, dass Vögeln
Keine reunion darstellt.
Doch versuchen wir weiter
Nerven im anderen
zu verlegen;
konsequent spielen
und nichts
ist gespielt.
… ich will dich
unter der Haut.
Und denke mich dir;
und denke dich mir;
wie zärtliche Schnitte.
Ich habe dich nie gefickt. Ich habe
immer mit dir gefickt.
Und mir war nie
mein Glück selbstbewusster.
Night Time
Ich freue mich, wenn mich etwas Fremdes
berührt,
solang es nicht allzu fremd ist
wie ein Gedicht, wie eine dritte Hand an meinem Penis,
weil ich nicht weiß, wohin es mich führt,
etwas Vaghalsiges, bar Ungehemmtes
wie einen doppelten Wunsch, den es
in eine Gemeinsamkeit verschlägt,
die vorher schon bestand und nachher nicht
verreckt.
Der Wunsch ist nur das Spielzeug.
Und Poesie und Pornos müssen sagen dürfen:
Fick mich!
Das scheint so Freiheit, so Leidenschaft. So
wichtig,
das keinem ein Zwang auf Ziel dräut
denn Lust ist ausweglos, sie ist Bang.
Das Gefühl hauteng gesprengt,
denn wenn ich geil bin, dann–dann weiß ich
nicht zu recht,
was soll ich mit uns anfangen, vertrackt im
Schoß?
Lust und Vorsicht, beide längst satt, bloß
die Nacktheit verfährt sich am Geschlecht.
Drum ficken wir zwei Hard Rock
um kurz nur durch das Ego zu vergessen,
dass wir Parzellen sind, zusammengerissen
erfahren wir Orgasmus ad hoc.
Body Contact
Ich bin: im Internet
Ich suche: Fickvermittlung
Ich habe schon öfter gesucht
Und jünger war ich naiver
Als ich jetzt naiv bin
Die freizügigsten Profile besitzen nicht
Die verschlossenen Menschen
Kontaktaufnahme fällt mir schwer
Die Angst des Ichversagens
Verschämt als zwänge ich mich
Bauen wir Rahmen mit Profilen?
Um uns besser zu verkuppeln?
Um uns besser aussehen zu lassen?
Was unterscheidet
Auf Singlebörsen Sehnsucht
Von Geilheit? Und was offline?
Was erwarten wir
Von der Verschlüsselung
Unseres Profils?
Viele von uns haben sich schon
Zum Ficken verabredet
Es wurde immer mehr getan
Vielleicht gibt es bloßen Sex nicht
Und Pornos brauchen die Geschichten
Damit der Code geknackt wird
Denn am Ende fick ich nicht
Im Internet und wir
Müssen uns immer noch kennenlernen
Was bringt also
Die Angst vor uns selbst?
Würdest du
Dein eigenes Profil daten?
Red Like Cherry
Nippelkirschen – rot, so rot, Matador
ist das die Narbe der Liebe?
Vielleicht sind wir
Teile geworden? Ins Rot geteilt
so streichle mich mit deinen Augen
und lass mich rinnen sanft wie Sand
durch deine Finger
die Gezeiten der Nippelkirschen
sie blühen – sie blühen, sie stöhnen
und wie Fieber strahlen
bereiten wir uns hitzige Gemüter
hitzige Saaten, die röter, Matador,
nicht wabern könnten, wie vor uns
wie wir uns freuen an Beführung
teilzuhaben und nichts ist bitter
an unseren Körpern. Matador
vagende Früchte der Röte,
auf uns spielt sie die Schau.
Überschäume mich mit Infrarot;
o bitte überschäume mich und
kurz sind wir ein Stück Licht,
ein Stück lautes, lautes Licht.
For the Liberation of Men
Als müssten wir uns crossdressen
Um einander zu verstehen
Man braucht niemanden
Für Toleranz – Sexus Futurus
Bei Geschlechtern
Ist es wie mit der Zukunft
Durch Ungewisses
Schleicht sich Angst ein
Der Schwanz ist kein Prospekt
Und die Fotze niemals Katalog
Sonst enden wir noch
Bei windschiefen Genitalien
Geschlechter sollen uns verbinden
– nicht trennen
Sie sind nie konkret
Gewürfelt: Zufall oder Wahrscheinlichkeit
Wir brechen gegen
Wir preschen gegen Versteinerungen
Wir brauchen kein Achat
Weder Patri noch Matri
Matrix ist keine Lösung
Ich habe keine, nur eine Losung
Ohne Lossage
An Geschlechter, an sich selbst
Niemand braucht das Gegenteil
Um sich zu identifizieren
Niemals Nemesis.
Von Martin Piekar